eBooks

Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre

0513
2019
978-3-8233-9258-3
978-3-8233-8258-4
Gunter Narr Verlag 
Jörg Dünne
Kurt Hahn
Lars Schneider

Als habituelle Praxis bezeichnet das Ethos zugleich eine verinnerlichte Haltung, die umso mehr bindet, wenn sie der Lektüre gilt. Aufs Engste dem Gegenstand ihrer Lektüre ver­pflichtet, schicken sich in diesem Band siebzig Interpre­tinnen und Interpreten an, Schlüsselstellen der Literatur und ihrer benachbarten Künste jene Gerechtigkeit, Sensibilität und Geduld widerfahren zu lassen, die ein Lesen als ge­nuin ­ethi­sche Verantwortung einfordert. Ein solches Ethos der Lek­türe findet seinen Niederschlag in Kommentaren, die auf Eindeutigkeiten oder Verallgemeinerungen verzichten und noch im einzelnen Satz, Vers, Wort sowie in jeder Bild- oder Tonspur den Widerstreit mannigfaltiger lectiones difficiliores respektieren. Die Verfasserinnen und Verfasser dieser Seiten wissen sich dabei in einem Verhältnis persönlicher Antwort und Inspiration gebunden: Ihre Kommentare und nicht min­der die ausgewählten Texte oder Filme sind als buchstäbliche Lektüre-Gabe dem Literaturwissenschaftler und Romanisten Bernhard Teuber gewidmet.

<?page no="0"?> Anna Marcos Nickol Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre Jörg Dünne / Kurt Hahn / Lars Schneider (Hrsg.) <?page no="1"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 11 · 2019 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="2"?> Jörg Dünne / Kurt Hahn / Lars Schneider (Hrsg.) unter Mitarbeit von Britta Brandt Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre <?page no="3"?> Umschlagabbildung: Le pont du Gard Photographie: Lars Schneider, 2003. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8258-4 <?page no="4"?> BERNARDO TEUBER CARO COLLEGAE PRAECEPTORI AMICOQUE. <?page no="5"?> Fig. auf vorheriger Seite: Originalzeichnung von Bernhard Teuber („Keine Überfrachtung“, ca. 2000, entstanden vermutlich während einer Gremiensitzung) <?page no="6"?> 7 Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Karneval, Komik und Ironie Andreas Dufter Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes: Zu einer Rede des Keu im Yvain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Horst Weich „Beati Oculi“: ein Augenschmaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Hanno Ehrlicher Erzählerische Subjektivität und Ironie. Zum Anfang der anonymen Vida de Lazarillo de Tormes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Tobias Döring Was vom Lachen übrig blieb: Yoricks Schädel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Christoph Strosetzki Helm des Mambrin oder Barbierbecken? Parodie und Karnevalisierung einer Gerichtsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Andreas Mahler ‘Good vapours! ’ Ben Jonson and the whirlpool game . . . . . . . . . . . . . . . 79 Jochen Mecke Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung. Die kopernikanische Revolution der Poetik Flauberts in Bouvard et Pécuchet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Martin Baumeister „La alta y burlona voz de Ireneo“. Zur Ironie in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Funes el memorioso“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Albert Meier Tell it like Snoopy, oder: Der Beagle als Mönch . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 <?page no="7"?> 8 Inhaltsverzeichnis David Klein La abertura en el techo. Reflexiones sobre dos insertos complementarios en Habana Blues de Benito Zambrano . . . . . . . . . . 115 Ulrich Detges ¡Cuánto cuento! Von Hexen, Monstern und fake news . . . . . . . . . . . . 119 II. Imaginationswelten und Traumbilder Cornelia Klettke Der Kampf um Dordrecht: Topographie der Gewalt und Ethik des Kriegers im Orlando furioso von Ariosto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Wolfram Nitsch El libro en el escenario. Los corrales del Quijote . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ana Mateos La abuela de Don Quijote o reflexiones sobre el estatuto de la historia en El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha . . . . . . . . 147 Kurt Ochs (München) Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte . Textgeschichte und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Judith Kasper Philologie träumen. Über Witz, Zufall und trouvaille . . . . . . . . . . . . . 163 Edi Zollinger „Baudelacroix“: Klangfarben und Farbklänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Susanne Dürr Modernistische transposition d’art , oder: Von der Sorge um ewigen Nachruhm. Salvador Ruedas „Piedra cantora“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Volker Roloff Swanns Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Xuan Jing Reisen und Verwandeln. Alteritätsfiktionen von Kafka zu Cortázar . . . 195 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 9 III. Mystik und Heterologie Hans Otto Seitschek Erkenntnis als Gipfelerlebnis. Boethius’ Bild der ewigen Gegenwart: De consolatione philosophiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ulrich Dobhan Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Mariano Delgado „Dios no se muda“. Zur Übersetzung eines berühmten Textes, der Teresa von Ávila zugeschrieben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Martina Bengert Auf der Schwelle: Simone Weils „Prologue“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Javier Gómez-Montero Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística en Mandorla y El fulgor de José Ángel Valente . . . . . . . . . . . 245 Dieter Ingenschay San Juan und die loca . Zu Jaime Gil de Biedmas Parodie der Noche Oscura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Daniel Graziadei Mystische Rupturen im Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Walter Bruno Berg War San Juan de la Cruz ein Moderner? Anmerkungen zu Bernhard Teubers Sacrificium litterae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 IV. Opfer - Zeichen - Körper Claus-Michael Ort Die Wörtlichkeit des Fleisches. Zu Paul Flemings Sonett „An seine Thränen. Als Er von Ihr verstossen war“ . . . . . . . . . . . . . . 281 Christopher F. Laferl Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico , oder: Von der (un)produktiven Verausgabung . . . . . 289 Stephan Leopold Sor Juana Inés de la Cruz, oder: Das Kreuz mit der petrarkistischen Dame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 <?page no="9"?> Gerhard Poppenberg La volupté perverse. Zur Figur der Salome bei Arsène Houssaye . . . 309 Ursula Lenker “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober”. Language Evolution and Constructions of Masculinity in Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language . . . . 315 Robert Folger Das geschächtete Mädchen: Horacio Quirogas „La gallina degollada“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Fernando Nina Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Judith Frömmer Buchstäblich auferstehen. Moravias sacrificium litterae in La ciociara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Ottmar Ette Körper - Macht - Lust. Anmerkungen zu Figur 8 in Roland Barthes’ Le Plaisir du texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Cornelia Wild Jouissance féminine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 V. Figurationen des Allegorischen Ulrich Kuder MELENCOLIA I. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Martin von Koppenfels Poor Tom mit Aristoteles. Über den „nightmare charm“ in King Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Ulrike Sprenger „Ach! - Die Venus ist perdü“. Die Keramikmanufaktur in Flauberts Éducation Sentimentale . . . . . . 385 Christian Wehr Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Victor Andrés Ferretti Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 10 Inhaltsverzeichnis <?page no="10"?> Manuel Mühlbacher Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo . . . 409 Kurt Hahn Sacrificium litterarum et urbis : Leere Opfer der Ent-Grenzung in Roberto Bolaños 2666 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 VI. Literarische Falten des Selbst Wolfgang Lasinger Fetisch und Phantasma. Ambivalenzen des petrarkistischen Objekts im Soneto X von Garcilaso de la Vega . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Wolfgang Matzat Welt- und Selbsterfahrung im Dialog. Die Episode des yelmo de Mambrino im Don Quijote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Hans-Jörg Neuschäfer Mäzenatentum und Selbstdarstellung. Die Widmung des zweiten Teils des Don Quijote und das Selbstportrait des Malers in Las Meninas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Gerhard Penzkofer Luis de Góngora, „Al conde de Villamediana, celebrando el gusto que tuvo en diamantes, pinturas y caballos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Roger Lüdeke Samuel Richardsons Pamela; or, Virtue Rewarded als literarische Ästhetik des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Matei Chihaia Signatur, Deixis, Porträt. Autorschaft in Charles Baudelaires Le Peintre de la vie moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Andreas Gelz Antike Heldenbilder und der Sport in der spanischen Avantgarde. Ernesto Giménez Caballeros Hércules jugando a los dados . . . . . . . . . 485 Jörg Dünne Sakrifizielle Inskriptionen. Geologie und lyrische Subjektivität bei Raúl Zurita . . . . . . . . . . . . . . 495 Inhaltsverzeichnis 11 <?page no="11"?> VII. Translatio und Konvivenz Félix Duque La intempestividad de lo clásico: Das Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . 507 Michael Rössner Eros/ Agape, Amor/ Caritas: Probleme der Übersetzung im Libro de Buen Amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Hans Sauer Thomas Hoccleves mittelenglische Bearbeitung von Christine de Pisans Epistre au dieu d’Amours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Claudia Märtl Eneas Silvius Piccolomini, „In Gallum“ ( Epygrammata 53). Eine Invektive gegen Martin Le Franc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Frank Lestringant François Rabelais, Gargantua, chap. XXXIII : « Comment certains gouverneurs de Picrochole par conseil precipité le mirent au dernier peril » . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Günter Zöller Vom idealen Staat zur Idee des Staates. Kants freiheitliche Platodeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Christoph Bode Ein unmögliches Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Rémi Brague Cercle ou carré ? Balzac, Le Père Goriot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Martin Diz Vidal Compostela, arbor galicitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Fabian Sevilla Vom Ich zum Wir: Meditació de la mort und Politik in Final del laberint und La pell de brau von Salvador Espriu . . . . . . . . . 587 VIII. Von der Präsenz der Absenz Karlheinz Stierle Die fremde Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 12 Inhaltsverzeichnis <?page no="12"?> Gisela Seitschek Überirdische Schönheit und reine Transzendenz. Dantes Eintritt ins Empyreum und der Abschied von Beatrice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Juan Barja, Patxi Lanceros MASA (para una lectura interminable) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Hermann Doetsch Transgression und Wiederholung. Buñuels El ángel exterminador . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 André Otto Die Gabe der Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Robert Stockhammer ὑφ' ἕν . Eine Elegie auf den Binde-Strich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Nachschrift Lars Schneider Dienst nach Vorschrift. Über Pierre Corneilles Horace . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Inhaltsverzeichnis 13 <?page no="14"?> Einleitung 15 Einleitung. Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre Die Literarizität eines Textes - gleich welcher Gattung, welcher Epoche oder welcher Autorschaft er zugehören mag - bemisst sich insbesondere daran, wie sehr und für wen er sich „zu lesen gibt“ 1 . Zu lesen geben , das meint nicht allein, dass Form- und Inhaltsseite eines Textes der Erkundung lohnen, bedenkenswert und diskussionswürdig erscheinen, sondern mehr noch, dass ihm die nachgängige Lektüre insofern bereits einbeschrieben ist, als er seine Leserschaft eigens reklamiert, in Beschlag nimmt, fesselt und gewissermaßen zu einer empathischen oder antipathischen Reaktion herausfordert. „On ne respecte pas le texte si on ne le sollicite pas“ 2 - ermahnt sonach der aus Litauen stammende, jüdisch-französische Philosoph Emmanuel Levinas in einem Gespräch über die Talmud-Exegese. Für den hiesigen Band, der ungleich weltlicher daherkommt, ist damit eine maßgebliche Losung vorgegeben, geht es ihm doch darum, literarische Texte im weiten Sinn zu Wort kommen zu lassen und zur Anschauung zu bringen, sie gemäß Levinas’ Diktum in Anspruch zu nehmen und imaginativ zu neuem Leben zu erwecken, sie dazu in ihrer (syntaktischen) Vielgestaltigkeit, ihrer (pragmatischen) Vielstimmigkeit und ihrer (semantischen) Vielschichtigkeit zu erhellen. Den Text zu ‚respektieren‘, selbst wenn er kein heiliger ist, bedeutet gleichwohl auch, ihm bis dorthin nachzuspüren, wo alle semiologischen Kategorien und textanalytischen Methodiken versagen, wo kurz - und nochmals in Anklang an Levinas - gesagt: seine radikale Alterität zur Geltung kommt, laut wird oder schlichtweg schweigt. Was im Folgenden, in insgesamt siebzig gleichermaßen akribischen wie persönlich engagierten Kommentaren zu unterschiedlichsten Ausgangstexten sowie anderen Dokumenten Schrift wurde, lässt sich als Ethos der Lektüre begreifen; und zwar durchaus in jenem Doppelsinn, der bereits dem griechischen 1 Im Dialog mit Jacques Derrida formulieren ähnlich Michel Lisse, „Donner à lire“, in: L’éthique du don: Jacques Derrida et la pensée du don (colloque de Royaumont, décembre 1990), edd. Jean-Michel Rabaté, Michael Wetzel, Paris: Métailié 1992, pp. 133-151; und in diesem Band André Otto („Die Gabe der Lektüre“). 2 So Levinas’ Aussage in einer sich seinem Beitrag („Le nom de Dieu d’après quelques textes talmudiques“) anschließenden Diskussion aus Débats sur le langage théologique (organisés par le Centre International d’Études Humanistes et par l’Institut d’Études Philosophiques de Rome), ed. Enrico Castelli, Paris: Aubier 1969, p. 69. <?page no="15"?> 16 Einleitung Etymon innewohnt 3 und der noch im heutigen deutschen Fremdwort nachklingt. Als Gewohnheit und habituell gepflegter Brauch ist im Ethos nämlich immer auch eine sittliche Haltung begründet, die man ehedem als Tugend bezeichnen durfte und die angesichts der moraltheologischen Überdeterminierung des Lexems unproblematischer wohl als Einstellung, als verinnerlichtes Verhaltensmuster oder gar als Lebensstil aufzufassen wäre. 4 Wenn also von einem Ethos der Lektüre die Rede ist, wie der (Unter-)Titel des vorliegenden Bandes verheißt, dann genau in dieser zweiseitigen Ausrichtung: Eine illustre Anzahl ebenso fieberhafter wie fachkundiger Leserinnen und Leser tritt hier den je individuellen Nachweis an, dass sich ihre habitualisierte Praxis der Rezeption, Interpretation und Kommentierung nicht in einem selbstzweckhaften Literaturkonsum erschöpft. Denn allesamt sehen sie sich zugleich ethisch in die Verantwortung genommen, sehen sich in der Schuld und daher aufgefordert, den zugrundeliegenden Sätzen und Versen Gerechtigkeit und das meint in diesem Fall hauptsächlich: hermeneutische Sensibilität, Geduld und Genauigkeit widerfahren zu lassen. Es nimmt nicht wunder, dass die so entstandenen Ergebnisse es sich nicht leicht machen können, keine noch so entlegenen Konnotationen, formalästhetischen Windungen oder rätselhaften Botschaften der erörterten Texte geringschätzen oder auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Die editionskritische Terminologie erweiternd - wie es der erste Gewährsmann der hier versammelten 3 Zur Engführung von ἦθος / ἔθος cf. grundlegend Aristoteles, Nikomachische Ethik , I/ 13 und II/ 1 (1102a5-1103a27). Das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Aktualisierung des Ethos als veritables „Ethos des Lesens“ verfolgte auch die gleichnamige Ausstellung, die von Dezember 2015 bis März 2016 in der Philologischen Bibliothek der FU Berlin anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Peter-Szondi-Instituts von Irene Albers organisiert wurde; aus ihr ist folgende Publikation hervorgegangen: Nach Szondi: Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965-2015 , ed. Irene Albers, Berlin: Kadmos 2 2016. 4 In diesem Sinn lässt sich auch an die Differenzierung erinnern, die Gilles Deleuze in einem Gespräch (mit Didier Eribon) über Michel Foucault in Anschlag bringt („Das Leben als ein Kunstwerk“, in: Denken und Existenz bei Michel Foucault , ed. Wilhelm Schmid, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, pp. 161-167, hier p. 166), um ihrer beider Begriff des Ethischen vom überkommenen Moralverständnis zu scheiden: „[D]ie Konstituierung von Existenzweisen oder Lebensstilen ist nicht nur ästhetisch, sie ist das, was Foucault im Gegensatz zur Moral die Ethik nennt. Der Unterschied liegt darin: Die Moral stellt sich als eine Gesamtheit zwingender Regeln eines speziellen Typs dar, der darin besteht, Handlungen und Absichten zu beurteilen, indem er sie auf transzendente Werte bezieht (das ist gut; das ist böse); die Ethik ist eine Gesamtheit von der freien Wahl überlassenen Regeln, die das, was wir tun und sagen, nach der Existenzweise bewerten, die das jeweils impliziert. Man sagt dies, man tut jenes: Welche Existenzweise impliziert das? Manchmal genügt ein Wort, eine Geste. Das sind die Lebensstile, die uns als so oder so bestimmt konstituieren.“ <?page no="16"?> Einleitung 17 Texte an mancher Stelle vorgemacht hat 5 -, ließe sich daher sagen, dass eine lectio facilior , welche Bedeutungs- und Kohärenzstiftung auf dem geradesten und schnellsten Weg anstrebt, nirgendwo statthaft erscheint. Weiß man sich dem Text, seiner zeichenhaften Faktur und seinen Sinnversprechen tatsächlich nach der verbindlichen Art eines Ethos zugetan, so ist als Alternative zur lectio facilior das unaufdringliche Insistieren mannigfacher, teils konkurrierender lectiones difficiliores zur Kenntnis zu nehmen, d. h. von Lektüren, die beständig weiter zurück in die Genese sowie tiefer hinein in die Strukturierung und oft hermetische Semantik des Geschriebenen forschen. Für die folgenden Versuche in der Auslegungskunst gilt deshalb durchweg die Maxime der lectio difficilior potior 6 , sprich der Steigerung exegetischer Wirkmächtigkeit durch die konsequente Auseinandersetzung mit dem Schwer- und Unverständlichen, mit dem Widersprüchlichen und Abgründigen, mit dem ‚radikal Imaginären‘ 7 und dem gefährlichen Realen in, an und von Literatur. Sie gilt umso mehr, als sämtliche Zugänge das und ihr Lesen in spiegelbildlicher Resonanz zur Produktionsseite der Literatur betreiben; zur Produktionsseite, wie sie in fertigen Textgestalten expliziert ist, wie sie sich implizit aber auch bis in einzelne Szenen, Akte und Gesten des Schreibens zurückverfolgen lässt. Angesichts solcher Aufmerksamkeit für den einzelnen „geste même d’écrire“ 8 liegt es nahe, zumindest terminologisch an einen Modus der Selbstverschriftung zu erinnern, dem sich Michel Foucault in seiner letzten Schaffensphase zugewandt hat. Aufbauend auf den Überlegungen zur „écriture de soi“, die der französische Wissenssoziologe in seiner Beschäftigung mit - vorwiegend antiken - Techniken der Subjektivierung anstrengt, kann man festhalten, 5 Cf. u. a. Bernhard Teuber, „Die Evidenz des blutigen Leibes und das christliche Imaginarium in La fuerza de la sangre . Plädoyer für die theopoetische Lektüre einer cervantinischen Novelle“, in: Cervantes’ „Novelas ejemplares“ im Streitfeld der Interpretationen: Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit, edd. Hanno Ehrlicher, Gerhard Poppenberg, Berlin: tranvía, W. Frey 2006, pp. 68-106, hier pp. 83, 87. 6 Im Gegensatz zur genuin textkritischen Maxime der lectio difficilior potior , die zur Entscheidung für eine bestimmte und gegen eine andere Lesart führt, streben die überwiegend literaturwissenschaftlichen lectiones difficiliores dieses Bandes nicht nach eindeutigen, Autorität stiftenden Festlegungen der Texte, die an die Stelle der lectio facilior träten, sondern vielmehr danach, die möglichen Textlektüren anzureichern und zu pluralisieren. Zur Transformation einer ursprünglich auf die biblische Textkritik angewandten Richtlinie in eine textanalytische Praxis cf. bereits Eva Horn, „Lectio difficilior“, in: Denkfiguren (Figures of Thought). Für Anselm Haverkamp , edd. ead., Michèle Lowrie, Berlin: August 2013, pp. 95-98, hier p. 95. Cf. in diesem Band auch Hanno Ehrlicher zum Anfang der Vida de Lazarillo de Tormes . 7 Zum Begriff des „imaginaire radical“ cf. die bekannten Ausführungen bei Cornelius Castoriadis, L’institution imaginaire de la société , Paris: Seuil 1975, bes. pp. 493-532. 8 Michel Foucault, „L’écriture de soi“ [1983], in: Id.: Dits et écrits (1954-1988) , edd. Daniel Defert, François Éwald, Paris: Gallimard 1994, t. IV, pp. 415-430, hier p. 422. <?page no="17"?> dass das Schreiben genauso wie das voraufliegende und damit alternierende Lesen integraler Bestandteil einer veritablen Lebenskunst sind. Beide zusammen rangieren darum unter den Praktiken, deren Ausübung einer „esthétique de l’existence“ 9 zugutekommt und die eine unabschließbare, wiewohl ethisch wirksame, ja ‚ethopoetische‘ 10 Arbeit am Selbst befördern. Doch mehr noch als von der Ausbildung eines Selbstverhältnisses, einer cura sui , um die sich Foucault bemüht, zeugen die nachstehenden Lektüren und die existentielle Ästhetik, die sie in den untersuchten Schreibweisen zu Tage fördern, von einer Sorge für den Anderen, sozusagen von einer cura alterius . Gleich der Rede auf dem Theater, haben wir es nämlich mit polyadressierten Texten über Texte zu tun, die sich einerseits freilich an ein interessiertes Publikum, andererseits und zuallererst aber an einen buchstäblich singulären Rezipienten richten. Die doppelseitige Orientiertheit jeder Widmung, die Gérard Genette in seinem Kompendium literarischer Schwellenphänomene erörtert, 11 verschärft sich in unserem Rahmen insofern, als die hiesigen Verfasserinnen und Verfasser sich zudem in einem Antwortverhältnis befinden; einem Antwortverhältnis, das obendrein auf einer vorgängigen Inspiration gründet: Bernhard Teuber, unserem Lehrer, Kollegen, Freund und Ratwie Richtungsgeber auf dem Feld der Literaturwissenschaft und der Romanischen Philologie, sind diese Seiten zugeeignet. Für Bernhard Teuber lasen und schrieben siebzig Weggefährtinnen und Weggefährten. Für Bernhard Teuber stehen schließlich die literarischen - und teils expositorischen - Texte, deren Auswahl mitnichten aleatorisch erfolgte, sondern im Bestreben, dem enormen Wissens- und Interessenshorizont ihres dédicataire gerecht zu werden. Die Vielzahl der fortan versammelten Kommentare rührt mithin aus dem genuinen Anliegen dieses Buches: Eine Text- und Lektüre-Gabe für Bernhard Teuber kommt nicht umhin, weiter auszuholen und die Stimmen vieler einzuholen. Denn allem anderen voran beeindruckt an Bernhard Teubers wissenschaftlichem Werdegang, dass er die Grenzen der romanischen Philologie, ohne sich respektlos über sie hinwegzusetzen, 12 regelmäßig in Frage stellt, - wo nötig - 9 Foucault, „L’écriture de soi“, p. 415. 10 Cf. Foucault, „L’écriture de soi“, p. 418: „Comme élément de l’entraînement de soi, l’écriture a, pour utiliser une expression qu’on trouve chez Plutarque, une fonction éthopoiétique : elle est un opérateur de la transformation de la vérité en êthos .“ 11 Cf. Gérard Genette, Seuils , Paris: Seuil 1987, p. 126: „Quel qu’en soit le dédicataire officiel, il y a toujours une ambigüité dans la destination d’une dédicace d’œuvre, qui vise toujours au moins deux destinataires: le dédicataire, bien sûr, mais aussi le lecteur, puisqu’il s’agit d’un acte public dont le lecteur est en quelque sorte pris à témoin.“ 12 Ganz im Gegenteil, wie Bernhard Teubers erhellende Standortbestimmung für das eigene Fach belegt; cf. „Diversität und Konvergenz an der Wurzel - Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung“, in: Romanische Studien 3 (2016), pp. 539-558. 18 Einleitung <?page no="18"?> klug verschiebt und mitunter kühn ausdehnt. Durchmisst man so besehen nur einmal die historische Spanne, die seine Publikationstätigkeit erschließt, dann sind es mindestens zwei Jahrtausende, in denen er die romanischen und ihnen verwandte bzw. sie speisende Literaturen abschreitet: In behutsamen, subtil gesetzten Schritten legt Bernhard Teuber den langen Parcours von der Silbernen Latinität und Senecas Tragödie 13 bis zur europäischen Moderne und Postmoderne mitsamt ihren (vorrangig französischen) Theoriebildungen zurück. 14 Auf diesem Weg macht er ausgiebig Station, um eine Trouvaille nach der nächsten aufzulesen, um stets das Neue auszuloten und das Alte aus einer neuen Warte nochmals anders zu beleuchten. In bevorzugter Weise geht und rastet er freilich im französischen Mittelalter und im spanischen Siglo de Oro, im europäischen Renaissance-Humanismus und in Sor Juana Inés de la Cruz’ weiblich transkulturiertem Kolonialamerika, auf dem Theater und im Versgeflecht, an den Gestaden der theologischen Überlieferung, der poststrukturalistischen Philosophie und Semiologie sowie der gallo- oder iberoromanischen Lyrik der Moderne. Ungeachtet derlei punktueller Historizität hebt Bernhard Teuber an einem markanten Haltepunkt seines Wirkens, in der Publikationsfassung der Habilitationsschrift, selbst zu einer Definition seiner ‚transitorischen‘ Arbeitsweise an, um diese nicht zufällig mit der oben benannten, in der Antike wurzelnden Filiation selbsttechnischer Übungen in Verbindung zu bringen: Das Durchgehen der Texte sollte als ein Durch- oder Vorübergang, als ein transitus , verstanden werden, der nirgendwo hinführt und sich nirgendwo seßhaft macht - ein Exodus ohne Land der Verheißung. Wenn unsere Interpretationen einzelner Text- 13 Cf. „Die Tragödie als Theater der Macht: Repräsentation und Verhandlung königlicher Souveränität bei Seneca und im frühneuzeitlichen Drama der Romania“, in: Theater im Aufbruch - Das europäische Drama der Frühen Neuzeit , edd. Roger Lüdeke, Virginia Richter, Tübingen: Niemeyer 2008, pp. 155-180. 14 Aus Bernhard Teubers umfang- und einfallsreichem Dialog mit der französischen Anthropologie, Soziologie und Philosophie, vom Collège de Sociologie bis zum Dekonstruktivismus, seien repräsentativ genannt: „Narziß, der Leib und der Tod bei Derrida und Valéry - Zum Widerstreit zwischen philosophischer und poetischer Anthropologie“, in: Recherches valéryennes / Forschungen zu Paul Valéry 7 (1994), pp. 71-90 [publ. 1996]; „Fest/ Feier“, in: Ästhetische Grundbegriffe , edd. Karlheinz Barck et al., Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001, vol. II, pp. 367-380; „Sacrificium auctoris - Die Anthropologie des Opfers und das postmoderne Konzept der Autorschaft“, in: Autorschaft - Positionen und Revisionen (Germanistisches DFG-Symposion), ed. Heinrich Detering, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2002, pp. 121-141; „Die mystische Mär - Michel de Certeaus postmoderne Relecture der christlichen Tradition“, in: Die Kirchenkritik der Mystiker - Prophetie aus Gotteserfahrung, edd. Mariano Delgado, Gotthard Fuchs, Stuttgart/ Fribourg: Kohlhammer/ Academic Press Fribourg 2005, pp. 225-240; im Anschluss an letztgenannten Beitrag findet sich zudem Bernhard Teubers Übersetzung eines kurzen Textes von Michel de Certeau: „Weiße Ekstase“, ibid., pp. 241-244. Einleitung 19 <?page no="19"?> stücke an ihr Ende kommen, dann jedenfalls selten deswegen, weil ein Sinn sich endlich erschlossen, sondern weil er sich nun endgültig verflüchtigt hat. Die Übung des Textdurchgehens in einer Heimatlosigkeit, die sich des Sinns entledigt hat, ist vielleicht ein philologisches Äquivalent jener Selbsttechniken, die in der antiken Philosophie und später auch im Christentum als ἄσκησις oder exercitium , als μελέτη oder meditatio bezeichnet wurden und auf die Pierre Hadot sowie Michel Foucault in den letzten Jahren gleichermaßen die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt haben. Sie entspricht aber auch jener Aktivität der ruminatio , des Wiederkäuens, als welche seit der Antike die Einverleibung des Gelesenen ins Gedächtnis gedeutet wurde. 15 Diesem Anspruch eines (Hin-)Durchgangs ohne vorgezeichnete Ankunft, einer unentwegten re-lecture ohne finale Stillstellung des Gelesenen und einer geradezu ‚wiederkäuenden‘ Reprise des Denkens unter jeweils anderen Bedingungen und Lichtverhältnissen hat sich Bernhard Teuber von Beginn seiner philologischen Laufbahn an gestellt, um ihm bis zum heutigen Tag treu zu bleiben. *** Damit ist aber zugleich die Herausforderung skizziert, der sich die hier firmierenden Autorinnen und Autoren in ihrem Bemühen gegenübersahen, das in Bernhard Teubers Schriften manifeste Ethos der Lektüre produktiv zu machen und fortzuführen. Dabei geht es nicht nur um thematische Fortschreibungen, sondern auch um die übertragende Handhabung einer philologischen τεχνή bzw. ars , die seit jeher dem ‚wiederkäuenden‘ Durchgang durch Texte gewidmet ist, nämlich des Kommentars. Wie Bernhard Teuber selbst in seiner Monographie über Johannes vom Kreuz exemplarisch vorexerziert hat, ist das Kommentieren eine Kulturtechnik, die, obschon dem Ethos einer textnahen Lektüre verpflichtet, gleichzeitig verschiedenste Grade essayistischer Freiheit gegenüber dem kommentierten Text erlaubt: Zu ihm setzen sich die Kommentierenden in ein Verhältnis der respektvollen Pflege, aber eventuell auch der listigen Dekonstruktion einer Tradition. Und natürlich ist im Kommentieren ebenso die - für Bernhard Teuber fundamentale - Beziehung zu einem sakralen bzw. im Kommentar selbst sakralisierten Text impliziert; 16 im Bewusstsein dieser Relation kann sich die Kommentarpraxis jedoch ganz gezielt auch der niederen , materialistischen Arbeit an profanen Texten verschreiben, wie etwa Erich Auerbachs 15 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 43. 16 Cf. Jan Assmann, „Text und Kommentar. Einführung“, in: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV , edd. id., Burkhard Gladigow, München: Fink 1995, pp. 9-33. 20 Einleitung <?page no="20"?> Mimesis -Buch, das zweifelsohne zu den wichtigsten Modellen für die fortan unternommenen Textlektüren gehört. 17 Das Selbstverständnis des vorliegenden Bandes lädt nicht zuletzt dazu ein, das von Bernhard Teuber angeregte Ethos der Lektüre auch auf Forschungsbereiche oder Texte auszuweiten, die über dessen eigene Forschungen hinausreichen. Niemand musste sich veranlasst fühlen, den Impulsgeber dieser Seiten in die - von ihm stets gemiedene - Position einer autoritätsstiftenden Kapazität zu spielen; in allen Beiträgen ist er indes als mitlesender und mitkommentierender ‚Komplize‘ 18 präsent. Gerade mit den Übertragungen einer bestimmten Praxis der Lektüre sollte dem zitierten Anspruch eines „nicht-seßhaften“ 19 , in ständiger Bewegung und Veränderung befindlichen Kommentars Rechnung getragen werden. Zur besseren Übersicht wurden die folgenden Besprechungen dennoch in acht Sektionen reterritorialisiert , die wesentliche Problematisierungsachsen aus Bernhard Teubers wissenschaftlichem Werk aufgreifen und an verschiedene Stationen seines akademischen Curriculums anschließen. I. Eine erste Achse bildet dabei der Themen- und Theoriekomplex aus Karneval, Komik und Ironie, dem Bernhard Teuber seit seinem Lehramts- und Magisterstudium (Latein, Französisch, Spanisch) in München und Tours bzw. seit seiner Assistentur an der Ludwig-Maximilians-Universität besondere Aufmerksamkeit schenkt und in dessen Erkundung er jeweils andere, unbetretene Pisten auftut. Allem voran ist hier selbstverständlich die Dissertationsschrift aufzurufen, die Bernhard Teuber unter Rainer Warnings Betreuung verfasst, im Jahr 1986 abschließt und 1989 unter dem suggestiven Titel Sprache, Körper, Traum - Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit veröffentlicht. 20 Quellenkundlich fundiert nimmt die Studie die in den 1980er Jahren rezente Diskussion um Michael Bachtins dialogische Literatur- und Kulturwissenschaft auf, um vorwiegend das Rubrum des Karnevalesken in einschlägigen spanischen und französischen Erzähltexten aus Früher Neuzeit zu profilieren. Von Bernhard Teuber in eine detaillierte funktions- und diskursge- 17 Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen: Francke 11 2015. Zur niederen Lektüre- und Kommentarpraxis Auerbachs cf. Friedrich Balke, „Mimesis und Figur: Erich Auerbachs niederer Materialismus“, in: Mimesis und Figura: mit einer Neuausgabe des „Figura“-Aufsatzes von Erich Auerbach , edd. id., Hanna Engelmeier, Paderborn: Fink, 2016, pp. 13-88. 18 Variierend aufgenommen ist freilich Julio Cortázars Konzept des „lector cómplice“, cf. Julio Cortázar, Rayuela [1963], ed. Andrés Amorós, Madrid: Cátedra 2007, p. 560sq. (Kap. 79). 19 Cf. nochmals Teuber, Sacrificium litterae , p. 43. 20 Cf. Sprache, Körper, Traum - Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989. Einleitung 21 <?page no="21"?> schichtliche Perspektive gebracht, offenbaren die Prosafiktionen eines François Rabelais, Francisco de Quevedo, Miguel de Cervantes und Charles Sorel solcherart zum einen, wie der „Karneval als ein offenes semiotisches System“ noch in literarischer Aneignung eine „beträchtliche Aussagekraft für den Zustand einer Gesellschaft, einer Kultur oder einer Lebensform“ 21 entfaltet. Zum anderen gelingt es in der Konzentration auf die titelgebende Gegenstandstrias Sprache - Körper - Traum überzeugend, tendenziell subversive Momente zu lokalisieren, kraft derer die Literatur der Renaissance in ihrer zeichenhaften Materialität, in ihren grotesken Anatomien sowie in der traumhaften Nähe zum Wahnsinn „als Gegenprojek[t]“ 22 zu einem rationalistisch grundierten Modernisierungs- und Zivilisationsprozess (Norbert Elias) erscheint. Gewiss vermögen derlei verknappte Lemmata weder etwas über den werkspezifischen Reichtum der unternommenen Interpretationen auszusagen noch die Argumentationsrichtung zu skizzieren, in der Bernhard Teuber die Thesenbildung ausbauen wird und sowohl die Lachkultur(en) des romanischen Mittelalters als auch die literarisch-rhetorische Verdichtung des Komischen in Figurationen des Satirischen und Ironischen ausleuchtet. 23 Das hermeneutische Potential, das er hier reichlich hebt, werden einige der nachstehenden Textbetrachtungen fruchtbar machen. II. Beginnend mit der Dissertationsschrift extrapoliert Bernhard Teuber zudem immer wieder die selbstreflexiven, wenn man so will: metaliterarischen und zuweilen kulturkritischen Dimensionen, die den literarisch entworfenen Imaginationswelten und Traumbildern eignen. Wissensgeschichtlich breit angelegt und textanalytisch ingeniös rekonstruiert er das Paradigma des Onirischen entlang jeweiliger Epochenverhältnisse, 24 während er andernorts - so etwa 21 Beide Zitate: Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 4sq. 22 Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 309. 23 Wiederum nur beispielhaft seien hierzu folgende Untersuchungen angeführt: „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? - Das Fabliau des französischen Mittelalters und Rabelais’ komischer Roman“, in : Komische Gegenwelten , edd. Werner Röcke, Helga Neumann, Paderborn: Schöningh 1999, pp. 237-249; „Das Lachen der Troubadours - Zur performativen Kraft satirischer Dichtung im mittelalterlichen Occitanien“, in: Lachgemeinschaften - Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit , edd. Werner Röcke, Hans Rudolf Velten, Berlin/ New York: De Gruyter 2005, pp. 174-190; hinsichtlich der Ironie sei auf die - leider nicht publizierte - Antrittsvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 13. Mai 1998 unter dem Titel „Die Wiederholung - Eine Denkfigur Kierkegaards bei Deleuze und Borges“ verwiesen (im vorliegenden Band knüpft Hermann Doetsch an diese Überlegungen an). 24 Cf. etwa „Literarisches Träumen im Frankreich der Frühen Neuzeit − Inszenierung, Kritik und Apologie des Traums zwischen Ronsard und Racine“, in: Traum und Politik − Deutungen sozialer Wirklichkeit im Europa des Barock, edd. Peer Schmidt, Gregor Weber, 22 Einleitung <?page no="22"?> im Rahmen des Graduiertenkollegs Imaginatio borealis nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für französische und spanische Literatur an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel (1995-2000) - grundlegende Einsichten in die Historizität, Produktivität und Ambiguität der Imagination gewährt. 25 Denn wenn ein Erzähltext nur noch zum Schein als „ imaginatio historiae “ auftritt, um im Grunde, wie Bernhard Teuber u. a. für Gustave Flauberts Tentation de saint Antoine (letzte Fassung 1874) dartut, eine „ historia imaginationis “ zu verfassen, dann verwischen in der Tat die Grenzen und erweist sich die literarische Vorstellung genauso als kontingentes „Produkt der Geschichte“ 26 wie die Geschichte ihrerseits zur literarischen Phantasmagorie gerät. Das so umrissene Widerspiel zwischen Wirklichem und Erdichtetem, zwischen Faktizität und Fiktion sowie nicht weniger zwischen Wahrheit, Lüge und den Alternativen beider greifen einige der anschließenden Überlegungen auf, in der Hoffnung, sich auf diesem Weg spielerisch mit ihrem unsichtbaren Gegenüber zu treffen. III. Von derlei Begegnungen im Grenzland des Imaginären ist es auf den ersten Blick eine weite Reise, bis man dorthin gelangt, wo Bernhard Teuber spätestens mit seiner Habilitation einen großen Anteil seiner Forschungsaktivitäten konzentriert: Gemeint ist das interdisziplinäre Untersuchungsfeld der Mystik, deren generische Unsagbarkeit ineins als authentische religiöse Erfahrung wie als literarisches Übersetzungsphänomen vor Augen tritt. Ebendeshalb trügt der Schein aber aufs Neue, ist der vermeintlich so weite Abstand eine optische Täuschung, die erst in den rechten Maßstab kommt, sobald das Mystische zugleich als Textbewegung und unter Umständen gar als Textspiel begriffen werden kann. Ohne sie deshalb allzu sehr zu forcieren, dürfen wir so vielleicht Bernhard Teubers Konzeptualisierung der Mystik verstehen, die er eingedenk ihrer Berlin: Akademie-Verlag 2008, pp. 77-110; und „Sueño y metafísica en Sor Juana Inés de la Cruz“, in: El sabio y el ocio - Zu Gelehrsamkeit und Muße in der spanischen Literatur und Kultur des Siglo de Oro (Festschrift für Christoph Strosetzki zum 60. Geburtstag), Tübingen: Narr 2009, pp. 333-342. 25 Cf. exemplarisch „Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur“, in: Ultima Thule - Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart , edd. Annelore Engel-Braunschmidt et al., Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2001, pp. 172-201; „Imagination und Historie in Flauberts ‚Tentation de saint Antoine‘“, in: Poetologische Umbrüche (Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus), edd. Werner Helmich et al., München: Fink 2002, pp. 105-124; „Literarische Imagination statt Hexerei - Zur Dialektik von Verzauberung und Entzauberung in Cervantes’ ‚Coloquio de los perros‘“, in: Der Prozess der Imagination - Magie und Empirie in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Gerhard Penzkofer, Wolfgang Matzat, Tübingen: Niemeyer 2005, pp. 241-259. 26 Alle drei Zitate: Teuber, „Imagination und Historie“, p. 124. Einleitung 23 <?page no="23"?> sakralen Provenienz stets auch als Schreiben im Zeichen des Heterologen 27 auffasst und deren Ausformungen er hauptsächlich, gleichwohl nicht nur für das spanische Siglo de Oro und näherhin für San Juan de la Cruz und Teresa de Ávila exploriert. 28 Als eindrucksvolle Summe der intensiven Auseinandersetzung erscheint 2003 - nachdem Bernhard Teuber an die Ludwig-Maximilians- Universität München auf einen Lehrstuhl für französische und spanische Literatur sowie romanisches Mittelalter zurückgekehrt ist - die aus der Habilitation hervorgegangene, mehr als fünfhundertseitige Monographie (zuzüglich eines Supplementbands mit Übersetzungen) Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz . In wegweisender Verschränkung theologischer, semiotisch-rhetorischer und kultursoziologischer Denkfiguren widmet sich die Studie den drei großen, ebenso dunklen wie anspielungsreichen Gedichten des San Juan de la Cruz: Noche oscura , Llama de amor viva und dem berühmten Cántico espiritual . Die Tradition biblischer Allegorese und die Artikulationsmodi negativer Theologie ergänzt sie dabei um Jacques Derridas Dekonstruktion sowie Georges Batailles Anthropologie der unproduktiven Verausgabung, um sich so der exzessiven, ja nachgerade 27 Der Begriff der Heterologie , verstanden als Wissenschaft von der Alterität, wird hier in einem Sinn evoziert, wie ihn Michel de Certeau in etlichen Überlegungen umkreist; cf. besonders Michel de Certeau, Heterologies: Discourse on the Other [1986], trad. Brian Massumi, Minneapolis: University of Minnesota Press 2000. 28 Luzide Einblicke in die mystische Literatur der Romania geben - neben Bernhard Teubers oben diskutiertem opus magnum - auch: „Zur Frage des Neuplatonismus in der Dichtung der spanischen Mystik“, in: Philosophie in Literatur , edd. Christiane Schildknecht, Dieter Teichert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, pp. 230-256; „Le sacrifice du sujet dans la poésie mystique espagnole du XVIe siècle“, in: Rue Descartes 27 (mars 2000): Dispositifs du sujet à la Renaissance , pp. 67-78; „Der verschwiegene Name - Exegese, Hohelieddichtung und Mystagogik bei San Juan de la Cruz im Kontext der spanischen Renaissance“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang - Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte , edd. Walter Haug, Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen: Niemeyer 2000, pp. 773-799; „Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge - Autobiographisches Schreiben als Ästhetik mystischer Existenz bei Teresa von Ávila“, in: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge , ed. Maria Moog-Grünewald, Heidelberg: Winter 2004, pp. 57-72; „Acerca de confesión y de contemplación − La escritura autobiográfica de Santa Teresa de Jesús considerada como estética de la existencia mística“, in: „Una de las dos Españas…“: Representaciones de un conflicto identitario en la historia y en las literaturas hispánicas (estudios reunidos en homenaje a Manfred Tietz), edd. Gero Arnscheidt, Pere Joan Tous, Frankfurt a. M. u.a.: Vervuert/ Iberoamericana 2007, pp. 859-881; „Desautorizando al autor - Autoría y desasimiento en la poesía mística de San Juan de la Cruz“, in: El autor en el Siglo de Oro - Su estatus intelectual y social , edd. Manfred Tietz, Marcella Trambaioli, Vigo: Academia del Hispanismo 2011, pp. 421-438; „Der Berg Karmel - Formationen einer mystischen Topographie“, in: Über Berge - Topographien der Überschreitung , edd. Susanne Goumegou et al., Berlin: Kadmos 2012, pp. 38-55. 24 Einleitung <?page no="24"?> perversen und dennoch auf Anderes verweisenden Lyrik des Karmelitermönchs zu nähern. 29 Ein zentraler Deutungsschluss besagt demnach, dass San Juan de la Cruz’ Äußerungsszenen „nicht mehr nur eine erotische oder allegorische Überschreibung des Kreuzesopfers“ realisieren, sondern als veritable ‚Buchstabenopfer‘ „nunmehr selber z[u] semiotischen Akt[en] einer supplementären Kreuzesnachfolge“ 30 avancieren. Die breite, einhellig anerkennende Aufnahme, die Bernhard Teubers monumentale Arbeit über die romanistischen Fachgrenzen hinaus fand, gibt seiner literarisch wie theologisch riskanten Engführung in jeder Hinsicht recht: Sacrificium litterae gilt mittlerweile als maßgebliche Referenz für die San-Juan-Forschung und die Beschäftigung mit mystischer Dichtung allgemein, veranschaulicht mit Nachdruck, wie sehr Letztere auf die Literaturgeschichte(n) der Romania im Ganzen ausstrahlt, 31 und exemplifiziert einlässlich, welch reger Austausch zwischen dem Heiligen und dem Profanen 32 nicht nur in Früher Neuzeit statthat. IV. Ferner rückt die „Theopoetik“ 33 , die Bernhard Teuber darin konturiert und auf die hier mehrere Interpretinnen und Interpreten replizieren werden, zwangsläufig auch Gegenstände in den Fokus, die gleichfalls jenseits oder, genauer wohl, diesseits der Epiphanien der Mystik bedeutsam werden. Eine ternäre Konstellation bilden diesbezüglich Opfer, Zeichen und Körper, deren komplexe wechselseitige Beziehungen sich sicherlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, die in literarästhetischer Anverwandlung nichtsdestoweni- 29 Cf. hierzu bereits Bernhard Teuber, „Saint Jean de la Croix lecteur de Bataille - Ein Versuch zur erotischen Transgression im Lied von der dunklen Nacht“, in: Bataille lesen - Die Schrift und das Unmögliche , edd. Helga Finter, Georg Maag, München: Fink 1992, pp. 73- 100. 30 Beide Zitate: Teuber, Sacrificium litterae , p. 42. 31 In beeindruckender Weise transhistorisch argumentiert Bernhard Teuber etwa in „Allegoria apophatica - Über negative Theologie und erotischen Exzeß bei Dionysius Areopagita, San Juan de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Studies in Spirituality 3 (1993), pp. 213-247. 32 Cf. hierzu den reichhaltigen Band Zwischen dem Heiligen und dem Profanen - Religion, Mythologie, Weltlichkeit in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit , den Bernhard Teuber im Rahmen des Hispanistischen Kolloquiums zusammen mit Wolfram Nitsch ediert hat (München: Fink 2008). 33 Teuber, Sacrificium litterae , pp. 23-28/ 270-275/ 505-517. Andernorts definiert Bernhard Teuber („Die Evidenz des blutigen Leibes“, p. 73sq.) seine ‚theopoetische‘ Hermeneutik folgendermaßen: „Die Theopoetik , an den Verfahren weltlicher Dichtung geschult, kehrt also das spielerische, fiktionale Element hervor, das auch noch der heiligen Rede inhärent wäre, freilich nicht, um die Theologie als eine falsche oder lügenhaften Rede zu denunzieren, sondern um die Lüge (und das wäre in einem tieferen Sinn die Sprache an sich, insofern sie behauptet, Präsenz von etwas zu sein, das eigentlich absent ist) als das unverzichtbare Medium, als das täuschend echte Kleid, ja als den unverborgenen Leib der Wahrheit zu erweisen.“ Einleitung 25 <?page no="25"?> ger beachtliche Brisanz gewinnen. Bernhard Teuber demonstriert dies, indem er die rituellen Re-Präsentationen des Opfers u. a. mit der Inszenierung auf der Theaterbühne zusammendenkt 34 und die Semiotik sakrifizieller Gewalt überdies auf physische Implikationen hin befragt. Dass Körperlichkeit oder Materialität in Wort- und Bildkunst indes überhaupt erst als vermittelte, also immer schon enkodiert in Zeichensysteme und kanalisiert von Medien erscheinen, wird derart ebenfalls augenfällig. Um die historisch bedingte Medialität literarischer Körperbilder einzufangen, 35 verfällt Bernhard Teuber aber weder in modische Begriffslastigkeit noch erhebt er - wie so oft geschehen - die Moderne zum allein aussagekräftigen Kommunikations- und Informationszeitalter. Stattdessen macht er Vermittlungsphänomene samt ihren semantischen Überschüssen inmitten alter Texte und noch angesichts des toten Leibs einer Dichterin namhaft, 36 um erstere weniger als technische Ereignisse denn vielmehr als Verlängerungen einer genuin literarischen Rhetorizität zu diskutieren. V. Als rhetorisches Verfahren der Übertragung, des uneigentlich verkleidenden Sprechens oder, etymologisch kürzer, der Anders-Rede kennen wir auch die Allegorie, deren abgründige Wirkungsmacht Bernhard Teuber sowohl theoretisch - auf den Spuren eines Walter Benjamin oder Paul de Man - zu erhellen trachtet als auch in ihrer doppelten Praxisrelevanz als literarischen Tropus und exegetisches Instrumentarium beobachtet. Es zählt zu seinen herausragenden 34 Cf. „Die frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater? - Inszenierungsformen ritueller Gewalt im spanischen Barock und in der französischen Klassik“, in: Lesbarkeit der Kultur - Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie , edd. Gerhard Neumann, Sigrid Weigel, München: Fink 2000, pp. 79-99; „La comedia considerada como rito sacrificial: apuntes para una lectura antropológica del teatro de honor“, in: Teatro español del Siglo de Oro - Teoría y práctica , ed. Christoph Strosetzki, Frankfurt a.M.: Vervuert 1998, pp. 344-354. 35 Cf. hierzu die von Bernhard Teuber und Horst Weich herausgegebene Kompilation Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen , Madrid, Frankfurt a.M.: Vervuert 2002; und Bernhard Teubers darin befindlichen Aufsatz „Cuerpos sagrados - En torno a las imágenes perversas de la carne en España“, pp. 35-47. Cf. ferner auch Teuber, Sprache - Körper - Traum , pp. 129-227; „Sichtbare Wundmale und unsichtbare Durchbohrung - Die leibhafte Nachfolge Christi als Paradigma des anhermeneutischen Schreibens“, in: Stigmata - Poetiken der Körperinschrift , edd. Bettine Menke, Barbara Vinken, München: Fink 2004, pp. 155-179; sowie Vom Flugblatt zum Feuilleton - Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive , edd. Wolfram Nitsch, Bernhard Teuber, Tübingen: Narr 2002. 36 Angespielt ist auf die Beiträge „Selbstportrait der Dichterin als Leichnam? - Malerei, Poesie und Begehren bei Sor Juana Inés de la Cruz“, in: Intermedium Literatur - Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft , edd. Roger Lüdeke, Erika Greber, Göttingen: Wallstein 2004, pp. 209-236; und „Per speculum in aenigmate - Medialität und Anthropologie des Spiegels vom Mittelalter zur frühen Neuzeit“, in: Vom Flugblatt zum Feuilleton , pp. 13-33. 26 Einleitung <?page no="26"?> Verdiensten für die romanische Literaturwissenschaft, die Nuancen bzw. Verschiebungen zwischen theologischer oder poetischer Allegorie 37 nachvollzogen und das differentielle Moment, das allegorischem Dichten und Deuten per se innewohnt, gleichermaßen minutiös wie undogmatisch scharfgestellt zu haben. Was somit einmal in der Auslegung des Hohelieds greift und hermeneutische Grauzonen zwischen allegoria apertis permixta und allegoria tota aufspreizt, kehrt ein anderes Mal in den mystischen Versen des San Juan de la Cruz 38 wieder, um schließlich in der änigmatisch modernen Lyrik des Kubaners José Lezama Lima 39 zeitgenössischere Gestalt anzunehmen. Die Figurationen des Allegorischen finden mannigfaltigen Widerhall in den vorliegenden Les-Arten, deren transhistorische Abschattungen Bernhard Teubers Argumentationslinie in die eine oder andere Richtung fortsetzen. VI. In den Vorstellungen, welche die verba der Allegorie entfalten, faltet sich nicht selten die- oder derjenige ein, die/ der ebendiese verba kommunikativ verbürgt. Seitdem er mit den schillernden Manifestationen der mystischen Äußerungsinstanz konfrontiert ist, nimmt sich Bernhard Teuber auch nachhaltig der literarischen Falten eines Selbst an, das sich beinahe unbemerkt bemerkbar macht, effektvoll inszeniert oder bis zur völligen Selbstaufgabe reflektiert. An diversen Standorten der Literaturgeschichte und zuweilen in Umlegung auf literaturtheoretische Erwägungen schickt er sich an, die widerstreitenden Dynamiken der Er- und Entmächtigung 40 eines Textsubjekts werkimmanent und gattungsgeschichtlich, diskursarchäologisch, ethik- und ästhetikgeschichtlich zu rekonstruieren. Das imposante Panorama, das sich solcherart aufspannt, reicht von der narrativen Initiation des arthurischen Ritters über facettenreiche Varianten frühneuzeitlicher Subjektkonstitution und spirituell-autobiographischer Introspektion bis zur Ausbildung je nachdem starker oder schwacher AutorInnen- und DichterInnenschaft. 41 Bei aller Vertiefung in die Ein- und Aus- 37 Cf. „Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas: Prudencio, Dante, Lezama Lima“, in: Dante - La obra total , edd. Juan Barja, Jorge Pérez de Tudela, Madrid: Círculo de Bellas Artes 2009, pp. 303-350; sowie Sacrificium litterae , pp. 47-53. 38 Cf. „Erotik und Allegorie bei San Juan de la Cruz“, in: Romanische Forschungen 104/ 2 (1992), pp. 104-131; sowie Sacrificium litterae , passim. 39 Cf. „Allegoria apophatica“, pp. 213-247; und „Alegoría de los teólogos, alegoría de los poetas“, pp. 303-350. 40 Zum ebenfalls von Bernhard Teuber übernommenen Terminus cf. „Figuratio impotentiae. Drei Apologien der Entmächtigung bei Montaigne“, in: Konfigurationen der Macht in der frühen Neuzeit , edd. Rudolf Behrens, Roland Galle, Heidelberg: Winter 2000, pp. 105-126. 41 In der Reihenfolge obiger Nennung seien aus Bernhard Teubers umfangreicher Beschäftigung mit literarischer Subjektivität beispielhaft angeführt: „Wie Mann ein Ritter wird - Wege der Initiation im arthurischen Roman des Chrétien de Troyes ( Erec et Enide )“, in: Einleitung 27 <?page no="27"?> faltungen schreibender Subjektivität, die Bernhard Teuber in Zwiesprache mit Überlegungen eines Michel Foucault, Michel de Certeau, Maurice Blanchot, Jacques Derrida oder Georges Bataille ergründet, unterschlägt er gleichwohl niemals, dass die Selbsterfahrung , auch die literarische, nur in der Öffnung auf eine Welterfahrung 42 vor dem Solipsismus gefeit ist. VII. Konsequenterweise weitet er regelmäßig die Perspektive, um über die subjektive Innenwendung genauso wie über die intersubjektive Nähe-Kommunikation hinaus umfassendere Formationen der Kulturgeschichte auszuloten - seit der Berufung auf seinen Münchener Lehrstuhl vermehrt auch in einer mediävistischen Optik, die zahlreiche Textbeobachtungen in diesem Rahmen aufnehmen werden. Sehr früh schon zeichnete sich hingegen ab, 43 dass es insbesondere Transfer- und Hybridisierungsprozesse, also je partikuläre Ausprägungen von Translatio und Konvivenz sind, die in Bernhard Teubers sensiblen Blick treten. Fußend auf dem Befund einer aporetischen, meist zerstörerischen Ursprungs- und Gründungsgewalt 44 hält er Ausschau nach Zeiten und Räumen, in welchen kulturelle, politische oder sprachliche Anfänge und Entwicklungen, Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens - Heldenlieder, Romane und Novellen in ihrem narrativen Kontext , edd. Bernhard Teuber et al., Heidelberg: Winter 2016, pp. 139-158; „Chair, ascèse et allégorie: sur la généalogie chrétienne du sujet désirant selon Michel Foucault“, in: Vigiliae Christianae 48/ 4 (1994), pp. 367-384; „‚Vivir quiero conmigo‘ - Verhandlungen mit sich und dem anderen in der ethopoetischen Lyrik des Fray Luis de León und des Francisco de Aldana“, in: Welterfahrung - Selbsterfahrung . Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Bernhard Teuber, Tübingen: Niemeyer 2000, pp. 179-206; mit Christian Wehr: „Exercices spirituels et écriture baroque chez Quevedo“, in: I Gesuiti e la Ratio Studiorum , edd. Manfred Hinz et al., Roma: Bulzoni 2004, pp. 279-291; „Von der Lebensbeichte zur kontemplativen Selbstsorge“ pp. 57-72; „Selbstgespräch, Zwiegespräch, Seelengespräch − Zur Ökonomie spiritueller Kommunikation“, in: Seelengespräche (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch), edd. Beatrice Jakobs, Volker Kapp, Berlin: Duncker & Humblot 2008, pp. 57-79; „Sacrificium auctoris“, pp. 121-141; „Strategien der Konstitution von Dichterschaft und Geschlechterperformanz bei Arthur Rimbaud“, in: Strategien der Autorschaft in der Romania - Zur Neukonzipierung einer Kategorie im Rahmen literatur-, kultur- und medizinwissenschaftlich basierter Geschlechtertheorien , edd. Claudia Gronemann et al., Heidelberg: Winter 2012, pp. 117-141; „Sor Juana Inés de la Cruz als Moralistin: Eigenliebe und Genuss zwischen Anthropologie und Theologie“, in: Literatur und Moral , edd. Volker Kapp, Dorothea Scholl, Berlin: Duncker & Humblot 2011, pp. 227-244. 42 Cf. den Band Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Bernhard Teuber, Tübingen: Niemeyer 2000. 43 Cf. „Europäisches und Amerikanisches im frühneuzeitlichen Diskurs über Stimme und Schrift“, in: Einheit und Vielfalt der Iberoromania - Geschichte und Gegenwart , edd. Christoph Strosetzki, Manfred Tietz, Hamburg: Buske 1989, pp. 45-59. 44 Cf. u. a. „Ursprung und Gewalt bei Rousseau“, in: Rousseaus Welten , edd. Simon Bunke et al., Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, pp. 231-263. 28 Einleitung <?page no="28"?> statt als willkürliche Zäsuren und nachgängige Setzungen zu klaffen, eventuell in organischen Übergängen, in kollektiver Aushandlung oder zumindest in einem einigermaßen verträglichen Miteinander statthaben könnten. Doch bekanntermaßen bleibt auch das Spanien der drei Kulturen, dem neben den transatlantischen Beziehungen und der frühneuzeitlichen Fortschreibung der Antike Bernhard Teubers Hauptaugenmerk gilt, 45 ein Interregnum ertragreicher Pluralität, an dessen Erbe gerade heute wieder nachdrücklich zu erinnern ist. VIII. Die evozierte Spannung zwischen Pluralität und Monologizität verpflichtet gleichsam, auch Epochen wie die spanische Gegenreformation, die von einer eindeutigen hierarchischen Diskursordnung determiniert scheinen, einer vieldeutigen literarischen und nicht minder politischen Relektüre zu unterziehen. Was dabei auf den ersten Blick aus den Herrschaftsdiskursen und ihren sichtbaren Manifestationen verbannt ist, bleibt in historischen Unterströmen dennoch gegenwärtig, um dann und wann an die Oberfläche zu drängen. Auf eine abstrakte Formel gebracht und von konkreter Geschichtlichkeit abgesehen, geht es mithin um eine Denkbewegung, die von der Präsenz der Absenz handelt, wie sie Bernhard Teuber in seinen Schriften immer wieder umtreibt. Sehr prominent widmet er sich ihr etwa im Dialog mit der hispanoamerikanischen Lyrik, in der er die charakteristisch dichte Anwesenheit sprachlicher Signifikanten im komplementären Verbund mit einer markanten Abwesenheit bzw. dem Verlust greifbarer, weltwie existenzbestimmender Signifikate sieht. 46 Solch eine „presencia de la ausencia“ erkennt er jedoch auch in anderen Zusammenhängen am 45 Wir nennen abermals einige Beispiele in Auswahl: La obra de Américo Castro y la España de las tres culturas, sesenta años después , edd. Martin Baumeister, Bernhard Teuber, Iberoamericana X/ 38 (2010), pp. 89-158; „Am Anfang war… das Bild: Zu Vicos Genealogie von Sprache, Gesellschaft und Kultur“, in: Am Anfang war … : Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne , edd. Inka Mülder-Bach, Eckhard Schumacher, München: Fink 2008, pp. 43-70; „Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? - Montesquieus Rückschau auf das Römische Reich und dessen unheimliche Wiederkehr bei Rousseau“, in: Übertragene Anfänge − Imperiale Figurationen um 1800 , edd. Tobias Döring et al., München: Fink 2010, pp. 77-102; „Pèlerinage imaginaire en Orient - Le comté de Tripoli et le troubadour Jaufré Rudel“, in: Parcourir le monde - Voyages d’Orient , ed. Dominique de Courcelles, Paris: École des Chartes 2013, pp. 51-71; „Rom - Imperium Romanum“, in: Handbuch Literatur & Raum , edd. Jörg Dünne, Andreas Mahler, Berlin, Boston: De Gruyter 2015, pp. 324-334. 46 So Bernhard Teuber u. a. in Auseinandersetzung mit Octavio Paz’ Poetologie; cf. „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea de Hispanoamérica“, in: Iberoromania 39 (1994), pp. 74-94, hier p. 81: „En el género narrativo la presencia indudable de un mundo significable topaba con la ausencia de un lenguaje apropiado; en la poesía [hispanoamericana], al revés, nos enfrentamos a la carencia, a la ausencia del ser, que se traduce en un lenguaje cuya principal característica es su estar ahí presente. Tal vez exista sólo un lenguaje y nada más.“ Einleitung 29 <?page no="29"?> Werk, in der literarisch unheimlichen Wiederkehr des ehedem Verdrängten, 47 in der erwähnten Apophatik mystischer Rede und in der allegorischen Maskierung anwesend-abwesender Aussagen. Den scharfsinnigen Abstraktionen, die damit verbunden sind, werden etliche Beiträge nachspüren und so dem erwidern, der in ihren Ausführungen allenfalls physisch absent, in Worten und Gedanken indes unentwegt zugegen ist. Nicht von ungefähr schließen die folgenden Seiten mit einem Brückenschlag zwischen literaturhistorischem Textkommentar und einer persönlichen Perspektive, die auf den akademischen Alltag mit Bernhard Teuber blickt und diesen nur insofern als Dienst nach Vorschrift schildert, als das Vorgeschriebene aus Thélème stammt. Den Herausgebern dieses Bandes, die sich eher als Kompilatoren denn als Urheber einer gemeinsamen Unternehmung verstehen, obliegt hingegen die unbedingte Vorschrift und Aufgabe, einen vielfachen Dank zu sagen: Dank zuallererst für die beeindruckende Resonanz, die unser Aufruf zur Mitarbeit an diesem Projekt gefunden hat, sowie für die Bereitschaft der Beiträgerinnen und Beiträger, die dafür ausgegebenen Spielregeln zu akzeptieren; Dank auch für die freundlichen Rückmeldungen derjenigen, die das Vorhaben mit ihren besten Wünschen unterstütz(t)en, ohne sich jedoch in der Lage zu sehen, etwas beizusteuern. Nicht unerwähnt bleiben dürfen ferner die Hilfskräfte und MitarbeiterInnen, die uns beim Korrekturlesen unermüdlich unterstützt haben, namentlich Laura Kattwinkel und León Malaver Grisales in Berlin sowie Jakob Zwiebler, Anna-Maria Wichate und Kathrin Fehringer in Erfurt. Ein besonderer Dank gilt schließlich Andreas Dufter, der die Aufnahme der Publikation in die Reihe Orbis Romanicus in die Wege leitete, und den ebenso freundlichen wie kompetenten Verantwortlichen des Narr Francke Attempto Verlags, an vorderster Stelle Frau Kathrin Heyng. Sie alle zusammen ermöglichten die pünktliche Fertigstellung dieses voluminösen Geburtstagsgeschenks, mit dem die Beteiligten Bernhard Teubers außergewöhnlicher Persönlichkeit, seiner stets bereichernden Gesellschaft sowie seinem unverzichtbaren Wirken für die Sprachen, Literaturen und Kulturen der Romania ihre tiefe Wertschätzung bekunden. München, im Dezember 2018 Kurt Hahn, Jörg Dünne, Lars Schneider und Britta Brandt 47 Cf. etwa „Curiositas et crudelitas - Das Unheimliche am Barock bei Góngora, Sor Juana Inés de la Cruz und José Lezama Lima“, in: Diskurse des Barock - Dezentrierte oder rezentrierte Welt? , edd. Joachim Küpper, Friedrich Wolfzettel, München: Fink 2000, pp. 615-652; „Die Geburt moderner Staatstheorie aus dem Geist der Alten Geschichte? “, pp. 77-102. 30 Einleitung <?page no="30"?> Einleitung 31 I. Karneval, Komik und Ironie <?page no="32"?> Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes: Zu einer Rede des Keu im Yvain Andreas Dufter Et Kex, qui mout fu ranponeus, Und Keu, der sehr zänkisch, 70 Fel et poignanz et venimeus, Li dist: « Par Deu, Qualogrenant, Mout vos voi or preu et saillant, Et certes mout m’est bel quant vos Estes li plus cortois de nos; bösartig, scharfzüngig und verletzend war, sagte zu ihm: „Bei Gott, Calogrenant, ich sehe Euch hier sehr beherzt und gelenkig, und es ist mir gewißlich sehr lieb, daß Ihr der höfischste von uns allen seid. 75 79 Et bien sai que vos le cuidiez, Tant estes vos de san vuidiez. S’est droiz que ma dame le cuit Que vos avez plus que nos tuit De corteisie et de proesce […] Und ich weiß wohl, daß Ihr Euch eben das einbildet, so sehr seid Ihr von allen guten Geistern verlassen, und es ist nur billig, daß meine Herrin auch glaubt, daß ihr mehr höfische Sitte und Tugend habt als wir alle. […] 86 -Certes, Kex, ja fussiez crevez, Fet la reïne, au mien cuidier, Se ne vos poïssiez vuidier ‚Gewiß, Keu! ‘, spricht die Königin, ‚Ihr wärt schon geplatzt, wie ich glaube, wenn Ihr Euch nicht von dem Gift entleeren könntet, 89 Del venin don vos estes plains. […] » von dem Ihr voll seid.‘ […]“ Chrétien de Troyes, Yvain ou le Chevalier au Lion (ca. 1176) 1 In dieser Textstelle, fast am Anfang seines Romans Yvain ou le Chevalier au Lion , erzählt Chrétien, wie Calogrenant im Kreise der anwesenden Ritter am Artushof eine Geschichte vortragen will, diese jedoch unterbricht und aufsteht, als die Königin, von den anderen Anwesenden zunächst unbemerkt, hinzukommt. Keu, ein anderer Ritter der Tafelrunde, richtet nun im Beisein der Königin das Wort an Calogrenant, woraufhin die Königin Keu zurechtweist. Keus Rede ist dabei voll beißender Ironie: „Praise is revealed as spiteful criticism“ 2 , kommentiert Green diese Stelle. Der Leser sei, so Green, dabei bereits vorgewarnt, nämlich durch die Charakterisierung Keus anhand der vier Adjektive „ranponeus“, „fel“, 1 Vv. 69-79 und 86-89, zitiert nach: DÉCT ( Dictionnaire Électronique de Chrétien de Troyes ), www.atilf.fr/ dect (15.03.2018); Übersetzung: Chrestien de Troyes, Yvain , tr. Ilse-Nolting- Hauff, München: Fink 1983. 2 Dennis Howard Green, Irony in the Medieval Romance , Cambridge: Cambridge University Press 1979, p. 23. <?page no="33"?> 34 Andreas Dufter „poignanz“ und „venimeus“ in den Versen 69 und 70. Zudem durchbricht der Einschub in den Versen 75 und 76 das ironische Lob. In diesem Beitrag möchten wir aus sprachwissenschaftlicher Perspektive dafür argumentieren, dass auch in den Versen 71 bis 74, zu Beginn von Keus Rede selbst also, sprachliche, und insbesondere syntaktische Ironiesignale enthalten sind. Im Folgenden werden wir zunächst, auch mit Bezug auf die Rede Keus, sprachwissenschaftliche Zugänge zur Ironie skizzieren (I.), bevor wir auf Ironiesignale (II.) und auf Zusammenhänge zwischen Syntax, Informationsstruktur und Ironie eingehen, um uns vor diesem Hintergrund wieder der oben zitierten Textpassage aus Chrétiens Yvain zuzuwenden (III.). I. Sprachwissenschaftliche Zugänge zu sprachlicher Ironie: ein Überblick Schon in der klassischen Antike war Ironie als ein prägnanter Spezialfall nicht-wörtlich zu interpretierender Rede vielfach Gegenstand der Rhetorik und Sprachreflexion. Cicero prägt für das griechische Konzept der εἰρωνεία den lateinischen Begriff der dissimulatio (Cic., Luc. 15), also einer ‚Verstellung‘, wobei die Relation von wörtlich Gesagtem und Gemeintem von Quintilian als contrarium ‚Gegensatz‘ präzisiert wird ( Inst . 9, 2, 44). Allerdings, so wurde vielfach vermerkt, gelten auch bestimmte Fälle von understatement als ironisch, welche keine Gegensatzbeziehung im Sinne der linguistischen Semantik implizieren. In (1) geben wir hierfür ein Beispiel: (1) Elie fit descendre le feu céleste pour consumer les prêtres de Baal ; Élisée fit venir des ours pour dévorer quarante-deux petits enfants qui l’avaient appelé tête chauve ; mais ce sont des miracles rares, et des faits qu’il serait un peu dur de vouloir imiter. (Voltaire, Traité sur la tolérance , FR 3 ) Während also bei „un peu dur“ in (1) Ironie, jedoch keine Relation des contrarium vorliegt, gibt es auch Fälle von contrarium ohne Ironie. Insbesondere muss eine linguistische Explikation von Ironie eine Abgrenzung zur Lüge leisten. Hierzu hat vor allem die linguistische Pragmatik zahlreiche theoretische und empirische Arbeiten vorgelegt. So begreift die im Kontext der angelsächsischen ordinary language philosophy entstandene Theorie konversationeller Implikaturen Ironie als „Ausbeutung“ (engl. exploitation ), also als einen eklatanten, für den Hörer erkennbaren Verstoß gegen die Maxime der Qualität, genauer gegen 3 Zitiert nach: Base textuelle FRANTEXT , www.frantext.fr (15.03.2018). Alle Zitate aus dieser Datenbank werden im laufenden Text mit FR gekennzeichnet. <?page no="34"?> Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 35 deren erste Submaxime „Sage nichts, was Du für falsch hältst.“ 4 Konversationelle Maximen stellen dabei weder Naturgesetze noch diskursethische Normen dar, sondern Vorgaben für die Interpretation sprachlicher Äußerungen, die auch und gerade im Falle der Ausbeutung von Maximen relevant sind. Ironie bildet nach dieser Auffassung also kein Phänomen sui generis , sondern ist in ihrer Funktionsweise nachvollziehbar innerhalb einer Theorie, welche systematisch Äußerungsbedeutungen („das Gemeinte“) von propositionalen Gehalten („dem Gesagten“) unterscheidet und erstere aus letzteren auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien der Rationalität abzuleiten erlaubt. Als problematisch für einen solchen Ansatz erweisen sich jedoch Fälle, in denen Ironie gerade nicht das assertierte Gesagte betrifft, sondern Hintergrundinformationen, welche präsupponiert sind. So ist in (2) „grâce à ces travaux préparatoires“ gleich in mehrfacher Hinsicht ironisch, wohingegen die assertierte Proposition des zweiten Satzes, wie semantische Standardtests erweisen, lediglich das Nichtbestehen der Prüfung beinhaltet: (2) Il [Charles, AD] apprit par cœur des couplets qu’il chantait aux bienvenues, s’enthousiasma pour Béranger, sut faire du punch et connut enfin l’amour. Grâce à ces travaux préparatoires, il échoua complètement à son examen d’officier de santé. (Gustave Flaubert, Madame Bovary , FR 5 ) Noch deutlicher erweisen sich die Grenzen der ‚klassischen‘ implikaturentheoretischen Ironieauffassung von Grice in Fällen wie (3) und (4), wo Ironie auch in Äußerungen auftritt, mit denen ein expressiver (3) oder direktiver (4) Sprechakt vollzogen wird, also jeweils ein Sprechakt, der überhaupt nicht als wahr oder falsch bewertet werden kann, da er nämlich keine Assertion umfasst: (3) Je te remercie du fin fond de mon cœur d’avoir gâché ma vie, connard ! 6 (4) Te presse pas surtout, saleté de pompier ! 7 Angesichts solcher Vorkommnisse von Ironie auch außerhalb des Gesagten wurden in der linguistischen Pragmatik verschiedentlich Erweiterungen der Griceschen Analyse vorgeschlagen, etwa die Ansetzung einer Aufrichtigkeits- 4 Herbert P. Grice, „Logik und Konversation“, in: Handlung, Kommunikation, Bedeutung , ed. Georg Meggle, Frankfurt: Suhrkamp 1979, p. 249 [Übersetzung von: „Logic and conversation“, in: Syntax and Semantics 3: Speech Acts , edd. Peter Cole, Jerry L. Morgan, New York: Academic Press 1975, pp. 41-58]. 5 Cf. Ekkehard Eggs, „Eine Form des ,uneigentlichen‘ Sprechens: die Ironie“, in: Folia linguistica 13 (1979), pp. 413-435, hier p. 421. 6 cloo-ehh.skyrock.com (15.03.2018). 7 simsaddict-bloody.skyrock.com (15.03.2018). <?page no="35"?> 36 Andreas Dufter anstelle der Qualitätsmaxime. 8 Diese, so Myers, könne auch Fälle von Ironie außerhalb des Skopus einer Assertion als auffällige Unaufrichtigkeit im wörtlich zum Ausdruck Gebrachten, also als Ausbeutung im Sinne von Grice erklären. Andere Ansätze betonen die Erklärungsstärke einer wie auch immer generalisierten Fassung der Griceschen Maxime der Relation als Relevanzmaxime. So bestimmt Attardo Ironie als relevante Unangemessenheit, 9 was zumindest für Belege wie in (5) durchaus attraktiv erscheint: (5) On a souligné l’habilité des mystérieux supporteurs du PSG qui sont parvenus à déployer au Stade de France une banderole de 25 mètres de long introduite en pièces détachées. Mais a-t-on remarqué la qualité de cette inscription : „Pédophiles, chômeurs, consanguins : bienvenue chez les Ch’tis ? “ Ils ont réussi à remettre la phrase dans l’ordre. Pas une faute de syntaxe. Même la ponctuation est impeccable. 10 Vertreter der Relevanztheorie, die in bewusster Abgrenzung zum Griceschen Ansatz allein mit einem generalisierten Relevanzprinzip die jeweils gemeinte Äußerungsbedeutung aus wörtlichen Lesarten abzuleiten versuchen, bestimmen Ironie als „echoartige Erwähnung“ (engl. echoic mention ) und weisen in diesem Zusammenhang auf die vielfach festgestellte Affinität zu Parodie und Karikatur hin. 11 Allerdings stößt auch eine solche Auffassung an ihre Grenzen, insbesondere bei diskursinitialen ironischen Äußerungen. Neben diesen Ansätzen, welche Ironie als Implikatur, als eine systematische Form der Andeutung in oder Umdeutung von nicht per se ironischen Äußerungen begreifen, wurde in anderen Richtungen der sprachwissenschaftlichen Pragmatik Ironie auch als komplexe Sprechhandlung eigenen Typs gewertet. 12 Der semantische Gehalt und die pragmatischen Effekte ironischer Äußerungen, so wird von Vertretern sprechakttheoretischer Ansätze betont, sei typischerweise komplexer als implikaturenbasierte Anreicherungen oder Veränderungen des wörtlich Gesagten und gehe nicht selten mit zusätzlichen perlokutiven Effekten und sozialen Funktionen einher, etwa ironischen Distanzierungen und Bloßstel- 8 Alice R. Myers, „Toward a definition of irony“, in: Studies in Language Variation , edd. Ralph W. Fasold, Roger W. Shuy, Washington: Georgetown University Press 1977, pp. 171-183. 9 Salvatore Attardo, „Irony as relevant inappropriateness“, in: Journal of Pragmatics 32 (2000), pp. 793-826. 10 Robert Solé, „Banderole“, in: Le Monde (02.04.2008). 11 Cf. Dan Sperber, Deirdre Wilson, „On verbal irony“, in: Lingua 87 (1992), pp. 53-76. 12 Cf. Wolf-Dieter Stempel, „Ironie als Sprechhandlung“, in: Das Komische (Poetik und Hermeneutik 7), edd. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning, München: Fink 1976, pp. 205- 235; und Inger Rosengren, „Ironie als sprachliche Handlung“, in: Sprachnormen in der Diskussion. Beiträge vorgelegt von Sprachfreunden , s. ed., Berlin: De Gruyter 1986, pp. 41-71. <?page no="36"?> lungen oder auch Solidarisierungen und der Etablierung oder Stärkung einer ingroup -Kohäsion. 13 Auch könne ein rein implikaturenbasierter Ansatz bestimmte Verwendungspräferenzen nicht erklären, wie z. B. die Beobachtung, dass Ironie häufiger bei wörtlich positiv evaluierenden Äußerungen mit negativer Intention begegne, etwa einer als Lob formulierten Kritik wie in der Rede Keus, während umgekehrt positiv gemeinte Äußerungen weitaus seltener ironisch als Kritik oder Tadel „verpackt“ seien. In unserem Textbeispiel kann Keus ironische Attacke zudem als ein Versuch verstanden werden, die Zuhörerschaft für sich einzunehmen, auch wenn diesem Ansinnen kein Erfolg beschieden sein sollte, wie die barsche Abfuhr der Königin in den Versen 86-89 zeigt. Die inhärente Komplexität von Ironie erweise sich schließlich, so die sprechakttheoretische Position, auch darin, dass ironisch gebrauchte Sätze in Lesezeitexperimenten sogar in Kontexten, in denen Ironie erwartbar ist, langsamer verarbeitet werden als nicht-ironische. 14 Überdies können Kinder ironische Äußerungen erst relativ spät zuverlässig verstehen, etwa ab dem sechsten bis siebten Lebensjahr. 15 Dennoch blieb auch die sprechakttheoretische Konzeption der Ironie von Kritik nicht verschont: So wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass ironische Äußerungen eine Vielzahl von Illokutionen und perlokutiven Effekten aufweisen würden, so dass von einem einheitlichen Typus ironischer Sprechakte nicht die Rede sein könne. Auch zeichnen sich gelungene ironische Äußerungen dadurch aus, dass die ironische Intention im Unterschied zu allen anderen Arten von Illokutionen kaum explizit performativ versprachlicht werden kann, wie die Fragwürdigkeit einer Äußerungseinleitung Ich sage Dir ironisch, dass … veranschaulicht. Insgesamt also, so müssen wir ernüchtert feststellen, scheinen weder implikaturennoch sprechakttheoretische Ansätze in der Lage zu sein, alle Erscheinungsformen sprachlicher Ironie in einer einheitlichen Theorie zu erfassen. Neuere sprachwissenschaftliche Vorschläge unterscheiden daher verschiedene Subtypen sprachlicher Ironie. Unterschieden werden muss insbesondere zwischen ironischer Unaufrichtigkeit auf der Ebene der Proposition und solcher, in welcher die wörtlich zum Ausdruck gebrachte Illokution ironisch zu verstehen ist. Keus Rede in den Versen 71-74 ist zunächst einmal eine ironisch gemeinte 13 Cf. Michael Hoffmann, „Ironie als Prinzip“, in: Handbuch Sprache in der Literatur , edd. Anne Betten, Ulla Fix, Berbeli Wanning, Berlin/ Boston: De Gruyter 2017, pp. 330-350; und Ekkehard König, Manfred Pfister, Literary Analysis and Linguistics , Berlin: Erich Schmidt 2017, p. 103sq. 14 Cf. Rachel Giora et al., „Expecting irony: context versus salience-based effects“, in: Metaphor and Symbol 22 (2007), pp. 119-146. 15 Cf. Shelly Dews et al., „Children’s understanding of the meaning and functions of verbal irony“, in: Child Development 67 (1996), pp. 3071-3085. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 37 <?page no="37"?> 38 Andreas Dufter Aussage, in ihrer bewertenden, vorgeblich lobenden Dimension jedoch auch ein expressiver Sprechakt, dessen Illokution aber aufgrund der erkennbaren Unaufrichtigkeit des Lobs ‚umkippt‘ in Kritik und Aggression. II. Ironie und sprachliche Ironiesignale Gleich ob man Ironie implikaturen- oder sprechakttheoretisch beschreibt, gilt nach Lapp 16 , dass ironische Unaufrichtigkeit simuliert ist und als Simulation erkennbar sein muss, damit ironische Kommunikation gelingen kann. So formuliert etwa Weinrich kategorisch: „Zur Ironie gehört das Ironiesignal […] Man verstellt sich, gewiß, aber man zeigt auch, daß man sich verstellt.“ 17 Allerdings scheint die Bandbreite möglicher Ironiesignale beträchtlich, und schon die antike Rhetorik differenziert. So heißt es bei Quintilian: „aut pronuntiatione intellegitur aut persona aut rei natura“ ( Inst . 8, 6, 54). Ironiesignale können also nach dieser Auffassung phonischer Natur, in der ironisch kommunizierenden Person zu finden oder aber im Wesen der Sache, um die es geht, begründet sein. Selbst wenn wir aber außersprachliche sowie sprachbegleitende, etwa gestische und mimische, Signale außer Acht lassen und uns ganz auf sprachliche Ironiesignale konzentrieren, bleibt es schwierig, ja fast unmöglich, ein systematisches Repertoire auch nur für eine einzige Sprache wie das Französische zu erstellen. Dieser Befund mag zunächst erstaunen, wird aber vielleicht verständlicher, wenn wir davon ausgehen, dass Ironie gerade in ihren ludischen, humoristischen, ästhetischen, jedenfalls aber unkonventionellen Eigenarten sich allzu deutlicher und eindeutiger Signalisierung immer wieder entzieht. So führt Warning aus: „Ironiesignale verfügen über kein eigenes System, über keinen eigenen Code, sondern sie operieren parasitär auf den Faktoren, die an dem jeweiligen Sprechakt beteiligt sind.“ 18 In der Mündlichkeit können, so hat die phonetische Forschung gezeigt, Veränderungen der Grundfrequenzverläufe, ferner Längungen und Hyperartikulationen akzentuierter Vokale sowie verlangsamtes Sprechtempo ironische Sprecherintention signalisieren. 19 Allerdings bleibt in der Schriftlichkeit die ‚Leseprosodie‘ durch den Text weitgehend unterbestimmt. Zuverlässigere sprachliche Ironiesignale sind dagegen in der Wortwahl zu finden: Schon in der tra- 16 Edgar Lapp, Linguistik der Ironie , Tübingen: Narr 1992. 17 Harald Weinrich, Linguistik der Lüge , Heidelberg: Schneider 1966, p. 60. 18 Rainer Warning, „Ironiesignale und ironische Solidarisierung“, in: Das Komische (Poetik und Hermeneutik 7), edd. Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning, München: Fink 1976, pp. 416-423, hier p. 420. 19 Cf. Lisa Scharrer, Ursula Christmann, „Voice modulations in German ironic speech“, in: Language and Speech 54 (2011), pp. 435-465, und die dort zitierte Literatur. <?page no="38"?> ditionellen Rhetorik wurde festgestellt, dass evaluative Lexeme, beispielsweise Adjektive wie fein , schön , toll oder französisch beau oder joli , eine besondere Affinität zu ironischen Verwendungsweisen aufweisen. Auch in Keus bissiger Ironie in den Versen 72-74 begegnen gleich vier positiv bewertende Adjektive - „preu“, „saillant“, „bel“ und „cortois“ -, die markant mit den vier Adjektiven zur Charakterisierung Keus in den Versen 69-70 kontrastieren. Konventionalisierungstendenzen sowie historisch kontingente Entwicklungen in der Literatursprache finden sich auch bei einem weiteren ‚Einfallstor‘ für Ironie, nämlich hyperbolischen Ausdrücken. Ironische Intentionen können dabei die Zuschreibung von Extremwerten auf semantischen Skalen suggerieren, aber auch pragmatische Übertreibungen, etwa übertriebene Höflichkeit, übertrieben hohe sprachliche Register oder übertriebene Informativität. Wenn dann auch noch „eine ganz besondere Liebe zum Detail und zur Genauigkeit“ mit einer „offensichtlichen Beliebigkeit und astronomischen Höhe des Betrags“ 20 kontrastiert, wie es etwa in der Beschreibung des Gargantua bei Rabelais der Fall ist, dann, so könnte man mit Grice argumentieren, fungiert die Ausbeutung der ersten Submaxime der Qualität im Verbund mit der Ausbeutung der zweiten Submaxime der Quantität („Mache Deinen Beitrag nicht informativer als nötig“ 21 ) als doppeltes und vielleicht besonders abgründiges Ironiesignal. Der Einsatz von Hyperbolik als Ironiesignal reicht in der französischen Literatur jedoch weit vor die Neuzeit zurück. Wie schon Gumbrecht feststellt, bringt bereits der höfische Roman gegenüber der Heldenepik zunehmend parodistische ironische Verwendungsweisen hyperbolischer Ausdrücke mit sich, 22 und auch in der Rede Keus fallen die beiden Vorkommnisse des intensivierenden mout in den Versen 72 und 73 sowie der Superlativ in Vers 74 auf. Schließlich können auch emphatische Markierungen des Zutreffens einer Proposition, Beteuerungen der Wahrhaftigkeit oder der Sprechergewissheit, in ironischer Weise gerade das Nichtzutreffen dieser Proposition oder Ungewissheit zum Ausdruck bringen. Nicht umsonst wird etwa in La Fontaines „Le Corbeau et le Renard“ die unaufrichtige Schmeichelei des Fuchses mit „sans mentir“ eingeleitet (6), und auch eine Wendung wie „comme chacun sait“ in (7) kann einen Anfangsverdacht auf Ironie auslösen: 20 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 165 21 Grice, Logik und Konversation , p. 249. 22 Hans Ulrich Gumbrecht, Funktionswandel und Rezeption. Studien zur Hyperbolik in literarischen Texten des romanischen Mittelalters , München: Fink 1972, p. 57. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 39 <?page no="39"?> 40 Andreas Dufter (6) Sans mentir, si votre ramage Se rapporte à votre plumage, Vous êtes le phénix des hôtes de ces bois. ( Jean de La Fontaine, Fables , FR) (7) Comme chacun sait, le monde est parfait, les hommes ne sont pas égoïstes ni cupides. Ils ne voient que l’intérêt général et ce qu’il faut faire pour l’optimiser. C’est un peu le fondement de chaque grande théorie dite rationnelle. 23 In Keus Rede findet sich mit „certes“ ebenfalls eine solche ironisierende Beteuerung. Im nächsten Abschnitt wollen wir dafür argumentieren, dass die Wort- und Satzgliedstellung geeignet ist, den Ironieverdacht zusätzlich zu verstärken. III. Syntax, Informationsstruktur und Ironie Die These, die wir hier für das Altfranzösische vertreten möchten, wurde für andere Sprachen schon vor langer Zeit formuliert. So bemerkt der Humanist Vossius: „Nonnumquam vero ironia ipso vocum situ cognoscitur.“ 24 Vossius bezieht sich dabei auf das Lateinische und beobachtet, dass ironisch gemeinte Adjektive ihrem Bezugssubstantiv häufiger vorangestellt sind als in wörtlicher Verwendung. Vir bonus sei gewöhnlich wörtlich zu verstehen, so Vossius, bei ironischer Absicht sei dagegen die Abfolge bonus vir präferiert. Eine ähnliche Präferenz für die pränominale Position bei Ironie findet sich auch in romanischen Sprachen, wie die Beispiele in (8) bis (10) veranschaulichen: (8) En 1942, les directives „culturelles“ du gouvernement du vertueux Maréchal proscrivaient Phèdre et Tartuffe pour immoralité. ( Julien Gracq, En lisant, en écrivant , FR) (9) Un famoso impiego mi avevi dato. (Giuseppe Giacosa, Come le foglie 25 ) (10) ¡Floja gresca he armado yo en la rebotica! ( Joaquín Álvarez Quintero, Los leales 26 ) Doch nicht nur innerhalb von Nominalphrasen, sondern auch auf Satzebene zeigen sich Auffälligkeiten, welche in linguistischen wie literaturwissenschaftli- 23 Les Echos (28.04.2008). 24 Gerardus Joannes Vossius, Commentariorum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum libri sex. Quarta hac editione auctiores & emendatiores , Lugduni Batavorum: Maire 1643, IV, IX, II, pp. 154, 686. 25 Zitiert nach Carl Theodor Gossen, Studien zur syntaktischen und stilistischen Hervorhebung im modernen Italienisch , Berlin: Akademie 1954, p. 79. 26 Zitiert nach Victoria Escandell-Vidal, Manuel Leonetti, „Fronting and irony in Spanish“, in: Left Sentence Peripheries in Spanish. Diachronic, Variationist and Comparative Perspectives , edd. Andreas Dufter, Álvaro S. Octavio de Toledo, Amsterdam: John Benjamins 2014, pp. 309-342, hier p. 310. <?page no="40"?> chen Fallstudien vereinzelt als „ironische Syntax“ 27 oder noch vager als „sourire grammatical“ 28 festgehalten wurden. So bemerkt Bosque in einer grammatischen Untersuchung zum Spanischen, 29 dass sich (11b) als ironische Äußerung sehr viel besser eigne als (11a): (11) a. ¡Me tienes contento hoy! b. ¡Contento me tienes hoy! Schon Beinhauer war aufgefallen, dass in ironischen Äußerungen im Spanischen nicht selten ein Satzglied an den Satzanfang tritt, welches normalerweise postverbal zu stehen kommt, 30 wie auch (12) und (13) illustrieren: (12) Mucho interés tienes tú en la conferencia… 31 (13) ¡Bonita faena me has hecho! (ibid.) In der neueren Linguistik werden für Sätze mit initialen Nichtsubjektkonstituenten Variantenbeziehungen oder Derivationen aus „kanonischen“ oder „unmarkierten“ Satzgliedabfolgen angesetzt. Abweichungen von der kanonischen Abfolge Subjekt-Verb-Objekt in Deklarativsätzen sind in älteren wie neueren Sprachstufen der Romania in unterschiedlichem Ausmaß erlaubt, jedoch zumeist nur dann, wenn informationsstrukturelle Motivationen hierfür vorliegen. Insbesondere können Satzglieder ganz oder teilweise an den Satzanfang - genauer: in die „linke Satzperipherie“ - bewegt werden, wenn sie Topik- oder Fokusmerkmale aufweisen. 32 Als Topiks werden dabei diejenigen Diskursreferenten sowie die sie denotierenden sprachlichen Ausdrücke im Satz bezeichnet, ‚um die es geht‘, über die etwas ausgesagt wird, die also gewissermaßen als mentale Speicheradressen für die propositional kodierte Information des Satzes dienen. Topiks müssen referenzfähig sein und erlauben daher kaum Indefinitdeterminierer oder Quantifikation. Frontierte Topiks können durch die prosodische Phrasierung vom Restsatz abgegrenzt werden und erhalten, wenn möglich, eine wiederaufnehmende Pro-Form im Restsatz, cf. (14a). Im Gegensatz zu Topiks können auch nicht-referentielle Satzglieder oder Satzgliedteile die Domäne des Fokus bilden. Ein weiterer Gegensatz zu Topiks besteht darin, dass nach frontierten Foki weder Sprechpausen noch resumptive Pro-Formen erlaubt 27 Cf. Reinhard Baumgart, Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns , Frankfurt: Ullstein 1964. 28 Cf. Jean Datain, „Le sourire grammatical“, in: Vie et Langage 220 (1970), pp. 362-368. 29 Ignacio Bosque, Sobre la negación , Madrid: Cátedra 1980, p. 108. 30 Werner Beinhauer, Spanische Umgangssprache , Berlin: Dümmler 1930, pp. 133-136. 31 Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“, p. 310. 32 Cf. Andreas Dufter, Christoph Gabriel, „Information structure, prosody, and word order“, in: Manual of Grammatical Interfaces in Romance , edd. Susann Fischer, Christoph Gabriel, Berlin/ Boston: De Gruyter 2016, pp. 419-455. Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 41 <?page no="41"?> 42 Andreas Dufter sind. Allerdings tendieren frontierte Foki dazu, besondere prosodische Prominenz aufzuweisen, was wir in (14b) durch die Großbuchstaben zum Ausdruck bringen. Häufig geht dies mit einer markierten, nicht selten emphatischen oder kontrastiven Funktion dieses Fokustyps einher: (14) a. El diario, lo compró Juan. b. MANZANAS compró Juan (y no peras). Bemerkenswert an den unter (11) bis (13) zitierten ironischen Äußerungen mit satzinitialen Nichtsubjektkonstituenten (Objektsprädikativ in (11), direktem Objekt in (12) und (13)) ist nun, dass sie weder als frontierte Topiks noch als frontierte Foki analysiert werden können. Dies zeigen Manuel Leonetti und Victoria Escandell-Vidal überzeugend in neueren Publikationen. 33 So ist das Objektsprädikativ „contento“ in (11) nicht referenz- und somit nicht topikfähig. In (12) stellt „mucho interés“ einen indefinit quantifizierten und somit nicht referentiellen Ausruck dar. In (13) ist „bonita faena“ zwar referentiell, müsste jedoch als frontiertes Topik durch ein resumptives Objektklitikon „la“ wiederaufgenommen werden, was ebenso zu einem ungrammatischen Ergebnis führen würde wie im Falle von (13): 34 (15) *Mucho interés tienes lo tú en la conferencia… 35 (16) *¡Bonita faena me la has hecho! (ibid.) Ebenso wenig lassen sich aber die ironischen Voranstellungen als Fälle von Frontierung eines Fokusausdrucks analysieren. Es unterscheidet sich nicht nur die prosodische Gestaltung, auch eine Kontrastierungsmöglichkeit ist nicht gegeben: (17) #Contento me tienes hoy, no descontento. (ibid.) (18) #Mucho interés tienes tú, no poco… (ibid.) (19) #Bonita faena me has hecho, no fea. (ibid.) Ironische Voranstellung, so Leonetti und Escandell-Vidal, bilde somit einen Unterfall eines dritten informationsstrukturellen Typus von Frontierung, den die Autoren als „Verum Focus-inducing Fronting“ (VFF) bezeichnen. Der Fokus liegt in solchen Sätzen nicht auf einem einzelnen Satzglied, sondern auf der Polarität, 33 Manuel Leonetti, Victoria Escandell-Vidal, „Fronting and verum focus in Spanish“, in: Focus and Background in Romance Languages , edd. Andreas Dufter, Daniel Jacob, Amsterdam: John Benjamins 2009, pp. 155-204; und Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“. 34 Wir notieren ungrammatische Ausdrücke durch einen vorangestellten Asterisk („*“), semantisch und/ oder pragmatisch defizitäre durch „#“. 35 (15) - (19) zitiert nach: Escandell-Vidal, Leonetti, „Fronting and irony“, p. 315. <?page no="42"?> also auf dem Zutreffen (Verum) oder Nichtzutreffen der gesamten Proposition. Somit ist die beste Paraphrase des Satzes mit VFF (20a) nicht etwa der unmarkierte Satz in (20b), sondern eine emphatisch-affirmative Variante wie in (20c): (20) a. Algo has visto. b. Has visto algo. c. Sí/ Seguro que has visto algo. 36 Im Deutschen wird dabei Verum-Fokus in Äußerungen durch Akzentuierung des Finitums realisiert, wie (21) und (22) zeigen: (21) A: Sie hört dir doch wieder nicht zu. B: Doch, sie HÖRT mir zu. (22) ach mann du HAST aber auch immer glück… 37 Unser Vorschlag ist nun, dass im Französischen Chrétiens neben akzentuellen Markierungen von Verum-Fokus auch Frontierungen von Ausdrücken, die weder als Topik noch als (kontrastiver) Fokus interpretierbar sind, wie in anderen romanischen Sprachen zur Anzeige von Verum-Fokus eingesetzt werden können. In unserem Text heißt es in Vers 72 „Mout vos voi or preu et saillant“, wobei das vorangestellte „mout“ sich auf „preu et saillant“ bezieht. Dieser Bezug hätte unter Beachtung der Präferenz, wonach das finite Verb im Altfranzösischen möglichst als zweites Satzglied erscheinen soll, durch die Stellungsvariante „Or vos voi mout preu et saillant“ ohne Schwierigkeit syntaktisch abgebildet werden können. Gleiches gilt für „mout“ in Vers 73, wo „mout“ auf „bel“ zu beziehen ist. Wenn man nicht „certes“ als Modifikator von „mout“ und somit als Teil einer präverbalen Konstituente werten möchte, sondern das Adverb als epistemisches Satzadverb begreift, verstößt die Kookkurrenz von präverbalem „certes“ und „mout“ sogar gegen die Verbzweitpräferenz. Die Frontierung von „mout“ bewirkt gegenüber dem kanonischen Satzanfang „Et certes m’est mout bel“ eine emphatische Verum-Fokus-Markierung. Sicherlich sind satzeinleitende Vorkommnisse von „mout“ nicht ungewöhnlich, wie eine kursorische Durchsicht der „mout“-Belege im DÉCT (cf. Fußnote 1) schnell erweist. Dennoch begegnet „mout“ häufiger in Adjazenz zu seinem Bezugsausdruck, und die zweimalige Frontierung in eine metrisch prominente Position in zwei aufeinanderfolgenden Versen, welche echoartig das frontierte „mout“ in Vers 69 aufnimmt, kann durchaus als auffällige Konstellation gewertet werden. Durch die in allen drei Fällen resultierenden hyperbatischen Konstellationen („mout […] ranponeus fel et poignanz et venimeus“ in Vers 69-70, „mout […] preu et saillant“ in Vers 71, 36 Leonetti, Escandell-Vidal, „Fronting and verum focus“, p. 179. 37 www.mamiweb.de (25.03.2018, Hervorhebung AD). Syntax als Ironiesignal bei Chrétien de Troyes 43 <?page no="43"?> 44 Andreas Dufter „mout […] bel“ in Vers 72) unterscheiden sich dabei diese präverbalen Adverbien syntaktisch markant von den übrigen Adverbien „bien“, „tant“ und „plus“ in der Rede von Keu. Solche Sätze mit einer präverbalen Konstituente, die weder Subjekt ist noch als Topik noch Fokus gelten kann, wurden im Altfranzösischen als Fälle von „Stylistic Fronting“ analysiert, in Analogie zu bestimmten Satzstrukturen im Isländischen und anderen germanischen Sprachen. 38 Gegen diese Analyse ist vielfach Kritik erhoben worden. 39 In unserem Zusammenhang von Interesse ist vor allem, dass eine Beschreibung als Stylistic Fronting die informationsstrukturellen und diskurspragmatischen Leistungen der Konstruktion nicht befriedigend erklärt. Dagegen macht die Übertragung der Analyse als „Verum Focus-inducing Fronting“ auf das Altfranzösische unmittelbar verständlich, weshalb die Wahl dieser markierten Wortstellungsvariante als syntaktisches Ironiesignal fungiert: Das Zutreffen der assertierten Proposition wird so emphatisch zum Ausdruck gebracht, dass der Leser durch diese ‚hyperbolische Fokuskonstruktion‘ stutzig wird - ähnlich wie durch übertriebene lexikalische Kodierungen von Wahrhaftigkeit wie certes , sans mentir oder comme chacun sait . Metrisch-prosodische, lexikalische und grammatische Ironiesignale wirken also zusammen, und gerade das Insistieren auf der Aufrichtigkeit entlarvt die Ironie als Simulation der Unaufrichtigkeit des Keu, während sie sich gleichzeitig im größeren Ganzen des Romans als durchaus zutreffende Charakterisierung von Calogrenant erweisen wird. 38 Cf. Eric Mathieu, „Stylistic Fronting in Old French“, in: Probus 18 (2006), pp. 219-266. 39 Cf. Marie Labelle, Paul Hirschbühler, „Y avait-il antéposition stylistique en ancien français ? “, in: Congrès Mondial de Linguistique Française - CMLF 2014 SHS Web of Conferences , DOI 10.1051/ shsconf/ 20140801129 (15.03.2018). <?page no="44"?> „Beati Oculi“ 45 „Beati Oculi“: ein Augenschmaus Horst Weich 1 De [Dom] Fernam Diaz Estatur-o oí dizer novas, de que mi praz: que é home que muito por Deus faz e se quer ora meter ermit-o; 5 e fará bom feito, se o fezer; de mais, nunca lh’home soube molher des que nasceu, tant’é de bom crist-o. Este tem o Paraíso em m-o, que sempr’amou, com sem crist-o, paz; 10 nem nunc’amou molher nem seu solaz, nem desamou fidalgo nem vil-o; e mais vos [en] direi, se vos prouguer: nunca molher amou, nem quis nem quer, pero cata, falagueir’e louç-o. 15 E [a]tam bõõ dia foi [el] nado que tam bem soub’o pecad’enganar, que nunca por molher rem [nom] quis dar, e pero mete-s’el por namorado; e os que o nom conhocemos bem 20 cuidamos d’el que folia mantém, mais el d’haver molher nom é pensado. Que se hoj’el[e] foss’empardẽado, nem se saberia melhor guardar de nunca já com molher albergar, 25 por nom se riir d’el[e] o pecado, ca nunca deu por molher nulha rem; e pero vedes: se o vir alguém, terrá que morre por seer casado. <?page no="45"?> 46 Horst Weich 30 E, pois s’em tal castidade mantém, quand’el morrer, direi-vos ũa rem: «Beati Oculi» será chamado. Pero da Ponte, Cantiga (13. Jh.) 1 Die galaico-portugiesischen cantigas de escárnio e maldizer zeugen von erfrischend unzüchtigem Humor. Unbekümmert gegenüber heutigen Diskursregeln einer politisch korrekten Ausdrucksweise verhöhnen sie unverhohlen als lasterhaft denunzierte Zeitgenossen und typische Vertreter ihres Standes ( cantigas de maldizer ), oder aber sie überziehen sie mit feinem Spott, indem sie die lyrische Rede grundsätzlich im Zeichen einer Doppelsinnigkeit gestalten, bei der unter einer scheinbar harmlosen Oberfläche ein verborgener Zweitsinn aufscheint ( cantigas de escárnio ). Wenn diese Unterscheidung, die bereits die mittelalterliche Poetik Arte de Trovar vornimmt („dizer ch-am<ente>“, also ‚planes‘, direktes Aussprechen vs. „[dizer] per palavras cubertas que hajan dous entendimentos“ 2 ), nicht wirklich der klaren Differenzierung der beiden Spielarten des iberischen Hohn- und Spottliedes dient, so lenkt sie doch den Blick auf die offensichtlich ausgeprägte Lust an äquivoker Rede (die Arte de Trovar benennt explizit das gelehrte rhetorische Prinzip der „ hequivocatio “ 3 ). Diese soll im Folgenden an einem typischen, zudem ‚queeren‘ Beispiel des sehr produktiven, im Umfeld des Hofes des kastilischen Königs Ferdinand III (1199-1252) und dann vor allem seines Sohns Alfons X. (1221-1284) tätigen galizischen Trovadors Pero da Ponte (53 überlieferte cantigas , davon 23 cantigas de escárnio e maldizer ) aufgezeigt werden als Hommage an Bernhard Teuber, der, freilich nicht nur, bewandert ist in mittelalterlicher romanischer Lyrik, in mehrfachem Schriftsinn und durchaus auch empfänglich für Schräges selbst und vielleicht sogar gerade dann, wenn es sich listig-blasphemisch der Worte der Heiligen Schrift bedient. In einer ersten, unschuldig-planen Lektüre stellt sich das Lied als Lobgesang auf den Hofbeamten Fern-o Dias Estatur-o dar, der, wie der Trovador Pero Garcia Burgalês in einem Lied spezifiziert, „meirinho“ im Dienste Alfons X. ist, also ‚Gerichtsvogt‘. Laudanda sind seine Festigkeit im christlichen Glauben sowie insbesondere seine Keuschheit, die ihn sogar so weit bringt, dass er nunmehr Einsiedler werden möchte. Soweit das in der ersten Strophe vorgegebene Thema, das gattungstypisch in der Folge argumentativ entfaltet wird. 1 In: Cantigas de Escárnio e Maldizer dos Trovadores e Jograis Galego-Portugueses , ed. Graça Videira Lopes, Lisboa: Estampa 2002, p. 382. 2 Arte de Trovar do Cancioneiro da Biblioteca Nacional de Lisboa , ed. Giuseppe Tavani, Lisboa: Colibri 2 2002, pp. 43, 42. 3 Ibid., p. 42. <?page no="46"?> „Beati Oculi“ 47 In der zweiten Strophe wird seine christliche Nächstenliebe gepriesen sowie erneut seine Enthaltsamkeit gegenüber Frauen, obgleich er, dies ist etwas überraschend, auf der Suche scheint („pero cata“, v. 14). Die dritte Strophe führt dies näher aus: Er täuscht zwar erfolgreich den Teufel („o pecado“, v. 16 steht in mittelalterlichen Texten üblicherweise metonymisch für den Widersacher Gottes), da er sich von Frauen fernhält, doch er gibt sich gleichwohl verliebt (v. 18). Der Sprecher, der bislang im Singular von sich gesprochen hat, zeigt sich nunmehr als Teil einer höfischen Gemeinschaft, die fälschlicherweise glaubt, dass Fern-o weiterhin dem Liebesverlangen („folia“, v. 20) erlegen ist. Daher betont der Sprecher korrigierend nochmals, dass der Kontakt zu einer Frau ganz und gar undenkbar ist. Und würde Fern-o, so die vierte Strophe, eingemauert, wie es besonders strenge Eremiten für sich fordern, so wäre dies der beste Schutz davor, je mit einer Frau zusammenleben zu müssen. Und sollte jemand dennoch dies sehen, so sterbe er lieber, als verheiratet zu werden. Die letzte Strophe, das Geleit ( fiinda ), fasst zusammen: Wenn er stets solche Keuschheit wahrt, wird er bei seinem Tod „selige Augen“ heißen wohl deshalb, da seine Augen immer nur auf Gottgefälliges gerichtet waren. Eine Zweitlektüre hat die Zweideutigkeiten in den Blick zu nehmen. Diese resultieren semantisch aus dem Doppelsinn einzelner Lexeme, morphologisch und syntaktisch aus Argwohn weckenden parallelistischen Wiederholungen sowie mehrfachen Beziehbarkeiten einzelner Satzglieder 4 und pragmatisch aus einem textexternen Vorwissen über die belobigte Person, über das sowohl der Sänger als auch sein Publikum zweifelsfrei bereits verfügen, das allein über die Namensnennung in der Eingangszeile schon aufgerufen ist und für die Eingeweihten die besondere Verstehensanweisung signalisiert, dass in der Folge mit „dous entendimentos“ der Rede zu rechnen ist. Wenn der somit als Ironiker auftretende Sprecher ‚erfreuliche Neuigkeiten‘ (v. 2) über Fern-o Dias erfahren hat, so heißt das, dass man bisher immer nur dasselbe Unerfreuliche zu hören bekam. Das Vorhaben, Eremit zu werden, wird explizit gelobt, steht aber unter Vorbehalt: wenn er es denn tut (v. 5); Polyptoton und figura etymologica („fará“, „fezer“, „feito“) unterstreichen diesen rhetorisch. Dass er in seinem ganzen Leben nie eine Frau ‚erkannte‘, wird zum Beweis seiner christlichen Tugendhaftigkeit, und spätestens hier wird das höfische Publikum lauthals herausgelacht haben, denn Fern-o Dias war bekannt für seine Neigung zu Männern. Das Paradies, das er in Händen hält (v. 8), erweist sich damit als überaus irdisch und körperlich, und er liebt nicht nur im christlichen Sinn Frieden (v. 9), sondern vor allem den Mesner (Paronomasie sem crist-o / sacrist-o ). Auf die Wie- 4 Zu diesen Prinzipien cf. Graça Videira Lopes, A Sátira nos Cancioneiros Medievais Galego- Portugueses , Lisboa: Estampa 2 1998, pp. 107-113. <?page no="47"?> 48 Horst Weich derholung, dass er nie die Freuden einer Frau genoss, folgt antithetisch, leicht versteckt in mehrfacher Verneinung, beiläufig die Betonung mann-männlicher Promiskuität quer durch alle gesellschaftlichen Schichten (v. 11). Der erneut durch Polyptoton hervorgehobene Widerwille gegenüber Frauen („nem quis nem quer“, v. 13) mündet adversativ in eine syntaktische Doppeldeutigkeit: Er sucht als ein hübscher Schmuser (v. 14), so die abgedruckte Version mit von den traditionellen Herausgebern gesetztem Komma, doch ohne Beistrich rückt das Satzglied von der Apposition des Subjekts in Objektsposition und benennt das Beuteschema des ‚cruisenden‘ Fern-o. Wenn er dem Teufel ein Schnippchen schlägt, indem er der Fleischeslust entsagt (vv. 15-17), so legt das Lexem „enganar“ (v. 16) das Verhalten des Fern-o als Täuschungsmanöver bloß, auf das, in mehrfacher ironischer Rahmung, die Hofgesellschaft hereinzufallen scheint und doch wieder gerade nicht. Denn nur, wer ihn nicht gut kenne, glaube, dass er weiterhin der Fleischeslust erlegen ist, wer ihn gut kenne, wisse es besser. In der Negation (und ihrer Negierung) liegt die Wahrheit: Die Sünde, die hier verschleiernd ins Spiel gebracht wird, ist das peccatum nefandum , die unaussprechliche Sünde widernatürlichen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs, und dass Fern-o dieser spezifischen „folia“ (v. 20) wieder und wieder frönt, ist in der Gesellschaft ein offenes und mehrfach besungenes Geheimnis. So lobt Pero Garcia Burgalês in der Überkreuzung von juridischem und sexuellem Diskurs den Diensteifer des Gerichtsvogts, der sich beflissentlich auf den Delinquenten stürzt und ihm sogleich Gerechtigkeit widerfahren lässt: „se o pode por malfeitor saber, / vai sobr’el; e se o pode colher / na m-o, logo d’el justiça faz“ 5 . In einem anderen Lied mahnt er ihn, nicht so unvernünftig zu reiten, da die Leute schon „suspeitam que por mal cavalgades“ 6 . Vasco Peres Pardal heuchelt in der Überblendung von medizinischem und sexuellem Diskurs Mitleid mit dem kranken Fern-o, der Fieber hat („caentura“), aber keinen Arzt, der ihn kurieren möchte. 7 In dieses Netz von Spottliedern ist auch die vierte Strophe eingewoben mit dem Gedanken des Einmauerns als Schutz vor der Ehe. Denn die spezifischen Eheprobleme werden mehrmals thematisch. So warnt Estêv-o Fai-o eindringlich Fern-o vor der Heirat mit einer Frau, die aus einem Land stamme, wo er nie und nimmer einen Mann werde haben können: „é de terra tal / Dom Fernando, que per bem nem per mal / nom poderedes i um hom’haver“ 8 . Und Airas Peres Vuitorom, wahrscheinlich der früheste und erste Trovador in dieser Reihe, beklagt scheinbar solidarisch, dass Fern-o nicht heiraten kann, 5 „Que muito mi de Fernam Diaz praz“, in: Videira Lopes, Cantigas de Escárnio e Maldizer , p. 411. 6 „Dom Fernando, pero mi maldigades“, ibid., p. 410. 7 „Vedes agora que malaventura/ de Dom Fernando“, ibid., p. 458. 8 „Fernam Díaz, fazem-vos entender“, ibid., p. 138. <?page no="48"?> „Beati Oculi“ 49 wobei der Grund dafür in einer durch glückliches Enjambement herbeigeführten syntaktischen Ambiguität in der Folgezeile angezeigt wird: „nom pod’[ao] casamento chegar / - d’home o sei eu, que sabe com[o] é“ 9 . Heutzutage hätte Fern-o es leichter; sowohl in Spanien (2005) als auch in Portugal (2010) ist die ‚Homo-Ehe‘ mittlerweile erlaubt. Das abschließende Geleit fasst zusammen und gipfelt auf. Das Lob der Keuschheit ist vergiftet; „tal castidade“ (v. 29) bedeutet ganz im Gegenteil fornicatio contra naturam , und der gottgefällige Eremitenanwärter wird in einem schrägen Bibelzitat zum glücklichen Sodomiten. In Lukas 10, 23 spricht Jesus zu seinen Jüngern die Worte: „Beati oculi qui vident quae vos videtis“ und beglückwünscht sie somit, dass sie etwas sehen, was anderen verborgen bleibt. Das Zitat aus der Heiligen Schrift unterliegt einem deutlichen Gefälle, und zwar wiederum syntaktisch und semantisch. Kasus und Numerus liegen quer zum Original, da der Nominativ in den Genitiv und der Plural in den Singular gerutscht sind: ‚seligen Auges‘. Das ‚Auge‘ wiederum ist semantisch angereichert und metaphorisch eindeutig gefasst, wie nicht nur das heutige Argotwörterbuch bescheidet, 10 sondern schon die Trovadores wussten. Airas Veaz erzählt in einem (wiederum medizinischen und sexuellen Diskurs kreuzenden) Lied 11 einem Fern-o Furado, dass er letztlich Abstand genommen habe vom Kauf eines kräftigen Maulesels („mu“), da dieser bei näherem Hinsehen alle möglichen Krankheiten „no olho do cu“ hat. Die viermalige Wiederkehr des Refrains „Fernam Furado, no olho do cu“ (vv. 4, 7, 11, 14) umspielt erneut die syntaktische Ambivalenz, wie die Herausgeberin Graça Videira Lopes in der Anmerkung vermerkt. „Furado“ liest sie als Spitznamen für den eigentlich gemeinten Fern-o Dias, und zudem als einen bedeutungsträchtigen, zumal wenn der Beistrich fällt: „Fernam furado no olho du cu“ ist damit ‚der im Arschloch durchbohrte Fern-o‘ und reimt sich zu Recht auf „mu“, was im mittelalterlichen Argot, wie die Spezialistin Elsa Gonçalves weiß - eine der ersten, die sich mit diesem Thema wissenschaftlich befassten -, immer schon auch, nicht zuletzt wegen der mangelnden Fortpflanzungskraft, ‚passiver Sodomit‘ bedeutete. 12 Welchen Reiz finden die Trovadores und ihr zweifellos höfisches Publikum in dieser obsessiven Rede über die „vícios contra a natureza“, die der Kenner Mário 9 „Fernam Díaz é aqui, como vistes“, ibid., p. 127. „Er kann nicht zur Heirat gelangen - dies weiß ich von einem Mann, der weiß, wie es ist“ bzw. „Er kann nicht zur Heirat mit einem Mann gelangen, dies weiß ich“. 10 Afonso Praça, Novo Dicionário de Cal-o , Lisboa: Notícias 2 2002, p. 165: „Olho - Ânus”. 11 „Comprar quer’eu, Fernam Furado, mu“, in: Videira Lopes, Cantigas de Escárnio e Maldizer , p. 134. 12 Elsa Gonçalves, „A mula de Joan Bolo“, in: Ead., Poesia de Rei: Três Notas Dionisinas , Lisboa: Cosmos 1991, pp. 35-62, hier pp. 39-42. <?page no="49"?> 50 Horst Weich Martins noch 1977 nur angewidert en passant behandelt, „pela sua geral falta de graça e, acima de tudo, por causa da sua monotonia“ 13 ? Nun ganz offensichtlich den ästhetischen Genuss, den in mittelalterlicher Literatur die - alles andere als monotone - variierende Wiederholung desselben mit sich bringt, vor allem dann, wenn sie mit Kunstfertigkeit und Witz vorgebracht wird. Denn auch das vorderhand abscheuliche Thema wird nach allen Regeln trovadoresker Kunst vorgetragen. Das vorliegende Lied, eine cantiga de mestria , da es im Gegensatz zur cantiga de refr-o keinen Kehrreim enthält, ist regelmäßig gebaut: es umfasst vier siebenzeilige Strophen durchwegs in Zehnsilbern in Form von coblas doblas (jeweils zwei Strophen reimen identisch: abbacca / deedffd) sowie die kürzere fiinda , die reimbezogen an die letzten beiden Strophen anschließt (ffd). Auffälligstes Charakteristikum ist die Verwendung des typischen Verfahrens des dobre , vereinfacht gesagt die Wiederholung desselben Worts in jeder Strophe wenn nicht gar mehrfach in jeder Strophe. 14 Hervorgehoben wird dadurch das Schlüsselwort „molher“, dessen unausgesetzte grammatische Negierung (bis zur Polynegation) zugleich witzig die alleinigen sexuellen Vorlieben des Fern-o Dias ausstellt. Diese sind freilich zu seiner Zeit alles andere als ungefährlich. Im mittelalterlichen Fuero Real wird die Sünde wider die Natur bestraft „with public castration, followed by death by hanging from the legs and without a burial (the corpse, thus, eaten by animals)“ 15 . Und auch in den Siete Partidas Alfons des Weisen, an dessen Hof sich ja das ganze Spektakel mutmaßlich abspielt, wird hierfür die Todesstrafe gefordert. 16 Lebensweltlich steht somit alles auf dem Spiel. Doch Fern-o Dias, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, 17 ist offensichtlich nicht nur am Leben geblieben, sondern er war beliebtes Verlachobjekt im Rahmen höfischer Kommunikation. Zweifellos war er als Abweichler von der Norm Ziel des Spotts; doch trotz der grundsätzlichen Neigung der cantiga 13 Mário Martins, A Sátira na Literatura Medieval Portuguesa (Séculos XIII e XIV) , Lisboa: Instituto de Cultura e Língua Portuguesa 1977, p. 110. 14 „Em resumo: temos de considerar sob o nome de dobre qualquer repetiç-o léxica sem variações de flex-o, quer ela seja ou n-o regular e seja qual for a sua posiç-o.“ Vicente Beltrán, „Dobre“, in: Dicionário da Literatura Medieval Galega e Portuguesa , edd. Giulia Lanciani, Giuseppe Tavani, Lisboa: Caminho 2 1993, p. 219sq., hier p. 220. 15 Daniel Eisenberg, „Spain“, in: Encyclopedia of Homosexuality , ed. Wayne R. Dynes, 2 vols., New York/ London: Garland Publishing 1990, vol. II, pp. 1236-1243, hier p. 1237 (der genaue Wortlaut findet sich z. B. zitiert bei Gonçalves, Poesia de Rei , p. 42.) 16 Ibid. 17 „En estos escarnios, lo mismo gallegos que provenzales, hay mucha expresión metafórica, puros juegos satíricos, rudas burlas, que en nada menoscaban la estimación personal satirizante respecto del satiriza/ do, y que no puede entenderse al pie de la letra. Es un error el tomar esas sátiras como datos biográficos según hacen las antiguas biografías provenzales y los modernos eruditos.“ Ramón Menéndez Pidal, Poesía juglaresca y juglares. Orígenes de las literaturas románicas [1942], Madrid: Espasa Calpe 1991, p. 207sq. <?page no="50"?> „Beati Oculi“ 51 de escárnio e maldizer zum auch sprachlich Obszönen ist der Spott hier elegant verpackt, Fern-o Dias ist offensichtlich nicht vorrangig Empfänger einer brimade sociale (Henri Bergson), sondern er ist vielmehr Anlass höfischer Freude im Sinne eines Mitlachens, eines fröhlichen Hereinholens des Ausgegrenzten ( Joachim Ritter). Die cantiga des Pero da Ponte zeigt die Positivierung von Negativität (Rainer Warning): 18 Was lebensweltlich sanktioniert wird, findet sich im Ästhetischen umgepolt; negiert wird die molher , freudig begrüßt hingegen, und zwar in raffiniert gestaltetem Lied, das peccatum nefandum . Oder wie Bernhard Teuber formuliert: „Das komische Gelächter ermöglicht es demnach stets, das auf positive Weise zu integrieren und zu beheimaten, was im Bereich des Ernsthaften und Alltäglichen vorwiegend negativ beurteilt wird.“ 19 Das Lied ist somit historisch eingebettet in ein allseits gefälliges, ironisch grundiertes höfisches (Wort-)Spiel, dessen Regeln gleichfalls Alfons der Weise in einer der leis seiner Partidas formuliert: „En el juego [de palabra] deve catar que aquelo que dixere, que sea apuestamente dicho, e non sobre aquela cosa que fuere en aquel con quien jugaren, mas a viessas dello, como: si fuera covarde dizerle que es esforçado, e al esforçado jogarle de covardía. E esto deve ser dicho de manera quel con quien jogaren no se tenga por escarnido, mas que aya plazer, e ayan de reir dello, tan bien el como los outros que oyeren. E outrossi el que lo dixere que lo sepa bien dezir, en el lugar que conviene, ca de outra guisa non seria juego. E por esto dize el proverbio antiguo que non es juego donde home non rie.“ 20 Aufgerufen ist hier das universelle, ambivalente, karnevaleske Lachen, dem Michail Bachtin die Funktion zuweist, „die fröhliche Relativität “ jeglicher Ordnung zu feiern, 21 und dessen Tradition und Transformationen vom 18 Zu diesen Topoi der Komiktheorie cf. den ausgezeichneten Überblick von Rainer Warning, „Komik, Komödie“, in: Fischer Lexikon Literatur , ed. Ulfert Ricklefs, vol. II, Frankfurt a.M: Fischer 1996, pp. 897-936. 19 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 160. 20 Zit. n. Graça Videira Lopes, „Introduç-o“, in: Cantigas de Escárnio e Maldizer , pp. 11-20, hier p. 13. 21 Michail M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs , tr. Adelheid Schramm, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1985, p. 139. Die Ambivalenz des Lachens mit der Funktion des ‚Queerens‘ soziokultureller Grenzziehungen betont auch Josiah Blackmore: „the treatment of sodomy in this poetry is necessarily condemnatory […]. […] these poems are at once indictful and playfully tolerant, double voiced, moving freely between the poles of abhorrence and indulgence. […] These texts are telling battle/ playgrounds for proscribed sexuality and its representation, a site of tension between deviant sex and the culture that seeks to control it. The poets of sodom both impose social or cultural orthodoxies and complicate them, delineating the boundaries of sex and poetry and then reveling in their crossing.“ („The Poets of Sodom“, in: Queer Iberia. Sexualities, Cultures, and Crossings from the Middle Ages to the Renaissance , edd. id., Gregory S. Hutcheson, Durham, London: Duke Univ. Press 1999, pp. 195-221, hier pp. 195, 196). <?page no="51"?> 52 Horst Weich Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit der frühe Bernhard Teuber gelehrt aufzeigt, wenngleich er in seinem Quevedo-Kapitel 22 den ojo del culo ausspart, dessen letzte desgracia bekanntlich darin besteht, dass „sólo una vez que se quiso holgar le quemaron“ 23 . 22 Teuber, Sprache - Körper - Traum , pp. 182-227. 23 Francisco de Quevedo y Villegas, „Gracias y desgracias del ojo del culo“, in: Id., Prosa festiva completa , ed. Celsa Carmen García Valdés, Madrid: Cátedra 1993, pp. 356-378, hier p. 378. <?page no="52"?> Erzählerische Subjektivität und Ironie 53 Erzählerische Subjektivität und Ironie. Zum Anfang der anonymen Vida de Lazarillo de Tormes Hanno Ehrlicher Yo por bien tengo que cosas tan señaladas y por ventura nunca oídas ni vistas vengan a noticia de muchos y no se entierren en la sepultura del olvido, pues podría ser que alguno que las lea halle algo que le agrade, y a los que no ahondaren tanto los deleite. Y a este propósito dice Plinio que “no hay libro, por malo que sea, que no tenga alguna cosa buena”. Mayormente que los gustos no son todos unos, mas lo que uno no come, otro se pierde por ello y así vemos cosas tenidas en poco de algunos que de otros no lo son. Y esto para que ninguna cosa se debría romper ni echar a mal, si muy detestable no fuese, sino que a todos se comunicase, mayormente siendo sin perjuicio y pudiendo sacar de ella algún fruto. Porque, si así no fuese, muy pocos escribirían para uno solo, pues no se hace sin trabajo, y quieren, ya que lo pasan, ser recompensados, no con dineros, mas con que vean y lean sus obras y, si hay de qué, se las alaben. Y, a este propósito, dice Tulio: “La honra cría las artes”. ¿Quién piensa que el soldado que es primero del escala tiene más aborrecido el vivir? No, por cierto, mas el deseo de alabanza le hace ponerse al peligro; y, así, en las artes y letras es lo mismo. Predica muy bien el presentado y es hombre que desea mucho el provecho de las ánimas; mas pregunten a su merced si le pesa cuando le dicen: “¡Oh, qué maravillosamente lo ha hecho Vuestra Reverencia! ”. Justó muy ruinmente el señor don Fulano y dio el sayete de armas al truhán, porque le loaba de haber llevado muy buenas lanzas: ¿qué hiciera si fuera verdad? Y todo va de esta manera: que, confesando yo no ser más santo que mis vecinos, de esta nonada, que en este grosero estilo escribo no me pesará que hayan parte y se huelguen con ello todos los que en ella algún gusto hallaren, y vean que vive un hombre con tantas fortunas, peligros y adversidades. Suplico a Vuestra Merced reciba el pobre servicio de mano de quien lo hiciera más rico si su poder y deseo se conformaran. Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, pareciome no tomalle por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona; y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando salieron a buen puerto. La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades (1554), Prolog 1 1 Zugrunde gelegt wird hier die Edition Francisco Ricos für die Biblioteca Clásica de la RAE: Lazarillo de Tormes , Madrid: Real Academia Española, Barcelona: Galaxia Guten- <?page no="53"?> 54 Hanno Ehrlicher Wenn gültig sein soll, dass sich im modernen Roman mit dem ersten Satz die Fiktion von der Wirklichkeit ablöse „um eine Welt eigenen Gesetzes zu formulieren“ 2 und dass sich in diesem Einsatz der Fiktion auch der Erzähler als souveräner Herrscher der Fiktion konstituiere, so können wir es im vorliegenden Text nicht mit einem Roman der Moderne zu tun haben. Das „Yo“, das sich im Prolog des La Vida de Lazarillo de Tormes: y de sus fortunas y aduersidades betitelten Büchleins gleich zu Beginn des ersten Satzes zu Wort meldet, ist nämlich zunächst noch kein Erzähler und entwirft auch keine Welt eigenen Gesetzes. Es fungiert in exordialtypischer Manier und analog zur klassischen mündlichen Redesituation zunächst als direktes Sprachrohr des Autors, der sich an sein Publikum adressiert und in einer captatio benevolentiae um dessen Gunst wirbt, bevor er sich dann dem Gegenstand seiner Rede zuwendet und diesen erläutert. Gegenstand dieser Rede ist dann aber ein zweites Ich, das völlig unvermittelt gegen Ende des Prologs auftaucht, als Subjekt einer Beichte („confesando yo“), die auf Verlangen einer höher gestellten Person, „Vuestra M.(erced)“ abgegeben wird, als „pobre servicio“ und Pflichterfüllung im Dienste eines unbekannten Herren, der vielleicht auch eine Herrin sein könnte. Trotz grammatisch identischer Form könnten Funktion und Identität der Stimme des Subjekts, das irgendwo zwischen Anfang und Ende des Prologs seine Rolle wechselt, kaum unterschiedlicher sein: Die den Prolog einleitende Stimme entspricht einem humanistisch gebildeten Autor, der Plinius den Älteren und Marcus Tullius Cicero als antike Autoritäten zitiert und über alle rhetorischen Register verfügt, die einem gelehrten Schriftsteller dieser Zeit zur Verfügung standen - wir schreiben das Jahr 1554, als das Büchlein fast zeitgleich in Spanien in Medina del Campo, Alcalá de Henares und Burgos sowie in Antwerpen auf den Markt kam. Der pseudoautobiographische Erzähler dagegen, der am Ende des Prologs mit der Schilderung seines „caso“ einsetzt, entspricht in der Logik seiner eigenen Lebensgeschichte einem einfachen Mann, der gegen alle Widrigkeiten des Schicksals aus eigener Kraft in den sicheren Hafen des Glücks („buen puerto“) gerudert zu sein vorgibt. Dieser „Hafen“ des Glücks bildet das Telos der folgenden, in acht Kapitel ( tratados ) unterschiedlicher Länge gegliederten Lebensgeschichte von Lazaro und dieses am Anfang ausgegebene Ziel wird erzählerisch am Ende wieder eingeholt im letzten Satz des Textes in der Behauptung eines Zustands vollkommener Zufriedenheit: „Pues en este tiempo estaba en mi prosperidad y en la cumbre de toda buena fortuna“ (p. 80). Mit diesem letzten Satz biegt sich berg 2011, pp. 3-5. 2 Norbert Miller, „Einleitung“, in: Id., Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Zwölf Essays , Berlin: Literarisches Colloquium 1965, p. 9. <?page no="54"?> Erzählerische Subjektivität und Ironie 55 der chronologisch entfaltete Lebenslauf zurück zum Anfang des Erzählens am Ende des Prologs in einem perfekt sich schließenden Zirkel. Dieser dramatische Wechsel der pragmatischen Kommunikationssituation innerhalb des Prologs ist das eigentliche literarische Ereignis des Textes. Ein Ereignis, das anders als im Falle der zu Beginn des Prologs eingesetzten topischen Formel von den unerhörten Begebenheiten („cosas tan señaladas y por ventura nunca oídas ni vistas“), die sich auch in den spanischsprachigen Chroniken von der Entdeckung der „Neuen“ Welt Amerikas immer wieder findet, gerade nicht direkt benannt ist, sondern sich stillschweigend als logischer Kohärenzbruch vollzieht und damit den Leser in seiner hermeneutischen Suche nach sinnvoller Gestalthaftigkeit nachhaltig irritiert. Rosa Navarro Durán, die seit einigen Jahren mit großer Entschiedenheit und mit Mitteln, die mir teilweise wissenschaftlich unlauter scheinen, 3 für die Aufhebung des Anonymats des hier besprochenen Textes plädiert, inszeniert diese Leserirritation in einem Interview aus dem Jahr 2008 als ihr eigenes philologisches Erweckungserlebnis: „Y de pronto, en la terminal del Prat, me encuentro […] con una anomalía fundamental: el último párrafo del Lazarillo está mal puesto, porque no pertenece al prólogo, sino al comienzo de la obra. Hay que cambiarlo de sitio. […] Una obra como el Lazarillo no puede tener una incoherencia tan grande y que carece de sentido. […] Esa transformación del interlocutor que le obliga a hablar a los lectores de un libro escrito podría hacerla Cortázar en el siglo XX, jugando con los planos narrativos, pero, desde luego, no el autor del Lazarillo ni ningún escritor de los Siglos de Oro.“ 4 Das hier geschilderte Irritationserlebnis kann von jedem aufmerksamen Leser des Textes gut nachempfunden werden, die Konsequenz, die daraus gezogen wird, bietet sich allerdings nicht zwangsläufig zur Nachahmung an, denn sie mündet in eine konsequente interpretatorische und philologische Re-Normierung des Textes, die gerade diese initiale Ereignishaftigkeit der Lektüre zu tilgen versucht. Die zwar nicht auffindbare, aber immerhin vorstellbare Urversion der Vida de Lazarillo de Tormes müsse, so wird von erwähnter Leserin geschlussfolgert, noch eine Seite enthalten haben, deren Fehlen (bzw. deren Entfernung) nicht nur für die logische Inkohärenz im Prolog der vier erhaltenen Editionen geführt habe, sondern auch eine ganze Reihe von weiteren Rätselhaftigkeiten des Textes erkläre, etwa die Unterbestimmtheit der Identität von „Vuestra 3 Cf. dazu meine an anderer Stelle vorgelegte Argumentation: „Das aufgegebene Anonymat. Kritische Anmerkungen zu einer philologischen Kanonrevision aus aktuellem Anlass“, in: PhiN. Philologie im Netz 46 (2008), pp. 1-13. 4 Cf. Javier Fresán, „Rosa Navarro Durán. De la mano de Lazarillo“, in: Clarín. Revista de Nueva Literatura 312 (2008), www.revistaclarin.com/ 312/ rosa-navarro-duran-de-la-mano-del-lazarillo/ (27.01.2018), s.p. <?page no="55"?> 56 Hanno Ehrlicher Merced“ oder die Unterbestimmtheit des Erzählanlasses, des „Falles“ Lázaros, dessen Klärung der Forschung so großes Kopfzerbrechen bereitet hatte. 5 In ihrer eigenen Editionspraxis trennt Navarro Durán das, was ihrer Meinung nach noch ‚ursprünglich‘ zum Prolog gehört habe, vom letzten Absatz, der nur versehentlich durch die ersten Verleger zum Teil des Prologs geworden sei aber eigentlich schon zum Erzählten gehöre. Dabei setzt sie selbst den Schnitt zwischen „adversidades“ und „suplico“. Hier und genau hier habe logisch die Trennung zu verlaufen zwischen der Stimme des Prologs und der Stimme des Erzählens. Eine derartige rabiate Politik der emendatio, mit der im Namen des vermuteten Autorenwillens verderbte Stellen der Überlieferung verbessert werden bzw. nicht Überliefertes durch Konjekturen ‚wieder‘ hergestellt wird, lässt sich ein anderes Prinzip der Textkritik entgegenstellen, das Prinzip der lectio difficilior , das davon ausgeht, dass im Falle unterschiedlicher möglicher Lesarten einer Stelle die schwierigere zu bevorzugen sei, um die im Verlauf der Textüberlieferung quasi automatisch sich produzierende Tendenz zur Nivellierung des Schwierigen auszugleichen. Dieses Prinzip lässt sich durchaus auch über die reine Textkritik hinaus als ein Ethos des Interpretierens behaupten und steht dem spiritus rector Bernardi Teuberii , dem sich diese Publikation verschreibt, vermutlich wesentlich näher 6 als die Tendenz zur Normierung und Nivellierung eines kleinen Textes, der gerade aufgrund seiner Ambivalenzen zu einem großen Stück Literatur werden konnte. Das Argument, dass ein Text aus dem Horizont des Normalen seiner Zeit nicht ausscheren könne und dass ein Autor des Siglo de Oro in keinem Fall ‚moderne‘ Vertextungsstrategien habe wählen können, beruht - abgesehen davon, dass man so die Autorintention als einzige Begründungsbasis gelungener Interpretation ansetzt - auf einer Reihe von Vorannahmen, die keinesfalls selbstverständlich sind. Es präsupponiert einen progressiven Verlauf der Geschichte und in ihr der Literaturgeschichte, der von vermeintlich einfachen Formen zu komplexeren Formen des Erzählens führen müsse und ignoriert damit ebenso die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die sich in allen Abschnitten der Zeitläufte finden lässt, wie die Möglichkeiten von anachronen Durchbrechungen des linearen Erzählens. Proleptische Vorgriffe, die in die Zukunft weisen, und 5 Die Autorin hat ihre Argumentation mehrfach in leichten Variationen vorgelegt, z. B. „Suplico a vuestra merced…“. Invitación a la lectura del Lazarillo de Tormes , Vigo: Editorial Academia del Hispanismo 2008. 6 Ich möchte hier nur auf die von Bernhard Teuber praktizierte lectio difficilior der Cervantinischen Novelle La fuerza de la sangre verweisen: „Die Evidenz des blutigen Leibes und das christliche Imaginarium in La fuerza de la sangre. Plädoyer für die theopoetische Lektüre einer cervantinischen Novelle“, in: Cervantes’ Novelas ejemplares im Streitfeld der Interpretationen. Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit , edd. Hanno Ehrlicher, Gerhard Poppenberg, Berlin: Walter Frey 2008, pp. 68-106. <?page no="56"?> Erzählerische Subjektivität und Ironie 57 analeptische Rückbezüge auf schon Geschehenes stellen aber nicht nur Möglichkeiten des Erzählens von Geschichten dar, sondern sind selbst auch Teil der Geschichte. Dass Autorschaft literarisch schon in der Antike hochkomplex und bereits hochmodern anmutend inszeniert werden konnte, belegt etwa schon lang vor dem Lazarillo Apuleius’ Goldener Esel, der als ein Modell karnevalesken Erzählens den anonymen Autor des kastilischen Textes durchaus beeinflusst haben kann. 7 Es gibt aber auch jenseits solcher epistemologischen Grundfragen nach dem Wiss- und Schreibbaren einer Epoche ganz textnahe Gründe für Kritik an einer Scheidung des im Prolog der historischen Überlieferungsträger Ungeschiedenen auf dem Wege der Neuedition. Denn der Rollenwechsel zwischen auktorialem und erzählendem Ich verläuft im Text keineswegs so abrupt wie von Navarro Durán behauptet. Welches Ich spricht denn im Akt der confessio , die nach der kurzen Beispielerzählung, auf die noch einzugehen sein wird, das vorgelegte Schriftstück in ostentativer Bescheidenheit als Nichtigkeit („nonada“) abtut und sich selbst als einfachen Bürger tituliert, der nicht besser sei als seine Nachbarn? Spricht hier noch der Autor des Prologs im Topos der Bescheidenheit oder schon der arme Lazarus als Erzähler und Protagonist, dessen Armut zentraler Teil seiner Lebens- und vermeintlichen Erfolgsgeschichte ist? Der Übergang von auktorialer zu erzählerischer Stimme ist also fließend und durchaus subtil gestaltet, die Irritation damit auch viel weniger radikal als von Navarro Durán zur Legitimation ihres eigenen editorischen Eingriffs behauptet. Auch führt der Vergleich mit Cortázar und dessen phantastischer Synthese kausallogisch getrennter Zeiträume, wie sie etwa in 62 - Modelo para armar zum Tragen kommt, in die Irre, denn der Rollen- und Identitätswechsel der Erzählstimme im Lazarillo ist weder bruchhaft noch bedrohlich, sondern spielerisch und fließend. Pate für ein solches Vorgehen stand neben der schon erwähnten Schreibkunst des Zirkusreiters Apuleius auch das ironisch eingesetzte uneigentliche Selbstlob, das schon in Erasmus’ Moriae Encomium ( Laus Stultitiae / Lob der Torheit ) Einsatz fand und damit durchaus im Horizont humanistischen Schreibens verankert war. Die ironische Grundhaltung verbindet denn auch beide Rollenmasken der Erzählinstanz des Prologs. In der Beispielreihe, die auf das Cicero-Zitat folgt und eigentlich dessen Gültigkeit belegen müsste, dient sie der Subversion bzw. Infragestellung des Topos vom Streben nach Ehre als einem Hauptmovens der Künste. Das erste Beispiel vom Soldaten, dessen Tapferkeit dadurch motiviert ist, ist noch ganz unproblematisch und eindeutig affirmierend. Aber schon mit 7 Cf. Bernhard Teuber, „Zur Schreibkunst eines Zirkusreiters. Karnevaleskes Erzählen im Goldenen Esel des Apuleius und die Sorge um sich in der antiken Ethik“, in: Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen , ed. Siegmar Döpp, Trier: WVT 1993, pp. 179-238. <?page no="57"?> 58 Hanno Ehrlicher dem zweiten Beispiel wandelt sich das Werturteil von Zustimmung zu Kritik, denn im Falle des predigenden „presentado“ 8 wird das weltlich-profane Motiv der Ruhmessucht auch in den Bereich der Geistlichkeit eingeführt und damit kritisch gewendet zur Warnung gegen die Gefahr der Eitelkeit. Dem dritten Beispiel der Reihe kommt nach diesem Wechsel des Vorzeichens im Wertungsmaßstab umso entscheidendere Bedeutung bei, doch genau dieses Beispiel wird bewusst in der Schwebe des Ironisch-Uneindeutigen gehalten. Mit dem Möchtegernritter Don Fulano wird ein Sozialtypus vorweggenommen, der später im dritten Kapitel der Lebensgeschichte des Lazarillo in Gestalt des verarmten escudero in aller Breite zur Geltung kommen wird. Anders als im Falle des Geistlichen, der ebenfalls als Vorgriff auf das später im autobiographischen Diskurs Ausgeführte verstanden werden kann (mit dem Kleriker des zweiten Kapitels und, mehr noch, dem Ablasshändler im fünften Kapitel rückt der geistliche Stand mehrfach ins Visier der Kritik), ist der Modus der Kritik hier aber uneindeutig, denn das falsche Lob des Narren („truhán“), mit dem dieser auf Don Fulanos schlecht geführten Kampf reagiert, ist gar nicht eindeutig falsch, wenn man den spanischen Ausdruck vom „llevar buenas lanzas“ wörtlich versteht, denn streng genommen ist die Eigenschaft des Guten dabei nicht auf das Handeln des Lanzenträgers bezogen, sondern lediglich auf die von ihm verwendeten Utensilien. In seinem schlecht geführten Zweikampf („justó muy ruinmente“) können ja in der Tat glänzende Lanzen zum Einsatz gekommen sein, auch wenn sie nicht glänzend geführt wurden. Das Lob des Narren ist damit falsch und richtig in einem, unwahr in Bezug auf das Handeln des Pseudoritters, dessen Distinktionsbegehren im Übrigen schon durch seinen Allerweltsnamen konterkariert wird, wahr dagegen in Bezug auf den ritterlichen vestimentären Code, den Don Fulano ja wirklich standesgemäß erfüllt. Dass die Frage nach der Wahrheit dabei bewusst in eine Situation der Unentscheidbarkeit manövriert wird, wird dann auch noch einmal deutlich in der abschließenden Frage, die auf die Beispielserie folgt. Die Frage selbst bleibt wiederum zwangsläufig ambivalent, da nicht klar ist, auf wessen Verhalten sie sich eigentlich bezieht, auf das ironische Lob des Knechts oder umgekehrt auf die großzügige Belohnung dieser Taktik durch den Herrn, der mit dem „sayete de armas“ einen Teil der wertvollen Ausrüstung zum Geschenk erhält. Für die erste Option entscheidet sich Helene Henze in ihrer Übertragung der Stelle ins Deutsche, indem sie „¿qué hiciera si fuera verdad? “ 8 Die in der leicht zugänglichen Ausgabe Hartmut Köhlers gebotene Übersetzung ( Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes. sp.-dt., Stuttgart: Reclam 2006) als „Kanzelredner“ (p. 7) vereinfacht den Sachverhalt etwas, denn der „presentado“ ist als Anwärter auf den „grado de maestro en teología“ (cf. zur Wortbedeutung die Anmerkung Francisco Ricos, p. 4) vom Lob seiner Vorgesetzten abhängig, was seine pragmatische Motivation diesseits des Seelenheils seiner Gläubigen doch wesentlich nachvollziehbarer macht. <?page no="58"?> Erzählerische Subjektivität und Ironie 59 als „Wie aber, wenn das die Wahrheit gewesen wäre? “ 9 wiedergibt, während Hartmut Köhler sich für Don Fulano als logisches Subjekt des Tätigkeitsverbs hacer entscheidet und formuliert: „Was hätte er ihm wohl vermacht, wenn es wahr gewesen wäre? “ 10 Die Übersetzung muss an dieser Stelle, angesichts der tiefen ironischen Mehrdeutigkeit des Originals, notwendig scheitern, aber genau dieses notwendige Scheitern ist ja generell die Aufgabe des Übersetzens, um hier der Argumentation zu folgen, die Walter Benjamin in seinem gleichnamigen sprachphilosophischen Aufsatz entfaltet hat. 11 Demzufolge kann die Übersetzung von einer natürlichen in die andere natürliche Sprache nie mehr sein als Fragment einer zwar denk- und vorstellbaren, aber eben als ganze nie direkt manifest werdenden Universalsprache, deren Universalismus sich nur ex negativo , an den Grenzen und in der Summe der jeweiligen Limitierungen der Einzelsprachen zeigt. Diesseits solcher weitreichenden sprachphilosophischen Reflexionen offenbart der Übersetzungsvergleich jedoch auch die Aufgabe, der sich die Philologie zu stellen hat, wenn sie es mit einer derart programmatischen ironischen Mehrdeutigkeit zu tun hat. Sie besteht darin, dem Viellogischen nicht mit didaktischer Reduktion zu begegnen, sondern es in seine unterschiedlichen Richtungen beschreibend zu entfalten und zu akzeptieren, dass der Sinn von Worten nicht immer eindeutig verstehbar ist. Anders als es die in Lehrbüchern verbreitete Schrumpfformel suggeriert, wonach ironisch einfach sei, das Gegenteil des Gemeinten zu sagen, äußert sich erzählerische Ironie in Texten, die abgelöst von einer empirisch beobachtbaren pragmatischen Redesituation funktionieren, selten als simple Inversion der Werte, sondern fast immer als ein komplexer Wertungskonflikt, der umso schwieriger zu entscheiden ist, als die Zuordnung der Wertungen zu den sie zu verantwortenden Äußerungsinstanzen oft nicht klar zu treffen ist. In unserem Beispiel scheint die Ironie im Prolog vom echten Autor der Vida ihren Ausgang zu nehmen, um sich auf den nur fingierten, aber als tatsächlicher Urheber seiner Lebensgeschichte auftretenden Erzähler zu übertragen. Die im Prolog ironisch am Anfang des Textes eingelassene Wahrheitsfrage, die auch den ethischen Grundwert des Guten betrifft, taucht jedenfalls am Ende der Autobiographie mit aller Macht wieder auf, wenn die Beurteilung der eigenen Lebenssituation als „Gipfel des Glücks“ durch den Erzähler kontrastiert wird mit der Kritik am vermeintlich moralisch schlechten 9 Das Leben des Lazarillo von Tormes. Seine Freuden und Leiden , tr. Helene Henze, Nachwort Horst Baader, München: Beck 1992, p. 6 10 Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes , tr. Köhler, p. 7. 11 Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Id., Gesammelte Schriften , vol. IV.1, ed. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1991, pp. 9-21. <?page no="59"?> 60 Hanno Ehrlicher Lebenswandel seiner Frau, die nach Einschätzung der Nachbarschaft mit dem Erzbischof von Toledo ein ganz und gar unehrenhaftes Verhältnis unterhalten soll. Der Erzähler Lázaro entscheidet den Konflikt für sich zwar eindeutig gegen den Verdacht, der Autor des Textes überlässt die Entscheidung seinerseits aber dem Leser und meldet sich abschließend nicht mehr klärend zu Wort. Der Rückgriff auf die vermeintliche Identität des ‚wahren‘ Autors und dessen Intentionen ist dabei nur ein allzu bequemes Ausweichen vor der Hintersinnigkeit des anonymen Textes, der sich die Forschung auch in Zukunft stellen müssen wird. Die ganze Gattung der novela picaresca hat sich an dieser mit dem Lazarillo begonnenen und zuvorderst mit Hilfe ironischen Erzählens in den Text verankerten „Reversibilität der Auffassungsperspektive“ 12 abgearbeitet - vom Auftauchen unterschiedlicher Remodellierungen des Renaissancemodells in verschiedenen Texten um 1600 bis hin zum vorläufigen Ende der Gattung in der Vida de Estebanillo González, die 1646 in Antwerpen veröffentlicht wurde. Dort greift der autobiographische Erzähler die Frage nach der Wahrheit wieder auf und verknüpft sie mit der gattungskonstitutiven Fiktion des Autobiographischen, indem er von seiner Lebensgeschichte behauptet, sie sei anders als im Falle seiner Vorläufer Guzmán und Lazarillo nicht erfunden „sino una relación verdadera“ 13 . In diesem späten Echo auf den Anfang der Gattung erklingt nach einem Jahrhundert auch wieder die im Prolog des Lazarillo gestellte Frage nach der Wahrheit im Sinne des ‚wahren‘ und guten Handelns. Sie ist keineswegs nur rhetorischer Natur, sondern auch skeptische Einsicht in die Vieldeutigkeit der Welt: „¿qué hiciera si fuera verdad? “ 12 Cf. Matthias Bauer, Der Schelmenroman , Stuttgart/ Weimar: Metzler 1994, p. 105. 13 La vida y hechos de Estebanillo González, hombre de buen humor. Compuesto por el mesmo, edd. Antonio Carreira, Jesús Antonio Cid, 2 vols., Madrid: Cátedra 1990, vol. I, p. 13. <?page no="60"?> Was vom Lachen übrig blieb 61 Was vom Lachen übrig blieb: Yoricks Schädel Tobias Döring H amlet : Alas, poor Yorick. I knew him, Horatio. A fellow of infinite jest, of most excellent fancy. He hath bore me on his back a thousand times, and now how abhorred in my imagination it is. My gorge rises at it. Here hung those lips that I have kissed I know not how oft. Where be your jibes now - your gambols, your songs, your flashes of merriment, that were wont to set the table on a roar? Not one now to mock your own grinning, quite chapfallen. Now get you to my lady’s table and tell her, let her paint an inch thick, to this favour she must come. Make her laugh at that. William Shakespeare, Hamlet (1603), V.1, 174-184 1 In seinem Beitrag zum Mediävistischen Colloquium, das im Oktober 1997 in Berlin zum Thema „Komische Gegenwelten“ stattfand, wirft Bernhard Teuber eine grundsätzliche Frage auf: Ist das Lachen „überhaupt ein kulturelles Produkt? Oder ist es nicht Ausdruck einer in ihrer Tiefe immer gleichen und immer konstanten natura humana ? “ 2 Die Frage stellt, wie Teuber selbst anmerkt, den Arbeitskonsens der neueren Literatur- und Kulturwissenschaft in Frage, die sich im Anschluss an die Argumente Michail Bachtins auf die Historizität von Lachkultur verständigt hat, mithin die unterschiedlichen sozialhistorischen Konstellationen herausarbeiten will, in denen sich Gelächter jeweils artikuliert, und dazu insbesondere, auch hierin Bachtin folgend, literarische Zeugnisse als Sedimente jener kulturellen Dynamik untersucht, die uns über die spezifischen Bedingtheiten solcher körperlichen Akte Auskunft geben. Nicht zuletzt eine wissenschaftliche Unternehmung wie das genannte Colloquium verfolgt genau dieses Ziel: Im Hinblick auf das Mittelalter wie die Frühe Neuzeit will es zeigen, wie Literatur „an einen bestimmten Gebrauchszusammenhang und dementsprechende Erwartungs- und Sinnhorizonte gebunden bleibt“, die sich durch Textlektüren rekonstruieren lassen; aus diesem Grund, so die Veranstalter in 1 The Arden Shakespeare, Third Series, edd. Ann Thomson, Neil Taylor, London: Thomson Learning 2006, p. 422sq. 2 Bernhard Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? Das Fabliau des französischen Mittelalters und Rabelais’ komischer Roman“, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit , edd. Werner Röcke, Helga Neumann, Paderborn: Schöningh 1999, pp. 237-249, hier p. 237. <?page no="61"?> 62 Tobias Döring ihrem programmatischen Vorwort weiter, „sind gerade die Formen der Inszenierung des Lachens besonders aufschlußreich, die bestimmten Räumen oder Zeiten fest zugehören und ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Körpersprache und Gestik, der Aufführungspraxis und Dramaturgie des Gelächters entwickeln“. 3 Wie ließe sich dagegen eine Auffassung vertreten, die das Lachen als anthropologische Konstante und gleichbleibenden Ausdruck menschlicher Natur versteht? Das wäre nicht nur ein Stillstellen literaturwissenschaftlicher Forschung, die einen Beitrag zur Kulturgeschichte und historischen Anthropologie leisten will, sondern mit Sicherheit auch nicht in Teubers Sinne, der eben hierzu mit Sprache - Körper - Traum eine maßgebliche Untersuchung vorgelegt hat. Dennoch ist seine Grundsatzfrage auf dem Berliner Colloquium gewiss nicht bloß rhetorisch zu verstehen. Sie folgt vielmehr aus der bemerkenswerten Tatsache, dass eine der ältesten und folgenreichsten Beschreibungen das Lachen „als differentia specifica des Menschen“ bestimmt: so nämlich Aristoteles in De partibus animalium , einem zoologischen Traktat, dessen Auffassung, dass nur Menschen wirklich lachen können, wie Teuber einleitend bemerkt, sich bis zu Rabelais und darüber hinaus verfolgen lässt. 4 Lachen erscheint hier als Ergebnis eines reflexiven Akts und einer Distanznahme, die geistiges Vermögen und somit genuin menschliche Kompetenz voraussetzen. Auf diese Weise wird nicht nur ein Proprium des Menschen transhistorisch festgestellt, sondern auch der diskursive Ort markiert, an dem vom Lachen überhaupt zu handeln sei: Mit Naturgeschichte und Biologie weist Aristoteles’ Traktat dem Lachen eine Stellung in den Gegebenheiten der Natur zu, die es, wie man folgern mag, vom Feld des Kulturellen und Sozialen, wo wir es routiniert ansiedeln, ausnehmen. Zumindest wird man sagen müssen, dass sich Naturgegebenes und Kulturspezifisches hier auf intrikate Art verschränken. Eben weil das Lachen, wie auch die Berliner Veranstalter betonen, „keineswegs auf Stimme und Gesicht des Menschen beschränkt bleibt, sondern seinen ganzen Körper vereinnahmt“, 5 gewinnt Teubers Frage an Brisanz: Denn es ist die Körperbezogenheit, ja Körpergebundenheit des Lachens, die es einerseits der leiblichen Natur zuordnet, andererseits gerade diesen Leib als kulturelles und historisches Produkt begreifen lässt. Diese Doppelperspektive zu erkennen und zu erkunden scheint die vorliegende Hamlet -Passage geeignet. Im Rekurs auf einen Gelächterexperten („a fellow of infinite jest“), der einst professionell zum geselligen Lachen anstiftete und ganze 3 Werner Röcke, Helga Neumann, „Vorwort“, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit , edd. iid., Paderborn: Schöningh 1999, pp. 7-11, hier p. 10. 4 Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? “, p. 237. 5 Röcke, Neumann, „Vorwort“, p. 7. <?page no="62"?> Was vom Lachen übrig blieb 63 Tischgesellschaften auf diese Art ihrer gemeinsamen Leiblichkeit versicherte („to set the table on a roar“), jetzt aber seiner eigenen Leiblichkeit entledigt und nur noch durch den verbleibenden Knochenrest erinnerlich ist, bietet sie eine Reflexion auf die Körpernatur wie Körpergeschichte des Lachens und seine sozialen Konsequenzen. Was hierbei als menschliche Naturkonstante in Erscheinung tritt - Sterblichkeit, Vergänglichkeit, Verwesung -, wirft zugleich die akute Frage auf, was vom Lachen übrig bleibt, wenn und weil solche Naturprozesse greifen. Der Tod ist immer Nahtstelle zwischen der naturbedingten und kulturbedingten Dimension menschlicher Existenz. Daher lädt an dieser Stelle die Figur des toten Narren dazu ein, mit Hamlet über die Verschränkungen von Natur und Kultur auch im Lachen nachzudenken. Dies umso mehr, als die Identifikation von Yoricks Schädel, wie der szenische Kontext klar verdeutlicht, nur gelingt, weil sein Fundort ihn als Überrest eines vormals vertrauten Menschen ausweist: alles Sonstige ist, wie Hamlet schaudernd festhält, unkenntlich geworden. Der Nivellierung durch den Tod, der jegliche Spezifik tilgt und alles sozial Differente, persönlich Typische oder kulturell Charakteristische einebnet, kann nur entgehen, was durch einen Ort erkennbar und so auch dem Gedächtnis präsent bleibt. Eben daraus folgt ja eine kulturelle Praxis wie das Beerdigen in Gräbern, die den Gedächtnisort für einen Toten durch spezifische Merkmale wie Grabsteine auch dann noch klar ausweist, wenn dessen leibliche Gegebenheit schon fast oder vollständig vergangen ist: Wo Natur greift, muss Kultur eingreifen. In diesem Sinne fragt die Friedhofsszene in Hamlet mit der elegischen Erinnerung an Yorick daher nach dem Ort des Lachens, den wir ihm in der Verständigung darüber, was es sei, zuweisen. Was also ruft Hamlet sich und uns hier in Erinnerung? Wie geht er dabei vor? Und welchen Aufschluss bietet seine Rede, die Manfred Pfister einen „carnivalized sermon“ nennt, 6 zum Problem von Teubers Grundsatzfrage? Hamlet in Betrachtung des Schädels: Hier handelt es sich, zunächst und allgemein gesagt, um den ikonischen Moment dieser Tragödie, einen Moment, der auch in der gesamten Hamlet-Ikonographie seit langem die bevorzugt dargestellte Pose bildet, ein szenisches Tableau, das visuelle, gestische und verbale Bedeutungsstiftung geradezu emblematisch bündelt. Die Konstellation ‚Mensch mit Schädel‘ ist ein klassisches vanitas -Motiv, und tatsächlich ruft Hamlets Rede zum Ende eben diese Tradition selbst auf: die makabre Vorstellung des Totenmanns, der einer Dame am Schminktisch über die Schulter und, wie wir ergänzen können, in den Spiegel schaut („get you to my lady’s table and tell 6 Manfred Pfister, „Comic Subversion: A Bakhtinian View of the Comic in Shakespeare“, in: Shakespeare Jahrbuch West (1987), pp. 27-43, hier p. 37. <?page no="63"?> 64 Tobias Döring her, let her paint an inch thick“), ist laut Harold Jenkins 7 eine gängige Szene im danse macabre , um die Vergeblichkeit und Eitelkeit menschlichen Strebens und speziell weiblicher Hoffart durch Konfrontation mit dem Tod herauszustellen. Das memento mori , das aller Kulturproduktion und insbesondere der Lachkultur den Antrieb geben mag, drängt hier zu Verwesentlichung: Statt uns mit Aussehen, Gefälligkeit und Mode zu beschäftigen („to this favour“), sollten wir der Endlichkeit aller Existenz gewahr werden: ein homiletisches Verfahren, das Hamlets karnevaleske Predigt (um Pfisters Bestimmung aufzugreifen) mit Erfolg einsetzt. Derlei traditionsfeste Bezüge geraten allerdings ins Gleiten, wenn wir ihre aktuelle Ausgestaltung etwas genauer verfolgen. Für unsere Fragestellung scheint es beispielsweise von Belang, dass die besagte Dame sich am Schminktisch mit der kulturellen Überformung ihrer naturgegebenen Leiblichkeit befasst: Kosmetik verhält sich zum Körper wie Kunst zur Natur und wie rhetorische Figuren ( ornatus ) zur ungeschmückten, d. h. ungeschminkten Rede. Im Diskurs der Frühen Neuzeit und speziell des Theaters wird Schminke daher oft kritisch als Trope für Verstellung, Künstlichkeit und Falschheit eingesetzt und gegen eine Rhetorik des Aufrichtigen oder Authentischen in Stellung gebracht, das aller Aufhübschung entsagen darf wie alle wahre Rede der Figuration. Wenn wir aber wie beim Lachdiskurs nach Verschränkungen von Körperlichem mit dem Kulturellen fragen, lassen sich solche einfachen Oppositionen schwerlich halten. Wie überhaupt zu konstatieren ist, dass Hamlets Schädelkontemplation bekannte dichotome Muster überschreibt. In der Gegenüberstellung eines Lebenden mit einem Abgelebtem, eines Gesichts mit einem Totenschädel, eines Leibs aus Fleisch und Blut mit einem bloßen Knochenrest verkörpert sich hier auf der Bühne die Konfrontation von Sein mit Nichtsein, die Hamlet zuvor in seinem berühmtesten Monolog - „To be or not to be“ - als Frage aufgeworfen hat. Gerade deshalb ist bemerkenswert, dass auf dem Friedhof keine solche Alternative eingefordert, sondern ein Nebeneinander gezeigt wird - Sein und Nichtsein zusammen -, eine metonymische Inszenierung von Doppelheit, Gleichzeitigkeit und Gegensätzlichkeit, die beiden Seiten Raum und Präsenz gibt. Hamlet in Betrachtung von Yoricks Schädel: Wie in einem vanitas -Spiegel schaut hier also das Leben auf den Tod, das Sein auf das Nichtsein, zugleich Kultur auf die Natur und ein Tragöde auf den Narren. Denn es steht außer Frage, dass es Hamlet nicht einfach um irgendeinen Schädel als Zeichen des Vergänglichen zu tun ist, sondern um einen ganz konkreten, den eines geliebten Menschen, des Narren Yorick, der, wie wir erfahren, 7 Herausgeberkommentar in: Hamlet. The Arden Shakespeare, Second Series, London: Methuen 1982, p. 554. <?page no="64"?> Was vom Lachen übrig blieb 65 offenbar nichts weniger als eine Vaterfigur für ihn war. Seine Scherze, seine Possen, seine Küsse und sein Einfallsreichtum werden hier mit so elegischer Intensität beschworen, dass sie in der Absenz neue Präsenz gewinnen. Das ist die Funktion des ubi sunt -Topos, der hier zum Einsatz kommt („Where be your jibes now - your gambols, your songs, your flashes of merriment? “): das derart schmerzlich Vermisste durch sprachliche Arbeit ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen und auf diese Weise imaginativ zu restituieren, was eigentlich doch längst verloren ist. Zu solchen inventiven Leistungen gibt der Verstorbene nicht nur Anlass, sondern auch selbst Anleitung: die „most excellent fancy“, die Hamlet an ihm rühmt, ist (laut Glossierung der Herausgeber) 8 ein Terminus für Yoricks Erfindungsgeist und -gabe, zugleich auch die rhetorische inventio , die seine komischen Reden stets beflügelte. Jetzt aber, da er seit 23 Jahren im Grab liegt, bleibt uns nichts, als seinem Beispiel nachzufolgen und eben das mimetisch nachzumachen, was der Narr einst vorgemacht hat. Wenn Hamlet klagend fragt „Not one now to mock your own grinning“, kann er diesem Mangel nur abhelfen, indem er ihn am besten selbst behebt und versucht, Yoricks Lachen, das er so vermisst, gleich nachzulachen und alle dazu anzustiften. Diesem Zweck mag seine folgende Pointe dienen, als er uns zum Scherz die kleine Szene mit der Dame und dem Knochenmann ausmalt: eine Mimesis der Narrenrolle, in die hier der Tragödienheld ersatz- und probehalber schlüpft. Zweierlei daran erscheint bemerkenswert. Erstens wissen wir aus seinen Anweisungen an die Schauspieler im 3. Akt, dass Hamlet eigentlich Clownsnummern auf der Bühne gar nicht schätzt. Als er die Theaterprofis, von denen er sich Aufklärung zum Mordverdacht erhofft, in ihrer eigenen Kunst unterweist, gehört die Kontrolle und Zensur ungebührlichen Lachens zu den wichtigsten Punkten, die er ihnen einschärft: „and let those that play your clowns speak no more than is set down for them. For there be of them that will themselves laugh to set on some quantity of barren spectators to laugh too, though in the meantime some necessary question of the play be then to be considered.“ (III.2, 36-41) Diese Kritik an den Spaßmachern entzündet sich an ihrer mangelnden Textdisziplin: Anstatt sich an das Skript zu halten, erfinden oder spielen sie gern, was ihnen grad einfällt, brechen gar selbst in Lachen aus und stecken auch die Ungebildeten unter den Zuschauern damit an, während eigentlich im Stücktext gerade Wichtiges verhandelt werden soll, was man dann leider verpasst. Es handelt sich um ein Autorisierungs- und Autoritätsproblem. Hamlet will das Bühnenspiel ganz der Verfügungsmacht des Autors unterstellen und keine Abweichungen davon, was der vorgegeben hat, zulassen. Narren, Clowns und andere Karnevalsakteure aber produzieren ständig performativen Überschuss, 8 Hamlet , edd. Thomson, Taylor, p. 422. <?page no="65"?> 66 Tobias Döring unautorisierte Aktion, die körperlich, nicht sprachlich, kodiert ist und im Lachen auch die Körper solcher Zuschauer erfasst, die sich gleichfalls weder um die Schrift noch Vorschrift kümmern. Umso bemerkenswerter also, dass sich Hamlet später, als er Yoricks Schädel in den Händen hält, so emphatisch just zu diesem Überschuss bekennt. Zweitens gilt es daher zu bedenken, dass Hamlets Schädelpredigt schon die zweite Szene der Tragödie ist, in der ihr Held sich einen Profi des Performativen zum Vorbild wählt und dessen körperbewegender Kraft nacheifern will. Im 2. Akt war es der Schauspieler, den Hamlet zur Begrüßung um eine Kostprobe seiner Kunst bat, woraufhin dieser mit dem ungeheuren Pathos seiner Hekuba-Rede sich selbst wie auch sein Publikum zu Tränen rührte, was Hamlet zu Begeisterung hinriss. 9 Ebenso wie der tragische Darsteller das Weinen, beherrscht der Narr und Komiker das Lachen und übt damit eine Körpermacht aus, die Hamlet nur bewundern kann. Denn eigentlich legt seine Narrenmimesis mit Yoricks Schädel offen, was wir schon seit dem 2. Akt beobachten, als Hamlet seine „antic disposition“ (I.5, 170) anlegt: dass nämlich der einzige und eigentlich ambitionierte Narr dieser Tragödie ihr Titelheld selbst ist. Auch Hamlet will sich ja einer Autorität und deren Vorschrift widersetzen, wenn er den Racheauftrag - das Handlungsskript, das ihm der Geist vorgibt - nicht umstandslos ausführt. Doch Hamlet hat, wie wir bemerken, seine eigene Körperlichkeit nicht unter Kontrolle. Dies zeigt sich gerade in dem Augenblick, da er den Schädel kontempliert und Yoricks Erfindungsgeist mimetisch übernehmen will: Stattdessen dreht sich ihm der Magen um - „My gorge rises at it“ - und macht durch diese körperliche Reaktion erneut kenntlich, wie eng die Leibnatur stets mit Kulturarbeit verschränkt ist, eine wechselseitige Bezogenheit, die kaum je einfach aufzulösen ist und mutmaßlich am wenigsten beim Lachen. Was also folgt aus diesem Beispiel für das von Teuber aufgeworfene Problem? Teubers Beitrag zum Berliner Colloquium widmet sich im weiteren vor allem Rabelais’ Roman wie seinen Quellen und gelangt zu einer überraschenden Erkenntnis. Denn er weist nach, dass darin nicht nur die von Bachtin beschriebene Erniedrigung der ernsten Kultur im Medium der Karnevalisierung stattfindet, sondern zugleich auch in umgekehrter Richtung „die traditionelle Lachkultur mit etwas vollkommen Heterogenem konfrontiert“ wird: Das ambivalente Lachen wird von Rabelais, so Teuber, überwiegend „zitiert und seinerseits komisch gebrochen“, mithin bereits als „belachenswert“ ausgewiesen. 10 Hierbei 9 Zu dieser Szene und ihrer Bedeutung für die frühneuzeitliche Tränenkultur cf. Tobias Döring, „Für Hekuba: Tränen bei Shakespeare“, in: „So muss ich weinen bitterlich“. Zur Kulturgeschichte der Tränen , ed. Renate Möhrmann, Stuttgart: Kröner 2015, pp. 53-85. 10 Teuber, „Vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Lachen? “, p. 248. <?page no="66"?> Was vom Lachen übrig blieb 67 übernimmt das Medium der Schrift und Druckschrift, wie wir lernen, eine ganz zentrale Rolle, weil sich ein Autor damit eines neuen Mediums bedient, das in der mittelalterlichen Lachkultur, die er aufgreift, gerade keinen Ort hatte. So kommt es in Teubers Aufsatz zu einer metareflexiven Wende: Der zentrale Text stellt nicht nur den Gegenstand der Untersuchung, sondern führt diese bereits aus, indem er eine Tradition aufnimmt, bearbeitet sowie verändernd reflektiert, die ohne ihn und diese seine Untersuchung für spätere Generationen - mithin für uns - kaum mehr kenntlich sein dürfte. Nur in der Transformation, die aus Verschriftlichung und das heißt: Konfrontation mit dem Heterogenen folgt, lässt sich das Körpererbe alter Lachkulturen kulturell kodiert forttragen. Eben davon zeugt die Hamlet-Passage. In einem Drucktext, der das Skript für eine Bühnenhandlung abgibt, unterzieht sie ein karnevaleskes Erbe, das vergangen und schon fast verwest ist, einer neuerlichen Musterung; in mimetischem Nachvollzug und zugleich in erinnernder Bewusstmachung trägt sie es auf diese Art verändernd und verändert fort, indem sie es mit Heterogenem versetzt: die Tragödie mit der Komödie, das Weinen mit dem Lachen, die Schrift mit der Narretei, die Autorität mit dem Karneval und die Kultur mit dem Körper. Dazu fasst die Passage den so vollzogenen Akt des Forttragens auch selbst ins körperliche Bild: wenn Hamlet sich nämlich daran erinnert, wie Yorick ihn einst auf den Schultern trug („He hath bore me on his back a thousand times“). Jetzt trägt Hamlet seinerseits die Aufgabe, Yoricks Kunst weiterzugeben - ganz wie auch Bernhard Teubers LeserInnen und KollegInnen auf seinen starken Schultern der Gelehrsamkeit stets dankbar dafür sind, was er uns alles gibt und weitergibt. <?page no="68"?> Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 69 Helm des Mambrin oder Barbierbecken? Parodie und Karnevalisierung einer Gerichtsverhandlung Christoph Strosetzki - ¡Ah don ladrón, que aquí os tengo! ¡Venga mi bacía y mi albarda, con todos mis aparejos que me robastes! […] - Mentís -respondió Sancho-, que yo no soy salteador de caminos; que en buena guerra ganó mi señor don Quijote estos despojos. […] Entre otras cosas que el barbero decía en el discurso de la pendencia, vino a decir: - Señores, así esta albarda es mía como la muerte que debo a Dios, y así la conozco como si la hubiera parido, y ahí está mi asno en el establo, que no me dejará mentir; si no, pruébensela, y si no le viniere pintiparada, yo quedaré por infame. Y hay más: que el mismo día que ella se me quitó, me quitaron también una bacía de azófar nueva, que no se había estrenado, que era señora de un escudo. Aquí no se pudo contener don Quijote sin responder: y, poniéndose entre los dos y apartándoles, depositando la albarda en el suelo, que la tuviese de manifiesto hasta que la verdad se aclarase, dijo: - ¡Porque vean vuestras mercedes clara y manifiestamente el error en que está este buen barbero, pues llama bacía a lo que fue, es y será yelmo de Mambrino, el cual se le quité yo en buena guerra, y me hice señor dél con ligítima y lícita posesión! En lo del albarda no me entremeto, que lo que en ello sabré decir es que mi escudero Sancho me pidió licencia para quitar los jaeces del caballo deste vencido cobarde, y con ellos adornar el suyo; yo se la di, y él los tomó, y de haberse convertido de jaez en albarda, no sabré dar otra razón si no es la ordinaria: que como ésas transformaciones se ven en los sucesos de la caballería; para confirmación de lo cual, corre, Sancho hijo, y saca aquí el yelmo que este buen hombre dice ser bacía. - ¡Pardiez, señor -dijo Sancho-, si no tenemos otra prueba de nuestra intención que la que vuestra merced dice, tan bacía es el yelmo de Malino como el jaez deste buen hombre albarda! - Haz lo que te mando -replicó don Quijote-, que no todas las cosas deste castillo han de ser guiadas por encantamento. Sancho fue a do estaba la bacía y la trujo; y así como don Quijote la vio, la tomó en las manos y dijo: - Miren vuestras mercedes con qué cara podía decir este escudero que ésta es bacía, y no el yelmo que yo he dicho; y juro por la orden de caballería que profeso que este yelmo fue el mismo que yo le quité, sin haber añadido en él ni quitado cosa alguna. <?page no="69"?> 70 Christoph Strosetzki - En eso no hay duda -dijo a esta sazón Sancho-, porque desde que mi señor le ganó hasta agora no ha hecho con él más de una batalla, cuando libró a los sin ventura encadenados; y si no fuera por este baciyelmo, no lo pasara entonces muy bien, porque hubo asaz de pedradas en aquel trance. C apítulo XlV. Donde se acaba de averiguar la duda del yelmo de Mambrino y de la albarda, y otras aventuras sucedidas, con toda verdad - ¿Qué les parece a vuestras mercedes, señores -dijo el barbero-, de lo que afirman estos gentileshombres, pues aún porfían que ésta no es bacía, sino yelmo? - Y quien lo contrario dijere -dijo don Quijote-, le haré yo conocer que miente, si fuere caballero, y si escudero, que remiente mil veces. Nuestro barbero, que a todo estaba presente, como tenía tan bien conocido el humor de don Quijote, quiso esforzar su desatino y llevar adelante la burla para que todos riesen, y dijo, hablando con el otro barbero: - Señor barbero, o quien sois, sabed que yo también soy de vuestro oficio, y tengo más ha de veinte años carta de examen y conozco muy bien de todos los instrumentos de la barbería, sin que le falte uno; y ni más ni menos fui un tiempo en mi mocedad soldado, y sé también qué es yelmo, y qué es morrión, y celada de encaje, y otras cosas tocantes a la milicia, digo, a los géneros de armas de los soldados; y digo, salvo mejor parecer, remitiéndome siempre al mejor entendimiento, que esta pieza que está aquí delante y que este buen señor tiene en las manos, no sólo no es bacía de barbero, pero está tan lejos de serlo como está lejos lo blanco de lo negro y la verdad de la mentira; también digo que éste, aunque es yelmo, no es yelmo entero. - No, por cierto -dijo don Quijote-, porque le falta la mitad, que es la babera. - Así es -dijo el cura, que ya había entendido la intención de su amigo el barbero. Y lo mismo confirmó Cardenio, don Fernando y sus camaradas; y aun el oidor, si no estuviera tan pensativo con el negocio de don Luis, ayudara, por su parte, a la burla; pero las veras de lo que pensaba le tenían tan suspenso, que poco o nada atendía a aquellos donaires. - ¡Válame Dios! -dijo a esta sazón el barbero burlado-; ¿que es posible que tanta gente honrada diga que ésta no es bacía, sino yelmo? Cosa parece ésta que puede poner en admiración a toda una Universidad, por discreta que sea. Basta: si es que esta bacía es yelmo, también debe de ser esta albarda jaez de caballo, como este señor ha dicho. - A mí albarda me parece -dijo don Quijote-, pero ya he dicho que en eso no me entremeto. - De que sea albarda o jaez -dijo el cura- no está en más de decirlo el señor don Quijote; que en estas cosas de la caballería todos estos señores y yo le damos la ventaja. - Por Dios, señores míos -dijo don Quijote-, que son tantas y tan estrañas las cosas que en este castillo, en dos veces que en él he alojado, me han sucedido, que no me atreva a decir afirmativamente ninguna cosa de lo que acerca de lo que en él se contiene se preguntare, porque imagino que cuanto en él se trata va por vía de encantamento. […] <?page no="70"?> Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 71 - No hay duda -respondió a esto don Fernando-, sino que el señor don Quijote ha dicho muy bien hoy que a nosotros toca la difinición deste caso; y porque vaya con más fundamento, yo tomaré en secreto los votos destos señores, y de lo que resultare daré entera y clara noticia. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 44/ 45 1 Die Diskussionen um den Helm des Mambrin in Kapitel 44 und 45 des ersten Teils des Don Quijote sind unterschiedlich interpretiert worden. Einerseits wird auf den „perspectivismo cervantino“ und den „mundo al revés“ 2 hingewiesen, der dadurch entsteht, dass sich bereits hier wie im zweiten Teil des Werkes die Umstehenden die Sicht Don Quijotes zu eigen machen. Andererseits wird auf Ähnlichkeiten mit dem entremés , insbesondere mit Cervantes’ El retablo de las maravillas , hingewiesen. 3 Da jedoch seit dem 16. Jahrhundert das Gericht als Instrument des Absolutismus zunehmend an Bedeutung gewann, 4 scheint es uns naheliegend, dass hier eine Art Gerichtsverhandlung stattfindet, bei der auch auf Gerichtsrhetorik zurückgegriffen werden konnte, die Cervantes zugänglich war. 5 1 Ed. Francisco Rico, Madrid: Real Academia Española 2015, vol. I, pp. 568-572. Diese Ausgabe wird auch bei den folgenden Zitaten aus dem Don Quijote benutzt. 2 Jacques Joset, „Lecturas del Quijote . Capítulos 44, 45“, in: Don Quijote de la Mancha , ed. Francisco Rico, volumen complementario, Madrid: Real Academia Española 2015, pp. 135-138, hier pp. 135, 137. 3 Cf. Verónica Azcue Castillón „La disputa del baciyelmo y ‚El retablo de las maravillas‘: sobre el carácter dramático de los capítulos 44 y 45 de la primera parte de Don Quijote “, in: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 22/ 1 (2002), pp. 71-81. 4 Cf. Pedro Luis Lorenzo Cadarso, „Los tribunales castellanos de los siglos XVI y XVII: Un acercamiento diplomático“, in: Revista General de Información y Documentación 8/ 1 (1998), pp. 141-169, hier p. 143: „la justicia institucionalizada es […] un colchón frente a la radicalización de las discordias sociales, puesto que conduce los enfrentamientos hacia los cauces de la legalidad y el consenso y condiciona, en apariencia al menos, el ejercicio arbitrario de la autoridad.“ 5 Cf. Cipriano Suárez S. J., Cipriano. De arte rhetorica libri III , Coimbra c. 1560 (mit Ausführungen zu den loci argumentorum ); Benito Arias Montano, Rhetoricum libri IV , Amberes 1569 (im zweiten Teil befinden sich die loci argumentorum ); Rhetoriken in spanischer Sprache: Fray Miguel de Salinas, Retórica en lengua castellana , Alcalá 1541; Juan de Guzmán, Primera parte de la retórica , Alcalá 1586; Texte mit Anteilen zur Rhetorik: Antonio de Nebrija, Grammática sobre la lengua castellana , Salamanca 1492; Alfonso de la Torre, Vision delectable de la philosophia et artes liberales , Sevilla 1538; Pedro de Guevara, Escala del entendimiento: en la qual se declaran las tres Artes de Gramatica, Dialectica, Retorica , Madrid 1593; lateinische Rhetoriken: Fadrique Furio Ceriol, Institutuionum Rhetoricarum Libri III , Lovaina 1554; Antonio de Nebrija, Artis rhetoricae compendiosa coaptatio , Alcalá 1515; Luis Vives, De ratione dicendi , Brujas 1532; Alfonso García Matamoros, De ratione dicendi , Alcalá 1548; Id., De methodo concionandi , Alcalá 1570; Antonio Lulio, De <?page no="71"?> 72 Christoph Strosetzki Gleich zu Beginn stehen Anklage und Verteidigung, wenn der die Schenke betretende Barbier, König und Gerechtigkeit um Beistand bittend, Don Quijote als „ladrón“ und „salteador de caminos“ bezeichnet, während Sancho zur Verteidigung vorbringt, „que en buena guerra ganó mi señor don Quijote estos despojos“ (p. 568). Die Argumentation beider Seiten beginnt also mit der Anspielung auf die Vorgeschichte ( ante acta dicta 6 ) und der Berufung auf die conditio , die soziale Stellung, aus dem Argument a persona . Der Leser, der von nun an die Position des Richters einnimmt, weiß, dass die Beutenahme in einem gerechten Krieg legitim ist, dass es aber im vorliegenden Fall, da der Barbier kampflos geflohen war, keinen gerechten Zweikampf zwischen Don Quijote und dem Barbier gab. Don Quijote hatte sich einen solchen im Interesse seiner Argumentation a fictione ausgedacht. Der Tatbestand, ob Raub oder legitime Inbesitznahme, hängt von der Definition des Gegenstandes ab: Ist es ein Bartbecken, dann wird er kaum in einem gerechten Kampf erbeutet sein und Don Quijote ist schuldig. Ist es der Helm des Mambrin, dann ist es wahrscheinlich, dass er in einem gerechten Kampf erbeutet wurde und Don Quijote ist unschuldig. In beiden Fällen ist der Glaubhaftigkeitsgrad nicht zwingend, aber doch gemäß dem Argument a facultate sehr gut möglich. 7 Unklarheit herrscht also in der Frage, ob etwas ist, was es ist und von welcher Art es ist, also im Bereich der loci a finitione . 8 Daher bringt der Barbier den ihm wohl bekannten und aus seiner Sicht ebenfalls gestohlenen Eselsattel ins Spiel, um im Sinne des Arguments a comparatione zu zeigen, dass das, was für den Sattel gilt, erst recht für die Bartschüssel zu gelten hat. Zum Beweis schlägt er vor, man könne den Saumsattel seinem Esel anlegen und sehen, wie genau er ihm passt. Hier soll der Beweis gewonnen werden aus dem, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist. 9 Don Quijote aber bringt Sanchos Beweisführung Oratione libri VII , Basilea 1558; Juan Lorenzo Palmireno, Prima pars rhetoricae , Valencia 1564; Andrés Sempere, Methodus Oratoria , Valencia 1568; Pedro Núñez, Institutiones Rhetoricae , Barcelona 1578; Martín de Segura, Rhetorica Institutio , Alcalá 1589; Bartolomé Bravo S. J., De arte oratoria , Medina del Campo 1596. Cf. auch: Henry Campos Vargas, „La(s) retórica(s) en el Renacimiento“, in: Revista de Lenguas Modernas 10 (2009), pp. 215- 223; Jorge Fernández López, „,Hablar por Cicerón‘: retórica española vs. retórica latina en el siglo XVI“, in: Actas del V Congreso Internacional Siglo de Oro (AISO) , Münster 20-24 de julio de 1999, ed. Christoph Strosetzki, Frankfurt am Main/ Madrid: Iberoamericana/ Vervuert 2001, pp. 514-522. 6 Hier und im Folgenden stammen die rhetorischen Begriffe aus: Gert Ueding, Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik , Stuttgart, Weimar: Metzler, 4 2005, pp. 238-277. 7 Cf. Quintilian, Institutio oratoria , ed. H. E. Butler, vol. II, London: Harvard University Press 1953, p. 194sq. (Quint. V, 8, 7). 8 Cf. ibid., p. 228sq. (Quint. V, 10, 54). 9 Cf. ibid., p. 208sq. (Quint. V, 10, 12). <?page no="72"?> Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 73 durcheinander, indem er mit Rückgriff auf das Argument a modo versichert, er habe Sancho, nachdem er den Helm „en buena guerra“ und „con ligítima y lícita posesión“ (p. 569) an sich genommen hat, erlaubt, seinerseits den Pferdesattel zu nehmen, der sich wohl durch Eingriff eines Zauberers in einen Eselsattel verwandelt habe. Wenn nun beim Sattel eine Verwandlung vorliegt, taugt er nicht mehr für das Argument a comparatione zugunsten des Helms, was Sancho sieht, wenn er bemerkt: „Si no tenemos otra prueba de nuestra intención que la que vuestra merced dice, tan bacía es el yelmo de Mambrino como el jaez deste buen hombre alabarda! “ (p. 569) Angesichts des von Sancho herbeigeholten Helms bekräftigt Don Quijote mit einem Schwur, dass dieser identisch mit dem sei, den er seinerzeit weggenommen und er daran nichts verändert habe. Diesen Schwur spricht er aus „por la orden de caballería que profeso“ (p. 569), also unter Bezug auf die studia , die ihn als Sachverständigen ausweisen. Indem Sancho durch den Gebrauch des Wortes „baciyelmo“ Unsicherheit signalisiert, bekräftigt er den Nutzen des Helms, hat er doch Don Quijote vor den Steinwürfen der befreiten Galeerensträflinge geschützt. Mit dem Hinweis auf die Gefangenenbefreiung deutet er nicht nur den weiteren Gang der Geschehnisse proleptisch an, sondern definiert auch a finitione den Helm von seiner Funktion her und widerlegt zugleich die Vergleichbarkeit von unverändertem Helm und verzaubertem Reitzeug und damit das Argument a comparatione . Im Kapitel 45 beginnt die Befragung der Zeugen und Sachverständigen, gehören doch Zeugenaussagen zu den natürlichen Beweisen, den probationes inartificiales . Diese beeinflusst Don Quijote gleich mit einem Einschüchterungsversuch: Ritter will er handgreiflich, Nicht-Ritter verbal belangen. Doch nicht deshalb, sondern zum Spaß stellen sich Meister Nikolas, der Pfarrer, Cardenio, Don Fernando und seine Kameraden auf die Seite Don Quijotes. Sie kennen seine Neigungen ( quis affectet quisque ), seine Wesensart ( animi natura ) und Vorgeschichte ( ante acta dicta ), weshalb sie ihre Parteinahme nicht als Lüge, sondern als unterhaltsamen Scherz betrachten. Damit gerät auch der Leser in eine Doppelrolle. Als Richter hat er die vorgebrachten Aussagen zu beurteilen. Als Prozessbeobachter verfügt er wie die Erzählinstanz 10 und die Parteigänger Don Quijotes über das Kontext- und Hintergrundwissen, das ihm die komische Seite der Situation erschließt. Meister Nikolas spielt mit Hinweis auf seinen Meisterbrief und mehr als zwanzig Jahre Tätigkeit als Barbier und auf seine Erfahrungen als Soldat den Sachverständigen, für den zurückgreifend auf ein neues Argument a comparatio- 10 Cf. Wolfgang Matzat, „Die Welt des Don Quijote : Wirklichkeitskonstruktion und romanhistorischer Ort“, in: Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“. Explizite und implizite Diskurse im „Don Quijote“ , ed. Christoph Strosetzki, Berlin: Erich Schmidt 2005, pp. 177-194, hier p. 179. <?page no="73"?> 74 Christoph Strosetzki ne der Helm so weit entfernt ist von einem Barbierbecken wie die Farbe Weiß von der Farbe Schwarz und die Wahrheit von der Lüge, woran auch die Tatsache nichts ändere, dass ihm die Hälfte, nämlich „la babera“ (p. 571), fehle. Für den bestohlenen Barbier ist die Aussage der Parteigänger des Don Quijote, „que tanta gente honrada diga que ésta no es bacía, sino yelmo“ (p. 571), ein gewichtiges Argument a conditio , das seiner Meinung nach jede Universität beeindrucken würde. Dennoch versucht er es noch einmal mit einem Argument a comparatione, wenn er die Gleichung aufstellt: „si es que esta bacía es yelmo, también debe de ser esta albrada jaez de caballo“ (p. 571). Auch nachdem der Pfarrer Don Quijote für den sachverständigsten „en estas cosas de la caballería“ (p. 572) hält, will Don Quijote sich nicht festlegen, da er als Ritter schicksalhaft ( a fortuna ) Opfer der an diesem Ort, dem Wirtshaus bzw. dem Schloss, üblichen, bereits berichteten Verzauberungen ( ante acta dictum ) ist. Daher seien die anderen Anwesenden kompetenter als er. Denn „[q]uizá por no ser armados caballeros, como yo lo soy, no tendrán que ver con vuestras mercedes los encantamentos deste lugar, y tendrán los entendimientos libres, y podrán juzgar de las cosas deste castillo como ellas son real y verdaderamente“ (p. 572). Da im vorliegenden Fall nun diejenigen, die nicht Ritter sind, als die wahren Sachverständigen in ritterlichen Angelegenheiten, erscheinen, kann Don Fernando vorschlagen, unter ihnen eine geheime Abstimmung durchzuführen, deren einstimmiges Ergebnis er verkündet: „El caso es, buen hombre, que ya yo estoy cansado de tomar tantos pareceres, porque veo que a ninguno pregunto lo que deseo saber que no me diga que es disparate el decir que ésta sea albarda de jumento, sino jaez de caballo, y aun de caballo castizo; y así, habréis de tener paciencia, porque, a vuestro pesar y al de vuestro asno, éste es jaez y no albarda, y vos habéis alegado y probado muy mal de vuestra parte.“ (p. 573) Damit sieht sich Don Quijote im Recht, hält die Angelegenheit für erledigt und kommt zum Schluss, jeder möge sich also nehmen, was ihm zusteht. Dass dies ein Trugschluss ist, wird gleich danach deutlich, wenn einer der Diener des Don Luis den a conditio „hombres de tan buen entendimiento“ (p. 574) die Evidenz dessen, was er selbst mit den Sinnen wahrnimmt (Quint, V, 10, 12), nämlich Barbierbecken und Eselsattel, entgegenhält. Als noch ein weiterer neu Hinzugekommener die Sicht des Dieners bekräftigt und mit einem Argument a persona denjenigen, der davon Abweichendes behaupte, als Trunkenbold beschimpft, geht Don Quijote beleidigt zum Gegenangriff über: „Mentís como bellaco villano.“ (p. 574) Es kommt zur Schlägerei. Plötzlich sieht sich Don Quijote in das Lager des Agramante versetzt. Mit mächtiger Stimme ruft er alle Beteiligten auf, die Waffen ruhen zu lassen, da ein Zauberer die Zwietracht aus dem Lager des Agramante an den Ort des Geschehens gebracht habe und man deshalb um ein Pferd, einen Helm oder einen Adler kämpfe. Nun bittet Don Quijote den Ober- <?page no="74"?> Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 75 richter und den Pfarrer, die Rollen des Königs Agramante und König Sobrino einzunehmen und Frieden zu stiften. Denn es sei doch eine Schande, „que tanta gente principal como aquí estamos se mate por causas tan livianas“ (p. 576). Es ist also der Angeklagte, Don Quijote, der die friedliche gerichtliche Auseinandersetzung beendet, indem er eine Schlägerei anzettelt, und der wiederum diese Schlägerei durch ein Machtwort zu Ende bringt, indem er mit Erfolg auf die Hilfe des Pfarrers und des Oberrichters zurückgreift. Letzterer, der zuvor unaufmerksam mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt war, kann nun seine Autorität zur Geltung bringen und die Gemüter beschwichtigen. Einen klaren Richterspruch kann allerdings weder er noch der Leser fällen. Es bleibt auch gar nicht die Zeit dafür. Denn schon hat einer der in die Schlägerei verwickelten Schergen sich an einen Steckbrief der heiligen Brüderschaft erinnert, in dem befohlen wird, Don Quijote wegen der Befreiung der Galeerensklaven festzunehmen. Hier also beginnt eine neue Kontroverse, diesmal nicht als spaßiges Gesellschaftsspiel, sondern als ernste Bedrohung von Seiten des Staates. Nunmehr ist Don Quijote nicht der Angeklagte zu Beginn einer Gerichtsverhandlung, sondern der bereits Verurteilte, der steckbrieflich gesucht wird und seiner Bestrafung zugeführt werden soll. War der Fall des Raubes des Helms noch offen, ist der Prozess um die Gefangenenbefreiung abgeschlossen. Der Scherge findet den Steckbrief in seinen Papieren und identifiziert Don Quijote eindeutig als den Täter. Erneut als „robador y salteador de sendas y de carreras“ (p. 578) beschuldigt, repliziert Don Quijote unter Verweis auf seine conditio , seine natura animi und seine studia , indem er seine Ankläger für inkompetent erklärt: „¿saltear de caminos llamáis al dar libertad a los encadenados, soltar los presos, acorrer a los miserables, alzar los caídos, remediar los menesterosos? […] ¿quién fue el ignorante que firmó mandamiento de prisión contra un tal caballero como yo soy? ¿Quién el que ignoró que son esentos de todo judicial fuero los caballeros andantes, y que su ley es su espada; sus fueros, sus bríos; sus premáticas, su voluntad? ¿Quién fue el mentecato, vuelvo a decir, que no sabe que no hay secutoria de hidalgo con tantas preeminencias, ni esenciones, como la que adquiere un caballero andante el día que se arma caballero y se entrega al duro ejercicio de la caballería? ¿Qué caballero andante pagó pecho, alcabala, chapín de la reina, moneda forera, portazgo ni barca? ¿Qué sastre le llevó hechura de vestido que le hiciese? “ (p. 579) Man hat den Eindruck nicht nur des Einbruchs der Realität, sondern auch einer mise en abyme , einer Spiegelung zugleich der Kontroverse um den Helm des Mambrin und der Makrostruktur des Romans. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn Don Quijote sich verteidigt, als wäre er noch nicht verurteilt, und wenn er das neue Verbrechen, dessen er angeklagt wird, in eine Reihe mit anderen stellt, deren er schuldig, aber nicht beschuldigt ist. Zu seiner Verteidigung führt er einerseits als Ar- <?page no="75"?> 76 Christoph Strosetzki gument a loco den Ort an, in dem er schicksalhaft ( a fortuna ) vom Zauberer verfolgt wird, und andererseits seine Stellung als Ritter ( conditio ) und die damit verbundene Wesensart ( animi natura ), die ihm einen höheren Rechtsstatus verleihen, der ihn immun macht gegenüber staatlicher Strafverfolgung. 11 Der Leser als Richter und Prozessbeobachter wird diese Geschichte vom Steckbrief und der strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit dem Prozess um den Helm des Mambrin sehen und auch hier wieder im Sinne der Argumentation a comparatione Kleineres aus Größerem und Größeres aus Kleinerem ableiten. Doch wie schon im ersten Fall erweisen sich auch hier die Bemühungen der Justiz als folgenlos. Während im Fall des Helms die Schuldfrage offenbleibt, wird im Fall der rechtskräftigen Verurteilung wegen Gefangenenbefreiung die Bestrafung ausgesetzt, da der Pfarrer Don Quijote für wahnsinnig hält und vorbringt, er würde ohnehin vor Gericht als unzurechnungsfähig erklärt und wieder freigelassen werden. Auch wenn einer der Schergen einwendet, dies zu entscheiden sei nicht seine Sache, er habe Don Quijote nur festzunehmen, lassen sie sich doch besänftigen und sehen von einer Festnahme ab. Für Don Quijote bleibt der Eselsattel ein Pferdesattel, das Barbierbecken ein Helm und das Wirtshaus ein Schloss. Mit dem bestohlenen Barbier kommt es zu einer außergerichtlichen Einigung: Der Pfarrer übergibt ihm ohne Don Quijotes Wissen acht Realen, woraufhin er den Empfang und den Verzicht auf weitere Ansprüche quittiert. Mit einem außergerichtlichen Vergleich endet auch die Auseinandersetzung zwischen dem bestohlenen Barbier und Sancho: Nur die Saumsättel, nicht die Gurte und das sonstige Zubehör sollten den Besitzer wechseln. So jedenfalls hatten es die Schergen verfügt. „Finalmente, ellos, como miembros de justicia, mediaron la causa y fueron árbitros delle, de tal modo que ambas partes quedaron, si no del todo contentas, a lo menos en algo satisfechas.“ (p. 580) Nicht der Oberrichter oder der Pfarrer beenden also den Rechtsstreit mit einem klugen Urteil, sondern Schergen, die sich zwar als Teile des Rechtswesens verstehen, aber den armas näher stehen als den letras , womit die Autorität gerichtlicher Verhandlungen relativiert wird. Mehrfach passiert es, dass friedlich rationale Argumentation plötzlich in irrationale Handgreiflichkeit umschlägt. Karnevalesk unterlaufen wird der Rechtsstreit dadurch, dass er nicht als Ort der Wahrheitsfindung, sondern als ein Ort erscheint, an dem Verdunkelungsgefahr durch Zauberei und Parallelisierungen mit Unvergleichbarem besteht, zumal die Identität des geraubten bzw. legitim in Besitz genommenen fremden Eigentums umstritten ist und offenbleibt, ob die Argumentation a comparatione mit dem 11 Cf. Christoph Strosetzki, „La legitimidad de don Quijote“, in: Criticón 124: Homenaje a Dominique Reyre (2015), pp. 113-124. <?page no="76"?> Helm des Mambrin oder Barbierbecken? 77 Reitzeug weiterführt. Dies ist dem Leser von Anfang an klar, da er mit seinen Hintergrundkenntnissen weiß, dass der bestohlene Barbier im Recht und Don Quijote im Unrecht ist. Würde er sich aber in die Rolle eines Richters versetzen, der aus der Situation heraus zu entscheiden hätte, dann sähe er sich durch Zeugenaussagen, Sachverstand, Argumente a fictione, a facultate, a finitione, a comparatione, a animi natura, a fortuna, a conditione etc. so verwirrt, dass er außerstande wäre, das Evidente anzuerkennen. Damit wird im Rahmen eines Versuchs der Wahrheitsfindung angesichts zum Spaß vorgetragener unwahrer Äußerungen karnevalistisch vorgeführt, dass sich vor Gericht nicht die Wahrheit durchsetzt, sondern die jeweils stärkere Partei. Gerichtsverfahren, die mit der Findung der Wahrheit und mit einer wirkungsvollen Verurteilung des Schuldigen enden sollten, erscheinen gleich zweifach folgenlos und damit in ihrer Bedeutung parodistisch relativiert: Im Falle des Raubes des Barbierbeckens erzielt nicht der Oberrichter, sondern der Pfarrer eine außergerichtliche Einigung durch Zahlung von acht Realen. Und im Fall der Gefangenenbefreiung geht die gerichtliche Verurteilung ins Leere, da von den ausführenden Organen Unzurechnungsfähigkeit als Argument für Straffreiheit außergerichtlich akzeptiert wird. <?page no="78"?> ‘Good vapours! ’ 79 ‘Good vapours! ’ Ben Jonson and the whirlpool game Andreas Mahler [T7] knoCkem Why, well said, old flea-bitten, thou’lt never tire I see. They fall to their vapours again [T8] Cutting No, sir, but he may tire, if it please him. [T9] wHit Who told dee sho? that he vuld never teer, man? [T10] Cutting No matter who told him so, so long as he knows. [T11] knoCkem Nay, I know nothing, sir, pardon me there. [ Enter ] edgwortH , quarlous [T12] edgwortH They are at it still, sir, this they call vapours. [T13] wHit He shall not pardon dee, captain, dou shalt not be pardoned. Pre’de shweetheart, do not pardon him. [T14] Cutting ’Slight, I’ll pardon him, an I list, whosoever says nay to’t. [T15] quarlous Where’s Numps? I miss him. [T16] wasp Why, I say nay to’t. [T17] quarlous O there he is! [T18] knoCkem To what do you say nay, sir? Here they continue their game of vapours, which is nonsense: every man to oppose the last man that spoke, whether it concerneth him, or no. [T19] wasp To anything, whatsoever it is, so long as I do not like it. [T20] wHit Pardon me, little man, dou musht like it a little. [T21] Cutting No, he must not like it at all, sir; there you are i’ the wrong. [T22] wHit I tink I be; he musht not like it, indeed. [T23] Cutting Nay, then he both must and will like it, sir, for all you. [T24] knoCkem If he have reason, he may like it. [T25] wHit By no meansh, captain, upon reason, he may like nothing upon reason. <?page no="79"?> 80 Andreas Mahler [T26] wasp I have no reason, nor will I hear of no reason, nor will I look for no reason, and he is an ass that either knows any, or looks for’t for me. [T27] Cutting Yes, in some sense you may have reason, sir. [T28] wasp Ay, in some sense, I care not if I grant you. [T29] wHit Pardon me, thou oughsht to grant him nothing, in no shensh, if dou do love dyself, angry man. [T30] wasp Why then, I do grant him nothing; and I have no sense. [T31] Cutting ’Tis true, thou hast no sense indeed. [T32] wasp ’Slid, but I have sense, now I think on’t better, and I will grant him anything, do you see? [T33] knoCkem He is i’ the right, and does utter a sufficient vapour. [T34] Cutting Nay, it is no sufficient vapour, neither, I deny that. [T35] knoCkem Then it is a sweet vapour. [T36] Cutting It may be a sweet vapour. [T37] wasp Nay, it is no sweet vapour neither, sir; it stinks, and I’ll stand to’t. [T38] wHit Yes, I tink it doesh shtink, captain. All vapour does shtink. [T39] wasp Nay, then it does not stink, sir, and it shall not stink. [T40] Cutting By your leave, it may, sir. [T41] wasp Ay, by my leave, it may stink; I know that. Ben Jonson, Bartholmew Fair (1614), IV.4 1 In act IV, scene 4, of Ben Jonson’s city comedy of Bartholmew Fair , first acted by the Lady Elizabeth’s Servants at the Hope Theatre in London on October 31, 1614, the audience witness what can be called a ‘suspension’ in the usual 1 Ed. G.R. Hibbard, London: Ernest Benn 1977, IV.4.14-55; for the sake of a ‘conversational’ analysis of the given passage I have added a count of its different ‘turns’ in square brackets (beginning with the scene’s seventh turn). The edition quoted is the only one to feature in the play’s title the carnivalesque name of ‘Bartholmew’ (pronounced Bartlemy) instead of the official name of ‘Bartholomew’, which appears only once in a reading of the title character’s official marriage licence with ‘Mistress Grace Wellborn’ (I.1, 3); for a linguistic account of ‘turn-taking’ as an organizational principle in the analysis of dialogues see Stephen C. Levinson, Pragmatics , Cambridge: Cambridge University Press 1983, pp. 284-370. In what follows, I partly draw on what I have developed in my “Komödie, Karneval, Gedächtnis: Zur frühneuzeitlichen Aufhebung des Karnevalesken in Ben Jonsons Bartholmew Fair ”, in: Poetica 25 (1993), pp. 81-128, sp. 117sq. I wish to thank Diane Gallagher from my seminar on “Poetics of the Carnivalesque” (held at Freie Universität Berlin in the winter semester of 2013/ 14) for liberally sharing with me quite a number of lucid insights on the mechanics and semiotics of the game of vapours. <?page no="80"?> ‘Good vapours! ’ 81 progression of the play’s dramatic action. When the scene starts, a game has already begun. The scene’s opening line has one of the characters “bid” another one “ continue the vapours” (l. 1 [T1], my italics), and the notoriously explicit Jonsonian stage directions keep insisting on the fact that the characters ‘ fall to their vapours again’ [after T7] or ‘continue their game of vapours ’ [after T18], with another character explaining, ‘They are at it still , sir, this they call vapours.’ [T12] The game at stake seems to follow a simple linguistic rule, ‘ every man to oppose the last man that spoke, whether it concerneth him, or no ’ (a lot among us will know this as commission work); and as the ‘ game of vapours’ that it is, it basically seems to be nothing but a celebration of hot air, which, as the stage direction programmatically points out, ‘ is nonsense ’ [after T18]. The quoted passage begins with the moment when the characters resume the game, and the game itself takes us more than one hundred lines into the scene until one of the characters, after a communal fight carnivalistically celebrating above all the actors’ bodies, at last ends it after eighty-one turns with the overall praise: “Gather up, Whit, gather up, Whit. Good vapours! [ Exeunt knoCkem and wHit with the cloaks ]” (l. 124 [T88]). The scene divides the characters into three groups: (1) Knockem, a “ horse-courser, and ranger o’ Turnbull ” (i.e. a pimp in one of the notorious streets in town), Northern, a “ clothier ”, Puppy, a “ wrestler ”, Cutting, a “ roarer ” (or noisy bully), and Whit, a “ bawd ” (or pimp again), as the, as it were, ‘heteroglossic’ representatives of the fair, largely and freely engaging in the game for the game’s sake; 2 (2) Edgworth, a “ cutpurse ”, and his accomplice Quarlous, a “ gamester ”, as the ones instrumentalizing the game (as well as group 1) for their own individual, and materialist (or even protocapitalist), purposes (such as, e.g. “for a lift”; l. 1 [T1]); and (3) the Jonsonian humour-character (with the speaking name) Wasp, the eponymous Bartlemy’s tutor and choler-bound ‘angry man’, along with Mistress Overdo, the fair’s Justice of Peace’s wife, as the figures of authority, representing normativity, official behaviour, and the seriousness of early modern city life. 3 ‘Disinterested play’, ‘interested play’, and ‘no play’ at all are consequently the three aspects under which the game unfolds. 2 With Northern’s Scottish accent, Whit’s yokelish West Country English and the remaining characters’ Cockney, the scene stages right from the start the kind of plural and polyphonous ‘image of languages’ or ‘heteroglossia’ discussed as the typical ‘language of the marketplace’ in Mikhail Bakhtin, Rabelais and His World , tr. Hélène Iswolsky, Bloomington: Indiana University Press 1984, sp. pp. 145-195. 3 For the (not uncontroversial) view of seeing medieval/ early modern life as in fact “ two lives ”, one the serious “ official life”, the other the ambivalent “ life of the carnival square ”, see Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s Poetics , ed./ tr. Caryl Emerson, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984, p. 129 (all italics his; one should note that Bakhtin expressly formulates all this “with certain reservations”). <?page no="81"?> 82 Andreas Mahler The author makes it begin with a barely noticeable pun. 4 As early as from the start, Northern, the clothier, wants to give up for having had too much drink, but the others do not want to let him out. Puppy provokes him by asking whether his lack of endurance is due to the fact that “his northern cloth shrink i’ the wetting” (l. 13 [T6]), a common complaint about the bad quality of cloth from the North, which Knockem immediately comments upon as a good move, implying that Puppy, like a ‘flea-bitten’ horse, will ‘never tire’ [T7], i.e. always ‘continue’. In the logic of the game, this is countered by Cutting saying that indeed he ‘may tire’ [T8], thus, in accordance with the game’s rules, negating the ‘never tire’ of the previous utterance. If this still refers to Puppy, it can be understood as a concession that even the most indefatigable of tricksters may be allowed to take a rest; if, however, as the ‘clothes’ isotopy implies, it refers back to Northern, it may also mean that the clothier may ‘tire’ (‘attire’) whomever he likes, thus producing a pun-like double meaning between ‘tire’ as ‘to be just about to fall asleep’ and ‘tire’ (or ‘’tire’) as ‘to clothe someone’. Bernhard Teuber, in his seminal book on the workings of the carnivalesque in early modern Romance literature, has illustrated the mechanism of this kind of wordplay in a stunningly simple diagram (fig. 1): Fig. 1: Wordplay as double-bind 5 4 For the idea that (instead of the word) “[i]n the beginning was the pun”, see Samuel Beckett, Murphy , New York: Grove Press 1957, p. 40. For a structural application of this to German (additionally addressing the famous Beckettian ‘god’/ ‘dog’ pun) see the first three lines in Ernst Jandl’s poem “fortschreitende räude”, which follows the simple rule of adding to the well-known bible pre-text an ‘h’ to each vowel beginning of a word (which, incidentally, would in turn be a difficult task for the play’s speakers of Cockney): “Ham hanfang war das wort hund das wort war bei / gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch / geworden hund hat hunter huns gewohnt” (Ernst Jandl, Der künstliche Baum , Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand 1970, p. 109); for a highly inspiring reading of this poem see Jürgen Peper, Ästhetisierung als Zweite Aufklärung: Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie , Bielefeld: Aisthesis, 2 2012, pp. 19-24. 5 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum: Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 92 (for a concise summary of the book’s argument in English see p. 313); for a panic-stricken pre-publication warning against the book from a strictly irrational positivist point of view (along with a curious but thoroughgoing ‘germanization’ of Bakhtin’s first name), see Dietz-Rüdiger Moser, “Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie”, in: <?page no="82"?> ‘Good vapours! ’ 83 The diagram illustrates an oscillatory movement or ‘tilt’; it shows a signifier (‘Signifiant’) splitting up between two signifieds (‘Signifié A’ and ‘Signifié B’) without, however, being able to determine which, in the situation of its use, is the correct one, so that both signifieds (‘tire A’ in the sense of ‘to be just about to fall asleep’ and ‘tire B’ in the sense of ‘to clothe someone’) can be said to be ‘true’, thus creating for the moment a linguistic ‘zone of indistinction’ 6 : if on the one hand it is true that, as the proverb has it, “a flea-bitten horse never tires” (see editor’s note p. 121), one cannot on the other hand exclude that it is also true that despite everything ‘he may tire’; and if the metaphorical horse is a clothier, ‘tire’ is, despite the condition he feels himself to be in at the moment, precisely what he must do, because that is his job. This is in a nutshell what the game of vapours is all about. It is about what has, rather cryptically, been called the ‘positivization of negativity’ 7 : a rhetorical or, rather, aesthetic device that functionally 8 keeps bringing back into the game the other side of the coin (as it were, the ‘B’-side), immediately reintegrating what has just been excluded, or (re-)including what seems to have once and for all been delegated to the wilderness of an inaccessible, because ‘uncivilized’ and meaningless (‘nonsensical’), outside. As such the game of vapours looks like a simple game of negation. Where Knockem asserts that someone like Puppy will ‘never tire’ [T7], Cutting negates this by asserting that Puppy (or, as for Euphorion 84 (1990), pp. 89-111, somewhat dysphorically enlarged (without taking note of the book’s publication in the meantime) into “Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael Bachtins Theorie einer ‘Lachkultur des Mittelalters’”, in: Sprachspiel und Lachkultur: Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte , edd. Angela Bader et al., Stuttgart: Heinz 1994, pp. 261-309. 6 This is a game of equivocation or equivalence; for its description as a ‘tilting game’ based on a ‘split signifier’ developing into a ‘floating’ one, see Wolfgang Iser, The Fictive and the Imaginary: Charting Literary Anthropology , tr. David Henry Wilson, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1993, pp. 247-280, sp. 255; for the idea of a suspensive ‘zone of indistinction’ as an inside/ outside space of an “ inclusive exclusion ” or “ exclusive inclusion ” see Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Life and Bare Life , tr. Daniel Heller-Roazen, Stanford: Stanford University Press 1998, pp. 19-29, the quotes p. 21 (Agamben’s italics). 7 See, with reference to what the philosopher Joachim Ritter has developed with regard to the comic, Rainer Warning, The Ambivalences of Medieval Religious Drama , tr. Steven Randall, Stanford: Stanford University Press 2001, sp. the ‘Conclusion’ on “‘Play’ as a Class of Functional Equivalents”, pp. 243-248. 8 For the fundamental insight that “[c]arnival is […] functional and not substantive. It absolutizes nothing, but rather proclaims the joyful relativity of everything”, see Bakhtin, Problems , p. 125. This is to say that what is at stake here is not the substitution of one ‘substantive’ truth against another but a ‘functional’ juxtaposition of two mutually exclusive truths syncretistically weighed against each other as equally possible ways of seeing things, which means that the wide-spread formula of seeing the carnivalesque as representing a ‘world turned upside-down’ is despite its attractive image infelicitously misleading if not downright wrong. <?page no="83"?> 84 Andreas Mahler that, Northern) after all ‘may’ [T8], with Whit in turn negating precisely that by asking for Cutting’s (or Knockem’s) authority for saying what they say [T9] and Cutting negating the legitimacy of Whit’s question [T10] - before Knockem negates knowing anything at all [T11], which brings the game to a first brief halt. What at first sight, however, looks like a simple semantic game played on the word level - of which the Punch-and-Judy-like metaleptic contention between the Puritan spoilsport Zeal-of-the-land Busy and one of the puppets in the playwithin-the-play in act V (“It is profane. / It is not profane. / It is profane. / It is not profane ”; V.5, 63-66) appears like a (self-)‘parodical doublet’ 9 -, very quickly turns out to be a rather complex pragmatic game acted out on the level of utterance with a plurality of options as to the reference and scope of the negation. Instead of opposing (and at the same time equivocally equating) a signified A and a signified B (or even merely a signified [+A] and its binary complement [-A] as in ‘profane’ vs. ‘not profane’), the game continuously (and in a way interminably) opposes two utterances A and B, which means that instead of short-circuiting the tilt into an identity-based repetition of the same, the game is opened up into an endless differential chain (or ‘series’) of yet another possible way of (negatively) relating a B back to an A. This is additionally speeded up by telescoping the turns into each other so that each negated ‘second’ simultaneously figures as a new affirmative ‘first’ (in other words, each B is already in itself an A again) 10 ; it is further complicated by the fact that Wasp, though he is not playing, due to his choleric disposition in a way ‘naturally’ keeps contradicting his previous speakers [T16; T19; T26 following], while Edgworth and Quarlous, as the interested outsiders that they are, keep commenting on what is going on so as to make sure that they eventually (and quite seriously) get what they want [T12; T15; T17] - which means that the adjacency pairs of the game of vapours are confusingly interspersed with utterances that, strictly speaking, do not belong to the game. This turns Wasp into the game’s unknowing object (or butt) and Edgworth and Quarlous into its knowing observers (and potential profiteers) - and us as audience into both. Accordingly, Whit can only counter Knockem’s ‘pardon me there’ [T11] in the next turn but one, since Edgworth, in an altogether different conversational ‘aside’, first explains to Quarlous (and to us) what the fair people are ‘at’ [T12], before Whit manages to say that he does ‘not pardon’ Knockem [T13], with Cutting in turn contradicting Whit by pardoning Knockem all the same, ‘whosoever says no to’t’ [T14]. 9 See Bakhtin, Rabelais , p. 14. 10 For the sequentialization of conversations in ‘adjacency pairs’ see Levinson, Pragmatics , pp. 303-318. <?page no="84"?> ‘Good vapours! ’ 85 This is what I have initially addressed as the moment of suspension; it is the beginning of what I would suggest to call Ben Jonson’s verbal ‘whirlpool game’. 11 With Quarlous, in another aside, looking for Bartlemy’s tutor by his carnivalistic name of ‘Numps’ [T15], and with the same Wasp yet again (but, as for him, seriously) negating Knockem’s pardon, ‘Why, I say nay to’t’ [T16], Wasp is both identified as the centre of the theatrical play’s dramatic action - Edgworth and Quarlous significantly wish to get hold of the marriage ‘licence’ from Wasp’s hands so as to free Grace from the obligation to get married to Bartlemy [T17] - and as the game of vapour’s main distractor, since none of the players proper knows how, or what, he is playing: ‘To what do you say nay, sir? ’ [T18] This confusion seems to liberate the words from their usual relations, with the signifiers (Teuber’s ‘Signifiant’) on the one hand multiplying into a well-nigh illimitable series of material representations (as in ‘tire’, ‘’tire’, ‘teer’), and the signifieds (his ‘Signifié’) on the other triggering an avalanche of centrifugal semantic effects (such as ‘fatigue’ or ‘clothing’). It is intensified by the fact that in the course of the game the signifiers are becoming referentially more and more vague and general (with ‘empty’ words like ‘it’, ‘anything’ or, as for that, ‘vapours’ taking over) while the signifieds are growing semantically more and more indeterminate and unbound (eventually triggering the puzzled player’s question ‘to what? ’). In Caillois’ terms, this turns the textual game, which is undoubtedly a game of ‘ agōn ’ (in that it opposes utterances) but also of ‘ mimicry ’ (in that each negation imitates its previous assertion) and of ‘ alea ’ (in that the reference and scope of the negation as well as the introduction of new positive play elements is utterly unpredictable), additionally into a game of ‘ ilinx ’ that uses signifier/ signified blocks in utterances, not in order to reach, as its result, a clear-cut and transparently communicable meaning, but in order to continuously (and processually) confuse the players’ (and the audience’s) minds. 12 Wasp aggressively answers the true question ‘To what do you say nay, 11 The whirlpool game is based on making a number of people in the shallow area of a pool walk in a circle in the same direction, starting slow but getting progressively faster, with the effect that “after 30 seconds, the coordinated movement of so many people will create a strong circular current in the water. Once you’ve created enough momentum, tell everyone to pick up their feet and float. You’ve created a whirlpool! ” (Dave Roos, “10 Classic Swimming Pool Games”; http: / / entertainment.howstuffworks.com/ backyard-fun-games/ 10-swimming-pool-games10.htm [Sept. 4, 2017]). This fun creation of a something out of nothing can be likened to popular aggressive dancing games such as ‘moshing’, ‘slamdancing’ (or their German variant ‘Pogo’); see William Tsitsos, “Rules of Rebellion: Slamdancing, Moshing, and the American Alternative Scene”, in: Popular Music 18 (1999), pp. 397-414. (I owe both references to Diane Gallagher.) 12 For an explication of textual games see Iser, Fictive , pp. 257-273; his (and my) reference for the different types of games is to Roger Caillois, Man, Play and Games , tr. Meyer Barash, Glencoe, IL: The Free Press 1958, pp. 14-23, for a summary cf. p. 44. For the idea <?page no="85"?> 86 Andreas Mahler sir? ’ [T18] with an equally true ‘To anything, whatsoever it is, so long as I do not like it’ [T19], which triggers a first ‘round’ of play around the (rather obvious) word ‘like’, illustrating again the game’s basic principle of a ‘positivization of negativity’ (‘not to like’ and ‘to like’) [T20-T25], and at the same time overlappingly initiating second, third and fourth rounds around the (less obvious but no less telling) words ‘reason’ [T25-T27], ‘sense’ [T27-T32] and, last but not least, ‘vapours’ [T33-T41], which finally leads to the undeniable ‘material’ carnivalistic truth that a ‘vapour’, not from the utterer’s mouth, but ‘by a person’s leave’ from the ‘lower bodily stratum’ (i.e. a fart) 13 , indeed ‘may stink’ [T41]. It is in these rounds - circling around the (ununderstanding yet, despite this, increasingly integrated) hub and butt Wasp - that the signifier quite literally begins to ‘float’. 14 In the confusing whirl of the ilinx game, the words are no longer used syntagmatically, in a linear chain of signifiers consecutively transforming material verso -elements into meaning-bearing recto -gratifications but are playfully (and freely) swirling about - up until the moment when their (individual) play potential seems exhausted and the game haphazardly picks on a new element freshly drawn into the verbal whirlpool action. 15 So, what is whirling around is first the word ‘like’ with a ‘musht’ [T20], a ‘must not’ [T21], a ‘musht not’ [T22], a ‘must’ [T23] and a ‘may’ [T24, T25], which is followed by a round on ‘reason‘ [T25], ‘no reason’ [T26] and ‘reason’ again, recombined with another ‘may’ [T27], only to give immediately way to a round on ‘sense’ [T27, T28], ‘no shensh’ [T29], ‘no sense’ [T30, T31], and a ‘sense’ [T32] again, crossed with a ‘grant’ [T28], a ‘grant nothing’ [T29, T30] and a ‘grant anything’ [T32], before the vapour appears first as ‘a sufficient vapour’ [T33], then as ‘no sufficient vapour’ [T34], then as ‘a sweet vapour’ [T35, T36] and as ‘no sweet vapour’ [T37], which, thinning out into an ‘it’ [T37-T41], eventually with a ‘may’ and a ‘leave’ of conceiving of the relation ‘play’ - ‘seriousness’ not as a simple opposition but as an asymmetrical one see my “Und/ Oder: Zur Asymmetrie der Ernst/ Spiel-Dichotomie (mit einem Blick auf Jean Tardieu)”, in: Spiel und Ernst: Formen - Poetiken - Zuschreibungen. Zum Gedenken an Erika Greber , edd. Dirk Kretzschmar et al., Würzburg: Ergon 2014, pp. 19-36. 13 See Bakhtin, Rabelais , pp. 368-436; for a perhaps more appropriate (or at least more telling) rendering of the concept as ‘ bas matériel ’, see Mikhaïl Bakhtine, L’Œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et sous la Renaissance , tr. Andrée Robel, Paris: Gallimard 1970, pp. 366-432. 14 See Iser, Fictive , p. 249. 15 For a (Saussure-based) description of (ordinary) language use as a cosine-like oscillatory verso recto game syntagmatically converting linguistic material into meaning as opposed to aesthetic language use paradigmatically increasing the frequency (as well as the amplitude) of the tilts whilst at the same time slowing down (and ideally reducing to nil) the syntagmatic progression, see my “Towards a Pragmasemiotics of Poetry”, in: Poetica 38 (2006), pp. 217-257, sp. pp. 231-234. <?page no="86"?> ‘Good vapours! ’ 87 [T40, T41], converts itself into a ‘shtink’/ ‘stink’ [T38, T39, T41]. On the level of dramatic action, this confuses the character of Wasp into making the most outrageous utterances about himself and his state of mind [T26, T32]; on the level of theatrical performance, additionally bearing in mind that early modern performances seem to have been much quicker in time, it serves to exhilarate the audience with confusing rounds of immense ‘nonsensical’ fun. This can be seen with Bakhtin “as if words had been released from the shackles of sense” or, as in its German translation, as if they had been sent on some licentious ‘holiday’ or, as Samuel Beckett has it with regard to Joyce’s Work in Progress , as if they had been liberated from the usual “rapid skimming and absorption of the scant cream of sense”. 16 It is connected with a significant loss of direction. Whirling around, this language use is no longer directed towards something that could be called ‘good sense’ or ‘common sense’ but wheels around itself in highspeed circles as some kind of originary and, as such, fundamental ‘nonsense’. 17 In this swirl, each signifier in the series of signifiers is literally ‘vaporized’ into a series of paradoxically contradictive signifieds blurring any directed act of signification into (seemingly permanent) indistinction: “Somehow”, as Alice says after listening to Humpty Dumpty’s very similar “Jabberwocky” poem, “it seems to fill my head with ideas - only I don’t know what they are! ” 18 This can be seen as a celebration, not of the workings of language and its everyday uses, but of language itself. In hollowing out both signifier and signi- 16 The words are used here, as the Bakhtin quote goes on to explain, “to enjoy a play period of complete freedom and establish unusual relationships among themselves” (Bakhtin, Rabelais , p. 423); for the German version, which introduces an appropriate reference to the semantics of the ‘licence’ (‘Urlaub’ - ‘erlauben’: “[d]ie Wörter haben Urlaub, sie sind vom Druck der Logik, des Sinns und der sprachlichen Normen befreit”), see Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur , ed. Renate Lachmann, tr. Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, p. 469; for the Beckett quote see his “Dante…Bruno.Vico..Joyce” (1929), in: S.B. et al., Our Exagmination Round His Factification For Incamination of Work in Progress , London: Faber & Faber 1961, p. 26; for the complaint about a (still largely) contemporary “tyranny of meaning”, see Roland Barthes, “The Grain of the Voice”, in: Image - Text - Music , ed./ tr. Stephen Heath, Glasgow: Fontana/ Collins 1977, pp. 179-189, p. 185. 17 For the notions of ‘good sense’ as being “the only direction” and ‘common sense’ as “the assignation of fixed identities” see Gilles Deleuze, The Logic of Sense , tr. Constantin V. Boundas, London: Continuum 2004, p. 5. Deleuze’s whole book, which is based on the French pun of (indecidably) splitting the Teuberian ‘Signifiant’ ‘ sens ’ into a ‘Signifié A’ (‘sense’) and a ‘Signifié B’ (‘direction’), hinges on the assumption that all (directed) sense logically depends on the enabling precondition of an (undirected) ‘non-sense’; see also Jean-Jacques Lecercle, Philosophy of Nonsense: The Intuitions of Victorian Nonsense Literature , London: Routledge 1994. 18 Lewis Carroll, The Annotated Alice , ed. Martin Gardner, Harmondsworth: Penguin 1976, p. 197. <?page no="87"?> 88 Andreas Mahler fied, the game of vapours, in an almost Beckettian way forever tilting between a position and its (emptying) negation, mingles and neutralizes ‘mind’ and ‘body’, ‘sense’ and ‘nonsense’, and produces, with a “belching of quarrel” [T49] and the loss/ gain of a “ licence ” [after T69] and a self-assertive “I may laugh” [T73], something that, if the term were not occupied already for some better purpose, it would perhaps be tempting to call a carnivalized variant of ‘ kenosis ’. 19 19 I owe this suggestion to Diane Gallagher again. For a much more serious use of the term, though, see Barbara Vinken, Flaubert: Durchkreuzte Moderne , Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009, passim . <?page no="88"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung. Die kopernikanische Revolution der Poetik Flauberts in Bouvard et Pécuchet Jochen Mecke Comme il faisait une chaleur de 33 degrés, le boulevard Bourdon se trouvait absolument désert. Plus bas le canal Saint-Martin, fermé par les deux écluses étalait en ligne droite son eau couleur d’encre. Il y avait au milieu, un bateau plein de bois, et sur la berge deux rangs de barriques. Au-delà du canal, entre les maisons que séparent des chantiers le grand ciel pur se découpait en plaques d’outremer, et sous la réverbération du soleil, les façades blanches, les toits d’ardoises, les quais de granit éblouissaient. Une rumeur confuse montait du loin dans l’atmosphère tiède ; et tout semblait engourdi par le désœuvrement du dimanche et la tristesse des jours d’été. Deux hommes parurent. L’un venait de la Bastille, l’autre du Jardin des Plantes. Le plus grand, vêtu de toile, marchait le chapeau en arrière, le gilet déboutonné et sa cravate à la main. Le plus petit, dont le corps disparaissait dans une redingote marron, baissait la tête sous une casquette à visière pointue. Quand ils furent arrivés au milieu du boulevard, ils s’assirent à la même minute, sur le même banc. Pour s’essuyer le front, ils retirèrent leurs coiffures, que chacun posa près de soi ; et le petit homme aperçut écrit dans le chapeau de son voisin : Bouvard ; pendant que celui-ci distinguait aisément dans la casquette du particulier en redingote le mot : Pécuchet. -Tiens ! dit-il nous avons eu la même idée, celle d’inscrire notre nom dans nos couvre-chefs. -Mon Dieu, oui ! on pourrait prendre le mien à mon bureau ! -C’est comme moi, je suis employé. Alors ils se considérèrent. L’aspect aimable de Bouvard charma de suite Pécuchet. […] L’air sérieux de Pécuchet frappa Bouvard. Cette exclamation lui échappa : -Comme on serait bien à la campagne ! <?page no="89"?> 90 Jochen Mecke Mais la banlieue, selon Bouvard, était assommante par le tapage des guinguettes. Pécuchet pensait de même. Il commençait néanmoins à se sentir fatigué de la capitale, Bouvard aussi. Et leurs yeux erraient sur des tas de pierres à bâtir, sur l’eau hideuse où une botte de paille flottait, sur la cheminée d’une usine se dressant à l’horizon ; des miasmes d’égout s’exhalaient. Ils se tournèrent de l’autre côté. Alors, ils eurent devant eux les murs du Grenier d’abondance. Décidément (et Pécuchet en était surpris) on avait encore plus chaud dans les rues que chez soi ! Bouvard l’engagea à mettre bas sa redingote. Lui, il se moquait du qu’en dira-t-on ! Tout à coup un ivrogne traversa en zigzag le trottoir ; - et à propos des ouvriers, ils entamèrent une conversation politique. Leurs opinions étaient les mêmes, bien que Bouvard fût peut-être plus libéral. Un bruit de ferrailles sonna sur le pavé, dans un tourbillon de poussière. C’étaient trois calèches de remise qui s’en allaient vers Bercy, promenant une mariée avec son bouquet, des bourgeois en cravate blanche, des dames enfouies jusqu’aux aisselles dans leur jupon, deux ou trois petites filles, un collégien. La vue de cette noce amena Bouvard et Pécuchet à parler des femmes, - qu’ils déclarèrent frivoles, acariâtres, têtues. Malgré cela, elles étaient souvent meilleures que les hommes ; d’autres fois elles étaient pires. Bref, il valait mieux vivre sans elles ; aussi Pécuchet était resté célibataire. —Moi je suis veuf dit Bouvard et sans enfants ! —C’est peut-être un bonheur pour vous ? Mais la solitude à la longue était bien triste. Puis, au bord du quai, parut une fille de joie, avec un soldat. Blême, les cheveux noirs et marquée de petite vérole, elle s’appuyait sur le bras du militaire, en traînant ses savates et balançant les hanches. Quand elle fut plus loin, Bouvard se permit une réflexion obscène. Pécuchet devint très rouge, et sans doute pour s’éviter de répondre, lui désigna du regard un prêtre qui s’avançait. Gustave Flaubert, Bouvard et Pécuchet (1881), Kap. 1 1 I. Die Darstellung der Dummheit Der Roman beginnt in medias res mit genauen Angaben zu Situation, Ort und Zeit. Mit ihren präzisen Beschreibungen, die auch die negativen und hässlichen Aspekte der Landschaft nicht ausschließen, bewegt sich die Poetik der Eingangsszene im Rahmen des realistischen Kodes, wobei die Details und die Hässlichkeit der Umgebung die Funktion der realistischen Legitimation der Erzählung übernehmen. Die Schilderung des Ambientes wird durch die Erwähnung der von fern herandringenden Geräusche, der schwülen und drückenden 1 Édition critique par Alberto Cento, précédée des scénarios inédits, Paris: Nizet 1964, pp. 271-273. <?page no="90"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 91 Atmosphäre und typischen Trägheit und Traurigkeit eines Sommersonntags abgeschlossen. Die im Hintergrundtempus des imparfait gehaltene Beschreibung der Szenerie bildet eine Kulisse, von der sich der nun folgende Satz „Deux hommes parurent“ im Vordergrundtempus des passé simple absetzt und damit das Erscheinen der beiden namentlich noch nicht genannten Protagonisten zu einem geradezu theatralischen Auftritt macht. Was folgt ist allerdings nicht ein bedeutendes Ereignis, sondern die Schilderung einer trivialen Begegnung zweier unscheinbarer Männer, deren Handlungen und Dialoge die geweckten Erwartungen in einer für Flaubert typischen ironischen Wendung konterkarieren. Die folgende Darstellung von Bouvard und Pécuchet hebt in parallelistisch angelegten Konstruktionen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Hauptfiguren hervor, wobei die Gleichzeitigkeit ihrer Handlungen und die beschriebenen Gemeinsamkeiten einer gewissen Komik nicht entbehren: Sie setzen sich in derselben Minute auf die Bank und stellen fest - was für ein Zufall! -, dass sich beide ihre Namen in ihre Kopfbedeckungen haben einnähen lassen. Ihr belangloses Gespräch wird nach einem kurzen in direkter Rede dargestellten Dialog entweder in erzählter oder erlebter Rede wiedergegeben. Bereits hier wird der Leser mit dem zentralen Thema von Flauberts letztem Roman bekannt, denn die Äußerungen der beiden Büroangestellten weisen nicht nur fast immer Übereinstimmungen auf, sondern quellen auch über vor Phrasen. Wie wohl man sich doch auf dem Land fühlen würde! Und auf der Straße ist es noch heißer als zuhause! Man ist über Frauen der gleichen Meinung - sie sind besser als die Männer, früher waren sie indessen schlechter, aber man lebt besser ohne sie, - etc. etc. Die den beiden Protagonisten zugeordnete erlebte Rede unterstreicht, dass es sich hier nicht um individuelle Meinungen handelt, sondern um von beiden geteilte Gemeinplätze, die durchaus einer Aufnahme in Flauberts Dictionnaire des idées reçues würdig wären. Findet sich dort etwa der Eintrag „Chambre à coucher. Dans un vieux château : Henri IV y a toujours passé une nuit“, 2 so könnten ihre stereotypen Äußerungen über Frauen etwa unter dem Schlagwort „Femmes“ mit dem Eintrag „sont souvent meilleures que les hommes“ in das Dictionnaire aufgenommen werden. Für Flaubert ist die unreflektierte Verwendung solcher Klischees der Inbegriff von Dummheit. 3 Allerdings liegt die 2 Gustave Flaubert, Dictionnaire des idées reçues , Paris: Boucher 2002, p. 15. 3 Flaubert gibt nie eine genaue Definition der Dummheit, sondern immer nur Beispiele, die er in Form von Definitionen darbietet. Allerdings kann man aus seinen Werken eine implizit enthaltene Theorie der Dummheit ableiten. Dummheit besteht in der ungeprüften und unkritischen Übernahme von Ideologien, so wie dies bei Emma für die Romantik, bei Homais für die Aufklärung, und bei Bouvard und Pécuchet für die Wissenschaften gilt. Während die Dummheit der Erkenntnis, des Wissens oder der Episteme in der unreflek- <?page no="91"?> 92 Jochen Mecke Neuheit von Bouvard et Pécuchet nicht in der Thematik, denn schon in Madame Bovary wird dem Gemeinplatz besondere Aufmerksamkeit zuteil. Bouvard et Pécuchet erweitert jedoch das Spektrum, denn zu den Klischees der Romantik (Emma Bovary) und der Aufklärung (Monsieur Homais) treten nun die Theorien wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Anwendung. In allen diesen Fällen ist die Dummheit der Protagonisten doppelt motiviert. Ihnen fehlt es an Urteilskraft, ideologische Gemeinplätze kritisch zu prüfen und der jeweiligen Situation anzupassen und an der Fähigkeit, ihren eigenen Gedanken und Gefühlen einen individuellen persönlichen Ausdruck jenseits sprachlicher Versatzstücke zu verleihen. Neben der in mangelnder Urteilskraft begründeten epistemologischen Komponente weist Flauberts Behandlung der Dummheit somit auch eine ästhetische Dimension auf, denn sie impliziert eine Problematik des Ausdrucks, die auch das literarische Werk selbst betrifft. Wenn der „kategorische Imperativ der Moderne“ vom Schriftsteller die Schaffung einer neuen, individuellen und authentischen Form verlangt, 4 dann ist die Dummheit vor diesem Hintergrund gerade dessen genaues Gegenteil, besteht sie doch in der Wiederholung von zum literarischen Passepartout verkommenen Ausdrucksmitteln und Formen. Mit der Darstellung der Dummheit hat Flaubert die absolute Gegenposition zur eigenen Ästhetik in den Roman selbst integriert. Die Dummheit ist der eigentliche Gegner seines besonderen Projektes ästhetischer Moderne. Die ästhetische Dimension bringt es allerdings mit sich, dass sich die Problematik von der Ebene des dargestellten Objektes auf dessen literarische Darstellung selbst verlagert, denn es stellt sich die Frage, in welcher Form sich der Text des Erzählers von der sprachlichen Dummheit absetzen kann. Eine erste Lösung dieses Problems findet sich in dem eingangs zitierten Abschnitt, denn die Dummheit wird dort zunächst einmal der Vorstellungswelt und Sprache der Figuren zugeordnet. Diese Lösung des Problems durch das Ziehen einer klaren Trennlinie zwischen Erzähler- und Figurendiskurs findet sich bereits in Madame Bovary . Emmas von romantischen Jugendlektüren geprägte Vorstellungswelt, die vor ideologischen Gemeinplätzen der Republik strotzende Politikerrede in der Szene der comices agricoles , Rodolphes alle Klischees der Romantik bedienende Süßholzraspelei oder aber Homais’ Plattitüden über Paris werden jeweils durch eine interne Fokalisation oder durch die direkte, indirekte oder erlebte tierten Übernahme anderer Auffassungen oder Ideologien besteht, liegt die Dummheit der Sprache in der unreflektierten und unangepassten Übernahme sprachlicher Gemeinplätze, in der Übernahme von sprachlichen Versatzstücken ohne zu versuchen, ihnen einen individuellen Ausdruck zu verleihen. Es ist diese Form der Dummheit, die Flaubert in seinem Dictionnaire des idées reçues gesammelt hat. 4 Cf. Jochen Mecke, „Du musst dran glauben: Von der Lüge der Literatur zur Literatur der Lüge“, in: Diegesis 4/ 1 (2015), pp. 18-48, hier p. 43. <?page no="92"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 93 Rede vom Diskurs der Erzählung selbst abgesetzt. Die Kritik der Dummheit erfolgt hier durch eine die Poetik des Realismus bestimmende Konfrontation zwischen der Perspektive der Figuren einerseits und einem Diskurs der Erzählung andererseits, der nüchtern und sachlich festhält, was der Fall ist. In dieser Hinsicht paradigmatisch ist etwa das Kapitel über den Bal de Vaubyessard , in dem Flaubert den romantisierenden Projektionen Emmas die krude und alle Überhöhungen widerlegende Realität entgegensetzt: Dort wo Emma in einem alten Adligen den ehemaligen Geliebten Marie-Antoinettes sieht, beschreibt der Text einen alten, sabbernden Tattergreis. 5 Im Kapitel der Comices agricoles erzielt Flaubert die gleiche Wirkung mittels einer Montagetechnik: Rodolphes aus dem Kitsch der Romantik gespeiste Werbung um Emma wird mit den Plattitüden eines Redners und dem Blöken der Schafe, dem Muhen der Kühe und dem Grunzen der Schweine so kunstvoll verwoben, dass diese drei Diskurse bzw. Geräusche wechselseitig ihre eigene Plattheit und Dummheit unterstreichen und sich dadurch denunzieren. Allerdings wirft die von Flaubert intensiv genutzte narrative Technik des discours indirect libre insofern ein Problem auf, als sich Erzähler- und Figurendiskurs hier aneinander angleichen, so dass der Leser sich manchmal fragt, mit welcher Rede er es an bestimmten Stellen eigentlich zu tun hat. An denjenigen Stellen, an denen die entsprechenden Gemeinplätze weder Emma noch einer anderen Figur zugeordnet werden können, sondern lediglich einem anonym bleibenden Kollektiv, setzt Flaubert diese durch Kursivierung von der Rede des Erzählers ab. 6 II. Die Dummheit der Darstellung In seinem letzten, posthum veröffentlichten Roman vollzieht Flaubert jedoch eine kopernikanische Wende seiner Romanästhetik. Um dies nachzuvollziehen lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die eingangs wiedergegebene Textpassage zu werfen. Im Lichte einer Ästhetik der Dummheit wird sichtbar, dass sich die Poetik des Gemeinplatzes keineswegs auf die Perspektive der Figuren beschränkt. Nicht nur die Reden Bouvards und Pécuchets, sondern auch Formulierungen, die dem Erzähldiskurs zuzuordnen sind, wie zum Beispiel „le grand ciel pur“, könnten direkt dem Dictionnaire des idées reçues entsprungen sein. Denn neben „bleu“ gibt es wohl kaum ein platteres Adjektiv für den Himmel 5 Gustave Flaubert, Madame Bovary, Paris: Lévy 1857, p. 70. 6 Hier ein Beispiel aus dem Kapitel über die Kindheit von Charles Bovary und die Sorgen seiner Eltern: „Auraient-ils jamais de quoi l’entretenir dans les écoles du gouvernement, lui acheter une charge ou un fonds de commerce ? D’ailleurs, avec du toupet un homme réussit toujours dans le monde . Madame Bovary se mordait les lèvres, et l’enfant vagabondait dans le village“ (ibid., p. 42). <?page no="93"?> 94 Jochen Mecke als „pur“. „Ciel - toujours dire qu’il est pur“ könnte ein dementsprechender Eintrag in Flauberts Dictionnaire lauten. Dass auch im Erzähldiskurs Gemeinplätze vorkommen, wird bereits durch ein unscheinbares grammatikalisches Detail deutlich: Die Schilderung des Sommermittags zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Häufung bestimmter Artikel aus: „la réverbération du soleil, les façades blanches, les toits d’ardoises“, oder „les quais de granit éblouissaient.“ Normalerweise verweisen bestimmte Artikel auf bereits zuvor gegebene Informationen, um sie gemäß der Abfolge von Thema und Rhema wiederaufzunehmen. In dem vorliegenden Fall stellen sie allerdings eine ‚leere‘ Deixis dar, denn das, worauf sie sich beziehen, wurde vorher noch gar nicht erwähnt. Das Bezugselement oder Thema muss sich daher an einem Ort außerhalb des Textes befinden. Dieser Ort ist nichts anderes als der Gemeinplatz über „den“ heißen Sommermittag in der Stadt. Die bestimmten Artikel wecken somit den Verdacht, dass sprachliche Versatzstücke nicht mehr, wie noch in Madame Bovary oder der Éducation sentimentale , nur in der Figurenperspektive oder -rede exponiert werden, sondern nunmehr den Text selbst durchdrungen haben. So bezieht sich auch die nachfolgende Erwähnung des „désœuvrement du dimanche et la tristesse des jours d’été“ auf einen Topos, der die Beschreibung insgesamt als aus sprachlichen Fertigteilen montiertes Dekor erscheinen lässt, vor dem nun in geradezu theatralischer Form das Erscheinen der beiden Protagonisten im passé simple angekündigt wird und zwar so, als würde es sich hier um ein großartiges Ereignis handeln. Die nun folgende Beschreibung der Begegnung beruht gleichfalls auf dem Prinzip der Wiederholung des immer gleichen Schemas: Die Sätze, die Bouvard und Pécuchet beschreiben, sind jeweils parallelistisch aufgebaut und heben die Gegensätze zwischen beiden hervor. Der eine kommt von der Bastille, der andere vom Jardin des Plantes , der eine ist groß, der andere klein, der eine trägt den Kopf hoch, der andere senkt ihn, der eine hat die ihn beengenden Kleidungsstücke abgelegt, der andere verschwindet gänzlich in seinem Gehrock. Die mechanisch geratene Beschreibung der Gegensätze, deren starrer Aufbau durch die parallelistische Satzstruktur noch unterstrichen wird, wiederholt immer wieder das gleiche Schema und ruft insgesamt den Eindruck einer Montage von Textbausteinen hervor. Im sich entspinnenden Dialog sind sich die beiden Protagonisten fast immer einig, ihre Aussagen stimmen überein oder sind gekennzeichnet durch eine vorhersehbare Gegensätzlichkeit. Unabhängig davon, ob sie die gleichen oder die genau konträren Gedanken und Überzeugungen haben, in beiden Fällen bewegen sie sich im Reich des „Man“ und der Uneigentlichkeit. 7 Die jeweilige Hervorhebung ihrer Übereinstimmungen erzeugt den Eindruck, dass die Figu- 7 Cf. Martin Heidegger, Sein und Zeit , Tübingen: Niemeyer 1967, p. 126. <?page no="94"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 95 ren keine eigenständige Persönlichkeit haben, sondern voneinander oder von einem vorher existierenden Modell abgekupfert sind. „Zufällig“ haben B. und P. die gleichen Eigenschaften, Einstellungen und Haltungen, sie ähneln sich so sehr, dass sie eigentlich eine Person ergeben. Genaugenommen sind sie fleischgewordene Metonymien ihres Berufs: Die beiden Kopisten sind Abziehbilder eines bereits vorher existierenden Stereotyps. Flaubert legt damit das Prinzip seiner Figurenkonzeption offen, er macht das nur dürftig verdeckte narrative Skelett ihrer Existenz hinter ihrem äußeren Anschein sichtbar. Dieses Prinzip bestimmt auch die Komposition der Handlung in der Einleitungssequenz: Die beiden Protagonisten führen im gleichen Moment die gleichen Handlungen aus, beide nehmen ihre Hüte im gleichen Moment ab, legen sie neben sich, und entdecken gleichzeitig, dass sie ihre Namen in ihre Kopfbedeckungen haben einnähen lassen. 8 Die Zufälligkeiten der Begegnung, des Namens in den Kopfbedeckungen und weiterer Gemeinsamkeiten heben eine Unwahrscheinlichkeit hervor, die der Trivialliteratur durchaus ebenbürtig wäre. Die Formulierungen sind durchweg vorhersehbar, Textbausteine eines sprachlichen Reservoirs, das Flaubert vorgefunden hat und nun ausstellt. Damit wird jedoch die Darstellung selbst von demjenigen Modus der Inauthentizität erfasst, der auch ihre Protagonisten bestimmt. In der nächsten Szene beobachten die beiden zunächst eine Hochzeit, dann eine Prostituierte und schließlich einen Priester. Plausibilität gewinnt die Sequenz nicht aus der Kontingenz des Realen, bzw. dem Syntagma einer Erzählung, sondern vielmehr aus dem Paradigma einer schematischen Gegenüberstellung von Ehe und Prostitution, Sünde und Moral, Sexualität und Kirche. Auch hier schimmert die Stereotypie der Komposition durch die konkrete Darstellung hindurch und macht hinter der Fassade der Erzählung das Skelett ihrer Genese sichtbar. Die Passage besteht somit aus einer Ansammlung von Sequenzen, Worten und Epitheta, die sich auch in der Enzyklopädie der Dummheit finden könnten. Die Begegnung von Bouvard und Pécuchet ist von jener Poetik des Zufalls bestimmt, deren Unwahrscheinlichkeit zum Arsenal schlechter Romane gehört. Dieses Strukturprinzip wird auch in der weiteren Entwicklung der Geschichte deutlich, denn der Fortgang der Handlung in Chavignolles wiederholt ebenfalls schematisch die immer gleiche Abfolge von Illusion und Desillusion, Hoffnung und Enttäuschung. Während die Desillusion noch in Madame Bovary und in der Éducation sentimentale als 8 Natürlich entsteht dadurch auch eine gewisse Form der Komik. Die Mechanik der Gleichzeitigkeit und Wiederholung lässt Bouvard und Pécuchet als Automaten erscheinen (cf. Henri Bergson, Le rire: essai sur la signification du comique , Paris: Alcan 1924). Allerdings ergibt sich die Komik hier nicht nur durch die schematische Wiederholung der Handlungen und Merkmale der Figuren, sondern auch durch die Stereotypie ihrer literarischen Darstellung und wirkt damit auf den Text zurück. <?page no="95"?> 96 Jochen Mecke Entwicklungsprozess im Laufe einer Geschichte dargestellt werden, ist sie in Bouvard et Pécuchet zur sich regelmäßig wiederholenden Abfolge von Euphorie und Enttäuschung verkommen. Dass diese These nicht ganz unbegründet ist, wird in einer Episode besonders deutlich, die wie eine mise en abyme des gesamten Romans und seiner Anlage erscheint, denn die beiden Protagonisten haben sich nunmehr der Literatur zugewandt. Hier erkennen sie nun selbst alle möglichen Formen literarischer Gemeinplätze. Wenn beide Protagonisten etwa bei der Lektüre historischer Romane über die Wiederholung der immer gleichen Effekte, über Figuren wie aus einem Guss und über die Plattitüden des Stils stöhnen, so beklagen sie damit ein Kompositionsprinzip, aus dem sie selbst und ihre Geschichte hervorgegangen sind. 9 Den Kulminationspunkt dieser Selbstbezüglichkeit erreicht der Roman, wenn Bouvard und Pécuchet die Fähigkeit entwickeln, die Dummheit zu erkennen und daraufhin nicht mehr ertragen können. 10 Während der Stil Flauberts im Anfangskapitel das literarische Pendant zur Dummheit seiner Figuren darstellte, so werden die Figuren in diesem Kapitel zum diegetischen Pendant des Autors. Der Kreis hat sich geschlossen. Damit tritt jedoch eine entscheidende Veränderung ein. War die Dummheit bisher lediglich Objekt der Darstellung, so wechselt sie nun die Seite und wird zu deren Subjekt. Die Darstellung der Dummheit hat sich in die Dummheit der Darstellung verwandelt. Flauberts Projekt einer Ästhetik des Inauthentischen gewinnt damit eine neue Qualität. Der Roman als bisheriges Instrument der Exposition, Darstellung und Analyse der Dummheit wird selbst von der Dummheit infiziert, die Dummheit hat die Seite gewechselt. Damit fällt auch die Literatur selbst unter das Verdikt, das sie über das Wissen der Gesellschaft gefällt hat: Sie wird selbst zum Reich der Uneigentlichkeit, des Inauthentischen und der ästhetischen Lüge. 9 „Presque toutes [les œuvres de théâtre] lui [i.e. Pécuchet] parurent encore plus bêtes que les romans. Car il existe pour le théâtre une histoire convenue, que rien ne peut détruire. Louis XI ne manquera pas de s’agenouiller devant les figurines de son chapeau ; Henri IV sera constamment jovial ; Marie Stuart pleureuse, Richelieu cruel - enfin, tous les caractères se montrent d’un seul bloc, par amour des idées simples et respect de l’ignorance - si bien que le dramaturge, loin d’élever abaisse, au lieu d’instruire abrutit (Flaubert, Bouvard et Pécuchet , p. 397). 10 „Alors une faculté pitoyable se développa dans leur esprit, celle de voir la bêtise et de ne plus la tolérer“ (ibid., p. 492). <?page no="96"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 97 III. Die ästhetische Erziehung zur Aufgabe der Dummheit Aus welchen Motiven hat Flaubert diese Wende in seiner Auseinandersetzung mit der Dummheit vollzogen? Was bedeutet sie für seine Romanpoetik? Der erste Beweggrund für diesen Wandel ergibt sich fast zwangsläufig aus den poetologischen Grundsätzen Flauberts, so wie er diese in Madame Bovary und der Éducation Sentimentale angewandt und in den Briefen an Louise Colet erläutert hat. Wenn Flaubert fordert: „l’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout et visible nulle part“ 11 , dann hat dieser Grundsatz zwei zentrale Implikationen: Die erste liegt offensichtlich in dem für die Romanpoetik der Moderne charakteristischen Rückzug des Erzählers, die zweite hingegen - mindestens ebenso wichtig - liegt darin, dass dadurch dem Leser der ‚Vorzug‘ gegeben wird. Denn wenn der „Gott“ des Romans ihm keine Anweisungen mehr gibt, wie er bestimmte Handlungen der Figuren moralisch zu bewerten, bestimmte Schilderungen zu verstehen hat oder worin die Schönheit bestimmter Passagen liegt, dann muss der Leser seine bisherige Passivität aufgeben und die im Roman präsentierte fiktive Realität genauso deuten wie seine Alltagswirklichkeit. In die gleiche Richtung gehen die berühmten, gleichfalls in den Briefen an Louise Colet umrissenen ästhetischen Prinzipien der impassibilité , impartialité und impersonnalité . Das ästhetische Prinzip der impartialité bezieht sich auf die moralische Neutralität des Erzählers seinen Figuren und der Handlung gegenüber. 12 Der Erzähler ergreift nicht Partei, sondern schildert nüchtern und sachlich, was der Fall ist. Das Prinzip der impassibilité wird oftmals gedeutet als emotionale Neutralität im Sinne des „immunen Erzählens“, das den Leser selbst auch zur emotionalen Unbewegtheit anrege. 13 Dass es Flaubert hingegen nicht um eine ästhetische Erziehung zur Affektlosigkeit geht, wird deutlich, wenn wir das dritte Prinzip Flauberts, das der impersonnalité einbeziehen. Denn in dem Maße, in dem sich der Erzähler mit eigenen Deutungen zurückhält, ist der Leser gezwungen, seine eigenen Einschätzungen und Bewertungen zu entwickeln. Der Rückzug des Erzählers bedeutet also keineswegs, dass der Autor aus einer Position moralischer Indifferenz schreibt, sondern vielmehr, dass er den Leser zur Ausbildung eigener moralischer und ästhetischer Urteile anregt. Die moralische Neutralität des Erzählers dient der moralischen Autonomie des Lesers und seiner Befähigung zum eigenen Erkennen und Urteilen. Damit hat 11 Gustave Flaubert, „Lettre du 9 décembre 1852 [à Louise Colet]“, in: Id., Correspondance , vol. II (juillet 1851 - décembre 1858), ed. Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1980 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 204. 12 „Lettre du 18 mars 1857 [à Mlle Leroyer de Chantepie]“, ibid., p. 691. 13 Cf. Martin Koppenfels, Immune Erzähler: Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans , München: Fink 2004, p. 111sq. <?page no="97"?> 98 Jochen Mecke sich die Ethik auf das Gebiet der Ästhetik verschoben bzw. die Ethik wird zum Effekt der Ästhetik. Das Zurücktreten der Persönlichkeit des Erzählers ist die Vorbedingung für die Genese und Entwicklung der Persönlichkeit des Lesers. Wie hängen die genannten Prinzipien jedoch mit Flauberts Kampf gegen die Dummheit zusammen? Wenn Flaubert in einem Brief an seinen Freund Louis Bouilhet den oft zitieren Aphorismus prägt: „La bêtise consiste à vouloir conclure“, dann wird diese Äußerung zumeist auf das Subjekt dieser Schlussfolgerung bezogen. 14 Die Dummheit würde in dieser Deutung darin bestehen, alles direkt auszusprechen bis zur Konklusion. Bezogen auf den Sprecher oder das literarische Subjekt macht dieser Aphorismus allerdings nur wenig Sinn, es sei denn es ist als ein Zeichen von Dummheit zu verstehen, wenn explizit ausgesprochen wird, was in den Prämissen bereits angelegt ist. Eine interessantere Deutung dieses Ausspruchs stellt sich jedoch ein, wenn wir sie in den Kontext von Flauberts Romanästhetik stellen. Denn wenn der Sprecher selbst die Schlussfolgerungen aus den dargelegten Prämissen explizit macht, dann nimmt er dem Adressaten oder dem Leser die Möglichkeit, dies selbst zu tun. Dummheit, so lautet die berühmte Definition Immanuel Kants, ist ein Mangel an eigener Urteilskraft. 15 Bei Flaubert besteht die Dummheit in der unreflektierten Wiederholung von Gemeinplätzen, in der Übernahme fremder Urteile, kurz und gut in einem Mangel an intellektueller Eigenständigkeit. Wenn sich der Sprecher oder Schreiber aber darauf beschränkt, die Dinge einfach zu exponieren, gibt er dem Adressaten die Möglichkeit, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn Flaubert in einem Brief die Forderung „Soyons exposants et non discutants“ 16 aufstellt, dann entspricht dies gleichfalls diesem Ansinnen. Wenn die Dummheit aber in der unreflektierten Übernahme fremder Äußerungen oder kollektiver Gemeinplätze besteht, dann hat dies auch Implikationen für die Auseinandersetzung mit ihr. In Madame Bovary kritisierte Flaubert noch die Dummheit der Titelheldin, indem er sie aus einer zwar nicht expliziten, so doch implizit kritischen Perspektive darstellte. In Bouvard et Pécuchet geht er noch einen Schritt weiter. Denn hier wird nicht mehr nur über die Dummheit gesprochen, sondern der Roman selbst macht sich zu ihrem Sprachrohr. Bou- 14 „L’ineptie consiste à vouloir conclure. […] Oui, la bêtise consiste à vouloir conclure. […] Quel est l’esprit un peu fort qui ait conclu, à commencer par Homère ? Contentons-nous du tableau, c’est ainsi, bon.“ Gustave Flaubert, „Lettre du 4 septembre 1850 [à Louis Bouilhet]“, in: Id.: Correspondance , vol. I (janvier 1830 - mai 1851), ed. Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1973 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 679sq. 15 „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft , A 133/ B 172, Hamburg: Meiner 1956, p. 194). 16 „Lettre du 13 avril 1853 [à Louise Colet]“, in: Correspondance , vol. II, p. 302. <?page no="98"?> Von der Darstellung der Dummheit zur Dummheit der Darstellung 99 vard et Pécuchet ist nicht nur ein Roman über die Dummheit, sondern auch ein Roman der Dummheit. Die Dummheit hat damit zwei oder sogar mehr Dimensionen: In moralischer oder ethischer Hinsicht besteht sie in der unreflektierten Übernahme fremder moralischer Urteile, in epistemologischer Hinsicht in der Übernahme fremder Einsichten oder Wahrnehmungen und in ästhetischer Hinsicht in der Übernahme fremder Formulierungen und kollektiver Gemeinplätze. Wenn dies der Fall ist, dann kann sich eine Kritik der Dummheit nicht mehr darauf beschränken, diese bloß darzustellen und zu kritisieren, sondern sie muss selbst zu derjenigen Dummheit werden, die es dem Leser erlaubt, von ihr Abstand zu nehmen, sie zu erkennen und zu überwinden. Deshalb ist der Übergang von einem Roman über die Dummheit zu einem Roman der Dummheit oder zu einem ‚dummen‘ Roman folgerichtig und unumgänglich. Denn er allein erlaubt es dem Leser, die fremde Dummheit zu erkennen und die eigene Dummheit zu überwinden. Bouvard et Pécuchet erweist sich damit als Fortsetzung seines Kampfes gegen die Dummheit mit ästhetischen Mitteln. <?page no="100"?> „La alta y burlona voz de Ireneo“ 101 „La alta y burlona voz de Ireneo“. Zur Ironie in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Funes el memorioso“ Martin Baumeister Arribo, ahora, al más difícil punto de mi relato. Este (bueno es que ya lo sepa el lector) no tiene otro argumento que ese diálogo de hace ya medio siglo. No trataré de reproducir sus palabras, irrecuperables ahora. Prefiero resumir con veracidad las muchas cosas que me dijo Ireneo. El estilo indirecto es remoto y débil; yo sé que sacrifico la eficacia de mi relato; que mis lectores se imaginen los entrecortados períodos que me abrumaron esa noche. Ireneo empezó por enumerar, en latín y español, los casos de memoria prodigiosa registrados por la Naturalis historia : Ciro, rey de los persas, que sabía llamar por su nombre a todos los soldados de sus ejércitos; Mitrídates Eupator, que administraba la justicia en los 22 idiomas de su imperio; Simónides, inventor de la mnemotecnia; Metrodoro, que profesaba el arte de repetir con fidelidad lo escuchado una sola vez. Con evidente buena fe se maravilló de que tales casos maravillaran. Me dijo que antes de esa tarde lluviosa en que lo volteó el azulejo, él había sido lo que son todos los cristianos: un ciego, un sordo, un abombado, un desmemoriado. (Traté de recordarle su percepción exacta del tiempo, su memoria de nombres propios; no me hizo caso.) Diecinueve años había vivido como quien sueña: miraba sin ver; oía sin oír; se olvidaba de todo, de casi todo. Al caer, perdió el conocimiento; cuando lo recobró, el presente era casi intolerable de tan rico y de tan nítido, y también las memorias más antiguas y más triviales. Poco después averiguó que estaba tullido. El hecho apenas le interesó. Razonó (sintió) que la inmovilidad era un precio mínimo. Ahora su percepción y su memoria eran infalibles. Nosotros, de un vistazo, percibimos tres copas en una mesa; Funes, todos los vástagos y racimos y frutos que comprende una parra. Sabía las formas de las nubes australes del amanecer del treinta de abril de mil ochocientos ochenta y dos y podía compararlas en el recuerdo con las vetas de un libro en pasta española que sólo había mirado una vez y con las líneas de la espuma que un remo levantó en el Río Negro la víspera de la acción del Quebracho. Esos recuerdos no eran simples; cada imagen visual estaba ligada a sensaciones musculares, térmicas etc. Podía reconstruir todos los sueños, todos los entresueños. Dos o tres veces había reconstruido un día entero; no había dudado nunca, pero cada reconstrucción había requerido un día entero. Me dijo: Más recuerdos tengo yo solo que los que habrán tenido todos los hombres desde que el mundo <?page no="101"?> 102 Martin Baumeister es mundo . Y también: Mis sueños son como la vigilia de ustedes . Y también, hacia el alba: Mi memoria, señor, es como vaciadero de basuras . Jorge Luis Borges, „Funes el memorioso“ (1942) 1 Der vorliegende Textausschnitt stammt aus einer der bekanntesten Erzählungen von Jorge Luis Borges. Sie präsentiert sich - ein Umstand, der in der Forschungsliteratur kaum reflektiert wird - als Beitrag zu einer imaginären Gedenkschrift. Geehrt werden soll Ireneo Funes, ein 1889 mit 19 Jahren verstorbener compadrito , ein jugendlicher ‚Halbstarker‘ und Vorstadt-Gaucho aus dem uruguayischen Ort Fray Bentos. Fiktiver Autor des Textes, die Erzählerfigur, ist ein nur wenig jüngerer Bekannter des Verstorbenen, ein Argentinier aus Buenos Aires, der sich, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des zu Ehrenden, an seine kurzen Begegnungen mit ihm während seiner Sommerferien in den Jahren 1884 und 1887 erinnert. Grund des eigentümlichen homenaje ist die quasi übermenschliche Begabung von Funes, seine „implacable memoria“ (p. 490), die ihn in den vom Erzähler zitierten Worten eines prominenten Gewährsmanns, des uruguayischen Dichters Pedro Leandro Ipuche, als „precursor de los superhombres“, als „Zarathustra cimarrón y vernacular“ (p. 485) erscheinen lässt. Der abgedruckte Ausschnitt leitet den Höhepunkt, den „punto más difícil“, der kurzen Erzählung ein: die Erinnerung an ein nächtliches Gespräch des Erzählers mit dem an sein Krankenlager gefesselten Funes. Der denkwürdige „enorme diálogo“ (p. 487) findet im Anschluss an eine für den Erzähler zunächst überaus befremdliche Bitte von Ireneo Funes statt. Dieser hatte den Jugendlichen aus der Stadt, der während seiner Sommerwochen fern der Metropole Bildungsambitionen in Gestalt des Studiums lateinischer Werke pflegt, gebeten, ihm einige seiner Texte mitsamt einem Wörterbuch zu leihen „para la buena inteligencia del texto original, porque todavía ignoro el latín“ (ibid.), ein Ersuchen, dem der Erzähler mit der Übersendung zweier Werke, eines Thesaurus poeticus linguae latinae sowie eines Bandes der Historia naturalis von Plinius, entsprochen hatte. Als er seine Bücher im rancho des compadrito abholt, der ihn Passagen von Plinius im lateinischen Original aus einem Kapitel zur memoria wie eine „plegaria o incantación“ (ibid.) zitierend empfängt, entwickelt sich im Dunkeln der Nacht bis zum Morgengrauen ein Gespräch zwischen dem Erzähler und Funes, das sich um dessen unerhörte Gedächtnis- und Wahrnehmungsfähigkeiten dreht. Der ungehobelte compadrito , dessen „ciertas incurables limitaciones“ der Erzähler gleich zu Beginn seines Textes hervorhebt (p. 485), zeigt sich erstaunt darüber, dass die von Plinius berichteten welthistorischen Fälle unerhörter Ge- 1 In: Id., Obras completas , vol. I: 1923-1949, Barcelona: Emecé 1989, pp. 485-490, hier p. 487sq. <?page no="102"?> „La alta y burlona voz de Ireneo“ 103 dächtnisleistungen angesichts seiner eigenen Fähigkeiten überhaupt Staunen erregen könnten. Den Ursprung dieser Fähigkeiten schildert er in einer säkularen Konversionsgeschichte, die den Bericht der Bekehrung des Saulus in der Apostelgeschichte quasi auf den Kopf stellt: Nach dem Sturz von einem halb wilden Pferd, einem, wie es in der zitierten Passage heißt, gescheckten „azulejo“, verwandelt sich der „‚cronométrico Funes‘“ (p. 486), der Junge mit der ungewöhnlichen Gabe jederzeit die exakte Uhrzeit nennen zu können und sich zugleich an alle Namen zu erinnern, wie ihn der Erzähler bei einer ersten flüchtigen Begegnung drei Jahre zuvor kennen gelernt hatte, in „Funes el memorioso“ mit einem unfehlbaren Wahrnehmungs- und Gedächtnisvermögen. Der Sturz lässt Ireneo gelähmt, als ‚ewigen Gefangenen‘ in seinem Bett zurück, wirkt für den Gestürzten jedoch zugleich wie das Erwachen aus einem Traum, das ihm eine völlig neue Sicht auf die ihn umgebende Welt eröffnet. In den Augen des Erzählers erscheint Funes in einer Aura des Sakralen, wenn er sich ihn gleich im ersten Satz der Erzählung auf seinem Lager, eine Passionsblume betrachtend, in Erinnerung ruft, „viéndola [i.e. la pasionaria, MB] como nadie la ha visto, aunque la mirara desde el crepúsculo del día hasta el de la noche, toda una vida entera“ (p. 485), eine Reminiszenz, die er später, freilich leicht variiert - aus der Passionsblume wird ein duftender Zweig Heiligenkraut -, wiederholt (p. 486). Funes wird von einem gewöhnlichen Christenmenschen, „blind, taub, unbedarft, ohne Gedächtnis“, wie zumindest er selbst versichert, zu einem Vorläufer des nietzscheanischen Übermenschen, der die Gegenwart sowie sämtliche früheren Erinnerungen, und seien sie noch so trivial, in fast unerträglicher Fülle und Klarheit wahrnimmt. Funes kann die unerhörte Behauptung aufstellen, er allein verfüge über mehr Erinnerungen als alle Menschen seit Bestehen der Welt. Seine Träume seien wie das Wachen aller anderen Menschen. Für seine übermenschlichen Fähigkeiten bezahlt Funes einen hohen Preis: Bewegungs- und Schlaflosigkeit - Borges hat in einer vielzitierten Selbstdeutung die Erzählung als „una larga metáfora del insomnio“ bezeichnet. 2 In der Beschreibung der ‚Erweckung‘ des Ireneo Funes und seiner spektakulären Wahrnehmungs- und Gedächtnisfähigkeiten, in den vom Erzähler berichteten Aussagen von Funes sowie seinen Beobachtungen und Bewertungen hat Borges eine grundlegende Spannung angelegt. Darauf beziehen sich zahlreiche Kommentare vor allem der älteren Forschung in einer einseitigen Anverwandlung und Übernahme der Erzählerkommentare, die überdies häufig mit der Position von Borges selbst gleichgesetzt werden. In offenkundigem Widerspruch zum Charakter des Textes als vorgeblichem Beitrag für eine Gedenkschrift sind 2 Ibid., p. 483 (Prolog zur Sammlung Artificios ). <?page no="103"?> 104 Martin Baumeister die Betrachtungen des Erzählers, der sich eingangs demonstrativ der Parteilichkeit bekennt und sich vom „dithyrambischen Genre“ distanziert (p. 485), durchzogen von massiven Vorbehalten und offener Abwertung des compadrito . Die Kritik richtet sich freilich nicht auf die eingangs monierten „gewissen unverbesserlichen Grenzen“ des Halbstarken aus der Vorstadt, sondern vielmehr auf die zu würdigenden ‚übermenschlichen‘ Fähigkeiten von Funes. Dieser habe zwar ohne jegliche Anstrengung Englisch, Französisch, Portugiesisch und Latein gelernt. Er, der Erzähler, vermute jedoch, Funes sei nicht so recht zum Denken fähig: „Pensar es olvidar diferencias, es generalizar, abstraer. En el abarrotado mundo de Funes no había sino detalles, casi inmediatos.“ (p. 490) Den besonderen Unwillen des Erzählers wecken zwei „Projekte“ von Funes, mit denen er sich auf seinem Krankenlager beschäftigt - die Erstellung eines unendlichen Vokabulars für die natürliche Zahlenfolge sowie eines mentalen Katalogs aller seiner Erinnerungsbilder. Diese Vorhaben seien unnütz, sinnlos und töricht, auch wenn sie eine gewisse „stammelnde Größe“ bekunden würden. Aus ihnen könne man die schwindelerregende Welt von Funes erahnen, der zu allgemeinen platonischen Ideen fast unfähig sei. Nicht nur koste es ihn Mühe zu verstehen, dass der Allgemeinbegriff ‚Hund‘ so viele unterschiedliche Geschöpfe verschiedener Größe und Gestalt umfasse; es störe ihn auch, dass der Hund von 3 Uhr und 14 Minuten (im Profil betrachtet) denselben Namen führen sollte wie der Hund um 3 Uhr und 15 (von vorne gesehen). Die Fähigkeit des totalen Gedächtnisses wird vom Erzähler ad absurdum geführt, sie verhindere Denken und Erkenntnis, ein Befund, der immer wieder als Position von Borges selbst verstanden wird. 3 Die Hypermnesie von Funes, das Zerfasern und Auseinanderfallen der Welt in eine im wörtlichen Sinne unendliche Fülle von Einzeleindrücken verbunden mit der Unfähigkeit Funes‘ zu vergessen, die Ersetzung des Lebens durch die Erinnerung, die sich in den Bemühungen des compadrito manifestiert, im Geist einen Tag zu rekonstruieren, was wiederum einen ganzen Tag in Anspruch nimmt, sind Ansatzpunkt für eine Vielzahl von Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen, die vom Erzähler dargestellte memoria seines Protagonisten in unterschiedliche erkenntnistheoretische und mnemotische Traditionen einzuordnen und philosophisch-ideengeschichtliche Querverbindungen und Kontexte herzustellen, mithin die Erzählung als „synkretistischen“ Text, als „einen Parcours durch Gedächtniskonzepte unterschiedlicher Provenienz“ 4 zu entziffern: 3 Cf. z. B. Donald L. Shaw, Jorge Luis Borges. Ficciones , Barcelona: Ed. Laia 1986, p. 84; oder Juan Nuño, La filosofía en Borges , Barcelona: Reverso 2005, pp. 131-136. 4 Renate Lachmann, „Gedächtnis und Weltverlust. Borges‘ memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten “, in: Memoria -Vergessen und Erinnern , edd. Anselm Haverkamp, Renate Lachmann, München: Fink 1993, pp. 492-519, hier p. 495. <?page no="104"?> „La alta y burlona voz de Ireneo“ 105 „[M]emory is conflated with intertextuality; the story displays a mise en abîme of texts and memories: ‚ut nihil non iisdem verbis redderetur auditum‘“, wie Robert Folger die Vorgehensweise von Borges - die man als Kennzeichen seiner gesamten schriftstellerischen Arbeit betrachten kann - mit Bezug auf ein in der Erzählung angeführtes Schlüsselzitat von Plinius formuliert hat. 5 Funes’ Gabe der „Totalität von Gedächtnis und Wahrnehmung“ wird in paradoxer Manier als Gabe des „totalen Verlusts des Gedächtnisses und der Wahrnehmung“, in einem Wortspiel als „don de la im-presentabilidad de lo real“ interpretiert. 6 Es gehe in der Erzählung nicht etwa „um die Hypertrophie einer Historiographie, für die alle Daten gleichbedeutend sind und deren letzter Zweck die totale, nicht selektive Erfassung der Welt ist […], sondern um die in der Hypertrophie aufgedeckte Unmöglichkeit einer im Erinnern darzustellenden Welt. Das Thema von Borges ist Gedächtnis und Weltverlust.“ 7 Ob das noch vor fünfzehn Jahren vorgebrachte Urteil (weiterhin? ) zutrifft, Borges’ zum ersten Mal 1942 publizierte und 1944 in seine bekannteste Erzählungssammlung Ficciones aufgenommene Geschichte von „Funes el memorioso“ habe in der Literaturwissenschaft überraschend wenig Aufmerksamkeit gefunden, 8 vermag ich nicht zu beurteilen. Es fällt jedoch auf, dass dort ein fundamentaler Zug der Erzählung bzw. der Erzählweise von Borges allenfalls am Rande Erwähnung findet und in seiner, wie ich meine, zentralen Bedeutung für die Textaussage nicht einmal annäherungsweise berücksichtigt wird. Die Geschichte von Funes weist eine ironische und damit grundlegend ambivalente Struktur auf. Die Ironie als ein Maskenspiel mit unterschiedlichen Perspektiven und Rollen manifestiert sich zunächst im Verhältnis zwischen der Erzählerfigur und dem Protagonisten. Nicht als eine Entwicklung von anfänglich distanzierter Überheblichkeit des Erzählers aus der Position abstrahierenden rationalen Denkens hin zu einer Haltung erschütterter Bewunderung 9 verhalten sich die Kritik der memoria Funes’ und quasi heiliges Staunen darüber zueinander, sondern sie sind vielmehr, in Widerspruch zur Genrefiktion der Gedenkschrift, unauflöslich miteinander verflochten. Borges beherrsche, so Henry Shapiro, „the art of keeping contradictory perspectives in mind“, wiederholt zeige sich Funes 5 Robert Folger, „The Great Chain of Memory: Borges, Funes, De Viribus Illustribus “, in: Hispanófila 135 (2002), pp. 125-136, hier p. 132; cf. u. a. auch Edmond Wright, „Jorge Luis Borges’s ‚Funes the Memorious‘: a Philosophical Narrative“, in: Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas 5/ 1 (2007), pp. 33-49. 6 Alberto Moreiras, „Circulus vitiosus deus: Borges y el fin de la memoria“, in: Siglo XX / 20th Century 9/ 1-2 (1992), pp. 111-133, hier p. 119. 7 Lachmann, „Gedächtnis und Weltverlust“, p. 500. 8 Folger, „The Great Chain of Memory“, p. 125. 9 So Lachmann, „Gedächtnis und Wertverlust“, p. 494. <?page no="105"?> 106 Martin Baumeister als „the opposite of what he is said to be“. 10 Hypermnesie und hypertrophe Wahrnehmung verweisen keineswegs nur auf lähmende chaotische Überfülle, auf Funes’ von ihm selbst als „Abfalltonne“ beschriebenes Gedächtnis, sondern bringen unerhörte poetische Bilder hervor, wie im eingangs angeführten Textausschnitt die „Transzendierung“ der Wahrnehmung dreier Weingläser auf einem Tisch sowie die kühne Verbindung von Bildern der Erinnerung an einen Sonnenaufgang mit denjenigen an die Marmorierung eines Bucheinbandes und die von einem Ruderschlag erzeugten Schaumlinien. Funes, so heißt es im ersten Satz der Erzählung, sieht eine Passionsblume, wie sie niemand gesehen hat. Es ist durchaus nicht abwegig, sich Funes als „the artist par excellence “ 11 vorzustellen. Borges, der kein Detail dem Zufall überlässt, führt ausgerechnet das Zeugnis eines Dichters, seines Zeitgenossen Ipuche, an, der Funes zum Vorläufer des Übermenschen und „Zarathustra vernacular“ deklariert habe. Der Text entzieht sich in seiner ironischen Struktur jeglicher Eindeutigkeit. Er bietet als ein beunruhigender „diálogo sobre la memoria“ 12 eben keine klare Gegenüberstellung von Funes’ fragwürdigem totalem Gedächtnis und einer aus der Erzählerperspektive vorgetragenen ‚aufgeklärten‘ Gedächtniskritik. Dieser Umstand wird verstärkt durch die jeweilige (Selbst-)Relativierung der beiden Positionen, von Erzähler und Protagonist. Jener gibt seine Mühen bei der eigenen Erinnerungsarbeit bereits in den ersten Abschnitten der Erzählung zu erkennen und verficht seine eigene Erzählweise mit dem Anspruch der „veracidad“, den fern und schwach wirkenden „estilo indirecto“ (p. 488) anstelle der vollständigen Wiedergabe, der es der Phantasie des Lesers überlässt, die Lücken des Textes zu schließen. Die Unzulänglichkeit des Gedächtnisses des Erzählers, im Kontrast zu Funes’ Übergedächtnis, wird im Text dezent markiert. 13 Funes seinerseits erntet für seine Erinnerungsarbeit nicht nur Kritik des Erzählers, sondern hinterfragt seine „Projekte“ zumindest ein Stück weit selbst. So verwirft er den Versuch, jeden von ihm gelebten Tag in 70.000, mit je einer Zahl zu versehende Erinnerungen zu zergliedern, nicht nur als unendliches, sondern auch nutzloses Unterfangen. Von ihm, nicht vom Erzähler stammt der Vergleich seines Gedächtnisses mit einer Abfalltonne. 10 Henry L. Shapiro, „Memory and Meaning: Borges and ‚Funes el memorioso‘“, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 9/ 2 (1985), pp. 257-265, hier pp. 260, 263. 11 Ibid. 12 Christina Karageorgou-Bastea, „‚Funes el memorioso‘ o de la memoria-diálogo“, in: Vanderbilt e-Journal of Luso-Hispanic Studies 3 (2006), https: / / ejournals.library.vanderbilt. edu/ index.php/ lusohispanic/ article/ view/ 3203 (18.3.2018). 13 Während der Erzähler seine erste Begegnung mit Funes auf einen unbestimmten Tag im Februar oder März des Jahres 1884 datiert, erinnert sich Funes drei Jahre später an das exakte Datum, den 7. Februar. Einmal erscheint Funes in der Erinnerung des Erzählers mit einer „pasionaria“ in der Hand, ein anderes Mal hält er eine „santonina“. <?page no="106"?> „La alta y burlona voz de Ireneo“ 107 Der Text, eine Abhandlung über Erinnerung an Erinnerung, die die Erinnerungen des Erzählers an das staunenswerte Gedächtnis von Funes behandelt, gewinnt durch ein weiteres ironisches Element an Komplexität, das auch oft zur verkürzenden Lektüre verführt: das Spiel mit Realität und Fiktion, insbesondere die Inszenierung der Erzählung als (auto-)biographischer Bericht, ebenfalls ein von Borges gerne geübtes literarisches Verfahren, das in der Erfindung des Autors als Figur seiner selbst gipfelt. 14 Nicht nur die Berufung auf reale Personen wie Borges’ Dichterkollegen Ipuche als Gewährsmann der Existenz und Bedeutung von Funes, sondern vor allem die Einbettung der Verweise in ein dichtes autobiographisches Referenzsystem suggerieren die Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit, der Erzählerfigur mit der realen Person des Autors Borges: Dies betrifft die in der Erzählung angesprochene Familie der Haedo, Verwandte Borges’ mütterlicherseits, den Ort der Ereignisse, der mit Ferienerinnerungen des jungen Jorge Luis eng verbunden ist, oder auch die Herkunft des Erzählers aus Buenos Aires. Eine biographische Lektüre der Geschichte, wie sie der mit Borges befreundete Biograph, Emir Rodríguez Monegal, propagiert, ist durchaus üblich: die Erzählung als „un autoportrait, une image de lui-même en homme immobilisé par la mémoire et l’insomnie vivant dans un monde qui est atrocement lucide, passif, marginal.“ 15 Die legendären mnemotischen Fähigkeiten Borges’, anhaltende Phasen der Schlaflosigkeit, ein schwerer Sturz im Jahre 1938, der eine neue Phase in seinem schriftstellerischen Schaffen markiert, das Übereinstimmen von realem und fiktivem Zeitpunkt der Niederschrift des Textes - all dies sind Punkte, die die Erzählung und ihre Thematik mit Borges’ eigener Person, seiner Arbeit und seinem Selbstverständnis als Autor verbinden. Der Leser wird dabei durch Punkte wie das Auseinanderklaffen von erzählter Zeit - die 1880er Jahre vor der Geburt Borges’ - und Lebenszeit des Autors verunsichert. Entscheidend ist letztlich jedoch, dass die autobiographische Fiktion Erzähler wie Protagonisten gleichermaßen mit Zügen des Autors ausstattet: Borges ist yo ist Funes. Die sich der Eindeutigkeit entziehenden Maskeraden des Autors sind kein pures intellektuelles Spiel oder ästhetischer Selbstzweck. Sie finden einen wichtigen Bezugspunkt im Spannungsverhältnis zwischen Marginalität und Zentralität, dessen Bedeutung für das literarisch-politische Selbstverständnis von Borges Beatriz Sarlo betont hat. Entscheidend für Borges als argentinischen Autor sei die Frage, wie man sich als Schriftsteller aus einer kulturell peripheren Nation zur westlichen Welt, zur westlichen Literatur verhalten müsse, wie das 14 Cf. den in der 1960 erschienenen Sammlung El hacedor veröffentlichten Text „Borges y yo“, in: Obras completas , vol. II: 1952-1972, p. 186. 15 Emir Rodríguez Monegal, Jorge Luis Borges. Une biographie littéraire , Paris: Gallimard 1983, p. 445. <?page no="107"?> 108 Martin Baumeister Schreiben möglich sei in einem Land am Rande des Westens mit einer Bevölkerung aus Einwanderern, in einer Küstenstadt, Buenos Aires, die zur modernen Metropole wird, umgeben von einer sich ins Unermessliche ausdehnenden ländlichen Welt, deren „cultura criolla“ sich unter dem Ansturm der Modernisierung auflöst und sich dabei in einen Intellektuellenmythos verwandelt. Borges als zugleich kosmopolitischer und nationaler Schriftsteller „[h]ace del margen una estética“; als „escritor de ‚las orillas‘“ sei er „un marginal en el centro, un cosmopolita en los márgenes“. 16 In ihrer eigenen Interpretation von „Funes el memorioso“ 17 spielt die von ihr umrissene Spannung zwischen Marginalität und Zentralität allerdings keine Rolle, obwohl sich diese auch unmittelbar aus der Erzählung heraus lesen lässt: insbesondere im Wechselspiel zwischen dem Erzähler aus der Stadt - der auf seine jugendlichen Eitelkeiten, sei es bei seinen Bildungsambitionen, sei es bei seinem Geltungsbedürfnis, das die Angst über den erkrankten Vater überspielt, zurückblickt - und dem Autodidakten Funes aus der Vorstadt, der sich in seinem Bittbrief an den Erzähler einer manierierten Rhetorik statt des vulgären Argots der compadritos bedient und mit einer gewissen Ressentiment geladenen Ironie auftritt. 18 Die quasi übernatürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Funes, des „solitario y lúcido espectador de un mundo multiforme, instantáneo y casi intolerablemente preciso“, werden explizit auf seine marginale Position bezogen: „Babilonia, Londres y Nueva York han abrumado con feroz esplendor la imaginación de los hombres; nadie, en sus torres populosas o en sus avenidas urgentes, ha sentido el calor y la presión de una realidad tan infatigable como la que día y noche convergía sobre el infeliz Ireneo, en su pobre arrabal sudamericano.“ (p. 490) Die Spannung zwischen Rand und Metropole, wie sie in der Erzählung von Funes aufleuchtet, wird in einem knapp zehn Jahre später, 1951, während der von Borges zutiefst abgelehnten Diktatur Juan Peróns abgehaltenen Vortrag zum Thema „El escritor argentino y la tradición“ 19 variiert, die einen Schlüssel zum Verständnis von „Funes“ bietet. Gegenstand des Vortrags ist die grundsätzliche Kritik eines nationalistisch-partikularistisch verengten „localismo“ und „nativismo“ der argentinischen, letztlich überhaupt lateinamerikanischen Literatur - eine Kritik, die auch im Spiel mit der Genrefiktion der Gedenkschrift in 16 Beatriz Sarlo, Borges, un escritor en las orillas , Buenos Aires: Ariel 1995, pp. 12, 14, 16. 17 Ibid., pp. 73-81. 18 Bei der ersten Erinnerung des Erzählers ist die Rede von der „voz resentida“ von Funes, bei der ersten Begegnung wird von seiner „voz burlona“ berichtet, beim letzten Treffen der beiden vernimmt der Erzähler als erstes „la alta y burlona voz de Ireneo“ (pp. 485- 487). 19 In: Obras completas , vol. I: 1923-1949, pp. 267-274 (die irreführende zeitliche Zuordnung in den Obras completas geht auf eine Neuausgabe des in Erstauflage 1932 publizierten Essaybandes Discusión zurück, in die der Vortrag aufgenommen wurde). <?page no="108"?> „La alta y burlona voz de Ireneo“ 109 der Erzählung von Funes, insbesondere in ironischen Seitenhieben des Erzählers auf uruguayischen Lokal- und Nationalstolz, zum Tragen kommt. In seinem entschiedenen Plädoyer für eine Entprovinzialisierung der argentinischen Literatur nimmt Borges als „argentinische Tradition“ die gesamte westliche Tradition in Anspruch, auf die die Argentinier ein größeres Anrecht hätten als die Angehörigen dieser oder jener westlichen Nation. Analog zur Position von Juden und Iren, die sich innerhalb einer Kultur bewegten, ohne in besonderer Weise daran gebunden zu sein - so Borges mit Verweis auf ein durchaus zwiespältiges Argument von Thorstein Veblen - könnten die Argentinier, und in Erweiterung die Südamerikaner, mit dem westlichen Erbe in Freiheit und mit besonderer Innovationskraft umgehen: „podemos manejar todos los temas europeos, manejarlos sin supersticiones, con una irreverencia que puede tener, y ya tiene, consecuencias afortunadas.“ 20 In der Erzählung von Funes betreibt Borges ein solch freies respektloses Spiel, indem er sich im Dialog der Erzähler-Maske mit der „alta y burlona voz“ des Ireneo der Ironie als Mittel einer alle Eindeutigkeiten und Gewissheiten unterlaufenden ‚Dezentrierung‘ bedient. 20 Ibid., p. 273. <?page no="110"?> Tell it like Snoopy 111 Tell it like Snoopy, oder: Der Beagle als Mönch Albert Meier Era una bella mattina di fine novembre. Umberto Eco, Il nome della rosa (1980), Kap. 1 1 Der Satz, mit dem der einstige Novize Adso im hohen Alter seinen Bericht von Bluttaten eröffnet, deren Aufklärung 1327 die Zerstörung einer ungenannt bleibenden Abtei herbeigeführt hat, gibt sich in der Selbstverständlichkeit des Indikativs entschieden prämodern. Auf Roland Barthes’ Frage „Qui parle ainsi? “ 2 wüssten die Leser jedenfalls leicht eine bündige Antwort zu geben: Es spricht der Augenzeuge, der am Ende eines langen Lebens die seinerzeitigen Ereignisse rekapituliert und insofern autorisiert ist, die Sachverhalte nicht bloß zu datieren, sondern sie auch noch meteorologisch zu kommentieren. Von Paul Valérys angeblicher Weigerung, weiterhin Sätze à la Balzac wie „La marquise sortit à cinq heures“ aufs Papier zu bringen, 3 braucht ein im späten 14. Jahrhundert schreibender Mönch nichts zu wissen, und Adso darf in der Tat noch unbeirrt davon ausgehen, dass Gegebenheiten der Lebenswelt im Medium der Sprache gültig zu erfassen bzw. zu repräsentieren sind. 1980, d. h. im Bewusstsein der postmodernen Dekonstruktion sprachlicher Referenzialität, muss ein solches Vertrauen jedoch peinlich naiv wirken, wie Umberto Eco im Kapitel „La maschera“ seiner Postille a „Il nome della rosa“ (1984) eingesteht: „Si può dire ‚Era una bella mattina di fine novembre‘ senza sentirsi Snoopy? “ 4 An dieser Stelle kommt eine intertextuelle Dynamik zum Tragen, die Umberto Ecos Überlegung zum eigenen Schreiben zunächst mit Italo Calvinos Se 1 Milano: Bompiani 1980, p. 29. 2 Roland Barthes, „La mort de l’auteur“, in: Id., Œuvres complètes III: 1968-1971 , ed. Éric Marty, Paris: Seuil 2002, pp. 40-45, hier p. 40. 3 „Par besoin d’épuration, M. Paul Valéry proposait dernièrement de réunir en anthologie un aussi grand nombre que possible de débuts de romans, de l’insanité desquels il attendait beaucoup. Les auteurs les plus fameux seraient mis à contribution. Une telle idée fait encore honneur à Paul Valéry qui, naguère, à propos des romans, m’assurait qu’en ce qui le concerne, il se refuserait toujours à écrire: La marquise sortit à cinq heures . Mais a-t-il tenu parole? “ (André Breton, „Manifeste du Surréalisme“, in: Id., Œuvres complètes I , ed. Marguerite Bonnet, Paris: Gallimard 1988 [Bibliothèque de la Pléiade], pp. 309-346, hier pp. 313-314). 4 Umberto Eco, Postille a „ Il nome della rosa “, Milano: Bompiani 1984, p. 15. <?page no="111"?> 112 Albert Meier una notte d’inverno un viaggiatore (1979) verbindet. In diesem vielleicht ersten gewollt ‚postmodernen‘ Roman italienischer Sprache 5 erwähnt der als Erzähler agierende Leser ein Poster, das seinem Tisch gegenüber an der Wand hängt: „C’è il cagnolino Snoopy seduto di fronte alla macchina da scrivere e nel fumetto si legge la frase: ‚Era una notte buia e tempestosa…‘“. Calvinos Erzähler erkennt in der „impersonalità di quell’ incipit “ die Kraft, den Übergang von der einen Welt in die andere herbeizuführen („dal tempo e spazio di qui e ora al tempo e spazio della pagina scritta“), und macht sich klar, „che non c’è niente di meglio d’un apertura convenzionale, un attacco da cui ci si può aspettare tutto e niente“; zugleich ist er sich freilich bewusst, „che quel cane mitomane non riuscirà mai ad aggiungere alle prime sei parole altre sei o altre dodici senza rompere l’incanto“ 6 . Ob Umberto Eco erst durch Italo Calvinos Roman auf Snoopys Autorschaft aufmerksam geworden ist oder ob Calvinos Erwähnung selbst wiederum auf vorangegangenen Gesprächen mit dem gut befreundeten Eco beruht haben mag, entzieht sich der Entscheidung. Von Belang ist nur, dass Charles M. Schulz’ Peanuts -Beagle sich tatsächlich vielfach als Schriftsteller versucht, in der Regel aber nicht über die erste Zeile hinausgelangt: ‚It was a dark and stormy night‘. Gerade deshalb sind Ecos Überlegungen zum Verfassen seines Kloster-Kriminalromans in der ‚Maske‘ eines prä-poststrukturalistischen Mönchs 7 freilich ungerecht, da sie Snoopys nur scheinbar triviale écriture bei weitem unter Wert zitieren. Dass der Comic-Hund auf seine Art eben doch ein durchaus raffinierter, weil reflektierter Schreiber ist, zeigen nicht bloß die gelegentlichen Versuche, den Satz zu variieren oder anzureichern; weit wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass Snoopy wie jeder scripteur im weiten Horizont der Literaturgeschichte schreibt und ‚It was a dark and stormy night‘ infolgedessen kein unschuldiger, unberührter Erzähleinsatz ist. Bekanntlich beginnt bereits Edward Bulwer Lyttons Roman Paul Clifford (1830) 8 mit genau den gleichen Worten, die zuvor 5 Umberto Eco hat Se una notte d’inverno als „uno dei libri più belli“ seines Freundes Calvino gerühmt (Umberto Eco, Sei passeggiate nei boschi narrativi , Milano: Bompiani 1994, p. 1). 6 Italo Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore , Torino: Einaudi 1979, p. 176. - Calvinos ‚lettore‘ ist im Übrigen schlecht informiert, da Snoopy seinen Roman durchaus abgeschlossen und bei Hodder and Stoughton mit Sitz in London, Sydney, Auckland und Toronto erfolgreich publiziert hat; Part I/ II umfassen im Druck allerdings nur eineinhalb Seiten (cf. Charles M. Schulz, Snoopy and „It Was a Dark and Stormy Night “ , London et al.: Hodder and Stoughton 1971, s.p.). - Cf. Ronald B. Richardson, The World’s Shortest Novel? : Snoopy’s „ It was a Dark and Stormy Night “, http: / / ronaldbrichardson.com/ metafiction/ the-worlds-shortest-novel-snoopys-it-was-a-dark-and-stormy-night/ (9.3.2018). 7 „Se cioè‚ era una bella mattina … ‘ lo avesse detto qualcuno che era autorizzato a dirlo, perché così si poteva fare ai suoi tempi? Una maschera, ecco cosa mi occoreva“ (Eco, Postille , p. 15). 8 „It was dark and stormy night, the rain fell in torrents - […]“ (Edward Bulwer Lytton, Paul Clifford , vol I., London: Henry Colburn and Richard Bentley 1830, ch. I, p. 1). <?page no="112"?> Tell it like Snoopy 113 schon in Washington Irvings A History of New York (1809) 9 vorkommen und ihre prominenteste Version wohl in Alexandre Dumas’ Les trois mousquetaires (1844) gefunden haben: „C’était une nuit orageuse et sombre …“ 10 ; die deutschsprachige Literatur kennt diesen Satz etwa aus dem Beginn von Wilhelm Raabes Die schwarze Galeere (1861). 11 Charles M. Schulz muss aber gar nicht bei den großen Klassikern auf das längst vieldiskutierte incipit aufmerksam geworden sein, sondern hat dessen dann an Snoopy weitergegebene Bekanntschaft z. B. auch bei Madeleine L’Engles science fantasy -Jugendroman A Wrinkle in Time (1962) 12 machen können, bevor die Phrase dank der Peanuts schließlich auf wiederum vielerlei Wegen dauerhaft in die Pop-Kultur eingegangen ist. 13 Insofern verhilft Snoopy ein weiteres Mal der fundamentalpoetologischen Einsicht zu ihrem Recht, die Ecos Postille in aller Klarheit benennt: „i libri parlano sempre di altri libri e ogni storia racconta una storia già raccontata. Lo sapeva Omero, lo sapeva Ariosto, per non dire di Rabelais o di Cervantes“. 14 Ob sich der Autor dieser Tatsache auch bewusst ist, braucht zumindest bei einem Beagle keine Rolle zu spielen. Oder richtiger gesagt: Weit ungebrochener als etwa Umberto Eco darf Snoopy als genuin postmoderner Schriftsteller gelten, weil er - mutmaßlich konkurrenzlos - ein tatsächlich ‚toter‘ Autor im Sinne von Roland Barthes ist, dessen Werk der Klappentext zur Erstausgabe 1971 dementsprechend mit bestem Recht als „remindful of many works“ charakterisiert: 15 Sein unbewusstes Schreiben, das im potenzierten Zitat geschieht, leistet buchstäblich eine „destruction de toute voix, de toute origine“ 16 , da es als ‚Text‘ (‚Gewebe‘) keinerlei Anspruch erhebt, einen „sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le ‚message‘ de l’Auteur-Dieu)“ hervorzubringen; 9 Cf. A History of New York, From the Beginning of the World to the End of the Dutch Dynasty. By Diedrich Knickerbocker , vol. II, New York: Inskeep & Bradford 1809, p. 224. 10 Alexandre Dumas, Les trois mousquetaires, Paris: Gallimard 1962 (Bibliothèque de la Pléiade), ch. LXV: „Le jugement“, p. 678. 11 „Es war eine dunkle, stürmische Nacht, in den ersten Tagen des Novembers, im Jahre 1599, als […]“ (Wilhelm Raabe, Die schwarze Galeere. Geschichtliche Erzählung , in: Wilhelm Raabe, Erzählungen , ed. Karl Hoppe, München: Winkler 1963, pp. 5-57, hier p. 7). 12 „It was a dark and stormy night. In her attic bedroom Margaret Murry, wrapped in an old patchwork quilt, sat on the foot of her bed and watched the trees tossing in the frenzied lashing of the wind. Behind the trees clouds scudded frantically across the sky. Every few moments the moon ripped through them, creating wraithlike shadows that raced along the ground“ (Madeleine L’Engle, A Wrinkle in Time , New York: Farrar, Straus, and Giroux 1962, p. 7). 13 Vgl. den einschlägigen, allerdings zwangsläufig nicht lückenlosen Wikipedia-Artikel: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ It_was_a_dark_and_stormy_night (9.3.2018). 14 Eco, Postille , p. 15. 15 Cf. Schulz, Snoopy and „It Was a Dark and Stormy Night“ , s.p. 16 Barthes, La mort de l’auteur , p. 40. <?page no="113"?> 114 Albert Meier Snoopys Roman-Einstieg gibt sich vielmehr damit zufrieden, als „tissu de citations, issues des mille foyers de la culture“, einen „espace à dimensions multiples“ zu konstituieren, „où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle“ 17 . In signifikantem Gegensatz zu Snoopy verwickelt sich das ‚Ich‘ der auf den 5. Januar 1980 datierten Vorbemerkung zu Il nome della rosa („Naturalmente, un manoscritto“) 18 in den logisch-poetologischen Widerspruch, einerseits den ‚Tod eines Autors‘ (den verlorenen ‚Ursprung‘ des Textes) zu erzählen 19 und andererseits eben dadurch seine Auferstehung als neuer ‚Autor‘ zu erfahren, der sich gerade nicht im multiplen Text verliert, sondern genau das zu schreiben weiß, was er sagen will. 20 Dass Snoopy folglich nicht dazu taugt, den vormodernen Autor zu repräsentieren, der sprachliche Zeichen unbedarft - frei von jeglichem différance -Bewusstein - beim Wort nimmt, um seinen ‚mondo narrativo‘ 21 daraus zu konstruieren, müsste Umberto Eco deutlich gewesen sein. Sobald Jacques Derridas Weltformel „Il n’y a pas de hors-texte“ 22 gilt, kann nicht einmal Snoopy im Text-Abseits stehen, sondern spielt in gleicher Weise das ‚jeu des différences‘ mit wie jeder andere écrivain oder scripteur. Umberto Ecos eigenes intertextuelles Spiel, das der Snoopy-Allusion zugrunde liegt, lässt sich folglich getrost in seiner objektiven Ironie durchschauen, wie immer sie der ‚autore empirico‘ der Postille intendiert haben mag oder nicht. 23 Der erste Satz in Adsos Narration besitzt mithin gar nicht die indikativische Qualität, die Ecos Postille ihm unterstellt, sondern ist als durch und durch différance -getränkt zu lesen. Dass das allein im Horizont der Dekonstruktion möglich ist, stellt Snoopys vorgängiges Schreiben außer allen Zweifel. 17 Ibid., p. 43. 18 Burkhart Kroebers mit einem hinzuerfundenen Adjektiv angereicherte Übersetzung „Natürlich, eine alte Handschrift“ verfehlt - poststrukturalistisch unbeleckt - den Nebensinn des italienischen Originals, der den Roman doch so genau charakterisiert: ‚Seinem Wesen nach: ein Manuskript‘ (cf. Umberto Eco, Der Name der Rose , tr. Burkhart Kroeber, München/ Wien: Hanser 1982, p. 5). 19 „E non mi rimanevano che le mie note, delle quali cominciavo ormai a dubitare“ (Eco, Il nome della rosa , p. 12). 20 Cf. Albert Meier, „ Irony Is Over. Der Verzicht auf Selbstreferenzialität in der neuesten Prosa “, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen , ed. Heinrich Detering, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XXIV), pp. 570-581, speziell p. 570. 21 Cf. Umberto Eco, I limiti dell’interpretazione , Milano: Bompiani 1990, p. 193. 22 Jacques Derrida, De la grammatologie , Paris: Minuit 1967, p. 227. 23 Cf. Ecos distanzierenden Kommentar zur weitläufigen Einfluss-Forschung hinsichtlich seiner Romane: „Comunque, io non sono responsabile di questa allusione. Ma cosa significa ‚io‘? La mia personalità cosciente? Il mio Es? Il gioco che la lingua (nel senso della langue saussuriana) eseguiva usandomi come tramite? Il testo è lì“ (Eco, I limiti dell’interpretazione , p. 120). <?page no="114"?> La abertura en el techo 115 La abertura en el techo. Reflexiones sobre dos insertos complementarios en Habana Blues de Benito Zambrano David Klein Fig. 1/ 2: Habana Blues (2005) 1 1 Los dos insertos de un techo agotado de un teatro en La Habana aparecen fortuitamente en Benito Zambranos Habana Blues (España/ Cuba 2005). Para el argumento, el conflicto central, y la caracterización de los personajes son de mínima importancia. No obstante, todo lo que rige el universo ficcional de Habana Blues , su ritmo y su armonía, se ve resumido de una manera muy elegante por este techo -illuminado la primera vez, a oscuras la segunda. Por lo tanto, los dos insertos son punto de fuga de la pelicula en cuestión y, al mismo tiempo, punto de partida de este comentario sobre Habana Blues . El argumento de la obra maestra de Benito Zambrano gira en torno a la vida de Ruy, un músico habanero, llamado El Mulato por sus amigos. Junto con su colega y amigo Tito, Ruy sueña con tener mucho éxito. La primera escena muestra a estos dos y su grupo grabando una maqueta en un piso privado convertido provisionalmente en estudio de grabación. “Falta dinero, mi negra, el Rock’n Roll está muy caro” -canta Ruy, no por casualidad. 2 La vida en La Habana es dura, no solo para los músicos. La mujer de Ruy, Caridad, también está luchando, porque tiene que dar de comer no solo a los niños, sino también al marido, que no gana lo suficiente con su música. Y en 1 Habana Blues, España/ Cuba 2005, dir. Benito Zambrano, DVD, 00: 11: 20 / 01: 46: 05. 2 Ibid., 00: 04: 30. <?page no="115"?> 116 David Klein la cama tampoco hay grandes alegrías, porque Ruy ha trasladado su vida sexual del matrimonio al ambiente artístico, donde vive bajo el lema de que Cuba no es el único país del mundo, “pero es donde lo mejor te lo has pasado” 3 . No comparte esta opinión Caridad. Y cuando su madre, que vive en Florida, es abandonada por su marido, Caridad no ve más opción que contratar a un traficante para llevarla a ella y a los niños a los Estados Unidos. Para Ruy, en cambio, la puerta de salida de la pobreza no se abre hacia los Estados Unidos, sino, como parece al principio, hacia Europa. Dos productores españoles de música, a quienes se los ganan Ruy y Tito según todas las reglas del oficio, deciden contratarlos. El premio gordo: un disco, una gira por toda Europa, y vivir seis meses a pata ancha. Pero hay un inconveniente grave: Vista desde España y los Estados Unidos, Cuba tiene otra cara, y esa visión europea, así lo exige la casa productora, impone una condición en el contrato: Ruy y sus músicos tienen que hacerse pasar por opositores al régimen, exilados y perseguidos. Esto aumentaría las ventas, aunque las condiciones económicas del contrato son muy desfavorables para los músicos. Desde la perspectiva cubana, esta jugada de relaciones públicas significaría que para los músicos, incluso para Ruy, la vuelta a Cuba le quedaría vedada para siempre. Para tener éxito como artista, es decir, para vivir bien, Ruy tendría que dejar su patria para siempre, el lugar donde, según sus propias palabras, ya se vive mejor. Al principio, Ruy parece vacilar, pero después de un enfrentamiento fuerte con los productores y con los músicos, tira el contrato y decide quedarse en La Habana . A pesar de que se reconcilia con su grupo, y a pesar de que todavía hay bastante amor entre él y su mujer, Ruy, al final y contra lo que era de esperar, se queda. Por un momento, parece como si hubiera sido incapaz de aprovechar la oportunidad de su vida y lo hubiera perdido todo. Al mismo tiempo, la película no deja ninguna duda de que a Ruy todavía le queda lo mejor, en concreto la ciudad de La Habana, que en el enfoque de la escena final, parece acogerle y tragárselo para siempre. La Habana es la protagonista secreta de esta obra alegre y, al mismo tiempo, tristísima, en la que los personajes no pueden evitar interpretar cada opción de la vida bajo la luz de la problemática polifacética de su país, aunque no lo quieran: “No te dejan levantar cabeza” 4 , se queja Caridad sobre las autoridades. “Qué cojones saben ellos” 5 , son las palabras de Tito en el mismo contexto. Al mismo tiempo y a pesar de tantos intentos de salir de la vida anterior, queda clara otra cosa, pocas veces retratada de manera tan precisa en una obra 3 Ibid., 00: 06: 40. 4 Ibid., 00: 17: 40. 5 Ibid., 00: 10: 40. <?page no="116"?> La abertura en el techo 117 de cine: que cada decisión contra la vida anterior, cada intento de mejorar o renovar ésta, hacen visible lo que se está perdiendo en el mismo momento, y que en este momento, en el que aparece algo nuevo o algo mejor en el horizonte, una efímera impresión de la vida anterior se desliza secreta y rápidamente, y a ti, al no ser capaz de atraparla, te hace saber que esa vida anterior y ya perdida no fue la peor de las vidas, por el simple hecho de ser la vida que se conocía. Lo que se podría llamar nostalgia -no sin regusto, porque el término no es adecuado-, en Zambrano es Blues . Y este Blues mece a los personajes, a cada uno a su modo, a veces inclinándose hacia la frustración, y muchas veces hacia la alegría, la satisfacción y el placer. Así, el conflicto central entre arte y negocio no solo es presentado como un problema, sino que tambien se presenta una solución a favor del arte de manera muy encantadora, y al mismo tiempo con un toque de ironía. En la última cena con los amigos de Ruy y Caridad tiene lugar el monólogo más memorable y encantador de toda la película. Confrontada con la idea de que a veces un artista tiene que hacer compromisos graves para sobrevivir económicamente -“ Business es business […] el artista puro ha muerto” 6 - una de las invitadas reafirma antes hacerse “jinetera” que ver a su marido-poeta renunciar a sus libros y revistas inútiles -“jinetera ilustrada por favor”-. 7 Arte puro por un lado, business es business por otro. La decisión de Ruy de quedarse en La Habana nos puede hacer pensar que está a favor del arte puro . Sin embargo, el arte puro es tan problemático como el contrato de los españoles. Esto se ve en el contexto del último concierto que Ruy y su grupo dan en un teatro venido a menos, el mismo teatro del techo deteriorado. Para Ruy, este concierto lo es todo; y el primer inserto que vemos durante la primera visita al teatro al principio de la película, nos deja saber que el concierto significa mucho más que solo atraer público. El agujero en el techo visto durante el día nos recuerda sin duda el trompe-l’œil de las iglesias barrocas, y para nosotros, los filólogos, es simplemente imposible no ubicar esta sala y el concierto en el contexto religioso de la redención. Pero, al mismo tiempo y comparado con las otras imágenes y la estética visual de la película, este enfoque del agujero parece exagerado y hasta un poco irónico. ¿La redención que no lo es? De hecho, el agujero aparece otra vez al final de la película, y esta vez no señala hacia el reino de los cielos, tampoco señala hacia el infierno, sino hacia la escena anteriormente intercalada, el embarco nocturno de Caridad y los niños: el agua oscura solo iluminada por la luna, la despedida 6 Ibid., 00: 58: 10. 7 Ibid., 00: 58: 55. <?page no="117"?> 118 David Klein para siempre, la vida conocida cambiada por un futuro mejor y al mismo tiempo tanto peor, el otro lado de la mejora en su forma más cruel. 8 La luz, así sería la interpretación fácil, se cambia por la oscuridad. Y, de hecho, la película termina aquí. Hay una dedicatoria a La Habana y empiezan los créditos. Pero sigue una coda: como si el argumento sobreviviese a la película, de repente todos están en el teatro, el concierto sigue y Ruy y Tito cantan sobre el amor y una amistad que trasciende las naciones e ideologías. Después de esta canción, la película termina de nuevo, solo para añadir otra coda, en la que Ruy, por fin, desaparece por las calles de La Habana. Esta última escena cambia el orden de las cosas o por lo menos lo relativiza: porque esta vez, no es la mejora, sino la vida diaria, que se ve contrastada con la nostalgia por la vida anterior, la que se desliza en forma del coche de Tito, que antes servía como vehículo del grupo y ahora sirve como taxi para turistas, con todo su aspecto nostálgico. Ruy se queda en Cuba, sin contrato, sin hijos, y lo único que le queda es la mirada nostálgica hacia atrás. Lo que deja un poco desilusionado al espectador, al mismo tiempo le da la satisfacción y el placer de no haber previsto este fin. Es decir, esta opción parece la peor para el protagonista y, al mismo tiempo, estética y artísticamente, la mejor. 8 Ibid., 01: 44: 20 - 01: 45: 30. <?page no="118"?> La abertura en el techo 119 ¡Cuánto cuento! Von Hexen, Monstern und fake news Ulrich Detges Cuánto cuento [1] Érase una vez un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido. Se llamaba Garrzón, y con sus actuaciones tenía atemorizada a la gente más buena de un país muy bonito llamado Ehpaña. Esas bondadosas personas habitaban todas en la región Amnesia Bendita, que últimamente se les estaba poniendo perdida de agujeros, debido a que el [5] dragón Garrzón usaba hollar con sus garras las calles de la ciudad, ahondando en los socavones urbanos en busca del pasado. Al dragón le acompañaba siempre en sus incursiones la pérfida bruja Memo Riaistórica, un pozo sin fondo de rencor cuyo único objetivo era sembrar el enfrentamiento y la discordia en el reino. Tampoco en el campo se veían tranquilos estos sencillos ciudadanos. Cuando salían a cazar pacíficamente [10] jabalíes y cosas así, los antaño calmos montes, tan bucólicos -con sus fosas, comúnmente denominadas comunes, cubiertas de hierbas-, presentaban un aspecto amenazador. Los afligidos súbditos no sabían qué hacer ni a quién acudir, y le rezaban a san Augusto Pinochet. ¿Habría algún guerrero lo bastante valeroso para oponerse al vil [15] dragón Garrzón? ¿Podría un mercenario enfrentarse a la furia de la Bestia y de su cómplice, la Bruja? Sufrían mucho, los pobrecillos, y, por las noches, en sueños, veían un hueso por aquí, una calavera por allá, y se llevaban tremendos sustos. Habían perdido toda esperanza cuando, en el horizonte, cara al sol e impasible el ademán, aparecieron un grupo de héroes y heroínas legendarios: el justiciero Man O’Slimpias, las hermanas [20] Liberty e Identity, y el prestigioso Falan Gespa Ñola. Mas no iban solos. Tras ellos caminaban airosamente Mary Provida, Mary Demagogia y el señor Odios, que también puede pronunciarse Ohdiós. Las afligidas almas respiraron con satisfacción. Ahora sólo tenían que hallar, en la Justicia, a implacables justicieros como ellos. Lo más triste es que los encontraron. Maruja Torres, „Cuánto cuento“ (2010) 1 1 In: El País (11.02.2010), online unter: https: / / elpais.com/ diario/ 2010/ 02/ 11/ ultima/ 1265- 842801_850215.html (01.04.2018). 1 5 10 15 20 <?page no="119"?> 120 Ulrich Detges Bei dem Text, der Thema dieses kleinen Beitrags ist, handelt es sich um einen politischen Kommentar der Autorin und Journalistin Maruja Torres. Eine Druckversion erschien zunächst in der spanischen Tageszeitung El País von Donnerstag, dem 11. Februar 2010, doch kann der Text noch heute an verschiedenen Stellen des Internets aufgerufen werden. Dies liegt nicht allein daran, dass die Themen, die hier behandelt werden - die Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur und die Absetzung des Richters Baltasar Garzón - weiterhin nachwirken. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt sicher auch der Umstand, dass dieser Text sein Thema in einer außergewöhnlichen Weise angeht. Gegenüber anderen Textsorten, die wir üblicherweise mit dem Medium Zeitung verbinden, zeichnet sich die Diskurstradition ‚Kommentar‘ durch ein ungewöhnlich hohes Maß an stilistischer Freiheit aus. Kommentare sind argumentative Texte, in denen Journalisten, Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens dem Leser ihren Standpunkt zu irgendeiner Frage von überindividuellem Belang darlegen. Wichtig ist dabei nur, dass dies in einer Form geschieht, die nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern auch ansprechend und unterhaltend ist. Im vorliegenden Text wird dieses Problem dadurch gelöst, dass die Ereignisse, die hier kommentiert werden sollen, in der Form eines Märchens nacherzählt - vielleicht sogar neu erzählt - werden. I. Der politische Kontext Thema des Kommentars sind die Ereignisse um den prominenten Richter Baltasar Garzón 2 , der im Jahre 1998 internationale Bekanntheit dadurch erlangt hatte, dass er einen Haftbefehl gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet erwirkte. In Spanien selbst tat sich Garzón zunächst durch seine Ermittlungen gegen die so genannten Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) hervor, die in den 1980er Jahren mit Wissen der Regierung nahezu dreißig Morde an mutmaßlichen ETA-Mitgliedern verübt hatten. Im Februar 2009 eröffnete er eine Untersuchung wegen Korruptionsverdachts gegen mehrere hochrangige Mitglieder des seit November 2011 regierenden Partido Popular (PP). Diese Affäre fand unter dem Namen caso Gürtel ein außerordentliches Echo in den Medien und hatte starke Auswirkungen auf die spanische Tagespolitik. Da Garzón kurz vor Eröffnung der Ermittlungen einen gemeinsamen Jagdausflug mit dem sozialistischen Justizminister Mariano Fernández Bermejo unternommen hatte, wurde ihm vorgeworfen, einer politischen Kampagne gegen den PP Vorschub 2 „Baltasar Garzón“, in: Wikipedia , https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Baltasar_Garz%C3%B3n, zuletzt bearbeitet am 06.06.2017 um 07: 11 Uhr (09.10.2017). <?page no="120"?> zu leisten. Aufgrund der öffentlichen Kritik musste Fernández Bermejo wenige Tage nach dem Jagdausflug von seinem Amt zurücktreten. Hintergrund der Ereignisse, die der vorliegende Text kommentiert, ist ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Garzón im September 2008 gegen zahlreiche hohe Entscheidungsträger des Franco-Regimes (einschließlich des Diktators selbst) eröffnet hatte. Juristische Grundlage des Verfahrens war die Ley de Memoria Histórica vom 31. Oktober 2007. Ein starkes, aber kontroverses Medienecho fand dabei insbesondere Garzóns Anordnung, neunzehn Massengräber zu öffnen, darunter auch das mutmaßliche Grab des Dichters Federico García Lorca. Diese Maßnahme, durch welche die Todesumstände von mehr als 113.000 während der Diktatur Verschwundenen geklärt werden sollten, wurde jedoch von der Audiencia Nacional gestoppt. Dennoch erhob die rechtsextreme Beamtengewerkschaft Manos Limpias Klage gegen Garzón wegen Rechtsbeugung, da dieser mit seinen Ermittlungen bewusst gegen das Amnestiegesetz von 1977 verstoßen habe, das Vertretern des Franco-Regimes Straffreiheit zusicherte. Dieser Klage schlossen sich später auch die rechtsextreme Vereinigung Libertad e Identidad sowie die Falange Española an, eine kleine, rechtsradikale Splitterpartei, die den Namen der ehemaligen Staatspartei weiterführt. Anfang April 2010 wurde in dieser Sache die Einleitung des Hauptverfahrens gegen Garzón beschlossen. Nachdem bekannt geworden war, dass im Zuge der Ermittlungen im caso Gürtel Gespräche zwischen Verdächtigen und ihren Anwälten illegal abgehört worden waren, war bereits Ende Februar 2010 beim Obersten Gerichtshof eine erste Klage gegen Garzón zugelassen worden. Zwar gelten seit einer Gesetzesreform solche Abhörpraktiken inzwischen als zulässig, doch wurde Garzón am 14. Mai 2010 aufgrund der gegen ihn laufenden Verfahren von seinem Amt als Richter suspendiert. Am 9. Februar 2012 verhängte der Senat des obersten Gerichts ein elfjähriges Berufsverbot. Die Art und Weise der Durchführung der Verfahren gegen Garzón erweckten bei spanischen wie bei internationalen Beobachtern den Eindruck, hier habe ein politisch unbequemer Beamter unter einem Vorwand mundtot gemacht werden sollen. Bei der spanischen Rechten - der PP eingeschlossen - ist Garzón bis heute dagegen eine persona non grata. 3 Die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter der Franco-Diktatur ist nach wie vor ein weithin tabuisiertes Thema. Die Veröffentlichung des oben abgedruckten Kommentars Mitte Februar 2011 fällt also in eine Phase, in der sich abzeichnete, dass die Verfahren gegen Garzón 3 Cf. Hans-Günter Kellner, „Balthasar Garzón: früher Ermittler, heute Rechtsanwalt: Der Spanier vertritt WikiLeaks-Gründer Julian Assange“, in: Deutschlandfunk , Sendung vom 06.09.2012, www.deutschlandfunk.de/ balthasar-garzon-frueher-ermittler-heute-rechtsanwalt.795.de.html? dram: article_id=219002 (09.10.2017). ¡Cuánto cuento! 121 <?page no="121"?> 122 Ulrich Detges möglicherweise Erfolg haben würden - für viele Beobachter zunächst eine überraschende Wendung. II. Der Text als Märchen Dass hier - zumindest oberflächlich - die Textsorte Märchen intendiert ist, wird durch viele sprachliche Marker angezeigt. Eröffnet wird der Text durch die Formel „érase una vez“. Grammatisch betrachtet handelt es sich hier um eine Präsentativ- oder Existenzialkonstruktion, wie man sie in Texteröffnungen häufig findet. 4 Wehr spricht in solchen Fällen von „Topik-Introduktion“ 5 . Diese Denomination hebt darauf ab, dass hier ein Diskurstopic - in unserem Fall das Thema des Textes, der böse Drachen Garrzón - etabliert wird. In der Konstruktion selbst besitzt die betreffende Information jedoch gar keinen Topik-Status, sondern hat fokalen Status. Es handelt es sich genau genommen sogar um einen Aussagesatz ohne Topik - was aus der Tatsache erhellt, dass zu Beginn eines Textes eben noch keinerlei vorerwähnte Information verfügbar ist. Präsentativkonstruktionen sind Sonderkonstruktionen mit Spezialaufgaben - sie gehören in die Familie der markierten Konstruktionen. Viele solcher „topik-losen“ Konstruktionen sind textsortenspezifisch. 6 In vielen Sprachen existieren eigene Konstruktionen zur Eröffnung von Märchen. Das Märchenhafte unseres Textes wird weiterhin durch dessen Personal signalisiert: ein böser Drache („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“, Z. 1), eine böse Hexe („la pérfida bruja Memo Riaistórica“ , Z. 6) und eine Schar von sieben Helden, die sich anschickt, den Drachen zu erlegen („el justiciero Man O’Slimpias, las hermanas Liberty e Identity, […] el prestigioso Falan Gespa Ñola, […] Mary Provida, Mary Demagogia y el señor Odios, que también puede pronunciarse Ohdiós“, Z. 16-29). Zur Sprache des Märchens in einem weiteren Sinne gehört auch der systematische Einsatz von evaluierenden Adjektiven („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“ , Z. 1; „la gente más buena“, Z. 2; „esas bondadosas personas“, Z. 2sq.; „la péfida bruja Memo Riaistórica“, Z. 6; „estos sencillos ciudadanos“, Z. 8; „los afligidos súbditos“, Z. 11; „el justiciero Man O’Slimpias“, Z. 16; „el pres- 4 Cf. Knud Lambrecht, Information Structure and Sentence Form. Topic, Focus, and the Mental Representations of Discourse Referents, Cambridge: Cambridge University Press 1994, pp. 177-181. 5 Barbara Wehr, Diskurs-Strategien im Romanischen. Ein Beitrag zur romanischen Syntax . Tübingen: Narr 1984, p. 7. 6 Beispielsweise können im Deutschen Witze mit Aussagesätzen beginnen, in denen das Verb an der Satzspitze steht (Typ Kommt ein Skelett zum Arzt … ). Dies ist deshalb bemerkenswert, weil im Deutschen die Verberststellung im Normalfall für Frage- und Befehlssätze reserviert ist. <?page no="122"?> ¡Cuánto cuento! 123 tigioso Falan Gespa Ñola“, Z. 17), durch welche die Protagonisten eindeutig in Gut und Böse geschieden werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Häufung von Nominalphrasen mit attributiven Adjektiven in Voranstellung („la pérfida bruja“, Z. 6; „el vil dragón“ Z. 13; „los sencillos ciudadanos“, Z. 8; „el justiciero Man O’Slimpias“, Z. 16; „el prestigioso Falan Gespa Ñola“, Z. 7). Adjektiven in Voranstellung ist gemeinsam, dass sie den Referenten der NP (also das Ding oder die Person, auf das bzw. die diese sich bezieht), nicht beschreiben (und dadurch von anderen möglichen Referenten abgrenzen), sondern kommentieren. 7 Braselmann spricht im Anschluss an Bello in einem solchen Fall von der „explikativen Funktion“ vorangestellter Adjektive. 8 Hierbei ist wiederum der Sonderfall einschlägig, dass das vorangestellte Adjektiv ein Merkmal des Referenten ausdrückt (und damit dem Leser in Erinnerung ruft), welches eigentlich im Nomen selbst ohnehin enthalten ist. Eine „pérfida bruja“ ist also keine besondere Art von Hexe, sondern das vorangestellte Adjektiv erinnert den Leser daran, dass eine Hexe als solche eben böse ist. Diese Kommentierung ist besonders interessant in den Fällen „el justiciero Man O’Slimpias“, „el prestigioso Falan Gespa Ñola“ - diese Referenten werden bereits bei ihrer ersten Erwähnung durch ein bewertendes Adjektiv kommentiert, ein Hinweis darauf, dass der Text einen Leser zu unterstellen scheint, der diese Bewertung fraglos teilt. Märchen sind narrative Texte. Diesen Umstand spiegelt der Tempusgebrauch in unserem Text wieder, wo hauptsächlich das pretérito imperfecto , gelegentlich aber auch das pretérito indefinido verwendet wird. Bei letzterem handelt es sich um ein perfektives Vordergrundtempus, das in der Regel die eigentliche Handlung trägt. Dagegen fungiert in narrativen Texten das imperfektive pretérito imperfecto als Tempus des Hintergrundes. 9 Bezogen auf die Haupthandlung des Vordergrundes ist der Hintergrund eigentlich subsidiär - er liefert Informationen, die dazu dienen, die Vordergrundhandlung kohärent erscheinen zu lassen. 10 Schon bei oberflächlicher Betrachtung unseres Textes fällt nun aber auf, dass in unserem Text beide Tempora höchst untypisch verteilt sind: Das pretérito 7 Cf. Hans-Ingo Radatz, „Einzelaspekt: Adjektivstellung“, in: Handbuch Spanisch. Spanien und Hispanoamerika. Sprache - Literatur - Kultur , ed. Joachim Born et al., Berlin: Erich Schmidt Verlag 2012, pp. 302-307. 8 Petra Braselmann, „Zur Stellung des attributiven Adjektivs im gegenwärtigen Spanisch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 230 (1993), pp. 335-351. 9 Cf. Paul Hopper, „Aspect and Foregrounding in Discourse“, Syntax and Semantics 12, ed. Talmy Givón, New York: Academic Press 1979, pp. 213-241; Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt , München: Beck 2001, p. 117. 10 Cf. Sandra A. Thompson, William C. Mann, „Rhetorical Structure Theory. Toward a Functional Theory of Text Organization“, in: Text 8/ 3 (1988), pp. 243-281, hier p. 273; Nicholas Asher, Alex Lascarides, Logics of Conversation. Studies in Natural Language Processing , Cambridge: Cambridge University Press 2003, p. 460. <?page no="123"?> 124 Ulrich Detges indefinido taucht - obwohl es ja die Haupthandlung markieren sollte - nur zweimal auf, und auch dies nur im allerletzten Abschnitt. Liest man den Text also als Märchen, so hat man es hier mit dem kuriosen Fall einer Erzählung zu tun, die ganz überwiegend aus Hintergrundinformation besteht. Die Wahl der Tempora, die ganz entscheidend die textuelle Kohärenz beeinflusst, signalisiert also, dass unser Text kein narrativer Text im herkömmlichen Sinne ist, denn er erzählt keine Handlung. Dies bedeutet nicht, dass das Märchen vom bösen Drachen Garrzón keine Haupthandlung besitzt. Sie wird im Text nur nicht erzählt, denn der Leser kennt sie bereits: Die Klage gegen Garzón wird zugelassen, weil er sich im caso Gürtel tatsächlich einer Kompetenzüberschreitung schuldig gemacht hat. Der Text beinhaltet am Schluss also eine Ellipse. Liest man ihn als Märchen, so liefert er lediglich Hintergrundinformation zu einer Haupthandlung, die nicht ausdrücklich erzählt wird. Versteht man ihn dagegen referentiell, dann ist er ein typischer Kommentar: Er liefert Hintergrundinformation zu einem politischen Tagesereignis, das den Leser beschäftigt. III. Der Text als Satire Dass wir es hier nicht wirklich mit einem Märchen zu tun haben, ist zu keinem Zeitpunkt eine Überraschung; schon der Ort, an dem der Text veröffentlicht ist, schließt diese Möglichkeit aus. Zudem sind die Namen der fiktiven Protagonisten so transparent verschlüsselt, dass ihre Entsprechungen in der realen Welt der Politik mühelos identifizierbar sind. In besonderem Maße gilt dies für den Drachen Garrzón, dessen Name sich von dem seines realen Vorbildes allein durch die Verdoppelung des Buchstaben „r“ unterscheidet. Allerdings hat diese Nuance eine große Wirkung. Der multiple Vibrant [r̄], der im Spanischen durch den Digraphen „rr“ repräsentiert wird, tritt in genuin spanischen Wörtern normalerweise nicht im Silbenauslaut auf. 11 Die Graphie Garrzón (zu lesen als [gar̄.'θɔn]) suggeriert also, dass es sich um einen exotischen Namen handelt. Eine ähnlich simple Technik der Verschlüsselung, die dem Leser jedoch manchmal einen etwas größeren Aufwand abverlangt, ist die Neusegmentierung bekannter Namen („Memo Riaistórica“ > memoria histórica ; „Falan Gespa Ñola“ > falange española; „Man O’Slimpias“ > manos limpias). Auch hier werden mit einfachen Mitteln leicht auflösbare, gleichwohl aber starke Verfremdungseffekte erzielt: der Name „Man O’Slimpias“ liest sich wie ein irischer Name, der Name „Falan Gespa Ñola“, der gegen die Restriktion verstößt, dass im Spanischen der 11 Cf. Andreas Dufter, „Phonetik und Phonologie des Spanischen“, in: Handbuch Spanisch , ed. Born, p. 174sq.; Jutta Blaser, Phonetik und Phonologie des Spanischen. Eine Synchronische Einführung , Berlin/ New York: De Gruyter 2011, p. 28. <?page no="124"?> Laut [ɲ] niemals im Wortanlaut erscheint, evoziert dadurch einen exotischen Referenten. Interessant ist auch der kreative Umgang mit dem Buchstaben <h>. Dessen Besonderheit im Spanischen (wie in allen romanischen Sprachen) besteht darin, dass er keinerlei Lautwert besitzt. Aus diesem Grund kann er im bereits diskutierten Fall „Memo Riaistórica“ ohne Konsequenzen weggelassen werden. Im Fall des Eigennamens „Ehpaña“ wird durch die Ersetzung von <s> durch <h> allein die orthographische Repräsentation des Eigennamens verändert; der Lautwert dieser Graphie, also [ ɛ.'pa.ɲa] ist peninsularen Muttersprachlern als südliche Aussprachevariante der Standardlautung [es.'pa.ɲa] geläufig. In einem weiteren Fall zeigt sich, dass <h> zwar keinen Lautwert besitzt, dass es aber dennoch über distinktives Potenzial verfügt: 12 Der einfache Zusatz eines <h> erlaubt es, den Namen „Odios“ (< odios 'Hassgefühle') in „Ohdiós“ (‚oh Gott! ‘) umzuformen - einen Ausdruck, der metonymisch heuchlerische Frömmelei indiziert. Warum wird hier nun aber statt eines ,seriös‘ argumentierenden politischen Kommentars ein Text in Märchenform präsentiert? Eine einfache Antwort auf diese Frage lautet: Märchen sind Texte, die man kleinen Kindern erzählt. Dies wird in starker Form bereits im ersten Satz durch die zahlreichen Wiederholungen suggeriert („un dragón muy malo, muy malo y muy pérfido“). Dadurch wird ein sprachlicher Duktus erzeugt, wie er typisch für das Register ist, in welchem Erwachsene sich an kleine Kinder wenden. Der Text inszeniert so ironisch einen Leser / Zuhörer, dem man gefahrlos die phantastischsten Märchen über Gar(r)zón und die Ley de Memoria Histórica auftischen kann. Ironisch zu verstehen ist auch die umständliche Formulierung in Z. 10sq., „sus fosas, comúnmente denominadas comunes, cubiertas de hierbas“, wo das Wort fosa común (‚Massengrab‘) notdürftig unter einem Wortspiel versteckt wird. Durch diesen Kunstgriff werden ikonisch notdürftig zugedeckte Massengräber evoziert. Ironie ist eine Eigenschaft von Sprechakten. 13 Ironische Äußerungen sind unaufrichtige Sprechakte, deren Unaufrichtigkeit paradoxerweise explizit signalisiert wird. In den Worten von Edgar Lapp ist Ironie eine „Simulation der Unaufrichtigkeit“ 14 . Aus der Perspektive des Hörers/ Lesers ist Ironie also als Anweisung aufzufassen, den betreffenden Sprechakt anders zu interpretieren, als er auf den ersten Blick gemeint zu sein scheint. Der böse Drache Garrzón und die Hexe Memo Riaistórica repräsentieren Referenten, die - so wird dem Leser auf diesem Umweg nahegelegt - in Wirklichkeit gut sind; umgekehrt sind die realen Gegenstücke der sieben Helden in Wirklichkeit lächerliche Schurken. 12 Cf. Blaser, Phonetik und Phonologie des Spanischen , p. 70. 13 Cf. Henk Haverkate, „A speech act analysis of irony“, in: Journal of Pragmatics 14 (1990), pp. 77-109. 14 Edgar Lapp, Linguistik der Ironie , Tübingen: Narr 1994, p. 147. ¡Cuánto cuento! 125 <?page no="125"?> 126 Ulrich Detges Dieses Interpretationsschema wird nun allerdings im allerletzten Satz des Textes durchbrochen („Lo más triste es que los encontraron“, Z. 21); das Adjektiv „triste“ entspricht der tatsächlichen argumentativen Intention des Textes, ist also nicht mehr als ironisch gemeint zu interpretieren. Dieser Bruch signalisiert gleichzeitig die Funktion des letzten Satzes innerhalb des Gesamttextes. Der Satz liefert nämlich durch die Formulierung „los encontraron“ Informationen, die eigentlich der weiteren Elaboration bedürften, um kohärent sein. Genau dadurch konstruiert er die Leerstelle einer Haupthandlung, die der Leser anschließend selbst zu füllen hat (v.s., Abschnitt 2). Das offenkundig nicht-ironisch verwendete Adjektiv „triste“ ist der einzige (und damit entscheidende) Hinweis darauf, dass der Leser ab jetzt von der ironischen Haltung des Märchenerzählens in den ernst gemeinten Real-World -Modus hinüberwechseln muss. IV. Der Text als metadiskursiver Kommentar Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, haben wir es mit einem Text zu tun, der ironisch eine phantastische Geschichte für leichtgläubige Leser erzählt. Anstatt sich - wie bei politischen Kommentaren eigentlich üblich - direkt und frontal mit den Argumenten der Gegenseite auseinander zu setzen, erzählt er sie in einer entlarvenden Weise nach. Auf ihren harten Kern reduziert, sind diese Argumente ohnehin recht dünn. Im Wesentlichen geht es dabei um den Vorwurf, die Beschäftigung mit der Vergangenheit spalte die Nation („cuyo único objetivo era sembrar el enfrentamiento y la discordia en el reino“, Z. 6sq.). Von diesem (nachvollziehbaren) Argument abgesehen, beschränkt sich unser Text darauf, die diffuse Stimmungslage der (angeblich) „afligidos súbditos“ nachzuzeichnen. Vor allem aber macht er durch seine holzschnittartigen Polarisierungen von Gut und Böse Stimmung gegen die Ley de Memoria Histórica und den Richter Garzón - und zwar (im Einklang mit den Regeln der Diskurstradition ‚Märchen‘) völlig ohne jede Begründung. Indem der Text sich ironisch diese Sichtweise zu eigen macht, adressiert er ein weiteres Problemfeld, dessen Bedeutung für die politische Debatte heute die des Falls Garzón bei weitem übersteigt. Es geht um den Umgang mit politischen Mythen und fake news. Die Frage, die dieser Text auf seine Weise beantwortet, lautet: Wie lässt sich auf rationale Art und Weise mit Gerüchten und Lügen umgehen, die so plump sind, dass eine seriöse Beschäftigung sie über Gebühr aufwerten würde? Eine Intention dieser Art wird bereits in der Überschrift angedeutet. Die exklamativ verwendete NP „ ¡cuánto cuento! “ mit dem Quantor „ cuánto “ und <?page no="126"?> dem singular aspectual 15 bedeutet in der spanischen Umgangssprache ‚Was für Lügengeschichten! ‘, ‚Nett gelogen! ‘. Als Bestandteil dieser konventionalisierten Formel ist das nomen cuento also normalerweise gerade nicht in seiner wörtlichen Bedeutung ‚Märchen‘ zu interpretieren. Durch die Gestaltung des Textes als Märchen - sozusagen vom ersten Wort an („ Érase una vez … “ in Z. 1) - wird die Bedeutung ‚Märchen‘ aber sogleich mitaktiviert. In diesem Kontext ist der Gebrauch der Formel „cuánto cuento“ ein Beispiel für die Strategie der desautomatización 16 . Damit ist eine Technik des Wortspiels gemeint, bei der die (sonst eigentlich inaktive) wörtliche Bedeutung einer phraseologischen Einheit gezielt aktiviert wird - etwa dadurch, dass diese, wie im vorliegenden Fall, in ungewohnter Weise mit ihrem Kontext verknüpft wird. De-automatisierte Phraseme beziehen häufig eine besondere argumentative Wirkung aus der Spannung zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Im vorliegenden Fall ist die Funktion der Formel „cuánto cuento“ aber eine völlig andere: Sie signalisiert dem Leser von Anfang an, dass er das vermeintliche Märchen gleichzeitig als Lügengeschichte zu lesen hat. Politische Kommentare sind keine Kunstwerke, sondern Gebrauchstexte. Entscheidend für die Wirkung eines Kommentars sind nicht seine ästhetischen Qualitäten, sondern seine Eignung, dem Adressaten bestimmte Argumente nahezubringen. Wie wir gesehen haben, bedeutet dies aber keineswegs, dass solch ein Text nicht ein hohes Maß an kunstvoll eingefädelter Komplexität aufweisen kann. 15 Cf. Johannes Kabatek, „El ‚singular aspectual‘ en la historia del español: dos historias de un fenómeno“, in: VII Congreso Internacional de Historia de La Lengua Española, Mérida (Yucatán), 04.-08.09.2006, https: / / doi.org/ 10.5167/ uzh-88279, pp 745-761 (15.10.2017). 16 Cf. Alberto Zuluaga, Introducción al estudio de las expresiones fijas . Frankfurt a.M.: Lang 1980; id., „Análisis y traducción de unidades fraseológicas desautomatizadas“, in: PhiN 16 (2001), http: / / web.fu-berlin.de/ phin/ phin16/ p16t5.htm, pp. 67-83 (15.10.2017). ¡Cuánto cuento! 127 <?page no="128"?> II. Imaginationswelten und Traumbilder <?page no="130"?> Der Kampf um Dordrecht: Topographie der Gewalt und Ethik des Kriegers im Orlando furioso von Ariosto Cornelia Klettke Or volta all’una, or volta all’altra banda per gli alti stagni il buon nochier la vela: scuopre un’isola e un’altra di Zilanda; scuopre una inanzi, e un’altra a dietro cela. Orlando smonta il terzo dí in Olanda; (IX, 59, 1-5) Giunge Orlando a Dordreche, e quivi truova di molta gente armata in su la porta; (IX, 61, 1-2) Il cavallier d’Anglante, ove piú spesse vide le genti e l’arme, abbassò l’asta; et uno in quella e poscia un altro messe, e un altro e un altro, che sembrâr di pasta; e fin a sei ve n’infilzò, e li resse tutti una lancia: e perch’ella non basta a piú capir, lasciò il settimo fuore ferito sí, che di quel colpo muore. (IX, 68) Il re volta le spalle, e signor lassa del ponte Orlando e d’amendue le porte; e fugge, e inanzi a tutti gli altri passa, mercé che ’l suo destrier corre piú forte. (IX, 72, 1-4) D’una in un’altra via si leva ratto di vista al paladin; ma indugia poco, che torna con nuove armi; che s’ha fatto portare intanto il cavo ferro e il fuoco: e dietro un canto postosi di piatto, l’attende, […] (IX, 73, 1-6) Dietro lampeggia a guisa di baleno, dinanzi scoppia, e manda in aria il tuono. Trieman le mura, e sotto i piè il terreno; il ciel ribomba al paventoso suono. L’ardente stral, che spezza e venir meno fa ciò ch’incontra, e dà a nessun perdono, sibila e stride; ma, come è il desire di quel brutto assassin, non va a ferire. (IX, 75) Cade a terra il cavallo e il cavalliero: la preme l’un, la tocca l’altro a pena; che si leva sí destro e sí leggiero, come cresciuto gli sia possa e lena. Quale il libico Anteo sempre piú fiero surger solea da la percossa arena, tal surger parve, e che la forza, quando toccò il terren, si radoppiasse a Orlando. (IX, 77) e quel che non avea potuto prima fare a cavallo, or farà essendo a piede. Lo séguita sí ratto, ch’ogni stima di chi nol vide, ogni credenza eccede. Lo giunse in poca strada; et alla cima de l’elmo alza la spada, e sí lo fiede, che gli parte la testa fin al collo, e in terra il manda a dar l’ultimo crollo. (IX, 80) […] per gittarlo in parte, onde non volle che mai potesse ad uomo piú fare offesa: e la polve e le palle e tutto il resto <?page no="131"?> 132 Cornelia Klettke Ludovico Ariosto, Orlando furioso (1532), IX. Gesang 1 Bei unserer Textstelle handelt es sich um eine in sich geschlossene Episode aus dem Orlando-Erzählstrang. In den hier ausgewählten Stanzen aus dem IX. Gesang des Orlando furioso , der zu den Hinzufügungen der letzten Fassung (1532) des Poems gehört, trifft die Phantastik auf die Realität. Das zeigt sich besonders auf den Ebenen des Raumes, der Figuren und der Handlung. Während sich geographisch und topographisch Orientierungspunkte ergeben, ist eine historische Situierung der Handlung nicht möglich. Die Ankunft Orlandos erzielt allein schon durch den Anachronismus eine eher komische Wirkung. Ariosto, der bekanntlich über das neueste kartographische Wissen seiner Zeit verfügte, 2 ordnet dieser Episode einen geographisch genau fixierten und topographisch beschreibbaren Ort zu: die Stadt Dordrecht. Für die Region des Ärmelkanals, der Gewässer Seelands, Hollands und der niederländisch-friesischen Nordseeküste scheint Ariosto über nautisches Quellenmaterial und sicherlich auch mündliche Erfahrungsberichte und Ortsbeschreibungen zu verfügen, so dass die geographischen Angaben korrekt sind und die Topographie einen authentischen Eindruck erweckt. Dabei provoziert die Archipellandschaft Seelands als Hintergrund für den Protagonisten Orlando eine Art Symboleffekt. Die Entdeckungsfahrt durch die zerklüftete Inselwelt der damaligen Region grundiert das Überraschtsein und die Orientierungslosigkeit eines Naiven, der dem Zufall ausgesetzt ist. Die Desorientierung des aus dem mittelalterlichen Erzählrepertoire entsprossenen Helden erscheint symptomatisch für die Konfrontation mit der neuen Sicht der Welt als Archipel, die metaphorisch den Wissensstand der Renaissance repräsentiert. 1 Ed. Lanfranco Caretti, 2 vols., Torino: Einaudi 1992 [1966], vol. I. 2 Näheres hierzu cf. Cornelia Klettke, „L’archipel dans le Roland furieux de l’Arioste - hybridité du savoir cartographique et de l’imaginaire géographique“, in: Îles et Insulaires (XVI e -XVIII e siècles) , edd. Frank Lestringant, Alexandre Tarrête, Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne 2017, pp. 225-242. Herbert Frenzel, „Ariost und Kudrun“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift , 38 (1957), pp. 78-84, hier p. 80sq., weist auf das Vorhandensein einer Seekarte in der Biblioteca Estense hin. seco portò, ch’apparteneva a questo. (IX, 89, 5-8) lo tolse, e disse: — Acciò piú non istea mai cavallier per te d’essere ardito, né quanto il buono val, mai piú si vanti il rio per te valer, qui giú rimanti. (IX, 90, 5-8) O maladetto, o abominoso ordigno, che fabricato nel tartareo fondo fosti per man di Belzebú maligno che ruinar per te disegnò il mondo, all’inferno, onde uscisti, ti rasigno. — Cosí dicendo, lo gittò in profondo. (IX, 91) <?page no="132"?> Der Kampf um Dordrecht 133 Die Topographie der Grafschaft Seeland im 15. und 16. Jahrhundert wird von Ariosto der Wirklichkeit entsprechend andeutungsweise charakterisiert. Ein Kartenvergleich zeigt, dass sich durch die Landgewinnung im Laufe der Jahrhunderte das Mündungsgebiet von Rhein, Maas und Schelde grundlegend gewandelt hat, so dass es auf heutigen Karten nicht mehr wie im 16. Jahrhundert als ein zerklüfteter Archipel erscheint. Die im Rhein-Maas-Delta in der Nähe von Rotterdam gelegene Stadt Dordrecht, seit 1231 von Mauern umgeben, bildet noch heute eine von drei Flussarmen von Rhein und Maas umflossene Insel, die in der Frühen Neuzeit zur Festung ausgebaut wurde und ein bedeutender Handelsplatz war. An die große Zeit von Dordrecht erinnert die Groothoofdspoort, jenes ehemals gotische (1618 umgebaute) Stadttor, das am nördlichsten Punkt der im Dreiflüsse-Eck gelegenen Stadt liegt. Es handelt sich um das wesentliche Einfallstor der Stadt Dordrecht, die damals die größte Stadt Hollands und Mitglied der Hanse war. Der Kampf um Dordrecht gehört in der Orlando-Handlung zu den im gesamten romanzo topographisch am meisten gesicherten Orten überhaupt. Hier spielen sich auf kleinem Raum Gewaltszenen ab. Bei Ariost wird Dordrecht zum Schauplatz einer Kriegshandlung zwischen dem als Besatzer auftretenden fiktiven Friesenkönig Cimosco 3 und der ebenfalls fiktiven holländischen Grafentochter Olimpia 4 , deren Partei Orlando als Held, Beschützer und Kämpfer vertritt. Die kriegerischen Gewaltaktionen finden unmittelbar vor der Groothoofdspoort (ab IX, 61) und in der von breiten Kanälen durchzogenen und dicht bevölkerten Innenstadt von Dordrecht statt. Bei dem erwähnten Doppeltor mit Zugbrücke (IX, 71-72) dürfte es sich um die Wehranlage gehandelt haben, die sich neben der Groothoofdspoort befand. Eine Zugbrücke existiert dort noch heute. Zu der Ortsbeschreibung gehören auch die Erwähnung der offensichtlich vorhandenen anderen Stadttore (IX, 64) sowie die Reaktion der aufgescheuchten und ängstlichen Bevölkerung. Ariost inszeniert in dieser Episode auf dem Hintergrund einer authentischen topographischen Bühne ein parodistisches Spiel mit anachronistischen Effekten, indem er einen archaisch anmutenden Helden aus dem Mittelalter, den er zudem mit Reminiszenzen an Hercules und Antaios 5 ausstattet und der als unbezwingbarer Riese auftritt, mit einem auf Hinterlist und Tücke bedachten, in seiner Zeit hochaktuellen Herrschertyp der 3 Dieser Name ist bis heute nicht geklärt. Cf. Alberto Casadei, Ariosto: i metodi e i mondi possibili , Venezia: Marsilio 2016, p. 194. 4 Zur Figur der Olimpia und ihrem Namen cf. ibid. 5 „l’erculeo aspetto“ (IX, 56); zu Antaios cf. IX, 77. Freilich ist die Verbindung von Orlando zu den Giganten so überraschend nicht, sie findet sich bereits in Dantes Inferno XXXI, 18 (über den Hornbläser Nimrod Verweis auf Roland). <?page no="133"?> 134 Cornelia Klettke Renaissance konfrontiert, der sich zudem einer modernen Feuerwaffe, des Luntengewehrs, bedient. Die Truppen des Friesenkönigs besetzen das Große Stadttor und stellen sich Orlando in den Weg. Als andere Soldaten des Königs den Eindringling von hinten umzingeln wollen, wird dieser seinem heldenhaften Ruf auf seine Weise gerecht: Wie im Märchen tötet er sieben auf einen Streich. Sechs spießt er auf seine Lanze, als wären sie aus Teig, für den Siebten reicht der Platz nicht aus (IX, 68). Diese Szene bietet eine gastropoetische 6 Pointe, die obendrein eine ambivalente Deutung zulässt: Das Bild der auf die Lanze aufgespießten Menschen suggeriert den Bratspieß, dabei verschiebt jedoch die Teigmetapher das Geschehen von der Konnotation der Anthropophagie in den Bereich der infantilen kulinarischen Einverleibung. Die Grausamkeit ist hier mit Komik gepaart. Es handelt sich um eine Textstrategie, die wir in der italienischen Literatur in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts bei den sogenannten Cannibali (z. B. Niccolò Ammaniti und Enrico Brizzi) wiederentdecken. In seiner Zeit rückt der Orlando von Ariosto in die Nähe der fröhlichen Gewalt der Riesen Gargantua und Pantagruel. Bekanntlich war Pulcis Morgante eine Inspirationsquelle nicht nur von Boiardo und Ariosto, sondern auch von Rabelais. 7 Im Labyrinth der Innenstadt von Dordrecht inszeniert Ariost eine Art Zweikampf zwischen den beiden Kontrastfiguren Orlando und Cimosco, in dem es um die Konfrontation eines Starken und Mutigen mit einem Schwachen und Feigen geht. Der Starke vertraut seinen physischen Urkräften, der Schwache bedient sich heimtückisch einer technischen Prothese, der damals noch relativ jungen Feuerwaffe. Da statt seiner sein Pferd getroffen wird, tötet Orlando, dem beim Sturz von dem verwundeten Pferd durch die Berührung mit der Erde die gigantischen Kräfte des mythischen Riesen Antaios zuwachsen (IX, 77), auf gewalttätige Art mit einem Schwerthieb den hinterlistigen und feigen Cimosco und geht als Sieger vom Platz. Ariosto sät jedoch einen leichten Zweifel an der Integrität des Ritters Orlando, indem er bereits hier die Monstrosität dieses Helden aufblitzen lässt, die später im Stadium des Wahnsinns in der Verwüstung weiter Landstriche und der Tötung von Menschenmassen gipfelt. Einerseits deutet der Vergleich mit dem antiken Giganten auf eine mythische Reminiszenz 6 Zur Nahrungsmetaphorik in literarischen Texten und zum alimentären Diskurs als einem anthropologischen Denkmodell cf. Christine Ott, Feinschmecker und Bücherfresser . Esskultur und literarische Einverleibung als Mythen der Moderne , München: Fink 2011, pp. 15-32 (Einleitung). 7 Rabelais zitiert zwar Ariostos Orlando furioso im „Prologue de l’auteur“ zu seinem Pantagruel (1532), bezieht sich aber vermutlich auf die Fassung von 1516 und kann diese Szene noch nicht gekannt haben, da die Canti IX-XI eine Hinzufügung der letzten Fassung des Furioso von 1532 darstellen. <?page no="134"?> Der Kampf um Dordrecht 135 der Wirkkräfte der Erde hin und damit auf eine übersinnliche Magie der uralten biologischen Kraftquellen des Menschen. Ariosto versteht es auch hier wie in der Aufspießszene, dem gewalttätigen Kampfgeschehen den Eindruck von spielerischer poetischer Leichtigkeit zu verleihen. Dies wird sprachlich durch die Erwähnung der Gewandtheit und Leichtigkeit unterstrichen, mit der der Koloss Roland operiert (cf. IX, 77, 3). Andererseits lässt der Autor indirekt eine gewisse Skepsis erkennen. Auf der Folie der Danteschen Giganten kann die Monstrosität des kraftvollen und brutalen Todesstoßes (IX, 80) von Orlando gegen Cimosco den Helden nicht uneingeschränkt im strahlenden Licht des Siegers erscheinen lassen, sondern sie verleiht seiner Tat den Beigeschmack eines Kontrollverlustes, wenn auch nicht der Böswilligkeit, die den Danteschen Giganten unterstellt wird. Der Kontrollverlust Orlandos stellt die sittliche Integrität der Haltung des Helden in diesem Zweikampf in Frage, auch wenn es sich um einen Todfeind und Verräter handelt. Bei aller Distanz zu den beiden Kriegern schneidet Cimosco weit schlechter ab als Orlando. Die lauernde und versteckte Position des Schützen Cimosco lässt eine deutliche Kritik Ariostos an der Schusswaffe erkennen. Der König von Friesland wird als abstoßender Mörder („brutto assassin“, IX, 75) bezeichnet. Das Aufblitzen des Feuers, der Knall des Abschusses und das Pfeifen und Zischen der Bleikugel werden durch Übertreibung satirisch verzerrt und mit infernalischen Reminiszenzen aufgeladen (IX, 75). Mit der anschließenden zeremoniellen Versenkung der Feuerwaffe im Meer durch Orlando und der sie begleitenden Rede des Helden (IX, 89, 5-8; 90, 5-8; 91) offenbart sich ein Realitätsbezug des späten Ariosto nach den schweren Kriegszeiten im Italien der Zwanzigerjahre des 16. Jahrhunderts, in denen die Arkebuse, die mit Beginn des 16. Jahrhunderts in Schlachten auf italienischem Boden hin und wieder in Gebrauch gekommen war, insbesondere in der Schlacht bei Pavia (1525) eine Rolle gespielt hat. Die Aktion der Vernichtung der Feuerwaffe durch den aus dem mittelalterlichen Erzählrepertoire entlehnten Helden Orlando ist freilich auch parodistisch konnotiert; hatte doch zuvor bereits Cimosco eine Probe für die mangelnde Treffsicherheit des Gerätes geliefert. Dennoch bildet die Versenkung des Gewehrs und der Munition den Auftakt zu einem Diskurs des Erzählers in Gestalt einer Ächtung der Feuerwaffen (XI, 22-28), der mit der Position des Autors selbst identifiziert werden kann. Im Hintergrund stehen die Entwicklung und Verbreitung der Waffentechnik seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Der Aktualitätsbezug zu dem zeitgenössischen Kriegswesen in Europa ist hier evident. Die Rittergestalt des Orlando erfährt in diesem topographischen Zusammenhang, - gleichsam zwischen Mont Saint-Michel, Dordrecht und der Versenkung der Feuerwaffe auf hoher See -, eine Art Glorifizierung, beinahe eine Apotheo- <?page no="135"?> 136 Cornelia Klettke se. Ariost camoufliert sich hinter einem mit komischen Zügen ausgestatteten Erzähldispositiv, um eine verdeckte Kritik an der Entwicklung des Kriegswesens seiner Zeit zu üben. Seine Worte wirken aus heutiger Sicht - 500 Jahre danach - beinahe prophetisch. Bereits am Beginn der Moderne postuliert Ariost für den Erfinder der modernen Schusswaffen (gemeint ist hier vielleicht der deutsche Mönch Berthold Schwarz, dem eine Legende die Erfindung des Schießpulvers und der Kanone um 1353 zuschreibt 8 ) die Höchststrafe der Höllenqualen. Dass der Schusswaffe aus Sicht des Erzählers (des Autors) die Heimtücke und der Verrat anhaften, zeigt sich auch daran, dass der Erfinder der Feuerwaffe selbst als Inbegriff eines Verräters angesehen und neben Judas platziert wird: […] ben fu il piú crudele e il piú di quanti mai furo al mondo ingegni empii e maligni, ch’imaginò sí abominosi ordigni. (XI, 27, 6-8) E crederò che Dio, perché vendetta ne sia in eterno, nel profondo chiuda del cieco abisso quella maladetta anima, appresso al maladetto Giuda. (XI, 28, 1-4) In seiner letzten Schaffensphase wagt sich Ariosto mit einem zeitkritischen Engagement an die Öffentlichkeit, indem er beschwörende Worte gegen die Feuerwaffe in einige Stanzen der phantastischen Welt seines romanzo einfließen lässt. Andererseits distanziert sich der Renaissancedichter von Gewalt überhaupt, da er auch die rohe Gewalt von Orlando, letztlich durch die Eskalation in der Wahnsinnsepisode, mit dem Rückgriff auf Seneca ad absurdum führt. Sein humanistisches Menschenbild ist von Vernunft und Geist geprägt. Es handelt sich um eine wenig beachtete Episode des Furioso , wie auch der Mangel an künstlerischen Illustrationen zeigt, die eine gewisse Verlegenheit hinsichtlich des Sujets - der Evokation konkreter topographischer Gegebenheiten und des Einsatzes der Feuerwaffe - erkennen lassen. Die Ausgaben verlegen die Handlung in ein märchenhaftes Ambiente. Die realistischen topographischen Anspielungen auf die Insel Dordrecht mögen die späteren Illustratoren als störend empfunden haben. Eine Vedute der holländischen Insel mit dem großen Stadttor findet sich lediglich in den Illustrationen des 16. Jahrhunderts, 8 Cf. die Anmerkung zu „negromante“ (XI, 22, 7), in der hier verwendeten Ausgabe des Orlando furioso , vol. I, p. 266. Der Ursprung der Feuerwaffe entzieht sich der Kenntnis. Cf. die Einlassungen und Hypothesen zur Verbreitung der Handfeuerwaffen besonders in Holland und Flandern zur Zeit Ariosts bei Léopold Peeters, „Das Kudrunepos und die Olimpiaepisode in Ariostos Orlando Furioso “, in: Neophilologus 53/ 3-4 (1969), pp. 273-290 (Teil I) und 402-413 (Teil II), hier Teil II, p. 405. <?page no="136"?> Der Kampf um Dordrecht 137 namentlich in der Ferrari-Ausgabe (Venedig 1546) sowie in den diese Abbildung reproduzierenden Ausgaben von Guerra (1574) und Farri (1580). 9 Besonders hinsichtlich des Gebrauchs der Feuerwaffe ist die Auslassung symptomatisch. Sie bildet einen Fremdkörper im romantisierenden Bild des Ritterepos und wird selten zum Gegenstand von Illustrationen. Unter den zahlreichen Abbildungen zum IX. Gesang vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart figuriert das Gewehr nur zweimal. Cochin le Jeune stellt nicht den aus dem Hinterhalt schießenden, sondern den fliehenden Cimosco mit der Arkebuse in der Hand dar (Baskerville-Ausgabe, London 1773). Giambattista Galizzi zeigt Cimosco in seinem Waffenarsenal und seinen Griff zum Gewehr, das er den herkömmlichen Waffen vorzieht (Milano 1945). 10 Am ehesten findet noch die Szene der Aufgespießten eine künstlerische Umsetzung, wobei Gustave Dorés Interpretation (cf. Fig. 1) deutlich realistischer gerät als die von Daniel Nikolaus Chodowiecki (cf. Fig. 2). In letzterer zeigt die Lanze diagonal nach oben und lässt die Aufgespießten zu einer unentwirrbaren makabren Form von in der Luft zuckenden Körpern und Gliedmaßen verschmelzen. Das bizarre Knäuel der Aufgespießten bildet eine Formstudie, die an die Idee der Bienenschwarmmetapher von einem neuen Ganzen aus seinen Einzelteilen in Diderots Le Rêve de d’Alembert (verfasst 1769) erinnert. 11 Die neu entstandene Form verblüfft, sie lenkt durch die Ästhetisierung und in ihrer Frivolität von der Grausamkeit des Geschehens ab. 9 Cf. Ulrich Wilke, Ludovico Ariosto, Orlando Furioso . Buchillustrationen aus der Sammlung Ulrich Wilke , 4 vols., Neukirchen: make a book 2015-2016, hier vol. I: Das 16. Jahrhundert , pp. 66, 225. 10 Cf. ibid., vol. II: Das 17. und 18. Jahrhundert , p. 226; sowie vol. IV: Das 20. Jahrhundert und Gegenwart , p. 163. 11 Zum Bienenschwarm Diderots als Beispiel einer Formstudie cf. Paolo Tortonese, „Comment se forment les formes ? Une question romantique“, in: Nuages romantiques - Des Lumières à la Modernité , edd. Pierre Glaudes, Cornelia Klettke, Berlin: Frank & Timme 2018, pp. 27-42. <?page no="137"?> 138 Cornelia Klettke 1213 12 Kupferstich für folgende Ausgabe: Arioste, Roland furieux . Poème héroïque, tr. A.-J. du Pays, illustré par Gustave Doré, Paris: Hachette 1879. Bei Doré sind es nur fünf aufgespießte Krieger, drei weitere liegen darunter begraben. 13 Illustration zu Ariostos Rasender Roland (1772, Radierung), in: Almanac généalogique pour l’année 1772 à Berlin . © Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Creative-Commons-Lizenz 4.0). Fig. 2: Daniel Nikolaus Chodowiecki, Orlando spießt sechs bzw. sieben Krieger auf seine Lanze (cf. IX, 68) 13 Fig. 1: Gustave Doré, Orlando spießt sechs bzw. sieben Krieger auf seine Lanze (cf. IX, 68) 12 <?page no="138"?> El libro en el escenario 139 El libro en el escenario. Los corrales del Quijote Wolfram Nitsch Quiso la mala suerte del desdichado Sancho que entre la gente que estaba en la venta se hallasen cuatro perailes de Segovia, tres agujeros del Potro de Córdoba y dos vecinos de la Heria de Sevilla, gente alegre, bien intencionada, maleante y juguetona, los cuales, casi como instigados y movidos de un mesmo espíritu, se llegaron a Sancho, y, apeándole del asno, uno dellos entró por la manta de la cama del huésped, y, echándole en ella, alzaron los ojos y vieron que el techo era algo más bajo de lo que habían menester para su obra, y determinaron salirse al corral, que tenía por límite el cielo. Y allí, puesto Sancho en mitad de la manta, comenzaron a levantarle en alto y a holgarse con él como con perro por carnestolendas. Las voces que el mísero manteado daba fueron tantas que llegaron a los oídos de su amo; el cual, determinándose a escuchar atentamente, creyó que alguna nueva aventura le venía, hasta que claramente conoció que el que gritaba era su escudero; y, volviendo las riendas, con un penado galope llegó a la venta, y, hallándola cerrada, la rodeó por ver si hallaba por donde entrar; pero no hubo llegado a las paredes del corral, que no eran muy altas, cuando vio el mal juego que se le hacía a su escudero. Viole bajar y subir por el aire, con tanta gracia y presteza que, si la cólera le dejara, tengo para mí que se riera. Probó a subir desde el caballo a las bardas, pero estaba tan molido y quebrantado que aun apearse no pudo; y así, desde encima del caballo, comenzó a decir tantos denuestos y baldones a los que a Sancho manteaban que no es posible acertar a escribillos; mas no por esto cesaban ellos de su risa y de su obra, ni el volador Sancho dejaba sus quejas, mezcladas ya con amenazas, ya con ruegos; mas todo aprovechaba poco, ni aprovechó, hasta que de puro cansados le dejaron. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 17 1 Se sabe que el Quijote es la obra de un dramaturgo fracasado, cuyas comedias y entremeses no fueron nunca representados. No es sorprendente, pues, que a lo largo de las aventuras del Caballero de la Triste Figura se vislumbra a menudo un diálogo con el teatro de su tiempo, sobre todo en la segunda parte de la novela, publicada en el mismo año que los textos dramáticos de Cervantes. El Quijote de 1615 presenta un verdadero repertorio narrativo de varios escenarios típicos de la edad barroca, cuya maquinaria, al parecer de su autor, ha llegado a 1 Ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998, p. 184sq. <?page no="139"?> 140 Wolfram Nitsch un alto grado de sofisticación, en detrimento del mero arte de representar. 2 Sin embargo, lo que pasa en estos escenarios narrados corresponde raramente a las reglas básicas de una representación teatral. El único espectáculo que se realiza sin irregularidades ni perturbaciones es la “danza de artificio” (p. 795) representada en honor de las bodas del rico Camacho, un drama alegórico escenificado e interpretado por aficionados del pueblo. Aparte de esta representación festiva que colman de elogios, Don Quijote y Sancho Panza no presencian sino espectáculos que parecen más o menos problemáticos, ya que carecen de algún elemento constitutivo de la teatralidad. Cuando, al principio de su tercera salida, topan con un carro, el escenario característico del auto sacramental, no ven una representación puesta en escena, sino solamente a algunos representantes disfrazados que no dejan de actuar ni siquiera fuera del teatro, así que le parecen “fantasmas” al protagonista, a saber, apariciones espectrales más que apariencias teatrales. 3 Y cuando, más tarde, Don Quijote ve un juego de títeres en el retablo de Maese Pedro, acaba por destrozar el escenario miniaturizado, ya que la magia artificial creada por el “jugar de manos” (p. 856) del titiritero le hace perder el “sentido de lo irreal” del juego en el “vendaval de la fantasmagoría”. 4 Algo parecido pasa en los demás escenarios narrados de la segunda parte que corresponden todos a un tercer tipo de teatro barroco, el teatro palaciego. A esta serie pertenecen no solamente los escenarios erigidos en el castillo de los duques, donde Don Quijote y Sancho representan sin saberlo el vuelo en el caballo “mágico” Clavileño, sino también el escenario secreto instalado en el palacio barcelonés de Don Antonio, donde asisten a la demostración de la cabeza llamada “encantada”. 5 En cada uno de estos espectáculos se les presenta, mediante tramoyas refinadas, un teatro que no reconocen como tal, puesto que da lugar a una representación no declarada. Mientras que ante el carro abierto creen divisar fantasmas de incierta realidad, en el teatro a doble fondo del palacio urbano sucumben a los efectos poderosos de una magia artificiosa que supera aún las prestidigitaciones de Maese Pedro. 2 Cf. el prólogo de Cervantes a Ocho comedias y entremeses [1615], in: Id., Entremeses , ed. Nicholas Spadaccini, Madrid: Cátedra 8 1990, pp. 91-94. 3 Cf. Don Quijote , cap. II, 11, pp. 713-718. 4 Ibid., cap. II, 25/ 26, pp. 845-854. Acerca de este episodio, véase el comentario de José Ortega y Gasset, “Idea del teatro” [1946], in: Id., Ideas sobre el teatro y la novela , ed. Paulino Garagorri, Madrid: Revista de Occidente 1982, pp. 57-96, aquí p. 86sq. 5 Don Quijote , cap. II, 40/ 41, II, 62. Sobre estos dos episodios, véanse mi estudios “La cabeza hueca. Don Quijote y la técnica”, in: Discursos explícitos e implícitos en el “Quijote” de Cervantes , ed. Christoph Strosetzki, Pamplona: Eunsa 2006, pp. 147-161; „Prekäre Bändigung. Ross und Reiter bei Cervantes“, in: Begriff und Darstellung der Natur in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit , edd. Wolfgang Matzat, Gerhard Poppenberg, München: Fink 2012, pp. 123-139. <?page no="140"?> El libro en el escenario 141 Sin embargo, en el panorama narrativo de escenarios barrocos que se plasma en el Quijote de 1615 salta a la vista una laguna notable: falta el corral de comedias, la forma de teatro más importante de la época de Cervantes. Quizás eso sea debido a la aparición de algo parecido a este escenario en la continuación apócrifa de Avellaneda, frente a la que el autor legítimo del Quijote quería guardar distancia. 6 Pero la ausencia patente del corral en la segunda parte se puede vincular también con su presencia latente en la primera, que ya cuenta varios episodios teatrales sin situarlos en teatros concretos. 7 No me parece casual que uno de los episodios más llamativos al respecto tenga lugar en un “corral” en el sentido primero y cotidiano, en un “cercado a espaldas de casa sin árboles”, como lo define Covarrubias. Me refiero al manteamiento de Sancho Panza en el corral de la venta de Juan Palomeque, tras negarse el caballero y su escudero a pagar por una noche poco tranquila en este albergue. Así como las representaciones más o menos irregulares de la segunda parte, este espectáculo espontáneo presenta un caso límite que marca los poderes y los confines de la teatralidad. Intentaré demostrar que es un espectáculo liminar entre la representación teatral y otros tres fenómenos de los cuales esta se suele delimitar desde un punto de vista respectivamente histórico, epistemológico y mediológico: la fiesta carnavalesca, la visión fantasmal y el libro impreso. Considerado históricamente, el manteamiento de Sancho se sitúa en la frontera entre la fiesta medieval y el teatro áureo. Ejemplifica muy bien la tesis de Bajtín según la cual la novela moderna constituye una memoria literaria del carnaval popular que desde su apogeo en la Edad Media ha decaído progresivamente en la cultura occidental. 8 En la descripción del episodio, citada arriba, abundan las alusiones a esta tradición festiva; tanto la acción como los actores de la escena se caracterizan por rasgos carnavalescos. El manteamiento evoca una antigua tradición de carnaval que en este caso no se aplica como de costumbre a un pelele o a un perro, sino a un hombre: subiendo al aire, Sancho baja a 6 Cf. Alonso Fernández de Avellaneda, El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha [1614], ed. Fernando García Salinero, Madrid: Castalia 1972, p. 357sq.; se trata de una prueba para una representación de la comedia El testimonio vengado de Lope de Vega, que tiene lugar en el “patio” de una venta y es interrumpido poco después de comenzar por el protagonista. 7 Como ya lo nota, aunque sin referirse al corral de comedias, José Manuel Martín Morán, “Los escenarios teatrales del Quijote ”, in: Anales cervantinos 24 (1986), pp. 27-46. 8 Cf. Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s poetics [1929], ed./ tr. Caryl Emerson, Minneapolis/ London, University of Minnesota Press 1984, pp. 122-132. Para una lectura del Quijote a la luz de Bajtín, véanse Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, pp. 256-281; y Augustin Redondo, Otra manera de leer el „Quijote“. Historia, tradiciones culturales y literatura , Madrid: Castalia 1997. <?page no="141"?> 142 Wolfram Nitsch la condición de “perro por carnestolendas”. Además, se parece a un “volador”, es decir a otros dos requisitos de fiesta popular denotados por esta palabra equívoca: a un cohete, por su ascensión rápida al aire, o a una bramadora, por la murmuración ruidosa que dirige a los manteadores. A la luz de estas referencias explícitas resalta el carácter carnavalesco de la acción entera. El manteamiento del escudero que ocupa el centro de la escena evoca la elevación y la profanación subsiguiente de un rey de carnaval; en eso ya anticipa el episodio posterior de la isla Barataria donde Sancho por un tiempo limitado cambiará su cargo modesto contra el oficio prestigioso de gobernador. Conforme a eso, también los demás actores de la escena se comportan como “por carnestolendas”. No son comediantes profesionales, sino personajes picarescos, de índole “maleante y juguetona”, inclinados a la burla pesada por su origen social y regional. 9 Por consiguiente, su actuación carece de puesta en escena, parece espontánea y de término contingente; empiezan a mantear a Sancho “casi como instigados y movidos de un mesmo espíritu”, y continúan haciéndolo “hasta que de puro cansados le deja[ro]n”. En todo eso, el manteamiento cuadra muy bien con los recién pasados acontecimientos nocturnos en la venta de Palomeque que se pueden describir también mediante las categorías bajtinianas de lo carnavalesco. Si la burla de los manteadores evoca una “profanación” de carnestolendas, la escaramuza entre Don Quijote y la robusta criada Maritornes que culmina en una pelea general se presenta no solamente como una “mésalliance” carnavalesca que junta lo que normalmente está separado, sino también como una escena de “familiarización”, típica de un “escenario sin proscenio”. 10 Empero, es justamente esta familiarización de todos con todos, esta “armonía” (p. 175) de confusión general, lo que falta a la escena del manteamiento. Mientras que en la pelea nocturna sólo hay actores, en la burla de la mañana siguiente hay además un espectador separado de la acción, a saber el caballero alertado por las voces de su escudero, a quien trata de socorrer en vano. Cuando acude al lugar del manteamiento sin poder entrar en él, la fiesta carnavalesca se transforma en un espectáculo teatral; aparece la línea divisoria entre el escenario y la platea que caracteriza el teatro posmedieval. Esta línea divisoria separa incluso dos realidades diferentes, si la escena se considera, en segundo lugar, desde una perspectiva epistemológica; porque 9 En eso recuerdan a otros pícaros cervantinos, en particular al protagonista del “romance jácaro” incluido en la comedia El rufián dichoso , quien vive en un “gran corral” sevillano; cf. El rufián dichoso , edd. Nicholas Spadaccini, Jenaro Talens, Madrid: Cátedra 1986, pp. 123-125. 10 Don Quijote , cap. I, 16. Cabe precisar, sin embargo, que esta pelea carnavalesca es interrumpida por un representante de la Santa Hermandad, lo que subraya su carácter no ritual y no autorizado, ya distinto de los excesos lícitos del carnaval medieval. <?page no="142"?> El libro en el escenario 143 entonces el manteamiento parece un espectáculo fantasmagórico, a medio camino entre la representación teatral y la aparición fantasmal. Mucho más que un ordinario corral de comedias, el corral de la venta se presenta como un escenario estrictamente confinado. Mientras que comunica con la casa de donde los manteadores traen la manta tal como si se tratara de un vestuario, está cerrado hacia la calle por unas paredes no muy altas, pero erizadas de “bardas” o espinas. Para intervenir en la burla que presencia desde afuera, Don Quijote tendría que superar por ende un obstáculo importante. Como no lo hace y se limita a observar la acción y a insultar a los actores, tiene que justificar su conducta pasiva ante Sancho Panza cuando el espectáculo se ha terminado. Claro que no quiere conformarse con las explicaciones del narrador, quien insiste en el cansamiento patente del caballero, debido a los efectos purgativos del “bálsamo de Fierabrás”, y le imputa incluso una diversión latente, una risa ocultada por su cólera habitual. Por eso ofrece otra interpretación posterior de su actitud algo mirona, atribuyéndola a un encanto urdido por los manteadores: “aquellos que tan atrozmente tomaron pasatiempo contigo, ¿qué podían ser sino fantasmas y gente del otro mundo? Y confirmo esto por haber visto que, cuando estaba por las bardas del corral mirando los actos de tu triste tragedia, no me fue posible subir por ellas, ni menos pude apearme de Rocinante, porque me debían de tener encantado” (p. 186). Esta justificación tardía, que el caballero reiterará frente a los reproches repetidos del escudero (p. 642), vincula por primera vez un espectáculo teatral con una aparición espectral. Anticipa, pues, varias ocasiones en las que Don Quijote califica de “fantasmas” a meros efectos teatrales, como en el ya comentado episodio del carro. 11 Empero, no siempre una tal “espectralización” de lo espectacular depende solamente de la perspectiva singular del protagonista. Eso lo prueba la aventura del cuerpo muerto que ocurre poco después del manteamiento y recurre a las interpretaciones provocadas por él. Cuando aparece una procesión nocturna de clérigos acompañando al cadáver de un caballero a su sepultura familiar, Sancho acaba por compartir la impresión de Don Quijote quien se cree de nuevo en presencia de “fantasmas”. Esta impresión se impone a causa de una puesta en escena sugerente, aunque no destinada a espectadores ocasionales. A ella contribuyen tanto la iluminación artificial del cortejo por hachas, que presta un aspecto pálido y fantasmal a todos, como el disfraz teatral de los sacerdotes, quienes llevan sobrepellices blancas sobre las sotanas negras y por eso parecen “máscaras” (p. 202) o “encamisados” (p. 201). Así se trata no simplemente de una aventura imaginada por el caballero andan- 11 Otros ejemplos: la aparición final, de nuevo en la venta, de los secuestradores disfrazados de Don Quijote que le parecen “fantasmas” (p. 536); o bien, en cambio, la aparición del mismo caballero invitado por los duques en traje de noche, “en el cual traje parecía la más extraordinaria fantasma que se pudiera pensar” (p. 1014). <?page no="143"?> 144 Wolfram Nitsch te, sino de “una aventura que, sin artificio alguno, verdaderamente lo parecía” (p. 200). Por un momento, Sancho parece dispuesto a aceptar hasta la interpretación fantasmagórica del manteamiento; comparando la presente “aventura de fantasmas” con la burla precedente, el actor entonces escéptico se vuelve provisionalmente en un espectador supersticioso de su propia aventura. 12 El malestar antiguo del hombre ante la máscara, que sobrevive en varias creencias populares y que renace frente a los clérigos disfrazados, se plasma ya en el corral rodeado de bardas. 13 A caballo entre la fiesta popular y el teatro público, entre la apariencia teatral y la aparición fantasmal, la escena del manteamiento parece también un espectáculo liminar desde un punto de vista mediológico, ya que se sitúa, en tercer lugar, entre el mundo del teatro y el mundo de los libros. Eso no resalta tanto en el episodio mismo como en dos narraciones posteriores que se refieren a él. Por un lado, al regresar a la venta de Palomeque después de las aventuras de la Sierra Morena, Don Quijote y Sancho Panza tienen que escuchar una doble relación pormenorizada del manteamiento, con la que la ventera y, algo más tarde, el ventero divierten a la “cuadrilla” que ahora acompaña a los protagonistas. Mientras que la segunda parte de esta relación provoca otra discusión acerca de la realidad de la “volatería” del escudero, quien duda de nuevo de que todo pasó “por vía de encantamiento” y no “por vía ordinaria” (p. 535), la primera parte ocasiona alusiones insistentes a la combustión inicial de la biblioteca del caballero. Tras oír lo que aconteció a Sancho en el corral de la venta, el cura y el barbero recuerdan como quemaron los libros de caballería en el corral de Don Quijote; la evocación del teatro de la “volatería” parece llamarles la atención al lugar de la destrucción de los libros “condenados al corral” (p. 85). Y tras examinar los libros del ventero, están dispuestos a entregarlos igualmente al fuego, esta vez por sus propias manos: “también sé yo llevarlos al corral”, afirma el barbero, designando el corral de la venta como otro escenario posible de un acto biblioclasta (p. 371). La confrontación aparente de dos usos diferentes del mismo corral, un uso teatral y un uso en cierto modo inquisitorial, anuncia 12 Las ilustraciones gráficas de la escena tardarán mucho más en compartir la perspectiva del caballero. Como lo documenta el banco de imágenes del Quijote ahora accesible por internet (qbi2005.windows.cervantesvirtual.com, 2 de abril de 2018), hasta finales del siglo XVIII el manteamiento en el corral se representó desde adentro; sólo después, conforme a las lecturas románticas de la novela, predominó el punto de vista exterior del protagonista, especialmente en la edición francesa ilustrada por Gustave Doré (1863), donde la burla carnavalesca se coloca en un ambiente nocturno y fantasmal. 13 Acerca de este malestar, evocado con particular insistencia en el paso La carátula (1567) de Lope de Rueda, y de sus numerosos ecos en la comedia barroca, cf. mi libro El teatro barroco como campo de juego. Estudios sobre Lope de Vega y Tirso de Molina [2000], tr. Elvira Gómez Hernández, Kassel: Reichenberger 2018, pp. 24-30, 163, 165. <?page no="144"?> El libro en el escenario 145 la transformación del protagonista de un lector fervoroso en un espectador de teatro; a partir del manteamiento, los espectáculos públicos se sustituirán más y más a la lectura individual cuyos medios han sido “condenados al corral”. Por otro lado, la burla en el corral repercute también en la relación mentirosa que Sancho hace a su amo poco antes de regresar a la venta. 14 Fingiendo que ha entregado la carta amorosa de Don Quijote a Dulcinea, relata el encuentro en El Toboso como si relatara una escena de comedia representada en un corral. No solamente coloca a Dulcinea en “un corral de su casa” (p. 358), ahechando trigo, y cuenta cómo recibió, en agradecimiento de su recado, un pedazo de queso “por las bardas de un corral” (p. 360). Además, pinta el teatro de la entrega como un lugar propicio para el engaño a los sentidos. Como el caballero no quiere creer que su dama exhalaba un “olorcillo algo hombruno”, el escudero le concede que puede haberse equivocado y haberse olido a sí mismo; y cuando más tarde su amo pone en duda que la escena tuvo lugar en un corral y no en un jardín, alega que el mucho polvo que Dulcinea sacaba del trigo “se le puso como nube ante el rostro” (p. 688). Así, también la escena fingida de la entrega se incorpora a la serie de escenas teatrales iniciada por la escena del manteamiento. Pero a diferencia de aquella, se presenta en un escenario abierto que no impide el contacto entre la actriz y el espectador por las bardas del corral. Por eso, no solamente prefigura la profanación de la dama idealizada que se hará progresivamente visible en la segunda parte; 15 anticipa asimismo los episodios del carro o del retablo, donde se desdibuja o traspasa la frontera entre el tablado y sus alrededores. Sobre todo, empero, el episodio casi teatral de la entrega crea otro nexo más entre los libros de caballería y los corrales de comedias, ya que la relación de Sancho pone en escena lo que su amo ha leído en las novelas ahora quemadas. De la misma manera, los numerosos espectáculos caballerescos que siguen, desde las simulaciones de la “cuadrilla” hasta las representaciones en el castillo de los duques, serán reconocibles como efectos de la cultura tipográfica. Pero en la mayor parte de los casos, los dos medios vinculados de este modo parecen medios profundamente desiguales. Mientras que los libros han confundido solamente a Don Quijote, los espectáculos más o menos sofisticados del caballo volante o de la cabeza parlante confunden también a Sancho Panza y a todos los espectadores presentes. En estos momentos la pérdida del sentido 14 Sobre este episodio, véase el comentario de Joaquín Mesa, “Verdad y ficción cervantinas: la relación de la embajada a Dulcinea”, in: Neophilologus 78 (1994), pp. 561-577. 15 Como me ha señalado Juan Diego Vila, la sola asociación de Dulcinea con una actriz implica una profanación, ya que la reputación de los comediantes era todavía muy mala hacia 1600. También su gesto de entregar el queso “por las bardas de un corral” connota un acto dudoso, dado que el entrar o salir “por las bardas” en otros episodios del Quijote caracteriza a los ladrones (cf. pp. 140, 476, 512). <?page no="145"?> 146 Wolfram Nitsch de lo irreal, que el protagonista experimenta ante el retablo de Maese Pedro, se convierte en una experiencia general y, al parecer de Cervantes, sintomática de la época de los corrales. <?page no="146"?> La abuela de Don Quijote o reflexiones sobre el estatuto de la historia en El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha Ana Mateos ¿[…] [C]ómo es posible que haya entendimiento en el mundo que dé a entender que ha habido en el mundo aquella infinidad de Amadises y aquella turbamulta de tanto famoso caballero tanto emperador de Trapisonda, tanto Felixmarte de Hircania, tanto palafrén, tanta doncella andante, tantas sierpes, tantos endriagos, tantos gigantes, tantas inauditas aventuras, tanto género de encantamentos, tantas batallas, tantos desaforados encuentros, tanta bizarría de trajes, tantas princesas enamoradas, tantos escuderos condes, tantos enanos graciosos, tanto billete, tanto requiebro, tantas mujeres valientes, y, finalmente, tantos y tan disparatados casos como los libros de caballerías contienen? De mí sé decir que cuando los leo, en tanto que no pongo la imaginación en pensar que son todos mentira y liviandad, me dan algún contento; pero cuando caigo en la cuenta de lo que son, doy con el mayor dellos en la pared, y aun diera con él en el fuego, si cerca o presente le tuviera, bien como a merecedores de tal pena, por ser falsos y embusteros y fuera del trato que pide la común naturaleza, y como a inventores de nuevas sectas y de nuevo modo de vida, y como a quien da ocasión de que el vulgo ignorante venga a creer y tener por verdaderas tantas necedades como contienen. Y aun tienen tanto atrevimiento, que se atreven a turbar los ingenios de los discretos y bien nacidos hidalgos […]. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), I, 49 1 Cerca del final de la primera parte, en los capítulos 49 y 50 de El ingenioso hidalgo Don Quijote de La Mancha , cuando se está trasladando a su protagonista en una celda de vuelta a su pueblo, se producen una serie de conversaciones teóricas sobre el estatuto de la ficción. Primero, el canónigo y el cura discuten cuestiones estéticas sobre los libros de caballería y, posteriormente, Don Quijote interviene en la conversación cuando se los califica de “mentira” para defender su carácter histórico, el que representan hechos acaecidos en el pasado. La discusión entre el canónigo y Don Quijote conlleva la exhortación de aquel a este último a que lea tratados históricos para adentrarse en el camino de la virtud. El canónigo sostiene que, a pesar de que los libros de caballería puedan dar “algún contento” no pueden conducir a una vida encomiable porque no narran 1 Ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998, p. 563. <?page no="147"?> 148 Ana Mateos acontecimientos pasados, asumiendo con ello el dicho de Cicerón de que la experiencia histórica es Magistra Vitae : “Y si todavía llevado de su natural inclinación quisiere leer libros de hazaña y de caballerías, lea en la Sagrada Escritura de los Jueces, que allí hallará verdades grandiosas y hechos tan verdaderos como valientes” (p. 564). En este comentario no quisiera adentrarme en la confusión por parte del canónigo, ya estudiada, entre los modelos hagiográficos y caballerescos, sino en la defensa de la historicidad de los libros de caballería por parte de Don Quijote. 2 Y es que, a continuación, como se lee en el texto transcrito a la cabeza de este comentario, el canónigo acusa a Don Quijote de tener por verdaderas narraciones que son falsas, basándose en un criterio de correspondencia o no con una realidad pasada. Así, tilda a Don Quijote de ignorante y falto de entendimiento por creer que los libros de caballería representan hechos pasados. A grandes rasgos, el canónigo se apoya en la definición aristotélica de historia que cobró vigor en el contexto de la revalorización de la Poética de Aristóteles en el siglo XVI con nuevas traducciones críticas al latín e italiano (a pesar de que la obra ya se conocía desde el siglo XIII). 3 Esta renovada apreciación se observa por ejemplo en los diálogos de Alonso López Pinciano, Philosophia antigua poetica (1596) 4 , de los que se conoce que fueron leídos por el propio Miguel de Cervantes. El interés por elucidar la diferencia entre ficción e historia coincidió con el desarrollo de la disciplina histórica como un ámbito de producción de la verdad sobre el pasado. Si, como se ha señalado, en la Edad Media, intencionadamente o no, los historiadores mezclaban registros ficticios con históricos, en el siglo XVI se intentó construir más claramente los límites entre los dos. Surgieron humanistas historiadores como Jerónimo de Zurita (1512-1580) y Ambrosio de Morales (1512-1591) que se esforzaron en delinear las fronteras entre la narración de ficción y la histórica reelaborando y evaluando los criterios para tal distinción, como el establecimiento de fuentes, nuevas formas de evidencia como monumentos e inscripciones y manejo más cuidado de los archivos. 5 Así, emergieron algunos de los historiadores más distinguidos del Siglo de Oro como el padre Juan de Mariana. Estos esfuerzos además llevaron, por ejemplo, a tildar de falsedades históricas los llamados Libros Plúmbeos o los falsos cronicones que en un principio se habían considerado válidos. 2 Cf. Ignacio Navarrete, “Hagiografía, caballería, y la verosimilitud”, in: Actas del XI Coloquio Internacional de la Asociación de Cervantistas , ed. Chul Park, Seúl: Universidad Hankuk de Estudios Extranjeros 2005, pp. 510-524. 3 Cf. Joel Elias Spingarn, A History of Literary Criticism in the Renaissance , New York: Columbia University 1908, pp. 16-18. 4 Cf. Alonso López Pinciano, Philosophía Antigua Poética , Madrid: Marsiega 1953. 5 Cf. Bruce W. Wardropper, “Don Quixote: Story or History? ”, in: Modern Philology 63/ 1 (1965), pp. 1-11, aquí p. 8. <?page no="148"?> La abuela de Don Quijote 149 En la disputa entre el canónigo y Don Quijote sobre la historicidad de los libros de caballería no se debate la diferencia básica entre historiografía y ficción según el criterio de correspondencia. Sin disolver tal diferencia, al mismo tiempo, se muestran las causas que llevaron a Don Quijote a tomar los libros de caballería por crónicas históricas y a través de ello se revela la complejidad de delimitar el campo de lo histórico. La demencia de Don Quijote no estriba, de acuerdo con el diálogo que discutiremos a continuación, solamente en un abuso de la lectura de novelas de ficción sino en errores de apreciación de los criterios utilizados por los historiadores para dar validez a las narraciones históricas. Esta discusión muestra una teoría de la historia que más que ser partícipe de un realismo inocente, como denomina Koselleck a la idea renacentista de base aristotélica de que el historiador ha de ser un espejo que refleje perfectamente la realidad pasada, 6 invita establecer un diálogo con teorías post-estructuralistas del siglo XX, que reflexionan sobre los vínculos entre la organización y categorización del conocimiento y las relaciones sociales -en las que no puedo adentrarme en este comentario por razón de espacio. Así, aunque no se elimina la frontera entre lo ficticio y lo histórico, meta que a veces se ha atribuido a la propia novela de Cervantes, este diálogo educa al lector sobre el proceso de construir la propia historia. Don Quijote, en respuesta al ataque del canónigo, hace una defensa de la historicidad de los libros de caballería aduciendo tres argumentos principales. El primero de ellos se centra en los testimonios de transmisión oral que determinan la creencia en la existencia de un hecho pasado: “habiendo personas que casi se acuerdan de haber visto a la dueña Quintañona que fue la major escanciadora de vino que tuvo la Gran Bretaña. Y esto es así que me acuerdo yo que me decía mi agüela de partes de mi padre cuando veía alguna dueña con tocas reverendas: ‘aquella, nieto, se parece a la dueña Quintañona’ de donde arguyo yo que la debió conocer ella o por lo menos debió alcanzar a ver algún retrato suyo” (p. 565sq.). Esta mención por Don Quijote de su abuela como prueba de la veracidad de los libros de caballería no deja de resultar, por lo menos, paródica. Al mismo tiempo, está apuntando a los criterios testimoniales utilizados por la disciplina de la historia para establecer la existencia de un hecho histórico pasado, que, por el simple hecho de haber dejado de existir, no se puede confirmar directamente. La credibilidad de los testimonios no depende tan sólo de un acto de fe depositado en un individuo singular sino que ha de ser corroborada por un número de testigos y fuentes, como garante de su veracidad. Así, Don Quijote cree en la historicidad de los personajes de los libros de caballerías porque, 6 Cf. Reinhart Koselleck, Futures Past: On the Semantics of Historical Past , tr. Keith Tribe, Cambridge: MIT Press 1985, p. 133. <?page no="149"?> 150 Ana Mateos según él, se pueden encontrar un número de voces, “habiendo personas”, que verifican el que existieron. En otro lugar de la novela se advierte más claramente sobre la posible falibilidad de los testigos y la cadena de intermediarios cuando Sancho está contando una historia sobre una pastora como si fuera verdadera. Don Quijote, sorprendido por el realismo de su escudero, le pregunta si alguna vez tuvo oportunidad de conocerla. Sancho responde: “No la conocí yo, pero quien me contó ese cuento me dijo que era tan cierto y verdadero que podía bien, cuando lo contase a otro, afirmar y jurar, que lo había visto todo” (p. 213). Aunque Sancho no ha sido testigo directo del acontecimiento, ha sido convencido de tal manera de su veracidad que se presenta como si lo hubiera sido, dando la impresión errónea de la existencia de numerosos testimonios inmediatos. Con la ingenuidad demostrada por Sancho, así como con la del propio Don Quijote, junto a su poco rigor en la valoración de los testimonios, “casi se acuerdan de haber visto”, se expone precisamente la complejidad del uso de los testimonios históricos como fuente de conocimiento histórico. Este uso es tanto más complicado cuanto, como Don Quijote señala, la gente habla de estas historias y de sus personajes como si fueran históricos. Así, le espeta al canónigo que “el encantado es vuestra merced, pues se ha puesto a decir tantas blasfemias contra una cosa tan recibida en el mundo y tan tenida por verdadera” (p. 565). Un desarrollo más acabado de este argumento lo encontramos al comienzo de la novela donde Don Quijote comenta que el cura y el barbero hablan de los personajes de los libros de caballería como figuras que existieron en el pasado: “Tuvo muchas veces competencia con el cura de su lugar -que era doctor, graduado en Cigüenza- sobre cuál había sido mejor caballero: Palmerín de Grecia o Amadís de Gaula, mas Maese Nicolás, barbero del mesmo pueblo, decía que ninguno llegaba al Caballero del Febo, y que si alguno se lo podía comparar era don Galaor, hermano de Amadís de Gaula” (p. 39). Al discutir quién “había sido mejor caballero” parece estar dotándose a Amadís de Gaula y al Caballero de Febo del mismo estatus de historicidad que los propiamente históricos. La observación que Cervantes realiza a través de las palabras de Don Quijote resulta implícitamente una crítica a la delimitación aristotélica del estatuto de lo ficticio como el campo de lo que podría ser, en tanto que no puede dar cuenta de la experiencia subjetiva y social de la ficción como una representación de aquello que también fue pero que, al mismo tiempo, no se basa en una correspondencia con el pasado. Porque ni el cura de su cuerpo ni el barbero creen que las historias de los libros de caballerías realmente existieron, sino que sólo hablan como si tal fuera el caso, y viceversa. Su ilusión radica a nivel de lo que hacen y no de lo que piensan que están haciendo, comportándose como <?page no="150"?> La abuela de Don Quijote 151 fetichistas prácticos, para utilizar el término de Slavoj Žižek 7 y anticipando la posterior distinción kantiana entre el ámbito de lo práctico y lo teórico, como independientes regímenes de verdad. En cambio, la quimera en la que vive Don Quijote conforma su propio entendimiento de la situación. Hoy en día, y como prueba de la consolidación que, con el paso de los siglos, ha obtenido la distinción moderna, ya observada por Cervantes, comprobamos, por ejemplo, que se visita la región de La Mancha, por ser considerada el lugar de nacimiento de Don Quijote, y se acude a la venta, a los molinos y demás lugares citados en la novela para ver por donde anduvo el famoso hidalgo. Esta suspensión de incredulidad está fomentada por la propia oficina de turismo de Castilla-La Mancha, que ofrece La ruta del Don Quijote a los visitantes que quieran recorrer la “Venta donde fue armado Caballero, la Encrucijada donde estuvo dudando […] Argamasilla donde quedó molido a palos […]”. 8 Ciertamente, estos visitantes, como la oficina de turismo, tampoco afirmarían que Don Quijote realmente existió, pero, adoptando un fetichismo práctico de índole moderna, al igual que el cura y el barbero, se relacionan con la ficción no como aquello que podría ser sino como lo que constituye el ámbito de lo que es desde su vivencia como lo que fue. El ‘error’ de Don Quijote, por lo tanto, advierte al mismo tiempo al lector de un uso más sofisticado de testimonios y fuentes como determinación de los criterios para construir el pasado histórico. El segundo argumento aducido por Don Quijote consiste en apelar a las instituciones como garantía de la historicidad de los libros de caballería señalando que están impresos “con licencia de los reyes y aprobación de aquellos a quienes se remitieron” (p. 567). Es el mismo tipo de razonamiento esgrimido por el ventero en otro lugar de la novela: “Bueno es que quiera darme vuestra merced a entender que todo aquello que estos buenos libros dicen sean disparatados y mentiras, estando impreso con licencia de los señores del Consejo Real” (p. 373). Don Quijote (y el ventero) destacan la función de la autoridad política, y en concreto la del rey, para establecer la veracidad e historicidad de los textos de aquel momento. Como caso particular y sobresaliente a resaltar se ha estudiado el papel de Alfonso X, en tanto que director del taller toledano de traductores, para establecer la categoría de los productos culturales distinguiendo entre ‘storia’ y ‘poesía’. 9 En ese taller, aunque eran los propios traductores quienes desarrollaban el trabajo, en último término, el rey, con su sello, determinaba 7 Cf. Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology , London: Verso 1989. 8 www.turismocastillalamancha.es/ folletos-digitales/ ruta-don-quijote/ (15/ 06/ 2018, mi énfasis). 9 Cf. Jesús Rodríguez-Velasco, “Espacio de Certidumbre. Palabra legal, narración y literatura en Las siete partidas (y otros misterios del taller alfonsí)”, in: Cahiers d’Études Hispaniques Médiévales 29 (2006), pp. 423-451. <?page no="151"?> 152 Ana Mateos y garantizaba la autenticidad de los mismos. Y, efectivamente, al abrir la obra de Cervantes, y como parte del paratexto, encontramos diversas autoridades representando al rey, y al rey mismo (firmando en abstracto como ‘Yo, el rey’), avalando y aprobando la impresión del texto. Junto con el esclarecimiento de los términos en los que se aprueba la impresión también se está estableciendo el estatuto de ficción de la novela cervantina al denominarla no ‘historia’ sino ‘libro’, apelativo utilizado en su momento para las obras de ficción, no las históricas. Don Quijote apunta así a la función que en aquel momento desempeñaban las autoridades políticas en delimitar normativamente el régimen de verdad histórica, y, según ese criterio, comete también el error de calificar a obras como las de Garci Rodríguez de Montalvo, de ‘crónicas’ cuando la autoridad las presentaba como ‘libros’. El tercer argumento se enfoca en las evidencias materiales que los historiadores utilizan para apoyar la veracidad de la historia: “Pues ¿quién podrá negar no ser verdadera la historia de Pierres y la Linda Magalona, pues aun hasta hoy se ve en la armería de los reyes la clavija con que volvía al caballo de Madera sobre quien iba el valiente Pierres por los aires, que es un poco mayor que un timón de carreta? Y junto a la clavija está la silla de Babieca y en Roncesvalles está el cuerno de Roldán, tamaño como una grande viga. De donde se infiere que hubo Doce Pares, que hubo Pierres, que hubo Cides y otros caballeros semejantes” (p. 566). La prueba que presenta Don Quijote aquí descansa en la ‘existencia’ de objetos mencionados por los libros de caballería y se apoya en el uso por parte de historiadores de pruebas físicas como criterio de verificación histórica. Así “en la armería de los reyes”, de historicidad incontestable, se encuentra también “la clavija con que volvía al caballo de Madera” y al lado de “la silla de Babieca”, perteneciente al incontrovertible personaje histórico del Cid, hallamos asimismo el “cuerno de Roldán”. Desde un punto de vista extradiegético, para el lector ideal que no cree en el estatus histórico de los libros de caballería, se está en realidad mostrando la posibilidad de que se pueda creer en pruebas que no emanan de acontecimientos pasados. Y, de modo más complejo, se está advirtiendo sobre la dificultad de delimitar pruebas auténticas de las construidas desde las narraciones de ficción en la medida en que son susceptibles de acusaciones de circularidad -como ha sido discutido por la teoría contemporánea de la historia. Una vez que el acontecimiento ha dejado de existir, es el discurso historiográfico, ya sea a través de fuentes informales de testimonios como de narraciones históricas propiamente dichas, el que dota de significado histórico a los objetos y lugares, que, al mismo tiempo, se utilizan para que, ‘de modo independiente’ avalen la propia narración histórica. Este argumento, sin conllevar necesariamente una <?page no="152"?> La abuela de Don Quijote 153 disolución de las fronteras de lo histórico y lo ficticio sí resulta una llamada de atención sobre la dificultad y complejidad en el uso de pruebas materiales. Como respuesta a la pregunta del canónigo, “¿cómo es posible que haya entendimiento en el mundo que dé a entender que ha habido en el mundo aquella infinidad de Amadises […]? ” Don Quijote muestra que su ‘locura’ no es efecto de un arrebato individual de demencia causada por a la lectura prolongada de libros de caballería sino que también descansa en errores de apreciación de criterios utilizados por la propia historiografía para determinar la veracidad de una narración. Al hacerlo, está apuntando al entramado socio-político -autoridad de las instituciones, testimonios, pruebas materiales- que sostiene un sistema de creencias en una historia pasada y que complica la tradicional teoría aristotélica de la correspondencia. Las exageraciones, los absurdos y los errores de Don Quijote conforman el carácter de parodia de su defensa de la historicidad de las novelas de caballería. Al mismo tiempo, dicha caricatura, lejos de ser una reductio ad absurdum de los elementos empleados por la disciplina de la historia, es una advertencia al lector y lo instruye sobre su propia vulnerabilidad y contingencia, sobre la que Cervantes también llamara la atención performativamente al presentar su novela como una traducción de un manuscrito árabe originariamente escrito por Cide Hamete Benengeli. <?page no="154"?> Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte. Textgeschichte und Kommentar Kurt Ochs Alcè los ojos, y vi la muerte en su Trono, y a los lados muchas muertes. Estaua la muerte de Amores, la muerte de Frio, la muerte de Hambre, la muerte de Miedo, la muerte de Risa, todas con diferentes insignias. La muerte de Amores estaua con muy poco sequito. Tenia, por estar acompañada, porque no se le corrompiessen con la antiguedad, a Piramo, y Tisbe embalsamados, y a Leandro, y Hero, y a Macias en cecina, y algunos Portugueses derretidos. Mucha gente vi que estaua ya para acabar debaxo de su guadaña, y a puros milagros del interes resucitauan. En la muerte de Frio vi a todos los Obispos, y Prelados, y a los mas Eclesiasticos, que como no tienen muger, ni hijos (que digan que lo son), estando malos, cada vno carga con lo que puede, y mueren de frio. En la muerte de Hambre vi a todos los ricos, pues como a gente bien mantenida, en cayendo malos, todo es dieta, y regla, de miedo de crudeças; de suerte que mueren de hambre, como los pobres de ahito, a causa de que dizen que todo es flaqueça, y nadie entra, que no les de algo, y comen hasta que rebientan. La muerte de Miedo estaua la mas rica, y pomposa, y con acompañamiento mas magnifico, porque estaua toda cercada de gran numero de Tiranos, y poderosos, por quien se dixo, Fugit impius nemine persequente. Estos mueren a sus mismas manos, y sus sayones son sus conciencias, y ellos son verdugos de si mismos, y solo vn bien hazen al mundo, que matandose a si de miedo, recelo, y desconfiança, vengan de si propios a los Inocentes. Estauan con ellos los Auarientos cerrando cofres, y arcones, y ventanas, enlodando resquicios, hechos sepulturas de sus talegos, desuelados, y pendientes de qualquier ruydo del viento; los ojos hambrientos de sueño, las bocas quexosas de las manos, y las almas trocadas en plata y oro. La muerte de Risa era la postrera, y tenia vn grandissimo cerco de confiados, y tarde arrepentidos. Gente que viue como sino huuiera justicia, y muere como sino huuiera misericordia. Estos son los que diziendoles: restituyd lo mal lleuado, dizen: Es cosa de risa. Mirad que estais viejo, y que ya no tiene el pecado que roer en vos, dexad la mugercilla que embaraçais inutil, que cansais enfermo; mirad que el mismo diablo os desprecia ya por trasto embaraçoso, y la misma culpa tiene asco de vos, y el Infierno se hace melindroso en veros? Mirad que parece que ya no ay que morir en vos. Responden: Es cosa de risa, y que nunca se sintieron mejores. Otros ay que estando enfermos, y exortandolos a que hagan testamento, que se confiessen, dizen: Que se sienten buenos, y que es cosa de risa, que han estado de aquella manera mil vezes. Estos son gente que estan en el otro mundo, y aun no se persuaden a que son difuntos. Marauillòme esta vision, y dixe herido del dolor, y conocimiento: Dionos <?page no="155"?> 156 Kurt Ochs Dios vna vida sola, y tantas muertes, de vna manera se nace, y de tantas se muere: si bueluo al otro mundo, yo procurarè empeçar a viuir bien por la muerte. Francisco de Quevedo, Sueño de la muerte (1621) 1 Der Sueño de la muerte 2 ist der letzte von insgesamt fünf Sueños von Quevedo, die zwischen 1605 und 1621 entstanden sind. In seiner Leservorrede A quien leyere weist Quevedo selbst auf diese Tatsache hin und zählt in chronologischer Reihenfolge die Titel der vier vorausgegangenen Sueños auf: „Este es el quinto tratado, al Sueño del Juyzio, al Alguazil endemoniado, al Infierno, y al mundo por de dentro, no me queda ya que soñar.“ (p. 100sq., Z. 20-23) Im Folgenden erklärt der Autor selbstironisch, dass es nach so vielen Träumen endlich Zeit sei aufzuwachen. Ansonsten fürchte er, zu einem „siete durmiente“ zu werden. Am Ende des Widmungsbriefes A doña Mirena Riqueza 3 , der in der vorliegenden Textversion der Leservorrede vorangeht, präzisiert der Autor Ort und Zeit der Abfassung folgendermaßen: „En la prisión, y en la torre a seis de Abril del año 1621.“ (p. 100, Z. 15-16) Mit „la prisión“ und „la torre“ ist der Landsitz der Familie Quevedos im Dorf Torre de Juan Abad in der Mancha gemeint, wohin sich Quevedo, vom Hofe verbannt als Folge der königlichen Ächtung seines Gönners, des Herzogs von Osuna, 1621 zurückziehen musste. Die Gebäude beherbergen heute ein sehr sehenswertes Quevedo Museum. I. Zur Textgeschichte des Sueño de la muerte Die Textgeschichte des Sdlm ist kompliziert und entspricht in vielfacher Hinsicht der Editionspraxis literarischer Texte in Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts. Der Text wurde nach seiner Entstehung 1621 zunächst in handschriftlicher Form verbreitet und 1627 zum ersten Mal gedruckt. 4 Die Zeitspanne zwischen der handschriftlichen Verbreitung und der ersten Drucklegung ist, im Gegensatz 1 Textversion, Orthographie, Seiten- und Zeilenzählung nach unserer kritischen Ausgabe, edd. Karl Maurer, Ilse Nolting-Hauff (†) und Kurt Ochs, Tübingen: Narr 2013, hier pp. 130-134, Z. 419-468. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe im laufenden Text verwiesen. 2 Im Folgenden abgekürzt: Sdlm . 3 Anagramm aus María Enríquez [de Guzmán], Tochter des Conde de Cedilla und Ehrendame der Königin. 4 Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Textzeugen und ihrer Beziehungen zueinander ist Gegenstand der ausführlichen Einleitung unserer kritischen Ausgabe ( Sdlm. Kritische Ausgabe , pp. 1-97). Cf. hierzu auch den Beitrag von Kurt Ochs, „Vorstellung des Editionsprojekts“, in: Textüberlieferung - Textedition - Textkommentar. Kolloquium zur Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des ‚Sueño de la muerte‘ von Quevedo (Bochum 1990), ed. Ilse Nolting-Hauff, Tübingen: Narr 1993, pp. 1-10. <?page no="156"?> Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 157 zu den anderen vier Sueños , relativ gering. Abschriften vom nicht erhaltenen Original wurden von Freunden Quevedos und Interessenten angefertigt bzw. bei Kopisten in Auftrag gegeben. Von der ursprünglich sehr viel größeren Anzahl von Handschriften sind insgesamt fünf erhalten: das Ms. 9073 der Biblioteca Nacional, Madrid (Sigel Ma), das Ms. 152 der Biblioteca de Menéndez Pelayo, Santander (Sigel Sa), das Ms. 809 der Bibliothèque Municipale, Dijon (Sigel Di), das Ms. Aldecoa, Villanueva de los Infantes (Ciudad Real) (Sigel Al) und das Ms. Hospederías Reales, Villanueva de los Infantes (Sigel Hr). 5 Die Manuskripte Ma, Sa und Di sind unvollständig : Sie brechen ungefähr in der Mitte des Textes unvermittelt ab und zwar am Beginn (Sa) bzw. am Ende (Di) der Pero- Grullo- Episode. Die Manuskripte Al und Hr sind dagegen vollständig und enthalten jeweils den kompletten Text. Alle Manuskripte weichen z.T. erheblich voneinander ab und zeigen eine Reihe von Überlieferungsfehlern wie Verlesungen, Hörfehler und Auslassungen. Anzeichen einer Durchsicht oder einer Kollation von Seiten des Autors sind nicht erkennbar. Trotz der Überlieferungsfehler bieten die Manuskripte häufig eine bessere Lesart als die Drucke und repräsentieren bisweilen als einzige Textzeugen die ursprüngliche Version. Die Erstausgabe der Sueños erscheint unter dem Titel Sueños y discursos […] 1627 in Barcelona (Sigel B). In diesem und im folgenden Jahr werden in schneller Folge drei weitere Drucke veröffentlicht, ein Indiz für den großen Erfolg der Sueños : 1627 zwei voneinander unabhängige Ausgaben in Zaragoza (Sigel Zc und Zv), 1628 eine Ausgabe in Valencia (Sigel V). Die vier Drucke wurden wohl aus Rücksicht auf die Zensur außerhalb Kastiliens herausgegeben. An der Veröffentlichung war Quevedo nicht ganz unbeteiligt, obwohl er die Ausgaben nach ihrer Indizierung zu Raubdrucken erklärte. Die editio princeps B weicht vielfach von den früheren Überlieferungszeugen ab. Sie basiert auf einer von Quevedo selbst überarbeiteten Druckvorlage und diente in dieser Form teilweise oder ganz als Vorbild für spätere Drucke, so u. a. für Zv, V und die erste autorisierte Ausgabe von 1631 (Sigel M). Unter den frühen Drucken kommt der Zv-Ausgabe eine Sonderstellung zu. Die unter dem neuen Titel Desvelos soñolientos, y verdades soñadas veröffentlichte Ausgabe enthält nur drei Sueños und setzt den chronologisch letzten Sdlm an die erste Stelle des Zyklus. Die Abweichungen zu den übrigen Druckfassungen haben hauptsächlich 5 Die beiden letztgenannten Manuskripte sind erst vor einigen Jahren aufgetaucht und befanden sich bis zu seiner Schließung im Museo histórico-artístico de la Hospedería Real de Quevedo in Villanueva de los Infantes (Ciudad Real). <?page no="157"?> 158 Kurt Ochs zwei Ursachen: 1. Vander Hammen, der Verleger von Zv, benutzte eine Vorlage, die den Manuskripten nahesteht. 2. Vander Hammen hat den Text intensiv bearbeitet. Im Zusammenhang mit der von Gegnern Quevedos betriebenen Indizierung seiner Werke veröffentlichte Quevedo 1631 eine stark veränderte autorisierte Ausgabe, in der fünf Sueños zusammen mit anderen satirischen Werken unter dem Gesamttitel Jvgvetes de la niñez, y travessvras del ingenio herausgegeben werden. Die einzelnen Sueños erhalten neue Titel: Aus dem Sdlm wird die Visita de los chistes . Der M- Druck bietet eine besonders stark deformierte Version der Sueños . Der Text wurde vor allem im Sinne einer Purgierung überarbeitet und die von der Inquisition beanstandeten religiösen und politischen Anspielungen zum größten Teil gestrichen. Für die Überarbeitung war ein Freund Quevedos, Alonso Mesía de Leyva, Kanonikus aus Toledo, verantwortlich. Quevedo hat jedoch Ergänzungen vorgenommen und einige Textstellen neu redigiert. II. Situierung der Textstelle Der Sdlm beginnt mit einer kurzen Rahmenhandlung, die für Traum- und Visionsliteratur typisch ist. Der Ich- Erzähler, der in vielfacher Hinsicht mit dem Dichter Quevedo starke Ähnlichkeiten aufweist, 6 schläft bei der Lektüre eines antiken Textes (Auszug aus Lukrez, De rerum natura ) niedergeschlagen und erschöpft ein. Gelöst von den Fesseln der äußeren Sinne entsteht im Traum ein Schauspiel, das er selbst als „comedia“ bezeichnet, in der er in seiner Fantasie gleichzeitig die Rolle von Zuschauer und Theater einnimmt. Es treten daraufhin nacheinander in Gruppen Figuren auf, die auch sonst im Mittelpunkt der Satiren Quevedos sowohl in seinen Prosatexten wie auch in seinen Verstexten stehen. Sie sind in einer Weise gekleidet und führen solche Gerätschaften mit sich, die sie traditionell als typische Vertreter ihres Berufsstandes ausweisen: Ärzte auf Mauleseln mit schwarzen Schabracken, ausgestattet mit Ring und stinkenden Handschuhen, da sie ständig mit Harngläsern und Nachttöpfen herumhantieren, in Begleitung von Apothekern mit Spateln, Klistierspritzen und verrottenden Medikamenten, Zahnreißer mit Ketten aus Zähnen um den Hals, Barbiere mit Gitarren, schließlich eine größere Menschenmenge mit Schwätzern, Klatschmäulern, Lügnern und besonders aufdringlichen und lästigen Personen. Nach kurzer Pause erscheint plötzlich eine weibliche Figur, deren Identität der 6 Kurz vor Ende des Sdlm begegnet der Erzähler einer Figur aus zwei seiner eigenen Entremeses , nämlich Diego Moreno, der sich zornig darüber beklagt, sein ‚Autor‘ habe ihn grundlos zum Prototypen eines ‚cabrón‘ bzw. ‚cornudo‘ (Hahnrei) gemacht und damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Streit wird zunächst verbal ausgetragen, geht dann aber in Handgreiflichkeiten über. Am Ende droht der Erzähler, weitere Stücke über ihn zu schreiben, wenn er wieder auf der Erde sein werde. <?page no="158"?> Erzähler auf Grund ihres Aussehens und ihrer höchst seltsamen Ausstattung gar nicht einzuschätzen vermag. Sie trägt gleichzeitig prächtige und armselige Kleidung, führt u. a. Kronen, Szepter und Sicheln mit sich, außerdem Gold und Würgeeisen, Diamanten und Erdklumpen, Kieselsteine und Perlen. Sie hat ein Auge offen, das andere geschlossen, sieht von einer Seite jung aus, von einer anderen alt, ist zugleich bekleidet und nackt, mal nah und dann wieder entfernt. Auf die Frage des Erzählers, wer sie sei, antwortet sie: „La Muerte“. Der Erzähler ist starr vor Schrecken, da er meint, seine letzte Stunde sei gekommen. Die „muerte“ aber kann ihn beruhigen: Sie sei nur hier, um ihn als Lebenden für einen gemeinsamen Besuch bei den Toten in der Hölle abzuholen. Darauf stürzen sich beide hinab in einen Schlund, durchqueren eine weite Ebene, in der die Dunkelheit der Nacht gespeichert zu sein scheint, und treten durch eine kleine Pforte in den Gerichts- und Audienzsaal des Todes. III. Kommentar Zu Beginn des Textausschnitts inszeniert sich der Erzähler als Beobachter („Alcè los ojos […] vi“, Z. 1) und Kommentator des Geschehens, eine Haltung die er häufig im Text einnimmt. Daneben gibt es aber auch zahlreiche Stellen, in denen er sich auf (Streit-)Gespräche mit den auftretenden Figuren einlässt, die sich bis zu Ringkämpfen steigern können. 7 Im Mittelpunkt des Textausschnitts steht die Darstellung des Todes auf dem Thron und seiner Begleitung, die sich aus verschiedenen Todesarten zusammensetzt. An seiner Seite befinden sich der Liebestod, der Kältetod, der Hungertod, der Tod aus Angst und der Tod aus Lachen. Ihnen sind jeweils adäquate Insignien (Z. 3) zugeordnet. Bei den verschiedenen Todesarten handelt es sich um Personifikationen gängiger Redensarten, die vom Autor ironisiert und parodiert werden. Der erste in der Reihe der Todesarten ist der Liebestod. Er ist nur mit einem sehr kleinen Gefolge („muy poco sequito“, Z. 3) vertreten. In einigen Textzeugen wird ihm ein „poquito seso“ (SaBVM), also ein sehr kleines Gehirn, zugesprochen, eine Variante, die in einem der Manuskripte wohl als Fehler entstanden ist und dann in B, und, wie viele Fehler in B, von V und M übernommen wurde. Im Gefolge des Liebestodes befinden sich neben den Protagonisten unglücklicher Liebesgeschichten der Antike wie Pyramus und Thisbe und Hero und Leander auch der Dichter Macías, ein galizischer Troubadour aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Er trägt den Beinamen ‚El Enamorado‘ und gilt als Prototyp des unglücklichen Liebhabers. Zu ihnen gehören außerdem einige dahingeschmolzene („derretidos“, Z. 5), d. h. aus Liebeskummer in Tränen aufgelöste 7 So z. B. in der Diego-Moreno-Episode (Z. 1451-1506) kurz vor dem Aufwachen. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 159 <?page no="159"?> 160 Kurt Ochs Portugiesen. Der mit „derretidos“ beschriebene Zustand der nach Meinung der Spanier der Barockzeit in Liebesdingen schnell entflammbaren Portugiesen fehlt in den Manuskripten und im Zv-Druck und wurde wohl zur Verstärkung im Erstdruck B ergänzt. Um der Verwesung zu entgehen, sind Pyramus und Thisbe und Hero und Leander einbalsamiert, während Macías als Dörrfleisch („en cecina“, Z. 5) verewigt ist. Die Textvariante „en zeniza(s)“ (als Asche) in zwei Manuskripten (Ma und unterstrichen und am Rand korrigiert in Hr) ist wohl am ehesten der Fantasie eines Skribenten zuzuschreiben. Das Bild der vielen Menschen, die der Sense des Todes anheimfallen, ist traditionell, das Wunder ihrer Auferstehung („resucitauan“, Z. 6) aus Geldgier allerdings schon auf Grund der Terminologie antiklerikal. Beim Kältetod befinden sich als Vertreter der hohen geistlichen Würdenträger alle Bischöfe und Prälaten sowie die meisten Kleriker. Sie sterben vor Kälte, da ihre Ehefrauen und Nachkommen - der ‚lockere‘ Umgang mit den Vorschriften des Zölibats ist ein traditionelles Thema der antiklerikalen Satire - nicht nur ihre Beziehungen verleugnen, sondern sich im Krankheitsfall der Geistlichen deren Besitztum aneignen und sie einsam und allein und ohne Wärme, sicherlich auch eine sexuelle Anspielung, zurücklassen. In der Ausgabe letzter Hand M werden die ‚Obispos‘, ‚Prelados‘ und ‚Eclesiásticos‘ aus Rücksicht auf die Zensur durch „Ricos“ ersetzt, eine literarisch unbefriedigende Ersatzstelle, die den satirischen Impuls deutlich schwächt. Die Aussagen zum Hungertod, dem besonders die Reichen mit ihrem Geiz anheimfallen, entspricht der in der Sprichwörtersammlung von Gonzalo Correas 8 zitierten Redensart: „Los pobres mueren ahitos, y de hambre los ricos.“ 9 Bei der Aufzählung der verschiedenen Todesarten (Z. 1-2) am Beginn des vorliegenden Textausschnitts wird der Hungertod nach dem Kältetod ausdrücklich erwähnt, im Erstdruck B sowie in den seiner Textversion häufig folgenden Drucken V und M jedoch übergangen. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um eine absichtliche Textänderung in B, sondern um ein besonders im Erstdruck häufiges Versehen in Form einer Haplographie. Der Tod aus Angst ist am prächtigsten ausgestattet und von vielen Tyrannen und Mächtigen umgeben, die in ständiger Angst vor Verfolgung leben und sterben und auf diese Weise sich quasi an sich selbst für ihre Missetaten rächen. Mit ihnen zusammen sind die Geizhälse, die sich selbst zerstören und aus lauter Angst bestohlen zu werden, nicht mehr schlafen können und deshalb aus Geldgier hungrig sterben. Im Zusammenhang mit dem Bild der Geizigen, deren „bocas quexosas de las manos“ (Z. 18) sind, verweist James O. Crosby 10 auf das 8 Vocabulario de refranes y frases proverbiales [1627], ed. Louis Combet, Madrid: Castalia 2000. 9 Ibid., p. 474. Cf. hierzu auch Francisco de Quevedo y Villegas, Sueños y discursos , ed. James O. Crosby, 2 vols., Madrid: Castalia 1993, vol. II [Kommentar], FN 394-399, p. 1429. 10 Ibid., FN 407-411, p. 1430. <?page no="160"?> bekannte Sprichwort „Mal dan manos a boca, cuando no tienen qué coma.“ 11 Das Verhalten der Geizigen, die ihr ganzes Leben danach ausrichten, ihr Vermögen nicht zu verlieren und somit „ihre Seelen gegen Silber und Gold eintauschen“ (Z. 18), wird bereits in der Bibel, in satirischen Texten der Antike (z. B. bei Horaz und Juvenal) und in der spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts häufig kritisiert. Quevedo hat in einer seiner Obras ascéticas , nämlich in einem Traktat mit dem Titel Virtud militante contra las cuatro pestes del mundo y cuatro fantasmas de la vida , der „avaricia“ als „cuarta peste del mundo“ ein ganzes Kapitel gewidmet und sie als „gravísimo pecado“ und als „idolatría“ bezeichnet. 12 Das lateinische Bibelzitat „ Fugit impius nemine persequente “ (Z. 13) stammt aus dem Buch der Sprüche , Kap. 28, Vers, 1, und wird, wie die meisten Bibelzitate im Text, in der Ausgabe letzter Hand M gestrichen. In der Zv- Ausgabe unseres Textes, 1627 in Zaragoza erschienen, wird das lateinische Zitat nicht weggelassen wie in M, sondern ins Spanische übersetzt („huye el malo, sin que ninguno le siga“), wobei allerdings „impius“ des Originals generalisierend durch „el malo“ ersetzt wird. Im Text des Sdlm sind sowohl in den Manuskripten wie in den Drucken jeweils etwa gleichlautende Randbemerkungen vorhanden. In der vorliegenden Textstelle weicht der Skribent des Manuskripts Di insofern vom bisherigen Usus ab, indem er nicht nur, wie sonst üblich, den Gegenstand der Textstelle am Rand notiert, sondern durch die Formulierung „hermosa descripcion del Avariento“ auch noch seine Hochachtung vor dem Text zum Ausdruck bringt. Die letzte in der Reihenfolge der verschiedenen Todesarten ist die „muerte de Risa“. Ihr kommt im Textausschnitt der größte Textanteil zu (Z. 18-27). Ihr Erscheinen gibt dem Erzähler die Gelegenheit, sich über die gedankenlose Verwendung der Redensart ‚es cosa de risa‘ lustig zu machen. Die Absurdität, auf bestimmte Lebenssituationen mit dieser Redensart sprachlich zu reagieren, wird an drei Beispielen demonstriert. Das erste Beispiel betrifft den Dieb, der sich weigert, gestohlenes Gut zurückzugeben und sein Verhalten zynisch mit „es cosa de risa“ begründet, das zweite den alten Mann, der eine junge Frau schwängert, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen, und das dritte den Todkranken, der es ablehnt, sein Testament zu machen und die Beichte abzulegen, obwohl er bereits vom nahen Tod gezeichnet ist. Aus den Beispielen zieht der Erzähler den folgenden Schluss: Sollte er aus der Hölle heraus und wieder in die Welt zurückkehren können, will er sein Leben so einrichten, dass er sich auf den Tod hin orientiert („viuir bien por la muerte“, Z. 30). 11 Zitiert bei Correas, Vocabulario , p. 483. 12 Francisco de Quevedo y Villegas, Obras completas , 2 vols., Madrid: Aguilar1961, vol. I: Obras en prosa , p. 1270. Der Tod auf dem Thron in Quevedos Sueño de la muerte 161 <?page no="161"?> 162 Kurt Ochs Aus textkritischer Sicht sind im Zusammenhang mit der „muerte de risa“ drei Textstellen interessant, an denen jeweils im Erstdruck B und in den nachfolgenden Drucken V und M Lücken vorhanden sind. Das gilt 1. für die Auslassung von „y el Infierno … morir en vos.“ (Z. 23-24), eine Variante, die als Fehler in B zu bewerten ist, der durch die zweimalige Verwendung von „vos“ (Z. 23 und Z. 24) entstanden ist und von V und M übernommen wird. 2. Die Auslassung von „que es cosa de risa“ (Z. 26) ist als ähnlicher Fehler einzuordnen. 3. Beim Fehlen von „bien por la muerte“ (Z. 30) in BVM handelt es sich dagegen um eine bewusste Textänderung. Mit ihr wird „die vom Thema vorgegebene asketische Todesorientierung verworfen“ 13 . Ein weiteres Beispiel für eine eigenmächtige Veränderung des Textes mit Interpretament aus dem Kontext, wie sie gerade im Zv-Text sehr häufig sind, stellt folgender Zusatz dar: Statt „y dixe herido“ (Z. 28) heißt es in Zv: „al fin sobre todas, y viendo estas, y otras mil diferencias, herido“. Der Herausgeber sieht hier ganz offensichtlich die Notwendigkeit, den Text in seinem Sinn zu verdeutlichen und einen mehr oder weniger gelungenen Übergang zur folgenden Aussage zu schaffen. Der weitere Textverlauf wird von den zahlreichen Begegnungen mit Figuren aus Sprichwörtern und Redensarten bestimmt, die dem Erzähler auf seinem Weg durch die Hölle in Begleitung des Todes widerfahren. 14 Schon vom Umfang her (Z. 600-832) kommt dabei der Begegnung mit dem Marqués de Villena, einem berühmten Autor und Schwarzkünstler des Spätmittelalters, die größte Bedeutung zu. 15 Dieser befindet sich als eine Art brodelndes Hackfleisch in einem gläsernen Kolben. In einem langen Gespräch erfährt er vom Erzähler, in welcher Situation sich Spanien zurzeit befindet und wie es in der Gesellschaft zugeht. Daraufhin entschließt er sich, angesichts der offensichtlichen Missstände im Diesseits lieber weiter im Kolben zu verweilen und nicht auf die Erde zurückzukehren. Die letzte Begegnung ist die bereits erwähnte mit Don Diego de Noche. Im Laufe der Streitigkeiten, die mit Bissen und Schlägen ausgetragen werden, dreht sich der Erzähler in einer heftigen Bewegung im Bett herum und wacht auf: „Con esto me hallè en mi aposento tan cansado, y tan colerico, como si la pendencia huuiera sido verdad, y la peregrinacion no huuiera sido sueño.“ (p. 203sq., Z. 1508-1511) Die zu Beginn des Sdlm aufgebaute Rahmenhandlung wird somit am Ende wieder aufgenommen und in einer kurzen Episode zum Abschluss gebracht. 13 So die Einleitung unserer kritischen Ausgabe, p. 65. 14 Demgemäß erhält der Sdlm in der Ausgabe letzter Hand M (1631) den neuen Titel Visita de los chistes . 15 In den Manuskripten (mit Ausnahme von Di) erscheint er als Figur bereits im Titel, z.B.: Vissita De la muerte y el Marques de Villena en la Redoma Hr. <?page no="162"?> Philologie träumen. Über Witz, Zufall und trouvaille Judith Kasper Manche witzige Einfälle sind wie das überraschende Wiedersehen zweier befreundeter Gedanken nach langer Trennung. Friedrich Schlegel et al., Athenaeums-Fragmente (1798) 1 La trouvaille me paraît équilibrer tout à coup deux niveaux de réflexion très différents, à la façon de ces brusques condensations atmosphériques dont l’effet est de rendre conductrices des régions qui ne l’étaient point et de produire des éclairs. André Breton, L’amour fou (1937) 2 Auch der Zufall ist nicht unergründlich , er hat seine Regelmäßigkeit. Novalis, Das allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik (1798/ 99) 3 I. In den drei Zitaten, die nicht ohne eine gewisse Willkür zusammengestellt worden sind, blitzen der Zufall, der Witz und der glückliche Fund - wahrlich keine zuverlässigen Begleiter bei der Suche nach Sinn, Bedeutung, Wahrheit - wie kleine Funken auf. Alle drei Textstellen sprechen von einer gespannten Energie, die vom Zufall hervorgerufen ist. Ob es sich dabei um einen genialen Einfall oder um einen kontingenten Kurzschluss handelt, ist von Fall zu Fall vermutlich neu zu entscheiden und hängt wesentlich davon ab, mit welcher intellektuellen und emotiven Einstellung die Betrachter dem Phänomen begegnen. Zu- und Zwischenfälle solcher Art können unbemerkt verpuffen, sie können aber auch Staunen und Lachen erregen und manchmal sogar zu neuen Erkenntnissen führen. Sie sind momenthaft, will man sie aber auf Dauer stellen, dann erfahren sie in der Regel eine konzeptuelle Verwandlung, wofür starke Begriffe wie tyche und Fortuna, göttliche Fügung, Schicksal und Notwendigkeit bereit stehen. Die 1 In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe , ed. Ernst Behler, Erste Abteilung, vol. II, München et al.: Schöningh 1967, p. 171 (Fragment Nr. 37). 2 In: Id., Œuvres complètes , vol. II, Paris: Gallimard Pléiade 1992, pp. 674-785, hier p. 701. 3 Hamburg: Meiner 1993, p. 174. <?page no="163"?> 164 Judith Kasper drei Zitate sind von solcher Absorption des Zufalls nicht frei, und doch kommt in ihnen auch das Anliegen zum Ausdruck, den Zufall als solchen zu würdigen, mit ihm einen Umgang zu finden, der ihn weder als schiere Kontingenz abfertigt noch in eine der philosophisch anerkannten und vertrauteren Konzepte und Kategorien verwandelt. Mit der Frage nach dem Umgang mit dem Zufall ist eine Frage angesprochen, die Literatur und Philologie direkt angeht. Beide sind in den drei Zitaten aufs Engste ineinander verwoben. Ihre Engführung macht unter anderem bis heute den Reiz der frühromantischen Fragmente ebenso wie mancher surrealistischer Texte aus. II. Einer der genialisch-witzigen Züge in Friedrich Schlegels frühem Denken und Schreiben besteht darin, immer wieder erneut in überraschender Weise kulturelle, religiöse, philologische und philosophische Konzepte, die gemeinhin als einander entgegengesetzte oder weit voneinander entfernt liegende betrachtet werden, punktuell und blitzartig aufeinander zulaufen zu lassen. Blitzartig berührt sich dann das, was sich sonst nicht begegnet und in einem kategorialen Sinne auch nicht begegnen sollte. Die Zusammenführungen und Konstellationen mögen zunächst Unglauben und Überraschung hervorrufen, um dann eventuell ungeahnte Energien des Denkens freizusetzen. Darin wird kein stabiles Wissen hervorgebracht, sondern werden vor allem Momente der Unterbrechung provoziert. Kein Fragment steht dabei je fest, alle huschen blitzschnell vorüber, sind schon längst von einem anderen abgelöst, in dem sich die Dinge und Verhältnisse schon wieder anders darstellen. Insofern stehen wir, den jungen Schlegel der Kritischen Fragmente , der Athenäums-Fragmente und der Ideen lesend und uns seinen Geistesblitzen aussetzend, stets auf unsicherem Boden, einem Boden, den er selbst einige Jahre später im Zuge seiner Konversion zum Katholizismus zugunsten eines restaurativen, nationaldeutschen Denkens aufgegeben hat. Vielleicht mag man an dieser Wende ermessen, wie schwierig es ist, sich denkend und schreibend dauerhaft in einem fragmentarisch provisorischen, ungesicherten, radikal offenen Denken aufzuhalten. Umgekehrt ließe sich aber schließen, dass die Fähigkeit, immer weiter zu fragen und zu suchen, dabei das Erproben und Verwerfen und Korrigieren von Gedanken nicht aufzugeben, auch noch beim Älterwerden für eine jugendliche Frische zu sorgen verspricht. Im Denken des jungen Schlegel ist keine Definition je in sich geschlossen. Stets wird sie, wo immer sie sich formuliert, zugleich de-finiert und auf ein Anderes hin geöffnet. So blitzartig wie das Fragment und die darin zum Ausdruck kommende De-finition aufleuchtet, so sehr ist das Denken, das sich darin formuliert, auch eines, das sich in permanentem Aufschub befindet. Wie der Witz ist dieses <?page no="164"?> Philologie träumen 165 Denken in fragmentarisch aufeinander zulaufenden Gegensätzen auf einen stets noch zu kommenden Dritten angewiesen, in dem es eingelöst, vereint, aber auch aufgelöst wird - und im Staunen oder Lachen verpufft. Die vereinigende Kraft, die man in Schlegels Witz-Denken, im Einklang mit ihm, immer wieder hervorgehoben hat, ist aber zugleich eine zersprengende und trennende. Diese gleichzeitig entgegengesetzte Kraftausrichtung hält in seinem Denken die beiden unvereinbaren Gegensätze des Absoluten einerseits und des irreduzibel Fragmentarischen andererseits untrennbar getrennt zusammen: man könnte meinen wie zwei Freunde, die sich nach langer Zeit wiederbegegnen und sich sofort in ein leidenschaftliches Streitgespräch miteinander verwickeln. III. Das frühromantische Feuerwerk wurde allzu schnell abgefackelt, aber es wurde mehr als hundert Jahre später mit neuem Brennmaterial aus Witz, Traum, Zufall und Eros in der modernen Großstadt Paris noch einmal entfacht. 4 Unter anderen kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen erproben die Surrealisten noch einmal ein Dichten, das mit einem philologischen Fragen einher geht, das sich dem Zufälligen ausliefert und im Alltäglich-Profanen Epiphanien aufleuchten sieht. Der ästhetische Absolutheitsanspruch, den beide Avantgardebewegungen - die Frühromantik um 1800, der Surrealismus in den 1920er und 1930er Jahren - für sich formulieren, erschließt sich vielleicht gerade vor dem Hintergrund ihrer Exponiertheit an den Zufall - bei Mallarmé wäre im Übrigen Ähnliches festzustellen. Es ist, als treibe der Zufall das Ästhetische als ein Absolutes hervor. Aber wenn das der Fall ist, wie kann dann das Absolute angesichts des Zufälligen überhaupt bestehen? Stellt nicht gerade der Zufall das Absolute - das ganz aus sich selbst heraus Notwendige und Abgetrennte, „l’auto-nécessité de la production“, „ab-solutum, détaché de tout“ 5 - radikal in Frage? Wird das Absolute nicht durch das Zufällige in seiner Konsistenz bedroht? Und wenn ja, würde der Zufall dann nicht das Absolute wieder öffnen auf neue Verbindungen, die es selbst nicht in sich zu halten vermag? Weder die Frühromantiker noch die Surrealisten geben auf diese Fragen eindeutige Antworten. Sie eröffnen vielmehr experimentelle Spielräume, in denen Begegnungen mit dem Zufälligen erfahren und reflektiert werden. Die vermeintlich göttlichen Fügungen - glücklicher oder unglücklicher Art, trouvaille oder 4 Dass hier von einer relativ direkten Rezeptionslinie ausgegangen werden darf, darauf verweist Maurice Blanchot in seinem Essay über das Athenaeum in: L’entretien infini , Paris: Gallimard 1969, pp. 515-527, hier p. 515. 5 Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand , Paris: Seuil 1978, p. 78sq. <?page no="165"?> 166 Judith Kasper Unfall - erfahren keine abschließende Deutung. Sie werden vielmehr, durchaus euphorisch, als provisorische Unterbrechung und produktive Veränderung einer Verlaufsform des Denkens und Wahrnehmens empfangen. IV. Eine wichtige Wirkung dieser Vorgehensweise mag in der Suspension des Urteils und in dem damit verbundenen Aufschub von Deutung erkannt werden. Das Hermeneutische, das ja im Kontext der Frühromantik entstanden ist, ist direkt von der Anziehung durch den Zufall und den Witz tangiert und herausgefordert. An der Provokation, die von ihm ausgeht, scheiden sich die Geister. Der Methodenstreit in den Literaturwissenschaften, der in den Athenäen in den 1970/ 80er Jahren ausgebrochen ist und noch heute gelegentlich aufflackert, hat vermutlich auch damit zu tun, inwieweit man bereit ist, das Denken, Lesen und Deuten durch solche winzigen und vergänglichen Momente erregen zu lassen. So unbedeutend Zufall und Witz sein mögen, sie machen noch jeder Methode einen Strich durch die Rechnung. Denn sobald sie in ihrem Unbedeutend-Sein auffällig werden, zur Deutung drängen, bedrohen sie Deutung in ihrer vernünftigen Nachvollziehbarkeit und liefern sie dem Verdacht idiosynkratischer Überdeterminiertheit aus. Frühromantiker und Surrealisten sind zweifelsohne solche idiosynkratischen Leser. Sie produzieren ein erhitztes Denken. Sie machen sich neben dem Intellekt auch den Affekt zum Ratgeber. Dadurch provozieren sie die philologische Einstellung, und zwar nicht einfach von außen, sondern von innen heraus, insofern sie durch die affektiv aufgeladene Art und Weise ihres Denkens, Schreibens und Lesens den Wortsinn von philein in der Philologie besonders stark hervortreten lassen. In der Tat ist die Philologie, die diese Dichter betreiben, eine Freundeswissenschaft, in der der Austausch, der Zuruf, die Unterbrechung durch den Anderen unverzichtbare Momente darstellen. Ein zentrales Wort in den Athenäums-Fragmenten ist die Geselligkeit. Sie ist das Milieu, in der der Witz wirken kann, als intellektuelles Funkenschlagen ohne eigentliche Autorschaft. Bei den Surrealisten erkennen wir ein ähnlich gelagertes Anliegen. Am produktivsten hat es sich bei ihnen in den Experimenten niedergeschlagen, die sie „cadavres exquis“ genannt haben. Der Dictionnaire abrégé du surréalisme definiert sie folgendermaßen: „[ J]eu qui consiste à faire composer une phrase, ou un dessin, par plusieurs personnes sans qu’aucune d’elles puisse tenir compte de la collaboration ou des collaborations précédentes.“ 6 6 André Breton, Paul Eluard, Dictionnaire abrégé du surréalisme , Paris: Galérie des Beaux Arts 1938, Nachdruck in: Paul Eluard, Œuvres complètes , Paris: Gallimard Pléiade 1968, vol. I, pp. 719-796, hier p. 730. <?page no="166"?> Philologie träumen 167 Erzählt und reflektiert wird die Bereicherung des surrealistischen Weltverhältnisses durch den Zufall in besonders anrührender Weise in L’amour fou , dem letzten Teil von Bretons Trilogie, der 1937 erschienen ist. Hier schildert Breton - als Antwort auf eine von Paul Éluard in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure vorgenommenen Rundfrage zum Thema Zufall und Notwendigkeit -, wie er mit seinem Freund Alberto Giacometti über einen Pariser Flohmarkt flaniert und beiden unabhängig voneinander, und doch nur im Verbund miteinander, glückliche trouvailles zukommen, die beide in gleichsam traumwandlerischer Weise aus einer Sackgasse herausbefördern, in die ihr jeweiliges Begehren geraten war. Amour fou benennt schon im Titel das erotische Kraftfeld, in dem der Zufall verhandelt wird. Die surrealistischen coups de foudre sind Gedanken- und Liebesblitze - beide sind voneinander nicht zu trennen -, die sich im Zusammenspiel mit dem Zufall ereignen. Dass der zufallsgeleitete Fund (für Giacometti eine Halbmaske aus Metall mit lamellenartigen Augenschlitzen; für Breton ein Holzlöffel, der in einem kleinen Frauenschuh ausläuft) in solch freisetzender Weise als Katalysator - wie es in L’amour fou heißt - 7 wirksam wird, verdankt sich Breton zufolge vor allem der Tatsache, dass ihnen diese Funde während eines gemeinsamen Spaziergangs zugekommen sind: „J’observe en passant que les trouvailles que Giacometti et moi nous faisons ensemble répondent à un désir qui n’est pas un désir quelconque de l’un de nous mais bien un désir de l’un de nous auquel l’autre, en raison de circonstances particulières, se trouve associé. […] Je serais tenté de dire que les deux individus qui marchent l’un près de l’autre constituent une seule machine à influence amorcée. La trouvaille me paraît équilibrer tout à coup deux niveaux de réflexion très différents, à la façon de ces brusques condensations atmosphériques dont l’effet est de rendre conductrices des régions qui ne l’étaient point et de produire des éclairs“ (p. 701). Und weiter: „Sur le plan individuel l’amitié et l’amour […] sont seuls capables de favoriser cette combinaison brusque, éclatante de phénomènes qui appartiennent à des séries causales indépendantes“ (p. 703). In den unabhängigen Kausalreihen, die sich im Kontext von Freundschaft plötzlich einander durchdringen, klingt auch die eigentümliche Regelmäßigkeit des Zufalls an, über die Novalis in dem eingangs zitierten Fragment räsoniert. Zufälle, so könnte man meinen, gedeihen besonders gut im Milieu der Freundschaft. 7 Breton, L’amour fou , p. 701 (alle folgenden Zitate hieraus mit Seitenangaben im laufenden Text). <?page no="167"?> 168 Judith Kasper V. Giacometti und Breton sind von einem Begehren angetrieben, das keinem von ihnen gehört. Es scheint vielmehr das unbewusste Band zwischen ihnen zu bilden. Beide kreisen um ein präzises und doch kaum benennbares und unerreichbares Objekt. Die Kreisbahnen überschneiden sich, verwirbeln sich einer Übertragungsdynamik zufolge ineinander. Die so verwirbelten Kreisbahnen des Begehrens führen nicht zum Objekt, aber doch zur Begegnung mit anderen Zielen, die sich als konkrete Gegenstände darbieten. Indem sie vom Objekt des Begehrens ablenken, tragen sie die begehrenden Subjekte diesem doch zu, wohl auch, weil das Objekt nicht einfach starr und festgelegt ist, sondern sich durch die gefundenen Gegenstände verändert. Die Dinge auf dem Flohmarkt, die in die Kreisbahn des Begehrens eintreten, bilden für Breton einen „hasard objectif “ (p. 691). Sie sind Katalysatoren einer Reaktionskette, durch die das Begehren auf seiner Bahn weitergetrieben wird. Katalyse heißt „Auflösung“. Die Idee der Auflösung ist auch in der frühromantischen Idee des Absoluten als etwas Abgelöstem präsent und ebenso in der frühromantischen Auffassung vom Witz als „menstruum universale“ 8 . Die Chemie, aus der Breton hier seine Metaphorik bezieht (wie im Übrigen häufig auch die Frühromantiker) bezeichnet mit Katalysator einen Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Reaktion erhöht, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Der Zufall als Katalysator löst also Anderes auf, ohne sich selbst aufzulösen. Eine auflösende Reaktion hervorrufend, bleibt damit der Gegenstand als schierer Zufallsfund immer noch bestehen. Breton schildert in diesem Sinne, wie die gefundene Halbmaske nachträglich und blitzartig - après coup - Giacometti die Eingebung schenkt, wie er den Kopf einer Statue, an der er sich selbst den Kopf zerbrochen hatte, nun zu gestalten hat: „[L]’intervention du masque semblait avoir pour but d’aider Giacometti à vaincre, à ce sujet, son indécision. La trouvaille d’objet remplit ici rigoureusement le même office que le rêve, en ce sens qu’elle libère l’individu de scrupules affectifs paralysants …“ 9 Der Holzlöffel, der in einem Frauenschuh ausläuft, wird sich für Breton selbst hingegen als die unvermutete Erfüllung eines Wunsches erwiesen haben, der allein am Zipfel eines Traumes hängt - nämlich den geträumten Worten „le cendrier Cendrillon“ (p. 701). Breton wünscht sich die Übertragung dieser 8 Der Ausdruck stammt aus der Feder von Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs , vol. III: Das philosophische Werk II, edd. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl, Gerhard Schulz, Stuttgart: Kohlhammer 3 1983, p. 269. Cf. Jean-Luc Nancy, „Menstruum Universale“, in: SubStance 6-7/ 21 (1978-1979), pp. 21-35. 9 Breton, Eluard, Dictionnaire abrégé du surréalisme , p. 700. <?page no="168"?> Echobildung in eine Plastik, Giacometti hätte einen Pantoffel modellieren sollen; Breton hätte dieses anschließend in graues Glas gießen lassen, um ihn als Aschenbecher zu verwenden. Doch Giacometti kommt dem Wunsch nicht nach, vermutlich auch, weil er mit seiner Statue nicht fertig wird. Breton schildert, wie ihn der unerfüllt gebliebene Wunsch quält: „Le manque éprouvé réellement, de cette pantoufle, m’inclina à plusieurs reprises à cette longue rêverie, dont je crois dans mon enfance retrouver trace à son propos. Je m’impatientais de ne pouvoir imaginer concrètement cet objet, sur la substance duquel plane d’ailleurs par surcroit l’équivoque euphonique du mot ‚vair‘. Le jour de notre promenade il n’en était plus question entre Giacometti et moi depuis longtemps“ (p. 702). Die Zwischenkunft des Holzlöffels wird nachträglich diesen Wunsch verwandelt haben, indem er ihn an sich bindet. Verzögert zeichnet sich in ihm - zumindest in Bretons Träumerei - Aschenputtels Schuh ab, aber auch die Kürbis-Karosse, in der Aschenputtel in Perraults Version des Märchens befördert wird, sowie die Bedeutung eines jener Küchengeräte, die Aschenputtel vor ihrer Verwandlung vermutlich gehandhabt hat (cf. p. 702). Die Verwandlung der Objekte unterm künstlerisch-begehrenden Blick steht der Feenbegabung aus dem Märchen in nichts nach. Aber Breton lässt im Unterschied zum Märchen den Gegenstand in seinem rohen So-Sein weiterhin gelten, indem er ihn photographisch ausstellt. Der Medienwechsel von der die Phantasie befördernden Schrift zum dokumentarischen Gestus der Photographie ist hier ästhetisch entscheidend. Der Montage-Schnitt erzeugt den Witz: Der profane Holzlöffel blickt in seiner buchstäblichen Materialität der Wunschphantasie, die er metaphorisch erfüllt hat, noch einmal grinsend entgegen. VI. Auch wenn aus historisch-kritischer Distanz das Jenaer Unternehmen um 1800 und auch das surrealistische Programm der 1920er und 1930er Jahre in vielerlei Hinsicht problematisch und unhaltbar erscheinen (die inneren ungelösten Widersprüche haben jeweils zur relativ schnellen Auflösung der Gruppe und dem Abbruch des damit verbundenen poetisch-philologischen Projekts geführt), so haben sie doch ein Erbe hinterlassen, das auf eine Philologie, die sich selbst nicht nur der Pflege überlieferter Wissensbestände verpflichtet sieht, sondern Neuland in der Erfahrung mit dem Sprachlich-Poetischen erkunden möchte, immer noch zukommen wird. Bislang war vor allem eine dekonstruktivistischpsychoanalytisch orientierte Philologie bereit, die Herausforderungen, die von Frühromantik und Surrealismus ausgehen, aufzunehmen und sich davon im eigenen Tun provozieren zu lassen. Die Dekonstruktion hat dieses doppelte Erbe angenommen. Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe haben 1978 Philologie träumen 169 <?page no="169"?> 170 Judith Kasper mit ihrer kommentierten Anthologie L’absolu littéraire in verdienstvoller Weise das Denken und Schreiben der deutschen Frühromantiker dem französischen Publikum zugänglich gemacht und für die eigene Theoriebildung aktualisiert. Der Surrealismus wiederum ist vor allem fruchtbar in die Lacan’sche Weiterentwicklung der Freud’schen Psychoanalyse eingegangen, die für die Dekonstruktion bekanntlich ebenfalls ein wichtiges Paradigma darstellt. In diese Richtung weiterzudenken und weiterzugehen, hieße auch wahrzunehmen und zu registrieren, wie das lesende Stoßen auf Details und Witze, das Stolpern über Unsinnsstellen sowie die Fehlleistungen im Leseprozess selbst Momente der Verzückung und des Lachens im Hier und Jetzt hervorrufen können. Solche Momente ereignen sich vermutlich vornehmlich beim gemeinsamen Lesen, wie es gelegentlich noch in universitären Seminaren stattfindet. Was passiert in diesen Situationen mit der Philologie? Man könnte meinen, sie verrückt dann zur Philo logie und entgründet sich als Philo logie - und auch diese Akzentverschiebung ist nicht ohne Witz, insofern sie als eine Art paronomastische Verschiebung zu seinen zentralen Stilmitteln gehört. 10 Philo logie steht als eine das Lesen belebende und beflügelnde Kraft aber in einem witzig-aggressiven Zerwürfnis mit den Standards akademischer Literaturwissenschaft. Doch wäre es vielleicht an der Zeit, dieses Zerwürfnis nicht als verbitterten Streit auszutragen, der dann irgendwann geschlichtet werden soll - dies würde der Beschäftigung mit Literatur nicht zuletzt den antreibenden Stachel ziehen, den sie braucht -, sondern vielmehr als Begegnung zweier alter Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, zu erleben. Dafür ist es vielleicht auch wichtig, ab und an das Athenäum zu verlassen und gemeinsam über den Flohmarkt der Literaturgeschichte zu streifen. Wer weiß, welche antagonistischen Freunde sich dort begegnen und welche außer Gebrauch geratenen Gegenstände und Texte ihnen während ihres Spaziergangs ins Auge springen würden! 10 Cf. hierzu Sandro Zanetti, „ Das Kommode und das Kommende: Zum Witz der Paronomasie“ , in: Der Witz der Philologie: Rhetorik - Poetik - Edition , edd. Felix Christen et al., Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld, pp. 40-48. <?page no="170"?> „Baudelacroix“: Klangfarben und Farbklänge Edi Zollinger […] Delacroix, lac de sang, hanté des mauvais anges, Ombragé par un bois de sapins toujours vert, Où, sous un ciel chagrin, des fanfares étranges Passent comme un soupir étouffé de Weber […]. Charles Baudelaire, „Les Phares“ (1857) 1 Als „Baudelacroix“ sind Baudelaire und Delacroix gemeinsam in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen. 2 Wie der mythische Hermaphroditus, von dem es bei Ovid heißt, er habe die unterschiedlichen Qualitäten seiner Eltern Hermes und Aphrodite dergestalt in sich vereint, dass sie beschlossen, ihm ihrer beider Namen zu geben, 3 verbindet der Maler-Poet „Baudelacroix“ die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Dichters mit denjenigen des Malers. Zusammen sind sie - gleichsam als Inkarnation von Horaz’ ut pictura poesis - zum Mythos geworden. Den Grundstein zum Mythos „Baudelacroix“ hat wohl Baudelaire selbst in seinen Schriften zur Kunst gesetzt. Immer wieder musste er über Delacroix schreiben. Bis er den „prodigieux coloriste“ 4 im Salon de 1859 schließlich über alle anderen Koloristen stellte. Auf die Farbgebung, das war für Baudelaire klar, kommt es in der Malerei nämlich zuallererst an. Und wer das Spiel mit den Farben so beherrscht wie Delacroix, dem gehört der höchste Thron im Malerolymp. Im Salon de 1846 widmet Baudelaire dem Thema Farbgebung ein ganzes Kapitel. Es heißt „De la couleur“ 5 und verrät, obwohl der Name Delacroix darin 1 In: Œuvres complètes I , ed. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 14. Der vorliegende Artikel stützt sich auf Recherchen zu Baudelaire und Delacroix, die mein Freund Laurent Baumann und ich vor vielen Jahren gemeinsam an der Universität Zürich durchgeführt haben. 2 Zum Mythos „Baudelacroix“ siehe Anne Larue, Romantisme et Mélancholie: le „Journal“ de Delacroix , Paris: Honoré Champion 1998, pp. 55-76. 3 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen , ed./ tr. Gerhard Fink, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2004, p. 184. 4 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 636. 5 Ibid., pp. 422-426. <?page no="171"?> 172 Edi Zollinger nur ein einziges Mal fällt, schon sehr genau, was Baudelaire an Delacroix so fasziniert. Das Kapitel setzt mit der Beschreibung einer schönen Stelle in der Natur ein. Man solle sich einen Ort vorstellen, wo alles grüne und sich röte: „Supposons un bel espace de nature où tout verdoie, rougeoie, […].“ 6 Das Meer sei grün, die Bäume seien grün, die Wiesen seien grün, das Moos sei grün, das Grün schlängle sich durch die Baumstämme; noch nicht reife Halme seien grün. Grün, so folgert Baudelaire, sei der Grundton der Natur. Und was ihn vor allem packe, sei, dass überall - als Beispiele nennt er Klatschrosen im Gras, Mohnblumen und Papageien - das Rot den Ruhm des Grünen singe: „Ce qui me frappe d’abord, c’est que partout, - coquelicots dans les gazons, pavots, perroquets, etc., - le rouge chante la gloire du vert […]“. 7 Was Baudelaires Auge an roten Blumen in der grünen Wiese oder am rotgrünen Gefieder des Papageis so packt, nennt die Farbenlehre Komplementärkontrast. Kommen zwei Farben, die sich im Farbkreis diametral gegenüberstehen, dicht nebeneinander zu liegen, dann verstärken sie sich gegenseitig in ihrer Leuchtkraft - und reizen dadurch die Netzhaut des Betrachters besonders intensiv. Das intensive Farberlebnis bereitet Baudelaire nun nicht nur großen Genuss, es stellt ihn als Sprachkünstler auch vor eine größere Herausforderung. Wie soll man dem visuellen Phänomen Komplementärkontrast mit Worten auf dem Papier beikommen? Im ersten Satz von „De la couleur“ wählt Baudelaire noch ein ganz einfaches Mittel. Wie der Maler, der auf seiner Leinwand die Farben Grün und Rot direkt nebeneinander platziert, setzt er die Verben grünen und sich röten in „tout verdoie, rougeoie“ dicht an dicht. Später im Kapitel wird Baudelaire diese Technik weiterentwickeln und zum Beispiel in der Wendung „le vert s’empourpre richement“ 8 das Grün sogar einmal purpurrot aufleuchten lassen. Bis er dann, noch zwei Seiten später, ein anderes, nicht minder raffinierteres Verfahren ausprobiert. Dort denkt er darüber nach, woran es wohl liegen könnte, dass es ihm ausgerechnet die beiden Farben Rot und Grün dermaßen angetan haben, und er meint, vielleicht sei ja eine süßsaure Erinnerung, die ihm aus früheren Jahren geblieben sei, daran Schuld. Lange habe er nämlich vor seinem Fenster eine Schenke gehabt, die halb grasgrün, halb knallrot angestrichen gewesen sei. Die Farbkombination habe seinen Augen einen köstlichen Schmerz, „une douleur délicieuse“ 9 , bereitet. Und mit der „douleur délicieuse“, die der starke Sinnesreiz seiner Netzhaut beschert haben soll, schafft Baudelaire dabei einen Ausdruck, der sich selbst gleichsam wie ein Wort gewordener Komplementärkontrast liest, entspricht der köstliche Schmerz in seiner Logik doch sehr genau der Farbkom- 6 Ibid., p. 422. 7 Ibid. 8 Ibid., p. 423. 9 Ibid., p. 425. <?page no="172"?> „Baudelacroix“ 173 bination, die ihn auslöst. Was dem Maler der Komplementärkontrast, das ist dem Dichter das Oxymoron, die rhetorische Figur, die gegensätzliche Ausdrücke zusammenführt. So treffen in der „douleur délicieuse“ Schmerz und Genuss genauso so kitzelnd aufeinander wie die Farben Rot und Grün auf der Fassade vor Baudelaires Fenster - die ihm den süßen Schmerz erst bereitet haben. Die Tatsache, dass Baudelaire, eine bestimmte Farbkombination vor Augen, köstliche Schmerzen empfinden kann, ist noch aus einem anderen Grund interessant. Für Baudelaire, das ist bekannt, bestehen zwischen verschiedenen Sinneseindrücken synästhetische Beziehungen. Farben kann er genauso fühlen, wie er Klänge sehen kann. Ein Geruch entspricht bei ihm einer Farbe, ein Geschmack einem Klang. Und sie alle verstehen sich problemlos untereinander. Nur darum können sich in „Correspondances“, dem vierten Gedicht der Fleurs du Mal , Gerüche, Farben und Töne ganz selbstverständlich antworten: „Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.“ 10 Auch im Kapitel „De la couleur“ spielt Baudelaire dauernd mit Farb- und Klangassoziationen. Obwohl es ihm in seinen Ausführungen doch eigentlich um die Malerei geht, ist darin auch immer wieder von Symphonien, Echos, Melodien, Tönen, Fanfaren und Harmonien, oder auch einmal von einer Hymne, vom Kontrapunkt oder vom Bassetthorn die Rede. Baudelaire nimmt damit eine Technik wieder auf, die er ein Jahr vor „De la couleur“ bereits in einem Delacroix gewidmeten Kapitel seines Salon de 1845 ausprobiert hat. Vor dessen Bild Sultan du Maroc entouré de sa garde et de ses officiers sprach er nicht etwa, wie es in einer Bildbesprechung zu erwarten wäre, von Farbverläufen, Farbkombinationen und Farbnuancen, sondern von eigenwilligen Melodien, außergewöhnlichen Akkorden und köstlichen Tönen: „Fit-on jamais chanter sur une toile de plus capricieuses mélodies ? un plus prodigieux accord de tons nouveaux, inconnus, délicats, charmants ? “ 11 Was Baudelaire vor Delacroix’ Bild zu derartigen Begeisterungsausbrüchen treibt, dürfte dabei bereits mit dem Komplementärkontrast zu tun haben. Im gleichen Aufsatz schwärmt er nämlich auch davon, wie ausgewogen Delacroix - namentlich in den Dernières paroles de Marc-Aurèle - die Farben Grün und Rot einzusetzen verstehe: „Cette pondération du vert et du rouge plait à notre âme“ 12 , heißt es da. Und Baudelaire meint weiter, das Publikum mache sich ja keine Vorstellung davon, wie schwierig es sei, mit Farben zu modellieren. Sei der Schatten grün und das Licht rot, so gelte es, auf Anhieb eine „harmonie de vert et de rouge“ 13 zu finden, damit der Eindruck eines einfarbigen Gegenstandes 10 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 11. 11 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 357. 12 Ibid., p. 355. 13 Ibid. <?page no="173"?> 174 Edi Zollinger entstehe. Und mit „harmonie“ wählt er dabei wieder einen Begriff, der nicht nur eine ausgewogene Farbkombination, sondern vor allem auch einen wohltönenden Zusammenklang meinen kann. Wie Baudelaire schlägt auch Delacroix selbst gern einen musikalischen Ton an, wenn er über Farben nachdenkt. In seinem Journal liest man in einem undatierten Eintrag, die Farben seien die Musik der Augen. Sie würden sich wie Noten kombinieren lassen, und es gebe sieben Farben, wie es sieben Noten gebe. Die Farbnuancen würden dabei den Halbtönen entsprechen: „Les couleurs sont la musique des yeux ; elles se combinent comme les notes ; il y a sept couleurs comme il y a sept notes, il y a des nuances comme il y a demi-tons.“ 14 Für Baudelaire und Delacroix ist klar, dass sich Malerei und Musik bis in die kleinsten Komponenten, die einzelnen Farbnuancen und Halbtöne, entsprechen. Und vielleicht ist es ja gerade die Tatsache, dass die beiden so ähnlich denken, die es für Baudelaire so schwierig macht, über Delacroix zu schreiben. Immer wieder beklagt er sich darüber, wie schwer es ihm falle, die Wirkung, die Delacroix’ Bilder auf ihn haben, in Sprache zu fassen. Besonders eindrücklich im Salon de 1859. 15 Dort meint Baudelaire, er zermartere sich den Kopf, um ihm eine Formel zu entreißen, in der Eugène Delacroix’ „ spécialité “ angemessen zum Ausdruck komme. Dieser sei ein vorzüglicher Zeichner, ein wunderbarer Kolorist, ein leidenschaftlicher und fruchtbarer Bildgestalter, das alles sei offensichtlich, das alles sei gesagt worden. Es erkläre aber noch lange nicht, woher es komme, dass er die Empfindung der Neuheit hervorrufe. Und es sage nicht, was uns Delacroix mehr gebe als die Vergangenheit. Er sei ebenso groß wie die Großen, ebenso geschickt wie die Geschickten, meint Baudelaire, bevor er sich abschließend fragt, woran es denn liegen könnte, dass uns Delacroix dennoch besser gefalle als diese alle: „Je tourmente mon esprit pour en arracher quelque formule qui exprime bien la spécialtié d’Eugène Delacroix. Excellent dessinateur, prodigieux coloriste, compositeur ardent et fécond, tout cela est évident, tout cela a été dit. Mais d’où vient qu’il produit la sensation de nouveauté ? Que nous donne-t-il de plus que le passé ? Aussi grand que les grands, aussi habile que les habiles, pourquoi nous plaît-il davantage ? “ 16 Mit seiner Klage bezieht sich Baudelaire implizit auf seine alte Einsicht, dass die Sprache der Kunstwissenschaft an sich nur beschränkt dafür geeignet ist, über Kunstwerke Auskunft zu geben. Im Salon de 1846 meint er darum einmal, die beste Form für die Rezension eines Bildes wäre wohl diejenige eines Sonetts 14 Eugène Delacroix, Journal de Eugène Delacroix , vol. III: 1857-1863 , ed. André Joubin, Paris: Plon 1932, p. 391. 15 Cf. Baudelaire, Œuvres complètes II , pp. 608-682. 16 Ibid., p. 636. <?page no="174"?> „Baudelacroix“ 175 oder einer Elegie. 17 Und tatsächlich setzt er in seinem Artikel zur Exposition universelle (1855) 18 für die Besprechung der dort gezeigten Bilder von Delacroix dann auch ein erstes Mal Gedichte als Mittel der Kritik ein. Zuerst zitiert Baudelaire dort Théophile Gautiers „Compensation“ 19 und dann ein paar Verse eines nicht namentlich genannten Dichters, der sich mit Delacroix’ Farbgebung und mit dem sozusagen musikalischen Eindruck, der „impression […] quasi musicale“ 20 seiner Bilder, befasst habe. Die Verse sind diejenigen, die man am Anfang des vorliegenden Artikels abgedruckt findet - und stammen natürlich von Baudelaire selbst. Er hat sie „Les Phares“ entnommen, 21 dem sechsten Gedicht der Fleurs du Mal , von dessen elf Strophen die ersten acht der Reihe nach je eine den Künstlern Rubens, Leonardo, Rembrandt, Michelangelo, Puget, Watteau, Goya und Delacroix gewidmet sind. Die acht Maler und Bildhauer - so die übliche Deutung - stehen darin für die im Gedichttitel genannten Leuchttürme, die „Phares“, die dem orientierungslosen Poeten den Weg durch die Nacht weisen. Versucht man den Inhalt der Delacroix gewidmeten Strophe auf Deutsch wiederzugeben, dann ergibt sich in etwa folgendes Bild: Baudelaire setzt Delacroix mit einem Blutsee gleich, der von bösen Engeln überflogen und von einem immergrünem Fichtenwald überschattet wird, wo unter tiefvergrämtem Himmel seltsame Fanfaren vorbeiziehen, wie ein erstickter Seufzer von Weber. Das ist nun nicht ganz leicht verständlich und kann den Leser recht ratlos stehen lassen. Manch einer wünschte sich darum, irgendjemand würde ihm die kryptischen Verse erläutern. Und genau das tut Baudelaire jetzt in dem Artikel, in dem er die vier Zeilen, die er selbst zu Delacroix verfasst hat, als Beispiel dafür zitiert, wie sich über Malerei schreiben ließe. Er liefert dem Leser eine stichwortartige Deutung der eigenen Strophe. Sie lautet wie folgt: „ Lac de sang : le rouge ; - hanté des mauvais anges : surnaturalisme ; - un bois toujours vert : le vert, complémentaire du rouge ; - un ciel chagrin : les fonds tumultueux et orageux de ses tableaux ; - les fanfares et Weber : idées de musique romantique que réveillent les harmonies de sa couleur.“ 22 17 Ibid., p. 418. 18 Ibid., pp. 575-597. 19 Ibid., p. 590sq. 20 Ibid., p. 595. 21 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 13sq. 22 Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 595. In der ersten Version des zitierten Artikels, die am 3. Juni 1855 in Le Pays erschienen ist, fehlen der Vierzeiler und die Erläuterungen dazu noch. Baudelaire hat sie, zusammen mit einigen Überlegungen zu Verbindungen, die zwischen Farb- und Klangakkorden bestehen, erst nach Erscheinen der Fleurs du Mal in seinen Artikel eingefügt. Zur Datierung verschiedener Versionen des Artikels siehe Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 854, Anmerkung 1 zu p. 14, und Baudelaire, Œuvres complètes II , p. 1366sq. <?page no="175"?> 176 Edi Zollinger Glaubt man Baudelaires stichwortartigem Kommentar zur eigenen Strophe, dann geht es darin, wie in den kunstkritischen Texten, die er zu Delacroix verfasst hat, unter anderem wieder stark um die Komplementärfarben Rot und Grün und auch wieder um Verknüpfungen zwischen Malerei und Musik: Der Blutsee will zur Farbe Rot assoziiert werden, der immergrüne Wald zu deren Komplementärfarbe Grün, und die Fanfaren und Weber sollen uns eine Vorstellung von romantischer Musik geben, wie sie Delacroix’ Farbharmonien in uns wecken. Das ist nun alles recht gut nachvollziehbar - aber sind damit auch wirklich alle Rätsel gelöst? Natürlich verrät Baudelaire mit seinen Anmerkungen zum eigenen Vierzeiler nicht das ganze Geheimnis seiner Dichtkunst. Er gibt seinem Leser höchstens einen Wink, worauf er beim Lesen zu achten hat. Zum Beispiel auf Parallelen, die zwischen Malerei und Musik, zwischen Farben und Klängen, zwischen Sichtbarem und Hörbarem bestehen. So ist es wohl auch kein Zufall, dass im Klangbild der „fanfares“, die Baudelaire neben dem Komponisten Weber zur Musik der Romantik assoziiert, wieder die „Phares“ aus dem Gedichttitel aufleuchten. Baudelaire malt dem Klangbild der weitherum hörbaren Fanfaren die weitherum sichtbaren Leuchtfeuer versteckt ein, verbindet das auditive mit dem visuellen Ereignis - und er gibt damit seinem Leser, gleichsam verdichtet, eine geheime Leseanleitung für die ganze Strophe mit: Willst du, meint die Leseanleitung, in meinen Versen zu Delacroix Farben sehen, dann musst du nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren lesen. Wie ein Maler mit seiner Farbe auf die Leinwand male ich dir als Dichter mit Klangfarben aufs Trommelfell. Und erst, wenn du dich richtig in die „fanfares“ hineingehorcht hast, wirst du vernehmen, was ich dir zum phare Delacroix zu sagen habe. Hat man das einmal verstanden, dann liest man Baudelaires Strophe zu Delacroix plötzlich ganz neu. Auf einmal hört man jetzt in deren letztem Wort „Weber“, dem Namen des deutschen Komponisten, der auf Französisch [vebɛʀ] ausgesprochen wird, die Farbe Grün als [vɛʀ] mit. Nennt Baudelaire in seinem Gedicht vielleicht auch darum genau diesen und keinen anderen Komponisten der Romantik, weil sein Name für den Synästheten grün klingt? „Weber“ reimt am Ende der Strophe auf den „bois de sapins toujours vert“ des zweiten Verses. Und mit diesem immergrünen Fichtenwald, der - glaubt man Baudelaires Kommentar - für das zum Rot komplementäre Grün, „le vert, complémentaire du rouge“, stehen soll, malt uns Baudelaire den vielleicht raffiniertesten Komplementärkontrast der französischen Literatur ins Ohr. Sowohl die Fichte als auch den Wald assoziieren wir leicht zur Farbe Grün, die den Vers im Reim abschließt. Und genau zwischen den „bois de sapins […]“ und das Adjektiv „[…] vert“ setzt Baudelaire das Wort „toujours“, dem die Farbe rouge klanganagrammatisch eingeschrieben steht. Das Lautbild von „toujours“ lässt <?page no="176"?> „Baudelacroix“ 177 sich sogar zu tout rouge verdrehen, und im immergrünen Fichtenwald blitzt es plötzlich ganz rot auf. Und jetzt findet man den Komplementärkontrast auf einmal überall in Baudelaires Klangbild. Im Gegensatz zum immergrünen Fichtenwald soll der Blutsee aus dem ersten Vers zur Farbe Rot assoziiert werden: „ Lac de sang : le rouge“, beginnt der Kommentar. Aber ist dieser See wirklich nur rot? Denken wir beim Lesen der ersten Silbe „lac […]“ nicht für einen Sekundenbruchteil an grünblaues Seewasser, bevor sich dieses erst durch die Silben „[…] de sang“ überraschend blutrot färbt? Vielleicht leuchtet dieser Blutsee ja auch darum so intensiv rot, weil wir zunächst für die Länge eines Wimpernschlags schon einen dazu komplementären grünen See vor dem inneren Auge hatten. Im ersten Vers wird der Name Delacroix mit ebendiesem Blutsee gleichgesetzt: „Delacroix, lac de sang […]“, beginnt der Vierzeiler. Und tatsächlich hat ja „Delacroix“ sowohl in seinem Schriftals auch in seinem Klangbild einiges mit dem „lac de sang“ gemeinsam. „Delacroix“ nimmt bereits die Silben de und lac vorweg, deren Echo kurz darauf im „lac de sang“ nachhallt. Und während im „lac de sang“ der zur Farbe Grün assoziierte See wörtlich vor das zur Farbe Rot assoziierte Blut zu stehen kommt, liegt im Namen „Delacroix“ der lac wiederum direkt vor dem roi , einem französischen König, den wir in unserem ikonographisch geschulten Unterbewusstsein in Königspurpur gewandet vor uns stehen sehen. Bis der Name des Künstlers, der gemäß Baudelaire den rotgrünen Komplementärkontrast beherrscht wie kein anderer, selbst gleichzeitig seegrün und purpurrot leuchtet. Wie die Delacroix gewidmete achte Strophe von „Les Phares“ beginnen auch die sieben Strophen davor jeweils mit dem Namen des Künstlers, um den es darin gehen soll. Mit einer Ausnahme. Nach Rubens, Leonardo, Rembrandt und Michelangelo tritt in der fünften Strophe der Maler Puget nicht gleich zu Beginn, sondern erst im vierten Vers der Strophe auf. Die Strophe selbst beginnt mit den Worten: „Colères de boxeur […]“ 23 , in denen, das ist schon Philippe Hamon aufgefallen, zwar nicht der Name Puget, dafür aber das Klanganagramm von Baudelaire mitschwingt: „LERE DE BO / „co LERE DE BO xer“ 24 , schlüsselt Hamon die Lautmalerei auf. So schreibt sich Baudelaire am privilegierten Platz, zu Beginn der Strophe, gleich selbst in die Reihe der wegweisenden Leuchttürme der bildenden Kunst ein. Er mischt die Klänge, die seinen eigenen Namen ausmachen, unter die ersten Worte der Strophe und benutzt dabei eine Technik, die er dann ganz ähnlich in der achten Strophe wieder anwendet, wenn er uns 23 Baudelaire, Œuvres complètes I , p. 13. 24 Philippe Hamon, Imageries: littérature et image au XIX e siècle , Paris: José Corti 2001, p. 108sq. <?page no="177"?> 178 Edi Zollinger mit poetischen Farben einen Wort gewordenen Delacroix vor das lesende Auge malt. Und er zeigt seinen dichtenden Nachfolgern damit exemplarisch, wie ein Klangmaler mit Klangfarben und Farbklängen umzugehen hat. Ein Schriftsteller, der sich nicht nur für Delacroix interessierte, sondern sich auch stark von Baudelaires Klangmalerei beeinflussen ließ, ist Claude Roy. Diese Behauptung soll hier abschließend begründet werden. Von Roy stammt die Wortschöpfung, die Baudelaire und Delacroix so eng miteinander verbindet, wie sich Hermes und Aphrodite in ihrem gemeinsamen Sohn Hermaphroditus verbunden sehen wollten. Für Roy bilden der Dichter und der Maler zusammen, so liest man am Ende seines Aufsatzes zu Delacroix’ Tagebüchern, 25 einen einzigen Maler-Poeten, der das komplette Werk hervorbringen kann, ein Genie mit zwei Gesichtern, das er am liebsten „Baudelacroix“ nennen möchte: „[…] l’œuvre totale d’un génie bifrons , ce peintre-poète qu’on rêverait de pouvoir nommer Baudelacroix.“ 26 Hier, ganz am Schluss des Aufsatzes, trifft man das Wort „Baudelacroix“ in der Literaturgeschichte zum ersten Mal an. Claude Roy hat sich dafür - in Anlehnung an Hermaphroditus, der Hermes und Aphrodite in sich vereint - die Namen seiner großen Vorläufer auf die Klangpalette genommen und diese dergestalt gekreuzt, dass die Mischung ganz nach ihm selbst tönt. In [bodəlakʀwa] klingt das Anagramm von [klodəʀwa] mit, das am Ende des Aufsatzes zur Signatur des Autors wird. Und das dem Leser verrät, in wessen künstlerischer Tradition sich dieser Autor sieht. 25 Cf. Claude Roy, „Histoire d’une âme: Delacroix écrivain“, in: Les Nouvelles littéraires (Mai 1962), pp. 1-4. 26 Ibid., p. 4. <?page no="178"?> Modernistische transposition d’art, oder: Von der Sorge um ewigen Nachruhm. Salvador Ruedas „Piedra cantora“ Susanne Dürr 1 Hizo tu inspiración maravillosa de esta materia que mi sangre aviva, tallo inmortal de piedra pensativa como una estalagmita misteriosa. 5 Ya roca soy que tu cincel endiosa de insectos, nidos, agua fugitiva, y hay en mi estatua, que rehierve viva, los sones de una orquesta milagrosa. Otro prodigio en mi materia has hecho; 10 me has escondido en lo interior del pecho un ruiseñor de lírica garganta. Oye su voz tras mi cendal de hiedra; ¡es mi encendido corazón de piedra que el himno ardiente de la vida canta! Salvador Rueda, „La piedra cantora“ (1907) 1 Der Text entstammt dem 1907 veröffentlichten Gedichtband Trompetas de órgano . Sein Autor, der aus dem Dorf Benaque in der Provinz Málaga gebürtige Dichter Salvador Rueda, konnte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon auf ein beachtliches lyrisches Werk zurückblicken: 1880 veröffentlichte der gerade Dreiundzwanzigjährige eine erste Sammlung von Gedichten, denen in kurzen Abständen weitere folgten. Sie markieren den literarischen Weg Salvador Ruedas vom Sohn eines andalusischen Tagelöhners, der - als Lateinschüler geför- 1 In: Id., Obras completas. Poesía IV (1907-1957) , ed. María Dolores Gutiérrez Navas, Málaga: Universidad de Málaga 2016, p. 18. <?page no="179"?> 180 Susanne Dürr dert und mit den antiken Autoren bekanntgemacht - seinen Lebensunterhalt als Journalist, zunächst in Málaga, später in Madrid bestreitet, daneben aber gleichermaßen exzessiv liest und schreibt. Hauptgegenstand seiner Gedichte sind Andalusien und seine Natur, die Kunst, die Erotik, die Religion und nicht zuletzt die von ihm hoch verehrte Mutter; daran wird sich auch bis zu dem letzten, 1957 und damit 24 Jahre nach seinem Tod veröffentlichten Gedichtband nichts ändern. Doch zu der Lektüre der - vor allem spanischen - Romantiker kommt nun auch die der parnassiens , von denen er insbesondere Leconte de Lisle und Banville schätzt. Und natürlich kommt hinzu seine Bekanntschaft mit Rubén Darío, dem er freilich 1899 die Freundschaft kündigt: zu hartnäckig streitet er den Einfluss der Franzosen und des afrancesado Darío auf sein eigenes Werk ab und zu bemüht ist er, dagegen einen genuin spanischen Modernismo zu setzen, der, so postuliert er immer wieder, in der Natur die Sprache für seine Texte findet. Dass Rueda zu Lebzeiten, insbesondere ab den 1890er Jahren, zu einiger Berühmtheit gelangte, von Juan Valera und Clarín zunächst wohlwollend, später kritisch begleitet, vor allem aber in Lateinamerika hoch geehrt, mag vor allem daran gelegen haben, dass seine Beschreibungsgedichte ein beinahe kostumbristisches Panorama spanischer - vor allem andalusischer - Natur und Volkstümlichkeit aufmachen, dem kein Gegenstand zu gering erscheint und das sich damit auch von konservativer Seite in den Diskurs einer neu zu findenden hispanidad einfügen lässt. Politisch sind seine Texte nicht; ihr Bezugspunkt ist die Schönheit, die sich für Rueda im Fries des Parthenon ebenso zeigt wie in der Wassermelone, in der Muttergottes wie der Paella. Die Koexistenz des romantischen und des parnassischen Dichtungsparadigmas, wie sie für die französische Dichtung des 19. Jahrhunderts gilt, zeigt sich exemplarisch auch in Ruedas Werk, und wenn in unzähligen seiner Texte die Rarefizierung des Gegenstandes, Entsubjektivierung und akribische Arbeit am Metrum mit besonderer Präferenz seltener Strophen- und Versformen offensichtlich ist, 2 so postulieren ebenso viele andere eine pantheistische Einheit von Natur und christlich-paganer Gottheit, die durch das künstlerische Genie in adäquate Dichtung überführt wird. „La piedra cantora“ ist das zweite Gedicht des Unterzyklus El sueño de la estatua . Die Widmung „A Querol“ verweist auf den lebensweltlichen Anlass der Gedichte: Der katalanische Bildhauer Agustín Querol Subirats hatte den Auf- 2 Cf. Klaus W. Hempfer, „Konstituenten Parnassischer Lyrik“, in: Romanische Lyrik. Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren , edd. Titus Heydenreich, Eberhard Leube, Ludwig Schrader, Tübingen: Stauffenburg 1993, pp. 69-91. Zu Ruedas Modernismo parnassischer Prägung cf. vor allem die Studien von Bienvenido de la Fuente, El modernismo en la poesía de Salvador Rueda , Frankfurt a.M.: Peter Lang 1976; sowie id., „Salvador Rueda, Los pavos reales“, in: Die spanische Lyrik der Moderne: 1870-1980 , ed. Manfred Tietz, Frankfurt a.M.: Vervuert 1990, pp. 66-79. <?page no="180"?> trag, eine Statue Ruedas herzustellen, wobei das Projekt mutmaßlich nicht über einen Entwurf hinauskam. 3 Interessant ist es vor allem deshalb, weil es sich um einen Text handelt, der sich nicht in einer einfachen transposition d’art erschöpft, die einen - vorgängigen - Kunstgegenstand im Gedicht abbildet. Eine solche transposition hatte Rueda unzählige Male zuvor in Beschreibungsgedichten über die berühmtesten griechischen, italienischen oder französischen Skulpturen vorgeführt, in Sammlungen wie Camafeos (1897), Piedras preciosas (1900) oder Estalactitas (in: El país del sol von 1901), deren Titel sich explizit auf die französischen Vorbilder Gautier und Banville beziehen. El sueño de la estatua umfasst fünf Sonette, deren erste beiden die Entstehung der Statue thematisieren, die drei letzteren den eigentlichen sueño , das von der unsterblichen Statue als songe prémonitoire erlebte Weltgeschehen bis zur Rückkehr eines mythischen goldenen Zeitalters im Zeichen des Gottes Pan und seiner universelle Harmonie stiftenden Flöte. „La hostia futura“, ein sechstes Sonett, lässt sich als Epilog des Sueño lesen. In „La Piedra Cantora“ manifestiert sich der Sprecher von Strophe I bis III im Prozess einer Wandlung, die durch die Angesprocheneninstanz eingeleitet und durchgeführt wird. Er richtet sich an ein namentlich nicht näher bestimmtes Du, das aber im Laufe des Textes als Künstler, genauer als Bildhauer erkennbar wird. Als solcher verfügt dieser über „inspiración maravillosa“ (v. 1) sowie den „cincel“ (v. 5) als Werkzeug; die Etappen seiner Arbeit führen vom „tallo inmortal de piedra“ (v. 3) in Strophe I zur „estatua“ (v. 7) des zweiten Quartetts, die schließlich dank zusätzlicher skulpturaler Beigaben („insectos, nidos, agua fugitiva“, v. 6; „ruiseñor“, v. 11) eine mediale Steigerung vom Visuellen ins Akustische erfährt. Damit gibt sich das angesprochene Du auch deiktisch über drei künstlerische Handlungen jeweils zu Beginn der ersten drei Strophen zu erkennen: „Hizo tu inspiración […]“ in v. 1; „[…] que tu cincel endiosa“ in v. 5 sowie „Otro prodigio […] has hecho; / me has escondido […] un ruiseñor […]“ in v. 9 und 10. Der Sprecher ist schwieriger zu konkretisieren. Zunächst zeigt er sich deiktisch gleich zu Beginn in Vers 2 („mi sangre“), doch wie sich semantisch und syntakisch der Vers verstehen lässt, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Es könnte die „materia“ als Ausgangsmaterial des angesprochenen Künstlers verstanden werden: „esta materia que mi sangre aviva“ (ibid.), d. h. der leibliche (und somit 3 Zur Position Ruedas in der poetologischen Debatte um die Jahrhundertwende und zugleich zu seiner Sorge um Nachruhm cf. Marta Palenque, „Salvador Rueda en el decurso de la lírica española (Con tres cartas de Rueda a Marinetti en torno al verso libre)“, in: Salvador Rueda y su época: autores, géneros y tendencias. Actas del XVIII Congreso de Literatura Contemporánea, Universidad de Málaga, 26, 27, 28, 29, 30 de noviembre de 2007 , ed. Salvador Montesa, Málaga: AEDILE 2008, pp. 91-124; zu dem Statuenprojekt dort insbesondere Anm. 15. Der Sammelband anlässlich des 150. Geburtstags des Autors enthält eine umfangreiche Bibliographie; ihm folgt ab 2014 die Gesamtausgabe seines Werks, von der bisher in vier Bänden sein lyrisches Werk erschienen ist (cf. Anm. 1). Modernistische transposition d’art 181 <?page no="181"?> 182 Susanne Dürr sterbliche) Körper des Sprechers. Wahrscheinlicher ist aber, auch aufgrund der Wahl des Präsens, eine zweite Lesart: „esta materia“ wäre dann bereits das Material, aus dem die Statue gefertigt ist; „que mi sangre aviva“ bedeutete demnach, dass das Blut des menschlich-leiblichen Sprechers bereits in dem Werkstoff kreist und ihn belebt, also gerade der Bestandteil des menschlichen Körpers bereits auf die werdende Statue übergegangen ist, der gemeinhin metaphorisch als ‚Leben‘ und ‚Kraft‘ bzw. ‚Energie‘ gesetzt ist. Und drittens könnte eine Inversion vorliegen, die Prädikat und Objekt vertauscht: der vom Künstler gewählte Werkstoff belebt den Sprecher neu. Aus der Ambivalenz dieser ersten Strophe ergibt sich somit eine Offenheit bezüglich des Übergangs vom leiblichen zum Kunst-Körper. Aus der „materia“, sei sie nun Fleisch und Blut des menschlichen Sprechers oder bereits das Basismaterial der Statue, wird nun, verstehen wir den Text wörtlich, ein „tallo inmortal“ (v. 3) aus Stein („de piedra pensativa“, v. 3). Damit ergibt sich eine verblüffende Verwandlung: der Künstler schafft die Statue nicht nach dem Abbild des Sprechers, sondern der Sprecher wird zur Statue verwandelt, aus der lebendigen Materie von Fleisch und Blut wird unsterblicher Stein, der gleichwohl als „tallo“ kreatürlich wächst und - „pensativo“ - über kognitive Fähigkeiten verfügt. Das Wunderbare daran ist dem Sprecher stets bewusst; zurückzuführen ist es auf die „inspiración maravillosa“ (v. 1) des Bildhauers, dessen Kunstwerk so viel Geheimnis birgt wie die Tropfsteine („estalagmita misteriosa“, v. 4), die als Inbegriff reiner und nicht funktionalisierbarer Schönheit bereits Gegenstand von Banvilles Einleitungs- und Programmgedicht „Décor“ aus den Stalactites sind. Die Wandlung des Sprechers erfolgt nahezu zeitgleich zu dem Sprechakt selbst. Das Indefinido in v. 1 signalisiert die nunmehr abgeschlossene Überführung in den Stein, der in seiner Beschaffenheit im ersten Quartett beschrieben wird. Das zweite Quartett setzt ein mit dem Temporaldeiktikum „Ya“ (v. 5) und verankert den Sprecher im Hier und Jetzt: „Ya roca soy“ (ibid.), bekräftigt er enthusiastisch und spricht als (werdende) Statue, blickt aber zwei Verse später („mi estatua“, v. 7) von außen auf das, was doch eigentlich er selbst nun ist: künstlich gemachte Statue und gleichzeitig Naturmaterial („roca“), das sich jetzt verzückt zeigt („que tu cincel endiosa“, v. 5) über seine Besiedelung durch weitere in den Stein gemeißelte Naturelemente („de insectos, nidos, agua fugitiva“, v. 6). Wenn „endiosar“ in der selteneren Verwendung soviel wie ‚deificar‘ bzw. ‚divinisar‘ bedeutet, 4 so heißt dies hier, dass der Sprecher sich über seine Verwandlung in die Statue in den Rang des Göttlichen erhoben sieht. Gleichzeitig vollzieht sich über die Ausstattung der Sprecher-Statue mit Naturrequisiten eine Verlebendigung: war sie in Strophe I zwar fähig, Gedanken zu haben, ansonsten aber stumm, kommt es nun zu einer Erwärmung, wo nicht Erregung der Statue („que rehierve viva“, v. 7), vor allem 4 Cf. María Moliner, Diccionario de uso del español , vol. I, Madrid: Gredos 1988, p. 1113. <?page no="182"?> aber zu einer Produktion von Lauten, die der Sprecher als wunderbar harmonischen Einklang qualifiziert: „los sones de una orquesta milagrosa“ (v. 8). Die Anbindung von „milagrosa“ über den Reim an „maravillosa“ (v. 1), „misteriosa“ (v. 4) und auch „endiosa“ (v. 5) signalisiert den Status des Wunders, das aber keinesfalls einer göttlichen Instanz, sondern dem begabten Künstler zuzuschlagen ist. Damit seiner Wundertaten nicht genug: Teilgegenstand in Strophe III ist nun das Innere der Statue und damit gleichzeitig des Sprechers: wenn er auf „mi materia“ (v. 9) verweist, kann dies nur seine neue Materialität sein. Dort hinein ist ihm ein „ruiseñor de lírica garganta“ (v. 11) vom Bildhauer gesetzt, bewertet wird dies als „prodigio“ (v. 9) des Künstlers. Damit ist die Beschreibung der Statue als Kunstobjekt, das zugleich der Sprecher selbst ist, abgeschlossen. In Strophe IV wechselt die Sprechweise von der enkomiastischen Beschreibung zur Aufforderung und verändert die Beziehung zwischen dem Sprecher und dem angesprochenen Künstler: war bisher der Sprecher passives Objekt der künstlerischen Handlungen des angesprochenen Bildhauers, so verkehrt sich mit dem Imperativ „Oye“ (v. 12) das Verhältnis: der Angesprochene soll vom Künstler zum Rezipienten werden, denn der Singvogel in der Brust der nun mit Efeu umwundenen Statue, der ja letztlich das vom Bildhauer gemeißelte Herz der steinernen Statue ist, stimmt einen „himno de la vida“ an, dem der Künstler lauschen möge. Das späte Gedicht Ruedas lässt sich als transposition d’art 5 beschreiben, wobei genauerhin zwei Realisationsformen von Artefaktbezug zu erkennen sind. Zum ersten: der Sprecher beschreibt eine Statue. Diese ist Abbildung eines leiblichen Körpers; als Referenzobjekt wird das Artefakt „auf Wirklichkeit transparent gemacht“ 6 , was nicht zuletzt über die Widmung des Zyklus El sueño de la estatua („A Querol“) geschieht. Dass die Statue den Sprecher des Textes darstellt, hinter dem der reale Autor Salvador Rueda aufscheint, stützt doppelt die Funktion der Immortalisierung, 7 die sich auf semantischer Ebene im Text aufs deutlichste als Isotopie („inmortal“, v. 3; „piedra“, v. 3 und 13 sowie der Titel; „roca“ und 5 Zu dem Begriff der transposition d’art und der Systematisierung ihrer Ausprägungen in der Lyrik des 19. Jahrhunderts cf. grundlegend: Jenseits der Mimesis. Parnassische transposition d’art und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts , ed. Klaus W. Hempfer, Stuttgart: Steiner 2000; dort insbesondere die Untersuchung von Stefan Hartung, „Kunstautonome Ästhetik - parnassische Mediatisierung. Der Spielraum der transposition d’art am Beispiel fünf komplexer Texte“, in: Ibid., pp. 9-41. 6 Hartung, „Kunstautonome Ästhetik“, p. 19. Die Formulierung signalisiert u. a. bereits, dass das beschriebene Kunstwerk keinesfalls real existent sein muss, sondern lediglich dass der Text so tut, als sei es real existent. 7 Ibid.: Hartung zeigt Gleiches an Heredias „L’Ancêtre“ von 1873, in dem der Sprecher das Gemälde seines berühmten Vorfahren, eines spanischen Konquistadoren, beschreibt, dessen gloire zunächst auf das Porträt, dann aber auch im Sinne des parnassischen Immortalisierungsgebots auf den Text selbst abstrahlt. Modernistische transposition d’art 183 <?page no="183"?> 184 Susanne Dürr „endiosa“, beide v. 5; „estatua“, v. 7) manifestiert. Kunst (das Sonett) referiert auf Kunst (eine Statue): es liegt eine transposition d’art im eigentlichen Sinne vor. 8 Zum zweiten aber: parallel zu der Überführung eines Kunstobjekts in den Text vollzieht sich eine weitere transposition : ein als real gesetztes Darstellungsobjekt (der durchaus lebendige Sprecher, Hauptgegenstand seines Textes) wird im Text in ein Kunstwerk (die Statue) überführt; im Sinne Hartungs liegt hier eine Wirklichkeitsmediation 9 vor. Dies geschieht über die Macht metaphorischen Sprachgebrauchs („como una estalagmita misteriosa“, v. 4; „roca soy“, v. 5) und die Doppelbezüglichkeit des Possessivbzw. Objektpronomens der ersten Person („mi materia“, v. 9; „mi […] corazón“, v. 13, „me has escondido en [el] pecho“, v. 10) oder des Demonstrativpronomens („esta materia“, v. 2). Der Text führt damit eigentliche transposition d’art (bildende Kunst wird übersetzt in altermediale Text-Kunst) parallel zur Wirklichkeitsmediation (ein Objekt der Realität wird übersetzt in Kunst). Ein Reales wird zu Kunst - wird zu Text. Der Text begleitet den Transformationsprozess „Rueda - Statue“, dessen Autor der Bildhauer ist, mit dem Transformationsakt „Sprecher - Statue“; ersterer vollzieht sich im Medium der bildenden Kunst, der zweite im Medium des Textes. Seine Transformation in eine Plastik enthüllt zunächst die Vorstellung, die sich der Bildhauer von ihm, dem Sprecher, macht und die vom Sprecher emphatisch begrüßt wird: steingewordener und damit ewig unvergänglicher Dichter, dem die Natur selbst ihre Stimme leiht, um durch ihn im sakralen „himno“ (v. 14) gepriesen zu werden. Gleichzeitig zeigt das Artefakt dem Sprecher, was er ‚eigentlich‘ ist, sieht der Sprecher die Abbildung seiner selbst im fremden Material, im Medium der Skulptur. Dieser Akt des Selbsterkennens hat deutliche Ähnlichkeit mit dem, was sich im menschlichen Subjekt während des Spiegelstadiums vollzieht: die Statue ist materielle Seite, ein verso , Signifikant, in den der Bildhauer seine Vorstellung ( recto ) des Darstellungsobjekts Rueda einmeißelt, und dieser entdeckt darin - ‚jubilatorisch‘, ließe sich mit Lacan tatsächlich sagen - sich selbst. 10 Die 8 Ibid. 9 Ibid., p. 20. 10 Zur Beschreibung des Mediums als „merkwürdiges, gedoppeltes Relationierungsphänomen, das in der Lage ist, in der Form eines Artefakts etwas als etwas anderes auszugeben“ (p. 245), als „semiotisches System“, das „auf der einen Seite Material […], auf der anderen Seite Vorstellungen [korrelationiert]“ (ibid.), in dem ein verso (Material) mit einem recto (einer Bedeutung) gekoppelt ist, zur „Kluft“ zwischen beiden und zur Funktion der Medien, diese Kluft gleichzeitig offenzulegen und zu verbergen, cf. Andreas Mahler, „Probleme der Intermedialitätsforschung. Medienbegriff - Interaktion - Spannweite“, in: Poetica 44 (2012), pp. 239-260, insbes. pp. 245-252. Dort findet sich auch die fruchtbare Anbindung der Ausführungen Lacans zum Spiegelstadium und Plessners zur exzentrischen Positionalität des menschlichen Wesens an die Überlegungen Saussures zur unlösbaren Koppelung von (Sprach-)Material und Vorstellung. <?page no="184"?> Statue übernimmt somit Spiegelfunktion, sie ist das Medium, das dem Sprecher Selbsterkennen ermöglicht, gleichzeitig ihm aber auch seine zu sich selbst exzentrische Position bewusst machen muss; zwar ist er Statue, kann sie aber doch gleichzeitig unmöglich sein: „Ya roca soy“ (v. 5), aber auch wieder der Blick von außen: „en mi estatua“ (v. 7) zeigt dieses Pendeln zwischen dem Erkennen des Selbst und dem Zurücktreten vor dem Abbild seiner selbst. Nun aber reizt der Sprecher das mediale Verwandlungsspiel weiter aus: die Angesprocheneninstanz setzt der Statue einen „ruiseñor de lírica garganta“ (v. 11) ein. Dies erhellt sich, wenn der „ruiseñor“ zwei Verszeilen später als verbum improprium des „corazón de piedra“ (v. 13) aufgelöst wird, das nun „encendido“ (ibid.) seinerseits Kunst - einen „himno ardiente de la vida“ (v. 14) produzieren kann. Die Solostimme des „ruiseñor“ findet ihre harmonische Begleitung in den Naturstimmen von „insectos“, Vögeln („nidos“) und „agua fugitiva“ (v. 6), die als wohl ebenfalls steinernes „orquesta milagrosa“ der Statue beigegeben wurden. Damit kommt es zu einer weiteren Kunstproduktion, ein zweites Artefakt - der „himno“ - entsteht, die visuell erfassbare estatua produziert ihrerseits den akustisch wahrnehmbaren canto . Der Text gibt einige Hinweise darauf, was und wie dieser sei: Urheber ist das „corazón“ der Statue, die in eins mit dem Sprecher gesetzt ist, dieses wiederum ist der „ruiseñor“, dessen Gesang von exemplarischer Schönheit, traditionell der Liebe zugeordnet und gleichzeitig mit ‚Dichter‘ bzw. ‚Dichtkunst‘ korreliert ist. Seine Stimme erklingt nun hinter dem „cendal de hiedra“ (v. 12), das christlichen und antiken Ritus zusammenspannt: ein „cendal“ ist feinster Seidenstoff, daneben aber auch „humeral“, das dem Priester bei seiner Berührung mit dem Allerheiligsten dient; 11 die „hiedra“ ist neben der Weinrebe Attribut des Gottes Dionysos 12 und Bekränzung bei ekstatischen Festumzügen. Da nun der Nachtigall auch noch explizit eine „lírica garganta“ (v. 11) zugesprochen wird, ist unschwer ein poetologisches Programm erkennbar, in dem sich noch die romantische Vorstellung des Dichter-Priesters verbirgt, in dem Dichtung unmittelbarer Gefühlsausdruck eines „corazón“ ist, das sich in engster Korrespondenz zur Natur befindet. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der himno erst dann zur Performanz kommt, wenn die Transposition des Sprechers in eine Statue stattgefunden hat. Der Umweg setzt drei Medien 13 zueinander in Beziehung: die Skulptur des Bild- 11 „Paño blanco que se pone el sacerdote para oficinar en la misa, con el cual se envuelve las manos para coger la custodia […]“, Moliner, Diccionario , vol. II, p. 75, sowie ibid., vol. I, p. 574. 12 Cf. den Eintrag „Dionysos“, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden , vol. II, edd. Konrat Ziegler, Walter Sontheimer, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2013, pp. 62-85, hier p. 83. 13 ‚Medium‘ verwende ich hier im Sinne von ‚Artefakt‘ (cf. Mahler, „Intermedialitätsforschung“, p. 242). Modernistische transposition d’art 185 <?page no="185"?> 186 Susanne Dürr hauers, den himno der Statue und den Text, der beides abbildet, also das vorliegende Gedicht. Es liegt nahe, hier in erster Linie eine Medienrivalität zu sehen, die sich im pragmatisch deutlich abgesetzten zweiten Terzett äußert: mit dem bestimmenden, metrisch akzentuierten „Oye“ (v. 12) fordert der sich nun als Dichter-Sänger ausweisende Sprecher den Angesprochenen auf, seinerseits zum Rezipienten zu werden und dem himno zu lauschen. Damit setzt er selbstbewusst eine Hierarchie der Medien: ist die Statue als Medium zunächst Material und Artefakt, so wird sie in dem Augenblick, wo das corazón - Herz des Dichters - in ihr zu singen anhebt, auf den Status bloßer Apparatur reduziert, die dem himno zur Verbreitung dient. Dennoch käme es ohne diese dem Dichter adäquate Apparatur nicht zu dem Hymnus, und dass Rueda dem Medium als - jeweils unterschiedliche Kanäle nutzendem - Gerät große Aufmerksamkeit schenkt, es sogar seinerseits in parnassischem Duktus zum Kunstwerk erhebt, beweisen die Sonette, die er den Telegraphendrähten, der Fotografie oder der Druckerpresse widmet. 14 Der Hymnus, den der Sprecher so enthusiastisch mit einer exclamatio in der letzten Verszeile ankündigt, erinnert deutlich an Bécquers poetologisches Einleitungsgedicht zu den Rimas : „Yo sé un himno gigante y extraño“ 15 , das Rueda jedenfalls kannte. Wo bei Bécquer allerdings die unruhige Suche nach einem adäquaten Ausdrucksmittel für den Hymnus, der sich über das Medium von Sprache und Schrift höchstens bruchstückhaft - in cadencias - artikulieren lässt, zu der Hoffnung führt, er könne ihn im intimen Rahmen der Geliebten zu Gehör bringen („cantártelo a solas“ 16 ), ist sich Ruedas Sprecher der gelingenden Performanz gewiss: auch sein himno wird ein canto sein, begleitet vom Orchester der Natur. Die „Kluft“, der „Leerraum“ 17 zwischen „Inspiration“ und „Expression“, idealem Signifikat und materiellem Signifikant, der in Bécquers Text zum Tragen kommt, scheint in „La piedra cantora“ beseitigt, da der Sprecher zum idealen Kunstprodukt und gleichzeitig Medium seiner selbst wird: die transposition d’art legt die Medienabhängigkeit offen, zeigt die Kluft zwischen Selbst und Vorstellung vom Selbst und schließt sie zugleich im Imaginären. 14 „Los alambres eléctricos“ aus der Sammlung Camafeos (1897), in: Salvador Rueda, Obras completas. Poesía II (1891-1900) , edd. Antonio Aguilar, Antonio A. Gómez Yebra, Málaga: Universidad de Málaga 2016, p. 440; „La Fotografía“, in: Ibid., p. 446, sowie „El confeccionador de periódico“, in: Ibid., p. 519. 15 Gustavo Adolfo Bécquer, Rimas , ed. José Carlos de Torres, Madrid: Castalia 4 1983, pp. 111- 141, hier p. 99; zu den Rimas und der Suche nach einem adäquaten Medium zur Vermittlung romantischer Subjektivität angesichts der neuen technischen Medien cf. Wolfgang Lasinger, „Aspekte der Medialisierung bei Gustavo Adolfo Bécquer“, in: Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive , edd. Wolfram Nitsch, Bernhard Teuber, Tübingen: Narr 2002, pp. 197-209. 16 Bécquer, Rimas , p. 99. 17 Lasinger, „Aspekte der Medialisierung“, p. 202. <?page no="186"?> Swanns Traum 187 Swanns Traum Volker Roloff Il devait la revoir une fois encore, quelques semaines plus tard. Ce fut en dormant, dans le crépuscule d’un rêve. Il se promenait avec Mme Verdurin, le docteur Cottard, un jeune homme en fez qu’il ne pouvait pas identifier, le peintre, Odette, Napoléon III et mon grand-père, sur un chemin qui suivant la mer et la surplombait à pic tantôt de très haut, tantôt de quelques mètres seulement, de sorte qu’on montait et redescendait constamment ; ceux des promeneurs qui redescendaient déjà n’étaient plus visibles à ceux qui montaient encore, le peu de jour qui restât faiblissait et il semblait alors qu’une nuit noire allait s’étendre immédiatement. Par moments les vagues sautaient jusqu’au bord et Swann sentit sur sa joue des éclaboussures glacées. Odette lui disait de les essuyer, il ne pouvait pas et en était confus vis-à-vis d’elle, ainsi que d’être en chemise de nuit. Il espérait qu’à cause de l’obscurité on ne s’en rendait pas compte, mais cependant Mme Verdurin le fixa d’un regard étonné durant un long moment pendant lequel il vit sa figure se déformer, son nez s’allonger et qu’elle avait de grandes moustaches. Il se détourna pour regarder Odette, ses joues étaient pâles, avec des petits points rouges, ses traits tirés, cernés, mais elle le regardait avec des yeux pleins de tendresses prêts à se détacher, comme des larmes pour tomber sur lui et il se sentit l’aimer tellement qu’il aurait voulu l’emmener tout de suite. Tout d’un coup Odette tourna le poignet, regarda une petite montre et dit : « Il faut que je m’en aille », elle prenait congé de tout le monde, de la même façon, sans prendre part à Swann, sans lui dire où elle le reverrait le soir ou un autre jour, il aurait voulu la suivre et était obligé, sans se retourner vers elle, de répondre en souriant à une question de Mme Verdurin, mais son cœur battait horriblement, il éprouvait de la haine pour Odette, il aurait voulu crever ses yeux qu’il aimait tant tout à l’heure, écraser ses joues sans fraîcheur. Il continuait à monter avec Mme Verdurin, c’est-à-dire à s’éloigner à chaque pas d’Odette, qui descendait en sens inverse. Au bout d’une seconde, il y eut beaucoup d’heures qu’elle était partie. Le peintre fit remarquer à Swann que Napoléon III s’était éclipsé un instant après elle. « C’était certainement entendu entre eux », ajouta-t-il, « ils ont dû se rejoindre en bas de la côte mais n’ont pas voulu dire adieu ensemble à cause des convenances. Elle est sa maîtresse. » Le jeune homme inconnu se mit à pleurer. Swann essaya de le consoler. « Après tout elle a raison », lui dit-il en lui essuyant les yeux et en lui ôtant son fez pour qu’il fût plus à son aise. « Je lui ai conseillé dix fois. Pourquoi en être triste ? C’était bien l’homme qui pouvait la comprendre. » Ainsi Swann se parlait-il à lui-même, car le jeune homme qu’il n’avait pu identifier <?page no="187"?> 188 Volker Roloff d’abord était lui aussi ; comme certains romanciers, il avait distribué sa personnalité à deux personnages, celui qui faisait le rêve, et un qu’il voyait devant lui coiffé d’un fez. Quant à Napoléon III, c’est à Forcheville que quelque vague association d’idées, puis une certaine modification dans la physionomie habituelle du baron, enfin le grand cordon de la Légion d’honneur en sautoir, lui avait fait donner ce nom ; mais en réalité, et pour tout ce que le personnage présent dans le rêve lui représentai et lui rappelait, c’était bien Forcheville. Car, d’images incomplètes et changeantes Swann endormi tirait des déductions fausses, ayant d’ailleurs momentanément un tel pouvoir créateur qu’il se reproduisait par simple division comme certains organismes inférieurs ; avec la chaleur sentie de sa propre paume il modelait le creux d’une main étrangère qu’il croyait serrer et, de sentiments et d’impressions dont il n’avait pas conscience encore, faisait naître comme des péripéties qui, par leur enchaînement logique, amènerait à point nommé dans le sommeil de Swann le personnage nécessaire pour recevoir son amour ou provoquer son réveil. Une nuit noire se fit tout d’un coup, un tocsin sonna, des habitants passèrent en courant, se sauvent des maisons en flammes ; Swann entendent le bruit des vagues qui sautaient et son cœur qui, avec la même violence, battit d’anxiété dans sa poitrine. Tout d’un coup ses palpitations de cœur redoublèrent de vitesse, il éprouva une souffrance, une nausée inexplicable ; un paysan couvert de brûlures lui jetait en passant : « Venez demander à Charlus où Odette est allée finir la soirée avec son camarade, il a été avec elle autrefois et elle lui dit tout. C’est eux qui ont mis le feu. » C’était son valet de chambre qui venait l’éveiller et lui disant : « Monsieur, il est huit heures et le coiffeur est là, je lui ai dit de repasser dans une heure. » Marcel Proust, Un amour de Swann (1913) 1 Der Traum beginnt in der Dämmerung des Abends und endet am nächsten Morgen, als Swann von seinem Kammerdiener geweckt wird, aber er ist immer noch, in der Situation des Aufwachens, mit dem Traum verbunden. In dieser Hinsicht erinnert Swanns Traum, in dem Zwischenzustand zwischen Traum und Bewusstsein, an die Initialszene der Recherche , in der der Erzähler über die gerade gelesenen Bücher nachdenkt: „il me semblait que j’étais moi-même ce dont parlait l’ouvrage.“ (I, p. 3) Swanns Traum, anders als die erste Szene der Recherche , bezieht sich auf die vorhergehende Geschichte der Liebe Swanns, vor allem die Phase, in der Swanns Liebe zu Odette noch vorhanden ist, aber von den Gefühlen der Eifersucht, Irritationen und Trennungswünschen überlagert wird. Die Versuche Swanns, die Wahrheit über Odette zu erfahren, ihre Beziehungen zu anderen Männern und auch Frauen, bleiben erfolglos, und auch seine Gespräche mit Odette führen zu keiner Lösung. Der Erzähler selbst, der das innere Drama Swanns und die Ausflüchte Odettes beschreibt und analy- 1 In: Id., À la recherche du temps perdu , 4 vols., ed. Jean-Yves Tadié, Paris, Gallimard 1987- 1989 (Bibliothèque de la Pléiade), hier vol. I, pp. 372-374. Im Folgenden wird aus der Recherche im laufenden Text mit Band- und Seitenangabe zitiert. <?page no="188"?> Swanns Traum 189 siert, bietet, anders als z. B. in realistischen Romanen, keine weiterführenden Erkenntnisse; die Situation kurz vor dem Traumszenario bleibt gespannt, widersprüchlich, rätselhaft. Der Traum Swanns könnte also, so vermutet der Leser an dieser Stelle, Aufschluss geben und die Situation verändern, besonders der Leser, der, schon in der Zeit Prousts, den Traum als den Schlüssel zur Psychoanalyse des Träumers ansieht. Ich werde - im Anschluss an Elisabeth Lenk, Bernhard Teuber, Michel Foucault, Roland Barthes u. a. - einen anderen Weg wählen, der zunächst die Erwartungen enttäuscht, zugleich aber versucht, den Traum als literarisches Mini-Genre zu verstehen, die ‚Traumform‘, die auch für die Komposition von Un amour de Swann und schließlich die gesamte Recherche relevant ist. Wenn man den Traum als literarische Form versteht, so kann man - als Hauptmerkmal - die Theatralität hervorheben, mit ihren typischen Verfahrensweisen: die Kunst der Rollenspiele, Maskeraden, Metamorphosen, die Schnelligkeit der Szenenwechsel, die Überraschungen, Inversionen und Peripetien. Schon der von Freud sog. Initialtraum der Psychoanalyse, „Irmas Traum“, hat genau diese Merkmale, aber Freud konzentriert sich nur auf die Formen der Traumentstellung und Verdichtungsarbeit, die Suche nach dem Sinn, ohne die literarischen Bezüge weiter zu verfolgen. Swanns Traum ist ein Musterbeispiel für die Theatralität, die „mimetische Struktur“ der Träume (Elisabeth Lenk), 2 aber Swanns Traum eignet sich, als literarisches Konstrukt im Kontext des Romans, nicht für eine Form der Psychoanalyse, die, wie z. B. Jean-Yves Tadié versucht, eine Beziehung zwischen dem Träumen der Recherche und der Biographie des Autors herzustellen; 3 er eignet sich umso mehr aber für die Analyse des kleinen Theaterstücks, in dem die Figuren z.T. Swann bekannt sind, sich aber überraschenderweise verwandeln, ihr Aussehen verändern, und in dem fremde Figuren auftreten, Napoleon III, und ein junger Mann mit einem Fez, dessen Identität Swann zunächst nicht feststellen konnte. Swann selbst erscheint als Spaziergänger im Nachthemd; Mme Verdurin, die das mit Erstaunen bemerkt, verwandelt sich selbst, ihre Nase wird ganz lang und sie bekommt einen großen Schnurrbart, und Swann sieht, wie Odette ihre Schönheit verliert, bleich wird und rote Flecken hat. Die Veränderungen des Körpers und die Schnelligkeit der Metamorphosen bieten Anlass, die literarischen Formen dieses Traumtheaters näher zu bestimmen: Die Freude an Rollenspielen und grotesker Komik erinnern an karnevaleske Strukturen und Verfahren, an Bachtins Studien zum grotesken Körper, die 2 Cf. Elisabeth Lenk, Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum , München: Matthes & Seitz 1983. 3 Cf. Jean-Yves Tadié, Le Lac inconnu. Entre Proust et Freud , Paris: Gallimard 2012. <?page no="189"?> 190 Volker Roloff von Bernhard Teuber unter dem Aspekt des „Diskurswandels der Traumrede“, der schon in früher Neuzeit mit Rabelais beginnt, neu interpretiert werden. 4 Elisabeth Lenk hat bereits, in ihrer Kritik an dem Rationalismus der Freud’schen Traumdeutung, die Theatralität des Traums hervorgehoben: „Der Traum ist ein Theater, ein Theater im Innern des Körpers. Der Träumer ist niemals er selber. Dieser Grundzug unterscheidet den Nachttraum vom Tagtraum und setzt ihn in eine geheime Verwandtschaft zur Literatur.“ 5 Wenn man Swanns Traum als Theaterstück ansieht, als Mini-Drama, so kann man verschiedene Theater-Genres vergleichen, z. B. die Farce, die Feerie (bzw. die von Jörg Dünne so genannte „katastrophische Feerie“ 6 ), das Psychodrama oder auch das Melodram. Aber es sind nur Annäherungsversuche, Theater-Genres, die besonders die Boulevardtheater der Zeit Prousts bevorzugen. Die literarische ‚Traumform‘ verwendet theatrale Verfahren, aber in eigener Kombination, in einer Spielfreude, einem „pouvoir créateur“ (I, p. 373), sowie in einer Unordnung, Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit, die in den konventionellen Genres des Theaters eher vermieden werden. Proust entwickelt, beispielhaft in Swanns Traum, eine „eigene Traumlogik“ (Horst Dieter Rauh), die sich von Freuds Analyse grundlegend unterscheidet, die an karnevaleske Traditionen anknüpft und zugleich der Ästhetik des Surrealismus nahe ist. 7 Bernhard Teuber hat u. a. in dem Kapitel über den „Songe de Francion“ in Charles Sorels Histoire comique de Francion weitere Merkmale des literarischen Traums erläutert, die m. E. auch für Swanns Traum relevant sind, vor allem die Affinität des Traums zum Wachtraum. 8 Die Rätsel des Traums sind nicht auflösbar: „Der Traum wird zum Ort eines phantastischen Unsinns, und seine ästhetische Qualität beschränkt sich aufs derb karnevaleske Kostüm der einzelnen Vorfälle, darin sich die Unvernunft zu belachen gibt.“ 9 4 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 1989. 5 Lenk, Die unbewusste Gesellschaft , p. 21. 6 Jörg Dünne, Die katastrophische Feerie. Geschichte, Geologie und Spektakel in der modernen französischen Literatur , Konstanz: Konstanz University Press 2016. 7 Cf. Horst Dieter Rauh, Nächtliche Muse. Über die Träume bei Proust, Berlin: Matthes & Seitz 2010, p. 28sq. 8 Teuber, Sprache - Körper - Traum , p. 285. 9 Ibid., p. 301. Anzumerken bleibt, dass Teuber (p. 308), die Betonung der karnevalesken Elemente des Traums, die Verbindung von Traum, Wahn und Unvernunft - anders als Elisabeth Lenk - auf die Veränderung der Episteme in der frühen Neuzeit zurückführt: „Eine im Grundsatz sehr hilfreiche Gegenüberstellung von mimetisch ausgerichteter Traumform und Vernunftform, wie sie Elisabeth Lenk vorgenommen hat, kann dann nicht verallgemeinert, sondern müsste streng auf die Konjunktur der abendländischen Neuzeit beschränkt werden.“ <?page no="190"?> Swanns Traum 191 Im Anschluss daran erscheint es wichtig, weitere Elemente in Swanns Traum heranzuziehen, die nicht nur die Theatralität und das Groteske, sondern auch die Visualität des Traums betreffen. Der Traum enthält eine Reihe spektakulärer, quasi-filmischer Bilder, die das imaginäre Theater einem nächtlichen Kino annähern. Wir befinden uns auf einem Weg, der dicht am Meer vorbeiführt, manchmal aber auch hoch aufsteigt, „de sorte qu’on montait et redescendait constamment“ (I, p. 372). Die Wogen des Meeres branden bis an den Rand des Weges, bespritzen die Gesellschaft, plötzlich wird es ganz finster, die Sturmglocke läutet, die Küstenbewohner retten sich aus ihren brennenden Häusern. Später erfährt Swann, dass Odette und ihr „camarade“ das Feuer gelegt haben. Die Bilder sind, wie in surrealistischen Filmen, frei von Logik und Kausalität, sie sind heterotopisch, paradox. Für Michel Foucault sind es vor allem die Bilder, die seine Kritik an der Freud’schen Traumdeutung begründen. Die Bilder des Traums erscheinen, so Foucault, nicht als Wunscherfüllung, sondern immer zugleich als Realisation aller „contre-désirs qui s’opposent au désir lui-même. Le feu onirique, c’est la brûlante satisfaction du désir sexuel, mais ce qui fait que le désir prend forme de la substance du feu, c’est tout ce qui refuse ce désir et cherche sans cesse à l’éteindre. Le rêve est mixte fonctionnel, si la signification s’investit en images, c’est par un surplus et comme une multiplication de sens qui se superposent et se contredisent. La plastique imaginaire du rêve n’est, pour le sens qui s’y fait jour, que la forme de sa contradiction.“ 10 Swanns Traum könnte fast als Illustration der These von Foucault gelesen werden, als Beispiel für den Zwiespalt und die Widersprüchlichkeit der Situation Swanns, gleichsam zwischen Feuer und Wasser: sein Begehren für Odette, das noch nicht erloschen ist, und die contre-désirs , die gemischten Gefühle von Eifersucht, Angst, Hass, Trauer und Indifferenz, die in schneller Folge und überraschenden Kehrtwendungen, dem Auf und Ab des Weges am Meer entsprechen, miteinander wechseln. Die Widersprüche werden nicht aufgelöst; aus den „unvollständigen und wechselnden Bildern“, so kommentiert der Erzähler, „zog der schlummernde Swann falsche Folgerungen“ (I, p. 373). Das träumende Ich erscheint, wie Swanns Traum zeigt, nicht als Individuum, sondern zerfällt in verschiedene Rollen. Der junge Unbekannte mit dem Fez erfährt, dass sich Odette und Napoleon III entfernt haben und beginnt zu weinen. Swann sucht ihn zu trösten, trocknet seine Tränen - um dann zu erkennen, dass der junge Mann, den er bislang nicht identifizieren konnte, niemand anders ist als er selbst: „comme certains romanciers, il avait distribué sa personnalité à deux personnages“ 10 Michel Foucault, „Introduction“, in: Ludwig Binswanger, Le Rêve et l’Existence , trad. Jacqueline Verdeaux, Paris: Desclée de Brouver 1954, pp. 9-128, hier p. 13. <?page no="191"?> 192 Volker Roloff (I, p. 473). Die Kommentare Swanns, der im Traum über seine Traumerlebnisse nachdenkt, sind zum Teil naheliegend, zum Teil aber trügerisch wie der Traum selbst. Sie sind das Gegenteil der Freud’schen Traumanalyse, der Suche nach Erklärungen, die dem Träumer weiterhelfen könnten. Ich werde im Folgenden versuchen, die Ästhetik der ‚Traumform‘, die Swanns Traum repräsentiert, im Zusammenhang mit der Erzählweise der Recherche näher zu erläutern. Die Theatralität, die Metamorphosen und Inversionen, ihre surrealen und karnevalesken Formen sind auch wichtige Aspekte in der Recherche selbst. Swanns Traum kann als Schlüssel für jenen Traumdiskurs angesehen werden, der in der Recherche durch eine Reihe von Szenen variiert und erweitert wird, Szenerien, die die Zwischenzustände und Passagen zwischen Schlafen und Wachen betreffen und von Roland Barthes als „demi-réveil“ bezeichnet werden. 11 Swanns Traum ist dafür ein typisches Beispiel. Der Schlaf Swanns, „dans le crépuscule d’un rêve“, wird durch Überlegungen Swanns unterbrochen, das Nachdenken über die Bedeutung des soeben Geträumten; Swann spricht im Traum zu sich selbst („se parlant à lui-même“), zieht falsche Schlüsse, gewinnt aber auch Erkenntnisse, die der Leser von Un amour de Swann nachvollziehen kann: nicht nur in Bezug auf den Jüngling mit dem Fez, sondern z. B. auch in Bezug auf Napoleon III, der als Forcheville identifiziert wird. Swann entwickelt dabei eine erstaunliche Kreativität, sowohl im Traum als auch bei der Traumanalyse. In der Schlusssequenz des Traums, dem plötzlichen Feuer, empfindet er „une souffrance, une nausée inexplicable“, er wird von einem „valet de chambre“ geweckt, und er glaubt, noch von den Meereswellen nass zu sein. In der folgenden Szene, in der Swann schon wach ist, wird der Traum erneut reflektiert: „il revit […] le teint pâle d’Odette, les joues trop maigres, les traits tirés…“ (I, p. 375) - und Swann glaubt schließlich, dass er dies in der Illusion seiner Liebe nicht mehr bemerkt habe, dass er Jahre seines Lebens verschwendet habe, mit einer Frau, „die nicht sein Genre war“ (I, p. 375). Man könnte mit Horst Dieter Rauh fragen, ob „Swanns Traum(bild) von Odette realistischer sei als seine frühere blinde Verehrung“ 12 - aber im Grunde sind beide Szenen imaginär, der Traum und die Idolatrie Swanns, die die Liebe zu Odette geschaffen hatte. Traum und Wachbewusstsein sind, nicht nur in der Geschichte Swanns, eng verbunden; die Zwischenformen sind, wie Barthes betont, als Form und Figuren des „demi-réveil“, konstitutiv für die Recherche selbst. Der „sommeil proustien qui est un demi-réveil“ hat, so Barthes, „une valeur fondatrice : il organise l’originalité (‚le typique‘) de la Recherche (mais cette organisation, nous allons 11 Roland Barthes, „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, in: Barthes. Textes choisis , ed. Claude Coste, Paris: Points 2010, pp. 478-497. 12 Rauh, Nächtliche Muse , p. 34. <?page no="192"?> Swanns Traum 193 le voir, est en fait une désorganisation“. 13 „Un paradoxe le définit bien : il est un sommeil, parce qu’il est une conscience de sommeil. […] Le sommeil fonde une autre logique, une logique de la Vacillation, du Décloisonnement.“ 14 In dem Traumszenario in dem Band Sodome et Gomorrhe (III, pp. 369-375) wird dieses Paradox, die „andere Logik“, weiter ausgeführt. Erst beim Aufwachen, wiederum durch einen „valet de chambre“, wird dem Erzähler bewusst, dass seine detaillierten Überlegungen zur Inversion und Androgynie, zu Bergson und Boutroux (cf. III, p. 373) nichts anderes als ein Traum waren. „[…] je me rendais compte que je n’avais fait jusque-là que le rêve que je sonnais. J’étais effrayé pourtant de penser que ce rêve avait eu la netteté de la connaissance. La connaissance aurait-elle, réciproquement, l’irréalité du rêve ? “ (III, p. 375). Thomas Klinkert hat in seiner Analyse dieses Traums gezeigt, wie die „bewusstseinsanalytische Dimension“ hier durch eine Raummetapher veranschaulicht wird. Der Schlafende habe „den Eindruck, sich in einer weiteren Wohnung zu befinden; zwischen beiden Wohnungen, der realen und der imaginären des Schlafs, finde eine Wahrnehmungsbewegung statt“ 15 - oder, wenn man von der Theatermetapher ausgeht, ein Rollenwechsel. Der Schlaf (und mit ihm der Traum) wird von Proust, so Klinkert, beschrieben als eine Erfahrung der „Entfremdung des Ichs von sich selbst“, als ein „Weg in eine andere Zeitordnung“ 16 und eine andere Logik, die, wie auch Barthes andeutet, für viele Passagen der Recherche relevant ist, z. B. auch die Szenen der mémoire involontaire . Um die verschiedenen Varianten des Traumdiskurses zu vergleichen, erscheint es m. E. lohnend, die Ästhetik der Lektüre einzubeziehen, die in der Recherche eine besondere Rolle spielt, im historischen Rahmen durch Vergleiche mit Autoren, die Proust inspirieren (wie z. B. Gautier, Nerval, Baudelaire) - und im Blick auf die Recherche , in der die Lektüren der Kindheit die Zwischenformen und Übergänge zwischen Traum und Bewusstsein verdeutlichen: „Dans l’espèce d’écran diapré d’états différents que, tandis que je lisais, déployait simultanément ma conscience, et qui allait des aspirations les plus profondément cachées en moi-même jusqu’à la vision tout extérieure de l’horizon que j’avais, au bout du jardin, sous les yeux“ (I, p. 83). Bei Swann sind es die Bilder der Renaissance, die das Begehren für Odette auslösen, bei Marcel sind es Bücher und Bilder, die seine Idolatrie, die Träume der Italienreise und seine Liebe zu Gilberte und Albertine hervorbringen. Schon in den Lektüreszenen von Combray werden die 13 Barthes, „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, p. 482. 14 Ibid., p. 483. 15 Thomas Klinkert, „‚Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.‘ Marcel Proust und der Schlaf “, in: Forschung und Lehre 3/ 14 (2017), pp. 188-190, hier p. 189. 16 Ibid., p. 189. <?page no="193"?> 194 Volker Roloff Theatralität, Traumanalogie und Surrealität der Situation hervorgehoben, die Verwandlung, die den Leser erfasst, die Affinität zum Kino, („l’écran diapré“), die Marcel schon mit der „laterna magica“ kennengelernt hatte: „ces après-midi [die Nachmittage der Lektüre] étaient plus remplis d’événements dramatiques que l’est souvent toute une vie“ (I, p. 86). In Le Temps retrouvé , dem Band, der am wenigsten ‚geordnet‘ werden konnte und letztlich fragmentarisch blieb, wird die Reflexion über den Traum noch einmal explizit mit dem Phänomen der Lektüre und dem Projekt des künftigen Romans verbunden. Der Erzähler erinnert sich an seine Lektüre im Park von Combray: „[…] la vie passée était aussi vague pour moi que si je l’eusse lue dans un roman à demi oublié […]. Ou bien faisais-je une confusion avec une ancienne lecture ou un rêve récent ? Le rêve était encore un de ces faits de ma vie qui m’avait toujours le plus frappé, qui avait dû le plus servir à me convaincre du caractère purement mental de la réalité, et dont je ne dénierais pas l’aide dans la composition de mon œuvre“ (IV, p. 492sq.). Der Traum wird daher für den Erzähler „un des modes pour retrouver le Temps perdu“ (IV, p. 491) und eine der mächtigen Figuren, die am Ende, wie „Le Temps“, mit der Großschreibung als Allegorien hervorgehoben werden: „Et bien plus, c’était peut-être par le jeu formidable qu’il fait avec le Temps que le Rêve m’avait fasciné“ (IV, p. 491). <?page no="194"?> Reisen und Verwandeln 195 Reisen und Verwandeln. Alteritätsfiktionen von Kafka zu Cortázar Xuan Jing Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlich Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir geschehen? “, dachte er. Es war kein Traum. Franz Kafka, Die Verwandlung (1915) 1 Mit diesem bösen Erwachen beginnt bekanntermaßen die Leidensgeschichte Gregor Samsas: Der bis dahin emsige Alleinernährer seiner kleinbürgerlichen Familie hat sich in einen ekligen Schädling verwandelt und wird daraufhin von den Seinigen so lang verscheucht, bis er schließlich einsam und erbärmlich stirbt. Der Auftakt dieser brutalen Vertreibungsgeschichte scheint mir insofern beachtenswert, als das Motiv der Verwandlung hier das Thema der Alterität einführt. Signifikant ist dabei die Beschreibung des Ungeziefers, bei der die deskriptive Großaufnahme besonders des „gewölbten“ (V, p. 23) Bauches das Verwandlungsgeschehen metaphorisch als eine Geburt lesen lässt. Was in der Gestalt des Ungeziefers symbolisch neugeboren wird, erschließt sich unschwer aus der weiteren Handlung: Erlebt Gregor nämlich fürderhin tagtäglich, wie seine Familie ihn als abartiges fremdes Wesen ausgrenzt, so steht seine anfängliche Tierverwandlung sinnbildlich für die Geburt des ,Anderen‘. Der ,Andere‘ versteht sich hier allerdings nicht so sehr im Sinne der postcolonial theory , nach deren Standarddefinition der Andere ein Objekt sei, das durch diskursive Zuschreibung diskriminierender Merkmale als andersartig bzw. fremd konstruiert werde. Vielmehr erscheint der Andere bei Kafka - und das verbindet ihn mit Cortázar - als eine Selbsterkenntnis, zu der das Subjekt 1 Franz Kafka, Die Verwandlung , in: Id., Das Urteil und andere Erzählungen , Frankfurt a. M., Hamburg: Fischer 1960, pp. 23-114, hier p. 23 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle V im laufenden Text). <?page no="195"?> 196 Xuan Jing erst durch seine Alteritätserfahrung gelangt. Der Andere wird also nicht fremd konstruiert, sondern entsteht in einem Prozess, bei dem sich das Subjekt über seine Andersartigkeit bewusst wird. Das Initialmoment eines solchen Prozesses ist bei Kafka - und auch das wird sich bei Cortázar beständig wiederholen - der Akt des Sehens: So wird die Tiermetamorphose in der Erwachensszene durch die interne Fokalisierung aus dem Blick der Figur erzählt: Gregor „sah“ seinen kugelrunden Bauch, während ihm die schmächtigen Beinchen „vor den Augen“ „flimmerten“. Derart visuell vermittelt nimmt Gregor die Position eines Zuschauers ein, der seine eigene körperliche Entfremdung beobachtet; und wenn er sodann in einer erlebten Rede seine schreckliche Entfremdung begreift - „Es war kein Traum“-, so wird damit ein Hergang der Bewusstwerdung deutlich, der sich für die Gesamterzählung als paradigmatisch erweisen wird: Im weiteren Verlauf der Geschichte unternimmt Gregor eine Reihe wiederholt scheiternder Re-Integrationsversuche, bis er endlich aufgibt und - wie es in der Sterbeszene heißt - „mit der Meinung, dass er verschwinden müsse“ (V, p. 98), friedlich aus dem Leben scheidet. War Gregor mit seiner Verwandlung metaphorisch als der Andere neu geboren, so kann er erst sterben, wenn er seine absolute Alterität annimmt. Wenn also die Tiermetamorphose bei Kafka zur Selbsterkennung als der Andere führt, so liegt der Erzählung dieser Metamorphose durch den symbolträchtigen Beruf Gregors - Gregor ist nämlich Handelsreisender - das Narrativ der Reise zugrunde. Das Reise-Narrativ ist bereits in der antiken Literatur mit dem Motiv der Metamorphose verschwistert: Namentlich in Apuleius’ Metamorphosen , auch Der Goldene Esel genannt , findet die Tierverwandlung des Lucius auf seiner Geschäftsreise nach Thessalien statt. Die Reise bildet dabei einen als Ausnahme abgesicherten Zeitraum, in dem die Rückverwandlung zum Menschen durch die Struktur der Rückkehr garantiert ist. Der Blick zurück auf Apuleiusʼ Metamorphosen macht daher auch gerade die Besonderheit von Kafkas Verwandlung deutlich, dass nämlich die dort - bei Apuleius - immer schon vorgesehene Wiedergewinnung der Menschengestalt hier - bei Kafka - nunmehr ausbleibt. Den Ausfall der Rückverwandlung hat Christopher Booker auf das Reise-Narrativ bezogen und damit Kafkas Erzählung als die dark version der archetypischen voyage-and-return-story gelesen: 2 Demnach wird die Struktur der Rückkehr, deren mythisches Grundmuster auf die Heimkehr des Odysseus zurückgeht, bei Kafka durch die unwiderrufliche Tierverwandlung des Helden gleichsam in eine Reise ohne Wiederkehr verkehrt. 2 Christopher Booker, The Seven Basic Plots. Why We Tell Stories , London et al.: Bloomsbury 2004, p. 99. <?page no="196"?> Reisen und Verwandeln 197 Die thematische Koppelung von Reise und Verwandlung findet sich auch bei einer der prominenten Figuren der lateinamerikanischen Boom-Literatur: Julio Cortázar. Seine Erzählungen sind oft Alteritätsfiktionen in dem Sinne, dass dort Selbstentfremdung immer wieder zur Sprache kommt. Die Selbsterkennung als der Andere, die bei Kafka wohl mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhängt, wird bei Cortázar unter dem neuen Vorzeichen der multikulturellen Identität ausgeschrieben. Eine solche Re-Kontextualisierung erklärt sich vorderhand aus der Biographie von Julio Cortázar, die von einer mehrfachen Migration zwischen der Alten und der Neuen Welt geprägt ist: Als Diplomatensohn in Brüssel geboren, wuchs Cortázar in Argentinien auf und lehrte dort zehn Jahre lang französische Literatur, bevor er 1951, im Alter von 37 Jahren, nach Paris emigrierte. Wenn dieser Migrationshintergrund in Rayuela , seinem wohl bekanntesten Roman, im Zeichen einer spielerisch-experimentellen Außenseiter-Existenz auf tragikomische Weise gefeiert wird, so ist es vor allem in seinen phantastischen Erzählungen, wo die kulturelle Heimatlosigkeit in einer unaufhörlichen Verwandlung zwischen dem Ich und dem Anderen zum Vorschein kommt. Dabei dient das Verwandlungsmotiv mehr als der intimistischen Autofiktion eines Migranten-Schriftstellers. Ganz im Gegenteil: Cortázars Alteritätsfiktion bringt die Selbsterfahrung Lateinamerikas zum Ausdruck und zwar dadurch, dass dort ein phantastischer Kampf der Kulturen ausgetragen wird - zwischen einem Ich, das sein kulturelles Idealbild in Europa sucht und seinem gleichermaßen faszinierenden wie auch bedrohlichen, indigenen Anderen. Kaum ein anderer Text beleuchtet diese Problematik so eindringlich wie „Axolotl“ 3 . Der 1964 im Erzählband Final del Juego erschienene cuento erzählt von einer Mensch-Tier-Metamorphose und beginnt - hier ähnlich wie in Kafkas Verwandlung - mit einem fatalen Augenblick: Bei einem zufälligen Tierparkbesuch an einem Pariser Frühlingstag entdeckt der Ich-Erzähler im Aquarium des Jardin des Plantes die Axolotl. Der Anblick versetzt ihn sogleich in eine Handlungslähmung: „me quedé una hora mirándolos y salí, incapaz de otra cosa“ (A, p. 175). Die visuelle Faszination löst dann einen Wiederholungszwang aus, weshalb der Ich-Erzähler fortan tagtäglich die kleinen Schwanzlurche aufsucht und sie solange betrachtet, bis er sich schließlich selbst in einen Axolotl verwandelt. „Axolotl“ ist eine phantastische Erzählung über die Besessenheit. Die Ursache dieser Besessenheit liegt allerdings nicht in einer abnormen Tierliebe, sondern rührt von einer imaginären Konfrontation zwischen der europäischen Kulturtradition und der Kolonialgeschichte Lateinamerikas her. Eine solche Opposition zwischen der Alten und der Neuen Welt erklärt sich, wenn man 3 Julio Cortázar, „Axolotl“, in: Id., Final de juego , Barcelona: Libro amigo 1987, pp. 169-176 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle A im laufenden Text). <?page no="197"?> 198 Xuan Jing die symbolischen bzw. literarischen Anspielungen im Text genauer liest. Was die europäische Kulturtradition anbelangt, so werden in „Axolotl“ zwei Topoi der abendländischen Liebesdichtung aufgerufen. Der erste Topos ist eben die visuelle Obsession, die der skopophile Blick des Ich-Erzählers von „Axolotl“ im Gang setzt. Das Motiv des unablässigen Sehens ruft die amor hereos genannte Liebeskrankheit auf, die in den Medizinhandbüchern bis zum 16. Jahrhundert bestens bekannt war und deren Symptom gerade in einer visuellen Fixierung auf das Bild der Geliebten besteht. Aus der krankhaften Bildfixierung entsteht das Liebesphantasma, jene Vorstellung also, die - mit Octavio Paz gesprochen - der Erfindung der Liebe im Abendland als eines unerfüllbaren Begehrens zugrunde liegt. Es ist also kein Wunder, dass die visuelle Faszination in der petrarkistischen Liebeslyrik den klassischen Auslöser der Liebe darstellt. Mit dem - im wortwörtlichen Sinne - Augenblick des Verliebens hängt in der petrarkistischen Dichtung ein weiterer Topos zusammen, wonach der visuellen Obsession gerade dadurch eine höhere Stufe zukommt, dass der Liebende sich in die Geliebte verwandelt. Erst im Hinblick auf diese literarische Tradition versteht man das narrative Programm von „Axolotl“. Die beiden Dichtungstopoi bilden jeweils den Anfang - der obsessive Blick - und das Ende der Erzählung - die Verwandlung -, und ganz ähnlich, wie das lyrische Ich sich in die lustvoll beschaute Dame verwandelt, verwandelt sich der Ich-Erzähler in das Objekt seiner Anschauung, also in einen Axolotl. Im Vergleich zur poetischen Transformation des Liebenden fällt aber zugleich die Eigenart der Tiermetamorphose bei Cortázar ins Auge: Anstelle der Geliebten geht es hier um einen Axolotl. Der Unterschied ist drastisch: Die unerreichbare Dame, d. h. die Monumentalfigur abendländischer Liebestradition wird durch ein evolutionär unterentwickeltes Tier aus der Neuen Welt ersetzt. Damit eingespielt wird zugleich die Gegenseite der europäischen Kultur, nämlich der lateinamerikanischen Geschichte. Ganz im Sinne dieser Opposition steht der obsessive Blick des Ich-Erzählers von Anbeginn im Zeichen der Umkehr: Denn im Gegensatz zum lyrischen Liebenden sieht er kein sublimes, sondern ein koloniales Objekt. Als ein solches erkennt er die Axolotl in zwei Phasen: Die erste Phase vollzieht sich durch die visuelle Identifikation der Körpermerkmale: „que eran mexicanos lo sabía ya por ellos mismos, por sus rostros rosados aztecas“ (A, p. 169). Eine solche Klassifizierung ist nicht nur politisch unkorrekt, sondern auch symbolisch bedeutsam: Mit ihren Azteken-Gesichtern tragen die Axolotl gewissermaßen die Totenmaske jenes Volkes, das bekanntermaßen im Zuge der spanischen Eroberung ausgerottet wurde. Der implizite Verweis auf die Eroberungsgeschichte geht in der zweiten, schriftlichen Phase des Erkennens weiter, sobald der Ich-Erzähler von seiner Lektüre in der Bibliothek Sainte-Geneviève berichtet, wo er ein Lexikon kon- <?page no="198"?> Reisen und Verwandeln 199 sultiert hat, das neben dem Vorkommen der Axolotl in Afrika auch ihren spanischen Namen - ajolote - wie auch ihren Nutzung als Nahrungstier registriert. Hier liegt eine Reihe kolonialer Anspielungen vor; zu beachten ist vor allem die spanische Namensgebung: Das Wort ajolote , wie es im Text lexikalisch wiedergegeben wird, deutet metonymisch auf eine linguistische Assimilation hin, wodurch die im ursprünglichen Aztekenreich beheimateten Axolotl in das Zeichensystem der Eroberer ( ajo-lote ) eingeschlossen werden. Die Tiersymbolik liegt so betrachtet nahe: Der Axolotl steht für das kolonisierte Lateinamerika, das zwar noch die einheimische Physiognomie, jedoch keine eigene Sprache mehr hat. Dieser kolonialen Tiersymbolik kommt nun eine weitere Konnotation zu, wenn man die Raumsemantik des Pariser Zoos in Betracht zieht. Im Jardin des Plantes leben die Axolotl fern von ihrem Ursprungsort im de-naturalisierten Habitat des Aquariums. Der Tierpark stellt so gesehen einen Ort der Entwurzelung dar, und ebendieser Zweitsinn gilt - wiederum als Teil für das Ganze - gleichfalls für Paris: Ähnlich wie das Aquarium für den uramerikanischen Axolotl ist Paris die künstliche Heimat für die Einwanderer. Folgt man dieser Lektüre, so verkörpert der Ich-Erzähler eine figura auctoris , also eine Stellvertreterfigur des Exil-Schriftstellers Cortázar. Aus dieser Perspektive hängt dann auch die Tierobsession mit der Migrationsthematik zusammen und erweist sich als eine emblematische Form der Alteritätserfahrung: Denn was der Axolotl beim Ich-Erzähler bewirkt, ist genau jene Selbsterkennung als der Andere, wie sie bereits vorbildlich bei Kafka durch eine Tierverwandlung erfolgt. Die Spaltung des Ichs in seinen eigenen Anderen zeichnet sich bei Cortázar in den vorher erwähnten zwei Phasen der Erkennung ab: zunächst visuell - er sieht das Gesicht der Axolotl -, dann sprachlich - er liest über sie in der Bibliothek. In den beiden Phasen erkennt der Ich-Erzähler jeweils einen Teil seiner doppelten Identität: Während er sprachlich - wie der hispanisierte ajolote - bereits in die abendländische Kulturordnung eingeschrieben ist, bleibt ihm als gleichsam phänomenale, körperliche Identität das für sein europäisches Ich fremde Azteken-Gesicht. Das Erkennen der eigenen Alterität führt bei Cortázar zu keiner fröhlichen Bejahung der Hybridität. Was seine Verwandlungsgeschichte im Gegenteil erzählt, ist vielmehr die mimetische Rivalität, die in dem Moment entsteht, als der Axolotl ebenfalls die Position des Sehenden annimmt und damit zum Doppelgänger des voyeuristischen Ich-Erzählers wird. Daraus entfacht sich ein visueller Zweikampf, der sich auf der Handlungsebene in einer intensiven gegenseitigen Beobachtung von Mensch und Tier äußert. In Bezug auf die Identitätsproblematik lässt sich dieser Kampf als eine Psychomachia - also als ein Seelenkampf - begreifen, der zwischen dem europäischen Kultur-Ich und <?page no="199"?> 200 Xuan Jing dem indigenen Körper-Ich ausgetragen wird. Nicht zufällig werden dabei die Axolotl als „fantasma“ (A, p. 173) bezeichnet; denn sie verkörpern mit ihren Azteken-Gesichtern das Kolonialphantasma, das just in dem Moment aktiviert wird, als das europäische Kultur-Ich in ihnen - den Axolotl - das Spiegelbild seines kolonisierten Anderen erkennt. Eben dieses Phantasma versucht das europäische Ich zu überwinden, und zwar so, dass es sich die Position des Kolonialherren imaginär aneignet: Er bemitleidet die gefangenen Tiere und glaubt, in deren Blick die Botschaft „Sálvanos, Sálvanos“ (A, p. 173) zu empfangen. Als selbstberufener Axolotl-Erlöser beschwört er jene christliche Mission wieder herauf, die einst die Eroberung Amerikas offiziell legitimiert hatte. Das Ende der Erzählung ist aus dieser Perspektive besonders sinnreich. Wenn sich der Ich-Erzähler dort in einen Axolotl verwandelt, so scheint Cortázar mit einem solchen Ausgang eine versöhnliche Lösung für den Identitätskampf anzubieten. Dafür spricht ein besonderes Erzählverfahren: Das Verwandlungsgeschehen wird nicht beschrieben, sondern derart narrativisch vermittelt, dass der Axolotl in der zweiten Hälfte der Erzählung allmählich die Stimme des Ich-Erzählers übernimmt. Glaubt zudem der Axolotl-Ich-Erzähler, ein in der Tiergestalt gefangener Mensch zu sein, so scheint sich dabei - auf die Identitätsproblematik übertragen - das europäisierte Kultur-Ich mit seinem indigenen Körper-Ich in der Figur eines hybriden Emigranten-Erzählers zu vereinen. Dennoch: „Axolotl“ stellt damit noch keine Migrationsliteratur inter-kulturellen Zuschnitts dar. Dies zeigt sich dort, wo die durch die Übernahme der Erzählstimme suggerierte Kulturmischung brüchig wird: Im Schlusspassus des Textes sieht nämlich der Axolotl-Ich-Erzähler, wie der Mensch-Ich-Erzähler sich nach längerer Betrachtung langsam von ihm abwendet und geht. Diese Abwendung bedeutet für den Axolotl-Ich-Erzähler eine radikale Trennung: „Los puentes están cortados entre él y yo“ (A, p. 176). Was dem Axolotl-Ich-Erzähler bleibt, ist die Einsamkeit in Folge seiner Gewissheit, dass er sich nie mehr in einen Menschen zurückverwandeln kann. Die irreversible Tierverwandlung erinnert uns an das Schicksal von Gregor Samsa, während die durch seinen - Gregors - Beruf angedeutete Reisemetapher sich bei Cortázar mit der Migration verbinden lässt. Sie - die Migration - bedeutet für den Exilautor eine Reise ohne Wiederkehr, bei der ihm seine europäisch geformte, kulturelle Selbstgewissheit in der Konfrontation mit seinem indigenen Anderen für immer verlustig geht. Die Spaltung der kulturellen von der phänomenalen Identität, die in „Axolotl“ parabelhaft beleuchtet zum Ausdruck kommt, hat ihre epochale Bedeutung. Sie ist für die ganze Generation der Boom-Autoren insofern charakteristisch, als deren intellektuelle Biographien zumeist eine unverkennbar europäische Prägung aufweisen. Mit dieser Spaltung, die mir als wesentliches Moment der lateinamerikanischen Moderne erscheint, beschäftigt sich Cortázar auch in einer <?page no="200"?> Reisen und Verwandeln 201 weiteren, späteren Erzählung: „La isla a mediodía“ 4 . Das Leitmotiv hier ist die Reise, die also implizit auf die Migration verweist. Die Reise von Cortázars Held führt zu einer imaginären Verwandlung, die schließlich mit einer tragischen Suche nach dem kulturellen Ursprung zusammenfällt. „La isla a mediodía“ beginnt mit der uns bereits vertrauten Situation der visuellen Obsession. Marini, ein berufsmüder Flugbegleiter, kann nicht davon ablassen, aus dem Fenster des Flugzeuges eine griechische Insel immer wieder um die Mittagszeit zu betrachten. Als er eines Tages einen Fischer auf dem Strand liegen sieht, beschließt er, ein neues Leben anzufangen. Durch eine nächtliche Reise erreicht er die Insel, wo er nach einem freundlichen Empfang der Einwohner dann auch endlich allein auf dem Strand liegt. Dort in Zukunftsphantasien schwelgend, sieht er - zur Mittagszeit - ein Flugzeug ins Meer stürzen. Er versucht einen Mann zu retten, der mit seinen letzten Kräften zur Insel schwimmt. Schließlich wird der Mann tot von den Inselbewohnern ans Land gezogen und wie der letzte Satz der Erzählung verrät: „el cadáver de ojos abiertos era lo único nuevo entre ellos y el mar“ (IM, p. 103). Die phantastische Pointe besteht darin, dass der Tote niemand anders ist als Marini, der - so würde ich es erklären - von seiner Verwandlung in den Fischer träumt und dabei mit dem Flugzeug verunglückt. Der Held von „La isla a mediodía“ ist ein Luftnomade und führt damit ein vorbildliches Leben globaler Mobilität. Anders jedoch als jenes postmoderne Nomadentum, das nicht zuletzt dank der pensée nomade von Gilles Deleuze als non-konforme Gegenkultur zelebriert wird, bedeutet die endlose Reise bei Cortázar eine radikale kulturelle Entwurzelung. Darauf deutet das Schlüsselwort im Titel, medio , das zeitlich durch die Mittagszeit, räumlich durch das Mittelmeer ausgeschrieben wird und sich metaphorisch ferner auf ein Leben in dauerhafter inbetweenness beziehen lässt. So gelesen versteht man dann auch Marinis Obsession für die Insel - einen festen Boden, nach dem er sich inmitten der immer gleichen transarealen Fluktuation des Daseins sehnt. Die Ortswahl des Begehrens ist keineswegs beliebig; denn es handelt sich dabei um Chios, jene Insel also, die - wenngleich nicht ohne Konkurrenz - als die Heimat von Homer gilt. Die visuelle Obsession des Berufsreisenden ließe sich so betrachtet auf die Ursprungssuche des Exil-Autors übertragen, dessen sehnsüchtiger Blick eben nicht auf das wunderbare Amerika, sondern auf den epischen Geburtsort des Abendlandes zwanghaft fixiert ist. 4 Julio Cortázar, „La isla a mediodía“, in: Id., Todos los fuegos el fuego , Barcelona: Edhasa 1977, pp. 95-103 (Seitenverweise im Folgenden mit der Sigle IM im laufenden Text). <?page no="201"?> 202 Xuan Jing Eine solche Fixierung zeichnet sich bereits in einer der frühesten Erzählungen von Cortázar, „Casa tomada“ 5 , ab. Der Ich-Erzähler lebt dort in glücklicher Zweisamkeit mit seiner Schwester, deren Lieblingstätigkeit darin besteht, ihre fertige Strickarbeit zu zerlegen und dann neu anzufangen. Das Textilweben, das schon im Mittelalter als eine Textmetapher dient, verdoppelt sich hier mit der Penelope-Episode aus der Odyssee , in der die treue Gattin des Odysseus, um die unerwünschten Freier abzuwehren, das am Tag gewebte Totentuch am Abend wieder auflöst. Die so doppelt sinnfällige Strickmetapher ließe sich poetologisch, also als ein Schreibprogramm des Autors lesen: Bei Cortázar steht das Erzählen immer schon im Zeichen einer Rückkehr, deren imaginäres Ziel im Abendland durch die Heimreise des Odysseus vorbestimmt ist. Wenn das Geschwisterpaar in „Casa tomada“ schließlich von einem ominösen Geräusch aus ihrem Familienhaus vertrieben wird, so scheint sich in der akustischen Bedrohung ebenjener Andere anzukündigen, den der Ich-Erzähler in „Axolotl“ als sein fremdes, uramerikanisches Spiegelbild erblickt. Diesem Spiegelbild scheint jedoch der weltflüchtige Flugbegleiter in „La isla a mediodía“ endlich zu entkommen: Seine Ankunft auf Chios - ein weiteres Mal auf das Schreiben von Cortázar bezogen - ist die fantastische Projektion einer kulturellen Ursprungssuche, die von Anbeginn der Heimkehr des Odysseus nachgebildet ist. So betrachtet wirkt dann auch das Flugzeugunglück weniger tragisch; denn ähnlich wie Phaeton, der mit dem Sonnenwagen seines Vater ins Meer stürzt, stirbt auch der bei Homers Geburtsort abgestürzte Held von Cortázar im Moment seiner Wunscherfüllung. 5 Julio Cortázar, „Casa tomada“, in: Id., Bestiario , Barcelona: Biblioteca de Autor 1987, pp. 7-15. <?page no="202"?> Reisen und Verwandeln 203 III. Mystik und Heterologie <?page no="204"?> Erkenntnis als Gipfelerlebnis 205 Erkenntnis als Gipfelerlebnis. Boethius’ Bild der ewigen Gegenwart: De consolatione philosophiae Hans Otto Seitschek Quoniam […] deo [est] semper aeternus ac praesentarius status, scientia quoque eius […] infinitaque praeteriti ac futuri spatia complectens omnia, quasi iam gerantur, in sua simplici cognitione considerat. Itaque si praevidentiam pensare velis, qua cuncta dinoscit, non esse praescientiam quasi futuri, sed scientiam numquam deficientis instantiae rectius aestimabis. Unde non praevidentia, sed providentia potius dicitur, quod porro a rebus infimis constituta quasi ab excelso rerum cacumine cuncta prospiciat. Quae sint, quae fuerint, veniantque, Uno mentis cernit in ictu. Quem, quia respicit omnia solus, Verum possis dicere solem. Boethius, De consolatione philosophiae (6. Jh.), V, 6. Prosa / 2. Carmen 1 Anicius Manlius Severinus Boethius prägte im 6. Jahrhundert mit diesen Zeilen der 6. Prosa und des 2. Carmen im V. Buch seines in der Haft entstandenen Prosimetrums De consolatione philosophiae ein ganz entscheidendes Bild der Philosophiegeschichte: Gott als derjenige, der als Ewiger ( aeternus ), Überzeitlicher, Zeitloser Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ihrer abzählbaren Unendlichkeit ( perpetuitas ) durch seine Erkenntnis erfasst, indem er wie von einem hoch aufragenden Gipfel aus alles vorher- und vorsieht. Für die Problematik der gleichzeitigen und allumfassenden Wahrnehmung Gottes ist die Diskussion in der ganzen 6. Prosa des V. Buches der Consolatio relevant, teilweise auch der Inhalt der 4. Prosa. Sieben Jahrhunderte später greift Thomas von Aquin dieses Bild der Allerkenntnis Gottes wie von einem erhöhten Punkt aus ( ab aliqua altitudine ) in seiner Summa Theologiae auf: „Ad tertium dicendum quod ea quae temporaliter 1 Anicius Manlius Severinus Boethius, De consolatione philosophiae , edd. Ernst Gegenschatz, Olof Gigon, Zürich: Artemis & Winkler 6 2002, p. 266 (V, 6. Prosa, z. 61-73) / p. 236 (V, 2. Carmen, vv. 11-14). <?page no="205"?> 206 Hans Otto Seitschek in actum reducuntur, a nobis successive cognoscuntur in tempore, sed a Deo in aeternitate, quae est supra tempus. Unde nobis, quia cognoscimus futura contingentia inquantum talia sunt, certa esse non possunt, sed soli Deo, cuius intelligere est in aeternitate supra tempus. Sicut ille qui vadit per viam, non videt illos qui post eum veniunt, sed ille qui ab aliqua altitudine totam viam intuetur, simul videt omnes transeuntes per viam“ ( Summa Theologiae , Ia, qu. 14, a. 13, ad 3). Vergangenheit und Zukunft fasst Boethius als unendliche Zeiträume auf, die Gott in seiner Vorsehung durch „einfache Erkenntnis ( simplex cognitio )“ (Prosa, z. 67), die alles, was war, ist und sein wird, in einem einzigen Blick des Geistes anschaut: „Quae sint, quae fuerint, veniantque, / Uno mentis cernit in ictu“ (Carmen, v. 11sq.). Diese Anschauung Gottes beinhaltet jedoch keine Determination der Geschehnisse und des menschlichen Handelns in der Zeit, da diese Ereignisse lediglich angeschaut werden, als ob sie alle gleichzeitig in oder während der Anschauung Gottes geschähen, nicht aber vorbestimmt werden. Wissen und Geschehen sind unabhängig voneinander, wie es Boethius zuvor in der 4. Prosa des V. Buches dargelegt hat (z. 13-15): „quia praescientiam non esse futuris rebus causam necessitatis existimat nihil impediri praescientia arbitrii libertatem putat.“ Anders als Boethius vertritt Thomas von Aquin in diesem Zusammenhang allerdings sehr wohl einen Determinismus der Ereignisse und menschlichen Handlungen durch das göttliche Vorherwissen. Gott legt demnach durch seine Allwissenheit die Geschehnisse und Handlungen als solche in der Zeit fest ( Summa Theologiae , Ia, qu. 14, a. 13, ad 3). Philosophisch wäre dagegen einzuwenden, dass durch Wissen, das eine epistemologische Qualität aufweist, noch lange keine Seinsaussage getroffen wird, die den ontologischen Status der Dinge bestimmt. ‚Sein‘ ist kein reales Prädikat, wie gut ein Jahrtausend nach Boethius Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/ 1787) zurecht bemerkt. Sein Einwand lautet, dass das Denken, die Idee einer Sache, ihre Existenz nicht unbedingt einschließt (cf. Kant, Kritik der reinen Vernunft , 1781/ 1787, A 603sq. / B 631sq.). Bezüglich der Auffassung der Zeit im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit finden sich ebenso Konvergenzen zwischen Boethius und Kant, der ein Kenner der antiken Philosophie war. 2 Will man, so Boethius, die Voraussicht Gottes richtig verstehen, so darf sie nicht als Vorherwissen der Zukunft aufgefasst werden, sondern muss als „Wissen einer niemals entschwindenden Gegenwart ( scientiam numquam deficientis instantiae )“ (Prosa, z. 70) begriffen werden. Für Gott als den Zeitlosen gibt es ja weder Zeit noch Zeitstufen, alles ist ihm immer zugleich gegenwärtig. Die 2 Cf. Robert Spaemann, „Bemerkungen über das Verhältnis von Zeit und Freiheit bei Boethius und Kant“, in: Disiecta Membra. Studien. Festschrift für Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag , edd. Wilhelm Schmidt-Biggemann et al., Basel: Schwabe 1989, pp. 20-24. <?page no="206"?> Erkenntnis als Gipfelerlebnis 207 Fülle der zeitlichen Ereignisse können in ihrer Gänze eben nur durch einen unzeitlichen, ewigen und allwissenden personalen Geist angeschaut und erkannt werden, wie es der Schöpfergott ist. Zeitliches wird durch Überzeitliches oder besser den Unzeitlichen in seiner Anschauung erkannt. Deshalb zieht Boethius den Begriff „Vorsehung ( providentia )“ auch dem Begriff „Vorhersehung ( praevidentia )“ (Prosa, z. 71) vor, um damit zu zeigen, dass Gottes Anschauung eine betrachtende, keine determinierende ist, die die Freiheit des Menschen zerstört. Gleichzeitig sieht Gott für den Menschen vor. Er sieht auf ihn und sein Fortkommen, sorgt und sieht dafür vor. In diesen wenigen Zeilen der Prosa wie des Carmen, das in der Consolatio in umgekehrter Reihenfolge vor dem Prosastück steht und einen verkürzten daktylischen Tetrameter als Metrum aufweist, wird also nicht nur der Gedanke der Vorsehung thematisiert, es ist auch das nunc stans , das eindrucksvoll ins Bild gesetzt wird. Im stehenden Jetzt ist zwar ein über- oder unzeitlicher Zustand dargestellt, der die Zeit jedoch nicht aufhebt. Denn im stehenden Jetzt kann es in sich Vorgänge geben, die im Blick des stehenden Jetzt aufgehoben beziehungsweise von Gott von Anfang bis zum Ende zugleich angeschaut werden, und dies ein für alle Mal, wie ein Blitz plötzlich am Himmel erscheint und von oben nach unten, also linear, verläuft (cf. Mt 24, 27). Boethius bezieht sich also auf Gott als ein Wesen, das alle Zeiten gleichzeitig überblickt wie vom Gipfel eines hohen Berges aus. Gott sieht alles in sich, vor sich, „wie vom erhabenen Gipfel der Dinge herunter ( quasi ab excelso rerum cacumine )“ (Prosa, z. 73), ohne sich dabei in die Vielheit der „niederen Dinge ( res infimae )“ (Prosa, z. 72) zu verlieren. Er hält sich fernab von diesen auf. Gottes Wesen ist seinem Wissen ähnlich: Gott ist ewig gleich, immer derselbe. Er ist, auch im Erkenntnisakt, nicht von irgendeinem Schatten des Wandels oder der Veränderung getrübt. Gott ist der „Vater des Lichtes, bei dem es keinen Wechsel und keinen Schatten von Veränderlichkeit gibt (τοῦ πατρὸς τῶν φώτων, παρ᾽ ᾧ οὐκ ἔνι παραλλαγὴ ἢ τροπῆς ἀποσκίασμα)“ ( Jak 1, 17). Alles ist hell in Gott. Er übersieht als einziger das All in einem klaren Blick und kann als die wahre Sonne gelten: „Quem, quia respicit omnia solus, / Verum possis dicere solem“ (Carmen, v. 13sq.). Gottes Blick ist letztlich klarer und tiefer als der Schein der Sonne, der alles nur mit Licht überstrahlt. Sprachlich bemerkenswert ist das lateinische Wortspiel jeweils am Versende „ solus - solem “ (cf. Varro, De lingua latina , V, 68), das Gott, den Einzigen ( solus ), direkt mit der Sonne ineins setzt ( sol ). Das Bild der Sonne hat, wenn man unterstellt, dass Boethius Christ war und die Bibel kannte, mindestens eine dreifache Bedeutung: Erstens ist die Sonne wie in Platons Sonnengleichnis (Platon, Politeia VI, 508a-509b) der Lichtspender, der Erkenntnis überhaupt erst ermöglicht. Zweitens ist die Sonne „Sprössling <?page no="207"?> 208 Hans Otto Seitschek des Guten (τὸν τοῦ ἀγαθοῦ ἔκγονον)“ (508 b/ c), trägt das Gute in sich und befindet sich sogar „jenseits von Sein und Wesenheit (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας)“ (509 b), ist also absolut transzendent. Drittens ist die Sonne in altorientalischer und biblischer Tradition selbst Gott bzw. Zeichen der Gerechtigkeit. In der akkadischen Tradition ist Šamaš konkret die Sonne, der Sonnengott und der Gott der Gerechtigkeit. Im Alten Testament ist von der „Sonne der Gerechtigkeit ( ׁ - shemesh zedaqah )“ ( Mal 3, 20) die Rede. Ein Bild, das später auf Christus übertragen wurde, der durch seine Menschwerdung Licht in die Finsternis der in der Sünde gefangenen Menschen brachte, wie es liturgisch die O-Antiphonen der letzten Tage der Adventszeit bezeugen. Indem Boethius nun den „Schöpfer des großen Alls ( magni conditor orbis )“ (Carmen, v. 7) als personalen Schöpfergott, als der er hier charakterisiert wird, „wahre Sonne ( verum […] solem )“ (Carmen, v. 14) nennt, vollzieht er diese christliche Umdeutung der orientalischen und alttestamentlichen Quellen. Allerdings ist es, wie bereits angedeutet, keinesfalls so sicher, ob Boethius Christ war, tritt er uns in der Consolatio doch eher als in der neuplatonischen Tradition stehend entgegen, wobei er jedoch nichts der christlichen Lehre Gegenläufiges schreibt. Mit magni conditor orbis kann ein demiurgischer Weltschöpfer gemeint sein, wie er in der platonischen Tradition vorkommt, der den Kosmos in der Zeit als Abbild der Ewigkeit schafft (cf. Platon, Timaios , 37c), genauso aber auch der personale, dreieinige, allwissende und allmächtige Schöpfergott der christlichen Religion. Boethius hebt diese Spannung in der Consolatio nie ganz auf, er bewegt sich bewusst zwischen neuplatonischer und christlicher Tradition. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gut dreizehn Jahrhunderte später Friedrich Nietzsche, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang, zu einer ähnlichen Überlegung kommt, die mit dem Bild der Sonne eine neue Perspektive von Zeit und Ewigkeit eröffnet: „An diesem vollkommenen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal“ (Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist , ed. 1908, Widmung). Nietzsche greift ebenfalls das Bild des zeitlich umfassenden Blickes auf, nach rückwärts, in die Vergangenheit, hinaus, nach vorne, in die Zukunft. Er nennt ihn „Sonnenblick“ (ibid . ), wodurch ebenso wie bei Boethius im zitierten Carmen auf die Metapher der Sonne angespielt wird. Der „Sonnenblick“ bei Nietzsche fällt jedoch nicht auf das All des Seins, sondern auf sein eigenes Leben, hat also eine eindeutig biographische Komponente. Dies unterstreicht den Charakter des Werkes mit dem sprechenden Titel Ecce homo (cf. Joh 19, 5). Es sind gewissermaßen Nietzsches Retractationes , die das Leben und die Werke des Philosophen selbst Revue passieren lassen. Im „Sonnenblick“ auf sein Leben sieht Nietzsche so viele und gute Dinge auf einmal, also das <?page no="208"?> Erkenntnis als Gipfelerlebnis 209 Leben in Fülle, wie es in Anlehnung an das Johannesevangelium ( Joh 10, 10) gemeint sein könnte. Diese Fülle des Lebens ist zugleich die Fülle der Dinge, ὄντα, die in ihrer Vollständigkeit eine Qualität des Guten zeigen. Böses wird dagegen, platonischer Tradition folgend, stets als Entzug des Guten, στέρησις τοῦ ἀγαθοῦ, privatio boni , gesehen, also immer als defizienter Seinszustand. Diese platonische und johanneische Konnotation mag bei Nietzsche mitschwingen, insgesamt steht jedoch der Blick auf die Fülle des eigenen Lebens und auf seine Werke im Fokus von Nietzsches „Sonnenblick“. In Bezug auf das Leben kennt Boethius ebenfalls eine Fülle, indem er in einem seiner berühmtesten Zitate die Ewigkeit den in Gänze gleichzeitigen und vollständigen Besitz unbegrenzten, wörtlich unbegrenzbaren, Lebens nennt: „Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possesio“ (Prosa, z. 9-11). Beiden, Boethius und Nietzsche, ist gemeinsam, dass in einem die Zeiten übergreifenden Blick eine Ganzheit von Sein erfasst wird, sei es das eigene Leben oder das All. Bei Boethius wird die Gesamtheit des Seins auf dem Wege der Erkenntnis erfasst, nicht allein mittels einer bloßen Anschauung. Der Blick Gottes ist klarer, tiefer und durchdringender als der nur überschauende Blick der Sonne, wie er bei beiden ähnlich dargestellt wird. Anders als die Schau der Sonne sieht Gott den Dingen auf den Grund. In diesem von Boethius charakterisierten tieferen Blick Gottes, ein die Zeiten durch Erkenntnis er- und umfassender Blick, wirkt Gott seine Allwissenheit durch einen und in einem immerwährenden Erkenntnisakt. Doch noch ein Anderer, Boethius der Zeit nach etwas Näherstehender, kennt sein persönliches philosophisches Gipfelerlebnis: Im Brief an den gelehrten toskanischen Augustinermönch Francesco Dionigi berichtet Petrarca von seiner Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ( Familiarium rerum libri IV , I, 1). Und auch Petrarca nutzt sein Wandererlebnis, wenn es denn so stattgefunden hat, um auf damit verbundene erkenntnistheoretische Reflexionen einzugehen: der mühevolle Perspektivenwechsel, der vom einfachen hin zum komplexen Erfassen der sinnlichen und übersinnlichen Dinge führt. Petrarca lässt auch eine autobiographische Note in seinem Text spüren, zum einen, da er seine eigene Perspektive beschreibt, nicht die objektive Schau Gottes, wie bei Boethius, zum anderen, da ihn Dionigi, der Adressat des Briefes, in das Denken des Augustinus eingeführt und ihm ein Exemplar der Confessiones geschenkt hat. Für seine für die damalige Zeit ungewöhnliche Bergtour hat Petrarca womöglich auch eine Anregung bei Augustinus selbst zum Ausgangspunkt genommen: „Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos […]“ ( Confessiones , X, 8, 15). Auf dem Weg zum Gipfel rezitiert Petrarca seinem Bruder diese Stelle, der damit alleine offensichtlich nichts anfangen konnte und <?page no="209"?> 210 Hans Otto Seitschek mehr hören wollte ( Familiarium rerum libri IV , I, 1, 27sq.), wohingegen Petrarca ganz in augustinischer Tradition den Weg nach innen antrat, um so die Perspektive seiner Seele vom irdisch Vergänglichen zum transzendent Ewigen, Wahren zu wenden: „Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas. Et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. Sed memento, cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere. Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur“ (Augustinus, De vera religione , c. XXXIX, 72). Als Vorbilder mögen Augustinus Plotin, dessen Denken er aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Schriften des Marius Victorinus kennengelernt hatte, gedient haben: „Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an (ἄναγε ἐπὶ σαυτὸν καὶ ἴδε)“ ( Enneade I , 6, 9: „Περὶ τοῦ καλοῦ - Über das Schöne“), sowie Paulus: „[…] dass ihr durch Seinen Geist dem inneren Menschen (εἰς τὸν ἔσω ἄνθρωπον) nach kraftvoll erstarket“ ( Eph 3, 16). Die beschriebene Bergwanderung galt Petrarca als einschneidender Perspektivenwechsel, der ihn die Dinge völlig neu sehen ließ. So ist bei Petrarca eine weitere Parallele zu Augustinus, ebenso zum Völkerapostel Paulus, als er noch Saulus hieß, oder sogar zum Aufklärer Jean-Jacques Rousseau zu finden: die Bekehrung. Folgt man dem Bekehrungserlebnis des Augustinus („Tolle, lege; tolle, lege“; Confessiones , VIII, 12, 29), ist die Bekehrung, conversio , eine Umwendung der Seele, eine ψυχῆς περιαγωγή (Platon, Politeia VII, 521c), wie sie als Folgerung aus Platons Höhlengleichnis (ibid . , 514a-518b) zu ziehen ist. Die ψυχῆς περιαγωγή wird von Platon als „wahre Philosophie (φιλοσοφία ἀληθῆ)“ (ibid., 521c) bezeichnet, da sie eine neue Erkenntnismöglichkeit schafft, wodurch der Mensch eine neue Perspektive auf die Ewigkeit gewinnt. Dieses Ziel verfolgt auch Boethius am Schluss seiner recht abrupt endenden, wohl unvollendet gebliebenen Trostschrift. Doch was ist mit diesem die Zeiten übergreifenden Blick als Erkenntnisakt noch gemeint? Im nunc stans , das Gott in seinem die Zeiten umfassenden überzeitlichen Erkenntnisblick erfasst, kann meines Erachtens auch ein Argument für die Erkenntnis Gottes gewonnen werden: das epistemische Argument oder das Argument von der gleichzeitigen Wahrnehmung, wie ich es nennen möchte. Es besteht darin, dass Gott in seinem Erkennen auch dem Menschen nicht mögliche, gleichzeitige, gegenläufige Wahrnehmungen vollziehen kann, und dies von ein und derselben Position aus. Das zu entwickelnde Argument lautet nun: Menschen nehmen in unterschiedlicher Weise Zeit, Zeitabschnitte und Räume wahr; auch über weite Distanzen mittels Fernsehen, Telefon oder Internet. Die gleichzeitige Wahrnehmung dieser gleichzeitigen Vorgänge an verschiedenen Orten in summa , zu allen Zeiten an allen Orten im Unterschied zu den begrenzten Wahrnehmungen eines einzelnen Menschen an einem Ort, ist eine Fähigkeit, die nur Gott als Allwissendem und Ewigem, Zeitlosem, zukommen <?page no="210"?> Erkenntnis als Gipfelerlebnis 211 kann. Mit dieser universalen Wahrnehmung kann Gott seine Allmacht, Vorsehung und Gerechtigkeit walten lassen. Aus der menschlichen Wahrnehmung von Raum und vor allem Zeit lässt sich also per analogiam auf einen universal wahrnehmenden Geist, also Gott, schließen. Zwei Beispiele sollen diesen Argumentationsgang verdeutlichen. Erstens: Es gibt verschiedene Zeitzonen auf der Welt, die man beispielsweise durch Uhren in einer Reihe, die jeweils unterschiedliche Zeiten anzeigen, visualisieren kann, wie man es gelegentlich auf Flughäfen sieht. Ein Mensch kann dadurch die verschiedenen Zeitzonen zwar gleichzeitig sehen und sie sich vorstellen, wenn er auf diese Uhren blickt, aber er kann nie verschiedene Zeitzonen gleichzeitig wahrnehmen, empfinden oder erleben. Edmund Husserl hebt hervor, dass für den Menschen „zwei verschiedene Zeiten nie zugleich sein können“ 3 . Eine gleichzeitige Wahrnehmung verschiedener Zeitzonen ist allein einer höheren Erkenntnisinstanz, Gott, möglich. Warum ist diese gleichzeitige Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung der verschiedenen Zeitzonen notwendig? So könnte ein möglicher erster Einwand lauten. Die Notwendigkeit ist dadurch gegeben, dass, wenn die verschiedenen Zeitzonen nicht gleichzeitig wahrgenommen werden würden, sie Fiktion bleiben könnten. Eine serielle Wahrnehmung durch menschliche Erkenntnis kann deren Realität nicht sichern, da nicht sichergestellt wäre, dass zur gleichen Zeit die anderen Zeitzonen wirklich existierten. Die gemeinsame Wahrnehmung der Zeitzonen durch Gott sichert also allein deren Realität, so dass der Mensch ein sicheres Wissen darüber haben kann, dass zu einem Zeitpunkt verschiedene Zeitzonen, d. h. verschiedene konkrete Zeiten, wie 4 Uhr, 10 Uhr oder 16 Uhr, nicht nur verschiedene Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), existieren. Damit wird Gott nicht der Zeitlichkeit und der Veränderlichkeit unterworfen: Vielmehr umschließt Gott die von ihm geschaffene Zeit in den gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeitpunkten zu allen Zeiten. Es geht in diesem Argument allein um die Wahrnehmung von Zeit. Zweitens: Ein Mensch kann es sich durchaus vorstellen, dass gleichzeitig zu seinen Handlungen in einem anderen Erdteil, z. B. Australien, ein anderer Mensch zu einer anderen Tageszeit in einer anderen Jahreszeit etwas Ähnliches oder Anderes tut. Erfahren kann er das aber nicht. Einzig dem Überzeitlichen, Allwissenden, ist das möglich, also Gott. Gott hält demnach als Grund des Seins die Welt und die Geschichte in ihrer Konsistenz und Kohärenz durch seine 3 Cf. Edmund Husserl, Husserliana. Gesammelte Werke , aus dem Nachlass ed. Herman Leo van Breda et al., Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins , 1893-1917, ed. u. eingel. Rudolf Boehm, Den Haag: Nijhoff 1966, p. 10. <?page no="211"?> 212 Hans Otto Seitschek gleichzeitige Wahrnehmung aller Dinge, Fakten und Personen sowie seinem Wissen davon aufrecht. Das epistemische Argument ist jedoch nicht mit Boethius’ Argumentation bezüglich der gleichzeitigen Erfassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzusetzen, da sich das epistemische Argument nicht auf die Erfassung von Zeitstufen, sondern auf die gleichzeitige innere Erfahrung von verschiedenen konkreten Zeitpunkten auf einer Zeitstufe konzentriert. Bei beiden Argumentationslinien geht es aber um die Erkenntnis des Ganzen in der Wahrnehmung, also um einen Ausgriff auf das Unendliche, das in jedem menschlichen Erkenntnisakt enthalten ist. So gibt Boethius mit seinem literarischen Bild des allwissenden, höchsten Erkenntnisaktes als Blick vom aufragenden Gipfel des Seins aus eine Vorgabe, die in die moderne Phänomenologie der Zeit (Husserl) hineinwirkt und sogar Anstoß für ein Gottesargument sein kann. So legt uns Boethius in der 6. Prosa des V. Buchs der Consolatio ein wahrhaft zeitloses Bild der ewigen Erkenntnis Gottes vor. <?page no="212"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 213 Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz Ulrich Dobhan Buscando mis amores, iré por esos montes y riberas; ni cogeré las flores, ni temeré las fieras, y pasaré los fuertes y fronteras. Nach meiner Liebe suchend, werd’ über Berge ich und Auen laufen, und keine Blumen pflücken, noch wilde Tiere fürchten, und Festungen und Grenzen überschreiten. Johannes vom Kreuz, Der geistliche Gesang ( Cántico espiritual , 1578/ 1630) 1 Als Johannes vom Kreuz diese Verse schrieb, schmachtete er im wahrsten Sinn des Wortes im Gefängnis des Karmelitenklosters in Toledo. Er war in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1577 aus seiner Klause im Garten des Menschwerdungsklosters in Ávila entführt und im eisigen Winter Kastiliens übers Gebirge nach Toledo gebracht worden. In der Woche nach dem 15. August 1578 gelang ihm auf abenteuerliche Weise die Flucht, wobei er als einzigen Schatz die wichtigsten seiner Gedichte bei sich hatte, die im Gefängnis entstanden waren, unter anderen auch den Cántico espiritual , aus dem die zitierte Strophe genommen ist. 2 Wie war es zu dieser Situation gekommen? I. Ein Blick auf das Leben des Johannes vom Kreuz Kindheit und Jugend Geboren 1542 in Fontiveros, Provinz Ávila, 3 als letzter von drei Söhnen des Gonzalo de Yepes und seiner Frau Catalina Álvarez, verlor er schon als Kind 1 Tr. Vf. zusammen mit Elisabeth Peeters. Die Schriften des Juans werden zitiert nach der Übersetzung von Ulrich Dobhan, Elisabeth Henze und Elisabeth Peeters in: Johannes vom Kreuz, Gesammelte Werke , 5 vols., Freiburg: Herder 1995-2000, mit den dort angegebenen international üblichen Siglen. CB wird zitiert nach: All mein Tun ist nur noch Lieben. Der Geistliche Gesang (Cántico B) , Freiburg: Herder 2019. 2 Siehe dazu José V. Rodríguez, San Juan de la Cruz. La biografía, Madrid: San Pablo 2012, pp. 293-339. 3 Wahrscheinlich am 24. Juni, da Johannes der Täufer sein Namenspatron war, und die Kinder meistens nach dem Heiligen des Tages benannt wurden ( Julián de Ávila, Recuer- <?page no="213"?> 214 Ulrich Dobhan seinen Vater und mittleren Bruder, die an Krankheit bzw. Unterernährung starben. 4 1551 zieht die Mutter, nach einem Aufenthalt von zwei bis drei Jahren in Arévalo, mit ihren beiden Söhnen nach Medina del Campo, wo sie sich bessere Lebensbedingungen erwartet. 5 Juan hatte Glück, dass er in Medina del Campo im Colegio de los Doctrinos Aufnahme fand, eine Einrichtung der Cortes de Castilla, um dem Problem der Straßenkinder Herr zu werden. 6 Gleichzeitig tat er Dienst im Hospital de las Bubas , einem von 14 Krankenhäusern in Medina. 7 Zum zweiten Mal hatte Juan Glück, da er ab 1559 im erst 1551 gegründeten Kolleg der Jesuiten Aufnahme fand, wo er bei ausgezeichneten Lehrern eine hervorragende humanistische und philosophische Bildung erhielt. 8 dos de la vida y fundaciones de la Madre Teresa de Jesús, ed. M. Diego Sánchez, Madrid: Editorial de Espiritualidad 2013, p. 252). 4 Über die Abstammung Juans gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. José Gómez-Menor, Santiago Sastre, Raíces históricas de San Juan de la Cruz, Tarancón: Trébedes 2011, vermuten, dass Juans Vater einer Converso-Familie entstammte (pp. 123-130). Seine ersten Hagiographien sind weitgehend dem damals vorherrschenden barocken Heiligkeitsideal verpflichtet, nach welchem ein Heiliger auf jeden Fall ein Adeliger sein muss: José de Jesús María (Quiroga), Historia de la vida y virtudes del Venerable P. Fray Juan de la Cruz, 1628; Alonso de la Madre de Dios, Vida, virtudes y milagros del santo Padre Fray Juan de la Cruz, 1630 ; Jerónimo de San José, Historia del Venerable Padre Fr. Juan de la Cruz, 1641. Die Armut der Familie wird so erklärt, dass der Vater aufgrund seiner nichtstandesgemäßen Heirat von den reichen und adeligen Verwandten in Toledo enterbt wurde, womit die adelige Abstammung gewahrt und die Armut erklärt, Juan aber dem damals vorherrschenden Heiligkeitsideal angepasst wird. 5 Zu den Lebensbedingungen der Armen und das heißt des Johannes vom Kreuz, siehe Alberto Marcos Martín, „San Juan de la Cruz y su ambiente de pobreza“ , in Actas del Congreso Internacional Sanjuanista, vol. II, Valladolid: Junta de Castilla y León 1993, pp. 143-184. Der Autor schreibt sogar: „In der Biographie des hl. Johannes vom Kreuz finden wir mehr als genug Daten, um daraus eine Geschichte der Armut im Kastilien des 16. Jahrhunderts zu schreiben“ (p. 143; Übersetzung vom Vf.). 6 Cf. Teófanes Egido, Las Cortes y la Cultura , in: Las Cortes de Castilla y León en la Edad Moderna, ed. Julio Valdeón, Valladolid: Cortes de Castilla y León 1989, pp. 415-474, hier p. 434sq. 7 Alberto Marcos Martín, El sistema hospitalario de Medina del Campo en el siglo XVI , in: Cuadernos de investigación histórica 2 (1978), pp. 341-362. 8 Luis Fernández Martín, „El colegio de los Jesuitas de Medina del Campo en tiempo de Juan de Yepes“ , in: Juan de la Cruz, Espíritu de Llama , ed. Otger Steggink, Roma: Institutum Carmelitanum 1991, pp. 41-61. Der Autor nennt die dort angewendete Erziehungsmethode „ pedagogía de amor “ (ibid. p. 56), die sich radikal von den damals üblichen Methoden unterschied. <?page no="214"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 215 Eintritt in den Karmelitenorden Aus uns nicht bekannten Gründen trat Juan 1563 mit dem Namen Juan de Santo Matías in den Karmelitenkonvent zur hl. Anna in Medina del Campo ein, 9 legte nach einem Jahr Profess ab und begab sich dann zum Studium nach Salamanca, wo er im außerhalb der Stadtmauern gelegenen Studienkonvent der Karmeliten San Andrés wohnte. 10 Dort studierte er drei Jahre Philosophie, 11 wurde 1567 zum Priester geweiht und begegnete im August-September 1567 anlässlich seiner Primiz Teresa von Ávila. In dieser Zeit war Juan in eine tiefe Krise geraten. Die traditionelle Deutung, dass er mit der Observanz in seinem Orden und Kloster nicht zufrieden gewesen sei, weil es seiner Meinung nach zu lasch sei, verdankt sich der Schwarz-Weißmalerei in der Ordensgeschichtsschreibung. Heute wissen wir, dass das Ordensleben in San Andrés, insbesondere nach der Visitation durch den Generalprior Giovanni Battista Rossi, ein gutes Niveau hatte. Juans Krise hat vor allem mit dem Umfeld zu tun, denn ein großer Teil der Theologiestudenten, darunter viele Ordensleute, hatten als Hauptziel ihres Studiums Titel, Ämter und Lehrstühle im Sinn. Dazu kamen auch Richtungsstreitigkeiten unter den Professoren, von denen die einen die Scholastik verteidigten, also mehr dogmatische Vorlesungen, die anderen biblische Studien bevorzugten. 12 Schließlich mag noch ein ganz anderer Grund dazu gekommen sein. 1566 gab es an der Universität 9 Warum trat er nicht als Juan de Yepes ein? Denn bei den Karmeliten war es damals nicht üblich, sich einen neuen Namen zuzulegen oder einen solchen zu bekommen, das macht erst Teresa, um alle Hinweise auf die „Welt“ auszulöschen und dadurch die Gleichheit aller herzustellen. Sie dekretiert: „Vielmehr soll eine, die höher gestellt ist, ihren Vater seltener in den Mund nehmen; alle haben gleich zu sein“ (CE 45,2 / CV 27,6). Gómez-Menor, Sastre, Raíces históricas , pp. 75-80, Anm. 75, sehen im Wechsel des Nachnamens ein mögliches Indiz für die jüdische Abstammung Juans. Ihrer Meinung nach hätten die Vorfahren Juans bei der Konversion den jüdischen Namen Abzaradiel abgelegt und den Namen ihres Dorfes als Nachnamen angenommen, wie es damals nachweislich viele Juden taten. Hatte Juan Bedenken, mit diesem jüdisch belasteten Nachnamen einzutreten? 10 Das war keine vornehme Umgebung; es gab Tavernen, übel beleumundete Häuser, und u. a. auch hier ein Hospital de las bubas , in dem die Karmelitenstudenten zur Ermäßigung der Studiengebühren Dienste zu verrichten hatten. Cf. Luis Enrique Rodríguez-San Pedro Bezares, „Morá en los arrabales“ , in: Revista de Espiritualidad 56 (1997), pp. 621-628. 11 Luce López-Baralt hält es für möglich, dass Juan in dieser Zeit sich auch mit Arabisch beschäftigt hat, denn sein Stundenplan erlaubte es ihm, wenigstens zeitweise beim Professor für diese Sprache Martín Martínez de Cantalapiedra mit Hilfe des von ihm benutzten Handbuches Yurrumiyya Arabisch zu studieren. (Luce López-Baralt, Reem Iversen, „ A zaga de tu huella“. La enseñanza de las lenguas semíticas en Salamanca en tiempos de san Juan de la Cruz , Madrid: Trotta 2006, pp. 109-136, hier pp. 112, 128-132). 12 Luis Enrique Rodríguez-San Pedro Bezares, „La formación universitaria de San Juan de la Cruz“, in: Actas del Congreso Internacional Sanjuanista, vol. II, Valladolid: Sever-Cuesta, 1993 pp. 231-249. <?page no="215"?> 216 Ulrich Dobhan Salamanca Bestrebungen, die sog. Statuten für die Reinheit des Blutes zu approbieren, und zwar gerade in der Theologie, wo Juan eingeschrieben war, was für ihn vielleicht hätte unangenehm werden können. Der Antrag wurde sogar approbiert, doch dann nicht wirklich durchgeführt. 13 „Diese Atmosphäre des Machtkampfes, der Jagd nach Ansehen und Anerkennung erstickt die Seele Juans.“ 14 Wie dem auch sei, Teresa berichtet, dass sie - auf der Suche nach Brüdern für ihre „Neuanfänge“ 15 - auf Johannes vom Kreuz aufmerksam gemacht wurde und ihn für ihr neues Werk gewinnt. 16 Juan hatte es so eilig, dass er statt des dreijährigen Studiums der Theologie Salamanca nach nur einem Jahr Ade sagte 17 und bei Teresa begann. Gemeinsam mit Teresa Am 9. August 1568 bricht Teresa mit einer Gruppe Schwestern von Medina del Campo zur Gründung eines Klosters nach Valladolid auf, begleitet von Juan de Santo Matía. Er bleibt bis Ende September bei ihr und wird von ihr in ihr neues Ordensideal eingeführt. Sie berichtet: „Ich reiste mit Fray Juan de la Cruz zur Gründung nach Valladolid. Und als wir einige Tage Handwerker dort hatten, um das Haus herzurichten, noch ohne Klausur, bot sich die Gelegenheit, Fray Juan de la Cruz über unsere gesamte Lebensweise zu informieren, damit er alle Dinge gut verstanden hätte, sowohl bezüglich des Ego-Sterbens, als auch des schwesterlichen Umgangs und der Erholung, die wir gemeinsam halten. Alles geschieht mit Maßen, da es nur dazu dient, um zu erkennen, woran es den Schwestern fehlt, und uns ein bisschen Erleichterung zu verschaffen, um die Strenge der Regel auszuhalten“ (F 13,5). Da schlägt ihm ein ganz anderer Geist entgegen, nichts von „Buße von Tieren“ 18 oder Gerangel um Ämter und Würden, sondern evangeliumsgemäßer Humanismus, Achtung voreinander und Selbstzurücknahme. Auch ganz anders als das, was damals in den kastilischen Ordensreformen üblich war. 19 Am 28. November 1568 startet er mit zwei anderen Mitbrüdern in einem gottverlassenen Nest namens Duruelo dieses Leben 13 Ibid., p. 239. 14 Emilio J. Martínez González, Tras las huellas de Juan de la Cruz , Madrid: EDE 2006, p. 77. 15 So - principios - nennt Teresa ihr Werk, nie Reform. Cf. F 9,1; 14,11; 16,1; 20,15; 23,3; 27,11; 28,3; 31,29; Ct 269,7. Siehe ferner Anm. zu F 14 tít. Teresas Schriften werden zitiert nach Teresa von Ávila, Werke und Briefe , 2 vols., Freiburg: Herder 2015, mit den dort angegebenen internationalen Siglen. 16 F 3,16f. 17 Siehe dazu einige Texte aus seinem Aufstieg auf den Berg Karmel : 1S 7,1; 11,4; 2S 7,12, in denen sich diese negativen Erfahrungen in Salamanca spiegeln. 18 1N 6,2. 19 Cf. die Einführung in Das Buch der Gründungen , in: Teresa von Ávila, Werke und Briefe , vol. I, pp. 526-534. <?page no="216"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 217 nach den Vorstellungen Teresas. Er wird Ausbilder der jungen Männer, die sich ihnen anschließen, zunächst in Duruelo, dann in Mancera de Abajo, wohin der Konvent 1570 verlegt wird; ab April 1571 ist er Rektor des ersten Studienkollegs des neu entstehenden Ordens in Alcalá de Henares und zieht auf Bitten Teresas im Frühjahr 1572 ins Kloster der Menschwerdung, zu dessen Priorin sie im Oktober 1571 gegen den Willen der Schwestern ernannt worden war. Bald schon sind die Bemühungen der beiden Heiligen zu sehen. Von 1572 bis 1574, als die dreijährige Amtszeit Teresas als Priorin des Menschwerdungsklosters zu Ende ging, lebte sie mit Juan im gleichen Haus; es war eine für beide sehr fruchtbare Zeit. 20 Erwähnenswert ist, dass Juan hier seine berühmte Skizze des Gekreuzigten gezeichnet hat. 21 Hintergrund für die Gefangennahme Juans Der Hauptgrund ist der Jurisdiktionskonflikt, der sich in Folge des Konzils von Trient (1545 bis 1563) und der Anwendung seiner Bestimmungen für die Reform des Ordenslebens in Spanien ergeben hatte. Für den Orden vom Karmel kam als gravierend hinzu, dass er jahrhundertelang vom Rest des Ordens isoliert war und in dieser Situation die ersten Kommunitäten von Karmelitinnen gegründet worden waren. 22 Der mit den Reformbestimmungen des Konzils von Trient unzufriedene König handelte am Rand des Konzils Sondervollmachten für sich aus. Entgegen den Bestimmungen des Konzils setzte der König alles daran um zu verhindern, dass nicht-spanische Ordensgeneräle ihre Klöster in Spanien visitierten. Die Kurie befürchtete, dass der König unter dem Vorwand von Reform seine Kontrolle über den Klerus ausdehnen und die Vollmacht der Oberen einschränken wolle, der König, der die Maßnahmen des Konzils für unzureichend hielt, bat den Papst inständig, sein eigenes Reformprogramm durchführen zu können, das schon eine viel längere Geschichte hatte. Spanien war mit dem Bemühen um Kirchenreform schon viel weiter als die anderen Länder. 23 So blieb es nicht aus, dass der Ordensgeneral Giovanni Battista Rossi bei seiner Visitation 20 Zu diesen Ereignissen im Leben Juans cf. Rodríguez, San Juan de la Cruz , pp. 179-291. 21 Ibid., pp. 254-256. 22 Teresa bemerkt zu Recht: „Immer residieren unsere Generaloberen in Rom, und noch nie war einer nach Spanien gekommen, und so erschien es ein Ding der Unmöglichkeit, dass er jetzt käme“ (F 2,1). Erst 1451 sind vom Ordensgeneral Johannes Soreth Frauengemeinschaften als Moniales in den Orden aufgenommen worden. 23 Silvano Giordano, „La historia en que se forja y nace Castillo Interior. Teresa de Jesús en el movimiento de la vida religiosa de su tiempo“, in: Las Moradas del Castillo Interior de Santa Teresa de Jesús. Actas del IV Congreso Internacional Teresiano en preparación del V Centenario de su nacimiento (1515-2015) , edd. Francisco Javier Sancho Fermín / Rómulo Cuartas Londoño, Burgos: Monte Carmelo 2014, pp. 69-81, hier pp. 76-81. <?page no="217"?> 218 Ulrich Dobhan in Spanien 1566-1567 auf große Schwierigkeiten stieß. 24 Die Situation verschlimmerte sich noch durch das Verhalten von bestimmten Brüdern, die nach der „Reform des Königs“ 25 riefen, um sich der des Generals zu entziehen. Im Karmel in Spanien gab es somit praktisch zwei Jurisdiktionen, was mit schuld ist an den bekannten Spannungen zwischen Beschuhten und Unbeschuhten Karmeliten: Erstere stützen sich auf die Autorität des Generals, letztere auf die der spanischen Visitatoren, die von Philipp II. unterstützt wurden. Letztendlich musste das zur Spaltung des Ordens führen. Hören wir Otger Steggink: „Die komplizierte Geschichte der Reform des Karmel in Spanien muss von dieser Spannung von zwei Observanzen her gesehen werden: die des Ordens [vertreten durch den Ordensgeneral] … und die der spanischen Unbeschuhtenbewegung [ descalcez ]. … Wenn wir diese mit der römisch-tridentinischen vergleichen, können wir sie die ‚ursprüngliche‘ [ primitiva ] nennen, insofern als sie die Restauration des eremitisch-kontemplativen Ideals bezeichnet; wir können sie die extremistische und national-spanische nennen, insofern als sie über die Reform der Regularen des Konzils von Trient hinausgeht und eine Bewegung darstellt, die sich an der spanischen Reformbewegung der Franziskaner inspiriert, der sog. Descalcez “. 26 In dieser Situation spielt sich das Werk Teresas ab, die allerdings, was das geistliche Profil ihres Neuanfangs ausmachte, eigene Wege ging, die von Juan voll mitgegangen wurden. Allein das war schon ein Grund für die Opposition, auf die Teresas Werk im Stammorden gestoßen ist. Dazu kamen noch andere. Am 18. Juni 1577 war der Nuntius Nicolás Ormaneto gestorben, der die Reformbemühungen Philipps II. unterstützt hat und somit auch Teresa wohlgesonnen war. An seiner Stelle kam Filippo (Felipe) Sega. 27 Er war entschlossen, die römischen Bestimmungen zur Durchführung zu bringen und sich vor der Krone nicht zu beugen. Für das von den Ordensoberen in Rom vorgesehene Reform- 24 Im Verlauf dieser Visitation kam er im Frühjahr 1567 auch nach Ávila, wo er mit Teresa zusammentraf. (F 2,2-4). 25 Unter „reforma del rey“ versteht man die bereits vor den Katholischen Königen Isabella von Kastilien und Ferdinand V. von Aragonien bestehende Reform der Kirche, die durch sie seit deren Thronbesteigung 1474 und ihre Nachfolger Karl V., mit dem Namen Carlos I. König von Spanien, fortgeführt, und von dessen Sohn Philipp II. intensiviert wurde. 26 Otger Steggink, La Reforma del Carmelo español. La visita canónica el general Rubeo y su encuentro con Santa Teresa (1566-1567) , Ávila: Institución Gran Duque de Alba 2 1993, p. 312sq. (Übersetzung vom Vf.). 27 Siehe Teresas Kommentar über ihn in F 28,3. Filippo (Felipe) Sega war ein Cousin von Filippo Buoncompagni, der seit 5. Februar 1573 Protektor des Ordens war; als Neffe von Papst Gregor XIII. (Ugo Buoncompagni) war auch dieser mit dem Papst verwandt. Dieser Nuntius war es, der Teresa „fémina inquieta, andariega, disobediente y contumaz - unruhiges, herumvagabundierendes, ungehorsames und verstocktes Weibsbild“ nannte. Cf. Anm. zu Ct 269,3. <?page no="218"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 219 programm, das von der Päpstlichen Kurie unterstützt wurde, waren die reformwilligen Beschuhten Karmeliten die Kerngruppe, mit deren Hilfe alle allmählich wieder unter den Gehorsam des Ordensgenerals gestellt werden sollten; die Unbeschuhten dagegen hatten eine ähnliche Funktion für die Reformpolitik des Königs. 28 Zugespitzt hat sich alles durch die sog. „elección machucada“ 29 am 7. Oktober 1577 im Menschwerdungskloster, die unter dem Vorsitz des Provinzials von Kastilien, Juan Gutiérrez de la Magdalena, stattfand; sie kann als der unmittelbare Auslöser für die Gefangennahme Juans gesehen werden. Trotz des Verbotes durch den Ordensgeneral und seinen Visitator Jerónimo Tostado wurde Teresa mit großer Mehrheit zur Priorin gewählt; 30 die Schwestern, die sie gewählt hatten, wurden exkommuniziert und mit einem Kommunikationsverbot belegt. Hinter dem Verhalten der Schwestern vermuteten Jerónimo Tostado und Hernando Maldonado, Prior des Klosters in Toledo, die Mithilfe Juans. Am 2. Dezember war der Prior nach Ávila gekommen, um die Schwestern im Auftrag des Provinzials von den Zensuren zu absolvieren. Da sie um den Einfluss wussten, den Juan bei den Schwestern und Brüdern, gerade den jüngsten unter ihnen, hatte, deren Rektor er in Alcalá war, lag ihnen daran, ihn auszuschalten; sie entführten ihn in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1577 aus seiner Klause im Menschwerdungskloster und brachten ihn nach Toledo. Im Klosterkerker erhielt er die damals für rebellische und hartnäckige Ordensbrüder vorgesehenen Strafen, 31 denn seine Ankläger und Richter hielten ihn für einen solchen, allerdings zu Unrecht, was Juan wusste. Jene beriefen sich auf die Anordnungen des Ordensgenerals und seines Visitators, dieser auf die Anweisungen des Päpstlichen Nuntius Ormaneto, der über den Ordensoberen stand. 32 Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Da Teresas Werk den politischen Interessen Philipps II. entsprach, gelang es den Unbeschuhten mit seiner Hilfe, 1581 als eigene Provinz anerkannt zu werden. 28 Giordano, „La historia en que se forja y nace Castillo Interior“, p. 81. 29 Die „zerknüllte“ Wahl. Teresa erklärt sie: „Und bei jedem Stimmzettel, den sie beim Provinzial abgaben, sprach er Exkommunikationen und Verfluchungen aus und zerknüllte die Zettel, schlug mit der Faust auf sie ein und verbrannte sie.“ (Ct 211,3) 30 Teresa hatte den Auftrag, sich in ein Kloster ihrer Wahl zurückzuziehen, was sie auch getan hatte, weil man dadurch ihren Einfluss einzudämmen hoffte. Das kam für sie einem Hausarrest gleich. 31 Teófanes Egido, „Las cárceles en la España de san Juan de la Cruz“ , in: Dios habla en la noche. Vida, palabra, ambiente de San Juan de la Cruz, ed. Federico Ruiz, Madrid: EDE 1990, p. 186sq. 32 Otger Steggink, „Fray Juan de la Cruz en prisiones: bodas místicas en la cárcel“ , in: Juan de la Cruz, Espíritu de Llama , pp. 293-318, hier pp. 295-297. <?page no="219"?> 220 Ulrich Dobhan Juan im Gefängnis Teresa berichtet in einem Brief an Jerónimo Gracián, wie das Gefängnis Juans aussah: „Die ganzen neun Monate lang steckte er in einem Kerkerloch, in das er nicht einmal ganz hineinpasste, wo er ohnehin so klein ist, und in der ganzen Zeit wechselte er sein Untergewand nicht, obgleich er dem Tod nahe war - erst drei Tage, bevor er entkam, gab ihm der Subprior eines seiner Hemden -, dazu einige sehr scharfe Disziplinen, und ohne jemanden zu Gesicht zu bekommen.“ 33 Andere sind detaillierter. 34 Über seine inneren Qualen und Leiden gibt er selbst Auskunft, wenn er in der „Dunklen Nacht“ schreibt: „Die dritte Art von Leid und Schmerz, die den Menschen hier quälen, wird durch die anderen beiden Extreme verursacht; gemeint sind das Göttliche und das Menschliche, die sich hier einen. Das Göttliche ist diese läuternde Kontemplation, und das Menschliche ist das Subjekt, der Mensch. Das Göttliche stößt in ihn hinein, um ihn zu kochen und zu erneuern und zu vergöttlichen, indem es ihn von allen angewöhnten Neigungen und Eigenschaften des alten Menschen, mit denen er noch sehr vereint, verquickt und verbunden war, entblößt. So sehr zerstückelt und zerschneidet das Göttliche den Wesenskern des Geistes dadurch, dass es ihn in eine tiefe und unauslotbare Finsternis hineinzieht, dass der Mensch sich im Angesicht und Anblick seiner Armseligkeiten in einem grausamen geistlichen Tod aufgelöst und zerschmolzen fühlt. Er fühlt sich, wie wenn ein wildes Tier ihn verschluckt hätte und er in dessen dunklen Bauch verdaut würde, und erleidet dabei dieselbe Angst wie Jona im Bauch des Meerungeheuers ( Jona 2, 1). In diesem Grab des dunklen Todes muss er verbleiben für seine geistliche Auferstehung, die er erwartet.“ 35 Zugleich sagt Juan aber auch über seine Kerkerzeit: „Meine Tochter, eine einzige Gnade, die mir Gott dort erwies, kann auch mit vielen Jahren Kerker nicht aufgewogen werden. Mögen sie mich jetzt doch dort einsperren, wo ich nur noch mit Gott allein zu tun habe! “ 36 Es ist gleichsam die Geburt des neuen Menschen durch diese Erfahrung, ganz auf das Wesentliche reduziert zu sein. Die Worte eines der bekanntesten Interpreten Juans, Jean Baruzi, erklären m. E. sehr gut, was da vor sich ging: „Wir dringen hier bis ins innerste Wesen hinein vor. Schmerzliche Begnadungen, die große Schmerzen mit sich bringen, dann Entzug jeglicher Gunst, totaler Schmerz, und im Letzten: Nacht. Wir sehen hier das Symbol, das ein ganzes Gedankengebäude beherrscht, in seiner moralischen Bedeutung und in seiner greifbaren Gestalt. Wir steigen mit Johannes vom Kreuz in den Abgrund innerster Seelenqual. Es ist hier nicht nur 33 Ct 260,1. 34 Cf. die Darstellung bei Rodríguez, San Juan de la Cruz, pp. 305-307. 35 2N 6, 2sq. und weitere Texte. 36 Biblioteca Mística Carmelitana , ed. Silverio de Santa Teresa, vol. XIII, Burgos: El Monte Carmelo 1931, p. 401. <?page no="220"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 221 eine geistliche Nacht, die da aufgebaut wird, sondern darüber hinaus bricht eine lyrische Dimension auf.“ 37 Die dunkelste Nacht lässt Juan zum Dichter göttlicher und menschlicher Liebe werden. In diesem seelischen Kontext ist der Cántico zu verstehen, aus dem die eingangs zitierte Strophe stammt. Wie sein Vorbild, das biblische Hohelied , ist der Cántico auf der wörtlichen Ebene ( sensus litteralis ) ein erotisches Gedicht. Bernhard Teuber hat in seiner wegweisenden literarischen Studie Sacrificium Litterae auf feinsinnige Weise herausgestellt, wie die allegorische, geistliche Deutung ( sensus allegoricus ) als Niederschlag mystischer Gotteserfahrung nicht nachträglich, sozusagen gewaltsam in das erotische Gedicht hineininterpretiert worden, sondern von diesem grundsätzlich intendiert ist, so dass die Worte beständig über sich hinausweisen auf eine Erfahrung, die unausgesprochen bleibt und letztlich auch unaussprechlich ist. So gilt mutatis mutandis auch für den Cántico espiritual , was Teuber hinsichtlich des kurz nach der Flucht aus dem Kerker entstandenen Gedichtes der Noche oscura schreibt: „Das eigentlich Gemeinte, die Liebeseinung der Seele mit Gott, ist unaussprechlich und wird nirgendwo im Gedicht ausgesagt. Das Gesagte unterhält zum Gemeinten immer nur eine Beziehung der unähnlichen Ähnlichkeit oder gar der je größeren Unähnlichkeit. […] Die erotische Transgression ist die unähnliche Figur des göttlichen Exzesses.“ 38 Oder mit den Worten der puerto-ricanischen Hispanistin und Arabistin Luce López- Baralt: „Wenn uns die Worte fehlen, um das Unaussprechliche zum Ausdruck zu bringen, dann ist es völlig legitim, unsere Zuflucht zur universellen Sprache profaner Liebe zu nehmen, die alle Leser verstehen.“ 39 37 Jean Baruzi, Saint Jean de la Croix et le problème de l’experience mystique, ed. Émile Poulat, Paris, Salvator 2 1999, p. 232 (Übersetzung vom Vf.). 38 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 180. (Diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Peeters). Selbst Roger Garaudy bekennt: „Die wunderbare Konzeption der christlichen Liebe, nach der ich mich selbst nur durch den anderen und in ihm verwirklichen kann, ist für mich das höchste Bild, das der Mensch über sich selbst wie über den Sinn seines Lebens entwerfen kann. Das ist übrigens auch der Grund, warum bei den größten Mystikern, bei Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, die heute noch uns Marxisten die höchste Aussage menschlicher Liebe bedeuten, menschliche und göttliche Liebe die gleiche Sprache sprechen.“ (Roger Garaudy, „Wertung der Religion im Marxismus“ , in: Gespräche der Paulus-Gesellschaft. Christentum und Marxismus - heute, ed. Erich Kellner, Wien, Frankfurt, Zürich: Europa 1966, pp. 77-98, hier p. 81sq.) 39 Luce López-Baralt, Asedios a lo Indecible. San Juan de la Cruz canta al éxtasis transformante , Madrid: Trotta 1998, p. 228sq. (Übersetzung vom Vf.). <?page no="221"?> 222 Ulrich Dobhan II. Nach meiner Liebe suchend! Wir haben gesehen: Juan war von Teresas neuem Stil von Ordensleben begeistert und hat darin seine Erfüllung gefunden. Es beruhte - kurz gesagt - auf der Freundschaft mit Gott und den Menschen: suavidad an Stelle von rigor , Demut als Leben in der Wahrheit, Gleichheit aller und Absage an jede Art von honra , ein Gottes- und Menschenbild nach dem Evangelium. Das kommt aus der Erfahrung beider Heiligen eines sie immer liebenden Gottes, dessen Liebe man sich nicht verdienen kann, es auch nicht muss. 40 Davon war Juan überzeugt und fasziniert, und daran hielt er auch angesichts von Drohungen, Schmeicheleien und Versprechungen im Kerker fest. Seine Antwort auf solches Ansinnen lautete: „Wer den nackten Christus sucht, braucht keine Juwelen aus Gold.“ 41 Damit wird Juan tatsächlich zu einem „Rebell“, aber nicht nur gegen seine Vorgesetzten, die ihn nach ihrem Verständnis zu Recht als solchen bestrafen, sondern er ist Rebell in einem viel radikaleren Sinn, weil er gegen eine zu einem System gewordene Verfälschung der Botschaft Jesu, des Geliebten seiner Seele, rebelliert. 42 Die Suche der Seele nach dem Geliebten ist denn auch der Grundton des Cántico der mit den Worten beginnt: „Wo hast du dich verborgen, Geliebter? “ Sie macht sich auf die Suche, fragt die Hirten auf den Fluren, die ihre Worte natürlich nicht an den Geliebten weiterleiten können, doch sollen sie ihm ausrichten , „dass ich verschmachte, leide, sterbe“ . Trotzdem ist die Seele nicht schwach oder antriebslos, sie macht sich auf den Weg, wird aktiv: „Ich werde über Berge und Auen laufen“. Sie lässt sich nicht auf die Weidegründe der Hirten begrenzen, sondern geht über Höhen und Täler, durch die ganze weite Welt, ohne sich auf ausgetretene Pfade zu beschränken, und ist nirgends zuhause, ähnlich wie Jesus, der sagt: „Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt niederlegen kann.“ ( Mt 8, 20) So wird ihr die ganze Welt zu Eigen. Dabei lässt sich die Seele auch nicht von Verlockungen ablenken: „Ich werde keine Blumen pflücken“, die schön anzuschauen sind und mit ihren Farben und Düften betören, zum Verweilen einladen und uns verleiten, unsere Ideale aufzugeben und uns mit vorübergehend Schönem zufrieden geben. Ihr ergeht es nicht so wie dem jungen Mann im Evangelium, der wegen seines vergänglichen Reichtums Jesus nicht nachfolgte. ( Mk 10, 21) 40 Mit Recht bemerkt Otger Steggink (ein Mitglied des Stammordens O.Carm.): „Im Grunde ging es um einen Konflikt zwischen zwei Spiritualitäten“ (Steggink, Fray Juan de la Cruz en prisiones, p. 297). 41 Biblioteca Mística Carmelitana, p. 401. 42 Siehe zu diesen Überlegungen: Xabier Pikaza, Ejercicio de amor. Recorrido por el Cántico espiritual de san Juan de la Cruz, Madrid: San Pablo 2017. <?page no="222"?> Ein neuer Blick auf Johannes vom Kreuz 223 Und weiter bekennt sie: „Ich werde keine wilden Tiere fürchten“ , womit die Welt mit ihren „Angeboten“ gemeint ist und damit die Angst sie zu verlieren: Dazu kommentiert Juan: „Die erste Angst ist die, dass es ihr an der Gunst der Welt fehlen wird, da sie ihre Freunde, ihr Ansehen, ihre Bedeutung und ihren Besitz verlieren wird. Die zweite, was ein nicht weniger wildes Tier ist, wie sie es wohl wird ertragen können, keine Wonnen und kein Glück der Welt mehr zu haben und alle ihre Bequemlichkeiten zu entbehren. Die dritte ist noch größer, dass nämlich alle über sie herziehen und ihren Spott mit ihr treiben und es viel Gerede und Geschwätz gibt, und man sie für gering hält.“ 43 Die Kraft zum Widerstand verleiht der Seele die Liebe zum Geliebten, seinen „so ersehnten Augen“ (CB 12,1). Und noch eine letzte Absichtserklärung, diesmal positiv formuliert: „Ich werde Festungen und Grenzen überschreiten.“ Das erinnert an Mauern und Abschottung - bedenken wir: Juan sitzt in einem Kerkerloch -, also an Gewalt, Krieg und soziale Ausgrenzung, die Trennung schaffen und das Liebesglück der Menschen unmöglich machen. Während die Menschen um ihn herum auf militärische Macht bauen, auf Reinheitsstatuten setzen, 44 Länder erobern und zur Vermehrung ihres Reichtums und ihrer Macht ausbeuten, setzt Juan auf die Kraft der Liebe; sie verhilft ihm zur Flucht und lässt seine Seele schließlich in den Armen des Geliebten ihre Ruhe finden. III. Schlussgedanken Durch neue Studien in den letzten 30 bis 40 Jahren wurde Johannes vom Kreuz von der barocken hagiographischen Übermalung befreit, und es kam ein menschlicher, geradezu moderner Mensch zum Vorschein. Aufgrund seiner existentiellen und spirituellen Verankerung im Evangelium und seiner Konzentration auf Jesus von Nazareth vermochte er die Fehlentwicklungen in Kirche und Gesellschaft seiner Zeit zu durchschauen und dagegen zu lenken, auch wenn er von den Anhängern Teresas in ihrem neuen Orden mit Abstand am meisten hat erdulden müssen. Aber gerade dadurch, und auch durch sein Verhalten danach, das frei blieb von Verbitterung und Verurteilung, ist er sozusagen über sich selbst hinaus gewachsen und hat dadurch Teresas neuem Ordensideal Ansehen und Glaubwürdigkeit verschafft. Als gegen Ende seines Lebens auch in Teresas neuen Orden der antievangelische, rigoristische Geist einzog, scheute 43 CB 3,7. 44 1546 wurden sie schließlich auch im Primatialsitz Toledo eingeführt, nachdem sie in anderen Domkapiteln, Orden und Universitäten schon längst Geltung hatten. Cf. Albert A. Sicroff, Los estatutos de limpieza de sangre. Controversias entre los siglos XV y XVII , Madrid: Taurus 1985, pp. 126-128. <?page no="223"?> 224 Ulrich Dobhan er sich nicht, sich im Generalkapitel von 1591 zu erheben und für Teresas Erbe einzustehen, auch wenn ihm das wieder Verfolgung und Leid einbrachte. Doch da löste er ein, was er am 6. Juli 1591, sechs Monate vor seinem Tod am 14. Dezember in Úbeda, einer Karmelitin schrieb: „Wo es keine Liebe gibt, da bringen Sie Liebe hin und Sie werden Liebe ernten.“ 45 45 In: Johannes vom Kreuz. Gesammelte Werke , edd. Dobhan, Henze, Peeters, vol. II, Brief 26. <?page no="224"?> „Dios no se muda“ 225 „Dios no se muda“. Zur Übersetzung eines berühmten Textes, der Teresa von Ávila zugeschrieben wird Mariano Delgado Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. Teresa de Ávila, Poesías 1 Das jüngste Jubiläum der Teresa von Ávila (1515-1582) hat wieder einmal ihre universale Beliebtheit und bleibende Aktualität gezeigt. Dies verdankt sich der Tatsache, dass ihre Schriften „in einer neuen spirituellen Sprache voller origineller Alltagsmetaphern und zugleich mit der analytischen Schärfe eines gesunden - von der weiblichen Intuition geprägten - Menschenverstandes das Grundthema menschlicher Existenz behandeln und beleuchten: die göttliche Berufung des Menschen und den inneren Zusammenhang von Gottes- und Selbsterkenntnis.“ 2 1 Die Werke Teresas werden nach dieser Ausgabe zitiert: Teresa von Ávila, Werke und Briefe . Gesamtausgabe, 2 vols., edd. Ulrich Dobhan, Elisabeth Peeters, Freiburg: Herder 2015. - Für das spanische Original gilt Santa Teresa de Jesús, Obras completas , edd. Efrén de la Madre de Dios, Otger Steggink. Madrid: BAC 9 1997. - Die Werke werden in der üblichen Weise (mit dem ersten Buchstaben des spanischen Originals) abgekürzt: CE ( Camino de perfección : El Escorial / Weg der Vollkommenheit ); CV ( Camino de perfección : Valladolid / Weg der Vollkommenheit ); CC ( Cuentas de Conciencia / Geistliche Erfahrungsberichte ); Ct ( Cartas / Briefe ); F ( Libro de las Fundaciones / Buch der Klostergründungen ); M ( Moradas del Castillo interior / Wohnungen der Inneren Burg ); MC ( Meditaciones sobre los Cantares / Gedanken zum Hohenlied ); P ( Poesías / Gedichte ); V ( Libro de la vida / Buch meines Lebens ); Ve ( Vejamen / Neckerei ) - hier P 6. 2 Mariano Delgado, „‚Teresa bin ich getauft‘. Zum 500. Geburtstag der Mystikerin und Kirchenlehrerin Teresa von Ávila (1515-1582)“, in: Stimmen der Zeit 233/ 3 (2015), pp. 147-160, hier p. 147. <?page no="225"?> 226 Mariano Delgado Man kann von drei großen Phasen oder Etappen der teresianischen Forschung sprechen. Die erste reicht von der Erstpublikation ihrer Werke durch Luis de León OSA 1588 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1965) und ist von der ‚Entführung‘ Teresas durch die barocke Literatur und Spiritualität geprägt, was auch ihre kirchliche ‚Domestizierung‘ zur gehorsamen Nonne und das Verschweigen ihrer Sehnsucht bedeutet, in der Welt apostolisch zu wirken, als Frau „predigen und lehren“ (7M 4, 14: „mas que no habiendo de enseñar ni de predicar“) zu dürfen, „oder es nur zu wagen, ein paar Wahrheiten auszusprechen“ (CE 4, 1: „ni osemos hablar algunas verdades que lloramos en secreto“). Die zweite Phase wurde von der Konzilsrezeption und der Erhebung zur Kirchenlehrerin 1970 angestoßen und kulminiert in der Feier ihres 400. Todestags 1982 mit der Publikation der Akten eines Kongresses zu diesem Anlass, der den Durchbruch der ‚interdisziplinären‘ Teresa-Forschung darstellt. 3 In den Studien aus dieser Phase wird Teresa einerseits als eine in der Hl. Schrift und ihrem Zeitkontext verwurzelte Lehrmeisterin des inneren Betens hervorgehoben; andererseits gewinnt dabei die theologische Dimension ihres Werkes - nicht nur in der Spiritualität, sondern auch z. B. in der Moraltheologie und der Dogmatik - ein bisher ungeahntes Gewicht; und schließlich wird die theologische Teresa-Forschung von der allgemeinhistorischen, philologischen, philosophischen, psychologischen und Mystik vergleichenden Forschung bereichert. Die dritte Phase, die etwa 2007 ansetzt, ist geprägt von der Sogwirkung der Feier ihres 500. Geburtstags 2015. Sie setzt fort, vertieft und erweitert die interdisziplinäre Wende und die theologischen Akzente der zweiten Phase unter besonderer Berücksichtigung der ‚Erfahrungsdimension‘ wie der Kontextualität und Bedeutung Teresas als ‚Frau‘ in der Nachfolge Jesu in der Kirche und Gesellschaft ihrer Zeit sowie ihrer großen Aktualität jenseits der barocken Domestizierung. Es handelt sich in gewisser Hinsicht um eine Neuentdeckung Teresas als ‚Kirchenreformerin‘, nicht nur als Ordensgründerin, sondern als Pionierin des für alle Stände möglichen Weges der Vollkommenheit durch die von ihr gelebte Praxis des inneren Betens - womit sie zugleich den Unterschied zwischen Klerus und Laien relativiert und auf das Wesentliche eines Christenlebens, die lebendige, freundschaftliche Beziehung zu Jesus, aufmerksam macht. Besondere Verdienste hat sich das „Centro Internacional Teresiano-Sanjuanista“ (CITeS), auch „Universidad de la Mística“ genannt, erworben, das 1986 als gemeinsames Werk der Karmelfamilie geplant wurde und seit 2008 in Ávila ein neues Gebäude hat. Darin werden Master-Lehrgänge und andere Kurse mit Schwerpunkt in der karmelitanischen Mystik für ein oft internationales Publikum mit viel Erfolg 3 Cf. Actas del Congreso Internacional Teresiano : Salamanca, 4-7 octubre 1982, ed. Teófanes Egidio et al., 2 vols., Salamanca: Universidad de Salamanca 1983. <?page no="226"?> „Dios no se muda“ 227 angeboten. Die dort zwischen 2010-2015 im Vorfeld des Jubiläums organisierten Kongresse sind Ausdruck der bleibenden Internationalität und Interdisziplinarität heutiger Teresa-Forschung. 4 Und in bibliographischen Berichten wurden die Publikationen aufgelistet sowie die wichtigsten darunter kurz gewürdigt. Besonders interessant ist der Bericht über die Monographien (Doktorarbeiten und Habilitationen) zum Werk Teresas zwischen 2007-2015. 5 Im deutschsprachigen Raum wäre allen voran die neue Gesamtausgabe ihrer Werke und Briefe hervorzuheben, die Ulrich Dobhan OCD und Elisabeth Peeters OCD nach jahrelanger Arbeit im Verlag Herder herausgegeben haben. 6 Sie haben dabei manche Druckfehler und holprige Übertragungen der Gesammelten Werke in einzelnen Bänden, die sie zwischen 2001-2013 besorgt hatten, ausgemerzt und im Jubiläumsjahr Teresa ein bleibendes geistiges Denkmal gesetzt. Wie ich in meinem Geleitwort geschrieben habe, setzt diese Ausgabe „mit ihrer begrifflichen Treue zum spanischen Original, ihren nützlichen Einführungen und Anmerkungen“ neue Maßstäbe. 7 Sie stellt eine erhebliche Bereicherung der allgemeinen Teresa-Forschung dar, enthalten doch die Einführungen und Anmerkungen manche Hinweise und Perspektiven, die in spanischen Ausgaben fehlen. Freilich sind auch - vermutlich aufgrund der Zeitnot, die Ausgabe im Jubiläumsjahr zu publizieren - Wermutstropfen zu beklagen: denn die Texttreue geht manchmal zu Lasten der Lesbarkeit, und man vermisst ein Bibelstellenregister, das den wissenschaftlichen Nutzwert der Ausgabe gesteigert hätte. Ich selbst habe, wie ich meine, im Schatten des jüngsten Jubiläums einige Anstöße gegeben: Zum einen habe ich zur Entdeckung einiger Anspielungen im Werk Teresas und ihrer Rezeption beigetragen, die bisher m. E. unbemerkt blieben, obwohl sie sich mit den Mitteln heutiger Textanalyse aufdrängen würden. Eine davon ist die Anspielung auf den berühmten Malleus Maleficarum (Hexenhammer) des Dominikaners Heinrich Kramer (Institoris), erstmals 1486 in Speyer gedruckt. Teresa konnte dieses Buch vermutlich nicht lesen, da es auf 4 Congreso Internacional Teresiano , edd. Francisco Javier Sancho Fermín, Rómulo H. Cuartas Londoño, Ávila, Universidad de la Mística-CITeS, 5 vols., Burgos: Monte Carmelo 2010-2015. 5 Cf. Ciro García, „Bollettino bibliografico teresiano: Studi storici“, in: Teresianum 65 (2014), pp. 333-345; id., „Boletín Bibliográfico Teresiano: Estudios históricos“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 147-171; id., „Bollettino bibliografico teresiano: Studi biografici“, in: Rivista di Vita Spirituale 69 (2015), pp. 269-302; id., „Boletín bibliográfico teresiano: Estudios biográficos“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 493-519; id., „Bollettino bibliografico teresiano“, in: Teresianum 66 (2015), pp. 479-518; id., „Boletín bibliográfico teresiano: Estudios doctrinales“, in: Monte Carmelo 123 (2015), pp. 593-622; Luis Aróstegui, „Nota bibliográfica Teresiana“, in: Monte Carmelo 124 (2016), pp. 473-485. 6 Cf. die in der Anm. 1 zitierte deutsche Ausgabe. 7 Ibid., „Geleitwort“, p. 5. Vgl. dazu auch die ausführliche Rezension von Michael Sievernich in Stimmen der Zeit 234 (6/ 2016), pp. 413-415. <?page no="227"?> 228 Mariano Delgado Lateinisch war. Aber sie kannte sicherlich, was darin über die Frau im Allgemeinen geschrieben wurde: dass sie ‚von Natur aus‘ einen geringeren Glauben als der Mann hat, „was alles auch die Etymologie des Namens demonstriert: es heißt nämlich femina [Frau] von fe [= Glaube] und minus , weil sie immer geringeren Glauben hat und wahrt, und zwar von Natur aus bezüglich des [der geringeren] Glaubens [stärke].“ 8 Während es darin heißt, dass die Frau von Natur aus „immer geringeren Glauben hat“ als der Mann, lässt Teresa mit diesem Stoßgebet aufhorchen: „Du, Herr meiner Seele, dir hat vor den Frauen nicht gegraut, […] du hast sie immer mit großem Mitgefühl bevorzugt und hast bei ihnen genauso viel Liebe und mehr Glauben gefunden als bei den Männern“ (CE 4, 1: „ni aborrecistes, Señor de mi alma, cuando andávades por el mundo, las mujeres, antes las favorecistes siempre con mucha piedad y hallastes en ellas tanto amor y más fe que en los hombres“). Dass die Inquisition diese Stelle zensierte, spricht für das Verständnis der Worte Teresas als unerhörte Kritik am herrschenden Frauen- und Männerbild. Hätte sie geschrieben, dass der Herr bei den Frauen ‚mehr Liebe und genauso viel Glauben‘ als bei den Männern gefunden hat, wäre sie vermutlich weniger anstößig gewesen als mit der offenkundigen Umkehrung der Behauptung im Hexenhammer . Wir müssen davon ausgehen, dass Teresa sehr belesen war und, jedenfalls bis 1559, mehr Bücher gelesen hat, als sie gelegentlich erwähnt. Eine zweite bisher unbemerkte Anspielung findet sich m. E. im Don Quijote . Im Herbst 1614 nahm Miguel de Cervantes an einem Poesie-Wettbewerb zur Ehre der Seligsprechung Teresas teil und hob treffsicher in der letzten Strophe seines Gedichtes „A los éxtasis de la beata Madre Teresa“ die ‚Demut‘ als spirituelle Grundtugend hervor. Im selben Jahr arbeitete er am zweiten Teil seines Don Quijote , der 1615 erscheinen sollte, und auch darin fand Teresa - hundert Jahre nach ihrer Geburt - in einer literarisch verfremdeten Form Eingang. Sancho Panzas Frau, die im ersten Teil ( Quijote I, 8) Juana oder Mari Gutiérrez bzw. Panza hieß, sagt nun selbstbewusst: „‚Teresa‘ me pusieron en el bautismo, nombre mondo y escueto, sin añadiduras ni cortapisas, ni arrequives de dones ni donas“. 9 Und dieser Teresa, die auf die Luftschlösser ihres Mannes immer mit bäuerlicher Schläue antwortet, legt Cervantes einen wahrhaft ‚teresianisch‘ klingenden Spruch über die Männer in den Mund: „que con esta carga nacemos las mujeres, de estar obedientes a sus maridos, aunque sean unos porros.“ 10 . 8 Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus maleficarum , ed. Günter Jerouschek, Wolfgang Behringer, München: dtv 6 2007, p. 231 (1, 6). 9 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha . ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica, Instituto Cervantes 1998, pp. 667 (II, 5). 10 Ibid., p. 671. <?page no="228"?> „Dios no se muda“ 229 Zum anderen meine ich, mit einer neuen Übersetzung des berühmten Gedichtes ( letrilla ) „Nada te turbe“ zu einem besseren Verständnis desselben beigetragen zu haben, wie ich nun näher zeigen möchte. Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, ob dieser Text so von Teresa selbst geschrieben wurde oder ob sie damit vielmehr den tröstlichen Rat eines spirituellen Begleiters ( Juan de la Cruz? Jerónimo Gracián? ) festgehalten hat. Der Zettel, der nach dem Tod Teresas in ihrem Brevier gefunden wurde, ist nicht im Original erhalten. Tomás Álvarez plädiert für die Autorschaft Teresas mit diesen Worten: „Teresa es capaz de ese extraño desdoblamiento de personalidad que le permite hablar con el tú de si misma. Exactamente con su tú interior … como un murmullo de intimidad.“ 11 Aber genauso könnte man sagen, die paränetische Struktur des Textes lege den Schluss nahe, dass Teresa im geistlichen Gespräch mit einem der zwei genannten spirituellen Begleiter ihre Sorge ausgedrückt habe, dass Gott, dessen liebevolles Wirken sie in ihrem Innersten (5M 1, 6: „en los tuétanos“) gespürt hatte, sie verlassen könnte. 12 Auf alle Fälle drückt der Text die Quintessenz ihrer mystischen Erfahrung aus. In den spanischen Ausgaben taucht er erst 1844 auf. 13 In einem Büchlein hat sich Reinhard Körner mit den vielen Variationen deutschsprachiger Übersetzungen seit der ersten von Ludwig Clarus 1851 auseinandergesetzt. 14 Körner 11 Tomás Álvarez, „Nada te turbe. Lectura espiritual del poema“, in: Revista Teresa de Jesús 109 (2001), pp. 40-42, hier p. 40sq., zit. nach Reinhard Körner, „Gott allein“ genügt nicht - Gott nur ist genug. Das NADA TE TURBE der Teresa von Ávila , Münsterschwarzach: Vier Türme 2015, p. 89. 12 Cf. eine kleine Übersicht über die verschiedenen Meinungen in: Körner, „Gott allein“ genügt nicht , pp. 41-44. Hier wird allerdings nur eine Autorschaft des Juan de la Cruz in Erwägung gezogen, während von Jerónimo Gracián, der Teresa beim Schreiben der Moradas intensiv begleitete, nicht die Rede ist. 13 Obras de Santa Teresa de Jesús , Barcelona: Imprenta de D. Juan Oliveres 1844, p. 388, hier zitiert nach Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 79. 14 Werke der heiligen Theresia von Jesus , zum ersten Male vollständig aus dem spanischen Originale übersetzt von Ludwig Clarus, 4 vols., Regensburg: G. J. Manz, 1850sqq., hier vol. II: Kleine Schriften der heiligen Theresia von Jesus , 1851, p. 298, hier zitiert nach Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 79. Körner und den von ihm zitierten Autoren ist leider entgangen, dass der Text, wenn auch ohne jeden expliziten Bezug zu Teresa, bereits in der Guía espiritual (Rom, 1675) des Miguel de Molinos vorkommt, und zwar in dieser Form am Ende von Buch III, Kap. 8: „nada te turbe, nada te espante, que todo se acaba; sólo Dios no se muda, y la paciencia todo lo alcanza; quien a Dios tiene, todo lo tiene; quien a Dios no tiene, todo le falta“. Miguel de Molinos, Guía espiritual , edición crítica, introducción y notas de José Ignacio Tellechea Idígoras, Madrid: Fundación Universitaria Española 1976, p. 316. Die erste deutsche Übersetzung steht folglich in der 1699 vom Pietisten Gottfried Arnold aus der lateinischen Übersetzung von August Hermann Francke (1687) besorgten deutschen Ausgabe: „Laß dich nichts verunruhigen noch erschrecken; sintemahl alles vergehet und ein Ende hat, Gott aber allein unwandelbar ist, und die Geduld alles überwindet. Wer Gott hat, der hat alles; und wer ihn nicht hat, dem <?page no="229"?> 230 Mariano Delgado lobt darin meine eigene Übersetzung und verweist auf das Bedauern Ulrich Dobhans, „dass sie noch nicht in die von ihm mit herausgegebene zweibändige Gesamtausgabe der Schriften Teresas übernommen werden konnte.“ 15 Körner selbst hat eine eigene Übersetzung beigesteuert: „nicht etwa, um eine ‚bessere Übersetzung‘ vorzulegen, sondern um auch die Leserinnen und Leser dieses Büchleins zu eigenen Formulierungen anzuregen.“ 16 Zu Recht macht Körner klar, dass es sich beim „Sólo Dios basta“ nicht um ein solipsistisches ‚Gott allein‘ handelt, sondern um die Zentrierung eines Christenlebens um das Gott nur , d. h. mit anderen Worten: um das erste Gebot des Dekalogs, das auch die Quelle der Nächstenliebe ist, oder neutestamentlich gesprochen um das ‚ Solus Christus ‘, ein Grundprinzip, das die Brücke zwischen Teresa bzw. den spanischen Mystikern (Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz) und den Reformatoren bildet. Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. 17 Nichts muss dich ängstigen, nichts dich verstören - all das vergeht, Gott wird dir nicht untreu, geduldiges Harren sucht alles in Ihm, wer zu Gott sich hinwendet, nichts bei dem fehlt, Gott seinetwegen lieben - erst das ist genug. 18 1718 Diese Übersetzung wird der mystischen Erfahrung Teresas besser gerecht als die bisherigen Übersetzungen. Weil ich weiterhin davon überzeugt bin, dass meine eigene Übersetzung bisher nicht beachtete Nuancen des spanischen Originals besser zur Geltung kommen lässt, möchte ich sie abschließend präsentieren und kurz erklären. mangelt alles“ (Michael de Molinos […] Geistlicher Wegweiser […], ed. Gottfried Arnold, Frankfurt: Joh. Christoph König 1712, p. 460). Nicht geklärt ist allerdings, woher Molinos diesen Text kannte, wenn es wirklich stimmen soll, dass er in den spanischen Ausgaben Teresas erst 1844 auftaucht. Ich habe neuerdings den Verdacht geäußert, dass der Text von Molinos sein könnte. Vgl. Mariano Delgado, „Miguel de Molinos oder die mystische Falle“, in Miguel de Molinos, Geistliches Weggeleit zur vollkommenen Kontemplation und zum inneren Frieden , ed. M. Delgado, aus dem Spanischen übersetzt von Michael Lauble, Freiburg i. Br.: Herder 2018, pp. 15-64, hier pp. 57-59. 15 Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 39. 16 Ibid., p. 68. 17 Teresa, P 6. 18 Körner, „Gott allein“ genügt nicht , p. 68, cf. pp. 69-76 zur Auslegung des „Sólo Dios basta“. <?page no="230"?> „Dios no se muda“ 231 Nada te turbe, nada te espante todo se pasa, Dios no se muda, la paciencia todo lo alcanza, quien a Dios tiene nada le falta, sólo Dios basta. Nichts soll DICH verwirren, nichts DICH erschrecken - alles geht vorüber, Gott zieht nicht aus , Geduld erlangt alles, wer Gott bei sich hat , dem fehlt nichts, nur Gott genügt . Die Pointe meiner Übersetzung ist in den Majuskeln beim DICH zu finden, die den paränetischen Charakter des Textes verstärken, vor allem aber in den kursiv markierten Versen, die den Kern der mystischen Erfahrung Teresas ausdrücken. „ Dios no se muda “ wurde zumeist mit „Gott ändert sich nicht“ übersetzt. Aber das Zeitwort mudarse , so in der reflexiven Form, bedeutet im Spanischen (auch im 16. Jh., wie das Wörterbuch des Sebastián de Covarrubias Tesoro de la lengua castellana o española , Madrid 1611, Wort „mudar(se)“ zeigt) „pasarse de una casa a otra“, d. h. umziehen oder ausziehen. 19 Das entspricht der Mystikerfahrung Teresas, die wesentlich von Joh 14, 23 geprägt ist. Auf die Frage „Meister - wo wohnst Du? “ ( Joh 1, 38) gibt der Herr nach den Evangelien eine vielfache Antwort in Joh 1, 38, in Mt 18, 20 und 25, 40, in Lk 22, 19, und in Joh 14, 23 heißt es: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ ( Joh 14, 23). In der augustinischen Tradition der Suche Gottes in uns, die im Spanien des 16. Jahrhunderts durch die Bewegung des recogimiento und den Trend zum inneren Beten einen in der Breite und Tiefe der Kirchengeschichte beispiellosen Aufschwung erlebte, wurde die letzte Antwort für Teresa prägend. Die Wohnung ( morada ), in der Gott bei uns weilt und auf unsere liebevolle Hinwendung durch die Pflege des inneren Betens wartet, wurde ihr zum Vorgeschmack auf die vielen Wohnungen ( moradas ), die der Herr im Hause seines Vaters für uns vorbereitet hat ( Joh 14, 2). Und im Verlauf ihrer mystischen Erfahrung wurde Teresa nach Phasen der Angst/ Sorge/ Trockenheit die tröstliche Gewissheit zuteil, dass all dies vorübergeht und Gott, der bei ihr Wohnung genommen hatte, bei ihr für immer bleibt und nicht ‚auszieht‘. Und in den genannten schwierigen Phasen brauchen wir auf dem geistlichen Weg nach Teresa vor allem Geduld bzw. Demut , denn beide Begriffe sind für sie so gut wie identisch und bezeichnen die spirituelle Grundtugend, die ‚alles‘ erreicht, d. h. die uns auf dem Weg der Christusförmigkeit voranbringt: „die De- 19 http: / / fondosdigitales.us.es/ fondos/ libros/ 765/ 1153/ tesoro-de-la-lengua-castellana-o-espanola/ (12.03.2018). <?page no="231"?> 232 Mariano Delgado mut wirkt nämlich immer wie die Biene, die im Stock den Honig bereitet (denn ohne das ist alles umsonst)“ (1M 2, 8: „que la humildad siempre labra como la abeja en la colmena la miel, que sin esto todo va perdido.“), die Demut ist „die Salbe für unsere Wunden“ (3M 2, 6: „humildad, que es el ungüento de nuestras heridas“), mangelnde Demut ist „der Haken bei denen, die nicht vorankommen“ (3M 2, 8: „aquí creo está el daño de los que no van adelante“) auf dem Weg der Christusförmigkeit. Als „Freund der Demut“ (M Nachwort 2: „muy amigo de la humildad“) lässt sich Gott durch Demut „alles abringen, was wir uns nur von ihm wünschen“ (4M 2, 9: „Por ésta se deja vencer el Señor a cuanto de él queremos“). Daher gibt es für uns „nichts Wichtigeres als die Demut“ (1M 2, 9: „no hay cosa que más nos importe que la humildad“), solange wir auf Erden weilen. Die Demut ist für Teresa das „Fundament“ der inneren Burg (7M 4, 8) und so auch des christlichen Lebens. Demut ist anerkennen, dass wir von Gott kommen und zur Gemeinschaft mit ihm berufen sind, weil nur er uns retten kann: Er ist die „Quelle, an der unser Seelenbaum gepflanzt ist“, die Sonne, die uns „Wärme spendet“ (1M 2, 5: „fuente adonde está plantado este árbol … sol que da calor“). Demut ist damit das Gegenteil von der Hybris der gefallenen Engel, das Gegenteil von der bleibenden Versuchung des Menschen, nicht in die Christusförmigkeit hineinwachsen, sondern wie Gott sein zu wollen. Damit hängt die zweite Übersetzungsschwierigkeit zusammen: „ quien a Dios tiene “ wurde zumeist mit „wer Gott hat“, „wer Gott besitzt“ oder „wer sich an Gott hält“ übersetzt. 20 Aber der Sprachduktus kommt vom tener a alguien en casa , d. h. eine wichtige Person bei sich als Gast zu haben, wie das auch dem Wort des Herrn in Joh 14, 23 entspricht. Daher meine Übersetzung: „wer Gott bei sich hat“, d. h. als dauerhaften Gast, der nicht auszieht, dem fehlt dann nichts, weil er die Zentrierung auf Gott, und somit die ‚göttliche Berufung‘ gefunden hat, oder mit den Worten des Evangeliums ausgedrückt: wenn jemand die „besonders wertvolle Perle“ ( Mt 13, 46) gefunden hat, der hat das „ nur Gott genügt “ („Solus Deus/ Solus Christus“) auch verstanden. Damit geht für Teresa einher einerseits die Wahrnehmung der ‚Vergänglichkeit‘ und ‚Nichtigkeit‘ dieser Welt, andererseits der Ernst der gelebten Nächstenliebe als untrügliches Zeichen der Liebe zu Gott ( Mt 25, 40) und so auch des Weges in die „Wohnungen ( moradas ), die der Herr im Hause seines Vaters für uns vorbereitet hat“ ( Joh 14, 2). In den dritten Wohnungen geht es um die Entscheidung für die „besonders wertvolle Perle“. Aber da hat sich noch nicht die Gelassenheit eingestellt, dass Gott bei uns bleibt und nicht auszieht. Daher schreibt Teresa, es gelte zu beten, „dass Seine Majestät immer in mir lebe, denn wenn das nicht so wäre, welche Sicherheit kann dann ein so schlecht vergeudetes Leben wie das meine haben? “ 20 Cf. die vielen Beispiele in: Körner, „Gott allein“ genügt nicht . <?page no="232"?> „Dios no se muda“ 233 (3M 1, 3: „que viva Su Majestad en mí siempre; porque si no es así, ¿qué seguridad puede tener una vida tan mal gastada como la mía? “). In den letzten Wohnungen stellt sich hingegen bei Teresa große Zuversicht ein, dass Gott „nicht auszieht“ bzw. „dass Gott sie nicht im Stich lassen wird“ (7M 1, 9: „y tiene gran confianza que no la dejará Dios“). Daher hat die letrilla „Nada te turbe“ hier ihren Sitz-im-Leben als Krönung und Quintessenz der mystischen Erfahrung Teresas. Um diesen Text zu verstehen, muss man mit Teresa durch die Moradas del castillo interior schreiten. 21 21 Cf. Mariano Delgado, Das zarte Pfeifen des Hirten. Der mystische Weg der Teresa von Ávila , Kevelaer: Topos 2017. <?page no="234"?> Auf der Schwelle 235 Auf der Schwelle: Simone Weils „Prologue“ Martina Bengert Commencement du livre (le livre qui contiendrait ces pensées et beaucoup d’autres). Il entra dans ma chambre et dit : « Misérable, qui ne comprends rien, qui ne sais rien. Viens avec moi et je t’enseignerai des choses dont tu ne te doutes pas. » Je le suivis. Il m’emmena dans une église. Elle était neuve et laide. Il me conduisit en face de l’autel et me dit : « Agenouille-toi. » Je lui dis : « Je n’ai pas été baptisé. » Il me dit : « Tombe à genoux devant ce lieu avec amour comme devant le lieu où existe la vérité. » J’obéis. Il me fit sortir et monter jusqu’à une mansarde d’où l’on voyait par la fenêtre ouverte toute la ville, quelques échafaudages de bois, le fleuve où on déchargeait des bateaux. Il n’y avait dans la mansarde qu’une table et deux chaises. Il me fit asseoir. Nous étions seuls. Il parla. Parfois quelqu’un entrait, se mêlait à la conversation, puis partait. Ce n’était plus l’hiver. Ce n’était pas encore le printemps. Les branches des arbres étaient nues, sans bourgeons, dans un air froid et plein de soleil. La lumière montait, resplendissait, diminuait, puis les étoiles et la lune entraient par la fenêtre. Puis de nouveau l’aurore montait. Parfois il se taisait, tirait d’un placard un pain, et nous le partagions. Ce pain avait vraiment le goût du pain. Je n’ai jamais plus retrouvé ce goût. Il me versait et se versait du vin qui avait le goût du soleil et de la terre où était bâtie cette cité. Parfois nous nous étendions sur le plancher de la mansarde, et la douceur du sommeil descendait sur moi. Puis je me réveillais et je buvais la lumière du soleil. Il m’avait promis un enseignement, mais il ne m’enseigna rien. Nous causions de toutes sortes de choses, à bâtons rompus, comme font de vieux amis. Un jour il me dit : « Maintenant va-t’en. » Je tombai à genoux, j’embrassai ses jambes, je le suppliai de ne pas me chasser. Mais il me jeta dans l’escalier. Je le descendis sans rien savoir, le cœur comme en morceaux. Je marchai dans les rues. Puis je m’aperçus que je ne savais pas du tout où se trouvait cette maison. Je n’ai jamais essayé de la retrouver. Je comprenais qu’il était venu me chercher par erreur. Ma place n’est pas dans cette mansarde. Elle est n’importe où, dans un cachot de prison, dans un de ces salons bourgeois pleins de bibelots et de peluche rouge, dans une salle d’attente de gare. N’importe où, mais non dans cette mansarde. <?page no="235"?> 236 Martina Bengert Je ne peux pas m’empêcher quelquefois, avec crainte et remords, de me répéter un peu de ce qu’il m’a dit. Comment savoir si je me rappelle exactement ? Il n’est pas là pour me le dire. Je sais bien qu’il ne m’aime pas. Comment pourrait-il m’aimer ? Et pourtant au fond de moi quelque chose, un point de moi-même, ne peut pas s’empêcher de penser en tremblant de peur que peut-être, malgré tout, il m’aime. (Suit une masse non ordonnée de fragments.) Simone Weil, „Prologue“ (1942/ 1950) 1 Simone Weils Cahiers - innerhalb derer der oben genannte Text veröffentlicht ist - bestehen aus 17 Heften sowie dem berühmten „Carnet de Londres“, das sie, wie der Titel es vermuten lässt, in London während der letzten Monate ihrer nur 34 Jahre umfassenden Lebenszeit bis zum Tod durch Tuberkulose und Nahrungsverweigerung am 24. August 1943 schreibt. 2 Alle Cahiers werden nach Weils Tod veröffentlicht und lassen eine komplexe Publikationsgeschichte erkennen, die zum einen durch zwei getrennte Nachlässe dieser Hefte bedingt ist und zum anderen mit Weils teilweise unklaren Nummerierungen sowie Mehrfachnutzung der einzelnen Hefte zusammenhängt. 3 Der nur eine Seite umfassende Text „Prologue“ erscheint insgesamt dreimal in Simone Weils Werk. Einen wahrscheinlich ersten Entwurf notiert sie auf zwei losen Blättern und integriert dann 1942 eine veränderte Abschrift des Textes am Ende des elften Notizheftes (K11). Sie schreibt sodann den Text mit kleinen Varianten ein weiteres Mal ab und setzt ihn an das Ende des zwölften Heftes (K12). In K12 wurden auch die losen Seiten des ersten Entwurfs gefunden. 4 1 In: Ead., Œuvres complètes , vol. VI/ 3: Cahiers , edd. Alyette Degrâces et al., Paris: Gallimard 2002, p. 369sq. 2 Heft 13 und 14 wurden in ein gemeinsames Heft geschrieben. Unter anderem aus diesem Grund variiert je nach Ausgabe die Zählung der Cahiers . Ich beziehe mich auf die französische Gesamtausgabe der Schriften Simone Weils, die von Florence de Lussy und André A. Devaux bei Gallimard herausgegeben wurde. Der sechste Teil dieser Ausgabe beinhaltet alle Cahiers , die in insgesamt vier Bänden dieses 6. Teils erschienen sind: Cf. Simone Weil, Œuvres complètes , vol. VI/ 1-4: Cahiers , edd. Marie-Annette Fourneyron et al., Paris: Gallimard 1994-2006 (im Folgenden mit OC VI abgekürzt). 3 Die Hefte K1-K11 wurden im April 1942 von Simone Weil vor ihrer Abreise nach Amerika in einer Aktentasche an den engen Freund und spirituellen Begleiter Gustave Thibon übergeben, der 1947 eine Auswahl von K2-K11 unter dem Titel La Pesanteur et la grâce veröffentlichte (insgesamt zehn Hefte - das erste Heft, 1933-1934 in den Vorkriegsjahren entstanden, ist aufgrund seiner Sonderrolle ausgenommen). Thibons themenhaft gruppierte Anordnung einer Selektion von Gedanken dieser Hefte und losen Papiere wurde teilweise stark kritisiert: Cf. z. B. Yoon Sook Cha, Decreation and the Ethical Bind. Simone Weil and the Claim of the Other , New York: Fordham University Press 2017, p. 154sq. (Fußnote 10). 4 Zu den Varianten des Textes siehe OC VI/ 3 p. 421 sowie pp. 445-447. <?page no="236"?> Auf der Schwelle 237 Bekannt ist er den meisten als „Prologue“ der Sammlung ihrer letzten Hefte, die 1950 unter dem Titel La Connaissance surnaturelle bei Gallimard herausgegeben wurden. Diese von Albert Camus in der Reihe „Espoir“ publizierte Sammlung der „Cahiers d’Amérique“ umfasst die letzten sieben in Marokko, New York und London geschriebenen Hefte. Während der „Prologue“ in der Edition dieser letzten Hefte Simone Weils tatsächlich die Rolle eines Prologs einnimmt, indem er vor und außerhalb der eigentlichen Fragmente steht, betont der Herausgeber gleichwohl in seinem Vorwort, dass es sich bei diesem Text eigentlich um lose Blätter handele: „Les deux pages du Prologue se trouvaient, détachées, au milieu d’un cahier, sans rapport direct avec les notes prises à cet endroit.“ 5 Die Voranstellung des Textes in La Connaissance surnaturelle ist daher eine (Fest-)Setzung, die so diesen Text von den an Thibon übergebenen Heften abtrennt und ihn, als „Prologue“ betitelt, in seiner nach vorne weisenden Deixis festschreibt. Aufgrund der drei verschiedenen Stellen seines Vorkommens in Weils Werk möchte ich jedoch gerade seine konstitutive Ortlosigkeit und seinen Status des Dazwischen betonen. Der „Prologue“ wird, und dies verstärkt die Problematik seiner Zuordenbarkeit bzw. seines Daseins als Schwellentext, von den Herausgebern der Œuvres complètes weder zu den Thibon übergebenen Schriftstücken, noch zu den New Yorker Heften (die den Hauptteil des Textkonvoluts von La Connaissance surnaturelle ausmachen) gezählt, da er sich, wie gesagt, am Ende des 12. Heftes befindet und die Herausgeber die Sonderstellung und Problematik dieses Heftes wie folgt erklären: „[C]e cahier ne contient aucune notation que l’on puisse rattacher au séjour new-yorkais. Certes, ce cahier ne fit pas partie des cahiers confiés à Gustave Thibon à la fin d’avril 1942; mais c’est précisément parce que Simone Weil, qui en avait entamé la rédaction, désirait continuer d’en faire usage, ce qu’elle fit, durant la première moitié du mois de mai, et même, une fois quittée la ville de Marseille, pendant la traversée de la Méditerranée et durant l’escale de Casablanca.“ 6 Erst die letzte Version trägt den Titel „Prologue“, während die Fassung von K11 statt dieses Titels mit den folgenden Worten ansetzt: „Commencement du livre (le livre qui contiendrait ces pensées et beaucoup d’autres)“. Zwei Dinge sind hier auf paratextueller Ebene bemerkenswert: Die konzeptionelle Verortung des Textes ist es zunächst, ein incipit für ein noch kommendes Buch zu werden - ein Buch, das Gedanken in der Art des „Prologue“ („ces pensées“), aber auch viele weitere enthalten solle. Die große Menge an zu versammelnden Gedanken dieses livre à venir kehrt sodann in der paratex- 5 Simone Weil, La Connaissance surnaturelle , Paris: Gallimard 1950, p. 10. Was Camus jedoch weglässt, sind die beiden paratextuellen Anmerkungen Simone Weils, auf deren Relevanz ich noch eingehen werde. 6 Florence de Lussy, „Présentation du dossier“, in: OC VI/ 4, p. 58. <?page no="237"?> 238 Martina Bengert tuellen, den Text abschließenden und in Klammern gesetzten Anmerkung als „masse“ wieder: „(Suit une masse non ordonnée de fragments.)“ 7 Die Angabe bezüglich dessen, was auf den „Prologue“ folgen soll, ist, so meine These, nicht einfach vage und ungenau, sondern Teil des Programms der Cahiers Simone Weils, deren vier Bände füllenden Fragmente unendliche Wortnetze entwerfen: Was an vielen Textstellen der Cahiers fehlt, ist die Explikation der Beziehung der genannten Begriffe und Bezugswelten untereinander. Grund dafür ist in meiner Lesart ein sich durch die Cahiers hindurchziehendes Verfahren der analogischen assoziativen Verkopplung von wissens-, religions-, und kulturgeschichtlich teilweise weit entfernt liegenden Denkfiguren, die in einem Akt der Diskurscollage, durch ihr diskursives Nebeneinander in Resonanz gebracht werden. Dabei entsteht über die omnipräsenten Analogien eine textuelle Topologie, deren Ausdruck nicht nur auf der Ebene des Semantischen, sondern auch in der Anordnung der Worte auf der Seite (übereinander, nebeneinander, durcheinander) zum Vorschein kommt. Der Prolog hingegen bzw. die Zeilen, die erst in der dritten Version den Titel „Prologue“ erhalten, sticht aus der eben skizzierten splitter- oder fragmentartigen Anordnung der Cahiers heraus, indem er, bedingt durch seine parabelartige Gestalt, einen in sich geschlossenen poetischen Ruhepol inmitten der Verstreuung bildet. Daher möchte ich in meinem Textkommentar u. a. danach fragen, wie sich die Ankündigung oder Anordnungsanweisung im letzten, in Klammern gesetzten, Satz - „(Suit une masse non ordonnée de fragments.)“ - nach dem „Prologue“ in Relation zum narrativen Charakter des „Prologue“ sowie der in ihm nachgezeichneten (möglicherweise mystischen) Erfahrung von Einheit und der darauf folgenden Geworfenheit zu verstehen ist. I. (Mystische) Erfahrung „No one will ever know what experience - dreamed, imagined, read, lived - Simone Weil went through in order to write the prose poem called ‚ Prologue ‘. […] How much came from the daily bread of dream, imagination, reading, and itself all combined? “ 8 Während die amerikanische Dichterin Fanny Howe diesen Text vor allem als literarischen Widerhall einer Erfahrung beschreibt, über deren Herkunft wir maximal Mutmaßungen anstellen können, und dabei den möglichen fiktiven, 7 Die Herausgeber merken an, dass die darauffolgenden Seiten 78-107 weiße Seiten sind. [Cf. OC VI/ 3, p. 370] Es ist davon auszugehen, dass Simone Weil diese Seiten noch füllen wollte. 8 Fanny Howe, The Wedding Dress. Meditations on Word and Life , Berkeley/ Oakland: University of California Press 2003, p. 143. <?page no="238"?> Auf der Schwelle 239 narrativen Anteil hervorhebt, gibt es zahlreiche Stimmen der Sekundärliteratur, die klar von der Darstellung einer „mystical initiation“ bzw. einer „mystical experience“ ausgehen. 9 Die Ich-Erzählinstanz in Fanny Howes Text nimmt Simone Weils Text und insbesondere den männlichen Protagonisten als Bezugspunkt für eine analoge Erfahrung des selbstzerstörerischen Zusammenseins mit einem Mann, der ebenso ungreifbar, unlesbar und unzuverlässig wie geheimnisvoll und verführerisch ist. Sie verschränkt den Mann dabei von Anfang an mit Überlegungen zu Sprache und Poesie, wenn es heißt: „For instance I knew a man who was a poem. He was, like the man in the ‚Prologue‘, a person who disappeared suddenly.“ 10 In der Tat ist es eine männliche Instanz, die eines Tages in das Zimmer der Ich-Erzählinstanz tritt, um diese zum Mitkommen aufzufordern. Das Versprechen ist dabei, dass der Ich-Erzähler Dinge erfahren bzw. lernen soll, die sich jedem Zweifel entziehen. Die Meister-Schüler-Relation ist dabei von Anfang an insofern deutlich markiert, als die von außen ohne Ankündigung eintretende männliche Figur die mit Raumwechseln verbundenen Bewegungen der anderen Figur steuert. Vom Zimmer wird der Ich-Erzähler in eine Kirche geführt, dann in eine Mansarde. Nach einer gemeinsamen Zeit dort wird er sehr abrupt hinausgeworfen und findet sich zunächst auf einer Treppe und im Anschluss auf der Straße wieder. Innerhalb der genannten Räume spielen, so möchte ich behaupten, topologische Relationen und Körperhaltungen eine zentrale Rolle, wie z. B. das Hinknien in der Kirche, der Aufstieg in die Mansarde und das sich dort ereignende Hinsetzen und das Sich-Hinlegen auf den Fußboden, ebenso wie ein zweiter Kniefall, der nunmehr ohne Anweisung, sondern als Reaktion auf die Worte des Meisters „Maintenant va-t’en.“ erfolgt. Sowohl die Raumwechsel vom profanen in den heiligen Raum der Kirche, wie dann in den intimen Raum der Erfahrung eröffnen im Zusammenspiel mit der Körperhaltung des demütigen Kniens Analogiemöglichkeiten zu Initiationsriten wie auch Darstellungen mystischer Erlebnisse. 9 Joan Dargan, Simone Weil. Thinking Poetically , New York: State University of New York Press 1999, pp. 54/ 56; sowie Marie Cabaud Meaney, Simone Weil’s Apologetic Use of Literature. Her Christological Interpretations of Ancient Greek Texts , New York: Oxford University Press 2017, p. 199. Anzufügen sei hier jedoch, dass Dargan über einen Vergleich mit Baudelaires Petits poèmes en prose durchaus auch literarische Aspekte des „Prologue“ hervorhebt. Auch Simone Pétrement stellt Weils Begegnung mit Gott als eine dar, in der er die Seele erfasst, unterrichtet und sich dann zurückzieht ( La vie de Simone Weil , Paris: Fayard 1997, p. 650). 10 Howe, The Wedding Dress , p. 143. <?page no="239"?> 240 Martina Bengert II. Ungetauft Beide, Ich-Erzähler wie die männliche Autorität, werden nicht mit Namen benannt, sondern im Unpersönlichen gelassen. 11 Während im Text an mehreren Stellen die Du-Adressierung der autoritären männlichen Instanz durch die Imperative, die sie an das Ich richtet, erkennbar wird - „Viens avec moi“, „Agenouille-toi“, „Maintenant va-t’en“ - erfährt man jedoch andersherum durch die narrative Vermittlung an keiner Stelle, wie der Ich-Erzähler seinen Meister anspricht. Anzumerken sei jedoch, dass der Ich-Erzähler an genau einer Stelle im französischen Original als männlich markiert ist, nämlich als er Zweifel hat, ob das erste Hinknien in der Kirche rechtmäßig sei angesichts dessen, dass er nicht getauft ist. Das entsprechende participe passé „baptisé“ trägt eine männliche Endung, die, neben der Semantik der Taufe, nicht überlesen werden sollte: Zum einen mit Blick auf Simone Weils lebenslange Ablehnung der Taufe, zum anderen bezüglich der Möglichkeit, dass hier aufgrund der männlichen Endung die Zuordnung der Erfahrung nicht vorschnell auf ein weibliches Ich 12 oder auch die aus der mystischen Tradition bekannte Relation von weiblich semantisierter Seele und männlich semantisiertem himmlischen Bräutigam zurückzuführen ist. 13 Aufgrund der mehrmaligen Überarbeitung und Abschrift des „Prologue“ und den vorher erwähnten paratextuellen Anweisungen, die diesen Text rahmen, aber auch unter Einbezug der Briefe, die Simone Weil kurz vor ihrer Abreise nach Amerika in Form spiritueller Bekenntnisse verfasst hat, darf davon ausgegangen werden, dass es sich hier um den neuralgischen Punkt ihres Denkens handelt: Die Frage, wie und ob man Gott angemessen, d. h. demütig, lieben kann und die vielleicht zunächst etwas seltsam anmutende Folgerung, dass gerade in der Ablehnung der Taufe eines der ehrlichsten Zeugnisse dieser Liebe und Demut für Simone Weil liegt. Diese Bewegung des Entzugs, des stetigen Auf-der-Schwelle-Bleibens ist für mich auf vielen Ebenen das, was Simone Weils Schreiben und mit diesem ihr Verhältnis zur Mystik ausmacht. Daher kann ich sie nicht einfach als Mystikerin 11 Auch Gabriël Maes betont in seiner Lektüre des Textes die Anonymität der Instanzen und die damit verbundene Ablehnung referentieller Lesarten. Cf. „Lectures de Prologue “, in: Cahiers Simone Weil 23/ 2 (2000), pp. 191-221. 12 Dargan betont zu Recht, dass hier vielmehr das Weibliche ausgeschlossen wird. Cf. Dargan, Simone Weil , p. 55. 13 Als Beispiel einer solchen, auf der Identifikation des „je“ nicht nur mit einer weiblichen Sprecherin, sondern mit Simone Weil beruhenden Deutung des Textes cf. Dominique- Marie Dauzet, „Simone Weil (1909-1943), passion anorectique, vision eucharistique“, in: Les enjeux philosophiques de la mystique. Actes du colloque du Collège international de philosophie 6-8 avril 2006 , ed. Dominique de Courcelles, Grenoble: Jérôme Millon 2007, pp. 121-138. <?page no="240"?> Auf der Schwelle 241 bezeichnen. Ebenso wenig ist es mir möglich, vom „Prologue“ als einer textuellen Wiedergabe einer mystischen Erfahrung zu sprechen. Er ist meines Erachtens vielmehr ein poetischer Text, der sich an der Grenze zur Mystik situiert und sich als fiktionaler Text unter anderem durch die Paratexte, die männliche Sprecherinstanz sowie die Anonymität des spirituellen Lehrers der eindeutigen Zuordnung zum mystischen Diskurs entzieht. III. Gemeinschaft und Entzug Textpragmatisch - und mit Blick auf den Nexus zur Mystik - sind jedoch vor allem zwei Strukturen sehr auffällig, die beide auf den Begriff der Erfahrung verweisen: Es ist dies zum einen die Beobachtung, dass der Text vor und nach der Mansardenepisode diese durch direkte Reden (wie schon erwähnt insbesondere durch Imperative) rahmt, während die gesamte Episode in der Mansarde nur indirekt, d. h. über indirekte Rede und Beschreibungen narrativ wiedergegeben wird. Die Indirektheit verweist, so meine These, auf Erfahrungen, die sich einerseits der direkten Vermittlung entziehen und andererseits Ausdruck einer Intimität sind, die sich in diesem Raum zugetragen hat. Unter anderem zeigt sich dies in der Verwendung der Personalpronomen des Singulars („je“ und „il“) in den direkten Reden und der Verwendung der Pluralform „nous“ in der Passage der Mansarde. In diesem „nous“ stecken all die geteilten Erfahrungen - das Weintrinken, das Brotteilen, der Schlummer auf dem Fußboden und die vertraute Kommunikation - doch diese Gemeinschaft ist nur temporär. Das „nous“ muss sich wieder in „je“ und „il“ aufspalten. Dieses Ich ist jedoch ein anderes als das vor der Erfahrung der Gemeinschaft. Es trägt das „nous“ in seiner Absenz als schmerzvolles Zeichen und bisweilen auch als Hoffnung eines Geliebt-Werdens in sich. Auf die Erfahrung der Gemeinschaft folgt die Erfahrung absoluter Absenz. Doch diese absolute Absenz und der Entzug sind es, die die Sehnsucht bedingen und das Ich dazu verdammen, nirgends - außer in der Ortlosigkeit - mehr anzukommen. IV. Zerstreuung und Schwelle Daher möchte ich die These wagen, dass der „Prologue“ insbesondere in seinem letzten Satz ein Vorverweis auf das ist, was dem Leser widerfährt, der tatsächlich die „ungeordnete Masse an Fragmenten“ liest, die in Form der weiteren Cahiers Simone Weils folgen. Wie der Ich-Erzähler des Prologs nach der Zweisamkeit und Geborgenheit der Mansarde auf die Treppe und die Straße geworfen wird, mag es auch dem Leser der Cahiers gehen, der, nachdem er den Textraum betreten hat, vom Text betreten wird und des erhofften Sinns beraubt <?page no="241"?> 242 Martina Bengert im ungeordneten Nebeneinander der Cahiers ortlos umherirrt wie der Ich-Erzähler in den Straßen. Je weiter die Erfahrung des Lesens der Cahiers voranschreitet, umso mehr erweist sich gerade diese Form der Zerstreuung als Ausdruck dessen, wo das Ich, auf sich selbst zurückgeworfen, sich selbst verliert und zerstreut. Der „Prologue“ ist Zeugnis, wie Richard Rees, der Übersetzer und Herausgeber der englischen (Teil)Übersetzung der Cahiers schreibt, eines „transitional passage“ 14 Simone Weils, die ihre bis zum Zeitpunkt der Abreise nach Amerika geschriebenen Aufzeichnungen zurücklässt und gleichzeitig mit ihrer Wendung zu Gott in den letzten Lebensjahren das Schreiben in ungeordneten Fragmenten und gedanklichen Splittern bewusst (wie die paratextuellen Anmerkungen zeigen) vorantreibt, um das Ich in einem Prozess der Dekreation zu dezentrieren und schließlich zu nichten. Der „Prologue“ ist in seiner Textualität darüber hinaus als performative Lektüremöglichkeit zu verstehen, die einerseits eine Ausrichtung oder einen Ausgangspunkt für die Lektüre weiterer Text(-fragmente) schafft und andererseits als Text nicht nur eine Erfahrung des Übergangs beschreibt, sondern diese ist. V. Egal wo / überall Anders als Franz Kafkas Erzähler in „Vor dem Gesetz“ versucht der Erzähler des „Prologue“ daher nicht, das Haus (oder dessen Eingang) noch einmal zu finden, in dem eine Unterweisung stattgefunden hat, derer sich der Erzähler erst später bewusst zu werden scheint. Das aktive Suchen des Meisters anhand dieses Ortes wird als sinnlos dargestellt, nicht nur, weil der Erzähler von einer Verwechslung ausgeht, sondern aufgrund der Erkenntnis der eigenen Verortung in der Ortlosigkeit des Dazwischen: „Ma place n’est pas dans cette mansarde. Elle est n’importe où, dans un cachot de prison, dans un de ces salons bourgeois pleins de bibelots et de peluche rouge, dans une salle d’attente de gare. N’importe où, mais non dans cette mansarde.“ Auch wenn der Ort überall sein kann - „[n]’importe où, mais non dans cette mansarde“ -, sind es nicht irgendwelche Räume, die im Text als Beispiele genannt werden, sondern unwirtliche Räume des Einschlusses, des Überladenen und des Wartens, d. h. Räume, die ohne Verbindung zu Sesshaftigkeit, Geborgenheit oder Privatheit stehen - Räume, die sich in jedem Fall von der Mansarde dadurch unterscheiden, dass sie „n’importe où“ sind. Diese Selbstverortung des Ichs im Irgendwo des Dazwischen und des Kontingenten birgt in sich eine Erfahrung des Entzogenen im unaufhörlichen 14 Richard Rees, „Introduction“, in: Simone Weil, First and Last Notebooks , tr. Richard Rees, London: Oxford University Press 1970, p. VII. <?page no="242"?> Auf der Schwelle 243 Entzug, wodurch - und das ist entscheidend - sich der oder das Entzogene nicht an bestimmten Orten, sondern potentiell überall zeigen könnte. Insbesondere Orte, an denen er/ es am wenigsten zu erwarten wäre, werden so zu möglichen Räumen der Begegnung (in) der Absenz. VI. Offen Nach dem einmaligen Ereignis einer dialogischen Begegnung des Ich-Erzählers mit „ihm“ und der Erfahrung einer intimen Gemeinschaft, sieht sich das auf diese Weise für immer gezeichnete Ich in eine absolute Einsamkeit geworfen, deren Ende, wie bereits erwähnt, weder in der vergeblichen Suche einer Wiederholung liegt, noch durch andere Formen der Gemeinschaft aufgehoben zu werden vermag. Die Liebeswunde, die der Text nur erahnen lässt, scheint eine zu sein, die sich nicht nur nicht mehr schließen lässt, sondern die als fortwährende Öffnung existieren muss und aktiv offen gehalten wird. Sie offenbart sich in Form der nochmaligen Wendung der Interpretation der Absenz des Geliebten als Zeichen seiner Ablehnung durch die folgenden Worte: „Et pourtant au fond de moi quelque chose, un point de moi-même, ne peut pas s’empêcher de penser en tremblant de peur que peut-être, malgré tout, il m’aime.“ Die hier beschriebene Möglichkeit des Geliebtwerdens ist Ausdruck einer bedingungslosen Liebe des Sprechers, die aus einem, wenn auch infinitesimal kleinen, jedoch untilgbaren Punkt im Inneren gegen alle Widerstände erwächst: einer Liebe, die ohne Sicherheit und ohne Antwort auskommen muss, um aus der Tiefe der Verlassenheit heraus nicht nur auf Gegenliebe zu hoffen, sondern letztlich das Wissen der erwiderten Liebe in Form der Annahme der absoluten Absenz zuzulassen. Wie bereits eingangs angesprochen, gibt es zahlreiche Stimmen, die diesen Text als Ausdruck einer mystischen Erfahrung lesen, von denen Simone Weil mindestens drei in ihrem Leben erleben durfte. 15 Vor dem Hintergrund poetischer Schilderungen mystischer Erfahrungen wie etwa im berühmten Gedicht Noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz (dessen Werk Simone Weil sehr gut kannte und schätzte) ließe sich die Position des „il“ im „Prologue“ problemlos mit Gott füllen. Wenn ich sie dennoch in meinem Kommentar des Textes in der Anonymität belassen habe, ging es mir vor allem darum, diese signifikante Stelle des Bezuges offen zu halten. Nicht zuletzt, um damit einmal mehr darauf aufmerksam zu machen, dass der „Prologue“ in seinen verschiedenen Fassun- 15 Weil spricht selten direkt über ihre mystischen Erfahrungen. Insbesondere ihre Briefe und unter diesen ihre „Autobiographie spirituelle“, die sie im Mai 1942 in Marseille an den Dominikaner Père Perrin adressiert, legen jedoch Zeugnis von den Begegnungen mit Gott ab: Cf. Simone Weil, „Autobiographie spirituelle“, in: Ead., Œuvres , ed. Florence de Lussy, Paris: Quarto Gallimard 2000, pp. 767-780. <?page no="243"?> 244 Martina Bengert gen und an seinen verschiedenen Orten innerhalb des Œuvre Simone Weils auf eine konstitutive Dynamik der Ortlosigkeit und des unendlichen Übergangs verweist, bei dem unentscheidbar bleiben muss, ob es darum geht, sich zu zerstreuen, um Raum (in der Seele) zu schaffen und sich (für Gott) zu öffnen oder ob die erfahrene Begegnung mit Gott in der Absenz der Grund für diese unaufhaltsame Zerstreuung ist. <?page no="244"?> Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística en Mandorla y El fulgor de José Ángel Valente Javier Gómez-Montero 1 EL AMANECER es tu cuerpo y todo lo demás todavía pertenece a la sombra. Tus lentas oleadas fuerzan la delgada membrana 5 del despertar. Anuncias qué: no el día, sino la quieta duración del latido en la sombra matriz. 10 Te anuncias, proseguida y continua como la duración. Durar, como la noche dura, como la noche es sólo sumergido cuerpo 15 de tu visible luz. José Angel Valente, Mandorla (1982) 1 1 Vuelvo a seguir ahora tu glorioso descenso hacia los centros del universo cuerpo giratorio, 5 una vez más ahora, 1 José A. Valente, Material Memoria (1979-1989), Madrid: Alianza 1992, p. 95. <?page no="245"?> 246 Javier Gómez-Montero desde tus propios ojos, tu larga marcha oscura en la materia más fulgurante del amor. 10 La noche. Me represento al fin tu noche y su extensión, la noche, tu salida al absoluto vértigo, la nada. José Angel Valente, El fulgor (1984), VIII 2 1 Venías, ave, corazón, de vuelo, venías por los líquidos más altos donde duermen la luz y las salivas en la penumbra azul de tu garganta. 5 Ibas, que voy de vuelo, apártalos, volando a ras de los albores más tempranos. Sentirte así venir como la sangre, de golpe, ave, corazón, sentirme, 10 sentirte al fin llegar, entrar, entrarme, ligera como la luz, alborearme. José Ángel Valente, El fulgor , XXX 3 Los tres poemas transcritos justifican considerar como el mayor aporte de la poesía de José Ángel Valente a la lírica contemporánea en Europa su esfuerzo por resacralizar el Logos bien a sabiendas de su progresiva secularización a lo largo de la tradición filosófica moderna desde el idealismo transcendental y sus repercusiones en los discursos literarios a partir del llamado protorromanticismo alemán e inglés. Tal resacralización opera mediante la inmersión del poema en la tradición órfica del decir poético, ciertamente, pero ello significa primeramente la sustancialización de la palabra en su condición de materia y 2 Ibid., p. 156. 3 Ibid., p. 178. <?page no="246"?> cuerpo en los aspectos fónicos y figurativos de toda realidad verbal, en la afirmación y negación simultánea de su sonoridad o no sonoridad, en su ausencia que es el silencio. Tal concepción de la palabra poética en consonancia con su corporeidad permite la continuidad más estricta entre el Decir y el Eros : Entre la experiencia poética en cuanto acto de pronunciación o escritura de la palabra y la experiencia erótica en el sentido más material de ambas vivencias cuya interiorización permite -como se expresa José Manuel Cuesta Abad 4 - asistir plenamente a una reverberación del origen en el poema. Creo que estas ideas apuntan el marco para la cabal comprensión del poema “El amanecer es tu cuerpo” de Mandorla (1982), donde es fácil observar la estructura circular del poema a partir de una refuncionalización de paradigmas figurativos, conceptuales y expresivos en la tradición poética que vincula a Stéphane Mallarmé y a Paul Celan pero asimismo subyace al texto un trasfondo de reflexión que recaba en la mística universal, por lo que en el poema aparecen lo sagrado y lo profano en comunión y la experiencia consuma un proceso de iluminación y conocimiento. La composición consta de cinco movimientos elementales basados cada uno en la enunciación propia articulada por cada una de las cinco estrofas, todas de semejante extensión. De ahí surge el ritmo del poema, acompasado y con ligeras variantes, articuladas como los pasos que llevan de la dialéctica de “sombra” y “amanecer” iniciales (vv. 1-2) a la final plenitud de “luz” (v. 15). Esa primera figuración ya es característica de la significativa tropología vigente en el poema que dinamiza principios de abstracción y simbólicos básicos, a veces basadas en la coincidentia oppositorum y a partir de conceptos e imágenes como la noche, la luz, la nada, lo absoluto, centro y límite, ascensión/ bajada, plenitud/ vacío, salida y penetración. El sistema metafórico se organiza así mediante isotopías (luz-día, sombra-noche), vinculadas también al movimiento (lentos-quietos, vv. 3 y 7; proseguida y continua, v. 9) y con ello al tiempo, especialmente a la duración (vv. 8, 12-13) y a su orígen (v. 9). Los enunciados, el fluir de las palabras, su sonoridad y el silencio conforman un ritmo hecho a base de latidos (v. 8), donde se da ya una interpenetración de palabra y cuerpo que culmina en la final iluminación e interpelación de la persona, ya no simplemente cuerpo -inicialmente en la penumbra y umbral del despertar-, sino como cuerpo iluminado en femenino (v. 11), y plenamente visible (v. 15). 4 José Manuel Cuesta Abad, “La enajenación por la palabra (Reflexiones sobre el lenguaje poético de Valente)”, en: El silencio y la escucha: José Ángel Valente , ed. Teresa Hernández Fernández, Madrid: Cátedra 1995, pp. 49-78, aquí p. 60. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 247 <?page no="247"?> 248 Javier Gómez-Montero Sin duda, Logos y Eros coinciden en el doble fondo del cuerpo y el lenguaje (ambos hechos materia), y el erotismo adquiere el estatuto de una experiencia sagrada de acuerdo con Bataille 5 . Por otra parte, la experiencia del tiempo concita origen (umbral, matriz, vv. 4 y 9) y plenitud en el ver y el decir. Esa continuidad entre conciencia, lenguaje y cuerpo, o, si se prefiere esa inmersión de la palabra en su materia que es también el cuerpo, será aún más palpable en los dos poemas elegidos de El fulgor (1984), y anteriormente transcritos, para completar esta lectura en que cada poema puede entenderse como un “latido” (v. 8) de conocimiento. En el primero de ambos (secuenciado como VIII y que comenzaba “Vuelvo a seguir ahora…”), a ya constatadas figuraciones (oscuridad-fulgor, vv. 7-8) y establecidos conceptos (noche, cuerpo) se suma aquí la precisión del movimiento -fijado antes en clave temporal- en una dimensión ahora espacial, si bien en las direcciones aparentemente contradictorias de entrada y salida: hacia dentro (“descenso hacia los centros”, vv. 2-3) o hacia afuera (“salida al vértigo”, vv. 12 -13). De nuevo se consuma un proceso imaginario circular entre decir y callar, luz, sombra y luz, salir y entrar, donde el cuerpo que antes era luz mantiene su inmaterialidad en cuanto “universo […] giratorio” y “nada” (vv. 4, 14). La visión del cuerpo iluminado se corresponde por tanto con la representación (mental) de la nada que así, no obstante, resulta inteligible como vértigo: Este momento de visibilidad de la nada -de acuerdo con la tradición gnóstica de lo sagrado en que se inscribe el discurso poético- Jacques Ancet la asocia a la mirada del místico, para quien Dios, el Todo y la Nada resultan permutables. 6 Así el conocimiento culmina en una experiencia de negación (del sentido del objeto y de la conciencia misma) que se expresa en estos términos contradictorios. Los límites de expresión del conocimiento mediante una referencialización del Logos y el Eros en la tradición de la poesía mística -y sus fórmulas figurativas y conceptuales- se patentizan de forma clamorosa en el tercer poema de los transcritos (XXX: “Venías, ave…”) que es uno de los más significativos del volumen que se analizará a continuación bajo los presupuestos ya comentados. Tropología y léxico, conceptos y usos verbales del poema se ajustan en extraordinaria medida a la referencia literaria acotada por el Cántico espiritual y algunas canciones de San Juan, en concreto por la estrofa 12 del Cántico y la quinta octava de “Entréme donde no supe”: “Apártalos, amado / que voy de vuelo / [ Esposo ] Vuélvete, paloma, / que el ciervo vulnerado, / por el otero asoma, / 5 Georges Bataille, L’Érotisme, Paris: Minuit 1957. 6 Jacques Ancet, “El ver y el no ver: apuntes para una poética”, en: El silencio y la escucha , ed. Hernández Fernández, pp. 143-156. <?page no="248"?> al aire de tu vuelo, y fresco toma.” 7 “Cuanto más alto se sube, / tanto menos se entendía / qué es la tenebrosa nube / que a la noche esclarecía; / por eso quien la sabía / queda siempre no sabiendotoda ciencia trascendiendo.” 8 También la elección del endecasílabo (y su quiebro en el quinto verso justo con las palabras citadas con que se cierra el segundo parlamento de la Esposa en el Cántico : “que voy de vuelo, apártalos”) puede resultar significativa. Y desde luego que la cita explícita del núcleo o matriz que desarrolla el poema (“Apártalos, amado / que voy de vuelo”, seguido de “Vuélvete paloma…”, estrofa 12 vv.1-3) establece el nexo de significación más fuerte entre ambos textos. A nivel figurativo se manifiesta la continuidad ave : paloma , corazón : amado del Cántico, así como más altos : alto se sube , luz : esclarecía , entrar y entrarme : entréme en la canción; pero también conceptualmente la idea de movimiento (ir y sentir) son expresión de un mismo paradigma, así como finalmente la proyección del “no sabiendo” y “no entendiendo” de la canción en el conclusivo “alborearme”, que implica un acto de conocimiento. La rivalidad de los dos discursos, y su diálogo -el místico de San Juan y el mistérico de Valente, podríamos precisar a Jacques Ancet- se manifiesta en la inscripción explícita del cuerpo en el poema contemporáneo, presente en los referentes de “líquidos”/ ”salivas”, “garganta” y “sangre”, que hacen una lectura en clave erótica más que inevitable. Pero también en ese caso la contigüidad entre “ave” y “palabra” permite la equiparación de Eros y Logos en el Decir de las palabras y los cuerpos. El lenguaje y el cuerpo celebran así en su inmanencia y plenitud una pulsión de comunión entre consciencia y cosmos por la que el discurso poético resulta autogenerador de conocimiento, de la continuidad entre cuerpo y palabra. Digamos con Cuesta Abad que se da un repliegue de la palabra en el cuerpo, dada su común material naturaleza. *** Podemos concluir con las siguientes reflexiones más generales entendidas como un intento de sistematizar estrategias de secularización mistérica y de referencialización poética visibles en ciertos discursos poéticos de la poesía contemporánea en España, una de cuyas matrices bien puede considerarse la escritura de José Ángel Valente ejemplarizada en los tres poemas antes citados. A los dos momentos cruciales de la apropiación poética del discurso místico por parte de la lírica moderna discernidos por Paolo Valesio (uno tardoromán- 7 San Juan de la Cruz, Poesías completas y comentarios en prosa a los poemas mayores , Madrid: Aguilar 1989, p. 16. 8 Ibid., p. 36. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 249 <?page no="249"?> 250 Javier Gómez-Montero tico en torno a procesos de efusión y sublimación, el otro postvanguardista vinculado a las artes del silencio y cifrado en la auscultación poética de los límites de la palabra) 9 , cabría añadir un último y contemporáneo momento de secularización de la escritura mística cifrado en la corporización y resubstanciación del Logos , proceso que se lleva a cabo de forma más precisa mediante la referencialización del discurso poético eminentemente en una tradición poetológica y poética específicamente moderna. En estos casos se manifiestan con claridad las tensiones y la rivalidad (el concepto es de Paolo Valesio) que estructuran las relaciones entre mística y poesía moderna como pone de manifiesto, por ejemplo, la sustitución de la sustancialidad de Dios por la sustancialidad de la palabra (materia, cuerpo) en la pragmática poética de referencialización del Logos en la última y más intensa poesía de José Ángel Valente, fuertemente ligada a lo sagrado en libros como Mandorla y El fulgor. Así, la poesía más madura de José Ángel Valente supone la instauración de un paradigma contemporáneo y un punto de inflexión de la tradición poética moderna gracias a su alegato para superar la conceptualización de la poesía de San Juan sólo en términos lingüístico-estilístico-figurativos propuesta por Dámaso Alonso 10 y para romper con la limitación del discurso de aquél a un misticismo de lo inefable por parte de Jorge Guillén. 11 El vuelco que da Valente a esa lectura hispánica, muy afianzada en las instituciones académicas, conlleva un desbordamiento de los significados posibles del lenguaje y consiste en la incorporación de dos dimensiones específicas con sendas categorías básicas de comprensión del fenómeno poético en términos de poetología y erotismo. Es decir, escritura poética y cuerpo se instauran en el centro de una experiencia personal y de modo que a ellos se refieren principalmente imágenes y símbolos asumidos de la tradición poética que, no obstante, son referencializados discursivamente en el sentido antes aludido por el que la palabra es entendida como encarnación. José Ámgel Valente (y otros poetas contemporáneos como Andrés Sánchez Robayna 12 ) mantiene viva la dinámica del conocimiento que late bajo esta tradi- 9 Paolo Valesio, “El contorno de la ausencia (Reflexión sobre la poesía valentiana)”, en: El silencio y la escucha , ed. Hernández Fernández, pp. 217-258, aquí p. 223. 10 Dámaso Alonso, La poesía de San Juan de la Cruz, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Inst. Antonio de Nebrija 1942. 11 Javier Gómez-Montero, “Obscuritas und Lesbarkeit moderner Lyrik. Zu Mallarmés ‘Sonnet en -yx’ (mit einem Seitenblick auf Góngoras ‘Hurtas mi vulto…’)”, en: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 43 (2002), pp. 171-192. 12 Javier Gómez-Montero, “Lectura y escucha del mundo: la escritura de Andrés Sánchez Robayna ante la tradición mística”, en: Siglo XX. Literatura y cultura españolas 9-10 (2012), pp. 173-188. Además véase el libro en preparación: Discursos del saber (y no saber) en la poesía contemporánea , edd. Javier Gómez-Montero, Frank Nagel, Actas del Simposio Internacional de Kiel 10-12-2018. <?page no="250"?> ción poética desde su momento fundacional con San Juan y Santa Teresa en las letras hispanas y hispánicas para llegar a un conocimiento del mundo, del ser, del lenguaje. Valente insistía en sus palabras liminares del libro Hermenéutica y mística : San Juan de la Cruz (1995) 13 en la íntima relación entre poesía y pensamiento subyacente a un discurso poético contemporáneo que bebe en las fuentes de San Juan -que lo hace suyo y que transciende conceptos poéticos urdidos sólo a partir de los principios de comunicación, emoción o experiencia. Expresión de esos ligámenes entre poesía y pensamiento es la búsqueda de una convergencia entre mística y silencio en la tradición poética contemporánea, entre lo poético y lo sagrado y -añado ahora- el hallazgo de una plenitud o transcendencia en la inmanencia, en el sentido en que Ernst Tugendhat replantea en contextos seculares la mística universal. 14 Y de ahí se derivan las observaciones con que Valente entonces concluía con argumentos que nos pueden servir de petición de principios para nuestra reflexión sobre el conocimiento místico y el poético. Así Valente entiende la expresión poética como una sobreabundancia de una sola experiencia (el conocimiento, el ser) que conduce a la suspensión del sentido ya que los versos nunca podrán aportar su sentido último en razón de la inefabilidad misma de la realidad: “La noción de inefabilidad se basa, precisamente, en la idea de que hay un mundo de realidad que el lenguaje no puede expresar. Pero esa realidad está sumergida en el lenguaje mismo, constituye su ungrund , su fondo soterrado, al que nos remite incesantemente la palabra poética.” 15 Con Antonio Colinas podríamos concluir asimismo que la escritura erótica de Valente aquí ponderada cifra su discurso poético en el “lenguaje de los misterios” 16 . 13 Hermenéutica y mística: San Juan de la Cruz , edd. José Ángel Valente, José Lara Garrido, Madrid: Tecnos 1995. 14 Ernst Tugendhat, “Über Mystik. Vortrag anläßlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises”, en: Id., Anthropologie statt Metaphysik , Múnich: Beck 2007, pp. 176-190. 15 Hermenéutica y mística: San Juan de la Cruz , p. 22. 16 Antonio Colinas, El sentido primero de la palabra poética , Madrid: Siruela 2008, p. 336. Secularización mistérica y sacralización poética de la tradición mística 251 <?page no="252"?> San Juan und die loca. Zu Jaime Gil de Biedmas Parodie der Noche Oscura Dieter Ingenschay En una noche oscura, 1 En una noche escura, con ansia, y en ardores inflamada, con ansias en amores inflamada, en busca de aventura ¡oh dichosa ventura! , salí, toda alocada, salí sin ser notada, dejando atrás mi celda sosegada. 5 estando ya mi casa sosegada Segura, e insegura A escuras y segura y en mis hábitos pardos amparada, por la secreta escala, disfraçada, ¡oh azarosa ventura! , ¡oh dichosa ventura! , salía yo encelada a escuras y encelada, y de varios amigos rodeada. 10 estando ya mi casa sosegada En la noche dichosa En la noche dichosa ya a pie por el trottoir de la Gran Vía, en secreto, que nadie me veía no miraban más cosa ni yo miraua cosa que la figura mía sin otra luz y guía cuando nos salteó la Policía. 15 sino la que en el coraçón ardía Aquésta me guiaua más cierto que la luz del mediodía adonde me esperaua quien yo bien me sabía, 20 en parte donde nadie parecía ¡Oh Guardia que te arrestaste! ¡O noche! que guiaste ¡Guardia el menos sútil de la Brigada! ¡O noche! amable más que el aluorada ¡Guardia que equivocaste ¡O noche! que juntaste amado con amada amado con amada en pardas estameñas drapeada! 20 - 25 amada con el amado transformada A la inferior guardia En mi pecho florido Por mal de nuestra culpa edificada, que entero para él solo se guardaua Allí fui conducida, allí quedó dormido <?page no="253"?> 254 Dieter Ingenschay Presa y amenazada, y yo le regalaua Para ser hábilmente interrogada. 25 - 30 y el ventalle de cedros ayre daua La faz del Comisario, El ayre de la almena cuando yo a sus preguntas atendía, cuando yo sus cabellos esparcía con gesto insolidario con su mano serena hacia mí se volvía en mi cuello hería y todos mis sentidos suspendía. 30 - 35 y todos mis sentidos suspendía. Calmeme y explíqueme. Quedéme y oluidéme Al fin se hizo la luz en su cabeza. El rostro recliné sobre el amado Me dio excusas. Marcheme, cessó todo y dexéme Dejando una pieza dexando mi cuidado A todo el cuartelito de Hortaleza. 35 - 40 entre las açucenas oluidado. Jaime Gil de Biedma / San Juan de la Cruz, „Noche oscura“ (1983/ 1630) 1 Vorbemerkung Ende Februar 2004 erhielt ich ein gewichtiges Päckchen. Neben einem kiloschweren schwarzen Buch enthielt es eine Karte, auf der dessen Autor in wohl geformten Lettern in blauer Tinte mitteilte, dass ich das beiliegende Buch aus einem Münchner Habilitationsverfahren kenne. Die Karte diente fortan als eines der Lesezeichen, die einzelne Seiten - gehäuft im Kapitel II - markierten. Meine Vorliebe für Bernhard Teubers (nicht nur) an Bataille inspirierte Interpretation des wohl bekanntesten, früh zum Anthologiestück avancierten Gedichts über die nächtliche Vereinigung einer Frau mit dem Geliebten und/ oder der Seele mit Gott verdankt sich nicht erst der Kenntnis des oben links abgedruckten (also des hier zu kommentierenden) Textes, sondern gründet vielmehr auf Bernhard Teubers Vorgehen, „zunächst einmal auf der Ebene des buchstäblichen Sinns Sachverhalte“ aufzufinden, die sich „nicht auf so einfache Weise auf einen geistlichen Sinn hin übersteigen lassen“ 2 , damit auf eine Interpretation, die ein „Bedeutungsspiel“ zwischen profaner und göttlicher Dimension erkennt, „das die 1 Jaime Gil de Biedma, „Noche oscura“, aus Divertimientos Antiguos , in: Fin de siglo 4 (1983), zit. nach www.nexos.com.mx/ ? p=5750 (9.11.2017). Für die Wiedergabe des Texts von San Juan folge ich dem Abdruck in Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 163sq. 2 Teuber, Sacrificium litterae , p. 169. <?page no="254"?> etwas schlichten Gleichsetzungen […] weit hinter sich läßt“ 3 . Teubers Relektüre erweist sich für meinen Kommentar der ausgewählten Parodie als wegweisend. I. „Mann und Werk“: der „Konsul von Sodom“ und die engagierte Dichtung Jaime Gil de Biedma wurde 1929 in Barcelona geboren und verstarb dort 1990 an Aids. Kein anderer Dichter der spanischen Lyrik der Mitte des 20. Jahrhunderts, die nicht zu unrecht mit dem Etikett einer Dichtung der Erfahrung ( Poesía de la experiencia ) versehen wurde, vereint in sich so manifeste Kontraste wie Gil de Biedma, der Spross einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie, deren gewinnträchtiges Privileg der Tabakhandel mit den Philippinen war, der sich aber dennoch nicht nur schreibend als poeta comprometido empfand, sondern die Aufnahme in die Kommunistische Partei Kataloniens anstrebte, die ihm freilich verwehrt wurde (ob dafür eher seine unproletarischen Lebensumstände oder seine flamboyante Homosexualität verantwortlich waren, sei dahin gestellt; auf weitere biographische Details gehe ich in diesem Textkommentar nicht ein, warne dennoch kurz vor der extremen Unzuverlässigkeit, welche die gefilmte Sicht auf sein Leben, Sigfrid Monleóns Biopic El Cónsul de Sodoma [2010] kennzeichnet). So sehr sich das lyrische Werk des Katalanen in den Kontext der generación del medio siglo einschreibt, so deutlich sind eigene Charakteristika, die hier nur insoweit Erwähnung finden sollen, als sie für diesen Textkommentar funktional sind. - Eines der profiliertesten Merkmale seiner Lyrik ist die Häufung intertextueller Verweise, die seine Gedichte als die Spitze eines Eisbergs erscheinen lassen, unter dem sich ein riesiger Vorrat von Bezügen auf Texte und Techniken von Catull bis Mallarmé und Baudelaire, von John Donne bis Cernuda, von Fray Luis de León bis T.S. Eliot, um nur diese zu nennen, verbirgt. Die argentinische Literaturwissenschaftlerin Marcela Romano verortet Gil de Biedmas Dichten in einem Spannungsverhältnis von Tradition (im Sinne der skizzierten Vorbilder) und ‚Irreverenz‘, wobei sie damit vor allem auf die erotische Suggestion seines Universums abzielt: „El amor, columna de las experiencias sentimentales del personaje […], embarca alternativamente al sujeto en una suerte de militancia promiscua por las amarillentas luces de la ‚boue‘ (Baudelaire), la nostalgia de los cuerpos deseados y perdidos y la aspiración, nunca satisfecha, por el amor ‚celeste‘. Este ideario se perfila además con el plus de su disidencia respecto de la norma sexual permitida, al definirse como homoerótico. Esta poesía de la ‚di- 3 Ibid. San Juan und die loca 255 <?page no="255"?> 256 Dieter Ingenschay ferencia‘ (erótica), escrita en la España del nacionalcatolicismo, resulta, a todas luces, una provocación.“ 4 Der folgende Kommentar wird diese Aussage - was das zu erläuternde Gedicht angeht, in dem es weder boue noch amores celestes gibt - in Frage stellen und stattdessen die erotische Überlegenheit des - mit Genette gesprochen - Hypotextes betonen (und den Innovationen des Gil de Biedma anderswo nachspüren). II. Beschreibung des Texts Jaime Gil de Biedmas Kontrafaktur der Noche oscura des San Juan verkürzt seinen Prätext um eine der acht liras . Diese selbst entsprechen weiterhin der gattungstypischen Mischung aus zwei endecasílabos und drei heptasílabos pro Strophe. Das neue Gedicht umfasst 35 Verse. Ohne auf die Diskussionen um den postmodernen Charakter von Parodie und Pastiche bei F. Jameson (und L. Hutcheon u.v.m.) einzugehen, ohne also nach einem postmodernen Code über modernen Stilelementen zu fragen, verstehe ich Gil de Biedmas Version als eine Form der Wiederholung, die - nach Genette - die Worte des Rhapsoden so wörtlich wie möglich, aber unter parodistischem Vorzeichen, wiedergibt. Dabei führt Genettes Feststellung, die „strengste Form der Parodie“ sei „die Minimalparodie, […] d[ie] wörtlich[e] Wiederholung eines bekannten Textes, dem eine neue Bedeutung verliehen wird“ 5 , zu der Frage nach Übereinstimmung und Differenz zwischen Hypotext und Hypertext. Identisch in beiden Varianten sind tatsächlich nur vier Verse, der Eingangsvers („En una noche oscura/ escura“) sowie seine Variante, die Ort und Zeit näher qualifiziert (v. 11, „En la noche dichosa“), dann der kurze Vers 19 bzw. 24 („amado con amada“), sowie letztlich Vers 30 bzw. 35 („y todos mis sentidos suspendía“). Dadurch könnte man Gil de Biedmas Kontrafaktur als eine „Maximalparodie“ lesen, die - Ton, Stil und Klang beibehaltend - auch dort neue Begriffe setzt, wo unschwer die ursprünglichen Termini hätten stehen bleiben können (besonders im Verlauf der ersten beiden liras ). In diesen Abweichungen manifestiert sich folglich eine innovative Sinngebung, die aus der frommen liebenden Sprecherin des San Juan den zur loca gewordenen ‚weibischen Schwulen‘ ( alocada ) macht, der die ‚dunkle Nacht‘ nutzt, um seine erotischen Abenteuer (v. 3, v. 8) zu suchen. 4 Marcela Romano, „Escandalosa Afrodita: tradición e irreverencia en Jaime Gil de Biedma“, in: III Jornadas de Estudios Clásicos y Medievales , La Plata: FaHCE 2007, pp. 659-669, hier p. 661 [online: sedici.unlp.edu.ar/ handle/ 10915/ 41654 (16.11.2017)]. 5 Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe , tr. Wolfram Bayer, Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 1996, p. 29. <?page no="256"?> Die Identität der Einstiegszeile können wir als Erfordernis des parodistischen Genres (in seinen lyrischen Varianten) verstehen; (allein die zwei Wörter „Wer reitet…“ deutet auf die Machart des Folgenden als eine weitere der ungezählten Parodien des Goethe’schen Klassikers, des wohl meist parodierten Werks der sog. Weltliteratur, hin). Der zweite identische Vers (v. 11, „En la noche dichosa“) setzt die Umstände der Handlung beider Gedichte scheinbar in eins, und die dritte Übereinstimmung (v. 19/ 24 „amado con amada“) ist eigentlich nur ein Satzteil, der vom vorausgehenden Verb abhängt („equivocaste“ bzw. „juntaste“). Während demnach bei San Juan die Vereinigung von Geliebter und Geliebtem durch das Verb juntar als vollzogen insinuiert wird, beruht der Annäherungsversuch in Gil de Biedmas Text auf der Verwechslung ( equivocar ) des guardia - wobei die Rolle des groben Leinenstoffs ( estameña , von lat. staminea ), in den das Objekt des (vermeintlichen) Begehrens gehüllt ist, unklar bleibt, aber rückverweisen könnte auf die hábitos pardos (v. 7), die das sprechende Ich gleichsam als Schutzkleidung für den nächtlichen Ausflug ausgewählt hatte, der im Polizeiverhör statt im Sexrausch endet. In der Identität der Verse 19/ 24 wird also eher eine signifikante Differenz vermittelt! - Die letzte identische Verszeile, „y todos mis sentidos suspendía“ (v. 30/ 35), steht bei San Juan im Kontext des Ohnmächtigwerdens der Sprecherin nach der (lt. Teuber in den Allegorien des Windhauchs, des Streichens durch das Haar und der Verletzung am Hals beschworenen) körperlichen Vereinigung der Liebenden; Teuber wertet diese als wichtigen Umschlagspunkt des Geschilderten, als Wende zum folgenden „leeren dejamiento “ 6 . In der Parodie geht dieser Zeile nichts als das peinliche Polizeiverhör voraus; das Schwinden des Bewusstseins erscheint als eine hyperbolische Reaktion auf den Anblick des comisario , der dem sprechenden Ich die Sinne raubt. Dieser Polizist wird deshalb zur Ikone des Begehrens‚ weil er der ‚am wenigsten feine‘ ( el menos sútil ) unter den Uniformierten, also derjenige mit der virilsten Ausstrahlung ist. Literarische Formen des spanischen Schwulendiskurses im Spät- und Postfrankismus - verwiesen sei etwa auf die Romane Eduardo Mendicuttis - bestätigen, was Soziologen wie Óscar Guasch postulieren, dass im Spanien jener Jahre der ‚feminine‘ Homosexuelle den Diskurs bestimmt, dass sich dessen Begehren zugleich aber auf den maskulinen (heterosexuell imaginierten) Mann richtet. Für ihn steht - unter anderen - der Uniformträger (in den verschiedenen Varianten, wobei Mendicuttis Tunte in seinem programmatischen Roman Una mala noche la tiene cualquiera deutlich macht, dass durchaus eine Abstufung zwischen - sagen wir - einem Marinesoldaten und einem Nachtwächter besteht; - der Polizist liegt wohl in der Mitte). 6 Teuber, Sacrificium litterae , p. 187. San Juan und die loca 257 <?page no="257"?> 258 Dieter Ingenschay Auch wenn Gil de Biedmas Gedicht weit entfernt davon ist, eine Minimalparodie zu sein, sondern eher einen intentionalen Gegenentwurf zu seinem Hypotext inszeniert, vermittelt sich dennoch den Lesenden der Eindruck einer starken Kongruenz, was der Übernahme zahlreicher Strukturen (etwa identischer Präpositionen und Konjunktionen an bestimmten Stellen), Schlüsselbegriffe, Reimwörter sowie des spezifischen Sprachduktus einer ‚barocken‘ Exuberanz geschuldet ist. In nicht minderem Maße verdanken sich die Wiedererkennungseffekte der Präsenz des Vorbilds im kollektiven Bewusstsein einer intellektuell geprägten Leserschaft, wie sie diese Parodie voraussetzt. Lesen wir das Gedicht als launige Schilderung des Streifzugs einiger schwuler Männer, des mit tuntiger Stimme sprechenden lyrischen Ich und seiner Freunde, durch die einschlägigen Viertel des nächtlichen Madrid mit dem Ziel der Anmache, so endet diese Tour zwar nicht tragisch, ist aber auch nicht von Erfolg gekrönt. Im Zeichen der (hier nicht thematisierten) Verfolgung Homosexueller im frankistischen Spanien (und vielen anderen auch westlichen Gesellschaften jener Jahre) verhaften Polizisten die fröhlichen gays , was durch den sex appeal eines der guardias mit ein wenig sanftem morbo geschildert werden kann, doch bedarf es des schnöden Mittels der Bestechung, um aus der Polizeistation von Hortaleza entlassen zu werden…. In dieser beschränkten Eindimensionalität gibt der Hypertext nicht nur die religiöse Dimension des Paratexts in inhaltlicher Hinsicht auf, sondern auch dessen - nach Teuber - konstitutive Ambiguität. Dies bedeutet zugleich, dass die erotische Aufladung im Ausgangstext weit markierter, intensiver und präsenter ist als in jener Erzählung von der Stippvisite im Polizeikommissariat und ihrem harmlosen Ausgang. III. Schwule Kontrafaktur Immer wieder wurden und werden Rekurse auf (neo-)barocke Schreibweisen als Charakteristikum einer (homosexuell inspirierten) Ästhetik des camp interpretiert. 7 Susan Sontag selbst hält homosexuelles Begehren zwar nicht für die Bedingung eines Schreibens unter den Vorzeichen von camp , doch für eine sehr gute Voraussetzung. Da sie zugleich camp auf eine umfassendere Konzeption von erotics of art bezieht, unterstreicht sie die (zumindest potentiell) homoerotische Dimension von camp . Der Verweis auf die nordamerikanische Kulturkritikerin macht insbesondere deshalb Sinn, weil Gil de Biedma selbst sich mit dem Begriff camp auseinandergesetzt hatte, nachdem 1966 die Revista de Occidente Susan Sontags bahnbrechenden Text auf Spanisch publizierte. In 7 Cf. Krzystof Kulawik, Travestismo lingüístico. En enmascaramiento de la identidad sexual en la narrativa latinoamericana neobarroca , Madrid: Iberoamericana 2009. <?page no="258"?> einem Interview, das in einem der ersten Bände zur schwulen Kulturtheorie des Postfrankismus abgedruckt ist, versucht der Dichter, camp in Relation zum spanischen (tener) pluma zu setzen und betont dabei die politische Dimension des Tuntigen im spanischen Kontext. 8 Zentrales Element dieses Tuntendiskurses ist die Benutzung der grammatisch weiblichen Formen durch das sprechende (‚biologisch männliche‘) Ich, das wir als typisch sowohl im zeitgenössischen spanischen Kontext (paradigmatisch bei Mendicutti) als auch in Lateinamerika (Pedro Lemebel) finden. Schon in der 1. lira treffen wir zwei auf das sprechende Ich bezogene Adjektive bzw. Partizipien in weiblicher Form („inflamada“, v. 2, und „alocada“, v. 4), wobei das erste identisch mit dem Wort an gleicher Stelle des Hypotexts ist (und die gleiche Funktion erfüllt), während das zweite auf die loca , also die spezifisch hispanische Version des femininen Homosexuellen, der Tunte, verweist (innerhalb des Spektrums queerer Begehrensformen ist für mich dieser Begriff selbstverständlich frei von potentiell negativen Konnotationen! ). Während Gil de Biedmas barocker Prätext - folgt man Teuber - eine Lektüre erlaubt, die religiöse Erfahrung (im Sinne einer via divina ) unter die Vorzeichen eines profanen erotischen Begehrens setzt, verwandeln sich in dem modernen Text das religiöse framing , seine barocke Diktion und deren schwuler Doppelsinn in die konstitutiven Elemente eines camp -Diskurses, für den Gil de Biedmas Gedicht als eine Art Gründungstext betrachtet werden kann. Dieser anachronistische, oft outrierende Einsatz barocker Sprachelemente zur Parodie von Religiosität findet einen Höhepunkt in Eduardo Mendicuttis Roman Yo no tengo la culpa de haber nacido tan sexy (1997), der nicht die Noche oscura , sondern vor allem Teresa de Ávilas Las Moradas o El castillo interior persifliert. Mendicuttis Roman ist der erste Vers der hier kommentierten Parodie als Motto vorangestellt. Von tiefem Begehren, von erotischer Spannung oder gar von einer Liebesvereinigung erzählt Jaime Gil de Biedma in seiner ‚Dunklen Nacht‘ nichts (wohl aber in anderen Gedichten! ); die Parodie wäre dafür auch die falsche Textform. „Parody is an erotic turn-off“, stellt Leo Bersani fest, „and all gay men know this. Much campy talk is parodistic, and while that may be fun at a dinner party, if you are out to make someone you turn off the camp.“ 9 Gil de Biedma hat eher eine leichte Parodie verfasst, die auf die Ambiguität des Basistexts verzichtet und daher dessen (erotische) Spannung nicht erreicht. Dafür hatte sie das Zeug dazu, der tuntig-schwulen neobarocken und (pseudo-)religiösen Selbstinszenierung, die wir in der spanischen und katalanischen movida bei vielen Künstlern 8 Cf. Bruce Swansey, José Ramón Enríquez, „Una conversación con Jaime Gil de Biedma“, in: El homosexual ante la sociedad enferma , ed. J.R.E., Barcelona: Tusquets 1978, pp. 195-216. 9 Leo Bersani, Is the Rectum a Grave? and other Essays , Chicago: Univ. of Chicago Press 2010, p. 14. San Juan und die loca 259 <?page no="259"?> 260 Dieter Ingenschay (von Almodóvar bis Nazario, von Terenci Moix bis Ocaña und Mendicutti) antreffen, einen Prototyp zu liefern. IV. Die Parodie der noche oscura als divertimiento antiguo Freilich: im Augenblick des Verfassens seiner Kontrafaktur kann der Barceloneser Dichter die spätere Wirkung des darin entwickelten Tuntendiskurses nicht absehen. Doch die Versiertheit des Autors in der abendländischen Literaturgeschichte und sein höchst kreativer Umgang mit der Lyrik der Welt lassen nach weiteren Horizonten fragen, die diesen Text innerhalb der europäischen oder spanischen Literaturgeschichte verorten könnten. Noch einmal: der lyrische Text zeigt seine neobarock entfaltete schwule Alltagserfahrung in einer narrativen Struktur; die Anekdote vom nächtlichen Ausflug der Freundesclique, die kurzfristig auf der Polizeistation endet, bevor man die Beamten besticht, vermittelt eine fröhlich-positive Grundstimmung, die - anders als San Juans Vorgabe - neben das Ich auch ein Wir setzt und somit eine (implizite) Dialogizität zum Ausdruck bringt. Dieses Gedicht steht im Rahmen einer Serie, die ihr Verfasser als „Divertimientos antiguos“ bezeichnet, was die Frage aufwirft, worauf sich in diesem postromantischen, ja postmodernen Kontext antiguo beziehen mag - offensichtlich nicht auf eine griechisch-römische Antike. Ich vermute, Gil de Biedma erinnert sich an die im 12. Jahrhundert (etwa durch Shelomo Ibn Siqbel) nach Spanien importierte Gattungsform der macama . Diese definiert Carlos del Valle Rodríguez so: „Macama […] pasó a designar la conversación misma o pláctica que sería de divertimiento. Por último […], por macama se entiende un género literario específico, de relatos cortos, en prosa rimada, con unas especiales características. El elemento externo de la macama, la forma del lenguaje, es extremadamente importante, hasta el punto que en algunos casos se impone sobre el contenido y parece convertirse -la greguería, el barroquismo literario- en protagonista del relato“. 10 Wenn Gil de Biedmas „Noche oscura“ am Beginn der schwulen parodistischen und neobarocken Anverwandlungen des mystisch-religiösen Diskurses steht, so schafft der Autor dies nicht ex nihilo , sondern unter Benutzung einer Subgattung des divertimiento , deren konkrete Formvorgaben zu der Kontrafraktur hinzutreten. Neben der Parodie des religiösen Diskurses und der augenzwinkernd berichteten Anekdote von der missratenen schwulen Anmache steht in Gil de Biedmas „Noche oscura“ die Textualität der macama als die Instanz, die all diese diversen Aspekte zu binden vermag. 10 Carlos del Valle Rodríguez, „Introducción“, in: Judáh Ben Shelomo Al-Harizi, Las asambleas de los sabios (Tahkemoní), Murcia: Univ. de Murcia 1988, p. 20. <?page no="260"?> Mystische Rupturen im Grenzgebiet 261 Mystische Rupturen im Grenzgebiet Daniel Graziadei Oh, silencio, silencio… en torno de mi cama Tu boca bien amada dulcemente me llama. Alfonsina Storni, Silencio Internada en mi cuarto con mi intocada piel, en el oscuro velo con la noche. Embrazada en pesadillas, escarbando el hueso de la ternura me envejezco. Ya verás, tan bajo que me he caído. Días enteros me la paso atrancada con candado. Esa Gloria, ¿qué estará haciendo en su cuarto con la santa y la perversa? Mosquita muerta, ¿por qué ‘tas ta quietecita? Por que la vida me arremolina pa’ca y pa’ya como hoja seca, me araña y me golpea, me deshuesa - mí culpa por que me desdeño. Ay mamá, tan bajo que me he caído. Despierta me encuentra la madrugada, una desconocida aullando profecías entre cenizas, sangrando mi cara con las uñas, escarbando la desgracia debajo de mi máscara. Ya vez [sic] , tan bajo que me he caído. Se enmudecen mis ojos al saber que la vida no se entrega. Mi pecado no es la rebeldía ni el anajamiento. Es que no amé mucho, que anduve indecisa y a la prisa, que tuve poca fe y no fui dispuesta de querer ser lo que soy. Traicioné mi camino. Ya verás, tan bajo que me he caído. Aquí nomás encerrada en mi cuarto, sangrándome la cara con las uñas. Esa Gloria que rechaza entregarse a su destino. Quiero contenerme, no puedo y desbordo. Vas a ver lo alto que voy a subir, aquí vengo. I locked the door, kept the world out; I vegetated, hibernated, remained in stasis, idled. No telephone, no television, no radio. Alone with the presence in the room. Who? Me, my psyche, the Shadow-Beast? During the dark side of the moon something in the mirror catches my gaze, I seem all eyes and nose. Inside the skull something shifts. I “see” my face. Gloria, the everyday face; Prieta and Prietita, my childhood faces; Gaudi, the face my mother and sister and brothers know. And there in the black, obsidian mirror of the Nahuas is yet another face, a stranger’s face. Simultáneamente me miraba la cara desde distintos ángulos. Y mi cara, como la realidad, tenía un caracter [sic] multíplice. The gaping mouth slit heart from mind. Between the two eyes in her head, the tongueless magical eye and the loquacious rational eye, was la rajadura , the abyss that <?page no="261"?> 262 Daniel Graziadei no bridge could span. Separated, they could not visit each other and each was too far away to hear what the other was saying. Silence rose like a river and could not be held back, it flooded and drowned everything. Gloria Anzaldúa, Borderlands / La Frontera (1987) 1 Diese mehrsprachige, lyrische bis prosaische Verbalisierung einer Krisensituation findet sich in Kapitel 4, „La herencia de Coatlicue / The Coatlicue State“ (pp. 63-74), des essayistisch-autobiographischen ersten Teils („Atraversando Fronteras / Crossing Borders“ pp. 21-120) von Gloria Anzaldúas Borderlands / La Frontera: The New Mestiza , das 1987 erstmals veröffentlicht wurde. Genanntes Kapitel beginnt mit einem eigenwillig gesetzten Gedicht, „protean being“ (p. 63sq.), gefolgt vom halbseitigen Unterkapitel „Enfrentamientos con el alma“ (p. 64). Beide handeln vom (spirituellen) Sehen und Gesehen-Werden. Visualität ist zentral für das gesamte Kapitel und insbesondere die oben abgedruckte Passage: Verschiedene physische, soziale und spirituelle Möglichkeiten zu sehen, zu durchschauen, gesehen zu werden, nicht sehen zu können, nicht sehen zu wollen, sehend zu werden, usw. werden mehrsprachig entfaltet. In diesem Sinne findet der Schlusssatz der ‚Konfrontationen mit der Seele‘ eine gemeinsame Benennung für die vermeintlich gegensätzlichen Aspekte Gesehen-Werden und Durch-eine-Erfahrung-Hindurchschauen: „the Coatlicue state“ (p. 64). Dieser Zustand wird später näher beschrieben als angstvolles ‚Präludium zum Übergang‘, ausgelöst durch eine Weigerungshaltung: „My resistance, my refusal to know some truth about myself brings on that paralysis, depression - brings on the Coatlicue state“ (p. 70). Das hier relevante Unterkapitel „El secreto terrible y la rajadura“ führt diesen Zustand und die einhergehenden Verarbeitungs- und Wandlungsprozesse vor. Es beginnt - nach einem Motto zum negativen Einfluss von Scham - mit einer autobiographischen Notiz: „I was two or three years old the first time Coatlicue visited my psyche, the first time she ‚devoured‘ me (and I ‚fell‘ into the underworld). By the worried look on my parents’ faces I learned early that something was fundamentally wrong with me. When I was older I would look into the mirror, afraid of mi secreto terrible , the secret sin I tried to conceal - la seña , the mark of the Beast. I was afraid it was in plain sight for all to see.“ (p. 64). Die autobiographische Erzählinstanz schämt sich und fürchtet eine sichtbare Stigmatisierung ganz im Sinne der 25 Seiten zuvor hervorgehobenen allgemein menschlichen Furcht vor dem Übernatürlichen - „both the undivine (the animal impulses such as sexuality, the unconscious, the unknown, the alien) and the divine (the superhuman, the god in us)“ (p. 39) - und ihrer Instrumentalisie- 1 San Francisco: Aunt Lute Books 4 2012, pp. 65-67. <?page no="262"?> Mystische Rupturen im Grenzgebiet 263 rung zur Einkerkerung des Weiblichen im Rahmen einer männlich markierten „Cultural Tyranny“ (pp. 38-40). Damit könnte die Bestie und das Zeichen der geheimen Sünde auf das Reittier der Hure Babylon aus Apk 17 bezogen werden, das „Shadow-Beast“ ist in Borderlands allerdings zuallererst die Frau als „man’s recognized nightmarish pieces“ (p. 39) und entwickelt sich, zu Beginn des oben abgedruckten englischsprachigen Absatzes, zum geschlechtsunabhängigen Symbol der Bewusstwerdung unterdrückter Fragmente des Selbst. Die Verschriftlichung der rajadura zwischen magischer und rationaler Perspektive führt also zu keinen pittoresken Literarisierungen von Visionen, vielmehr zeigen die eingangs abgedruckten spanischsprachigen Zeilen im schonungslosen Detail und die darauffolgenden englischsprachigen in Zusammenfassung die psychischen und physischen Auswirkungen einer brutalen Heimsuchung durch Coatlicue . Die aztekische Erdgöttin mit dem Schlangenrock, die Mutter der Götter und der Gestirne, das weibliche Schöpfungsprinzip im Kreislauf aus Leben und Sterben wird von Anzaldúa mit Fokus auf ihren verschlingenden Charakter eingesetzt und als ‚Ruptur in der Alltagswelt‘, als ‚Zugang zur Unterwelt der Seele‘, zur Dunkelheit und zur Vereinigung der Gegensätze sowie als ‚Untergrund-Aspekt der Psyche‘ idiosynkratisch erweitert (p. 68sq.). Da Anzaldúa die Extremsituation der Heimsuchung außerdem als Besuch ‚bei der eigenen Psyche‘ bezeichnet, scheint das Werk mit dem Erscheinungsdatum 1987 keineswegs „una posdata, una necrología casi paródica, escrito en honor de un ‚realismo mágico‘ definitivamente periclitado“ 2 zu sein. Die spiritistisch-psychologische Öffnung ist keine wunderbar-wirkliche Normalität, sie löst vielmehr Furcht und Schrecken aus. Nur die kindliche Scham scheint überwunden: Wir lesen ein veröffentlichtes Bekenntnis. Dabei greift die personale Erzählstimme in den zitierten englischsprachigen Ausführungen im Sinne der mystischen Autobiographie auf den Unmöglichkeits- und Unsagbarkeitstopos zurück: Sprachlos ist die Magie („the tongueless magical eye“) und unüberbrückbar die Distanz („ la rajadura , the abyss that no bridge could span“) zur sprachgewandten Ratio („loquacious rational eye“). Die Unüberbrückbarkeit des Abgrunds, der Kluft oder Wunde, kann zwar nicht geheilt werden, aber obwohl kein Austausch möglich ist, finden Wechsel zwischen der magischen und der realistischen Perspektive statt. Diese Vervielfältigung der Perspektiven führt zu einer somatischen, psychischen, zerebralen, oder kognitiven Ausdifferenzierung („ mi cara, como la realidad, tenía un caracter [sic] multíplice “, p. 66), die über einfache Identitätskonstruktionen hinausreicht. Dabei wird die Heimsuchung der Coatlicue als Einverleibung durch ihren Schlan- 2 Bernhard Teuber, „Presencia de la ausencia en la poesía contemporánea de Hispanoamérica“, in: Iberoromania 40/ 2 (1994), pp. 74-94, hier p. 75. <?page no="263"?> 264 Daniel Graziadei genaspekt - „she ‚devoured‘ me“ - und Fall in ihre Totenreich- und Erdaspekte „(and I ‚fell‘ into the underworld)“ verbalisiert (p. 64). Selbst wenn die Anführungszeichen hier eine unübliche, esoterische Wortverwendung markieren sollten, so zeugen sie gleichwohl von der Unverträglichkeit des erklärenden Gestus mit den Ausdrucksformen des Unsagbaren. Schließlich verhüllen die negativen Denotationen, Konnotationen, Gefühle und Tätigkeiten - das schreckliche Geheimnis, das Zeichen des Biestes, die Selbstverachtung und das Zerkratzen des Gesichts - die mystische Erfahrung; sie wird nicht explizit. Diesbezüglich hat Bernhard Teuber in Sacrificium litterae eindrücklich vorgeführt, wieso die „allegorische Schreibweise des Johannes vom Kreuz […] als […] poetische Variante einer supplementären Kreuzesschrift “ und „allegorische Nichtung im Grunde genommen unsichtbar bleibt“ und „ganz ähnlich wie die Transverberation des Körpers der Teresa von Avila“ keine sichtbare Spur - keine sichtbare seña - hinterlässt, obwohl Körper und Text „auf eine ganz und gar unaussprechliche Weise markiert worden“ sind und „dieser poetische Körper“ „als ein markierter“ lesbar wird: „Wir bezeichnen eine solche inscriptio carnis , die immer auch eine inscriptio verbi ist, als mystische Erfahrung“. 3 Die zitierte Passage aus Gloria Anzaldúas Essay- und Lyrikband verweist explizit auf die Abwesenheit der seña und vollführt die unsichtbare Einschreibung einer mystischen Erfahrung durch die Hervorhebung physischer und psychischer Reaktionen. Das Werk ist dementsprechend mehr als ein politischer Text zur Emanzipation der Chican@s 4 und etabliert nicht nur physische und kulturelle Grenzgebiete als positiv besetzten dritten Raum, aus dem ein neues subalternes, hybrides und queeres Bewusstsein hervorgehen kann: Es ist zudem als mystische Autobiographie lesbar, die spirituell-psychologische Grenzgebiete einbezieht. Die Mystik ist hierbei deutlich synkretistisch, schließlich hebt Anzaldúa die Virgen de la Guadalupe als das ‚allerstärkste religiöse, politische und kulturelle Bild der Chicanos und Mexikaner‘ hervor und führt sie auf eine ‚ganze Genealogie an Nahua Göttinnen‘ zurück. 5 Indem sie Guadalupe mit mesoamerikanischen Fruchtbarkeits- und Erdgöttinnen „such as Coatlicue, Tlazolteotl, Cihuacoatl, and Tonantzin“ in Verbindung bringe, geselle sie sich - laut Irene Lara - zu jenen „Chicana visual artists“, die die Dekonstruktion der überakzentuierten spanischen Identität und Marientradition als feministischen Erinnerungspro- 3 Bernhard Teuber, Sacrificium Litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink 2003, p. 514. 4 Die Verwendung des At- oder Ad-Zeichens in der Bezeichnung für US-Mexikaner markiert eine dritte, inklusive und queerende Möglichkeit, die über chicana und chicano hinausreicht. 5 Irene Lara, „Goddess of the Américas in the Decolonial Imaginary: Beyond the Virtuous Virgen/ Pagan Puta Dichotomy“, in: Feminist Studies 34/ 1-2, (2008), pp. 99-127, hier p. 108. <?page no="264"?> Mystische Rupturen im Grenzgebiet 265 zess vorantreiben: „Anzaldúa’s re-memberment of Guadalupe (Coatlalopeuh) […] is an act of decolonizing a Christian-based ideology of feminized flesh and masculinized spirit.“ 6 Der synkretistisch-feministische Blick hebt zudem, v. a. in Fußnoten, weitreichendere Relationen und Übersetzungsmöglichkeiten hervor: etwa eine mögliche arabische Provenienz der Bezeichnung Guadalupe in Fußnote 14 („Algunos dicen que Guadalupe es una palabra derivada del lenguaje árabe que significa ‚Río Oculto‘“, p. 116), oder in Fußnote 17 die Zusammenführung der Jungfrau Maria mit Azteken, Maya, und Inka Göttinnen, aber auch mit der Yoruba Göttin Yemayá, die in afroamerikanischen Synkretismen mit Maria gleichgesetzt wird. 7 Die matrifokale Position erlaubt dabei keine präkolumbische Nostalgie, vielmehr wird der Beginn des patriarchalen Narrativs bereits im Mexica-Imperialismus situiert; „Anzaldúa does not romanticize nor create a new dichotomy between Catholic desconocimientos versus Mexica conocimientos .“ 8 Wie es der Untertitel The New Mestiza bereits andeutet, versucht dieses Werk die Skizze einer neuen Frau, einer Frau zwischen den Kulturen, einer Frau, der die Zukunft gehört. Die neue Mestizin - „Indian in Mexican culture […] Mexican from an Anglo point of view“ (p. 101) - entwickelt eine Toleranz für Widersprüchlichkeiten und Ambiguität. Sie ist eine kulturelle Übersetzerin, die dort operiert, wo eine Vereinigung aller Differenzen möglich ist und die Synthese durch ein neues Bewusstsein, eine „ mestiza consciousness“, über die Summe der (ab-)getrennten Einzelteile hinausführen kann (p. 101sq.). Die heilende Restitutions- und Überbietungsgeste des Mestiza- Bewusstseins überführt die Gewalt der transculturación per déconstruction und synkretistischer Mythopoietik in eine neue Perspektive auf Realität und Selbst. Die Entstehung einer Grenzkultur und eines Grenzbewusstseins aus der Mehr- und Zwischensprachigkeit sowie der Ambiguität im dritten Raum von la frontera wird positiv hervorgehoben. Dementsprechend praktiziert Anzaldúa nicht nur religiöse, sondern auch sprachliche Vermischung - „from English to Castilian Spanish to the North Mexican dialect to Tex-Mex to a sprinkling of Nahuatl to a mixture of all of these“ (p. 20) -, wenngleich mit einer gewissen Rücksicht auf das literarische Feld: Borderlands / La Frontera kann dementsprechend als ‚Sammlung persönlicher Essays und Gedichte‘ bezeichnet werden, deren Mehrsprachigkeit den 6 Ibid., p. 108. 7 Die Virgen de la Guadalupe wird hierbei in Beziehung gesetzt mit der mir - und auch dem von Anzaldúa zitierten Geoffrey Parrinder - unbekannten aztekischen „Teleoinam“, mit der Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin Göttin „Ixchel“ (oder Ix Chel ) der Mayas, mit der Inka Urmutter und Göttin allen Wassers und der Weiblichkeit „Mamacocha“ (oder Mama Qucha ) sowie mit der aus Westafrika übersetzten Orisha allen Lebens, der Mutterschaft und allen Wassers auf Erden: „Yemayá“ (p. 116). 8 Lara, „Goddess of the Américas“, p. 109. <?page no="265"?> 266 Daniel Graziadei einsprachig englischsprachigen Leser abwechselnd kritisiert, abspenstig macht und ihm hilft. 9 Da „[k]onzeptuell betrachtet […] die Diversität der Konvergenz [bedarf], eines ihr entgegen gesetzten Zentrums, an dem sich alles ausrichtet und von dem sich die Diversität überhaupt erst abstoßen, von dem sie sich fortbewegen kann“ 10 , ist diese Strategie vielleicht symptomatisch für die queere Chican@-Identität: Die WASP und der heteronormative Machismus erzeugen jene soziale und sprachliche Marginalisierung, die Anzaldúa zur Autorisierung und Privilegierung der eigenen Sprecherposition verwendet. 11 Der Leser, der sowohl amerikanisches Englisch wie mexikanisches Spanisch versteht, erhält eine ähnliche Privilegierung über den Einsprachigen. Die Borderlands können also keinesfalls auf geologische Gegebenheiten und geographische rote Linien reduziert werden, sie beinhalten auch sprachliche, soziale, epistemische, psychologische, sexuelle und spirituelle Überlappungsbereiche. Zugleich handelt es sich um textuelle Grenzgebiete mit markierten Intertextualitäten, wie etwa im vorangestellten Motto, das aus Alfonsina Stornis in Paarreimen verfasstem Gedicht „Silencio“ stammt. 12 Das lyrische Ich, das bei Storni eingangs den eigenen Tod und scheinbar positiv konnotierte postmortale Veränderungen vorhersieht, 13 sehnt in der von Anzaldúa ausgewählten Versgruppe eine geliebte Stille herbei, die personifiziert im Zimmer umgeht: Sie umkreist das Bett und scheint kein bisschen leise nach dem lyrischen Ich zu verlangen. Formal scheint Anzaldúa die Wiederholungen an exponierten Positionen des Prosatexts an die repetitiven Anaphern des Gedichts anzulehnen, das Herumgeistern und die herbeigesehnte Stille finden sich in der Ausnahmesituation der gepeinigten und der sich peinigenden Protagonistin; beide befinden sich im isolierten Privatissimum Schlafzimmer und schreiben darüber. Das Motto unterschlägt hierbei die tödliche Kontextualisierung der Stille und scheint eine positivere Interpretation zuzulassen: „Esa Gloria“ ist zwar für ihr soziales Umfeld von Anfang an „ ta quietecita “, derart leise, dass dies Fragen aufwirft (p. 66), sie selbst scheint den Coatlicue Zustand allerdings als übermäßig geräuschvolle Schlägerei und Tortur zu empfinden und kommt nach einer 9 Cf. Marlene Hansen Esplin, „Self-translation and Accommodation: Strategies of Multilingualism in Gloria Anzaldúa’s Borderlands / La Frontera: The New Mestiza and Margarita Cota-Cárdenas’s Puppet “, in: MELUS 41/ 2 (2016), p. 178. 10 Bernhard Teuber, „Diversität und Konvergenz an der Wurzel - Perspektiven der Romanistik in Zeiten der Globalisierung“, in: Romanische Studien 3 (2016), pp. 539-558, hier p. 542. 11 Cf. Marlene Hansen Esplin, „Self-translation and Accommodation“, p. 179. 12 Alfonsina Storni, Obras completas , vol. I: Poesías completas , Buenos Aires: Soc. Ed. Latino Americana 1990, pp. 127-129, die Verszeilen des Mottos befinden sich auf p. 129. 13 „Un día estaré muerta, blanca como la nieve, [/ ] dulce como los sueños en la tarde que llueve.“ Alfonsina Storni, Obras completas, p. 127. <?page no="266"?> Mystische Rupturen im Grenzgebiet 267 durchwachten Nacht als Unbekannte ‚Prophezeiungen heulend‘ zu Bewusstsein. Dementsprechend wird die Stille am Ende der oben zitierten Textstelle als überlebenswichtiger Abschluss des liminalen Akts in der Persönlichkeitsentwicklung der neuen Mestizin lesbar, durch ihre sintflutartige Qualität bleibt der tödliche Aspekt des Mottos und der verschlingende der Coatlicue dennoch erhalten: „Silence rose like a river and could not be held back, it flooded and drowned everything“ (p. 67). Die Stille markiert hierbei auch das Ende der Laute, das Ende des sprachlichen Zugriffs auf Erfahrung und Erkenntnis. Sie beschließt somit einen Erkenntnisprozess, der von einer Verschiebung der scheinbar generischen Anklage des Lebens („ la vida me arremolina “) auf die Sprecherin und ihre Selbstgeringschätzung („ mí culpa por que [sic] me desdeño “), über die existentielle Gewissheit, dass sich ‚das Leben nicht ergibt‘, bis hin zum Eingeständnis eines Verrats am eigenen Weg aufgrund von fehlender Liebe, geschäftiger Unentschiedenheit, Kleingläubigkeit und fehlender Bereitschaft zur Selbstakzeptanz zu führen scheint. „ Traicioné mi camino “ durchbricht in der vierten Versgruppe das Schema der Endungen auf „ tan bajo que me he caído “, die als Vision eines tiefen Falls, als Anruf an die Mutter und als kolloquialer Hinweis an ein Du strukturierend am Ende der Versgruppen eingesetzt werden und als Fall in die Erdmutter „(and I ‚fell‘ into the underworld)“ nicht bloß negativ zu verstehen sind. Die Tiefe des Falls in die Erkenntnis tritt dafür zu Beginn der fünften Versgruppe in Szene; beide reimen auf „ Esa Gloria que rechaza entregarse a su destino “, den letzten Satz vor dem endgültigen Kontrollverlust. Die erfolglos bekämpfte Grenzüberschreitung überführt den vergangenen Fall („ me he caído “) in ein präsentisches Ausufern und die Prophezeiung eines sichtbaren Höhenflugs der am Ende dieses letzten Verses beginnt: „ Quiero contenerme, no puedo y desbordo. Vas a ver lo alto que voy a subir, aquí vengo “ (p. 66). Die new mestiza consciousness in Borderlands / La Frontera entwickelt sich demnach aus spiritistisch, spirituell und psychologisch interpretierten Grenzerfahrungen, die, ohne magisch-realistische Folklore zu erzeugen, in synkretistisch-mythische Perspektiven eingebunden sind und zu einer spezifisch mystischen Haltung zu führen scheinen, „die zu immer neuem Aufbruch drängt, ohne dass sie an ein im Voraus bekanntes Ziel gelangen könnte.“ 14 Dieser mystische Aspekt, nach der weitgefassten Definition von Bernhard Teuber, wurde in der Besprechung und Weiterentwicklung von Anzaldúas Grenzdenken bislang zu wenig beachtet. 14 Bernhard Teuber, „Die mystische Mär - Michel de Certeaus postmoderne Relecture der christlichen Tradition“, in: Die Kirchenkritik der Mystiker - Prophetie aus Gotteserfahrung, edd. Mariano Delgado, Gotthard Fuchs, Stuttgart: Kohlhammer 2005, pp. 225-240, hier p. 235. <?page no="268"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 269 War San Juan de la Cruz ein Moderner? Anmerkungen zu Bernhard Teubers Sacrificium litterae Walter Bruno Berg Die Schriften des Autors werden dezidiert - und seit dem 11. September 2001 nicht unzeitgemäß - in den Horizont einer radikalen Gottessuche gestellt, freilich ohne dass dabei die Antworten einer traditionellen Metaphysik fraglos übernommen würden. Vielmehr ist gerade die Frage nach dem unsichtbar-unsinnlichen Gott bei San Juan de la Cruz unauflöslich mit der Frage nach der sicht- und fühlbaren Materie, nach dem Menschenleib aus Fleisch und Blut, nach dem erotisch-sinnlichen Begehren verschränkt. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae (2003) 1 Zu fragen bleibt nach der Semiotik eines solchen Kreuzeszeichens, das Körper und Texte gleichermaßen markieren kann und darum anscheinend ihr Anderes ist. […] Edith Stein hatte das Wahrzeichen des Kreuzes bestimmt als ein Werkzeug: „Es ist also ein Zeichen, aber eines, dem seine Bedeutung nicht künstlich angeheftet ist, sondern wahrhaft zukommt auf Grund seiner Wirksamkeit und seiner Geschichte.“ Das Kreuz wird verstanden als jener Grenzfall eines Zeichens, das weder φύσει noch θέσει weder von Natur aus noch durch konventionelle Setzung, einen Sinn besitzt. Gewissermaßen besitzt es überhaupt keinen Sinn, sondern bringt diesen erst hervor, indem es sich anderswohin einschreibt - als Spur nicht eines Sinns, sondern einer werkzeughaften Materialität. Das Medium dieser Einschreibung des Kreuzes ist, wie Edith Stein schreibt, die Geschichte. Innerhalb der christlichen Religion ist diese Geschichte auch - und wahrscheinlich vor allem andern - eine Geschichte der Körper, und sie artikuliert sich darum folgerichtig unter anderem im Buchstabenspiel der Schrift, das seinerseits für den Körper einsteht. […] Die Geburt des Kreuzeszeichens nicht aus dem Geist eines selbstmächtigen Subjekts, sondern aus der Widerständigkeit einer sinnlosen Materialität: reiner Signifikant, der des Signifikats und des Sinns ermangelt, aber nur in diesem Mangel auf ein Anderes seiner selbst verweisen kann. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae 2 1 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und Mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 9. 2 Ibid., p. 508sq. <?page no="269"?> 270 Walter Bruno Berg Le mot « Dieu » ne saurait désigner une substance, mais la reprise d’une subsistance constamment risquée, et même, pourrait-on dire, le chemin de cette reprise, à la fois parole et être, logos. On ne peut le dire qu’en tremblant car il faudrait pouvoir donner à l’expression tout son poids de réalisme : ces entités ont ceci de particulier d’être des façons de parler. Si vous ratez la manière de bien les parler, de bien en parler, si vous ne les dites pas dans le bon ton, la bonne tonalité, vous leur enlevez tout contenu. De simples façons de parler ? N’est-ce pas leur faire perdre toute assise ontologique ? Exigence effrayante, au contraire, qui devrait faire taire des centaines de milliers de sermons, de prônes, de prêches : si vous parlez sans que votre parole convertisse, vous ne dites rien. Pire, vous péchez contre l’Esprit. […] La peur de commettre une erreur de catégorie, voilà ce qui tient en suspens les fidèles. Pas une fois dans les Écritures, on ne trouve la trace d’un appelé qui pourrait se dire sûr, vraiment sûr, que les êtres de la Parole étaient là et qu’il avait compris pour de bon ce qu’ils lui voulaient. Sauf les pécheurs. C’est même le critère de vérité, le schibboleth le plus décisif : les fidèles tremblent de se tromper, les infidèles pas. Exactement le chiasme que la transmigration de la religion dans le fondamentalisme a perdu en le remplaçant par une différence aussi absolue qu’impossible entre ceux qui croient et ceux qui ne croient pas ! Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence (2012) 3 I. Der besondere Rang der Teuber’schen Abhandlung Sacrificium litterae liegt zweifellos in der Verbindung einer umfassenden, am klassischen und mittelalterlichen Latein geschulten Gelehrsamkeit mit ‚postmodernen‘ Denk- und Analysemodellen der Dekonstruktivisten, unter ihnen Jacques Derrida, Paul de Man und vor allem der in der Derrida-Generation hoch angesehene, zu den Gründungsvätern des Pariser Collège de sociologie zählende Ethnologe Georges Bataille. Auch im vierzehnten Jahr ihrer Drucklegung besticht die Arbeit durch ihren ungewöhnlichen Scharfsinn sowie die Stringenz, mit der der Theorieansatz auf allen Ebenen der Analyse Anwendung findet. Doch das Ziel der folgenden Zeilen besteht nicht nur in der erneuten Würdigung der ins Auge springenden Verdienste der Abhandlung, sondern auch im Versuch einer relecture unter expliziter Zugrundelegung des historischen Abstandes, der uns heute - 2017 - von der Entstehungszeit der Arbeit, die der Verfasser selbst im Vorwort als die Jahre zwischen „1991 und 1994“ 4 angibt, trennt. 3 Bruno Latour, Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des Modernes , Paris: La Découverte 2012, p. 311sq. 4 Teuber, Sacrificium litterae , p. 9. <?page no="270"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 271 ‚Historischer Abstand‘ - woran bemisst er sich? Wodurch entsteht er? Natürlich nicht nur durch das Verstreichen von Jahren, etwa einem Vierteljahrhundert wie im vorliegenden Falle, sondern eher durch bestimmte prägende - sagen wir - ‚epochale‘ Ereignisse. Letztere lassen sich nicht mit Stillschweigen übergehen. Sie zwingen uns, Stellung zu beziehen, uns mit neuen Perspektiven, neuen Sichtweisen zu befassen. Ein solches Ereignis war zweifellos die nine-eleven -Tragödie von 2001. Teuber selbst erwähnt sie im „Vorwort“. Die Liebeslyrik des San Juan de la Cruz, so erklärt er, werde in der Abhandlung „dezidiert - und seit dem 11. September 2001 nicht unzeitgemäß - in den Horizont einer radikalen Gottessuche gestellt“ 5 . Alles deutet darauf hin, dass der lediglich aus acht Wörtern bestehende Einschub als das Ergebnis einer spontanen Eingebung, einer Reaktion auf die Eilmeldungen aus New York zu betrachten ist. Zeit, den provokanten Vergleich zwischen der Liebeslyrik des heiligen Johannes vom Kreuz und den (massen-)mörderischen Anschlägen der islamistischen Eiferer mittels des tertium comparationis der „Gottessuche“ zu kommentieren - oder gar zu rechtfertigen - bleibt nicht mehr. Der Verlag drängt auf Rückgabe der ‚Fahnen‘. Weder auf dieser noch auf den folgenden Seiten der Abhandlung kommt Teuber deshalb auf den Vergleich zurück. Aber er ist ihm wichtig… Dass Teubers Beschäftigung mit der mystischen Liebeslyrik des San Juan de la Cruz den Horizont einer streng philologisch bzw. historistisch ausgerichteten Untersuchung überschreitet - und damit für die Einbeziehung aktueller Fragestellungen der sog. ‚Zeitgeschichte‘ grundsätzlich offen bleibt -, zeigt nicht nur der erwähnte kurze Einschub zu nine-eleven , sondern insbesondere auch der Rückgriff auf den von der heilig gesprochenen Philosophin Edith Stein geprägten Begriff der „Kreuzesschrift“, dem das fünfte (und letzte) Kapitel der Abhandlung gewidmet ist. Leider versäumt es Teuber auch hier, den Begriff der „Kreuzesschrift“ - dem der Bezug zu einer grundsätzlich ‚historischen‘ Fragestellung des fait religieux keineswegs fremd ist 6 - systematisch zu thematisieren. So bleibt die in methodologischer Hinsicht fast als ausschließlich zu bezeichnende Orientierung der Abhandlung an sog. ‚postmodernen‘ Autoren. Die Frage kann deshalb nicht ausbleiben, inwieweit das von Teuber trotz souveräner Kenntnis der theologischen und literarischen Verhältnisse des 16. Jahrhunderts erstellte San Juan de la Cruz-Bild nicht doch, unter der Hand des polyglotten Philologen gewissermaßen, die Konturen eines (europäischen) Modernen des 20. oder 21. Jahrhunderts angenommen hat, dessen Konterfei sich ggf. auch als Geheimwaffe gegen die grassierende Steinzeit-Religiosität der Islamisten in Anschlag bringen ließe. 5 Ibid. (Hervorhebung W.B.B). 6 Cf. Teuber, Sacrificium litterae , p. 508sq. <?page no="271"?> 272 Walter Bruno Berg II. Damit sind wir am eigentlichen Punkt unserer Fragestellung angelangt: War San Juan de la Cruz ein Moderner? Inspiriert wurde meine Frage durch Bruno Latour. „Wir sind nie modern gewesen“ 7 , behauptet der Autor. In Kapitel 11 seines Grundlagenwerkes Enquête sur les modes d’existence 8 beschäftigt sich Latour mit den „êtres sensibles à la Parole“, also der Frage, was unter der ‚Existenzweise‘ der Religion zu verstehen sei. Seine Ausführungen sollen hier als Vergleichspunkt genommen werden, um die ‚Modernität‘ des San Juan de la Cruz zu beurteilen. III. „Nous n’avons jamais été modernes“ ist eine Vorstudie zur Enquête sur les modes d’existence . Ein Blick auf die Thesen der Letzteren ist daher unabdingbar. Latours Enquête ist vor allem auf die Kritik der cartesianischen Zweiteilung der Welt als res cogitans und res extensa bezogen, verbunden also mit der Dekonstruktion der Institution des neuzeitlich-cartesianischen Subjekts als „maître et possesseur de l’univers“, wie es im Discours de la méthode programmatisch formuliert wird. An seine Stelle soll die Vielzahl der Existenzweisen („modes d’existence“) treten, die nicht durch den Filter der kantischen Erkenntniskritik, sondern anhand des Realismus-Konzepts von Alfred North Whitehead analysiert werden sollen. Hand in Hand mit dieser Kritik geht das Postulat einer alternativen Ontologie: Während mit der Institution des cartesianischen Subjekts eine Ontologie der Selbigkeit („être-en-tant-qu’être“) postuliert wird, eröffnet die Theorie der „modes d’existence“ den Erfahrungshorizont der grundsätzlichen Andersheit des Seins („être-en-tant-qu’autre“). Diese Offenheit ist die conditio sine qua non aller religiösen Erfahrung. Von allen Existenzweisen ist die Religion daher die prekärste. Um sie zu bezeichnen, hat Latour verschiedene Begriffe parat. An erster Stelle natürlich die „êtres de la religion“, dann aber vor allem die „êtres porteurs de salut“ 9 , dann aber auch die „êtres de la parole“, ein Begriff, mit dem das gesamte Kapitel überschrieben ist. 10 7 Cf. Bruno Latour, Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symmétrique , Paris: La Découverte 1991. 8 Cf. Latour, Enquête , pp. 297-326. 9 Cf. Latour, Enquête p. 308sq. 10 Cf. Latour, Enquête , p. 297sqq. Das Religionsmodell, das Latour vor Augen hat, ist das christliche, wie er unumwunden erklärt (cf. p. 307). Die Protagonisten der Modellsituation der „êtres porteurs de salut“ verdienen daher den Begriff „Engel“ (cf. p. 306). Die Urszene ihres Auftritts ist die „Verkündigung“. <?page no="272"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 273 Wo sind wir gelandet mit diesem Rückgriff auf Latours Untersuchung zu den Existenzweisen, vice versa , den „êtres de la religion“? Zum einen bei der Frage nach dem, was wir unter ‚Religion‘ bzw. dem Phänomen des ‚Religiösen‘ - also damit auch unter dem oben erwähnten tertium comparationis der „Gottessuche“ - überhaupt verstehen wollen; zum anderen jedoch - und nun muss sich der Blick dezidiert auf den mit ‚ post modernen‘ Kategorien verständlich gemachten Mystiker San Juan de la Cruz richten - auf die mit den Ergebnissen der Abhandlung Teubers unwiderruflich aufgerufene Frage nach der Moderne . Was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf, ist die insbesondere in den letzten Kapiteln der Enquête immer entschiedener thematisierte Prätention des Autors, es bei dieser Kritik der Moderne keineswegs endgültig bewenden zu lassen, sondern - natürlich auf der Basis der Theorie der Existenzweisen - eine alternative Theorie der Moderne zu präsentieren. Fassen wir uns kurz, um es auf eine Formel zu bringen: ‚Moderne‘ (also die von Latour vertretene) steht gegen „Moderne“ (also die klassische, insbesondere dem Cartesianismus verpflichtete Moderne). Auf welcher Seite situieren wir San Juan de la Cruz, wie er uns in der Teuberschen Abhandlung Sacrificium litterae entgegentritt? IV. Kommen wir zurück zum tertium comparationis der „Gottessuche“. Wenn unsere Hypothese richtig ist, dass es sich um einen unter Zeitnot formulierten und unter Raumnot stehenden ‚Einschub‘ handelt, so ist vielleicht nicht nur der Begriff („Gottessuche“), sondern auch das tertium comparationis selbst revisionsbedürftig. Aber es gibt ja noch einen weiteren Vergleichspunkt, der der Überprüfung bedarf: In beiden Fällen steht das fast als ein kulturelles universale zu bezeichnende Phänomen des Opfers im Zentrum. Die Zahl der Todesopfer von nine-eleven wird im Internet mit 3.000 beziffert. Man spricht von „terroristischem Massenmord“ 11 . Teuber seinerseits stellt die Liebeslyrik von San Juan de la Cruz unter den Sammelbegriff eines Sacrificium litterae . Selbst wenn man unter den litterae nicht die Buchstaben sieht - wie wörtlich zu übersetzen wäre -, sondern die Wörter, käme man zu einer unvergleichlich höheren Opferzahl als bei Bin Laden. Erneut springt die Absurdität des Vergleichs, auch wenn man von den entscheidenden Unterschieden absieht, ins Auge - zumindest in numerischer Hinsicht. Bin Laden opfert Menschen - unterschiedlichster Herkunft, Rasse und Religion. Setzen wir voraus, dass er wirklich ein „Gottessucher“ ist, so müssen wir 11 Cf. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Terroranschl%C3%A4ge_am_11._September_2001 (01.03.2018). <?page no="273"?> 274 Walter Bruno Berg davon ausgehen, dass er selbst glaubt, durch dieses Massaker ‚ins Himmelreich‘ zu gelangen. Die Geopferten fahren in die Hölle. Was jedoch ist gemeint mit dem Buchstaben -Opfer? San Juan de la Cruz opfert Buchstaben, also das Wort , die überlieferte Botschaft des Heils in ihrem wörtlichen, buchstäblichen Sinn. Ein Sammelbegriff für diesen unerhörten Vorgang wäre der einer Kreuzesschrift . Erst auf den letzten Seiten der Abhandlung wird der Begriff erläutert, den Teuber als Gesamttitel seiner Untersuchung gewählt hat und der der unvollendet gebliebenen Habilitationsschrift der von den Nazis ermordeten Karmelitin Edith Stein entnommen ist. Keineswegs jedoch ist der Titel lediglich als eine ‚Übersetzung‘ (im Sinne einer schlichten translatio ) des Steinschen Schlüsselbegriffs zu betrachten, sondern als dessen - wenn man so will - zukunftsweisende, in einem zumindest sprachgeschichtlich paradoxen Sinne - ‚moderne‘ Transkription 12 . Die Sinnerweiternde Funktion der Transkription bezieht sich auf beide Elemente des compositum - das ‚ Kreuz‘ einerseits, die ‚ Schrift‘ andererseits. Die Begriffe ‚ Kreuz‘ und ‚ Schrift‘ werden bei Edith Stein zunächst einmal ganz im Sinne der traditionellen theologischen Fachsprache verwendet; bei Teuber dagegen sind sie explizit mit ‚dekonstruktivistischen‘, ja ‚postmodernen‘ Inhalten verbunden. Teuber erinnert in seinen Erklärungen an die Definition des „Kreuzeszeichens“ bei Edith Stein als Wahrzeichen . Stein bezieht sich mit dem Begriff offenbar auf die ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums, in denen Jesus Christus selbst, die inkarnierte Gottheit, mit dem verbum bzw. dem logos gleichgesetzt und zugleich die Behauptung vertreten wird, mit seiner Geburt und späteren Wirksamkeit sei eine neue Ära der Geschichte eingeleitet worden. Ein „Wahrzeichen“, wenn es denn ein ‚Zeichen‘ sein und bleiben soll, kann also nur von außen kommen, von einem ‚ Anderen‘ her. Natürlich ist „das Projekt einer solchen Semiotik des Kreuzes“ ein „Grenzfall eines Zeichens “, also (ebenfalls) ein „Grenzzeichen“, allerdings eines, mit dem mehr gemeint sein muss, als wir es damals bei unseren Analysen des Werkes von Julio Cortázar im Sinne hatten 13 , ein Zeichen nämlich, „das weder φύσει noch θέσει weder von Natur aus noch durch konventionelle Setzung, einen Sinn besitzt“ 14 . Es bricht in die Geschichte ein, es verändert damit die Geschichte, es setzt für die Geschichte ein neues Alpha et Omega , aber nicht nach Maßgabe einer auf menschlichen Konventionen beruhenden Semiotik, sondern einer göttlichen. „Inkarnation“ ist insofern 12 Cf. Walter Bruno Berg, Literarische Transkription. Theorie und exemplarische Analyse: Edgardo Rivera Martínez. Jorge Luis Borges. Inca Garcilaso de la Vega. Guillermo Cabrera Infante. Severo Sarduy. Roberto Bolaño. Alberto Fuguet. Günter Grass, Berlin: LIT 2014. 13 Cf. Walter Bruno Berg, Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart , Frankfurt a.M.: Vervuert 1991. 14 Teuber, Sacrificium litterae , p. 508. <?page no="274"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 275 immer Offenbarung und Arkanisierung zugleich. Christliche Theologie kann nichts anderes sein - so Teuber im Anschluss an Dionysius Areopagita - als allegoria tota , d. h. eine Rede von Gott, die das, was sie zu sagen hat, im gleichen Augenblick, in dem sie es sagt, vernichtet und als uneigentliche, also letztlich falsche, im wörtlichen Sinne nicht gemeinte Rede deklariert. Sie bringt sich in diesem Akt der Gottheit gewissermaßen selbst dar. Der traditionelle ethnologische Ausdruck für diesen Vorgang lautet ‚Opfer‘. Es versteht sich, dass der Vorgang also solcher niemals an ein Ende gelangt, denn die Diskrepanz zwischen Bedeutungsträger und Bedeutung bleibt unaufhebbar. In der Perspektive des körpergebundenen Bedeutungsträgers kann die Unerreichbarkeit der transzendenten Bedeutung mithin nur, gewissermaßen, zu einer Perpetuierung des Opfers führen und damit nur in jenen Verschwendungsritus einmünden, der bei George Bataille als „Potlatsch“ bezeichnet wird. 15 Der Potlatsch als die unheilige Vergegenwärtigung des Heiligen mit den Mitteln einer säkularen, ja bisweilen die Grenzen des Perversen deutlich überschreitenden Körperlichkeit: dies ist für Teuber der Schlüssel zum Verständnis der Liebeslyrik des San Juan de la Cruz, gebunden, allerdings, an das ebenfalls durchaus als säkular zu verstehende „Wahrzeichen“ der jouissance , wie sie durch Berninis berühmte Marmorskulptur der Santa Teresa von Ávila an die Nachwelt überliefert wird. V. Zurück zu den vermeintlichen „Gottessuchern“ des ‚11. September‘. Was unterscheidet sie vom heiligen Johannes vom Kreuz? Zunächst einmal vor allem dies : Während San Juan de la Cruz die Gottessuche auf die Spitze treibt, indem er sich selbst als „selbstmächtiges Subjekt“ 16 gewissermaßen auslöscht, um die Sprache der Verkündigung der Botschaft des Heil bringenden Gottes an die Negativfolie der ‚gekreuzigten‘ Sprache 17 zu delegieren - bzw. der „Widerständigkeit einer sinnlosen Materialität “ 18 -, haben die Gotteskrieger ihren Gott längst gefunden und überziehen die Menschheit besten Gewissens mit Verderben und blankem Mord. Der Gegensatz könnte nicht schärfer konturiert sein: Selbstermächtigung des mörderischen Subjekts im Namen des unfehlbaren und einzigen Gottes auf der einen, radikale Ent-mächtigung des Dichter-Subjekts im Namen des „Kreuzeszeichens“ 19 auf der anderen Seite; bedenkenlose Vernichtung des Anderen 15 Cf. Georges Bataille, „La notion de dépense“, in: Id., La Part maudite, ed. Jean Piel, Paris: Minuit 1967, pp. 23-45. 16 Teuber, Sacrificium litterae , p. 509. 17 Cf. ibid., pp. 47-87. 18 Ibid., p. 509. 19 Ibid. <?page no="275"?> 276 Walter Bruno Berg hier, „reiner Signifikant, der des Signifikats und des Sinns ermangelt, aber nur in diesem Mangel auf ein Anderes seiner selbst verweisen kann“ 20 , da. Die Opposition erinnert an das in fataler Weise missverständliche Statement des großen Karl-Heinz Stockhausen, nine-eleven sei „das größtmögliche Kunstwerk , was es je gegeben“ 21 habe. Stockhausen geht es gewiss nicht um die Verteidigung des islamistischen Terrors, aber die Bedenkenlosigkeit, mit der das Statement formuliert ist, zeigt doch andererseits, dass sein Kunstwerk-Begriff durchaus in der Tradition eines - in der Diktion von Teuber - „selbstmächtigen Subjekts“ zu lokalisieren ist, die vom mittelalterlichen deus artifex sowie dem nach diesem Urbild geformten homo faber im 19. Jahrhundert in die Kopfgeburt der von Nietzsche und Wagner erfundenen Gestalt des modernen Künstlers einmündet, die beide Vorstellungen in sich vereinigt und mit der Idee des Gesamtkunstwerks noch zu übertreffen sucht. Die Idee der Kreativität wird zur Paranoia und verleitet einen der luzidesten Vertreter der zeitgenössischen Musik dazu, den Fundamentalismus der islamistischen Mörderbanden mit dem Projekt der ‚klassischen‘ Moderne gleichzusetzen. Teubers Lektüre der mystischen Poesie des San Juan de la Cruz ist gegen dergleichen Versuchungen gefeit. Der methodologische Rückgriff auf die durch Derrida inspirierte postmoderne Sprachkritik, welche die Voraussetzung bildet für das im letzten Kapitel (mehr angedeutet als stringent) entwickelte Konzept der „Kreuzesschrift“, hat den von Stockhausen noch vehement affirmierten Subjektbegriff der künstlerischen Moderne definitiv hinter sich gelassen und scheint sich am Grundbegriff der Latourschen Ontologie eines „être-en-tant-qu’autre“ zu orientieren. Ist deshalb die Schlussfolgerung erlaubt, Teubers Interpretation der Poesie des San Juan de la Cruz konstruiere diesen als einen utopisch antizipierten ‚Modernen‘ im Sinne der von Latour geforderten Neudefinition der Moderne als eines Aushandelns widerstreitender Theorie- und Praxisansätze? Das ansonsten mit hohem intellektuellen Engagement formulierte Religions-Kapitel konfrontiert den Leser am Ende jedoch mit einer geballten Dosis pessimistischer Argumente, mit denen sich Latour zur Frage des Gelingens eines solchen Aushandelns äußert. 22 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Pessimismus auf Voraussetzungen ruht, die der Autor in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung selbst geschaffen hat. 23 Auch das ein 20 Ibid. 21 Cf. Joachim Petrick, „Karl-Heinz Stockhausens ‚Unvollendeter Nine Eleven Gesang‘“, in: Community-Blog von Der Freitag (17.01.2012), www.freitag.de/ autoren/ joachim-petrick/ karl-heinz-stockhausens-unvollendeter-nine-eleven-gesang (10.03.2018). 22 Cf. Latour, Enquête , pp. 322-326. 23 Cf. dazu insbesondere die Kapitel 3 und 4 von Latours Enquête , in denen die Begriffe „Referenz“ und „Reproduktion“ behandelt werden (ibid., pp. 79-104, 105-130). <?page no="276"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 277 wenig voreilig prognostizierte „fin du religieux“ 24 ist insofern nur ein Epiphänomen der Latourschen Kritik an einer fehlgeleiteten Moderne, in deren Sog sich auch die christliche Religion seit vielen Jahrhunderten verstrickt hat. Sie aus demselben zu befreien, war das moderne Projekt des heiligen Johannes vom Kreuz, das Bernhard Teuber uns gelehrt hat, mit den intellektuellen Mitteln des 20. Jahrhunderts neu zu verstehen. 24 Cf. ibid., p. 322. <?page no="278"?> War San Juan de la Cruz ein Moderner? 279 IV. Opfer - Zeichen - Körper <?page no="280"?> Die Wörtlichkeit des Fleisches. Zu Paul Flemings Sonett „An seine Thränen. Als Er von Ihr verstossen war“ Claus-Michael Ort An seine Thränen / Als Er von Ihr verstossen war. 1 Fliest / fliest so / wie Ihr thut / Ihr zweyer Brünnen Bäche. Fliest ferner / wie bißher mit zweymahl stärckrer Fluht. Fliest / wie ihr habt gethan / und wie ihr itzt noch thut / daß ich mich recht an der / die euch erpresset / reche. 5 Fliest immer Nacht und Tag / ob sich ihr Sinn / der freche / der Feind-gesinnte Freund / das hochgehertzte Blut / das mich umm dieses hasst / dieweil ich ihm bin gut / durch eine stetigkeit. Und große Stärcke brechen: Die Tropffen waschen aus den fästen Marmelstein. 10 Das weiche Wasser zwingt das harte Helffenbein. Auch Eisen / und Demant muß feuchten Sachen weichen. Fliest ewig / wie ihr fliest. Es ist ja müglich nicht / daß einst der harten nicht ihr fleischerns Hertze bricht / das lange keinem Stahl’ und Steine sich mag gleichen. Paul Fleming, Teütsche Poemata (1642) 1 Paul Flemings petrarkistisches Sonett wird 1642 erstmals publiziert - zwei Jahre nach dem Tod des Autors, eines paracelsianischen Mediziners, virtuosen Neulateiners und Opitz-Verehrers, der als Mitglied der Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf zusammen mit seinem älteren Freund aus der Leipziger Studienzeit Adam Olearius 1634 in Moskau, auf einer zweiten Reise nach Persien 1637 in Isfahan eintrifft und 1640 in Hamburg als dreißigjähriger einer Lungenentzündung erliegt. 1 Lübeck: Laurentz Jauchen Buchh. 1642, p. 604; reprographischer Nachdruck, Hildesheim: Olms 1969 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur 136,5 Poet]. <?page no="281"?> 282 Claus-Michael Ort In der späteren, von Olearius herausgegebenen Ausgabe der Teütschen Poemata (Lübeck: Laurentz Jauchen 1646) und ihren zahlreichen Nachdrucken bis zu Lappenbergs Gesamtausgabe der Gedichte wird der Plural „brechen“ am Ende des zweiten Quartetts (v. 8) durch den Singular „breche“ ersetzt. 2 Diese Singularisierung ordnet die additiv gleichgeordneten Termini, die das Plural-Subjekt des Nebensatzes in Vers 5 und 6 bilden („ihr Sinn / der freche“, „der Feind-gesinnte Freund“, „das hochgehertzte Blut“) als Prädikationen dem ‚frechen Sinn‘ unter, der sich an der „Stetigkeit“ und „Stärcke“ (v. 8) des Tränenflusses des Ich „brechen“ solle. Die wörtlichen Bedeutungen der metaphorisch und synekdochisch personifizierenden Epitheta „Freund“ und „Blut“ für den „Sinn“ der Angebeteten werden damit dem semantisch ‚regierenden‘ „Sinn“ eindeutig nachgeordnet, ihr pluraler Literalsinn auf den gleichen Figuralsinn reduziert. Nicht ‚Sinn‘, ‚Freund‘ und ‚Blut‘ sollen sich ‚brechen‘, sondern nur der „Sinn“, der zum „Freund“ metaphorisiert und zum „hochgehertzte[n] Blut“ metonymisiert wird. Das damit aufscheinende und in den späteren Varianten zugunsten semantischer Hierarchisierung ‚gelöste‘ Problem des Verhältnisses von bildlicher und wörtlicher Bedeutung und des Status von Tropen im syntagmatischen Nacheinander potenziert sich allerdings unabweisbar, wie zu zeigen sein wird, im zweiten Terzett in Vers 13, dem vorletzten Vers des Sonetts („ihr fleischerns Hertze“), in dem sich die argumentative Funktion petrarkistischer Topik in einer impliziten Paradoxie verfängt, die das ausgewogene Verhältnis von tropischer und wörtlicher Rede und damit die Stabilität der zugrunde liegenden Similaritätssemantik selbst kollabieren lässt. Die Sprechsituation evoziert im Titel und im ersten Quartett die occasio („Als Er von Ihr verstossen war“) einer dreifachen Adressierung: Zum einen diejenige des männlichen Ich an seine eigenen Tränen, die von ihm aufgefordert werden, durch ihr verstärktes und anhaltendes, in Vers 12 hyperbolisch „ewig[es]“ Fließen als Medium seiner Rache an der Ursache dieser „Fluth“ (v. 2) zu fungieren (v. 4: „an der / die euch erpresset / reche“); zum anderen erweist sich die abweisende Geliebte als Verursacherin einer Affektwirkung, deren Folgen - die Tränen des ‚Verstoßenen‘ - nun an sie, den ‚feindlichen Freund‘, zurückadressiert werden: „ob sich ihr Sinn / der freche / der Feind-gesinnte Freund / das hochgehertzte Blut / […] / […] / durch eine stetigkeit“ und „große Stärcke brechen“ (vv. 5-8). Die physischen Folgen der von der Verstoßenden ausgelösten Affekte des Ich sollen ihrerseits auf die Gefühle, den ‚Sinn‘ der Verursacherin zurückwirken, Wirkungen werden zu Ursachen - so die Absicht des Ich, das sich damit zum 2 Paul Flemings Deutsche Gedichte , ed. Johann Martin Lappenberg, vol. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, p. 496 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1865). <?page no="282"?> dritten in einer an sich selbst adressierten argumentativen Rede zugleich der widersprüchlichen weil stoizistischen Strategie einer klugen, petrarkistischen Instrumentalisierung emphatischer Affekte in hyperbolischer Rhetorik versichert. Die constantia („stetigkeit“) der autosuggestiv beschworenen, dauerhaften und wirkmächtigen ‚Verflüssigung‘ des Ich verbleibt im semantischen Feld kausaler Kontiguität. Das erste Terzett füllt sodann ein humoralpathologisch konnotiertes Paradigma der „feuchten Sachen“ (v. 11), zu denen auch Tränen zählen, mit physikalischen exempla aus der materiellen unbelebten Natur, die - alles andere als metaphorisch - empirische Erfahrung ebenso belegen wie die Sentenz ‚steter Tropfen höhlt den Stein‘ und zugleich Argumente versammeln, die die Wirkung des ‚Weichen‘ auf das ‚Harte‘, des ‚Flüssigen‘ auf das ‚Feste‘ belegen (vv. 9-11): „Tropfen“ und „weiches Wasser“ überwinden Marmor („fästen Marmelstein“) und Elfenbein („das harte Helffenbein“), ähnliches gilt für „Eisen und Demant“ (v. 11), „Stahl und Steine“ (v. 14). 3 Im zweiten Terzett erfolgt als Pointe auf der Grundlage der Prämissen im ersten Terzett eine petrarkistische, affektpsychologische conclusio , die als Wenn-dann-Deduktion mit der Nicht-Gleichheit von materiell unbelebten und materiell belebten („fleischerns Hertze“, v. 13) Entitäten argumentiert und sich als fehlerhafter Leib-Seele-Analogieschluss erweist: Wenn Fleisch weicher als Stahl und Stein ist und letztere durch Flüssigkeiten ‚gebrochen‘ werden, dann ist dies a fortiori für das ‚fleischerne Herz‘ der Geliebten zu erwarten: „Es ist ja müglich nicht / daß einst der harten nicht ihr fleischerns Hertze bricht / das lange keinem Stahl und Steine sich mag gleichen.“ vv. 12-14). Die argumentativ akzentuierte konträre Opposition zwischen harter und weicher Materie entspricht jedoch nicht der Differenz zwischen immateriellen affektiven und moralisch ungleichwertigen Zuständen, die zwar metaphorisch als ‚hart‘, ‚hartherzig‘ und als ‚weich‘, ‚weichherzig‘ bezeichnet werden können, nicht aber das Herz als physisches Organ selbst meinen. Gemeint ist vielmehr dessen metonymische Bedeutung als vermeintlichem Sitz der Affekte, also der wiederum metaphorisch ‚harte‘ Gefühlszustand der ‚hassenden‘ Geliebten selbst („hasst“, v. 7) und ihre nur schwer oder gar nicht zu manipulierende Gesinnung („Sinn“, v. 5). Und dieser ‚Sinn‘ weicht nicht der wörtlichen Tränenflüssigkeit, die wie Wasser zwar den Stein und allemal weiches Fleisch zu ‚höhlen‘ und zu erweichen vermag („weichen“, v. 11), nicht aber die damit metaphorisch bezeichneten Affekte selbst, die zu körperlichen Größen wie Herz und Tränen in 3 Cf. Publius Ovidius Naso, Epistulae ex Ponto sive Ponticae Epistolae , 12-16 p. C. n., Liber IV, 10, 5: „Gutta cavat lapidem, consumitur anulus usu“ (Publius Ovidius Naso , Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto [lat-dt.], tr. Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler 4 2005, p. 518). Die Wörtlichkeit des Fleisches 283 <?page no="283"?> 284 Claus-Michael Ort einer metonymischen Beziehung kausaler bzw. lokaler Kontiguität stehen. Ein paradigmeninterner Wechsel vom materiell ‚Harten‘ zum materiell ‚Weichen‘ muss argumentativ scheitern, wenn er beiläufig das semantische Paradigma ‚materiell, körperlich‘ durch das Paradigma ‚immateriell, affektiv‘ zu substituieren sucht. Dass im vorletzten Vers des Sonetts die ‚fleischerne‘ Qualität, also der Literalsinn von ‚Herz‘ ausdrücklich betont wird, offenbart die implizite Paradoxie petrarkistischer Argumentation und zugleich die Grenzen ihrer metonymisch und metaphorisch verfassten Bildlichkeit. Da die Attribution ‚hart‘ in Vers 13 nur als Affektmetapher verstanden werden kann, führt die wörtliche Bedeutung der Kontrastsemantik des ‚weichen Herzens‘ aus ‚Fleisch‘ in die Irre, weil dessen tatsächlich erleichterte ‚Erweichung‘ durch die Wirkung von Flüssigkeiten gar nicht angestrebt wird, sondern die Manipulation des damit metonymisch bezeichneten, metaphorisch ‚harten‘ Affekts. Wird darüber hinaus die biblisch konnotierte figurale, sowohl metaphorische („fleischern“) als auch metonymische („Hertze“) Bedeutung der Textstelle einbezogen, ist die Ersetzung des ‚steinernen Herzens‘ durch das ‚fleischerne‘ als Ergebnis der Bekehrung zu Gott zu interpretieren (Hesekiel [Ezechiel] 36, 26; auch schon 11, 19: „Und ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben“). 4 Ob damit die Gefühlskälte der Geliebten frivol zur Sünde der Hartherzigkeit umgedeutet, also eine erotisch aufgeladene Semantik religiös kodiert oder diese Kodierung affektpsychologisch profaniert wird, mag offen bleiben. In beiden Fällen offenbart sich jedoch ein Widerspruch zwischen der ‚Hartherzigkeit‘ („der harten“) und der im selben Vers figural ebenfalls zugeschriebenen ‚Weich‘- und ‚Gutherzigkeit‘ („fleischerns Hertze“) der Tränen-Adressatin, wodurch sich der zuvor betriebene argumentative Aufwand nachträglich als unnötig herausstellte. Mag diese Paradoxie auch zur Ambivalenz einer zuvor bereits oxymoral als „Feind-gesinnte[r] Freund“ (v. 6) bezeichneten Affektdisposition minimiert werden, mag sie im syntagmatischen Nacheinander auch als sprachlich vorwegnehmender Vollzug dessen gedeutet werden, was in der besprochenen Situation des Gedichts vom Ich erst angestrebt wird - nämlich die ‚Bekehrung‘ der ‚Harten‘ zur einer Versöhnlichen, die Rührungsanstrengungen belohnt: 5 das ‚Fleisch‘ des Herzens droht jedenfalls die topische Tränen-, 4 Das Lemma „fleischern, carneus“ des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm (16 vols. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961, vol. III, Sp.1758; Leipzig 1971, http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB, [14.3.2018]), zitiert neben biblischen Belegstellen auch Flemings Sonett. 5 Rüdiger Campe deutet solche „Überlagerungen“ von „Sukzession und Simultaneität“ als Indikatoren des Überganges von einem „‚theatralischen‘“ zu einem „‚lyrischen‘ bzw. von <?page no="284"?> Stein- und Diamant-Semantik zu unterlaufen und siedelt sich in einer Zone der Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit zwischen Literal- und Figuralsinn an, die die konventionelle petrarkistische Bildlichkeit und Argumentation durchkreuzt und explizit die Grenzen der Ähnlichkeitssemantik auslotet („keinem Stahl und Steine sich mag gleichen“, v. 14). 6 Die „gleichzeitig unbegrenzte und geschlossene, volle und tautologische Welt der Ähnlichkeit findet sich dissoziiert und […] geöffnet“ (Michel Foucault) 7 , wodurch Beziehungen von res und verba möglich werden, in denen Ähnlichkeit und Differenz nicht nur unterschieden, sondern auch selbst zum Gegenstand von Repräsentation werden. Dass die „Geschichte der Ähnlichkeit“ 8 im 17. Jahrhundert mit Foucault als Geschichte ihrer schrittweisen Einschränkung und der veränderten „Bedingungen“ verstanden werden kann, unter denen die „Beziehungen der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz zwischen den Dingen“ 9 , ihre „Identitäten und […] Unterschiede“ 10 explizit reflektiert werden, hat epistemische Folgen für die „schöne Verfassung dieses gantzen Weltgebäus / [das] an sich selbsten nichts anders [ist] / als eine durchgehende Vergleichung in allem und jedem“ 11 (Georg Philipp Harsdörffer). Diese Folgen lassen sich auch an Gedichten Flemings ablesen. 12 Ohne die bei Fleming und anderen stark rekurrente, frühneuzeitliche Herz-, Blut- und Tränen-Semantik hier weitergehend zu entfalten, mag stattdessen ein abschließender Seitenblick auf die Dramenliteratur in der Mitte des 17. Jahrhunderts den moraldidaktischen, affekttheoretischen und medizinischen Diskurs der De- und Umsemantisierung des ‚Herzens‘ zwischen spätscholastischer Signaturenlehre einem „‚rhetorischen‘“ zu einem „‚hermeneutischen‘ Zeitraum“ ( Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert , Tübingen: Niemeyer 1990, p. 229). 6 Zur Emblematik und Semantik von ‚Diamant‘ und ‚Blut‘ seit der Spätantike cf. insbesondere Friedrich Ohly, Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne , Berlin: Schmidt 1976, pp. 62-106. 7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften , tr. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, p. 91. 8 Ibid, p. 27. 9 Ibid. 10 Ibid., p. 82. 11 Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele , 3. Teil, Nürnberg: Endter 1643, p. 356; Neudruck, ed. Irmgard Böttcher, Tübingen: Niemeyer 1968, p. 376. 12 Für Flemings Gedichte siehe ansatzweise Thomas Althaus, „‚Ich sage noch einmahl‘ - Paul Flemings Wiederholungen“, in: Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609-1640) , edd. Stefanie Arend, Claudius Sittig, Berlin, Boston: de Gruyter 2012, pp. 17-34; zum „literarischen Reflexionsdruck, den sein sprachlicher Stoizismus aufbaut“ (ibid., p. 34): „die verba [sind] die res […] bei jedem Schritt der literarischen Argumentation“ (ibid.). Die Wörtlichkeit des Fleisches 285 <?page no="285"?> 286 Claus-Michael Ort und ‚nova scientia‘ im Sinne von Francis Bacons Novum Organum (1620) exemplarisch erhellen. Eine zwischen wörtlicher (körperlicher) und tropischer (seelischer) Bedeutung von „Herz“ - motus cordis und motus animi 13 - oszillierende Semantik findet sich etwa in der fünften Abhandlung von Daniel Casper von Lohensteins Trauerspiel Agrippina (1665), wo Nero den Leichnam der in seinem Auftrag ermordeten Mutter begutachtet und nachträglich zu der Erkenntnis gelangt, dass „dise Lilgen-Brust / Der Augen Paradiß / das Zeughauß süsser Lust / Ein so kohl-schwartzes Hertz innwendig habe stecken“ 14 , Außen und Innen also stark divergieren. Sein Muttermord erscheint nachträglich durch solch Emblematik-analoge Herz-Autopsie als weniger verwerflich: Agrippinas freigelegtes Herz als krankes ‚fleischernes‘ Organ wird als Sitz ihrer moralischen ‚Krankheit‘ und bösen Affekte und zugleich als Zeichen der Sünde interpretiert. Dagegen versucht in Johann Sebastian Mitternachts protestantischem Schuldrama Trauer-Spiel / Der Unglückselige Soldat Und vorwitzige Barbirer 15 (1662) ein skrupellos ‚curieuser‘ Chirurgus den „motum oder Bewegung“ des menschlichen Herzens durch Vivisektion „gründlich und per experientiam [zu] erlernen“ 16 , um so die Selbstbestätigungszirkel des Bücherwissens zu durchbrechen: „[…] Und wie viel opiniones Avicennae, Hippocratis, Galeni, und anderer hochberühmter Medicorum werden heutiges Tages deswegen repudiieret / und offentlich ausgerauschet / daß sie der experientz entgegen lauffen? “ 17 Die Herz-Autopsie des unglücklichen Ariophilus in der vierten Szene des vierten Aktes 18 mündet jedoch nach wie vor und explizit in leerer Selbstbezüglichkeit, 13 Zu den ‚motus cordis‘ in aristotelischen und thomistischen Affektenlehren cf. Johann Heinrich Alsted, Cursus philosophici Encyclopaedia Libris XXVII completens Universae Philosophiae methodum, Serie praeceptorum, regularum & commentariorum perpetua […], Liber VII, Herborn: Christoph Corvinus 1630, Sp. 565: „Affectus est motus cordis vel a centro, vel ad centrum, vel circa centrum; vel mixtus“; zur Bewegungstheorie der Affekte an der Schwelle zur Psychologie siehe Campe, Affekt und Ausdruck , pp. 304-401, insbesondere pp. 355-378. 14 Daniel Casper von Lohenstein, Römische Trauerspiele. Agrippina. Epicharis , ed. Klaus Günther Just, Stuttgart: Hiersemann 1955, pp. 11-140, hier p. 92, vv. 183-185. 15 [Johann Sebastian Mitternacht], m. J oH . s ebastiani Mitternachts des Reuß-Plauischen g ymnasii zu Gera r eCtoris Trauer-Spiel / Der Unglückselige Soldat Und Vorwitzige Barbirer / genant / Vor weniger Zeit in hoher Personen Gegenwart öffentlich p raesentiret / Jetzo aber Der in Schulen und g ymnasiis befindliche Jugend wohlmeinend communiciret , in: Id., Dramen [1662/ 1667], ed. Marianne Kaiser, Tübingen: Niemeyer 1972, pp. 1-152; zu Mitternachts Trauerspiel siehe auch Claus-Michael Ort, Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts , Tübingen: Niemeyer 2003, pp. 89-104. 16 Mitternacht, Der Unglückselige Soldat , p. 47. 17 Ibid., p. 99sq. 18 Cf. ibid., pp. 104-109. <?page no="286"?> da dem ‚Barbier‘ ohne Herz-Emblematik oder metonymische Affektpsychologie noch keine anderen, medizinisch avancierten Deutungsmuster für das ‚fleischerne‘ Organ zur Verfügung stehen: „Seht doch / seht doch / wie sich das Hertz beweget. […]. […]. […]. So hab ich auch schon gesehen / was ich so lange begehret. Nun will ich ihm das Hertze gar heraus nehmen. Sehet / so siehet des Menschen Hertz aus.“ 19 Auch Flemings säkulare petrarkistische ‚Tränen‘ und ihr mehrdeutiger Widerpart, das „fleischerne Hertze“, verweisen auf die epistemische Verunsicherung und semiotische Kontingenzsteigerung im Verhältnis von res und verba - so mag vorsichtig und ohne die Emphase postulierter Epochentransformationen formuliert werden -, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnen: William Harveys anti-galenische Beschreibung des Blutkreislaufes 20 trifft dabei auf moraldidaktische, affekt-metonymische Herz-Emblematiken mit einer überbordenden picturae -Vielfalt, wie sie die christlich erbauliche Schola Cordis (1635) von Benedictus van Haeften, die in der passio Christi mündet, ebenso dokumentiert wie das spielerische Stechbüchlein (1645, 1654) Georg Philipp Harsdörffers. 21 19 Ibid., p. 109. 20 William Harvey, Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus , Frankfurt a.M.: W. Fitzerus 1628. 21 Benedictus van Haeften geht von sieben Bedeutungen von ‚Herz‘ aus ( Schola Cordis, sive Aversi A Deo Cordis, Ad eumdem reductio, instructio […], Antwerpen: I. Meursius, H. Verdussius 1635, pp. 10-14; hier p. 11: „Tertio, significat Cor omnia interiora Corporis, id est viscera; […]. Quarto, Cor ipsam animam significat“, p. 12: „Quinto, mentem quoque […]“ etc.); Georg Philipp Harsdörffer, Stechbüchlein: Das ist / Hertzensschertze / in welchen Der Tugenden und Untugenden Abbildungen / zu wahrer selbst Erkantnis / mit erfreulichem Nutzen auszuwehlen. […], Nürnberg: Endter 1645. Die Wörtlichkeit des Fleisches 287 <?page no="288"?> Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico, oder: Von der (un)produktiven Verausgabung Christopher F. Laferl Libro Segundo, Canto Cuarto CXVIII Tesoro antiguo de su casa era un Crucifijo, que condujo, escudo en que pudiese rebatir severa flecha letal de leviatán sañudo; en cuyo bulto el arte así se esmera, que dudan del pincel, y escoplo agudo, los que en el Cristo admiran sentimientos, si del primero fueron instrumentos. CXXIV Rota la encía, ensangrentado el diente, en el último anhelo el labio abierto, poca lengua a la vista le consiente, que al paladar se eleva descubierto: no sepulcros de pórfido luciente, de jaspes si manchados, donde al yerto cadáver de la lengua destrozada, cubren terrones de su sangre helada. CXL Carnosas las pupilas, siempre rojos los párpados del llanto, han retirado hasta el casco cansados sus dos ojos; dos en ellos cisternas se han quebrado, que retener no pueden los despojos del raudal de aquel llanto arrebatado, que rompiendo en el rostro suavemente, en mucha barba esconden su corriente. <?page no="289"?> 290 Christopher F. Laferl CLIV La mano con la pluma descansaba de la sangrienta cruda disciplina, y en poca plana mucha luz araba, dictado siempre de la luz divina; su tinta el sol la pluma le bañaba, y en cuantos ésta rumbos determina, eclípticas rubrica de centellas, epiciclos de luz, líneas de estrellas. Libro Segundo, Canto Quinto CXCVII Lejos del cuerpo, hurtado de sí mismo, en éxtasis suave, en largo olvido, en rapto amable, en dulce paroxismo, como nació 1 la luz del labio vido de Dios, que la derrama en el abismo; la luna en leche, el sol recién nacido, gemelos admiró mecerse en una vuelta, que el cielo les giró su cuna. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico (1666) 2 Die fünf zitierten Strophen stammen aus dem Gedicht San Ignacio de Loyola. Poema heroico des kolumbianischen bzw. neugranadinischen Dichters Hernando Domínguez Camargo, der neben Bernardo de Balbuena und Sor Juana Inés de la Cruz als der dritte große Barockdichter der hispanoamerikanischen kolonialen Welt gilt. Wegen seiner kultistischen bzw. gongoristischen Schreibweise ist er neben Sor Juana Inés de la Cruz der wichtigste Nachfolger Góngoras in den Kolonien. 3 Wie so viele andere Spanisch schreibende Barockdichter wurde auch er ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert wenig beachtet, wenn er - wie erst jüngst bekannt geworden ist - auch nicht 1 In der verwendeten Ausgabe steht statt „nació“ fälschlich „nación“; in Rückgriff auf die Erstausgabe (Madrid: Fernández de Buendía 1666, p. 151) wurde hier zu „nació“ emendiert. 2 Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola, Fundador de la Compañía de Jesús. Poema heroico. Síguenle las poesías del „Ramillete de varias flores poéticas“ y la „Invectiva apologética“ , Bogotá: Editorial A B C 1956, pp. 170, 172, 175-176, 179, 189. 3 Cf. Gerardo Diego, „La poesía de Hernando Domínguez Camargo en nuevas vísperas“, in: Thesaurus. Boletín del Instituto Caro y Cuervo XVI/ 2 (1961), p. 295; Georgina Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia: Hernando Domínguez Camargo“, in: Calíope III/ 2 (1997), p. 8. <?page no="290"?> ganz in Vergessenheit geriet. 4 Von seinem Leben ist nur wenig bekannt: Er war Sohn eines spanischen Vaters und einer kreolischen Mutter, wuchs in der Region Nueva Granada auf, die damals zum Vizekönigreich Peru gehörte, erhielt seine Ausbildung bei den Jesuiten, trat diesen bei, verließ allerdings - ähnlich wie sein mexikanischer Zeitgenosse Carlos de Sigüenza y Góngora - den Orden (oder musste ihn verlassen) aus nicht näher bekannten Gründen. 5 Dass er der Gesellschaft Jesu dennoch tief verbunden blieb, belegen Titel und Thema seines unvollendet gebliebenen Hauptwerks, des bereits zitierten Langgedichts über den Ordensgründer der Jesuiten, den heiligen Ignatius, das 1666 in Madrid veröffentlicht wurde. Neben diesem Text sind nur einige wenige weitere Gedichte bekannt, die Jacinto de Evia in seinem Ramillete de Varias Flores Poéticas 1675 publizierte. Beide Veröffentlichungen konnte Domínguez Camargo nicht erleben, war der in Santafé de Bogotá 1606 geborene Geistliche doch schon 1659 in Tunja im Landesinneren verstorben. Wenn uns die beiden größeren und ausgesprochen schwer zu lesenden Dichtungen Góngoras, die Fábula de Polifemo y Galatea mit ihren 504 Versen und die beiden Soledades mit 1091 und 979 Versen, umfänglich erscheinen mögen, dann muss der Poema heroico , der in Syntax und Lexikon Góngora nicht nur nacheifert, sondern vor allem hinsichtlich des reichhaltigen Vokabulars das Vorbild noch übertrifft, die heutige Leserschaft wegen des großen Umfangs von 8.928 Versen wohl zusätzlich (und damit vielleicht gänzlich) verschrecken. 6 Dem gesamten Gedicht wird nicht durchgehend gleiche Qualität zugebilligt; viele Strophen gelten aber als der reichste und bisweilen auch tiefste Ausdruck kolonialer barocker Dichtkunst, für die nicht wenige Teile der hispanoamerikanischen Literaturwissenschaft, v. a. im Zeichen der postkolonialen Theorie, auch eine eigene amerikanische Ästhetik ausmachen wollen. 7 Diese Frage soll uns hier nicht interessieren! Es soll vielmehr nach dem theopoetischen Gehalt gefragt werden, genauer nach der ästhetischen Qualität eines literarischen Texts, in dessen Zentrum ein wichtiger Heiliger der katholischen Kirche, sein Werdegang, sein Glaube und auch seine Textproduktion stehen. Es geht also um die poetische Rede über Gott und Glauben, die - wenn man Bernhard Teubers Studie über Johannes vom Kreuz folgen möchte - eigentlich die einzig mögliche 4 Cf. Hugo Hernán Ramírez Sierra, „Un discurso de ‚crítica literaria‘ bogotana en el siglo dieciocho“, in: Dieciocho 33/ 2 (2010), pp. 411-421. 5 Ibid. p. 411; cf. Kathryn Mayers, „American Artifice: Ideology and Ekphrasis in the Poema Heroico a San Ignacio de Loyola “, in: Hispanófila 155 (2009), pp. 2-3. 6 Cf. z. B. Fernando Arbeláez, „La obra poética de Hernando Domínguez Camargo“, in: Domínguez Camargo, San Ignacio , p. 27. 7 Cf. Mayers, „American Artifice“, pp. 2-3, 13-14; Juan Vitulli, „ Blanco pequeño de ambos mundos : Una lectura del ‚Agasajo’ de Hernando Domínguez Camargo“, in: Calíope 18/ 2 (2013), p. 142; Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia“, pp. 9-10. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 291 <?page no="291"?> 292 Christopher F. Laferl Rede über Gott und den Glauben im christlichen Kontext ist. 8 Im Unterschied zu den in Sacrificium Litterae untersuchten Texten geht es hier allerdings nicht um die écriture eines Autors, der selbst mystische Erfahrungen gemacht und über diese dann lyrische Texte verfasst hat, sondern um ein Epos, das vom heroischen Leben eines Heiligen handelt. Allerdings hat dieser Heilige für sich selbst die Erfahrung einer Gottesschau in Anspruch genommen, die als mystisch bezeichnet werden darf. Es geht um jene rund zehn Monate im Leben des 1622 heiliggesprochenen Ordensgründers, die er - genau hundert Jahre davor - in der Höhle von Manresa verbrachte und die ihm nach langer Buße und Askese Läuterung und spirituelle Erleuchtung brachten. Dortselbst soll er auch die erste (spanische) Fassung der Exercitia spiritualia verfasst haben, die bis in unsere Tage hinein für die Mitglieder der Gesellschaft Jesu (und bisweilen darüber hinaus) die Textbasis für die ignatianischen Exerzitien darstellen, durch die der Mensch lernen soll, dass im Zentrum seines Strebens die Erkenntnis stehen müsse, dass der Sinn seines Lebens der Lobpreis Gottes (zur Errettung seiner Seele) sei. 9 Die zitierten Textstellen mögen uns nun zeigen, wie Domínguez Camargo die ignatianische Gotteserfahrung und die Redaktion der Exercitia in Dichtung fasste. Der gesamte Poema heroico besteht aus fünf Büchern, die sich wiederum aus vier bis fünf Gesängen zusammensetzen. Die einzelnen Gesänge umfassen ihrerseits wiederum eine größere Anzahl von Strophen in octavas reales , der für frühneuzeitliche spanische Epen typischen Versform, die durch die Verwendung von acht elfsilbigen Versen mit dem Reimschema abababcc definiert ist. Das erste Buch beinhaltet seine Abstammung, Kindheit und Jugend wie auch seine Erfahrungen als Soldat, einschließlich jener Verwundung, deren Heilungsprozess ihn lange ans Bett fesselte. Das zweite Buch konzentriert sich auf die verschiedenen Stufen seiner Hinwendung zu einer tieferen Religiosität, die mit der Lektüre von Heiligenleben begann und in der Generalbeichte und Ritterwache in der Abtei von Montserrat und schließlich in der Pönitenz und Redaktion der Exercitia in der Höhle von Manresa kulminierte. Die weiteren Bücher behandeln die Zeit danach bis zum Ansuchen um Bestätigung des Ordens durch den Papst. Die oben zitierten fünf Strophen stammen aus dem vierten und fünften Gesang des zweiten Buchs, das man wohl als das Herzstück des Poema betrachten darf. Selbst wenn die vorliegenden Seiten auf Spanisch verfasst wären, müsste wegen der komplexen Syntax jeder Interpretation der ausgewählten Textstel- 8 Cf. Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003. 9 Cf. Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia. Versio litteralis ex autographo hispanico notis illustrata auctore R. P. Ioanne Roothaan, Regensburg: Pustet 2 1920, pp. 43-44: „Homo creatus est, ut laudet Deum Dominum nostrum, ei reverentiam exhibeat eique serviat, et per haec [haec agendo] salvet animam suam; […]“. <?page no="292"?> len eine Prosaparaphrase vorangestellt werden. Wie bei allen gongoristischen Texten erschließt sich nämlich der Sinn des Geschriebenen nicht bei der ersten Lektüre. Bei Domínguez Camargo ist es nicht anders als bei Góngoras Polifemo oder Sor Juanas Primero sueño , ohne Auflösung der Hyperbata kann der Text einfach nicht verstanden werden. 10 In der ersten oben zitierten Strophe (CXVIII) erfahren wir, dass Ignatius ein Kruzifix in die Höhle von Manresa mitbrachte, das sich in altem Familienbesitz befand und ihm nun als Schild gegen die tödlichen Pfeile des wütenden Leviatan dienen soll. Seine künstlerische Gestaltung sei so vollkommen, dass sich jeder Betrachter, der sich dem Leiden Christi aussetzen wolle, fragen müsse, ob nicht Christus selbst den Pinsel und den spitzen Meißel als Instrumente geführt habe. 11 In den folgenden zehn Strophen folgt eine ausgesprochen genaue Ekphrase des mitgebrachten Kreuzes. Am eindringlichsten ist in diesem Teil des vierten Gesangs zweifelsohne die zitierte Strophe CXXIV, die uns das Gesicht Christi und vor allem seinen Mund näher bringt. Mit aufgesprungenem Zahnfleisch und mit blutverschmierten Zähnen geben die Lippen einen dürftigen Blick auf die im letzten Atemzug zum Gaumen gehobene Zunge frei. In einer typisch gongorinischen Wendung wird dann zunächst gesagt, was der Mund nicht ist, nämlich kein Grabmal aus leuchtendem Porphyr. Darauf folgt der als eher zutreffend präsentierte Vergleich, nämlich jener mit einer Grablege aus gesprenkeltem Jaspis, in deren Zentrum sich ein Leichnam befindet, als der die mit Klumpen kalten Blutes bedeckte Zunge Christi präsentiert wird. 12 An dieser Stelle ist besonders interessant, dass es gerade die Zunge ist, die hier zum Kada- 10 Leider lassen sich aber die Schwierigkeiten des Poema heroico nicht ohne Weiteres in Prosa ‚auflösen‘, und da es noch keine allgemein anerkannte Prosifikation auf Spanisch des Texts gibt, muss die hier vorgelegte Paraphrase unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit gestellt werden; cf. Sabat de Rivers, „Lírica culta de la colonia“, pp. 10, 19-20 (nn. 13-18). 11 Unklar bleibt v. a. die Fügung „del primero“ des letzten Verses, die man auch als ‚de él primero‘ auflösen könnte. Gibt man dieser Lesart den Vorzug und überträgt das Wort ‚primero‘ mit ‚ursprünglich‘ als Adverb ins Deutsche, dann würde die vorgeschlagene Paraphrase stimmen; liest man die beiden Wörter allerdings als ‚del primero‘, im Sinne ‚von dem ersten‘, dann stellt sich die Frage, auf wen sich diese Formulierung bezieht, auf Christus oder auf den Leviatan. Die erste dieser beiden Möglichkeiten ändert praktisch nichts an der in der Paraphrase präsentierten Bedeutung, da ebenfalls wieder Christus selbst zum Artifex des Kruzifixes würde. Im zweiten Fall würde allerdings alles ganz anders aussehen. 12 Ignatius von Loyola hatte für seine Meditation, so ist wohl anzunehmen, ein spätmittelalterliches Kruzifix verwendet, während die Beschreibung des Kopfes des gekreuzigten Christus bei Domínguez Camargo eher dem detailgetreuen Realismus der Barockzeit entspricht, wie er in Spanien gerade bei Christusdarstellungen so zahlreich bis ins 18. Jahrhundert zu finden ist. Hier sei nur an Gregorio Hernández, Pedro de Mena oder Francisco Salzillo erinnert, Künstler, die auch in den Kolonien zahlreiche Nachahmer fanden. Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 293 <?page no="293"?> 294 Christopher F. Laferl ver wird, gewissermaßen als mise en abyme des Leichnams Christi. Der Zunge, mit der Christus das Evangelium verkündet hat, und mit ihr der Sprache kommen dadurch besondere Bedeutung zu. Sich die leidende Hingabe Christi für die Menschheit nicht nur lebhaft vorzustellen, sondern sich ihr ganz zu öffnen, war das Ziel des Strebens von Ignatius in der Höhle von Manresa, und diese Absicht bildete in der Folge auch den zentralen Inhalt seiner Exerzitienanleitung. Von dort übernahm sie Domínguez Camargo. Der Dichter aus Neu-Granada geht allerdings noch einen Schritt weiter: Er doppelt die Leidenserfahrung, indem er nicht nur den am Kreuz hängenden Christus beschreibt, sondern danach den Fokus auf den sich vor diesem Kreuz geißelnden Ignatius legt. In weiteren 27 Strophen zeigt Domínguez Camargo, wie Ignatius an seine physischen und psychischen Grenzen geht, wie sein Blut das Kruzifix bespritzt und er sich bis zur absoluten Erschöpfung intensiven Weinkrämpfen hingibt. In der zitierten Strophe (CXL) stehen wir den tiefen Augenhöhlen, den blutgeränderten Pupillen und den vom ständigen Weinen rot gefärbten Lidern des Heiligen gegenüber. Die Augen werden dabei zu ständig überlaufenden Zisternen, deren Tränenströme über die Wangen des Ignatius fließen, um sich danach in seinem wilden Bart zu verlaufen. Das Ende des vierten Gesangs bilden fünf Strophen, die die Redaktion der Exercitia zum Gegenstand haben. Das Schreiben bildet dabei, wie man in der zitierten Strophe (CLIV) sehen kann, einen Gegenpol zu den unerbittlichen blutigen Geißelungen, die nicht frei von masochistischer Lust sind. Dominierte bei der Beschreibung des Gesichts des Heiligen wie bei jener des Antlitzes Christi ein dunkles Rot, so tritt zu dieser Farbe nun das helle Licht des göttlichen Wortes hinzu, das Ignatius diktiert wird. Die Schrift bleibt aber eine des Blutes. Wir haben es hier also mit einer durch Leiden gewonnenen und durch Leiden Ausdruck findenden spirituellen Erkenntnis bzw. Lichterfahrung zu tun. In der letzten hier zitierten Strophe (CXCVII), die bereits aus dem fünften, ganz der Gottesschau des Ignatius gewidmeten Gesang stammt, wird die physische Entrückung des Heiligen in Worte gefasst. Er wird darin in einer paradoxalen Reihe als von seinem eigenen Körper entfernt, seiner selbst beraubt, in sanfter Ekstase, in langem Vergessen und in freundlicher Entführung und süßer Konvulsion bezeichnet. In diesem Zustand darf er synästhetisch das von den Lippen Gottes verströmende Licht sehen bzw. vernehmen, das in die Dunkelheit geworfen wird. 13 13 Am Ende der Strophe darf Ignatius den „Mond in Milch“ und die neu geborene Sonne als Zwillinge in einem gegenseitigen Schaukeln erkennen. Mit den letzten drei rätselhaften Versen wird vielleicht auf Jesaja 60, 20 Bezug genommen, wo es heißt, dass die Sonne nicht mehr untergehen und das Mondlicht nicht mehr verschwinden werde, da der Herr zum ewigen Licht werde und die Tage der Trauer ein Ende haben würden. Zugleich <?page no="294"?> Wenn nun mit Teuber (und Bataille) die unproduktive Verausgabung zum zentralen (negativen) Bild der Gotteserfahrung, die keine weitere Finalität haben kann, in der mystischen Erfahrung wird, 14 dann stellt sich die Frage, wie diese Verausgabung in den zitierten Strophen des Poema heroico dargestellt wird, ob sie auch hier unproduktiver Selbstzweck bleibt und auf welcher Ebene diese Unproduktivität anzusiedeln wäre. Zunächst wählt Ignatius durch Meditation und Selbstgeißelung den Weg der Askese, die via purgativa , um sich von Schuld und Sünde zu reinigen, in der Folge erlangt er aber eine Sicht des Wirkens Gottes, befindet sich also auf der via illuminativa . Danach erreicht er über die via unitiva die Vereinigung mit Gott. Zentraler als die gängige Beschreibung der mystischen Erfahrung im Rahmen von geistlichen Übungen 15 scheint mir in unserem Zusammenhang jedoch der Gedanke, dass die Pönitenz und Illumination des Ignatius in Manresa nicht zum Selbstzweck wird, sondern zum Ziel die Niederschrift der Exercitia hat. Dieser Schluss wird allerdings nur im vierten Gesang des Poema heroico nahe gelegt, wo die Selbstgeißelung eben in die Redaktion des Exerzitientextes führt. Die Gottesschau findet sich hingegen erst im fünften Gesang, in dem von der Niederschrift des Textes, in welcher ja der vierte Gesang kulminierte, kaum die Rede ist. Fast scheint es also, dass die Frage, ob die via purgativa die sich selbst genügende Gottesschau oder das Verfassen des Textes der Ejercicios zum Ziel hatte, unentschieden bleiben muss. Mit dieser Frage haben wir uns aber ohnehin nur auf der Ebene der Ergründung der Signifikate bei Domínguez Camargo beschäftigt, der Frage nach dem Was des Dargestellten. Diese Frage kann aber - wie auch bei allen anderen literarischen Texten - dem Poema heroico nicht gerecht werden, einem Text, der in extrem gongoristischem Stil verfasst ist, wie an den angeführten Beispielen deutlich geworden sein sollte. Wie durch die Soledades oder den Primero sueño muss man sich auch durch den Poema heroico durchkämpfen und zwar mehrmals, will man ihn nicht nur verstehen, sondern auch genießen. Genau dieser könnten hier aber auch - in Anspielung auf die Geheime Offenbarung des Johannes, der im Poema mehrfach erwähnt wird - Maria, für die der passiv beleuchtete Mond steht, und Christus, die aktiv strahlende Sonne, gemeint sein. In den folgenden Strophen wird die Gottesschau des Ignatius mit dem Phaeton-Mythos verbunden, der bereits am Anfang des Poema heroico evoziert wurde, wie Eleanor Webster Bulatkin („La introducción al Poema heroico de Hernando Domínguez Camargo“, in: Thesaurus XVII/ 1 (1962), pp. 51-109) ausführlich analysiert hat. 14 Cf. Teuber, Sacrificum litterae , pp. 91-93, 109-111, 125-131. 15 Cf. die Beschreibung der ignatianischen Exerzitien durch Baltasar Teles, einen portugiesischen Zeitgenossen Domínguez Camargos ( Crónica da Companhia de Jesus na Província de Portugal e do que fizeram nas conquistas deste Reino os religiosos que na mesma província entraram, nos annos em que viveo S. Ignacio de Loyola , Lisboa: Paulo Craesbeeck 1645, pp. 176-179). Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 295 <?page no="295"?> 296 Christopher F. Laferl Prozess, die damit verbundene Erfahrung der Belebung des ingenio und die Möglichkeit der Scheidung der hombres doctos von den ignorantes durch Textkompetenz waren bereits von Góngora intendiert. 16 Bei Domínguez Camargo ist es nicht anders, wie schon die Textwidmung „al culto teatro de los doctos“ auf der Titelseite der Erstausgabe des Poema heroico nahelegt. Die abschließende Frage muss nun also lauten: Wenn schon nicht entschieden werden kann, ob es sich bei Pönitenz und Gottesschau des Ignatius in Manresa um eine produktive oder unproduktive Verausgabung handelt, wie sieht es dann mit den Mühen beim Verfassen dieser gongoristischen Verse durch den Autor und noch mehr bei der sich verausgabenden Lektüre durch das Publikum aus? Bringen diese Verse Autor und Leser der Gottesschau (oder zumindest einer christlichen Lebensführung im Sinne einer imitiatio Christi ) näher oder sind sie ästhetischer Selbstzweck (wenn man einmal vom sozialen Distinktionsgewinn durch die Fähigkeit, solche Verse zu verfassen bzw. zu lesen und in der Folge zu genießen, absieht)? Der Fall liegt hier deutlich anders als bei der Dichtung des Johannes vom Kreuz, dessen Texte sich dem Leser doch leichter erschließen als jene Góngoras oder Domínguez Camargos. Auch wenn, wie Bernhard Teuber bewiesen hat, die tief gehende Erfassung der allegoria tota bei San Juan doch einige Mühe (und große Vorbildung) abverlangt, so erschließt sich die Mystik seiner Lyrik doch auch schon nach einer ersten (vielleicht falschen unmittelbaren) Lesererfahrung. Das ist bei Domínguez Camargo nun aber ganz sicher nicht der Fall! Wenn man sich auf seine Dichtung überhaupt einlassen will, dann dominiert bei ihm, wie bei aller gongoristischer Dichtung, zunächst einmal eine diffuse Sinnerfassung über semantische Konzentration durch Wortfelder, und in einem zweiten Schritt erfährt diese diffuse Sinnerfassung - nach bisweilen recht großer Anstrengung, für die neben Erudition auch in der Regel nicht wenig agudeza erforderlich ist - eine Konkretisierung. Das dabei auftretende Lustempfinden ist sicherlich zu einem guten Teil der Genugtuung über die gelungene Auflösung geschuldet, zugleich stellen sich aber auch Bewunderung für die kunstvolle Zusammenfügung der verwendeten Worte ein, die vielfache Bezüge auf der Ebene von Melos und Opsis eröffnet. 17 Dass dieser Prozess den ingenio der Leserschaft beleben kann, wie Góngora selbst sagte, steht wohl außer Zweifel. Kann diese Belebung aber auch die ästhetische Erfahrung übersteigen und zu religiöser Einsicht führen? Schieben sich bei religiöser gongoristischer Dichtung die aufwändige Textarbeit und der anschließende ästhetische Genuss 16 Cf. „Carta de don Luis de Góngora, en respuesta de la que le escribieron“, in: La batalla en torno a Góngora , ed. Ana Martínez Arancón, Barcelona: Antoni Bosch 1978, pp. 42-44. 17 Cf. Christopher F. Laferl, „Góngora, Espinosa Medrano y la defensa del hipérbaton“, in: Iberoromania 75-76/ 1 (2012), pp. 53-56. <?page no="296"?> nicht gänzlich vor den religiösen Inhalt? Steht also die ästhetische Erfahrung und ihre weitere Unproduktivität (weil sie eben nichts anderes sein will als ästhetische Erfahrung) im Zentrum, und bildet religiöse gongoristische Dichtung wie der Poema heroico nicht das Gegenteil der Forderung des Ignatius in den Exercitia , dass das Wort nicht müßig ausgesprochen werden dürfe, 18 oder darf die ästhetische Erfahrung selbst als Beitrag zur ‚größeren Ehre Gottes‘ gewertet werden? Es mag sein, dass die Lyrik des Johannes vom Kreuz auf einer zweiten Ebene unproduktiv wird, weil die Gottesschau selbst unproduktiv bzw. sich selbst genügend sein muss; zunächst ist sie aber produktiv, weil sie zu dieser Unproduktivität hinführt. Bei Domínguez Camargos Dichtung hat man hingegen von Anfang an den Eindruck, dass man es mit einem Text zu tun hat, der hauptsächlich eines will, nämlich sich selbst genügen. Freilich könnte man bei ihm den Wortexzess, der durch die gongoristische Sprache unübersehbar ist und jedes unmittelbare Verständnis verhindert, bereits als Allegorie für das Dargestellte lesen, nämlich für die ausufernde Pönitenz und die positiv nicht in Worte zu fassende Gottesschau. 18 „Non dicendum verbum otiosum, quale intelligo, quando [quod dico] nec mihi nec alteri prodest, neque ad talem intentionem ordinatur; […]“ (Ignatius de Loyola, Exercitia spiritualia , p. 84). Hernando Domínguez Camargo, San Ignacio de Loyola. Poema heroico 297 <?page no="298"?> Sor Juana Inés de la Cruz, oder: Das Kreuz mit der petrarkistischen Dame Stephan Leopold 1 Este, que ves, engaño colorido, que del arte ostentando los primores, con falsos silogismos de colores es cauteloso engaño del sentido; 5 éste, en quien la lisonja ha pretendido excusar de los años los horrores, y venciendo del tiempo los rigores triunfar de la vejez y del olvido, es un vano artificio del cuidado, 10 es una flor al viento delicada, es un resguardo inútil para el hado: es una necia diligencia errada, es un afán caduco y, bien mirado, es cadáver, es polvo, es sombra, es nada. Sor Juana Inés de la Cruz, Soneto 145 (1689) 1 Spiegel und Gemälde spielen keine geringe Rolle in der Dichtung Sor Juanas. Das Gedicht, das uns hier interessieren soll, handelt von einem Gemälde, das zugleich ein falscher Spiegel ist. Es trägt in der Erstausgabe die Überschrift „Procura desmentir los elogios que a un retrato de la Poetisa inscribió la verdad, que llama pasión“. Sor Juana gehe es also darum, die Lobeshymnen zu widerlegen, die einem Portrait von ihr angeblich die Wahrheit eingeschrieben habe - eine Wahrheit, die sie als Leidenschaft entlarve. Wir wissen nicht mit Sicherheit, von wem die Überschrift stammt. Von Sor Juana ist sie jedenfalls nicht; was man schon daran erkennen kann, dass der Zusatz „que llama pasión“ - also der 1 In: Obras completas de Sor Juana Inés de la Cruz , vol. I, ed. Alfonso Menéndez Plancarte, México D.F.: Fondo de Cultura Económica 1951, p. 277. <?page no="299"?> 300 Stephan Leopold moraltheologische Tadel des geschönten Bildes - im Sonett selbst nicht zum Tragen kommt. Sor Juana spricht nur von „lisonja“ (v. 5), von ,Schmeicheleiʻ also. Nichtsdestoweniger ist die Überschrift hilfreich, da sie eine Ellipse schließt und den Sprechgegenstand benennt. Ansonsten könnte man meinen, dass hier eine grundlegende Ablehnung der (Portrait-)Malerei und nicht die Kritik an einer verfälschenden Darstellung der Dichterin thematisch ist. Das mit dieser Verfälschung verbundene Täuschungsmotiv sticht nun bereits durch die metrisch positionsäquivalente Setzung des Substantivs „engaño“ (vv. 1, 4) ins Auge. Es rahmt das erste Quartett und mutet bei kursorischer Lektüre seltsam tautologisch an. Doch liegt hier in der Tat ein zweifacher „engaño“ vor: Denn zum einen ist das Bild selbst eine farbige Täuschung, da es vorgibt, etwas zu sein, was es nicht ist; zum anderen will es den Betrachter arglistig hinters Licht führen und glauben machen, es würde die Wirklichkeit darstellen. Stattdessen stellt es jedoch nur eine malerische Meisterschaft aus, die es vermag, mit falschen Syllogismen aus Farbe die doppelte Täuschung zu bewirken. Worum es dabei im Besonderen geht, erfahren wir im zweiten Quartett, das syntaktisch dem ersten Quartett ähnelt. Es beginnt mit dem rückverweisenden Demonstrativpronomen „éste“ (v. 5) und schließt damit an den „engaño colorido“ (v. 1) des ersten Verses an. Hier ist nun von der bereits erwähnten Schmeichelei die Rede, die es für sich in Anspruch genommen hat, die Schrecken der Jahre zu beschönigen und, indem sie die unerbittlichen Spuren der Zeit beseitigt, über Alter und Vergessen zu triumphieren. Kurzum: Bild und Abgebildete stimmen nicht überein. Das Bild hat nämlich gerade das getilgt, was für den Menschen wesentlich ist: sein Altern und damit sein Vergehen. Es ist daher vermessen, will es doch die Zeit zum Stillstand bringen und im Diesseits eine Ewigkeit der Jugend simulieren. Das zweite Quartett ist eine Amplificatio des ersten und steht semantisch zugleich antithetisch zu diesem. Während das erste Quartett das Bild - mithin die Täuschung - thematisiert, verweist das zweite Quartett auf das, was das Bild unterschlägt. Diese Antithetik unterstützt das Reimparadigma: So reimt etwa „del arte ostentando los primores“ (v. 2) auf „excusar de los años los horrores“ (v. 6) oder „cauteloso engaño del sentido“ (v. 4) auf „en quien la lisonja ha pretendido“ (v. 5). Diese parallelistisch strukturierte semantische Antithetik wäre perfekt, schlösse der 8. Vers wie der 4. gemäß der Erläuterungsstruktur „este“ … „es“. Das erläuternde „es“ kommt jedoch erst zu Anfang des ersten Terzetts. Damit ist die bisherige Symmetrie bereits leicht in die Schieflage gebracht. Statt der zu erwartenden, mit „es“ eingeleiteten Erläuterung steht nun in der Sonettmitte „triunfar de la vejez y del olvido“ (v. 8) zu lesen. Letzteres scheint dabei eine steigernde Variation der ersten beiden Vorwürfe zu sein. Das somit dreifach ausgefaltete Paradigma ist im Vergleich zum ersten Quartett nun <?page no="300"?> Sor Juana Inés de la Cruz 301 seinerseits eine Steigerung, da dort ja nur ein zweifacher Vorwurf - der der Zurschaustellung malerischer Meisterschaft und der der falschen Syllogismen aus Farbe - vorgebracht wird. Das Prinzip der Steigerung wird noch deutlicher, wenn man die Terzette in den Blick nimmt. Jeder Vers beginnt anaphorisch mit „es“ und lässt sich damit als eine paradigmatische Variation des vierten Verses lesen: „es cauteloso engaño del sentido“. So schließt denn auch das erste Terzett in der Tat an die Kunstisotopie an, wenn es von dem Portrait heißt „es un vano artificio del cuidado“ (v. 9). Letzteres gilt der Sprecherin also als ein gleichermaßen eitles wie nichtiges Machwerk gefallsüchtiger Sorgfalt. Schon der nächste Vers weist allerdings in eine andere Richtung: Die „flor al viento delicada“ (v. 10) ist nämlich nicht mehr dem metaphorischen Bereich der Kunst entnommen, sondern entstammt der Rosentopik. Das Bild, das doch über Zeit und Verfall triumphieren will, scheint auf diese Weise erstmals mit ebenjener Zeitlichkeit beladen, die es doch gerade unterschlagen will. Zugleich wird es aber auch anthropomorphisiert, steht doch die Blume und näherhin die Rose immer auch für die petrarkistische Dame, die sich ihrem Liebhaber verweigert. Diese semantische Gegenstrebigkeit mutet zunächst unvermittelt an. Doch auch den Versen 11 und 12 ist die Zeitlichkeit eingetragen. Das Bild ist ein nutzloser Schutzbrief gegen das Schicksal und damit eine gleichermaßen törichte wie verfehlte Beflissenheit. Dass dem Bild damit möglicherweise in der Tat die „pasión“ innewohnt, von der in der Überschrift zu lesen ist, könnte man an dem Partizip „errado“ (v. 12) belegen, denn dieses verweist innerhalb des petrarkistischen Kontexts unmissverständlich auf den „primo giovenile errore“ (v. 3), als den Petrarca seine Liebe zu Laura im Proömialsonett des Canzoniere bezeichnet. 2 Dieser Umstand muss uns aber vorerst noch nicht weiter interessieren. Das im Blumenbild aufgerufene Moment körperlichen Verfalls kehrt jedenfalls im 13. Vers wieder, wenn dort der Eifer des Malers, dem das Bild entspricht, als „caduco“ ausgewiesen wird. Das Adjektiv caduco meint einen körperlichen Verfall, und eben dieser Verfall steigert sich im Schlussvers dahingehend, dass nun das Bild, sofern man es nur recht besieht - „bien mirado“ (v. 13) -, selbst schon ein „cadáver“ (v. 14) ist. Das Prinzip scheint damit klar: Wir haben es hier mit einem konzeptistischen Gedankenspiel zu tun, bei dem das auf eine Überwindung der Zeit abgestellte Bild schließlich von eben jener Zeit eingeholt sein wird, die es so sorgsam zu verbergen suchte. Am Ende ist das Bild ein Leichnam, der im Verlauf des letzten, viergliedrigen Verses erst Staub, dann Schatten und schließlich zu nichts wird. Aus dem Bild ist ein Mensch geworden und also sterbliche Kreatur. Was aber ist mit der Abgebildeten geschehen? 2 Cf. Francesco Petrarca, Canzoniere , ed. Marco Santagata, Milano: Montadori, p. 5. <?page no="301"?> 302 Stephan Leopold Das Sonett bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt. Anders als es bei der ansonsten strengen Symmetrie zu erwarten wäre, scheint die Abgebildete aus dem Gedicht gänzlich zurückzutreten. Dies mag nun doppelt befremdlich anmuten, da sie ja einerseits selbst bereits „de los años los horrores“ (v. 6) aufweist, andererseits - zumindest im Falle eines Portraits - zugleich die Sprecherin des Gedichts ist. Während das Bild nun im weiteren Verlauf von eben jenen Alterungserscheinungen erfasst wird, erfahren wir über die Abgebildete nichts. Wir haben es folglich mit einem unvollkommenen Chiasmus zu tun: Die erste Entsprechung von Bildnis und Abgebildeter ist ausgeführt, die zweite bleibt auf Seiten der Abgebildeten elliptisch. Dies ließe sich so visualisieren: Bild Abgebildete Tilgung des Alterungsprozesses alternder Körper „vano artificio del cuidado“ „de los años los horrores” X dem Alterungsprozess unterworfen Ø „bien mirado, / Es cadáver“ Als Erklärung für diese Schieflage hat Bernhard Teuber einen bedenkenswerten Lösungsvorschlag angeboten. Er ist davon ausgegangen, dass die Dichterin sich selbst - und nicht das Bild - als einen aufgebahrten und bereits von der Verwesung erfassten Leichnam imaginiert und auf diese Weise über ihren eigenen Tod als sprechendes Subjekt triumphiert. 3 Im barocken Kontext ist dies eine mehr als denkbare Lektüre. Sie hat jedoch zur Voraussetzung, dass Bild und Abgebildete, Bildkritik und Selbstbehauptung im Sinne eines trompe lʼœil ineinander übergehen und die Figur der Täuschung letztlich von der Sprecherin selbst in den Dienst genommen wird. Was eingangs noch ein Gemälde schien, entpuppt sich - im Sinne des „bien mirado“ (v. 11) - nach und nach als der Kadaver der Sprecherin, und die Ellipse auf semantischer Ebene wäre damit erst die Ermöglichungsfigur für ein Sprechen jenseits medialer Repräsentation, um nicht zu sagen für ein Sprechen aus dem Jenseits. Diese ingeniöse Deutung geht nun allerdings zulasten der Anthropomorphisierung des Portraits als Portrait, wie sie sich in den paradigmatischen Ausfaltungen der Terzette doch zu vollziehen scheint. Denn so ergibt sich eine Art medialer Sprung, durch den Abbild und Abgebildete nicht nur identisch werden, 3 Cf. Bernhard Teuber, „Selbstportrait der Dichterin als Leichnam. Malerei, Poesie und Begehren bei Sor Juana Inés de la Cruz“, in: Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft , edd. Roger Lüdeke, Erika Greber, Göttingen: Wallstein 2004, pp. 209-236. <?page no="302"?> Sor Juana Inés de la Cruz 303 sondern das der Täuschung und Schmeichelei bezichtigte Abbild zugleich auch wahr wird. Damit geht dann nicht zuletzt die konzeptistische Pointe verloren, wonach das auf Täuschung abgestellte Gemälde eben jener Zeit unterworfen wird, die es doch gerade unterschlägt. Das gleiche gilt für die chiastische Anlage des Gedichts. Will man aber diesen beiden Aspekten Rechnung tragen, so müsste man die Ellipse hinsichtlich der Abgebildeten weiterhin voraussetzen und gegebenenfalls anders füllen. Hierfür scheint mir zu sprechen, dass Sor Juana mit ihrem Gedicht nicht nur die Malerei in den Schatten stellen will, sondern zugleich auch auf eines der berühmtesten Sonette Góngoras antwortet, das seinerseits eine Abrechnung mit dem Petrarkismus ist, wie sie bei Sor Juana in der „necia diligencia errada“ (v. 12) bereits anklang: 1 Mientras por competir con tu cabello oro bruñido al sol relumbra en vano; mientras con menosprecio en medio el llano mira tu blanca frente el lilio bello; 5 mientras a cada labio, por cogello, siguen más ojos que al clavel temprano, y mientras triunfa con desdén lozano del luciente cristal tu gentil cuello, goza cuello, cabello, labio y frente, 10 antes que lo que fue en tu edad dorada oro, lilio, clavel, cristal luciente, no sólo en plata o víola troncada se vuelva, mas tú y ello juntamente en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada. 22 4 Ein Blick auf den letzten, fünfgliedrigen Vers lässt unschwer erkennen, dass Sor Juana die ersten beiden Elemente „en tierra, en humo“ (v. 14) in ihrer eigenen Schlussfügung durch die ungleich stärkere Setzung „cadáver“ (v. 14) überschreibt. Das ist ein Überbietungsgestus, dem schon deshalb ein poetologischer Status zukommt, weil sich Góngora in seinem Gedicht seinerseits in einer Überbietung Garcilasos de la Vega übt. Ich würde daher meinen, dass diese intertextuelle Kette möglicherweise darüber Aufschluss gibt, in welchem Verhältnis Kadaver und Sprecherin bei Sor Juana stehen. Hier Góngoras Intertext: 4 Luis de Góngora, Sonetos completos , ed. Biruté Ciplijauskaité, Madrid: Castalia, p. 230. <?page no="303"?> 304 Stephan Leopold 1 En tanto que de rosa y d’azucena se muestra la color en vuestro gesto, y que vuestro mirar ardiente, honesto, con clara luz la tempestad serena; 5 y en tanto que’l cabello, que’n la vena del oro s’escogió, con vuelo presto por el hermoso cuello blanco, enhiesto, el viento mueve, esparce y desordena: coged de vuestra alegre primavera 10 el dulce fruto, antes que’l tiempo airado cubra de nieve la hermosa cumbre Marchitará la rosa el viento helado, todo lo mudará la edad ligera por no hacer mudanza a su costumbre. 5 5 Garcilasos Sonett gehorcht einer klaren carpe diem -Struktur. Die Oktave beschreibt die junge Frau in ihrer frühlingshaften Schönheit, das Sextett hebt die Schrecken des Alters hervor, wodurch die Angesprochene dazu bewegt werden soll, die Zeit zu nützen und sich der Liebe hinzugeben, bevor es dafür zu spät ist. Góngora folgt auf den ersten Blick diesem Schema: Den Imperativ „coged“ (v. 9), mit dem Garcilaso das Sextett einleitet, ersetzt er positions- und sinnäquivalent mit dem Imperativ „goza“ (v. 9) - dennoch ist seine Stoßrichtung eine völlig andere. Dies lässt sich schon an den sehr unterschiedlichen Frauendarstellungen erkennen. Bei Garcilaso haben wir eine schöne, zwischen Sinnlichkeit und Keuschheit changierende Dame, deren goldenes Haar vom Wind zerzaust wird. Góngora lässt von dieser Sinnlichkeit nichts übrig: Seine Dame ist ein kalter Narziss, der selbst auf sein metaphorisches Gegenstück, den „lilio bello“ (v. 4), mit Geringschätzung blickt und dessen edler Hals mit Verachtung über den hell glänzenden Spiegel triumphiert. Die Frau, so scheint es, ist also noch weit schöner als alle denkbaren Metaphern und so triumphiert sie denn auch nicht nur über die sie beschreibenden Metaphern, sondern zugleich auch über eine Dichtung, die sie nicht einzufangen vermag. Dieser Einzigartigkeit gegenläufig sind die Metonymien, in die Góngora die Frau gemäß der Konvention des Schönheitskatalogs zerlegt: „cabello“, „blanca 5 Garcilaso de la Vega, Obra poética y textos en prosa , ed. Bienvenido Morros, Barcelona: Crítica 1995, p. 43. <?page no="304"?> Sor Juana Inés de la Cruz 305 frente“, „labio“, „cuello“ (v. 9). Diese Metonymien triumphieren nun insofern über die Frau, als sich der Imperativ „goza“ (v. 9) nicht mehr wie bei Garcilaso an die Frau selbst richtet, sondern jede der Metonymien dazu auffordert, ihrerseits zu genießen. Der Effekt, der sich dadurch ergibt, besteht in einer Zerstückelung und zugleich Tilgung der Frau als Ganze. Die Frau scheint also bereits hier als jenes „nada“ (v. 14) auf, das sie am Ende sein wird, wenn Góngora jede einzelne Metonymie „cuello, cabello, labio y frente“ (v. 9) sowie die korrespondierenden Metaphern „oro“, „lilio“, „clavel“ „cristal luciente“ (v. 11) genüsslich - und fast ist man versucht zu sagen: sadistisch - in die Verfallskette des letzten Verses aufgelöst hat. Damit komme ich zurück zu Sor Juana, die mit Góngora nicht nur den Schlussvers, sondern auch den aggressiven Gestus teilt. Wo Góngora die schöne Frau zerstückelt und schließlich in Nichts verwandelt, zerstört sie das schöne, aber falsche Abbild der Frau bzw. ihrer selbst. Nimmt man die „pasión“ der Überschrift ernst, so vernichtet sie damit ein Bild, das gerade deshalb falsch ist, weil es den Konventionen weiblicher Schönheitsdarstellung gehorcht und die reale, der Zeitlichkeit unterworfene Frau tilgt. Dieses Bild - nicht sie selbst - ist „cadáver“ und „nada“ (v. 14). Oder anders gesagt: Sor Juana wehrt sich gegen eine Projektion, die sie vermittels eines Schönheitskatalogs und im Sinne einer „necia diligencia errada“ (v. 12) zur petrarkistischen Dame macht. So besehen stellt sich nun erneut die Frage nach der chiastischen Anlage unseres Sonetts. Man kann sie, wie gesagt, dahingehend auflösen, dass Abbild und Abgebildete zusammenfallen und Sor Juanas Ermächtigungsgeste darin besteht, sich als verwesenden Leichnam zu imaginieren. Will man den Chiasmus indes beibehalten, ergibt sich eine alternative Lesart. Ich stimme mit Bernhard Teuber völlig überein, dass Sor Juana bestrebt ist, vermittels der Sprache zu überdauern. Diese Sprache ist jedoch meines Erachtens das Gedicht selbst. Sprache, Gedicht und also eine intellektuelle Tätigkeit stehen dem Bild entgegen. Das Bild täuscht die Sinne, die Sprache ist der Ausdruck des Geistes. Und eben der Gebrauch dieses Geistes steht seit der Scholastik weit über den sinnlichen Anschauungen, zu denen das Bild ja gehört. Das Bild entwirft weibliche - und also ihre, Sor Juanas, - Schönheit gemäß dem Schönheitskatalog: Es entwirft die Frau als schönen Körper. Das Bild ist stumm. Sor Juana ist im Gegenzug beredt, wodurch sie das Bild auch ihrer Sprache zu unterwerfen vermag. Sie zeiht es der arglistigen Sinnestäuschung und setzt den „falsos silogismos de colores“ (v. 3) ihre eigene konzeptistische Dichtung entgegen, die es ihr erlaubt, über das Bild - und die darin konkretisierte Weiblichkeitskonzeption - zu triumphieren. Auch hierin imitiert Sor Juana Góngora; denn wie dieser wendet sie sich gegen die topische Schönheit des Petrarkismus. Doch wo Góngora nach einer anderen Liebeskonzeption sucht, entwirft sie sich in ihrem Sonett performativ <?page no="305"?> 306 Stephan Leopold als ein sprechendes und denkendes Subjekt, das zu seiner Selbstkonstitution weder Jugend noch Schönheit braucht. Das scheint mir die eigentliche Pointe des Gedichts. Die Sprecherin tadelt das Bild, weil es den Schrecken der Jahre - „de los años los horrores“ (v. 6) - nicht Rechnung trage, und zeigt sich doch zugleich in ihrer Dichtung als von jeder Alterserscheinung unangefochten. An einer Stelle sagt Sor Juana einmal „las almas distancia ignoran y sexo“ 6 -, und um eben diese „alma“, so will ich meinen, geht es ihr auch in unserem Sonett. Seele als Geist, geistige und geistreiche Individualität triumphiert hier über die vermeintlich schmeichelhafte, topische Darstellung im Medium des Bildes. Ich will daher nun auch den Vorschlag machen, den elliptischen Chiasmus folgendermaßen zu füllen: Bild Abgebildete Tilgung des Alterungsprozesses alternder Körper „vano artificio del cuidado“ „de los años los horrores“ X dem Alterungsprozeß unterworfen Unsterblicher Geist („alma“) „bien mirado, / Es cadáver“ realisiert im Gedicht selbst Poetologisch thematisch ist hier das Verfahren des „ut pictura poesis“. Damit ist ursprünglich - also bei Horaz in De Arte poetica - gemeint, dass die Dichtung und Malerei die gleiche Wirkung hätten. 7 In der Renaissance und im Barock wird daraus ein Überbietungsunterfangen, bei dem die Dichtung antritt, die Malerei zu überbieten. Was Sor Juanas Gedicht in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist die Art und Weise, wie sie die Malerei überbietet. An die Stelle des Bildes, des falschen Abbildes, setzt sie ein Gedicht, das insofern wahres Abbild ist, als es direkter Ausdruck ihres einzigartigen Selbst ist. So kommt es auch, dass das Bild, das sich selbst in einen Kadaver verwandelt, der in der Sonettmitte gesetzten Vorgabe „triunfar de la vejez y del olvido“ (v. 8) gerade nicht gerecht zu werden vermag. Sor Juanas Sonett hingegen gelingt ebendies: Ihr Geist ist vom Verfall des Körpers frei, ja er überdauert den Körper sogar und mit ihm das Vergessen. Ich erlaube mir darum auch eine letzte Spekulation hinsichtlich der chiastischen Anlage des Sonetts. Denn gerade weil der Chiasmus auf der Oberfläche des Gedichts nur unvollkommen zur Ausführung kommt, wird er zu einer Figur 6 Sor Juana, Obras completas , p. 56, v. 112 („Romance a María Luisa, Condesa de Paredes [XIX]“). 7 Cf. Horaz, Sämtliche Werke (lat./ dt.), München, Zürich: Artemis & Winkler, p. 566, v. 361. <?page no="306"?> Sor Juana Inés de la Cruz 307 der Erkenntnis und als solches genuin konzeptistisch. Konzeptismus besteht, wie wir von Gracián wissen, in einem Erkennen ansonsten verborgener Bezüge. Demgemäß bedarf der Leser, der die konzeptische Pointe des Gedichtes erkennt, auch der agudeza, und damit eben jenes Geistes, den das Gedicht für sich selbst in Anspruch nimmt, wenn es über die dem Körper verhaftete, mithin seelenlose und dem Tod verfallene Malerei triumphieren will. Das heißt allerdings keineswegs, dass Sor Juana sich nicht auch eines visuellen Effekts zu bedienen weiß. Gemäß seiner Wortbedeutung ist der Chiasmus eine Überkreuzung, mithin eine Art Andreaskreuz, das, sofern man es in dem Gedicht erkennen will, nicht zuletzt wohl auch die Signatur von dessen Verfasserin wäre: Sor Juana Inés de la Cruz. Das Gedicht selbst ist schließlich das beste Zeugnis für seine Aussage. Wir lesen es heute wieder, und immer wieder erfreuen wir uns des unsterblich gewordenen Geistes seiner Verfasserin. Wenige Tote - so Octavio Paz in seiner großen Studie 8 - sind nach dreihundert Jahren so lebendig wie Sor Juana. 8 Cf. Octavio Paz, Sor Juana Inés o las trampas de la fe , Barcelona: Seix Barral 1982, p. 18. <?page no="308"?> La volupté perverse. 309 La volupté perverse. Zur Figur der Salome bei Arsène Houssaye Gerhard Poppenberg 1 Ève a soif. Et Satan sur les lèvres lui verse Quelques gouttes de sang de vipère. Et soudain Elle se sent au cœur la volupté perverse… Et les crimes bientôt envahirent l’Éden. 5 Ce breuvage a toujours empoisonné la femme : Il l’a faite plus belle en ses séductions ; Mais quand Dieu l’abandonne, elle devient infâme, Nul ne peut l’assouvir dans ses tentations. O blonde Salomé ! femme, monstre, chimère 10 Froide sous le soleil, ta curiosité Veut se nourrir du sang d’un martyr. Et ta mère Sera de ce festin de sang et de beauté. Le spectacle d’un juste immolé qui pardonne À tes plaisirs malsains comme à ta cruauté, 15 Irrite de désirs tes seins vibrants, et donne Encore plus d’éclat à ta fière beauté. Tu montres tout ton corps en tes abandons lâches, Et tu ferais rougir jusqu’à tes diamants ; Mais ton crime te brûle au front ; aussi tu caches 20 Par tes cheveux ton front où sont les châtiments. Arsène Houssaye, Salomé (1885) 1 1 Die zitierten Texte werden, sofern nicht anders angegeben, nach dem von Thomas Rohde herausgegebenen Band Mythos Salome , Leipzig: Reclam 2000 mit Seitenangaben im laufenden Text belegt. Houssayes Gedicht findet sich auf p. 218 sq. <?page no="309"?> 310 Gerhard Poppenberg Salome ist eine historische Person, eine Tochter aus bestem Hause, wie José Ortega y Gasset in seinem „Schema Salomes“ (1925) schreibt: „in Palästina eine verwöhnte und müßige Prinzessin“ (p. 221). Die historische Salome gibt den Literalsinn für die Figur, als die Salome im Laufe der Jahrhunderte der christlichen Ära immer wieder Bedeutung erlangt hat. Die Geschichte ist aus den Evangelien und den historiographischen Berichten der Antike zu rekonstruieren. Ernest Renan hat in Vie de Jésus (1863) die historischen Fakten zusammengetragen und damit für die folgende Zeit maßgebend den Stand der historiographischen Kenntnisse dargestellt. 2 In der liturgischen Ordnung des Kirchenjahrs wird das Fest des heiligen Johannes des Täufers zur Zeit der Sommersonnenwende gefeiert; es korrespondiert dem Fest der Geburt Christi zur Zeit der Wintersonnenwende. Johannes ist der Vorläufer Jesu Christi. Die spätere Überlieferung fügt der Geschichte weitere Sinnebenen hinzu. Die Kommentare der Kirchenväter geben eine Deutung vor, die in den folgenden Jahrhunderten in einer legendenhaften wie ikonischen Tradition weitergeführt wird. Johannes Chrysostomos hat die satanische Dimension der Geschichte und der an ihr Beteiligten herausgestellt und ihre Konnotationen sexueller Verworfenheit betont. Salome stellt „trotz ihrer Jungfernschaft sämtliche Huren in den Schatten“. Der „tolle Herodes“ hat das „von Leidenschaft trunkene Mädchen, das vor nichts zurückschreckte, zur Herrin seines Willens“ gemacht, und Herodias, seine Frau, war „noch schlechter als alle anderen, schlechter als das Mädchen und der Tyrann“. Die Konstellation der jungen Prinzessin und ihrer Mutter zwischen den beiden Männern, dem König Herodes und dem Täufer Johannes, wird in den verschiedenen Versionen der Figur unterschiedlich gestaltet. Der Tanz der Salome ist für den Kirchenvater der Inbegriff des Satanischen: „Wo eben ein Tanz ist, da ist auch der Teufel dabei“ (pp. 68-70). Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Salome zu einer literarischen Figur. 3 Heinrich Heine hat in Atta Troll (1843) die Grundelemen- 2 Cf. Ernest Renan, Vie de Jésus (1863), cap. VI und XII, in: Id., œuvres complètes , ed. Henriette Psichari, Paris: Calman-Lévy 1949, pp. 144-155, 206-211. 3 Cf. Marc Bochet, Du voile au dévoilé. Métamorphoses littéraires et artistiques d’une figure biblique , Paris: Cerf 2007; Hugo Daffner, Salome. Ihre Gestalt in Geschichte und Kunst. Dichtung, Bildende Kunst, Musik , München: H. Schmidt 1912; Cynthia Darian, Salomé danse-t-elle ? Enquête sur les représentations littéraires et chorógraphiques d’un mythe féminin aux XIXème et XXème siècle , Thèse de doctorat de l’université de Pau 2013; Salomé , ed. Mireille Dottini-Orsini, Paris: Autrement 1996; Bertrand Marchal, Salomé - entre vers et prose. Baudelaire, Mallarmé, Flaubert, Huysmans , Paris: Corti 2005; Kerstin Merkel, Salome. Ikonographie im Wandel. Frankfurt/ M.: Lang 1990; Erika Wäcker, Die Darstellung der tanzenden Salome in der bildenden Kunst zwischen 1870 und 1920, Dissertation FU Berlin, 1993; Sandra Walz, Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum Mythos „Salomé“ und dessen Rezeption durch die europäische Literatur des fin de siècle , München: Meidenbauer 2008; Lissy Winterhoff, Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdi- <?page no="310"?> La volupté perverse 311 te des literarischen Salome-Komplexes vorgebildet, indem er die theologische Deutung ins Säkulare wendet. Salome wird zur Figur der sexuell höchst attraktiven femme fatale , die den ihr verfallenen Männern Verderben bringt (Caput XVIII-XX, pp. 184-192). Im selben Jahr hat Théophile Gautier in seinem Gedicht „A Madrid“ (1843) die Salome-Figur in die Gegenwart übertragen und zugleich durch die Verlagerung nach Spanien, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Gestalt des europäischen Imaginären wird, wiederum mit einer exotischen Aura umgeben. Auch bei ihm sind die Elemente der femme fatale versammelt. Das Ich des Gedichts trifft eine junge spanische Marquise - „belle, et d’une grâce exquise“ - in ihrem Boudoir, wo sie ihre Bewunderung für eine hyperrealistisch gestaltete Skulptur des enthaupteten Johannes des Täufers bekundet, auf deren Details sie das Ich ausführlich und „d’une voix claire et douce“ hinweist. Sie beschreibt die furchtbare Skulptur und die grausame Szene, die sie evoziert, auf galante Weise und lädt die Szene im Boudoir erotisch auf, indem sie ihre durch das abgeschlagene Haupt des Täufers erregte Leidenschaft auf das Ich überträgt: „souriant d’un sourire charmant, / L’œil humide et lustré comme pour un amant“ (p. 232). Das Objekt ihres Begehrens ist einerseits der Täufer, andererseits ihr Besucher, den sie mit diesem lasziven Blick anschaut und für den sie eine ebenso grausame Geliebte sein will - oder der diese grausame Geliebte in ihr finden will. Zur Zeit der Arbeit an seinem Hérodiade -Gedicht hat Stéphane Mallarmé in einem Brief vom 31. Dezember 1865 an Auguste Villiers de l’Isle Adam die Bedeutung der Figur formuliert: „donner les impressions les plus étranges, certes, mais sans que le lecteur oublie pour elles une minute la jouissance que lui procurera la beauté du poème. En un mot, le sujet de mon œuvre est la beauté, et le sujet apparent n’est qu’un prétexte pour aller vers Elle. C’est, je crois, le mot de la Poésie.“ 4 Die Dichtung und ihre Schönheit werden für Mallarmé und seine Zeitgenossen durch den Komplex der Salome konfiguriert. Salome ist offenbar ein lieu d’imagination , so könnte man eine Analogie zur Idee des lieu de mémoire bilden. Sie ist eine Gestalt des kollektiven Imaginären der Zeit, sofern es in der Dichtung und der Kunst ausgebildet wird. Die Geschichte Salomes in den Evangelien ist denkbar unspektakulär und kann gerade deshalb zu einer Projektionsfläche für Deutungen aller Art werden. Der Protagonist aus Joris-Karl Huysmans A rebours (1884), Floressas des Essseintes, kommentiert das und fasst die Entwicklung der Figur in den Texten sche Prinzessin Salomé als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwend e, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. 4 Stéphane Mallarmé, Correspondance 1862-1871, ed. Henri Mondor, Paris: Gallimard 1959, p. 193; auch in: Stéphane Mallarmé, œuvres complètes , ed. Bertrand Marchal, vol. I, Paris: Gallimard 1998, p. 687. <?page no="311"?> 312 Gerhard Poppenberg und Bildern der vergangenen vierzig Jahre in seinen Kommentaren zu den Salome-Bildern Gustave Moreaus zusammen. Das Auratische von Hysterie und Neurose ist an die Stelle der Aura des Religiösen getreten. Die Evangelisten haben die „charmes délirantes“ und die „actives dépravations de la danseuse“ nicht dargestellt. „Elle demeurait effacée, se perdait, mystérieuse et pâmée, dans le brouillard lointain des siècles, insaisissable pour les esprits précis et terre à terre, accessible seulement aux cervelles ébranlées, aiguisées, comme rendues visionnaires par la névrose ; […] incompréhensible pour tous les écrivains qui n’ont jamais pu rendre l’inquiétante exaltation de la danseuse, la grandeur raffinée de l’assassine“ (p. 106). Das Gedicht von Arsène Houssaye erscheint im folgenden Jahr in dem Band Les Onze Mille Vierges (1885). Er aktualisiert die theologischen Untertöne der Figur und gibt ihnen eine erstaunliche Wendung. Das Gedicht stellt die Figur der Salome in eine Konstellation mit Eva. Salome selbst erscheint erst in der dritten Strophe. Indem es den paradiesischen Sündenfall als die heilsgeschichtliche Urszene evoziert, eröffnet es den denkbar größten Kontext. Die erste Strophe beginnt mit Evas Durst, von dem nicht gesagt wird, ob es der Wissensdurst nach Erkenntnis des Guten und Bösen ist. Er wird von Satan entsprechend nicht mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis, sondern mit Schlangenblut gestillt. Das gibt Eva - Adam kommt nicht vor - nicht Einsicht, sondern Lust: „volupté perverse“ (v. 3). In der Folge dieser perversen Lust zieht allerdings das Verbrechen im Garten Eden ein. Das Böse hat seinen Grund also nicht in der Erkenntnis, sondern in der volupté perverse . Das Gedicht über Salome beginnt mit Eva und dem Sündenfall, führt also die Figur der Salome bis zur paradiesischen Ursünde zurück und leitet sie aus ihr her. Eva ist die Präfiguration der Salome, diese eine neue Eva, eine Gestalt des durch Eva konfigurierten Weiblichen. Eine weitere Implikation dieser Konstellation mit der Urszene könnte sein, dass ein bestimmtes Verhalten, das an Eva und an Salome vorgestellt wird, in der Natur der gefallenen Eva und ihrer Nachfolgerinnen liegt. Die volupté perverse und die aus ihr hervorgehenden Verbrechen sind nicht so sehr eine Sache der Erkenntnis und der geistigen Einstellung, sondern gehen aus natürlicher Nahrung, dem Trank von Schlangenblut hervor. Die zweite Strophe weitet diese Urszene ins Allgemeine aus. Der paradiesische Teufelstrank hat die Frau auf immer vergiftet, aber dieses Gift und die volupté perverse , die es bewirkt, hat die Frau auch schöner und verführerischer gemacht. Allerdings ist es, da Gott die Frau verlassen und aus dem Paradies vertrieben hat, eine ruchlose Schönheit: „elle devient infâme“ (v. 7). Die Aussage wird noch verstärkt dadurch, dass „infâme“ das Reimwort zu „femme“ (v. 5) bildet. Das Ruchlose und das Weibliche bilden also eine feste Verbindung. Ihre Wünsche und Begierden sind im Zustand der Gottverlassenheit unstillbar. <?page no="312"?> Die Hauptwirkung des Sündenfalls und der Vergiftung durch Satan ist die Steigerung der weiblichen Schönheit. Sie ist dadurch verführerischer und begehrenswerter geworden. Gemäß einem mittelalterlichen Adagium gilt: „malum auget decorem mundi“. Dem Bösen eignet ein Moment von Schönheit, das die menschliche und weltliche Schönheit steigert. Und die Verkörperung dieser teuflisch gesteigerten Schönheit ist die Frau mit ihrer volupté perverse . Diese Schönheit ist aber infâme , und das daraus hervorgehende Begehren ist unersättlich. Gott ist das absolute Objekt des Begehrens und seiner Erfüllung. Der Mangel dieses absoluten Objekts führt in der von Gott verlassenen Kreatur zur absoluten Nicht-Erfüllung. Die Stillung des Dursts durch das Schlangenblut in der paradiesischen Urszene führt zur strukturellen Unstillbarkeit des Begehrens in der Welt nach dem Fall: „Nul ne peut l’assouvir“ (v. 8). Dieser allgemeine Befund wird in der dritten Strophe wieder ins Partikulare gewendet. Eva ist das Muster von Weiblichkeit, und Salome ist eine besondere Ausprägung dieses Musters. Sie ist „femme, monstre, chimère“ (v. 9) und sie ist „Froide sous le soleil“ (v. 10). Das Schlangenblut hat sie mit Schlangeneigenschaften ausgestattet. Entsprechend ist das Objekt ihrer Gier wiederum das Blut, das aber dieses Mal das eines Märtyrers ist. Ihr durch und durch verdorbenes Begehren und ihre Bösartigkeit finden ihr Objekt in dem moralisch gegensätzlichen Feld des Guten: „ta curiosité / Veut se nourrir du sang d’un martyr“ (v. 10sq.). Und bei diesem „festin de sang et de beauté“ (v. 12) ist ihre Mutter mit von der Partie. Das ist zum einen die Mutter Herodias aus der Geschichte der Salome, zum anderen aber auch die Ur-Mutter Eva aus der paradiesischen Urszene. Salome als die neue Eva ist femme, monstre, chimère , ein gefährliches Mischwesen aus Frau und Schlange, dessen Hauptcharakteristikum die Kälte ist. Weil ihr Begehren unersättlich ist, will sie es an einem Objekt stillen - dem unschuldigen Gottesmann -, das dem absoluten Objekt möglichst nahe kommt. Die vierte Strophe evoziert die Enthauptung des Täufers unter dem Aspekt der Triebstruktur Salomes. Der Vorgang wird als Szene vorgestellt; für Salome ist es ein Schauspiel, dessen Besonderheit ihr Begehren noch steigert. Die Tatsache, dass der unschuldig Getötete die grausamen „plaisirs malsains“ (v. 14) - sie sind die Gestalt der volupté perverse in Salome -verzeiht, stachelt ihr Begehren noch mehr an und gibt dadurch ihrer „fière beauté“ (v. 16) noch mehr Glanz. Ihre perverse Lust, das Ruchlose und Infame des unersättlichen Begehrens wird durch das Opfer des Heiligen und seine Vergebung keineswegs gestillt, sondern in seiner Unersättlichkeit noch weiter angestachelt, das Böse wird durch das Gute noch gesteigert. Und wenn die Schönheit der Salome dadurch noch strahlender wird, drängt sich die Vermutung auf, dass es sich nicht mehr um die Schönheit der Schöpfung handelt, die durch das Böse gesteigert wird, sondern umgekehrt - das ist die tiefste Ausprägung der volupté perverse - die La volupté perverse 313 <?page no="313"?> 314 Gerhard Poppenberg Schönheit des Bösen, die durch die Interferenz mit dem Guten gesteigert wird. Die Charakterisierung der Schönheit Salomes als fière beauté unterstreicht das. Das mittelalterliche Adagium wäre dann entsprechend im Geist einer ‚Diabolodizee‘ neu zu formulieren: bonum auget decorem infamiae . Die letzte Strophe macht das Prinzip der satanisch induzierten Schönheit erkennbar. Salome entblößt bei ihrem Tanz ihren weichen hingebungsvollen Körper. Die Schönheit nach dem Fall ist die der Materie und des Körpers. Das Weibliche der Eva-Salome ist das Körperliche, das der Tanz in seiner fleischlichen Pracht zeigt. Und der Tanz, so Johannes Chrysostomos, ist das Signum der satanisch verworfenen Schönheit. „Wo eben ein Tanz ist, da ist auch der Teufel dabei.“ Das wird durch eine hyperbolische Figur deutlich gemacht: „Et tu feras rougir jusqu’à tes diamants“ (v. 18). Der Diamant ist einerseits der Inbegriff des Harten und Unnachgiebigen, andererseits das Muster strahlenden Leuchtens. Und als dieser gibt er doch nach und errötet in seinem Strahlen angesichts der fière beauté Salomes. Die letzten beiden Verse scheinen diese Perversion des Theodizee-Gedankens zurückzunehmen. Salome trägt als Zeichen ihres Verbrechens ein Mal auf der Stirn, das allerdings durch ihr Haar wiederum verborgen wird. Da das Infame der weiblich-satanischen Schönheit im Körperlichen des Nackt-Tanzes liegt, muss auch die Strafe körperlich sein. Ob dieses Infame der Schuld und der Strafe seinerseits die perverse Schönheit noch einmal steigert, oder ob das Gedicht - erschrocken über seine eigene konzeptuelle Kühnheit - am Ende eine moralisierende Wende nimmt, ist nicht leicht zu sagen. Acht Jahre später macht Oscar Wilde in seinem Drama Salomé (1893) die Unersättlichkeit des Begehrens zum Hauptagenten des Verhaltens der Salome: „Ni les fleuves ni les grandes eaux, ne pourraient éteindre ma passion.“ 5 Eine Nebenfigur des Stücks fasst den Komplex der - perversen - Theodizee zusammen: „On ne peut pas savoir comment Dieu agit, ses voies sont très mystérieuses. Peut-être ce que nous appelons le mal est le bien, et ce que nous appelons le bien est le mal. On ne peut rien savoir.“ 6 5 Oscar Wilde, The Complete Works , vol. V: The Duchess of Padua, Salomé. Drame en un acte. Salomé. Tragedy in one act , ed. Joseph Donohue, Oxford: University Press 2013, pp. 503-563, hier p. 561. 6 Ibid., p. 535. <?page no="314"?> “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober”. Language Evolution and Constructions of Masculinity in Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language Ursula Lenker [1] § 2. It is, of course, impossible to characterize a language in one formula; languages, like men, are too composite to have their whole essence summed up in one short expression. Nevertheless, there is one expression that continually comes to my mind whenever I think of the English language and compare it with others: it seems to me positively and [5] expressly masculine , it is the language of a grown-up man and has very little childish or feminine about it. A great many things go together to produce and to confirm that impression, things phonetical, grammatical, and lexical, words and turns that are found, and words and turns that are not found, in the language. In dealing with the English language one is often reminded of the characteristic English handwriting; just as an [10] English lady will nearly always write in a manner that in any other country would only be found in a man’s hand, in the same manner the language is more manly than any other language I know. […] §. 17. […] The French language is like the stiff French garden of Louis XIV, while the English is like an English park, which is laid out seemingly without any definite plan, and in which you are allowed to walk everywhere according to your [15] own fancy without having to fear a stern keeper enforcing rigorous regulations. […] §. 18. This is seen, too, in the vocabulary. In spite of the efforts of several authors of high standing, the English have never suffered an Academy to be instituted among them like the French or Italian Academies, which had as one of their chief tasks the regulation of the vocabulary so that every word not found in their Dictionaries was blamed as [20] unworthy of literary use or distinction. In England, every writer is, and has always been, free to take his words where he chooses […]. §. 19. To sum up: The English language is a methodical, energetic, business-like and sober language, that does not care much for finery and elegance, but does care for logical consistency and is opposed to any attempt to narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon. Otto Jespersen, Growth and Structure of the English Language (1905) 1 1 Tenth ed. with a foreword by Randolph Quirk, Oxford: Blackwell 1982 [first edition: Leipzig, London and New York: Teubner 1905], chapter I: “Preliminary Sketch”, pp. 1-16 (§ 2: p. 2, §§. 17-18: pp. 14-16). - Otto Jespersen (1860-1943) was a Danish linguist and professor of English at the University of Copenhagen from 1893 to 1925 and has without doubt been one of the most influential scholars in English linguistics. 1 5 10 15 20 <?page no="315"?> 316 Ursula Lenker One does not necessarily expect to learn anything about constructions of masculinity from an introductory textbook to the English language. Yet, in this passage taken from the first chapter (“Preliminary Sketch”) of the probably most widely read introduction to the English language in the 20th century - Otto Jespersen’s Growth and Structure of the English Language (1905) 2 - it is “masculinity” which is identified as the most characteristic trait of the English language: Compared to “other languages” (l. 4, l. 12), 3 English is “ masculine ” (italics in the original; l. 5) and “manly” (l. 11). As revealed by the pre-modifiers “positively and expressly ( masculine )” (l. 4-5) and by the comparative “more (manly than any other language I know)” (l. 11-12), this masculinity is presented as a patently positive feature. Its contrast - characterizing, for instance, Italian (p. 3, p. 8) - is portrayed by the clearly negatively connoted collocation “childish or feminine” (l. 5-6). In this short study, it will be shown how these - not only at first glance rather odd - portrayals are grounded in Jespersen’s evolutionary conceptualization of language change reflecting ‘survival of the fittest’: this, in Jespersen’s view, becomes manifest when languages reach the highest degree of communicative effectiveness by the fewest and simplest means, a case of which - in Jespersen’s understanding - the masculine English language proves to be. In obvious contrast to his claim, namely that “languages […] are too composite to have their whole essence summed up in one short expression” (l. 1-2), Jespersen still chooses to rely on a single concept for this undertaking, which finds its verbal expression in the adjective “ masculine ” and synonyms such as “manly”, “male” (p. 4) or “virile” (p. 10). This conceptualization of English as masculine is - as far as I can see - unique to Jespersen and permeates Growth and Structure , and particularly its first chapter, as a megametaphor: “A great many things go together to produce and to confirm that impression [= the English language being masculine, having very little feminine or childish about it], things phonetical, grammatical, and lexical, words and turns that are found, and words and turns that are not found, in the language” (l. 6-8). In (a) to (d), some selected examples illustrating masculinity in “things phonetical, grammatical, and lexical” are listed together with the parameters Jespersen identifies as being of “symbolic significance” (p. 5) of such a masculinity: 2 Growth and Structure saw nine editions in 33 years (from 1905 to 1938), followed by many later impressions of the ninth edition. There have been no changes to this passage in later editions: It is thus the 1905 text. 3 In this paper, “l.” refers to the lines of the passage cited; all of the quotations and references marked by “p.” are taken from the first chapter (“Preliminary Sketch”) of Growth and Structure . <?page no="316"?> a. Phonetics - Parameter: Words Ending in Consonants : […] may perhaps characterize English, phonetically speaking, as possessing male energy, but not brutal force. (p. 4) b. Phonetics / Morphology / Style - Parameter: Briefness : If briefness, conciseness and terseness are characteristic of the style of men, while women as a rule are not such economizers of speech, English is more masculine than most languages. (p. 4sq.) c. Morphology - Parameters: Monosyllabicity, Monomorphematism, Avoidance of Hyperbolic Expressions : […] so I may be allowed to add this feature of the English language to the signs of masculinity I have collected. (p. 8) d. Grammar - Parameter: Word Order : The business-like, virile qualities of the English language also manifest themselves in such things as word-order. Words in English do not play at hide-and-seek, as they often do in Latin, for instance, or in German, where ideas that by right belong together are widely sundered in obedience to caprice, or more often to a rigorous grammatical rule. (p. 10) No-one today would have any substantial issues with the structural features of English described in (a) to (d): Features such as the monomorphematism of English and its briefness (a, b, c), its words ending in a consonant because of the loss of inflectional endings (a), the rigidity of SVO word order and its functional consequences (d) have become part and parcel of introductions to the English language (and are still often cited verbatim from Jespersen); Growth and Structure still counts as one of the most competent, knowledgeable and ingenious descriptions of the structural properties of English, thus doing justice to the second noun of its title, Structure (this, of course, anticipating later ideas of structuralism). The question remains, though, why Jespersen - in spite of his clearly brilliant understanding of the “essence” of English - still aims at couching this understanding in terms of masculinity. I hope to show that this is connected to his evolutionary ideas on language change, which are signaled by the first noun of the title, Growth . From the selection of quotes above (of which there are many more throughout the book), we see that Jespersen’s conceptualization of English as “masculine” is not primarily based on genderlectal features 4 attributed stereotypically to men or women, even though we occasionally find passages where English structures are equated to those Jespersen himself identified as properties of male 4 In any case “gender” rather than “sex”; cf. l. 9-11 on the masculinity of an English lady’s handwriting. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 317 <?page no="317"?> 318 Ursula Lenker and female language (see (b) on the “briefness, conciseness and terseness” of both men’s genderlects and English). 5 Mostly, however, the point of comparison is not of a genderlectal nature, but more general and profound in that Jespersen employs the very long and widely attested conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS, 6 albeit in his very unique version LANGUAGES ARE HUMAN BEINGS with distinctions being drawn along the parameters MASCULINE/ FEMININE and GROWN-UP/ CHILDISH. Concerning the status of this metaphor, it is evident from Jespersen’s otherwise very plain prose style that metaphorical language here is not employed for aesthetic or artistic purposes, but - as suggested by cognitive approaches in the vein of Lakoff and Johnson - as a means of dealing with a cognitively difficult and complex domain; here, the “summing up of the essence of languages” is specified by Jespersen as being “too composite” (l. 2; composite ‘not simple in structure’, OED , s.v. A.1.a.). Jespersen, who is known to have been “opposed to all rhetorical embellishment” 7 , introduces this metaphor since other expressions seem to fail him. Before embarking on Jespersen’s challenging choice of the domain MASCU- LINITY, a closer look at the history of the conceptual metaphor LANGUAG- ES ARE ORGANISMS is called for. 8 In a cognitive framework, metaphors are regarded as a means to better understand certain concepts: Sets of systematic correspondences between a source domain A and a target domain B in the sense that constituent conceptual elements of B correspond to constituent elements of A (technically called ‘mappings’) allow an understanding of how human thought is organized by understanding one conceptual domain (= any coherent organization of experience) in terms of another conceptual domain. The direction of conceptualization is commonly from a typically more concrete source domain (e.g. PLANT) to a typically more abstract target domain (e.g. 5 Jespersen was one of the first linguists systematically discussing genderlectal features, particularly in his - today often heavily criticized - chapter “The Women” in his most influential book, Language: Its Nature, Development and Origin , London: Unwin & Allen 1922, Chapter XIII. 6 This article follows the formal principles of cognitive linguistics in that cognitive domains are printed in capitals; italics are used for verbal expressions in particular mappings. On cognitive metaphor analysis, cf. George Lakoff and Mark Johnson, Metaphors We Live By , Chicago: University of Chicago Press 1980; and, for a more recent overview, Zoltan Kövecses, Metaphor. A Practical Introduction , Oxford: Oxford University Press 2 2010. 7 Paul Christophersen, “Otto Jespersen”, in: Otto Jespersen: Facets of his Life and Work , edd. Arne Juul, Hans F. Nielsen, Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 1989, p. 5. 8 For surveys cf. K. H. Rensch, “Organismus - System - Struktur in der Sprachwissenschaft”, in: Phonetica 16 (1967), pp. 71-84; and Dieter Cherubim, Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprachwissenschaft , Berlin: De Gruyter 1975, pp. 7-17. <?page no="318"?> ORGANIZATION ), such as, for instance, in the conceptual metaphor ORGANI- ZATIONS ARE PLANTS. Through the respective mappings, conceptual elements of B (ORGANIZATION) are understood by linguistic expressions such as “the local branch of a bank”, “our company is growing ”, a “ flourishing black market” or the “organization was rooted in the old church”. The domain PLANT/ ORGANISM is among the universally most frequent source domains and has since very early also been used in linguistic thought, albeit with very diverse, cultureand time-dependent conceptualizations due to changes in the conceptualization of the source domain PLANT/ ORGANISM in different cultures and times. Today, LANGUAGES ARE ORGANISMS is employed when we, for instance, talk about the “ death of a language”, about “ branches in a language (family) tree ” or refer, as in the title of Jespersen’s book, to the “ growth of a language”. Even before the 19th century, when LANGUAGES ARE ORGANISMS became fundamental to linguistic thought in the wake of evolutionary theories, this conceptual metaphor was heavily employed with reference to vernacular languages. Bernhard Teuber prudently explicated for the transfer from the mediaeval to the modern period in Sprache - Körper - Traum that it was the conceptualization of “uncontrolled growth” of vernacular languages which, for most of the Middle Ages, set them apart from Latin (which is regulated by means of, for instance, grammar and is thus under the control of authorities). What has been celebrated as the “emancipation of vernacular languages” in the early modern period - i.e. their replacing Latin as the language of court, administration, education and also literature - can inversely also be seen as what Teuber calls “Umformung naturhafter Sprache zu einem Gegenstand kultureller Manipulation” 9 . Vernacular languages lose their naturalness and are pruned/ tamed as they fall under the control of authority: Once used as high varieties, their natural growing capacities are restrained by their codification in grammars, dictionaries and, generally, prescriptive discourse traditions. Most prominent among the authoritarian institutions hindering natural growth are language planning institutions such as Academies. This controlling function by Academies is highlighted by Jespersen when he refers to “any attempt to narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon” (l. 23-24) or to a fear of “a stern keeper enforcing rigorous regulations” (l. 15), something English never had to fear because “the English have never suffered an Academy to be instituted among them like the French or Italian Academies, which had as one of their chief tasks the 9 Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989, p. 22. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 319 <?page no="319"?> 320 Ursula Lenker regulation of the vocabulary so that every word not found in their Dictionaries was blamed as unworthy of literary use or distinction” (l. 17-20). Authoritative control is also evoked in the similes in l. 12-15, where French is compared to “the stiff French garden of Louis XIV” (l. 12-13), while English is described as “an English park, which is laid out seemingly without any definite plan” (l. 13-14). These similes, of course, also play on the conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS. While French and Italian have been interfered with by authorities hindering natural growth, English is clearly described in evolutionary terms. It is “laid out seemingly without any definite plan” (l. 13-14), i.e. - in Darwinian terms - “designed without a designer”. By this reasoning English is - in the terms of Spencer - an example of a ‘survival of the fittest’, and this is an anchor of reference for GROWN-UP in ENGLISH IS A GROWN-UP MASCULINE HUMAN BEING. Generally, Jespersen’s linguistic thought was shaped by his admiration of evolutionary ideas (in particular Herbert Spencer’s but also Charles Darwin’s), to which he was first introduced as a freshman at Copenhagen University. These evolutionary ideas shape all his work and lead to what has been called his “naïve progressivism” 10 , a stance that has to be understood as a vehement reaction to one of the most influential schools of his time, August Schleicher’s view of language change as decay. For Schleicher (1821-1868) and his followers, the historical development of any language is a story of decay: The further we go back in the history of a language (from, e.g. Latin or - in the context of Germanic languages - Gothic), the higher its linguistic perfection, a view grounded in Schleicher’s contempt for the modern vernacular languages and his admiration for the ancient languages, in particular Latin. In all of these aspects, Jespersen takes the opposite stance: He loved the vernacular languages (earned his master’s degree in French, with English and Latin as minors) and came to hate Latin more and more. (Already as a student he had tried to abolish compulsory Latin at Copenhagen university, and he was finally successful as a professor! ) Jespersen’s choice of the constituent element GROWN-UP thus has to be seen against the backdrop of the dominance of Latin (and ancient languages) in his time. In his evolutionary framework, he therefore proposes a re-interpretation of the conceptual metaphor LANGUAGES ARE ORGANISMS, with English being an organism in the Spencerian and Darwinian framework, for which no authoritarian regulating force has been needed to make it “fit” (or even the “fittest”). This independent progress is presented as a contrast to the pruning and domestication of vernacular languages through authorities (Latin grammar, 10 Hans Frede Nielsen, “Jespersen’s View of Language Evolution” in: Otto Jespersen , edd. Juul, Nielsen, p. 72. <?page no="320"?> vernacular grammars based on that model, spelling conventions, dictionaries, codification of discourse traditions) by, for instance, Academies. This move towards perfection without any deliberate or artificial interference is thus a process of ‘wise natural selection’, which vernacular languages can take once freed from the straightjacket of Latin grammar and its discourse traditions. 11 English attests to the ‘survival of the fittest’, having reached the highest degree of communicative effectiveness by the fewest and simplest means. 12 It is the “briefness, conciseness and terseness” of the English language which make it into one of the ‘fittest’ (not (yet) as fit as Chinese, though; p. 10), features which, however, also entail little care for “finery and elegance” (l. 23). With respect to our overarching question, namely why Jespersen chose to characterise English by its masculinity, we may perhaps identify this stereotypical lack of “finery and elegance” in men as a trigger for the “one expression that continually comes to my mind whenever I think of the English language and compare it with others: […] masculine ” (l. 3-5). When having a look at the verbal expressions used by Jespersen for the conceptual metaphor A LANGUAGE IS A MASCULINE HUMAN BEING, it becomes clear that in this case the transfer does not primarily allow a better understanding of the target domain LANGUAGE by a set of correspondences with a (concrete) source domain. MASCULINITY is certainly not more concrete (nor has more precisely defined constituent elements) than ENGLISH. Jespersen’s account - though pretending differently - in inverse relation thus rather provides an insight of the constructions of the source domain (MASCULINITY) in terms of the target domain (LANGUAGE), since Jespersen indeed presents MASCULINITY as a fully-fledged conceptual domain, i.e. as a coherent organization of experience. A summary of its constituent elements is given in the concluding sentence of the passage cited (l. 21-23) by “methodical”, “energetic”, “business-like”, “sober” and “logical” and is similarly invoked by adjectives such as “business-like and virile” (d) or phrases such as “male energy and not brutal force” (a). From the whole of the first chapter, the following set of constituent elements of MASCULINITY as a “coherent organization of experience” emerges (in alphabetical order): Adjectives: business-like (p. 6, 10), clear (p. 2, 3), free (p. 15), logical (p. 11 (2x), 12, 13), precise (p. 9, 12), sober (p. 8 (2x)), vigorous (p. 6 (2x)) 11 On more details, cf. Christophersen, “Jespersen”, p. 7. 12 Such a definition of communicative effectiveness, of course, disregards, for instance, processing benefits of concord and all kinds of redundancies and, above all, functions of language beyond “communicative effectiveness”. “Methodical, Energetic, Business-Like and Sober” 321 <?page no="321"?> 322 Ursula Lenker Nouns: business capacities (p. 9), clearness (p. 5 (2x)), energy (p. 3 (2x), 4), freedom (p. 13 (2x)), force (p. 5), liberty (p. 13, 14 (2x)), logic (p. 11 (2x)), power (p. 5), seriousness (p. 9), sobriety (p. 7), strength (p. 6), vigour (p. 3) An even richer picture of the constructions of masculinity is gained by charting the respective negatives and antonyms: Adjectives: not harsh (p. 4), not rough (p. 4) Nouns: less caprice (p. 4, p. 11), no obedience to caprice (p. 10), loss of elegance (p. 5), no brutal force (p. 4), free from narrow-minded pedantry (p. 13), not care much for finery and elegance (p. 16), less rigidity (p. 10, p. 11), freedom from pedantry (p. 17) What a beauty of a man! I will refrain from further intruding into the organization of Jespersen’s thoughts concerning his gender conceptualizations. Without intending to exonerate Jespersen from what not only from today’s perspective is a clearly sexist stance, the collection of adjectives and phrases shows clear correspondences to the discussion above. With regard to evolutionary theories, the terms “free / freedom from / liberty” are of crucial importance (l. 21): In Jespersen’s teleological view of a drive towards linguistic perfection based on ‘natural selection’, it is the independent development of vernacular languages which is of utmost importance. Independence here not only refers to an escape from the straightjacket of Latin as in the teaching of grammar, but also to the authoritarian prescriptive interferences of discourse traditions, which are summarized as “narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon” (l. 24) in the concluding sentence of this passage. Similarly, the lexical set “energy / power / strength / vigour” attributed to both masculinity and English refers to the unique capacity of a language reaching communicative efficiency without any designer, i.e. without any authority showing undue pedantry. English has - without such a designer - grown and become “methodical, energetic, business-like, and sober” (l. 22), i.e. communicatively efficient. The mappings used for ENGLISH IS A GROWN-UP MASCULINE HUMAN BEING may seem a bit forced - and may have seemed so already to Jespersen, because he, even in the course of this chapter, often seems to have to push himself to relate his structural descriptions to MASCULINITY (see (a) “may perhaps”, or (c) “I may be allowed”) and also because he at times loses track of this being a conceptual metaphor and not just a parallel to genderlectal stereotypes (see (b)). By spelling it out, however, Jespersen at least provides us with a construction of MASCULINITY by one individual at the beginning of the 20th century, to which “energy”, “sobriety”, “no pedantry” and “liberty” are central - certainly not an inappropriate collection of terms in the context of this volume. <?page no="322"?> Das geschächtete Mädchen: Horacio Quirogas „La gallina degollada“ Robert Folger Todo el día, sentados en el patio, en un banco estaban los cuatro hijos idiotas del matrimonio Mazzini-Ferraz. Tenían la lengua entre los labios, los ojos estúpidos, y volvían la cabeza con la boca abierta. El patio era de tierra, cerrado al oeste por un cerco de ladrillos. El banco quedaba paralelo a él, a cinco metros, y allí se mantenían inmóviles, fijos los ojos en los ladrillos. Como el sol se ocultaba tras el cerco, al declinar los idiotas tenían fiesta. La luz enceguecedora llamaba su atención al principio, poco a poco sus ojos se animaban; se reían al fin estrepitosamente, congestionados por la misma hilaridad ansiosa, mirando el sol con alegría bestial, como si fuera comida. […] Esos cuatro idiotas, sin embargo, habían sido un día el encanto de sus padres. A los tres meses de casados, Mazzini y Berta orientaron su estrecho amor de marido y mujer, y mujer y marido, hacia un porvenir mucho más vital: un hijo. ¿Qué mayor dicha para dos enamorados que esa honrada consagración de su cariño, libertado ya del vil egoísmo de un mutuo amor sin fin ninguno y, lo que es peor para el amor mismo, sin esperanzas posibles de renovación? Así lo sintieron Mazzini y Berta, y cuando el hijo llegó, a los catorce meses de matrimonio, creyeron cumplida su felicidad. La criatura creció bella y radiante, hasta que tuvo año y medio. Pero en el vigésimo mes sacudiéronlo una noche convulsiones terribles, y a la mañana siguiente no conocía más a sus padres. El médico lo examinó con esa atención profesional que está visiblemente buscando las causas del mal en las enfermedades de los padres. […] Éste fue el primer choque y le sucedieron otros. Pero en las inevitables reconciliaciones, sus almas se unían con doble arrebato y locura por otro hijo. Nació así una niña. Vivieron dos años con la angustia a flor de alma, esperando siempre otro desastre. Nada acaeció, sin embargo, y los padres pusieron en ella toda su complaciencia, que la pequeña llevaba a los más extremos límites del mimo y la mala crianza. […] El día radiante, había arrancado a los idiotas de su banco. De modo que mientras la sirvienta degollaba en la cocina al animal, desangrándolo con parsimonia (Berta había aprendido de su madre este buen modo de conservar la frescura de la carne), creyó sentir algo como respiración tras ella. Volvióse, y vio a los cuatro idiotas, con los hombros pegados uno a otro, mirando estupefactos la operación. Rojo … Rojo … […] <?page no="323"?> 324 Robert Folger -¡Bertita! Nadie respondió. -¡Bertita! -alzó más la voz, ya alterada. Y el silencio fue tan fúnebre para su corazón siempre aterrado, que la espalda se le heló de horrible presentimiento. -¡Mi hija, mi hija! -corrió ya desesperado hacia el fondo. Pero al pasar frente a la cocina vio en el piso un mar de sangre. Empujó violentamente la puerta entornada, y lanzó un grito de horror. Berta, que ya se había lanzado corriendo a su vez al oír el angustioso llamado del padre, oyó el grito y respondió con otro. Pero al precipitarse en la cocina, Mazzini, lívido como la muerte, se interpuso, conteniéndola: -¡No entres! ¡No entres! Berta alcanzó a ver el piso inundado de sangre. Sólo pudo echar sus brazos sobre la cabeza y hundirse a lo largo de él con un ronco suspiro. Horacio Quiroga, „La Gallina Degollada“ (1909) 1 Wie bei wohl wenigen bedeutenden Autoren drängt sich angesichts des Werks des Uruguayers Horacio Quiroga eine biographistische Lektüre auf, oder, anders und besser gesagt: Es tut sich in diesem Fall eine verblüffende und verstörende adaequatio von Leben und Literatur auf. Quiroga wird im Jahr 1878 in Salto in Uruguay geboren. 2 Bereits wenig später verstirbt der Vater des Jungen, als er beim Aussteigen aus einem Boot versehentlich einen Schuss auf sich selbst abfeuert. Die Mutter heiratet wieder, aber schon fünf Jahre später erleidet Horacios Stiefvater einen Schlaganfall, der ihn weitgehend lähmt. Dennoch gelingt es diesem, sich mit einer Flinte zu erschießen, deren Abzug er mit seinem Zeh betätigt. Sein Stiefsohn ist als erster am Tatort. Quiroga hat gerade seine ersten Schritte als Schriftsteller gemacht und Frankreich bereist, als er 1902 einen guten Freund versehentlich mit einer Pistole erschießt. Er beschließt, mit seiner Frau Ana María Cires in die Wildnis von Misiones zu gehen und dort fernab von der Zivilisation eine Existenz und eine Familie zu gründen. Ana María ist den Entbehrungen nicht gewachsen und bringt sich qualvoll mit Gift um. Nach einer weiteren gescheiterten Ehe und einem weiteren gescheiterten Versuch, in der Wildnis zu leben, kehrt der Schriftsteller nach Buenos Aires zurück. Sein literarischer Stern ist aber am Sinken und ihn ereilt 1937 die Diagnose einer finalen Krebserkrankung. Quiroga nimmt sich mit Zyanid das Leben. Die Tatsache, dass seine engen Freunde 1 In: Obras , vol. III: Cuentos I , edd. Jorge Lafforgue, Pablo Rocca, Buenos Aires: Losada, 2003, pp. 51, 54, 56sq. Im weiteren Verlauf zitiere ich diese Erzählung im laufenden Text mit den entsprechenden Seitenangaben. 2 Zur Biographie Quirogas cf. Pedro Orgambibe, Horacio Quiroga: una historia de vida , Buenos Aires: Planeta 1994. <?page no="324"?> Das geschächtete Mädchen 325 Alfonsina Storni und Leopoldo Lugones ein Jahr später, seine Tochter Eglé im Jahr 1939 und sein Sohn Darío 1951 ebenfalls den Freitod wählten, ließe sich zynischer Weise als passender Epilog für ein Leben bezeichnen, das von Anfang an von gewaltsamen und bizarren Todesfällen begleitet wurde. Cuentos de amor de locura y de muerte , der Titel einer 1917 erschienenen Sammlung von achtzehn Kurzgeschichten, lässt sich als treffende Charakterisierung des gesamten Œuvres begreifen. In diesen Band nahm Quiroga auch die Erzählung „La gallina degollada“ auf, die er bereits 1909 in der populären argentinischen Zeitschrift Caras y caretas publiziert hatte. Es handelt sich um eine Geschichte, die selbst im Rahmen des Schaffens Quirogas durch ihre makabre Morbidität heraussticht. Sie erzählt vom tragischen Familienleben des Ehepaars Mazzini-Ferraz, das nach drei Monaten Ehe beschließt, ein Kind zu zeugen. Das Glück des jungen Paares wird jäh getrübt, als der bis dahin gesunde Junge im Alter von zwanzig Monaten von Krämpfen geschüttelt wird. Die Auswirkungen des Anfalls sind verheerend: „Había quedado profundamente idiota, baboso, colgante, muerto para siempre sobre las rodillas de su madre“ (p. 52). Obwohl ihnen ein Arzt erklärt, dass es sich möglicherweise um eine Erbkrankheit handelt, zeugen sie einen weiteren Sohn, der ebenso wie seine später geborenen Zwillingsbrüder das Schicksal des Erstgeborenen erleidet. Erst als ihnen eine nach der Mutter Berta benannte Tochter geschenkt wird, scheint der Fluch überwunden zu sein. Die Eltern wenden sich dem Mädchen in abgöttischer Liebe zu und vertrauen die vier ungeliebten Jungen einer Bediensteten namens María an, in deren Händen diese vollends verwahrlosen. Eines Tages ist die kleine Bertita unpässlich, aber die anfängliche Panik der Eltern zerstreut sich, als sie sich schnell erholt. Am nächsten Tag überrascht María die ansonsten lethargischen Jungen dabei, wie sie sie bei der Schlachtung eines Huhns beobachten, das sie für das Abendessen zubereiten soll. María geht nach Buenos Aires, die kleine Berta hat die Idee, ihre Nachbarinnen kurz zu begrüßen und schleicht sich unbemerkt von den Eltern zurück nach Hause. Sie posiert vor ihren auf der Bank sitzenden Brüdern, als diese sie packen und in die Küche schleifen. Als Mazzini kurz darauf in die Küche eilt, sieht er schon vorher eine Blutlache. Er versucht die herbeistürzende Mutter zurückzuhalten, die dennoch in die Küche drängt und angesichts des Anblicks der schrecklichen Szene zusammenbricht. In seinen ersten Arbeiten für Caras y caretas war Quiroga gezwungen, seine Beiträge auf eine oder zwei Seiten zu begrenzen. Diese Lehrzeit hat zu der für ihn typischen narrativen Ökonomie und semantischen Dichte beigetragen. La gallina degollada ist ein geradezu emblematischer Ausdruck der Überdetermination seiner scheinbar einfachen Geschichten. Trotz des schaurigen Endes handelt es sich bei „La gallina degollada“ zuallererst um einen cuento de amor - eine Erzählung über die Liebe und ihre Abwege. Die Entwicklung des Plots nimmt <?page no="325"?> 326 Robert Folger ihren Ausgang mit der Heirat von Mazzini und Berta, die ihrer Liebe („estrecho amor de marido y mujer, y mujer y marido“) durch ein Kind neuen Sinn geben wollen, um so den „vil egoísmo de un mutuo amor sin fin ninguno“ endgültig zu überwinden. Die Beziehung zwischen den beiden basiert offensichtlich auf einer sexuellen Anziehung, die sich auch darin manifestiert, dass die heftigen, von beiden Seiten mit niederträchtigen Beleidigungen und Beschuldigungen geführten Streitigkeiten zu „innigen Versöhnungen“ führen: „la reconciliación llegó, tanto más efusiva cuanto infames fueran los agravios“ (p. 55). Der Wunsch, Kinder zu zeugen, ist Ausdruck des Bemühens, eine sinnentleerte Beziehung zu kitten. Er erweist sich letztlich aber als Ausdruck des nicht überwundenen Egoismus, denn die Kinder dienen als Projektionsfläche der eigenen Wünsche. Als diese nach dem Ausbruch der Krankheit die Unvollkommenheit und Hässlichkeit des Subjekts zurückspiegeln, wird ihnen die Liebe entzogen, die von Anbeginn an nichts anderes war als Selbstliebe. Als mit Bertita eine Tochter geboren wird, die als idealisiertes Abbild der Mutter gesehen werden kann, wird diese mit einer abgöttischen Liebe überhäuft, deren Maßlosigkeit wiederum Ausdruck des nicht überwundenen Egoismus ist. Der grausame Tod der Tochter, die durch die verworfenen Selbstbilder des Paares ‚aufgefressen‘ wird - die Möglichkeit des Kannibalismus ist durch die Parallelisierung von gallina und niña und durch die Betonung der „gula bestial“ (p. 56) eine offensichtliche Möglichkeit - symbolisiert auch das Scheitern einer letztlich auf Egoismus gegründeten Liebesbeziehung. Natürlich stellt sich die Frage nach den Ursachen des Desasters und wird auch in der Kurzgeschichte von den Figuren diskutiert. Quiroga hatte ein ausgeprägtes Interesse für medizinische Fragen und die Pathologien des Menschen, vor allem für die Gründe verhängnisvoller Fälle von locura . 3 In der Forschung wurde diskutiert, ob die vier Söhne am Down-Syndrom leiden oder, wie Lon Pearson argumentiert, Quiroga hier eine frühe Fallstudie zu Autismus vorgelegt hat. Diese Spekulationen haben einen anachronistischen Beigeschmack und tragen zudem nichts zum Verständnis der Geschichte bei. Aufschlussreicher sind die expliziten Erklärungsversuche, die Quiroga durch seine Figuren anstellt. Nach der Erkrankung des ersten Sohnes befragt Mazzini den Arzt nach den Ursachen des „idiotismo“, der im Text unmissverständlich auf eine Gehirnhautentzündung („meningitis“, p. 55) zurückgeführt wird: „Pero dígame: ¿Usted cree que es herencia, que…? “ (p. 52). Dieser legt sich nicht fest: „-En cuanto a la herencia paterna, ya le dije lo que creía cuando vi a su hijo. Respecto a la madre, hay 3 Cf. Lon Pearson, „Horacio Quiroga's Obsessions with Abnormal Psychology and Medicine as Reflected in La gallina degollada “, in: Literature and Psychology 32/ 2 (1986), pp. 32-46. <?page no="326"?> Das geschächtete Mädchen 327 allí un pulmón que no sopla bien. No veo nada más, pero hay un soplo un poco rudo. Hágala examinar detenidamente.“ (p. 52) Einerseits könnte die erbliche Prädisposition für Meningitis, wie der Erzähler nahelegt, von den Alkohol-Exzessen des Großvaters herrühren, („el pequeño idiota […] pagaba los excesos del abuelo“ (p. 52), die letztlich in ein Delirium („delirio“, p. 55) einmündeten, oder aber die Tuberkulose der Mutter, die einen ihrer Lungenflügel geschädigt hat („pulmón picado“, p. 55), ist dafür verantwortlich. Mit dieser Diskussion schreibt sich die Geschichte Quirogas in die medizinischen Diskurse seiner Zeit ein und zeigt den Autor in der Nachfolge des Naturalismus des 19. Jahrhunderts, der sich wesentlich mit medizinischen Fragen und den sozialen Faktoren von endemischen Erkrankungen auseinandersetzte. Die soziale Frage kehrt in verschlüsselter Form in den bitteren und bitterbösen Auseinandersetzungen zwischen Mazzini und Berta wieder. Beide werfen sich den Alkoholismus väterlicherseits und die Tuberkulose mütterlicherseits vor und machen diese jeweils als Ursache für das Unheil aus. Dieser Disput ist sozial kodiert. Während der Alkoholismus klar mit den ‚asozialen Unterschichten‘ assoziiert ist, war die Tuberkulose zwar eine Krankheit, die große Opfer in den Unterschichten forderte, aber, wie zahlreiche literarische Bearbeitungen von Alexandre Dumas’ La Dame aux Camélias (1848) bis Thomas Manns Zauberberg (1928) zeigen, als ‚edles Leiden‘ resemantisiert werden konnte. Durch seinen Familiennamen ist Mazzini eindeutig als Sohn überwiegend armer italienischer Einwanderer markiert, während der Familienname Ferraz, der auf ein aragonesisches Adelsgeschlecht zurückgeht, Berta eine andere Herkunft zuschreibt. 4 Aufgrund des offensichtlich großbürgerlichen Lebensstils der Familie und dem herrischen Auftreten Bertas gegenüber den Bediensteten liegt die Vermutung nahe, dass sie aus einer wohlsituierten und möglicherweise alteingesessenen Familie stammt. Die Heirat von Mazzini und Berta war also aus sozialer Sicht eine Mesalliance und die Konflikte, die in Krisensituationen zwischen ihnen entbrennen, sind auch soziale Konflikte. Diese medizinischen und sozialen Faktoren sind aber nicht hinreichend, um die literarische Logik der Kurzgeschichte zu klären, denn welcher Art auch immer die Erkrankung der ‚Idioten‘ sein mag, welche Spannungen auch immer in der Familie geherrscht haben mögen, so lässt sich das Verhalten der vier Jungen doch nicht kausal aus diesen Faktoren ableiten. Der Plot verdickt sich durch eine Verkettung von spezifischen Umständen und das Unglück kommt für den Leser nicht aus heiterem Himmel. Bertitas Erkrankung, die kurzzeitig für Panik bei den Eltern sorgt, stellt sich als eine Magenverstimmung heraus, die durch die „golosinas que sus padres eran incapaces de negociarle“ (p. 54) hervorgerufen 4 Auch der Vorname Berta deutet auf eine gehobene soziale Schicht hin. <?page no="327"?> 328 Robert Folger wurde. Das Mädchen ist also vollgestopft von golosinas , die metonymisch für die Liebe der Eltern stehen; die Liebe, die sie den Söhnen brutal entzogen haben. Die mentalen Vermögen der Jungen sind zwar stark eingeschränkt, sie verfügen aber über „cierta facultad imitativa“ (p. 53). Mit der ‚Schlachtung‘ imitieren sie bezeichnenderweise nicht das Verhalten der leiblichen Mutter Berta, sondern das Vorbild der ‚Ersatzmutter‘ María, der Bediensteten und Köchin. So kehrt nicht nur der Klassenkonflikt zurück (auf der einen Seite, das reich beschenkte und privilegierte Abbild der Mutter, auf der anderen Seite, die ‚entrechteten‘ und verwahrlosten und mit dem proletarischen Vater assoziierten Söhne), sondern es wird auch auf makabre Art und Weise poetische Gerechtigkeit hergestellt: Die erblich belasteten Jungen verleiben sich die Liebe ein, die ihnen als Geburtsrecht zugestanden hätte. Damit verlagert sich die Frage nach den Ursachen für das Unglück auf die Frage nach der Schuld, die als der Kern der Kurzgeschichte gesehen werden muss. In ihren Auseinandersetzungen geht es Mazzini und Berta nicht darum, die Ursachen zu ergründen, sondern dem jeweils anderen die Schuld für den idiotismo der Söhne zuzuschieben. Diese Frage präsentiert sich potenziert am Ende der Geschichte, nämlich als Frage nach der Schuld am Tod von Bertita. Obwohl die vier Söhne als unzurechnungsfähig beschrieben werden, betreibt Quiroga keine Sympathiesteuerung zu ihren Gunsten. Er stellt sie als sabbernde Idioten, Monstren und Bestien dar. Auch Bertita lädt sich durch ihren völligen Mangel an Sympathie für ihre Brüder und fehlendes Einfühlungsvermögen, das sie mit ihrer Mutter teilt, einen Teil der Schuld auf. Indem sie auf eine Kerosinkiste klettert, ‚befeuert‘ sie die Gier der Jungen, weil sie sich zwischen die Jungen und das einzige Objekt ihres Interesses, der roten, untergehenden Sonne, stellt und selbst die Position der blutroten Sonne einnimmt. Sie stiehlt ihnen das Licht und setzt so erst die fatale Kette von Assoziationen in Gang, die vom Sonnenuntergang zum Blutrausch in der Küche führen wird. Auch die Bedienstete María hat ihren Anteil an der Katastrophe, indem sie ihre ‚Adoptivsöhne‘ lieblos behandelt. Im Universum Quirogas trifft alle Schuld, sie ist ein wesentlicher Aspekt der conditio humana . Natürlich ist in allererster Linie das von egoistischer Liebe getriebene Ehepaar Schuld - aber die Schuld trifft sie nicht in gleichem Maß. Berta reagiert auf die Erkrankung ihrer Söhne mit einem brüsken Liebesentzug, ja mit Abscheu. Mazzini hingegen bewahrt sich einen Rest menschlichen Anstandes. Nach der Erkrankung des Erstgeborenen („su primogénito“, p. 52) „redobló el amor a su hijo […]. Tuvo asimismo que consolar, sostener sin tregua a Berta, herida en lo más profundo por aquel fracaso de su joven maternidad.“ (p. 52) Ihn stört die offensichtliche Verwahrlosung der Kinder - ob aus echter Fürsorge, aus Schuldgefühl oder um den Schein zu wahren, bleibt offen. Berta aber, deren sozial vorbestimmte Pflicht als Mutter Liebe und Fürsorge sind, ist <?page no="328"?> Das geschächtete Mädchen 329 das wahre Monster. Das Ausmaß ihrer Schuld wird erst ersichtlich, wenn wir uns die Details des Mordes an Bertita ansehen. Eine der prägenden Isotopien von „La gallina degollada“ ist offensichtlich ein Geschlechterkonflikt: Auf der einen Seite haben wir Mazzini, seinen Vater und ‚seine Söhne‘ und auf der anderen Seite Berta, ihre Bedienstete María und ‚ihre Tochter‘ Bertita. Quiroga beschreibt einen Fall von männlicher Aggression an einem weiblichen Opfer, aber die Schuldfrage ist, wie wir sehen werden, nicht so eindeutig beantwortet. 5 Der Geschlechterkonflikt manifestiert sich auch in gender-kodierten genealogischen Modellen. Dem primogénito Mazzinis steht Bertita als ‚Erstgeborene‘ Bertas gegenüber. Diese Opposition von Patrilinearität und Matrilinearität lässt sich aus den Umständen der Ermordung Bertitas ableiten. In der englischen Fassung wird der Titel der Kurzgeschichte mit „The Decapitated Chicken“ übersetzt und lockt so die Leser auf eine falsche Fährte. 6 Obwohl die deutsche Übersetzerin Astrid Schmitt korrekt „Das geschächtete Huhn“ wiedergibt, haben die Kommentatoren diese Fährte zu der entscheidenden Bedeutungsschicht der Geschichte nicht verfolgt. Der Ausdruck „degollada“ ist seit Garcilaso de la Vegas dritter Égloga in den hispanischen Literaturen kontrovers besetzt: „Todas con el cabello desparcido / lloraban una ninfa delicada, / cuya vida mostraba que había sido / antes de tiempo y casi en flor cortada. / Cerca del agua en el lugar florido, / estaba entre las hierbas degollada , / cual queda el blanco cisne cuando pierde / la dulce vida entre la hierba verde“ (vv. 225-232). 7 Quirogas Kurzgeschichte ist eine makabre Replik auf die teils bizarren Versuche in der Forschung, das schockierende Bild einer ninfa degollada in einem bukolischen Setting als Fehler eines Kopisten für „igualada“, als Bezeichnung eines Tals in der Nähe von Toledo oder als Referenz auf einen geknickten Kragen ( cuello ) wegzuinterpretieren. 8 Aus der ninfa degollada und dem metaphorischen 5 In der Égloga III - wie wir sehen werden, ein Intertext von Quirogas Erzählung - bezieht sich Garcilaso de la Vega auf die Legende der Nymphe Eurydice, die Aristaios, der sie vergewaltigen will, zu entkommen versucht und auf ihrer Flucht von einer Schlange tödlich gebissen wird. Die männliche Aggression wird als Unfall ‚entschuldigt‘. Vermutlich ist das Unbehagen der Garcilaso-Kommentatoren auch darauf zurückzuführen, dass der Dichter mit seiner ninfa degollada auch Assoziationen an sexuelle Gewalt erweckt. 6 Horacio Quiroga, „The Decapitated Chicken“, in: Id., The Decapitated Chicken and Other Stories , tr. Margaret Sayers Peden, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2004, pp. 49-56. Die französische Übersetzung „La poule égorgée“ (in: Contes d’amour de folie et de mort , tr. Frédéric Chambert, Paris: Métailié 2013, s.p. [Kindle-Edition]) verwendet einen Ausdruck, der ‚ausbluten‘ und auch ‚schächten‘ bedeutet. 7 Garcilaso de la Vega, „Égloga III“, in: Id., Obra poética y textos en prosa , ed. Bienvenido Morros, Barcelona: Crítica 2007, pp. 229-249, hier p. 241sq. Der Herausgeber ersetzt „degollada“ durch „igualada“. 8 Cf. Enrique Martínez-López, „Sobre ‚aquella bestialidad‘ de Garcilaso (égl. III.230)“, in: PMLA 87/ 1 (1972), pp. 12-25; und Agustín de la Granja, „Garcilaso y la ninfa ‚degollada‘“, <?page no="329"?> 330 Robert Folger cisne degollado werden die gallina degollada und letztlich die niña degollada . Quiroga macht nur allzu deutlich, um welche Verletzung es sich handelt: „degollaba en la cocina al animal, desangrándolo con parsimonia ( Berta había aprendido de su madre este buen modo de conservar la frescura de la carne)“ (p. 56; Hervorhebung R.F.). Das Huhn wird nicht geköpft, sondern ausgeblutet, indem ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Mit anderen Worten, das Tier und, wie die Kurzgeschichte nahelegt, das kleine Mädchen werden geschächtet . Diese Verbindung ist nicht zu weit hergeholt. Quirogas erste Liebe galt einem jüdischen Mädchen, María Esther Jurkovski, doch die Eltern verhinderten die Beziehung, 9 weil sie Quiroga aufgrund seiner nicht-jüdischen Abstammung ablehnten. Diese Erfahrung inspirierte zwei bedeutende Werke Quirogas, nämlich den cuento escénico in vier Akten Las sacrificadas (1920) und die Kurzgeschichte „Una estación de amor“, die ebenfalls in Cuentos de amor, locura y muerte veröffentlicht wurden. Gerade aber in „La gallina degollada“ manifestiert sich Quirogas Faszination für die jüdische Kultur und die Rolle der Frau in dieser Kultur. Das Huhn wird de facto geschächtet, wie es jüdischem Brauchtum entspricht. 10 Dabei ist signifikant, dass Berta das Wissen um diese Praktik von ihrer Mutter vermittelt wurde, wie der Erzähler hervorhebt. Es wird somit das Motiv der Matrilinearität aufgerufen, wie es für das Judentum charakteristisch ist. Die Taten der Söhne, die ihre kleine Schwester schächten, also durch Ausbluten töten, evoziert zudem das Bild eines rituellen Kindermordes, 11 wie er seit dem Mittelalter den Juden vorgeworfen wurde, die für ihre religiösen Praktiken vermeintlich das Blut von rituell getöteten Kinder verwandten. Diese Anspielung wird freilich nicht expliziert, wie auch die Verweise auf das Judentum nicht zu einem eindeutig fassbaren Zusammenhang ausgearbeitet werden. Dennoch haben diese Verweise zusammen mit der konsequent durchgearbeiteten Opposition der Geschlechter den Effekt, verschiedene Bedeutungsebenen zusammenzuführen und die entscheidende Frage nach der Schuld zu klären. In einer schrecklichen Ironie wird der Bund des in einer fatalen Liebesbeziehung befindlichen Paares durch den ‚Opfertod‘ Bertitas beendet. Mit dem Tod der primogénita erlischt auch die matrilineare Genealogie und das ‚Geschlecht Ferraz‘. Die Verbindung Mazzinis mit den männlichen, ‚anormalen‘ Nachfahren scheint ihn in der Frage nach der ‚Schuld‘ für die physische Beeinträchtigung in: Criticón 69 (1997), pp. 57-65. 9 Cf. Orgambide, Horacio Quiroga , p. 22. 10 Cf. Aaron Wertheim, Law and Custom in Hashidism , tr. Shmuel Himelstein, Hoboken, NJ: Ktav, 1992, pp. 302-315. 11 Cf. Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart , ed. Wolfgang Benz, vol. III: Begriffe, Theorien, Ideologien , Berlin: De Gruyter 2010, pp. 12, 287. <?page no="330"?> Das geschächtete Mädchen 331 zu belasten, aber das vom Erzähler aufgerufene Bild der Rabenmutter, die das Unglück letztlich ermöglicht, 12 weil sie, ganz dem Stereotyp entsprechend, mit den Nachbarinnen schwatzen will, vor allem aber das in der Kurzgeschichte aufgerufene Prinzip der Matrilinearität und die Assoziation Bertas mit der in christlichen Kulturen den Juden zugeschrieben Erb- oder Kollektivsünde sowie die Überblendung mit dem Motiv der ursächlich weiblichen Erbsünde sprechen Berta und Bertita am eigentlichen Verbrechen schuldig, während Mazzini und die faktischen Täter, die bestialischen Söhne, zu Opfern werden. So hat Horacio Quirogas emblematische Geschichte von Liebe, Irrsinn und Tod letztlich eine misogyne Pointe. 12 Ich verdanke diesen Hinweis so wie die Beobachtung, dass Mazzini keinerlei Anzeichen für eine Erbkrankheit zeigt, während Berta am Morgen des verhängnisvollen Tages Blut spuckt, also die Krankheit offensichtlich in sich trägt, Felicitas Loest. <?page no="332"?> Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso Fernando Nina Cuando fray Bartolomé Arrazola se sintió perdido aceptó que ya nada podría salvarlo. La selva poderosa de Guatemala lo había apresado, implacable y definitiva. Ante su ignorancia topográfica se sentó con tranquilidad a esperar la muerte. Quiso morir allí, sin ninguna esperanza, aislado, con el pensamiento fijo en la España distante, particularmente en el convento de los Abrojos, donde Carlos Quinto condescendiera una vez a bajar de su eminencia para decirle que confiaba en el celo religioso de su labor redentora. Al despertar se encontró rodeado por un grupo de indígenas de rostro impasible que se disponían a sacrificarlo ante un altar, un altar que a Bartolomé le pareció como el lecho en que descansaría, al fin, de sus temores, de su destino, de sí mismo. Tres años en el país le habían conferido un mediano dominio de las lenguas nativas. Intentó algo. Dijo algunas palabras que fueron comprendidas. Entonces floreció en él una idea que tuvo por digna de su talento y de su cultura universal y de su arduo conocimiento de Aristóteles. Recordó que para ese día se esperaba un eclipse total de sol. Y dispuso, en lo más íntimo, valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida. -Si me matáis -les dijo- puedo hacer que el sol se oscurezca en su altura. Los indígenas lo miraron fijamente y Bartolomé sorprendió la incredulidad en sus ojos. Vio que se produjo un pequeño consejo, y esperó confiado, no sin cierto desdén. Dos horas después el corazón de fray Bartolomé Arrazola chorreaba su sangre vehemente sobre la piedra de los sacrificios (brillante bajo la opaca luz de un sol eclipsado), mientras uno de los indígenas recitaba sin ninguna inflexión de voz, sin prisa, una por una, las infinitas fechas en que se producirían eclipses solares y lunares, que los astrónomos de la comunidad maya habían previsto y anotado en sus códices sin la valiosa ayuda de Aristóteles. Augusto Monterroso, El eclipse (1952) 1 Este relato del célebre autor guatemalteco, quien siempre sufrió tanto por la fama que le dió el microrrelato “El dinosaurio”, más conocido como el cuento más corto del mundo, es un texto que sirve de manera excelente para introducir a un público académico así como no-académico a la temática de América 1 In: Augusto Monterroso, El eclipse y otros cuentos , Madrid: Alianza 1995, p. 5sq. <?page no="333"?> 334 Fernando Nina (Latina), su literatura y su producción de conocimiento. La cuestión misma del encuentro entre Europa y América se debate aquí, lo que sería la fase del denominado “descubrimiento” que más bien fue un “encuentro-desencuentro” de dos mundos, de múltiples culturas y también de grandes civilizaciones como la azteca, la incaica y por supuesto la civilización maya. La maestría de Monterroso se puede ya detectar en las primeras dos oraciones que al lector de un texto denominado “El eclipse” le sumergen inmediatamente en dos mundos diferentes y que marcan desde un inicio la cuestión fundamental del relato: el entrecruzamiento entre cultura y naturaleza. Así leemos que un fray Bartolomé Arrazola se siente “perdido” y que “acepta” lo ineludible de su situación, “ya nada podría salvarlo”, aunque el vocablo de “salvación” se conjuga con la palabra “fray” que significa hermano y su pertenencia a una orden religiosa mendicante está inmediatamente aludida. La segunda oración nos otorga una localidad específica y que está descrita de manera impecable: se trata de la “poderosa” selva de Guatemala, que ha enclaustrado, encerrado a este fraile en un territorio de manera “definitiva” y no mitigable, un espacio que no se deja amansar ni suavizar, la dureza de la selva está connotada aquí con fuerza expresiva. Estamos ante un fraile de una orden mendicante, enclaustrado en una naturaleza cuya topografía él desconoce, se advierte que la palabra “ignorancia” contrasta con la palabra “tranquilidad” con la que espera su fin, la muerte que en esta naturaleza desconocida y despiadada parece ser una certeza. En esa situación de desesperanza le viene al fraile un pensamiento que nos transporta hacia una localización temporal más concreta aún, pues su voluntad de morir “allí” (en la selva guatemalteca) lo transporta imaginariamente a su “España distante”, y como el narrador nos explicita, “particularmente hacia el convento de los Abrojos, donde Carlos Quinto condescendiera una vez a bajar de su eminencia para decirle que confiaba en el celo religioso de su labor redentora”. Con esta información queda claro que sus últimos pensamientos combinan el recuerdo nostálgico de un súbdito del rey Carlos I de España y V del Sacro Imperio Romano Germánico con la institucionalidad del Monasterio Santa Coeli, construido en 1415 en el paraje de El Abrojo de la Laguna de Duero en Valladolid, originalmente franciscanos de la estricta observancia , más conocidos como villacrecinos, seguidores de la observancia franciscana de Pedro de Villacreces, quienes constituían un grupo reformista de la orden de los Frailes Menores Conventuales. Pese a que la aldea de Laguna de Duero no forma parte de las crónicas históricas de los viajes imperiales del Emperador, es conocido que durante su primera estancia el joven Carlos V pasó cuatro días alojado en el monasterio franciscano de El Abrojo, donde volvería en varias ocasiones a lo largo de su vida. De este primer párrafo del relato podemos obtener de esta manera información sumamente importante para una posible interpretación del relato entero: estamos ante un fraile prove- <?page no="334"?> Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 335 niente de un monasterio de franciscanos reformados quien se encuentra perdido y enclaustrado en la hoy conocida Selva Maya de Guatemala, una región forestal que comparten hoy en día los países de Belice, Guatemala y México y que es el segundo bosque tropical de mayor extensión en América, sólo precedido por la Selva del Amazonas. El recuerdo que entra en contacto con esta situación específica en la naturaleza americana es el del año 1517 cuando procedente de Flandes, el Emperador, junto con su tropa, había zarpado hacia Castilla el 8 de septiembre de 1517 con el objetivo político de ser proclamado rey legítimo por los diferentes reinos de España y así asegurar la incapacidad de gobierno de su madre -Juana I de Castilla, que permanecía encerrada en Tordesillas-. En el camino a la capital un 14 de noviembre el entonces príncipe llegó, por primera vez, al monasterio de El Abrojo, lugar que había sido fundado y venerado en vida por su abuela, la reina Isabel de Castilla, la reina católica que había enviado a los clérigos españoles a evangelizar a las poblaciones de América. Cuatro días permanecería el príncipe allí, a orillas del Duero, alojado en la Casa Real que los reyes castellanos conservaban en ese lugar. La visita pone de manifiesto la predilección que tenían los monarcas del momento por la orden franciscana. El emperador volverá múltiples veces a este convento de su predilección, así en 1527 cuando conoce a Juan de Zumárraga, quien impresiona al monarca con su “talante espiritual y firme de […] padre guardián del convento, fray Juan de Zumárraga, un vizcaíno de 60 años, alto y enjuto, nacido en Durango en 1475. Al despedirse, el Emperador quiso hacerle una importante limosna, pero él la rehusó, y cuando fue obligado a recibirla, la entregó a los pobres.” 2 Zumárraga es enviado al Virreinato de México por el mismo Emperador y se convierte en el primer obispo de la ciudad de México. Carlos I además, recordando a su abuela la reina Isabel, nombra también al padre Zumárraga “Protector de los indios” como se deduce de la Cédula real del 10 de enero de 1528: “Por la presente vos cometemos y encargamos y mandamos que tengáis mucho cuidado de mirar y visitar los dichos indios y hacer que sean bien tratados e industriados y enseñados en las cosas de nuestra santa fe católica por las personas que los tienen o tuvieren a cargo y veáis las leyes y ordenanzas e instrucciones y provisiones que se han hecho o hicieren cerca del buen tratamiento y conversión de los dichos indios, las cuales haréis guardar y cumplir como en ellas se contiene, con mucha diligencia y cuidado.” 3 El apellido de fray Bartolomé Arrazola contiene dos sílabas que están criptográficamente insertadas en su nombre, se trata del significado etimológico de 2 José María Iraburu, Hechos de los apóstoles de América , Pamplona: Fundación GRATIS DATE 2003, p. 75. 3 Ibid. <?page no="335"?> 336 Fernando Nina ARRI que significa “piedra” en euskera, y junto con los sufijos AZ y OLA que se traduce por “sitio de” forman este Arrazola, que es un apellido vasco muy difundido y que significan entonces “sitio o lugar pedregoso”. 4 Al igual que Arrazola, Zumárraga también es oriundo de Durango en la provincia de Vizcaya con lo cual se puede establecer una relación clave entre ambos personajes. Zumárraga adquirió fama como obispo que llevó a cabo una cruel lucha contra la religiosidad indígena en territorios mesoamericanos, la por los europeos denominada “lucha contra la idolatría”. Como inquisidor apostólico, cargo que mantendría hasta 1543 acusó de idólatras a líderes indígenas, curanderos pero también españoles, cuyas grandes propiedades eran confiscadas. Cuando en el año 1539 acusa a Don Carlos Chichimecatecuhtli Ometochtzin, tlatoani (señor, el que tiene la palabra, el que habla) de la nobleza acolhuacán , cacique de Texcoco, de la idolatría y de sacrificios humanos, y lo manda a que sea ejecutado en la hoguera por continuar practicando la religión prehispánica, entra en conflicto con la Corona española quien le retira el poder y el cargo de Protector de Indios. Zumárraga está involucrado en al menos dos acontecimientos históricos importantes que nos pueden servir como llave interpretativa para nuestro relato: por un lado llevó la primera imprenta a América, tenía un interés por las culturas antiguas indígenas y es además acusado de ser responsable de la quema de miles de códices aztecas que explicaban el uso ritual del peyote y otras plantas sagradas y medicinales en auténticos actos de fe, es decir de la destrucción de conocimiento religioso y científico de las culturas mesoamericanas. 5 Este aspecto será de suma importancia a continuación. Tras su ensueño con el convento de Los Abrojos y Carlos V Arrazola despierta y se ve rodeado de “un grupo de indígenas de rostro impasible”, vocablo que denota dureza, incapacidad de sentir, de padecer, una indiferencia e imperturbabilidad que refuerza el hecho de que están dispuestos a sacrificar al fraile en un altar. La palabra “altar” ubica este acto en un contexto religioso, sagrado, donde un sacerdote celebra el sacrificio de la misa, en el cristianismo una mesa rectangular, en otras religiones puede ser una piedra donde tiene lugar el ritual religioso. La voz narrativa nos indica que para Bartolomé este lugar le parece una cama acogedora, donde finalmente “descansaría”, de sus temores, de “sí mismo”. Esta última alusión indica el auto-encierro en el que Arrazola se encuentra, ensimismado, ante el otro que le parece insensible, duro, como la naturaleza que lo rodea. A la vez “en sí mismo”, podría hacer referencia a su nombre Arra-zola, 4 José Ramón Arrazola Urquiaga, Sobre los Arrazola: apuntes de genealogía y heráldica , San Sebastián: Donostia 2006, s.p. 5 Cf. Wade Davis, El río, exploraciones y descubrimientos en la selva amazónica , México: Fondo de Cultura Económica 2001. <?page no="336"?> Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 337 donde la partícula arri significa “piedra”, la piedra misma donde será “sacrificado”, donde podrá descansar de “sí mismo”. Pero Arrazola parece recapacitar este momento de flaqueza física y espiritual, reconstruye en su mente, a través de la voz narrativa, su estancia en “el país”, los tres años que ya lleva ahí y que le han otorgado un conocimiento como él lo estima “mediano”, no es conocimiento, es “dominio”, un vocablo que es ambiguo, denota dominancia y control, aspectos que los europeos habían puesto en práctica al adquirir el conocimiento de las lenguas indígenas americanas, un aprendizaje de la lengua en función de acaparar al otro, de convertirlo en economía de la propia mismidad, una codigofagia utilitaria, eficiente, como Cortés con la Malinche, no se trataba de un aprendizaje de la lengua del otro para entenderlo mejor, para acercar la propia forma de vida, la propia cosmovisión a la ajena, para aprender de ese otro, para dejarse influenciar, afectar, inspirar por ese otro que traía sus conocimientos, su cosmovisión, sus maneras de ver el mundo, de sentirlo, de entenderlo, su lenguaje que era el puente y el camino hacia su propia mismidad. Este camino no toma Arrazola, él “intenta algo”: “Dijo algunas palabras que fueron comprendidas.” Este primer acercamiento tiene tan solo una función fática para Arrazola, comprueba que existe contacto pues inmediatamente esta certeza comunicativa es convertida en idea, pero una idea de grandeza, “digna de su talento”, de su conocimiento, “de su cultura universal”. La voz narrativa enfatiza el adjetivo “universal” y lo conjuga con la segunda clave de lectura importante de este relato, el sufijo de “universal” proviene principalmente “de su arduo conocimiento de Aristóteles”. Aristóteles es precisamente el genius universalis por antonomasia, como podemos deducir de que se lo conoce como “El filósofo” ya durante la Edad Media e inicios del Renacimiento, es decir, Aristóteles sirve aquí como símbolo de todo el conocimiento y pensamiento occidental, que aquí es visto por Arrazola como “universal”; vemos entonces que la universalidad del fraile es en realidad lo que frecuentemente se denomina anacrónicamente eurocentrismo pero que en este caso podríamos definir como una posición epistemológica fija, para la cual ninguna operación intelectual fuera de los propios parámetros cognitivos está al nivel del propio. Aquí nuevamente aparece una codigofagia que es fundamental en el encuentro entre culturas. La idea que “florece”, que brota de la capacidad intelectiva del fraile que se ve en una situación desesperanzadora es el empleo de un dato que rememora: “Recordó que para ese día se esperaba un eclipse total de sol. Y dispuso, en lo más íntimo, valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida.” Es determinante la conjunción de dos elementos fundamentales: la reflexión humana, la idea, la estructura cartesiana del “yo pienso, luego existo”, aquello que lo convierte en un ser que puede tomar distancia de la naturaleza, que posee una cultura, un talento, aquello que le permite luchar y que lo protege <?page no="337"?> 338 Fernando Nina contra la tiranía de la naturaleza 6 está en íntima relación con Aristóteles y con la producción de conocimiento occidental, con la antigüedad europea y con un concepto de cultura tradicional. Este aspecto sin embargo tiene que ser leído adicionalmente en conjunto con aquello que Arrazola “hace” con esta idea, con este pensamiento: “valerse de aquel conocimiento para engañar a sus opresores y salvar la vida”. Esta línea causal es determinante: conocimiento, engaño y vida. Por un lado, el conocimiento, la idea proviene de un contexto específico en el cual aparece como exclusiva de una producción determinada, conocimiento es por tanto aquello que viene de Aristóteles y de la cultura occidental europea, por otro lado ese conocimiento es empleado para engañar al otro. Es importante también que se trata de un conocimiento astronómico, la fecha exacta de un eclipse total del sol, un fenómeno natural con magnitud verdaderamente universal. Sólo una frase de lenguaje hablado nos ofrece el relato, es la frase que expresa Arrazola tras haber determinado “en lo más íntimo” el uso de su idea y cómo comunicarla a los indígenas que lo tienen apresado: “-Si me matáis -les dijo- puedo hacer que el sol se oscurezca en su altura.” El engaño consiste en la hybris humana, la desmesura, el impulso irracional con la racionalidad de la idea, se trata del intento de transgresión de los límites impuestos por Dios, o en la antigua Grecia, a los Dioses, la pasión desequilibrada con la razón, con el conocimiento, el uso de la razón científica, el cálculo necesario para medir la fecha exacta del eclipse se convierte en medio para engrandecer al hombre, el hombre, el fraile, el hombre religioso se convierte a sí mismo, “en lo más íntimo”, en un Dios. El eclipse revela la naturaleza del ser humano, su estructura de razonamiento corresponde al orden epistemológico-clasificatorio que el discurso imperial quería sostener en América Latina, con una asimetría estructural en cuanto a la producción de conocimiento para así mantener de la mejor manera el control y la vigilancia sobre la población indígena, sobre el otro que era visto como inferior. Es al interior de este antagonismo que se encuentra Arrazola, entre lo astro-lógico y lo xeno-lógico. La verdad de su misofobia se revela en el uso de la razón como engaño y amenaza, como empoderamiento del yo, como hybris que endiosa al fraile para causar temor y respeto en el otro. La reacción de los indígenas es formar un consejo no sin antes mirar fijamente y con cierta “incredulidad en los ojos” a Bartolomé. A la reflexión, al surgir de una idea que intenta engañar y sobreponerse por encima del otro responde un consejo de mirada desconfiada, una mirada escéptica, una mirada que duda pero se cerciora de su posición frente a la idea del individuo, por medio de una racionalidad oral, un consenso que se adquiere en forma de diálogo razonado, el 6 Cf. Santiago Castro-Gómez, “Teoría tradicional y teoría crítica”, en: Impulso. Revista de Ciencias Sociales y Humanas 12 (2001), pp. 113-123. <?page no="338"?> Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 339 significado oculto que se conjuga detrás de esta palabra: “consejo”. Se trata de un tipo de racionalidad diferente, la oralidad, la transmisión de conocimiento y su producción se da en un consilium , en una de sus acepciones también entendible como “órgano superior de gobierno que asistía al rey en la administración del reino y la justicia, y que tomaba el nombre del territorio o la materia de su competencia. Consejo de Castilla, de Indias, de Hacienda, de la Inquisición” (DRAE). El consejo indígena es un órgano de consenso, comunitario, de gobierno. Y como reconocería el mismo Aristóteles, existen “bárbaros” que tienen legítimo y natural gobierno, lo cual implica, como ya lo había afirmado también De las Casas, que no todo “bárbaro” es incapaz de gobernarse. La palabra “consejo” cancela aquí las cualidades negativas del “bárbaro”: salvajismo y ferocidad. Existe por otro lado consenso y escepticismo que se enfrenta a la actitud de Bartolomé Arrazola quien apoyado en su conocimiento de Aristóteles y su hybris , proveniente de esa producción específica de conocimiento occidental, se sorprende en primer lugar de la reacción escéptica de los indígenas (“sorprendió la incredulidad en sus ojos”: hybris primaria) para luego “esper[ar] confiado, no sin cierto desdén” ( hybris secundaria). Desdén por otro lado implica que se trata de una actitud que demuestra “indiferencia y despego que denotan menosprecio” (DRAE), estamos ante la tercera dimensión de la hybris de Arrazola, el menosprecio del escepticismo y el consejo del otro. Este desdén me gustaría juntar con otro concepto proveniente de los estudios decoloniales: se trata del concepto de colonialidad del poder del sociólogo peruano Aníbal Quijano. Para este a través del concepto de raza, que nace a partir de los debates en el mundo hispánico sobre la necesidad de someter a los indígenas americanos al dominio del orbis cristiano y que luego servirá como criterio de diferenciación social entre los colonizadores blancos y los colonizados pardos o mestizos, queda incorporado un concepto de raza a un registro teórico denominado filosofía de la historia. Las diferencias jerárquicas entre los pueblos y el lugar que les corresponde en la división social del trabajo son justificados según el nivel de desarrollo medido en una escala temporal-evolutiva, de modo que los pueblos que en esta escala están supuestamente más adelantados pueden ocupar legítimamente el territorio de los más atrasados y llevarles hacia la civilización. Los indígenas, los negros y los mestizos pueden y deben ser esclavizados porque comparten una serie de valores, creencias y formas de conocimiento que les impide llegar por ellos mismos a disfrutar de los beneficios de la civilización, la relación intrínseca entre la idea colonial de raza y el concepto tradicional de cultura es evidente. El racismo, como la legitimación del imperativo sistémico que impulsó a la anexión territorial de las colonias y a la utilización de sus habitantes como mano de obra barata en beneficio de sus colonizadores, es una herencia según Enrique Dussel de la primera modernidad, la hispanocatólica que legitimó la movilización <?page no="339"?> 340 Fernando Nina inusitada de fuerza de trabajo y recursos financieros, de campañas militares y descubrimientos científicos, todo un conjunto de políticas de control social jamás antes vistas en la historia que conocemos hoy como el proyecto de la modernidad. La matriz del poder, que trajo consigo el colonialismo, está basada no sólo en la opresión militar de las poblaciones indígenas sino en el intento de cambiar radicalmente su conocimiento tradicional sobre el mundo, su cosmovisión, y de imponer el horizonte cognitivo del colonizador como el propio de los indígenas. Es por ese fenómeno de adaptación inconsciente de las estructuras cognitivas de los opresores que Quijano habla de una colonialidad del poder. 7 Se trata de los paradigmas/ moldes modernos del poder que enlazan raza con el control del trabajo, el estado y la producción de conocimiento. Según Mignolo, para Quijano “la colonialidad es constitutiva de la modernidad”. 8 Y en palabras del filósofo colombiano Santiago Castro-Gómez “[…] la expoliación colonial es legitimada por un imaginario que establece diferencias inconmensurables entre el colonizador y el colonizado. Las nociones de ‘raza’ y de ‘cultura’ operan aquí como un dispositivo taxonómico que genera identidades opuestas. El colonizado aparece así como lo ‘otro de la razón’, lo cual justifica el ejercicio de un poder disciplinario por parte del colonizador.” 9 Y así pasamos al último párrafo del relato de Tito Monterroso, como él mismo firmaba en sus artículos en los periódicos guatemaltecos. Se nos describe que “dos horas más tarde” la sangre del corazón de Bartolomé Arrazola, quien lleva la piedra en el nombre, chorrea sobre similar artefacto empleado para los sacrificios, mientras “sin ninguna inflexión de voz” un sacerdote maya recita “sin prisa” una tras otra, “las infinitas fechas” de los eclipses solares y lunares que habían sido calculados, previstos y anotados por los astrónomos de dicha comunidad en los códices mayas, y con un guiño de complacencia, la voz narrativa añade finalmente: “sin la valiosa ayuda de Aristóteles”. Se trata del giro final, inesperado de alguna manera, para muchos lectores, pero reivindicativo de la producción de conocimiento, científica y cultural, de la civilización maya. El mismo Monterroso afirmaría en 1992, cuarenta años tras la publicación del mismo, sobre el final del relato: “en vano había pretendido engañar a los habitantes de Guatemala con una estratagema quizá aplicable ante una tribu de 7 Cf. Jens Kastner, Tom Waibel, “Klassifizierung und Kolonialität der Macht. Aníbal Quijano, Dekolonialistische Sozialtheorie und Politik”, en: Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika , Wien: Turia + Kant 2016, p. 14. 8 Walter Mignolo, “La colonialidad a lo largo y a lo ancho: el hemisferio occidental en el horizonte colonial de la modernidad”, en: La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas , ed. Edgardo Lander, Buenos Aires: FACES-UCV 2000, p. 75. 9 Santiago Castro-Gómez, “Ciencias sociales, violencia epistémica y la ‘invención del otro’”, en: La Colonialidad del Saber , p. 153. <?page no="340"?> Violencia epistémica y decolonialidad en “El eclipse” de Augusto Monterroso 341 cualquier otro pueblo, pero que difícilmente tendría éxito frente a aquella comunidad de matemáticos y consumados astrónomos.” 10 Hemos visto que una llave interpretativa es la piedra que Arrazola lleva en el nombre, es la piedra sacrificial sobre la cual su corazón chorrea la sangre roja de forma “brillante bajo la opaca luz de un sol eclipsado”. Existe una alusión hacia Zumárraga, el encargado de erradicar la religiosidad indígena, el primer obispo de la ciudad de México, de apellido vasco al igual que Arrazola y proveniente del convento de los Abrojos; lo reivindicativo de la destrucción de los códices mayas y aztecas, de la destrucción del conocimiento indígena que llevó a cabo Zumárraga está crípticamente codificado en este relato. La hybris consiste en no poder imaginarse que se pueda llegar al conocimiento matemático sobre los eclipses solares y lunares sin la lectura de Aristóteles. Ese autocentramiento es basal para entender la colonialidad del poder. La estratagema usada por Arrazola termina siendo un “barbarismo” para el conocimiento maya y una self-fulfilling prophecy mortal. Sin embargo, esta imagen final me parece decidora de un paradigma que tendrá mayor repercusión en el futuro de América Latina: la noción del mestizaje pero como concepto de abigarramiento. La filósofa boliviana Silvia Rivera Cusicanqui introduce un término que lo define con la palabra ch’ixi del aymara que tiene diversas connotaciones: “es un color producto de la yuxtaposición, en pequeños puntos o manchas, de dos colores opuestos o contrastados: el blanco y el negro, el rojo y el verde etc. Es ese gris jaspeado resultante de la mezcla imperceptible del blanco y el negro, que se confunden para la percepción sin nunca mezclarse del todo. La noción ch’ixi , como muchas otras (allqa, ayni) obedece a la idea aymara de algo que es y no es a la vez, es decir, a la lógica del tercero incluido. Un color gris ch’ixi es blanco y no es blanco a la vez, es blanco y también es negro, su contrario. […] La noción de ch’ixi […] equivale a la de ‘sociedad abigarrada’ […], y plantea la coexistencia en paralelo de múltiples diferencias culturales que no se funden, sino que antagonizan o se complementan. Cada una se reproduce a sí misma desde la profundidad del pasado y se relaciona con las otras de forma contenciosa.” 11 Quizá se encuentra detrás de esa imagen de una opacidad brillante, que desata el drama de la Conquista, la Colonia y la Independencia, un “mecanismo” del ch’ixi barroco como “messinscena assoluta” 12 una concepción poderosa del filósofo ecuatoriano-mexicano Bolívar Echeverría que supera a Adorno con su idea del barroco como “ decorazione assoluta ”. El sacrificio final 10 Augusto Monterroso, “500 años. Imaginación y realidad”, en: La Jornada Semanal 174 (1992), p. 18. 11 Silvia Rivera Cusicanqui, Ch’ixinakax utxiwa: una reflexión sobre prácticas y discursos descolonizadores , Buenos Aires: Tinta Limón 2010, p. 69. 12 Bolívar Echeverría, “El barroquismo en América Latina”, en: Id., Vuelta de siglo , México: Era 2013, pp. 166 y 173. <?page no="341"?> 342 Fernando Nina bajo la “opacidad brillante” del eclipse “desata su propio drama”, el drama del encuentro, del mestizaje, del ch’ixi barroco, de “la coexistencia en paralelo de múltiples diferencias culturales que no se funden, sino que antagonizan o se complementan”, continuamente y constantemente. “Quinientos años de dialéctica entre España, Europa y América, una dialéctica de espadas, de letras, de oraciones y de balas, desde que fray Bartolomé Arrazola, un ser imaginario, fue vencido en la hoja en blanco, en la que todo se puede; es decir, en la imaginación, no siempre parecida a la realidad.” 13 13 Augusto Monterroso, “500 años. Imaginación y realidad”, p. 18. <?page no="342"?> Buchstäblich auferstehen. Moravias sacrificium litterae in La ciociara Judith Frömmer Finalmente, ecco apparire in fondo alla pianura distesa e verde, una lunga striscia di colore incerto, tra il bianco e il giallo; i sobborghi di Roma. E dietro questa striscia, sovrastandola, grigia sullo sfondo del cielo grigio, lontanissima, eppure chiara, la cupola di San Pietro. Dio sa se avevo sperato durante tutto l’anno di rivedere, laggiù all’orizzonte, quella cara cupola, così piccola e al tempo stesso così grande da potere essere quasi scambiata per un accidente del terreno, per una collina o una montagnola; così solida benché non più che un’ombra; così rassicurante perché familiare e mille volte vista ed osservata. Quella cupola, per me, non era soltanto Roma ma la mia vita di Roma, la serenità dei giorni che si vivono in pace con se stessi e con gli altri. Laggiù, in fondo all’orizzonte, quella cupola mi diceva che io potevo ormai tornare fiduciosa a casa e la vecchia vita avrebbe ripreso il suo corso, pur dopo tanti cambiamenti e tante tragedie. Ma anche mi diceva che questa fiducia tutta nuova, io la dovevo a Rosetta […]. E che senza quel dolore di Rosetta, a Roma non ci sarebbero arrivate le due donne senza colpa che ne erano partite un anno prima, bensì una ladra e una prostituta, quali, appunto, attraverso la guerra e a causa della guerra, erano diventate. Il dolore. Mi tornò in mente Michele che non era con noi in questo momento tanto sospirato del ritorno e non sarebbe mai più stato con noi; e ricordai quella sera che aveva letto ad alta voce, nella capanna a Sant’Eufemia, il passo del Vangelo su Lazzaro; e si era tanto arrabbiato con i contadini che non avevano capito niente ed aveva gridato che eravamo tutti morti, in attesa della resurrezione, come Lazzaro. Allora queste parole di Michele mi avevano lasciata incerta; adesso, invece, capivo che Michele aveva avuto ragione; e che per qualche tempo eravamo state morte anche noi due, Rosetta ed io, morte alle pietà che si deve agli altri e a se stessi. Ma il dolore ci aveva salvate all’ultimo momento; e così, in certo modo, il passo di Lazzaro era buono anche per noi, poiché, grazie al dolore, eravamo alla fine, uscite dalla guerra che ci chiudeva nella sua tomba di indifferenza e di malvagità ed avevamo ripreso a camminare nella nostra vita, la quale era forse una povera cosa piena di oscurità e di errore, ma purtuttavia la sola che dovessimo vivere, come senza dubbio Michele ci avrebbe detto se fosse stato con noi. Alberto Moravia, La ciociara (1957) 1 1 Ed. Tonino Tornitore, Mailand: Bompiani 2010 [1957], p. 313sq. <?page no="343"?> 344 Judith Frömmer Die Zuversicht, „questa fiducia tutta nuova”, mit der die Ich-Erzählerin Cesira hier auf Rom zugeht, mag den Leser dieser letzten Sätze von Alberto Moravias Roman La ciociara (1957) überraschen: War er doch mit der Lebensmittelhändlerin aus Trastevere, die nach dem Waffenstillstand von Cassibile gemeinsam mit ihrer Tochter Rosetta aus dem besetzten Rom in ihre Heimat in der Ciociaria geflohen war, zuvor über mehrere hundert Seiten hinweg zum Zeugen von Gewalt, Eigennutz, Ignoranz, Elend und Verbrechen geworden. Bezeichnenderweise finden die schrecklichsten Ereignisse in dieser neorealistischen Kriegschronik ohne Augenzeugen statt. Sie vollziehen sich im Verborgenen und werden über Akte des Erzählens supplementiert. Zu diesen unsichtbaren Begebenheiten zählt der Tod des Freundes Michele, „che non era con noi“, weil er in den Bergen von deutschen Soldaten erschossen worden war. Und auch der Gewaltakt, dem Cesira und Rosetta, kurz nachdem sie im neunten Kapitel zurück nach Rom aufgebrochen waren, zum Opfer fallen, kann von der Ich-Erzählerin nur in Bruchstücken rekonstruiert werden: Im Zuge der Invasion der Alliierten gen Norden werden die beiden Frauen in einer zerstörten Kirche von marodierenden Soldaten überfallen. Die Mutter wird bewusstlos geschlagen, die Tochter währenddessen vergewaltigt. Rosetta teilt damit das Schicksal tausender Frauen in der Ciociaria, die nach der Schlacht um Monte Cassino von den sogenannten ‚Marocchinate‘ betroffen waren: die Massenvergewaltigungen italienischer Frauen durch Goumiers, i. e. marokkanische Kolonialtruppen der französischen Armee, die am Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Leitung des Generals Alphonse Juin auf Seiten der Alliierten kämpften. In Moravias Roman sind Mutter und Tochter nach diesem Ereignis in der geplünderten Kirche nicht mehr dieselben. Cesira macht der Krieg, wie sie hier am Ende ihrer Erzählung selbst einräumt, schließlich zur Diebin, Rosetta zur Prostituierten. Gleichwohl werden die Gewaltverbrechen des Zweiten Weltkrieges in der Perspektive dieses eher versöhnlich wirkenden Romanendes zum Ausgangspunkt einer Vision: Im Schmerz geläutert spricht Cesira von einer Wiederauferstehung, die nicht nur sie und ihre Tochter in ein neues Leben führen, sondern die, im übertragenen Sinne, ganz Italien vollziehen wird. Das Bild der beiden Frauen, die voller Hoffnung nach Rom zurückkehren, lässt an die letzte Sequenz von Rossellinis Roma città aperta (1945) denken. Dort laufen die Kinder, die zuvor für die Sache der Resistenza gekämpft und zuletzt die Hinrichtung des Priesters Don Pietro bezeugt haben, auf Rom zu (cf. Fig. 1). Auch hier wird ein Schlusstableau im Zeichen des Petersdoms entworfen, der im Namen des Kirchenvaters Pietro nochmals das (Gründungs-)Opfer des gleichnamigen Priesters, aber auch die Möglichkeit eines politischen Neubeginns evoziert. <?page no="344"?> Buchstäblich auferstehen 345 Fig. 1: Das Schlusstableau in Roberto Rosselinis Roma città aperta (1945): Nach der Hinrichtung des Priesters Don Pietro gehen seine ehemaligen Ministranten auf Rom zu. 2 2 Alberto Moravia hatte Rossellinis Film unter anderem für die Zeitschrift La Nuova Europa mit einer gewissen kritischen Distanz rezensiert und dessen Erfolg auf die „limpidezza del caso“ zurückgeführt. Rossellinis Film folge einer „linea semplice e sicura seppure poco immaginosa di una documentazione esauriente ai fini della propaganda patriottica e politica“. Die Überzeugungskraft dieses neorealistischen Kinos erwachse aus der Durchschaubarkeit einer patriotischen Propaganda, die im besetzten Italien keiner besonderen Rechtfertigungsstrategie bedürfe: „ Roma città aperta è l’ottima requisitoria di un accusatore che non ha alcun bisogno di frasi retoriche o di argomenti capziosi per convincere gli spettatori.“ 3 Auch Moravias La ciociara ist sicherlich nicht frei von politischer Propaganda. In der Geschichte von Mutter und Tochter verbinden sich individuelles und kollektives Schicksal. Neben der biblischen Symbolik legt dies auch Alberto Moravias Entwurf eines Klappentextes für seinen Verleger Bompiani nahe, der sich bis heute auf den meisten italienischen Taschenbuchausgaben findet: „[…] La ciociara è anche e soprattutto la descrizione di due atti di violenza, l’uno collettivo e l’altro individuale, la guerra e lo stupro. Dopo la guerra e dopo lo stupro né un paese né una donna sono più quello che erano prima. Un cambiamento 2 Rom, offene Stadt/ Roma città aperta, Italien 1945, dir. Roberto Rossellini, DVD, Arthaus 2009. 3 Die Rezension wird zitiert nach: Alberto Moravia, Cinema italiano: recensioni e interventi 1933-1990 , ed. Alberto Pezzotta, Mailand: Bompiani, p. 56. <?page no="345"?> 346 Judith Frömmer profondo è avvenuto, un passaggio si è verificato da uno stato di innocenza e di integrità a un altro di nuova e amara consapevolezza. D’altra parte tutte le guerre che penetrano profondamente nel territorio di un paese e colpiscono le popolazioni civili sono stupri. La ciociara non è un libro di guerra nel senso tradizionale del termine; è un romanzo in cui è narrata l’esperienza umana di quella violenza profanatoria che è la guerra.“ 4 Moravias Selbstdeutung, in der das Schicksal der vergewaltigten Frauen der Ciociaria mit der Penetration Italiens durch den Zweiten Weltkrieg verglichen wird, scheint zumindest aus heutiger Sicht nicht unproblematisch. Denn durch die metaphorische und metonymische Verbindung von Frauenkörper und Volkskörper könnte die Rolle Italiens im Zweiten Weltkrieg auf die eines passiven Opfers festgeschrieben werden, das von der Übermacht der historischen Ereignisse übermannt wird. In einer solchen Deutung der Geschichte(n) wird der Körper der faktisch vergewaltigten Frauen zum allegorischen Zeichen. Diese weibliche Allegorie des Politischen, die, um mit Goethe zu reden, „zum Allgemeinen das Besondere sucht“, droht nicht nur, das individuelle Schicksal der Vergewaltigten zu marginalisieren, sondern dabei auch die überaus ambivalente Position zu verdecken, die Italien im Zweiten Weltkrieg zwischen Faschismus und Resistenza eingenommen hat. Im literarischen Text entfaltet die Allegorie aber nicht zuletzt, indem sie zur Allegorie des Lesens wird, andere politische Potenzen: Als Anders-Rede, die sich schon der Etymologie nach vom öffentlichen Sprechen auf der Agora unterscheidet, zeichnet sich das allegorische Sprechen traditionell gerade nicht nur durch „limpidezza“, sondern durch Opazität aus. Diese Undurchsichtigkeit der allegorischen Rede faltet Moravias Roman unter anderem im virtuosen Spiel mit einer facettenreichen Schwarz-Weiß-Symbolik aus, die gerade zwischen den Farben, in den Grauzonen, neue (Un-)Sichtbarkeiten entstehen lässt. In den grauen Kuppeln von San Pietro, die sich hier bei der Rückkehr Cesiras vor dem trüben Himmel abzeichnen, tauchen diese den Roman dominierenden Farben erneut auf, werden aber - wie hier in der „lunga striscia di colore incerto“ - im Farbspektrum der Landschaft und der Bewohner Italiens auch immer wieder gebrochen. Moravias Roman malt nicht schwarz-weiß, sondern macht sich mit seinen beiden weiblichen Romanheldinnen auf die Suche nach einer Heimat, die im Text des Romans bezeichnenderweise nie erreicht wird: Cesira gelingt es auf der Flucht nicht, in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Entsprechend erzählt auch das Romanende nicht von der Ankunft in Rom, sondern vom Weg dorthin, der hier zur Parabel des Lebens wird und nochmals durch Dunkel und Irrtum führt: „camminare nella nostra vita, la quale era forse una povera cosa piena di oscu- 4 So z. B. auf der bereits eingangs zitierten Ausgabe von Alberto Moravias La ciociara zu finden. <?page no="346"?> Buchstäblich auferstehen 347 rità e di errore“. In diese Dunkelheit ist in La ciociara auch die Sprache getaucht, die an den Grenzen des Sichtbaren politische Sinnsuche be- und zerschreibt. Begreift man die Allegorie als rhetorisches Verfahren, „welches den Sinneffekt eines […] Verweises auf das nicht repräsentierbare, weil unsichtbare Andere besonders wirkungsvoll produzieren kann“, 5 so wäre allerdings zu fragen, worin dieses Unsichtbare in der Geschichte genau bestehen mag, die La ciociara ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Gerade in der Konfrontation von Moravias Roman mit der Selbstdeutung des Autors im Klappentext gerät die Dekonstruktionsarbeit in den Blick, die Allegorien als Fiktionen leisten. Im ostentativen Spiel mit Allegorie und Allegorese der christlichen Hermeneutik, aber auch der Buchstäblichkeit der jüdischen Tradition stellt La ciociara die Opposition von Sinnlichkeit und Geist permanent zur Disposition. Das sacrificium litterae , das Moravias Roman zwischen Judentum und Christentum vollzieht, 6 besteht unter anderem in der Literalisierung von Opferhandlungen im und durch den Text, mit deren geistigem Sinn auch die Sinnangebote der abendländischen Tradition in einem doppelten hegelianischen Sinne aufgehoben werden. In den Gräueln der Kriegschronik wird der Leser bei der Suche nach einem über das Literale hinausweisenden Sinn immer wieder auf die brutale Materialität menschlicher Existenz und auf den Wortlaut des Romans zurückgeworfen, der eine geistige Botschaft gleichermaßen sucht und verweigert. Moravias Text fordert von seinen Lesern, sich mit den beiden Romanheldinnen auf einen Weg zu machen, der dem gleicht, was Bernhard Teuber in seinen Lektüren der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz als einen „ transitus “ beschrieben hat, „der nirgendwo hinführt und sich nirgendwo sesshaft macht - ein Exodus ohne Land der Verheißung“ 7 . Vollzieht dieser Durchgang in der Liebesdichtung des Juan de la Cruz das Kreuzesopfer, das auf ein radikal entzogenes und daher unsagbares göttliches Anderes verweist, so führt der Weg dieses Nachkriegsromans durch die Restbestände paganer, jüdischer und christlicher Traditionen auf die grüne „pianura“ Italiens: ein Land, das sich vor dem weißen unsicheren Grund einer politischen Neuordnung im Schatten des Petersdoms abzeichnet. Sinnigerweise fehlt in diesem Farbspektrum die dritte Farbe der italienischen Flagge: das Rot, das in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder im Zeichen unschuldig vergossenen Opferblutes stand 8 5 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz , München: Fink 2003, p. 26. 6 Cf. ibid., v. a. pp. 505-507. 7 Ibid., p. 43. 8 Auf diese Farbsymbolik wurde ich durch eine Arbeit der Künstlerin Darya Tsymbaliuk aufmerksam, die im Rahmen eines Seminars über La ciociara im Sommersemester 2012 an der LMU München entstanden ist. <?page no="347"?> 348 Judith Frömmer und das traditionell auf das Ideal der brüderlichen Liebe in der französischen Trikolore verweist. Wenn die Ich-Erzählerin Cesira am Ende des Romans das Erleben von Leid zur Bedingung der Möglichkeit einer Wiederauferstehung der italienischen Bevölkerung erklärt, dann erscheinen in dieser Perspektive die Vergewaltigung Rosettas und die Ermordung Micheles als Formen jener „violence fondatrice“, über die sich René Girard zufolge politische und soziale Ordnungen (re-)organisieren. 9 Mit der Vergewaltigung Rosettas, die der Roman durchweg in der Semantik des Opferlammes darstellt, wird die lange Tradition weiblicher Gründungsopfer aufgerufen, die unter anderem die Wendepunkte der römischen Geschichte markieren. In Livius’ Geschichte Ab urbe condita setzen Formen sexueller Gewalt an Frauen wie Lukrezia oder Virginia den allegorischen Zusammenhang von Eros und Polis in das (auch in Moravias Klappentext bemühte) weibliche Bild des geschändeten Körpers der Republik, um dann von seiner Restitution zu erzählen. 10 Dahingegen steht Micheles Selbstopfer in der christlichen Tradition von Tod und Wiederauferstehung, die in dieser Textpassage im nochmaligen Verweis auf die biblische Geschichte von Lazarus in ihren hermeneutischen Implikationen aufgerufen wird. Die Geschichte von Lazarus, eine „storia di un miracolo“, die der kommunistische Intellektuelle und ehemalige Priesteranwärter Michele im vierten Kapitel in Erwartung der vorrückenden Alliierten der verständnislosen Dorfbevölkerung von San’Eufemia vorgelesen hatte und dabei an der Ignoranz des einfachen Volkes verzweifelt war (cf. pp. 121-124), wird damit abermals zu einem hermeneutischen Zentrum des Romans. Auch Cesira hatte den Sinn des Evangeliums, das Michele nicht mehr als Katholik, sondern als Kommunist unters Volk zu bringen versucht, damals nicht verstanden. Wie die Bauern des Dorfes hatte sie auf eine „storia d’amore“ gehofft, die Liebesbotschaft der biblischen Episode aber ebenso wenig begriffen wie die anderen Zuhörer. Diese sind nicht nur blind für die Tränen, die Michele während der Lektüre der Lazarus-Geschichte überkommen - sie führen diese auf den Rauch der Feuerstelle in der Hütte, also auf eine gänzlich materielle und keine geistige Realität zurück -, sondern sie 9 Cf. René Girard, La violence et le sacré , Paris: Grasset 1972. 10 Cf. Susanne Lüdemann, „Weibliche Gründungsopfer“, in: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas , ed. Albrecht Koschorke et al., Frankfurt a. M.: Fischer 2007, pp. 36-46; und Doris Sommer, Foundational Fictions: The National Romances of Latin America , Berkeley et al.: University of California Press 1991; Maria Warner, Monuments and Maidens: The Allegory of the Female Form . London: Weidenfeld & Nicolson 1985 sowie Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik , München: Kunstmann 1994. <?page no="348"?> Buchstäblich auferstehen 349 sind auch nicht im Stande, das Gleichnis über Krankheit, Tod und Wiederauferstehung auf ihre eigene Situation oder gar diejenige Italiens zu übertragen. Micheles erfolgloser Versuch, den Bauern der Ciociaria mittels der Bibellektüre gleichnishaft die eigene Lage vor Augen zu führen, scheitert nicht zuletzt an den Klassenschranken, die ihn von seinem Publikum trennen: „[T]utto questo era roba da signori che non zappavano e non si guadagnavano la vita col sudore della fronte“ (p. 124), fasst Cesira den Widerstand des einfachen Volkes zusammen, das, wie auch sie selbst zu diesem Zeitpunkt, offensichtlich nicht zur Allegorese fähig ist, sondern am Buchstabensinn der nackten bäuerlichen Existenz hängt. Auch sie selbst wird das Anliegen von Micheles Lazarus-Lektüre erst sehr viel später verstehen: und zwar nicht als Wahrheit eines Glaubens, der ihr selbst wie auch Michele längst abhandengekommen ist, sondern als geistige Botschaft für ein unerlöstes Volk. In La ciociara wird die Lektüre der Lazarus-Geschichte, deren Originaltext in Cesiras Ich-Erzählung ausgespart wird, zur mise-en-abyme der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Buchstaben eines Romans, der die Geschichte Italiens nicht nur in der Klarheit der (neorealistischen) Chronik, sondern auch im Dunklen einer schmerzhaften Erfahrung erzählt. Deren Heillosigkeit ist der Buchstäblichkeit entzogen und kann, ähnlich wie in Dantes Inferno , nur allegorice erzählt werden. Dieses Unsagbare der Vergangenheit, in der sich das Leid der italienischen Bevölkerung mit der politischen Verantwortung für den Faschismus verknüpfen könnte, bleibt in Moravias Roman in der Latenz des Erzählens. Darin wird der Anteil des geschäftstüchtigen Kleinbürgertums, wie es auch Cesira repräsentiert, nicht verschwiegen, aber auch nicht explizit. Die beiden Frauen Rosetta und Cesira, von denen Moravias Roman erzählt, verkörpern nicht zuletzt die ambivalente Rolle des Faschismus zwischen Gewalt und Verführung. Vittorio De Sicas Verfilmung aus dem Jahr 1960, deren englischsprachige Fassung den Titel Two Women trägt, inszeniert diese Ambivalenz unter anderem im meisterhaften Match Cut zweier Szenen, deren Farben komplementär auf eine nahezu unsichtbare und dadurch umso unheimlichere Komplizenschaft von Verführbarkeit und Vergewaltigung verweisen: Das flackernde Licht, auf das Cesiras markante Augen im stockdunklen Kohlekeller blicken, als sie sich zu Beginn des Films dem „schwarzen Mann“ alias dem Kohlehändler Giovanni hingibt, nicht zuletzt um ihr Geschäft über den Krieg hinwegzuretten, ist paradigmatisch mit den dunklen Vögeln am grauen Himmel über dem durchlöcherten Dach der Kirche verknüpft, auf die ihre Tochter Rosetta während ihrer Vergewaltigung mit ebenfalls weit aufgerissenen Augen starrt (cf. Fig. 2). <?page no="349"?> 350 Judith Frömmer 11 Dem allegorischen Bild des vergewaltigten Frauenkörpers als Sinnbild einer von Faschismus und Krieg geschändeten Nation entspricht damit im Dunkel der kaum erkennbaren Bilder die Politisierung des verführbaren Frauenkörpers als allegorische Verkörperung der potenziellen Korrumpierbarkeit des italienischen Volkes, wie sie in De Sicas Verfilmung nicht zuletzt durch Sophia Loren alias Cesira in Szene gesetzt wird (cf. Fig. 3). In ihrer überbordenden Erotik setzt die Loren dabei aber nicht nur die Hingabe des italienischen Volkes an den Faschismus, sondern auch die potenzielle Verführbarkeit des Kinopublikums ins sinnliche Bild. Der Suggestions- und Verführungskraft der Bilder des Neorealisten De Sica, dessen Film zu einer Zeit gedreht wurde, als die Traumata von Faschismus und Krieg im Zuge des boom economico in Vergessenheit zu geraten drohten, entspricht bei Moravia die Suche nach einer Literatur, die das Volk erreicht, aber gleichwohl über politische Propaganda hinausgeht. Die Liebesbotschaft seines Romans erschließt sich über die Erzählung von Lazarus, in der nicht nur Christus, sondern auch der Kommunist Michele weiterlebt und die La ciociara im Dialog mit Fjodor M. Dostojewskijs Verbrechen und Strafe entfaltet. In Dostojewskijs Kriminalroman findet die biblische Geschichte zum ersten Mal Erwähnung, als der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch den Mörder Raskolnikow fragt, ob er „buchstäblich“ an die Auferstehung des Lazarus glaube. Die Episode aus dem Evangelium lässt den von seinem Gewissen geplagten Studenten in der Folge nicht mehr los. Etwas später wird er die Prostituierte Sonja bitten, sie ihm aus dem Neuen Testament vorzulesen. Als sie dies, ebenfalls unter Tränen, tut, scheint sie damit zunächst ähnlich erfolglos zu sein, 11 La ciociara/ … und dennoch leben sie, Frankreich/ Italien 1960, dir. Vittorio De Sica, Mitschnitt NDR, 5.10.2005. Fig. 2 a-f: Die nahezu unsichtbare Verführung Cesiras im flackernden Licht des dunklen Kohlekellers und die Vergewaltigung Rosettas im „giorno chiaro“ der Kirche. 11 <?page no="350"?> Buchstäblich auferstehen 351 wie Moravias 12 Michele es bei den Bauern in Sant’Eufemia ist. Auch wenn sich Raskolnikow schließlich der weltlichen Gerichtsbarkeit stellt, kann er durch das Gesetz nicht erlöst werden. Erst als der verurteilte Mörder im Gefangenenlager selbst in jener Ausgabe des Neuen Testamentes zu lesen beginnt, aus der ihm Sonja einst vorgelesen hatte, kann er sich für das Glück einer Liebe öffnen, die den Buchstaben des Gesetzes überwindet. Die Lektüre bewirkt eine Wiederauferstehung, die indes aus der Erzählung über Verbrechen und Strafe ausgespart wird: „Ma qui, ormai, comincia una nuova storia, la storia della rinascita di un uomo, della sua graduale trasformazione, del suo lento passaggio da un mondo a un altro mondo, del suo incontro con una realtà nuova e fino a quel momento completamente ignorata. Potrebbe essere l’argomento di un nuovo racconto; ma il nostro, intanto, è finito“ 13 , lauten die letzten Sätze in der italienischen Übersetzung von Dostojewskijs großem Roman über die Suche eines Menschen in den Abgründen seines Gewissens. Auch Moravias Roman erzählt am Ende nicht 12 Bildquellen: www.frit.ucsb.edu/ news/ announcement/ 390 (20.04.2018); https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Two_Women#/ media/ File: TwoWomenPoster.jpg (20.04.2018). 13 Fëdor Dostoevskij, Delitto e castigo , ed. Antonella D’Amelia, Mailand: Garzanti 1985, p. 621. Fig. 3a-b: Die Kinoplakate zur italienischen und zur englischsprachigen Fassung von Vittorio De Sicas Verfilmung von La ciociara aus dem Jahr 1960. 12 <?page no="351"?> 352 Judith Frömmer von der Auferstehung, sondern von der neuen Lektüre einer alten Geschichte, in der Italien allenfalls aus dem Buchstaben wiedererstehen kann. Auf dem Weg seiner beiden Romanheldinnen nach Rom vollzieht sich ein neuer „ transitus “ zwischen Tod, Leben und Lesen. In der Unverfügbarkeit von irdischer Geschichte und Heilsgeschichte verlangt dieser nach einer permanenten „Übung des Textdurchgehens in einer Heimatlosigkeit, die sich des Sinns entledigt hat“. 14 Die Wiedergeburt Italiens kann sich nur über den Verzicht auf eine eindeutige Erlösungsbotschaft, über ein sacrificium litterae vollziehen: einem Opfer, von dem der Buchstabe erzählt, dem er sich aber gleichzeitig unterwirft. 14 Teuber, Sacrificium litterae , p. 43. <?page no="352"?> Körper - Macht - Lust. Anmerkungen zu Figur 8 in Roland Barthes’ Le Plaisir du texte Ottmar Ette Sur la scène du texte, pas de rampe : il n’y a pas derrière le texte quelqu’un d’actif (l’écrivain) et devant lui quelqu’un de passif (le lecteur) ; il n’y a pas un sujet et un objet. Le texte périme les attitudes grammaticales : il est l’œil indifférencié dont parle un auteur excessif (Angelus Silesius) : « L’œil par où je vois Dieu est le même œil par où il me voit. » Il paraît que les érudits arabes, en parlant du texte, emploient cette expression admirable : le corps certain . Quel corps ? Nous en avons plusieurs ; le corps des anatomistes et des physiologistes, celui que voit ou que parle la science : c’est le texte des grammairiens, des critiques, des commentateurs, des philologues (c’est le phéno-texte). Mais nous avons aussi un corps de jouissance fait uniquement de relations érotiques, sans aucun rapport avec le premier : c’est un autre découpage, une autre nomination ; ainsi du texte : il n’est que la liste ouverte des feux du langage (ces feux vivants, ces lumières intermittentes, ces traits baladeurs disposés dans le texte comme des semances et qui remplacent avantageusement pour nous les « semina aeternitatis », les « zopyra », les notions communes, les assemptions fondamentales de l’ancienne philosophie). Le texte a une forme humaine, c’est une figure, un anagramme du corps ? Oui, mais de notre corps érotique. Le plaisir du texte serait irréductible à son fonctionnement grammairien (phéno-textuel), comme le plaisir du corps est irréductible au besoin physiologique. Le plaisir du texte, c’est ce moment où mon corps va suivre ses propres idées - car mon corps n’a pas les mêmes idées que moi. Roland Barthes, Le Plaisir du texte (1973) 1 Bei dem nachfolgend zu kommentierenden und analysierenden Text handelt es sich um die achte von insgesamt sechsundvierzig Figuren, die in ihrer Gesamtheit den von Roland Barthes im April 1973 bei Seuil in Paris vorgelegten Band Le Plaisir du texte bilden. Die Pariser Erstausgabe dieses Büchleins, das längst nicht 1 In: Id., Œuvres complètes , ed. Eric Marty, 3 vols., Paris: Seuil 1993-1995, hier vol. I, p. 1502. Eine Übersetzung ins Deutsche und eine kritische Edition finden sich in Roland Barthes, Die Lust am Text , tr./ ed. Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp 2010 (Suhrkamp Studienbibliothek). Der nachfolgende Text greift auf die Ergebnisse dieser Arbeit zurück und versucht, sie umzuakzentuieren und weiterzuentwickeln. <?page no="353"?> 354 Ottmar Ette nur in Frankreich oder Deutschland, sondern in einem weltweiten Maßstab zu den Klassikern der Literaturtheorie gehört, war großzügig gesetzt und umfasste gut einhundert Seiten. Die sechsundvierzig Figuren sind in der Originalausgabe durch Sternchen voneinander getrennt und - sieht man von einem ‚Webfehler‘ ab, wie ihn Barthes oft in seine Ordnungen und Anordnungen einbaute - in alphabetischer Reihenfolge der Titel der Figuren im Band angeordnet. Die Titel der Figuren wurden dabei nicht im Haupttext, sondern nur im nachgestellten Inhaltsverzeichnis und damit paratextuell angegeben. Barthes gab der in sich abgeschlossenen achten Figur seines Bandes den Titel „Corps“. Die Figur, die wir zunächst mit dem nicht weniger schillernden deutschen Begriff Körper übersetzen können, unterhält eine Fülle an ko textuellen Beziehungen und ist folglich in ihrer Eigenständigkeit aufs Engste mit den anderen fünfundvierzig Figuren sowie dem paratextuellen Apparat im selben Band verwoben. Diese Relationen sollen im Folgenden zwar nicht ausgeschlossen, aber nur am Rande berücksichtigt werden. 2 Der Fokus dieses Beitrags liegt bewusst auf dem Korpus , dem Körper der Figur selbst. Figur 8 besteht aus zwei unterschiedlich kurzen sowie einem längeren zentralen Mikrotext, wobei alle im Gegensatz zu anderen Mikrotexten anderer Figuren nicht weiter untergliedert sind. Der dritte und abschließende Mikrotext besitzt gerade auch in der gewählten Definitionsform („Le plaisir du texte, c’est…“) sowie in seiner konzisen Kurzform die Charakteristika eines Solitärs, mithin eines für sich selbst stehenden Mikrotexts, wie er in Barthes’ nanophilologischer 3 Schreibweise als Theorem beziehungsweise Mikrotheorem von besonderer Bedeutung ist. I. Der erste Mikrotext setzt mit der Theatralität der Textualität ein, was insofern nicht überrascht, als sich der französische Intellektuelle zeit seines Lebens sehr intensiv mit dem Theater beschäftigte, als Student an der Sorbonne die „Gruppe Antikes Theater“ mitbegründete und sich kontinuierlich nicht nur mit dem Theater der Antike, sondern auch mit dem der Moderne, dessen politischer Aufgabe und insbesondere mit der Theaterpraxis Bertolt Brechts auseinandersetzte. Der Eingangssatz der Figur zielt darauf ab, jegliche aus seiner Sicht überkommene Gerichtetheit und Vektorizität der abendländischen Guckkastenbühne zu unterlaufen. Es gibt im Barthes’schen Verständnis des Textes weder ein ‚Davor‘ 2 Die Erkundung der bandinternen Relationalität war das übergeordnete Ziel der in der Studienbibliothek Suhrkamp erschienenen deutschsprachigen Edition. 3 Zu diesem Begriff cf. Ottmar Ette, Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania , Tübingen: Niemeyer 2008. <?page no="354"?> noch ein ‚Dahinter‘, keinerlei Hierarchien und auch keine vorprogrammierten Choreographien. Gegen die Macht der Tradition wird ein degré zéro postuliert. Die von Barthes in Le Plaisir du texte propagierte Text-Lust setzt die Macht des Vor-Geschriebenen , des Präskriptiven außer Kraft und setzt zugleich auf eine Lust, die durch unterschiedlichste Bewegungen und Annäherungen an den Text-Körper ausgelöst wird. Die Macht der tradierten Setzungen (von Subjekt und Objekt, Schriftsteller und Leser) wird ent-setzt : Auf dem dadurch erhofften Entsetzen der herrschenden Macht, der herrschenden Meinung der Doxa beruht ein Gutteil von Barthes’ Poetik und Poetologie im Bereich des Theaters. Im Zeichen ihrer intendierten Wirkung versucht die Figur „Corps“ von Beginn an, im selben Satz, im selben Atemzug die Subjektphilosophie und die Identitätsphilosophie des Abendlands ins Bewusstsein zu heben und ins Wanken zu bringen. Der französische Schriftsteller und Philosoph steht darin dem von ihm verehrten Denken und Schreiben Friedrich Nietzsches sehr nahe, der am Ende eines seiner nachgelassenen Fragmente diese doppelte Stoßrichtung, die Barthes’ Positionen der siebziger Jahre umschreibt, sehr bündig markierte: „Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes thun, ist weder frei, noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts. “ 4 Bei Barthes geht die Auflösung klarer Trennlinien zwischen Autor-Subjekt und Leser-Subjekt unter texttheoretischen Prämissen einher mit jener zwischen aktivem und passivem Part in der literarischen Kommunikation. Im Kontext der von Barthes 1973 nicht nur konzipierten, sondern weit mehr noch praktizierten Textualitätsvorstellung werden diejenigen Instanzen, welche herkömmlicherweise als ‚Autor‘ und als ‚Leser‘ bezeichnet werden, zu Figuren auf der Bühne eines Textbegriffs, der jedwede prästabilierte Vektorizität unterläuft. Dies beinhaltet ebenfalls die Vektorizität des Grammatikalischen, die klar zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Autor‘ im Satz unterscheidet, die Ordnung und Bewegungsrichtung von grammatikalisch korrekten Sätzen festlegt und diese vor-sätzliche Normativität als Sprach-Macht ausspielt. Eine so verstandene Grammatikalität aber ist im Zeichen ihrer ererbten Macht vorsätzlich lustfeindlich. Sie legt fest, nicht aus. Sie ist eine Last. Barthes sucht daher nach einer List, um diese Last in Lust zu verwandeln. Ein Element dieser List ist die Aktivierung des Lesers, die er bereits 1967 in seinem berühmten Essay „La mort de l’auteur“ folgenreich vorgenommen hatte 5 . 4 Friedrich Nietzsche, „Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889“, in: Id., Kritische Studienausgabe , edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München et al.: dtv et al. 1999, vol. XII, 137 [142]. 5 Cf. Ottmar Ette, LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung , Hamburg: Junius 2 2013, pp. 80-88. Körper - Macht - Lust 355 <?page no="355"?> 356 Ottmar Ette Anders als in der in etwa zeitgleichen rezeptionsästhetischen Aufwertung des aktiven Leser-Subjekts geht es in der théorie du texte von Barthes gerade um die Auflösung des Subjekts als Weg zur Befreiung des Signifikanten aus den Oppressionen abendländischen Denkens. Dies führt auch das dem deutschen Mystiker Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) zugeschriebene Zitat buchstäblich vor Augen, denn dieser auteur excessif ist mehr als nur ein Autor. Barthes blickte gerade in den siebziger Jahren (etwa in seinen Fragments d’un discours amoureux von 1977) vielfach explizit auf den deutschen Mystiker zurück, scheint aber das von ihm eingespielte Zitat nicht Angelus Silesius entnommen zu haben, griff er doch wohl auf das von ihm bewunderte Tagebuch Henri-Frédéric Amiels, und zwar auf das Journal vom 1. Oktober 1849, 6 zurück. Damit jedoch ist der exzessive Auktor und Autor noch nicht ausreichend bestimmt, denn Amiel dürfte sich eher auf den polnischen Dichter Adam Mickiewicz bezogen haben. 7 Bei genauerer Prüfung aber handelt es sich um ein Zitat eines anderen großen deutschen Mystikers: jenes Meister Eckhart, der sich in den Fragmenten eines Diskurses der Liebe ebenfalls recht häufig findet. Barthes war vielleicht schlicht Amiels falscher Zurechnung des Zitats zu Angelus Silesius gefolgt; möglicherweise aber deutet die Formulierung auteur excessif auch darauf hin, dass sich hier rhizomartig eine dezentrierende Textmangrove herausbildet, in der sich die ‚Autorschaft‘ wie die Autorität des ‚Ursprungs‘-Textes verlieren. Un(e) mystique peut en cacher un(e) autre. 8 II. Die Aufhebung einer Vektorizität, die ‚zurück‘ zum Auktor, zurück zu einer Quelle führt, eröffnet einen Spielraum, dessen sich Barthes in Le Plaisir du texte vielfach bedient. Aber öffnet dies nicht zugleich, so ließe sich fragen, einer Mystik des Textes, einer Verherrlichung der Textualität Tür und Tor? Doch Barthes interessiert sich 1973 (nicht zuletzt wohl auch aus feldtaktischen Gründen) im Verbund mit der Gruppe Tel Quel um Philippe Sollers und Julia Kristeva noch nicht dafür, ob sich in diese Mystik ein Dogma, das Textualitätsdogma, einschleicht: Ihn interessiert zu diesem Zeitpunkt die Lust - und diese schließt, wie 6 Cf. Henri-Frédéric Amiel, Fragments d’un journal intime , 3 vols., Genève: Georg 1922, hier vol. I, p. 18. Cf. hierzu ausführlich Armine Kotin Mortimer, The Gentlest Law. Roland Barthes’s „The Pleasure of the Text“ , New York et al.: Peter Lang 1989, p. 87sq. 7 Cf. ibid., p. 85. 8 Zur Beziehung zwischen Mystik, Sprache und Körper cf. Bernhard Teuber, Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit , Tübingen: Niemeyer 1989; sowie Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen , edd. Bernhard Teuber, Horst Weich, Frankfurt a.M.: Vervuert 2002. <?page no="356"?> etwa in der spanischen Mystik, mit der sich Barthes auch in Sade Fourier Loyola beschäftigte, das Spannungsverhältnis von Textualität und Sexualität mit ein. Das vermeintliche Angelus Silesius-Zitat zeigt: Nicht allein auf der Bühne des Textes, sondern auch auf jener des Auges ist die Vektorizität umkehrbar. Das Auge ‚sieht‘ (die Sprache) in beiden Richtungen. 9 Die exzessive Autorschaft radikalisiert die Frage Nietzsches nach dem ‚Wer spricht? ‘ aus einer texttheoretischen Perspektivik, welche die unbegrenzte und unbegrenzbare Produktivität namens Text 10 im Auge hat. Der Autorschaft im Sinne Barthes’ eignet immer etwas Exzessives: Autorschaft ist mit Autorität und Macht verbunden. Welche List hilft gegen diese Last? Eine anagrammatische Lust. In der an Saussures Anagramme 11 gemahnenden offenen Strukturierung der Texte unter den Texten, der ‚Autoren‘ unter den ‚Autoren‘ macht sich im zweiten Mikrotext der achten Figur die Körperlichkeit vernehmbar und hörbar. Im erwähnten Spannungsverhältnis zwischen Sexualität und Textualität führt spiegelsymmetrisch zum Verweis auf die okzidentale Mystik ein Hinweis auf orientalische Beziehungen zu einer noch tieferen Verknüpfung zwischen Körper, Sprache und (mystischem) Text. Aus der Verfangenheit in einer ‚ rein ‘ abendländischen Mystik (in der freilich stets die Mystiken des Ostens präsent waren) führt der Verweis auf die möglicherweise sufistische Tradition heraus, die Barthes während seiner wiederholten Aufenthalte in einer arabisch geprägten Area (insbesondere in Marokko) kennengelernt haben dürfte. Entscheidend dabei ist für Barthes, dass hier vor dem Hintergrund einer zwischen morgen- und abendländischer Mystik miteinander in Beziehung setzenden Transarealität der (sakrale) Text selbst zum Körper wie zum Korpus wird. Der Körper der Lust ist transareal verfasst: Er sucht sich der Kontrolle des Abendlands zu entziehen. Die wiederum von Friedrich Nietzsche mitgeprägte Frage, um welchen Körper es sich denn handele, erlaubt es Barthes im zweiten Mikrotext, erneut auf Julia Kristevas texttheoretischen Ansatz und vor allem ihre Unterscheidung zwischen phénotexte und génotexte zurückzugreifen. Etwas vereinfachend ließe sich sagen, dass der Phäno-Text auf den explizit zum Ausdruck gebrachten Körper abzielt, wie er von den biotechnologisch-medizinischen über die anthropologischen bis hin zu den philologischen Wissenschaften konstruiert und wahr-genommen wird. Damit ist ein lebenswissenschaftliches Verständnis des 9 Cf. Giulio Carlo Argan, „Ho una malattia, io vedo il linguaggio“, in: Roland Barthes, Carte, Segni , ed. Carmine Benincasa, Milano: Electa 1981, pp. 17-23. 10 Cf. Julia Kristeva, „La productivité dite texte“, in: Ead., Séméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse , Paris: Seuil 1969, pp. 147-184. 11 Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure , tr./ ed. Henriette Beese, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1980. Körper - Macht - Lust 357 <?page no="357"?> 358 Ottmar Ette Körpers gemeint, das zum einen die heute so genannten Life Sciences umfasst, zum anderen aber auch jene Lebenswissenschaften , die sich aus der Aufgabe - und vielleicht sogar unter Maßgabe - der Philologie mit Blick auf ein Lebenswissen, ein Erlebenswissen, ein Überlebenswissen und ein Zusammenlebenswissen zu entfalten begonnen haben. 12 Barthes’ frühzeitiges Erkennen einer Zusammengehörigkeit einer lebenswissenschaftlichen Herangehensweise an den Körper, die vom Biotechnologischen bis zum Philologisch-Philosophischen reicht, erscheint aus heutiger Perspektive im Übrigen als wegweisend. Denn der Begriff des Lebens kann nicht die Beute allein einer naturwissenschaftlich-medizinischen Betrachtungsweise des Körpers sein. Es dürfte schon die zeitgenössische Leserschaft nicht überrascht haben, dass der zentrale und zugleich umfangreichste Mikrotext dieser Figur gerade diesen phänotextuellen Körper weitgehend außer Betracht lässt. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine genotextuelle Körperlichkeit der jouissance : Der Fokus liegt auf dem erotischen Körper, dem Körper der Text-Lust. Dieser Körper steht weniger im Zeichen des Lebenswissenschaftlichen als vielmehr des Lebendigen und der unbändigen Bewegung: Es ist ein disseminierender, ein Samen verstreuender und versprühender Körper, der die (um mit Hans Blumenberg zu sprechen) Metaphorologie der Derrida’schen dissémination auf die Ebene der Körperlichkeit verlagert. Wollten wir Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne 13 und mit ihr die Körper-Leib-Differenz 14 hiermit in Verbindung bringen, so ließe sich der lebenswissenschaftliche Körper der Phänotextualität stärker mit dem Körper-Haben, die lebendige Modalität des Körpers im genotextuellen Sinne hingegen vorrangig mit dem Leib-Sein verbinden. Wäre dem erstgenannten Bereich, also dem einer Objektivierung und Objekthaftigkeit des Körpers, das plaisir zuzuordnen, so gälte für den zweiten die jouissance , wobei wir angesichts der Verschränkungen von Körper-Haben und Leib-Sein etwa im Liebesakt auch von einer Nicht-Trennbarkeit von plaisir und jouissance , von Lust und Wollust in der Verschränkung des Leibhaftig-Körperlichen ausgehen sollten. Un corps peut en cacher un autre. Mit der Entscheidung für die Genotextualität, die nicht zuletzt auch in der jouissance am Ende der sechsundvierzigsten Figur „Voix“ akustisch-sinnlich zum Ausdruck kommt, stellt Roland Barthes die Macht-Frage, wenn auch weniger im 12 Cf. Ottmar Ette, ÜberLebensWissen I-III , 3 vols., Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004-2010. 13 Cf. Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“ [1970], in: Ders., Gesammelte Schriften , vol. III: Anthropologie der Sinne , edd. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, pp. 317-393. 14 Cf. Hans-Peter Krüger, „Das Spiel zwischen Leibsein und Körperhaben. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48/ 2 (2000), pp. 289-317. <?page no="358"?> Sinne von la politique als von le politique : An der Figur des Körpers interessiert ihn weniger die Politik als das Politische. Die Körper-Landschaften werden zu einer zentralen Landschaft der Theorie des französischen Zeichen- und Kulturtheoretikers. 15 Das damit verbundene Unterlaufen der geläufigen Begriffe und „Postulate der antiken Philosophie“ weist dabei auf eine Doxa, auf eine herrschende Lehrmeinung hin, die in einer für Barthes charakteristischen Wendung auf paradoxale Weise zumindest hinsichtlich ihrer Dominanz enttoxifiziert wird. Der endoxale , sich innerhalb der Macht befindliche Körper der Philosophie mit seinem kanonisierten Korpus wird durch die „lebendigen Feuer“ einer Sprache erhellt und damit einer paradoxen , vom Körper der Wollust ausgehenden Belastungsprobe ausgesetzt. Roland Barthes verlagert den Schwerpunkt seines Schreibens zunehmend von der Seite des Lebenswissenschaftlichen auf die Seite des Lebendigen und des Lebens, wobei beide Bereiche selbstverständlich wie Körper und Leib liebevoll miteinander verschränkt bleiben. III. In Le Plaisir du texte wendet sich Roland Barthes auf der Grundlage seiner nanophilologischen écriture courte zunehmend vom - wie es im zweiten Mikrotext der Figur „Körper“ heißt - „Text der Grammatiker, der Kritiker, der Kommentatoren, der Philologen“ ab und greift - wie er 1970 für die Zeitschrift Communications formulierte - jene „Art aristotelische Vulgata“ an, die noch immer „einen Typus transhistorischen Abendlands“ definiere und damit „eine Zivilisation (die unsere), welche die der Endoxa ist“ 16 . Ein philosophischer Rundumschlag? Wohl eher eine subtile Subversion. Gewiss lässt sich zeigen, dass Barthes die Wendungen „ semina aeternitatis “ wie das griechische „ zopyra “ einer Ausgabe von Leibniz’ Nouveaux essais sur l’entendement humain 17 entnommen haben könnte; doch entscheidend ist die akratische Intentionalität (und Intensität), mit welcher der Autor von Sade Fourier Loyola nun in Le Plaisir du texte die Grammatik der endoxalen, enkratischen, folglich noch immer an der Macht befindlichen und vorherrschenden Philosophie herausfordert. Er tut dies im Namen des Körpers, im Namen des lebendigen Körper-Leibs, des Körpers einer Lust, die dem Text auf den Leib geschrieben ist. Keine Abkehr von der Grammatik, kein Abschied von der Philologie, Barthes geht es vielmehr um die Übersetzung des Lebenswissenschaftlichen in die LebensZeichen 18 eines Schreibens, das im 15 Cf. Ottmar Ette, Roland Barthes. Landschaften der Theorie , Konstanz: Konstanz University Press 2013. 16 Cf. Roland Barthes, „L’ancienne rhétorique“, in: Id., Œuvres complètes , vol. II, p. 959. 17 Paris: Garnier-Flammarion 1966, p. 34. Cf. Mortimer, The Gentlest Law , p. 34. 18 Cf. Ette, LebensZeichen. Körper - Macht - Lust 359 <?page no="359"?> 360 Ottmar Ette Sinnlichen seinen lebendigen Sinn sucht, ohne der Sucht des Sinnlichen schreibend zu verfallen. Um mit List aus der historischen Last eine Lust zu machen. Dies zeigt sich im dritten und letzten Teil. Die figura des erotischen Körpers entzieht sich in ihrer verdichteten Form im dritten Mikrotext jeglicher Doxa der Philologie und des Kommentars. An dieser Stelle muss der Kommentar, will er sich ebenso lebenswissenschaftlich wie lebendig verstehen, zum Paradoxon der Lust werden. Denn zum einen lässt sich aufzeigen, wie die texttheoretischen Zusammenhänge in verdichteter Form in jener für Barthes so charakteristischen écriture courte des Mikrotheorems zusammenlaufen und in der Formulierung gipfeln, dass „mein Körper nicht dieselben Ideen wie ich“ besitze. Zum anderen aber zeigen sich in Le Plaisir du texte auch die den Kommentar überschießenden Dimensionen des texte de plaisir selbst. Dem Ich - das im Sinne von Barthes die Fiktion eines Subjekts ist, die wir nicht leichtfertig mit Roland Barthes verwechseln, aber auch nicht von ihm abtrennen dürfen - wird im abschließenden Mikrotext ein Körper gegenübergestellt, den wir nicht mit dem Körper des außerhalb des Textes existierenden Schriftstellers ‚aus Fleisch und Blut‘ verwechseln - aber auch nicht von diesem losgelöst denken sollten. Ein Subjekt ohne die Fiktion eines Subjekts gibt es nicht. Es ist der erotische Körper, der Körper-Leib der Lust, die literarische wie theoretische Figuration des Leib-Seins, das die Macht besitzt, akratisch der Macht zu trotzen: nicht im Sinne eines Widerstands, sondern grundlegender Widerständigkeit. Jener Körper-Leib, der seine eigenen Ideen hat und seiner eigenen Logik folgt. Gegen die ererbte Setzung setzt dieser Satz sein eigenes paradoxes Gesetz, das nur insofern Gesetz sein kann, als es sich stets als gesetzt versteht und es folglich niemals endgültig gesetzt, sondern immer anders und vor allem weiter umgesetzt werden kann. Ohne die Beachtung und mehr noch Achtung des Eigen-Sinns, der Eigen-Logik des corps - dies macht der hochverdichtete, die Figur pointiert ‚abschließende‘ und wohl auch krönende Mikrotext unmissverständlich deutlich - ist die Lust am Text und die Lust im Text nicht zu haben. Die Kunst des Mikrotheorems ist von der Text-Lust des schreibenden Ich nicht zu trennen und blitzt am Ende dieser Figur listig auf. Wie aber könnte eine figura , die stets Bewegungs-Figur ist, ohne die gleich zu Beginn des ersten Mikrotextes gestellte Frage nach einer nicht-gerichteten Vektorizität sich selbst in Bewegung halten? Die Diskontinuität des Subjekts kann, ja muss im Kommentar das Subjekt in seiner Diskontinuität in umkehrbarer, gleichsam verkehrter Form durch den Raum von Körper und Sprache verkehren lassen. Kein Subjekt ist ohne seine Fiktion denkbar: Denn auch meine Ideen haben nicht denselben Körper wie ich. <?page no="360"?> Jouissance féminine 361 Jouissance féminine Cornelia Wild J’ai encore une demi-heure pour essayer de vous introduire, si j’ose m’exprimer ainsi, à ce qu’il en est du côté de la femme. Alors, de deux choses l’une - ou ce que j’écris n’a aucun sens, c’est d’ailleurs la conclusion du petit livre, et c’est pour ça que je vous prie de vous y reporter - ou, quand j’écris , cette fonction inédite où la négation porte sur le quanteur à lire pas-tout , ça veut dire que lorsqu’un être parlant quelconque se range sous la bannière des femmes c’est à partir de ceci qu’il se fonde de n’être pas-tout, à se placer dans la fonction phallique. C’est ça qui définit la… la quoi ? - la femme justement, à ceci près que La femme, ça ne peut s’écrire qu’à barrer La . Il n’y a pas La femme, article défini pour désigner l’universel. Il n’y a pas La femme puisque - j’ai déjà risqué le terme, et pourquoi y regarderais-je à deux fois ? - de son essence, elle n’est pas toute. Je vois mes élèves beaucoup moins attachés à ma lecture que le moindre sous-fifre quand il est animé par le désir d’avoir une maîtrise, et il n’y a eu pas un seul qui n’ait fait je ne sais quel cafouillage sur le manque de signifiant, le signifiant du manque de signifiant, et autres bafouillages à propos du phallus, alors que je vous désigne dans ce la le signifiant, malgré tout courant et même indispensable. La preuve c’est que, déjà tout à l’heure, j'ai parlé de l’homme et de la femme. C’est un signifiant, ce la . C’est par ce la que je symbolise le signifiant dont il est indispensable de marquer la place, qui ne peut pas être laissée vide. Ce la est un signifiant dont le propre est qu’il est le seul qui ne peut rien signifier, et seulement de fonder le statut de la femme dans ceci qu’elle n’est pas toute. Ce qui ne nous permet pas de parler de La femme. Il n’y a de femme qu’exclue par la nature des choses qui est la nature des mots, et il faut bien dire que s’il y a quelque chose dont elles-mêmes se plaignent assez pour l’instant, c’est bien de ça - simplement, elles ne savent pas ce qu’elles disent, c’est toute la différence entre elles et moi. Il n’en reste pas moins que si elle est exclue par la nature des choses, c’est justement de ceci que, d’être pas toute, elle a, par rapport à ce que désigne de jouissance la fonction phallique, une jouissance supplémentaire. Jacques Lacan, Encore (1975) 1 1 Le Séminaire XX de Jacques Lacan, ed. Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1975, p. 68. <?page no="361"?> 362 Cornelia Wild Eine halbe Stunde für die Einführung der jouissance supplémentaire . In der Kürze der Zeit (des Seminars) soll ein Zusatz gefunden werden. Diese jouissance konstituiert sich von Anfang an als Paradoxie: gleichzeitig wenig und viel, ein Mangel und ein Surplus, etwas, das die Ordnung (der Zeit, der Rede, des Seminars, des Geschlechts, der Schriften Lacans) überbordet. In einem der berühmtesten Texte Jacques Lacans „Dieu et la jouissance de la femme“ von 1973 liegt die jouissance féminine irgendwo zwischen diesem Mangel und diesem Surplus . Dieser spezifische Mangel, der gleichzeitig ein Überschuss ist, verweist auf die Zeichenordnung, in die die Frau als Negation, Durchstreichung, pas-tout , eingeordnet wird. Denn die Frau, so der berühmte aber auch viel kritisierte Satz Lacans - mit einem Handstreich erzeugt - gibt es nicht. Gleichzeitig manque du signifiant und signifiant du manque markiert die jouissance féminine einen Platz ( la ), der nicht leer bleiben kann, aber dennoch immer nur einen Mangel bezeichnet, ein fehlendes Sprechen oder noch genauer ein fehlendes Wissen über das eigene Sprechen: „elles ne savent pas ce qu’elles disent“ (p. 68). Es gibt offenbar eine weibliche Rede wie es eine weibliche Lust gibt, aber diese ist unbewusst wie kindliches Geplapper oder Gezwitscher der Vögel oder wie die dunkle Rede von Johannes vom Kreuz oder der Mystikerinnen des Mittelalters. Berninis Skulptur der heiligen Teresa de Jesús in Rom ist für Lacan die inszenierte jouissance féminine par excellence, weil sie zeigt, wie es aussieht, wenn das Wissen von der Lust durch körperliche Hingabe ersetzt wird: „c’est justement de dire qu’ils [elles? , C.W.] l’éprouvent, mais qu’ils [elles? , C.W.] n’en savent rien“ (p. 71). Ein Weniger an Wissen, dafür ein Mehr an Körper und Lust? Der Text Lacans als Ganzes stellt im Sinne von Luce Irigaray und Hélène Cixous eine Szene ( scène ) dar: eine Bühne, auf der ein bestimmtes Sprechen inszeniert wird, das den Rahmen der konventionellen akademischen Rede überschreitet. Eine solche Inszenierung dient dem, was Irigaray die „Hypothese einer Umkehrung“ 2 nennt: zur Artikulation der Architektonik des der Repräsentation zugrunde liegenden Theaters mit seinen Kulissen und Akteuren sowie deren Stellung zueinander, mit allen Dialogen und tragischen Beziehungen. Eine solche Bühne befindet sich nicht mitten, sondern am Rand (der Diskurse). Lacan berührt diesen Bereich der hors scène und damit auch dasjenige, was nicht artikuliert wird und werden kann, das Verschwiegene oder Verdrängte im Raum der Diskurse. Wer aber spricht in diesem Theater der Übertragungen, des transpère ? Lacan? Die Frau? Die jouissance ? Das auf dieser Bühne inszenierte Sprechen gibt Lacan zunächst als eine Art philosophische Rede aus, die das peripatetische Gehen und Denken der Philosophen nachspielt: „Il y a longtemps que je désirais vous parler en me promenant 2 Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist , Berlin: Merve 1979, p. 79. <?page no="362"?> Jouissance féminine 363 un petit peu entre vous“ (p. 61). Aber das Denken macht sich klein, es betont seinen minoritären Status: un petit peu . Auch ist das philosophische Gehen keines, das sich wie Rousseau in den Rêveries abseits der Gesellschaft stellt, sondern es tritt mitten hinein in die Menge der Zuhörer und Zuhörerinnen: entre vous . Von Anfang an geht es darum, nicht sein Selbst oder sein Denken, sondern eine Art und Weise des Sprechens ( parole, „lalangue“ ) zu inszenieren, die sich zum Nichtsprechen der Frau in Bezug setzt. Zwischen dem Sprechen Lacans (innerhalb einer halben Stunde) und dem Sprechen der Frau (das es nicht gibt) tut sich dabei einerseits ein Abstand auf: „c’est toute la différence entre elles et moi“ (p. 69). Das Ich, das spricht, unterscheidet sich von der weiblichen Rede und damit zunächst auch von ihrer Lust, insofern diese abgerückt wird zu einer „jouissance à elle“ (p. 69) - eine Lust, die ihr zugeordnet wird, à elle wie à part , eine andere Empfindung und nicht die eigene, ein Genuss, der nicht hier, sondern woanders stattfindet: une jouissance qui soit au delà. Andererseits spricht Lacan sich selbst in diesen Mangel hinein: Y ajouter les Écrits de Jacques Lacan. In seinem Seminar scheint Lacan unaufhörlich in einer nicht endenden Litanei zu wiederholen, zu stammeln, vielleicht sogar hysterisch zu schreien: „elle y est pas du tout“ / „Elle y est pas du tout.“ / „Elle y est à plein.“ (p. 69) Lacan macht also den Zuhörern eine Szene , wie die Mystikerin oder auch die Hysterikerin von Charcot und Freud Szenen machen . Diese Übertragung der hysterischen oder mystischen scène auf die eigene Rede äußert sich auch da, wo Lacan Einsicht gibt in sein eigenes Nicht-Wissen. Wenn die Frau nicht weiß, was sie sagt, so beherrscht Lacans Sprechen zumindest eine Ambiguität gegenüber den Möglichkeiten, Herr über seine eigene Rede zu sein: „Essayons d’avancer sur ce qui résulte de ceci que rien ne témoigne que je ne sache pas ce que j’ai à dire là ici où je vous parle.“ (p. 66) Das Sprechen auf der Lacan’schen Bühne mündet schließlich in ein Glaubensbekenntnis: „Je crois à la jouissance de la femme en tant qu’elle est en plus.“ (p. 71) Lacan gibt sich mit diesem Bekenntnis zur jouissance féminine als professeur im eigentlichen Sinn aus. Denn die universitäre Lehre kennzeichnet Jacques Derrida zufolge - und sie setzt sich damit von anderen Berufen ab -, dass sie öffentlich erklärt, dass sie sich zu etwas bekennt. 3 Dieses Sprechen ist ein performativer Sprechakt, es besteht in einer Bekundung und Darstellung, einem theatralen Schauspiel und seiner Aufführungspraxis. Was von Lacan aufgeführt wird, ist dabei aber immer nur dies: das wiederholende Sprechen über einen Mangel, das den aktuell umgreifenden Tendenzen von Leistungsimperati- 3 Cf. Jacques Derrida, „Die unbedingte Universität“, in: Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, edd. Studentinnen und Studenten der LMU München, Zürich: Diaphanes 2010, pp. 187-196, hier p. 195. <?page no="363"?> 364 Cornelia Wild ven, Drittmittelansprüchen, Effizienzkriterien, Ergebnisorientierungen gänzlich widerspricht. Dieses (Wider-)Sprechen ist demütig, zögernd, zurückweichend, burlesk, obszön, unvollständig, verspielt, rhetorisch, lustvoll, innovativ und eben auch dies: feminin - es beinhaltet also genügend theatrales Potential, um die Universität als Unternehmen immer wieder ( encore ) anders zu inszenieren und als Ort eines anderen Fragens, Denkens und Inszenierens (wieder) zu gewinnen. Lacans Text ist somit als die Inszenierung eines selten oder vielleicht sogar unmöglich gewordenen öffentlichen Auftritts zu verstehen, dessen Mehrwert durch eine Rede erzeugt wird, die mit dem Mangel, der Nichtbeherrschung und dem Überschuss zu tun hat und sich dabei aus jenem anderen Begehren speist, das Lacan jouissance féminine genannt hat. <?page no="364"?> Jouissance féminine 365 V. Figurationen des Allegorischen <?page no="366"?> MELENCOLIA I 367 MELENCOLIA I. Ein Kommentar Ulrich Kuder 1 1 Bildquelle: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 1/ 14/ Melencolia_I_%28Durero%29.jpg (6.6.2018). Verschiedene Anregungen verdanke ich dem Austausch mit Charlotte Langhorst (Lagos/ Nigeria), Johannes Hartau (Hamburg) und Christian Neddens (Saarbrücken). Fig. 1: Albrecht Dürer, Melancholie (1514) 1 <?page no="367"?> 368 Ulrich Kuder Klärungsbedürftig ist das letzte Zeichen der Inschrift. Ist es der Buchstabe I, die Kardinalzahl unus oder die Ordinalzahl prima , die, verschiedene Melancholiearten vorausgesetzt, deren erste als melencolia prima bezeichnet? Wölfflin meinte, dem Kupferstich Dürers, der die erste, „die gutartige“ Melancholie zeige, hätte ein Bild der zweiten, der bösartigen „folgen sollen“. 2 Für seine Annahme dieser „zwei Arten von Melancholie“ 3 berief er sich auf den Satz in Marsilio Ficinos (1433-1499) De vita libri tres 4 , Lib. I, V : „Melancholia das ist atra bilis ist zweierlei.“ 5 Dürer dürfte mit dem wesentlichen Inhalt der 1505 auf Deutsch erschienenen Abhandlung Ficinos vertraut gewesen sein. Wölfflins Ficino-Zitat bezieht sich auf den Körpersaft der schwarzen Galle (μέλαινα χολὴ, atra bilis ). Diese ist duplex, von zweierlei Art. Die eine, von den Ärzten als ‚natürliche schwarze Galle‘ bezeichnet, ist nichts anderes als ein dichterer und trockenerer Teil des Bluts. „Sie allein führt uns zur Einsicht und zur Weisheit, wenn auch nicht immer.“ 6 Die andere Art kommt durch Verbrennen dieser natürlichen schwarzen Galle, des klareren Bluts, der (gelben) Galle oder des Phlegmas zustande. „Jedwede durch Verbrennen entstandene schwarze Galle schadet der Einsicht und der Urteilskraft.“ 7 Homines litterarum 8 , studiosi 9 und Musarum sacerdotes 10 , also diejenigen, denen Ficino mit seinem Werk Lebenshilfe geben will und die sämtlich Melancholiker von Geburt oder durch Studieren zu solchen geworden sind, 11 haben die durch Verbrennen entstandene schwarze Galle und das Phlegma, das den Geist oft abstumpft und erstickt, mit größter Vorsicht, nicht anders als die Seefahrer Scylla und Charybdis, zu meiden. 12 Brennend bringt die schwarze Galle die Menschen zur Raserei (furor ; mit Hinweis auf die μανία Μουσῶν im Phaidros 245a u. a.) und damit zu geistiger Kreativität, was kein anderer Körpersaft vermag, 13 die verbrannte aber erzeugt eine geistige 2 Heinrich Wölfflin, „Zur Interpretation von Dürers ‚Melancholie‘“, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1 (1923), pp. 175-181; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Id., Gedanken zur Kunstgeschichte , Basel: Benno Schwabe 1940, pp. 96-105. 3 Ibid., p. 104. 4 Marsilio Ficino, De vita libri tres / Drei Bücher über das Leben , ed., transl. Michaela Boenke, München: Fink 2012. Für meine Übersetzungen habe ich die Boenkes benutzt. 5 Wölfflin, „Zur Interpretation“, p. 104; cf. Ficino, De vita , p. 58. 6 Ibid. 7 Ibid. 8 Ibid., p. 52. 9 Ibid., pp. 48, 66. 10 Ibid., p. 56. 11 Ibid. 12 Ibid., p. 52. 13 Ibid., p. 58 . <?page no="368"?> MELENCOLIA I 369 Umnachtung, Kälte und Lähmung, die Melancholie im eigentlichen Sinne. Quem habitum melancholiam proprie et amentiam vecordiamque appellant. 14 Leuchten soll die schwarze Galle, ohne zu verbrennen; Ficino (Lib. I, Vi Ende): „Wozu so vielerlei Worte über den Saft der schwarzen Galle? Auf dass wir dessen eingedenk seien, wie sehr die schwarze Galle, nein vielmehr, wie sehr eine solche strahlend helle Galle als die allerbeste zu erlangen und zu hegen und zu pflegen sei, so sehr man jener [der schwarzen Galle], die ihr [der strahlend hellen], wie gesagt, entgegengesetzt ist, als der allerschlimmsten zu entgehen suchen muss. Sie ist nämlich etwas so Grauenvolles, dass Serapio gesagt hat, ihr Ansturm werde von einem bösen Dämon angestachelt […].“ 15 Serapio 16 widmet sich der Melancholie in Tractatus I De egritudinibus capitis seines Werks Practica dicta breviarium . Cap. XXII De melancolia beginnt mit der Definition: […] melancolia est aliquid ex demonio in eo absque febre ex humore melancolico […] . 17 Ficino unterscheidet nie eine erste Melancholie von einer zweiten, weshalb die Übersetzung ‚Die erste Melancholie‘ (für MELENCOLIA I) in seiner Abhandlung keine Basis findet. 18 Dürer stellt weder eine Melancholie in schöpferischer Hochform noch eine Melancholie im eigentlichen Sinne dar. Zu deutlich weist sein Stich accidentia demonij 19 (Symptome des Dämons) auf, doch sind auch die Zeichen der Errettung von dem bösen Dämon der Melancholie in ihm präsent. Die Möglichkeit, das I als Kardinalzahl zu lesen, scheidet ebenfalls aus, da die Melancholie in der Reihe der vier Temperamente nie die erste Position einnimmt und jeder Hinweis darauf fehlt, dass Dürer eine solche Reihe geplant oder gar geschaffen hätte. 20 Übrig bleibt allein der Vorschlag des Medizinhistorikers Johann Ludwig Choulant (1791-1861) 21 und des Inspektors des Städelschen Kunstinstituts Johann David Passavant (1787-1861) 22 , das I als Buchsta- 14 Ibid. 15 Ibid., p. 64. 16 Der Arzt Yũhannā Ibn Sarābiyũn († 864? ); cf. Friedrun R. Hau, „Ibn Sarābiyũn, Yũhannā“, in: Enzyklopädie Medizingeschichte 3, edd. Werner E. Gerabek et al., Berlin, New York: de Gruyter 2007, p. 1285. 17 Serapio [senior], Practica dicta breviarium , Venedig: Bonetus Locatellus 16.XII.1497, fol. 7 v . 18 Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Dürers „Melencolia I“. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung , Berlin: Teubner 1923, p. 3, n. 4. 19 Serapio, Practica , fol. 8 r . 20 Zu dieser und anderen Interpretationen Ulrich Kuder, „Dürer als Gestalter von Hieroglyphen“, in: Emblems and Impact I: Von Zentrum und Peripherie der Emblematik, edd. Ingrid Hoepel, Simon McKeown, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2017, pp. 257-294, hier p. 266sq. 21 Johann Ludwig Choulant, „Ueber Albrecht Dürer’s Bild, die ‚Melancholie‘ genannt“, in: Deutsches Kunstblatt 2 (1851), p. 156sq. 22 Johann David Passavant, Le Peintre-Graveur 3/ 174 (1862), p. 153. <?page no="369"?> 370 Ulrich Kuder ben, als Imperativ von ire zu lesen und die Inschrift mit ‚Melancholie, geh! ‘ zu übersetzen. Wölfflin, Panofsky, Saxl und Schuster irrten, als sie meinten, diese Übersetzung bedürfe „wohl keiner Widerlegung“ 23 . Von diesem Verdikt unbeeindruckt haben manche Choulants und Passavants Vorschlag übernommen. 24 Im Spatium zwischen MELENCOLIA und I steht ein Ornament, das auch auf anderen druckgraphischen Werken Dürers 25 den Abstand zwischen Wörtern oder Buchstaben markiert. Gewöhnlich verwendet Dürer dafür einfache Punkte. Sie als „Ziervirgeln“ 26 zu bezeichnen, ist nicht korrekt, da Virgeln, Schrägstriche, zur Gliederung von Sätzen, nicht als Abstandszeichen gebraucht wurden. Das nach links wegfliegende Wesen ist nicht etwa eine Fledermaus, sondern ein aus einem Hundekopf (mit borstenbesetzter Schnauze), großen und breiten bekrallten Tatzen, gezackten Flügeln, die denen einer Fledermaus ähnlich sind, und einem Schlangenschwanz zusammengesetzter Drache, den bereits Robert W. Horst als solchen identifiziert 27 und dessen „Hundegesicht“ 28 Colin Eisler erkannt hat. Die beiden Fledermausbilder Dürers, im Gebetbuch Kaiser Maximilians I. (um 1514/ 15) 29 und auf einer der beiden Säulen seiner Zeichnung im British Museum (1510-15) 30 , unterscheiden sich von dem Drachen der „Melancholie“ durch ihren kleineren Kopf und das Fehlen eines Schlangenschwanzes. Dieser Drache ist der malus daemon , der nach Ficino den Ansturm der schwarzen Galle, der allerschlimmsten, anstachelt. Im Stich wird er von der 23 Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers , München: Bruckmann 1905, p. 192, n. 1; Panofsky, Saxl, Dürers „Melencolia I“ , p. 3 n. 1; Peter-Klaus Schuster, MELENCOLIA I. Dürers Denkbild 1 , Berlin: Gebr. Mann 1991, p. 229. 24 Joseph Anton Endres, „Albrecht Dürer und Nikolaus von Kusa“, in: Die christliche Kunst 9 (1912/ 13), pp. 33-52, 78-89, 110-120, hier p. 117; Albert Giesecke, „Eine Dürerinschrift und ihre richtige Lesung“, in: Gutenberg-Jahrbuch 1955, pp. 306-314, hier pp. 308-310; Ulrich Kuder, „Melancholie“, in: Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürer-Zeit , edd. Id., Dirk Luckow, Kiel: Kunsthalle 2004, p. 180sq.; Id., „Hieroglyphen“, p. 266; Harald Tesan, „Neufund: Dürers MELENCOLIA I als subversives Seelenbild“, in: Kunstchronik 69 (2016), pp. 574-583, hier p. 582; Martin Büchsel, Albrecht Dürers Stich MELENCOLIA, I. Zeichen und Emotion - Logik einer kunsthistorischen Debatte , München: Fink 2010, p. 39, wendet sich jedoch dagegen, „eine vermeintliche Bedeutung des Imperativs von ire zum Ausgangspunkt der Überlegungen“ zu machen. 25 Eine Zusammenstellung dieser Werke findet sich bei bei Schuster, MELENCOLIA I , p. 415, n. 7. 26 Ibid., pp. 16, 415, n. 7. 27 Robert Walter Horst, „Dürers ‚MELENCOLIA I‘“, in: Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 2, Baden-Baden: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1953, pp. 411-431, hier p. 417. 28 Colin T. Eisler, Dürers Arche Noah, München: Droemer Knaur 1966, p. 81. 29 Kaiser Maximilians I. Gebetbuch. Mit Zeichnungen von Albrecht Dürer und anderen Künstlern , ed. Karl Giehlow, Wien, München: Selbstverlag, Bruckmann 1907, fol. 25 r . 30 Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers , 3 vols., Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 1936-1938, hier vol. III, Nr. 715. <?page no="370"?> MELENCOLIA I 371 Schrift mit dem Befehl ‚Melancholie, geh! ‘ wie von einem Geschoss schwer, wohl tödlich getroffen. Die Majuskeln zerstören seinen Leib, dessen Haut sie zu gezackten Fetzen aufreißen. Mit „schreiend“ geöffnetem Maul sucht er „aus dem Bildfeld“ 31 zu entkommen. Dürer nannte seinen Stich die Melancholj oder ähnlich, 32 nicht aber ‚Melencolia i‘ oder ‚Ge weg, Melancholey‘. MELENCOLIA I ist ein Bildelement dieses Kupferstichs, nicht sein Titel. 33 „Allegorien sind rhetorische Figuren, die etwas fingieren, wobei diese allegorische Fiktion anstelle eines Andern steht, das ungesagt bleibt.“ 34 Dem ‚Melancholie‘-Stich, in dem fast nichts zusammenpasst, weder die Bildgegenstände untereinander noch der Ort ihrer Platzierung, ist, wer jenes Andere ermitteln will, nicht anders konfrontiert als Swann den Lügen Odettes. Ihr aufmerksam zuhörend, konnte er damit rechnen, dass sie in ihre Schilderung wahre Details einbaute, die sich gegen den von ihr erdachten Kontext sperrten und somit unbeabsichtigt Hinweise auf den wahren Sachverhalt enthielten. 35 Analog dazu ist der wahre Sinnzusammenhang, dem die vereinzelten Motive der ‚Melancholie‘ entnommen sind, zu eruieren, wenn sie sich zu dem im Bild versteckten Anderen verbinden sollen. Winkelmaß 36 , Hobel, Stichsäge, Lineal und Nägel schließen das Bild unten ab. Die Nägel bilden ein verräterisches Arrangement: „[E]s sind drei, neben die ein vierter […] gelegt ist.“ 37 So Patrick Reuterswärd, der auch die Bedeutung der Kneifzange und der Leiter erkannte. Weitere arma Christi 38 sind der Klauenhammer, der, obwohl kein Werkzeug des Steinmetzen, sondern des Zimmermanns, an unpassender Stelle neben dem steinernen Rhomboeder liegt, und das Lineal, das sich durch die beiden Löcher, an jedem Ende eines, als Querbalken des 31 Konrad Hoffmann, „Dürers ‚Melencolia‘“, in: Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann , edd. Werner Busch et al., Berlin: Gebr. Mann 1978, pp. 251-277, hier p. 251. 32 Belege bei Kuder, „Hieroglyphen“, p. 265. 33 Hoffmann, „Dürers ‚Melencolia‘“, pp. 251, 269, n. 5. 34 Bernhard Teuber, Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink 2003, p. 26. 35 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. Du côté de chez Swann II: Un amour de Swann , Paris: Gallimard 1946, pp. 84-86. 36 Zur Identifikation als Winkelmaß cf. Volker Dietzel, „Winkelmaß und Winkelhaken - zwei vergessene Werkzeuge der Schreiner, Astronomen und Bauleute“, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 28 (2014), pp. 101-123. 37 Patrick Reuterswärd, „Sinn und Nebensinn bei Dürer. Randbemerkungen zur ‚Melencolia I‘“, in: Gestalt und Wirklichkeit. Festgabe für Ferdinand Weinhandl , edd. Robert Mühlher, Johann Fischl, Berlin: Duncker & Humblot 1967, p. 420sq. 38 Grundlegend zu den arma Christi cf. Rudolf Berliner, „Arma Christi“, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 3/ 6 (1955), pp. 35-152; Robert Suckale, „Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder“, in: Städel-Jahrbuch N. F. 6 (1977), pp. 177-208. <?page no="371"?> 372 Ulrich Kuder Kreuzes Christi 39 erweist. Gewöhnliche Lineale haben nur ein Loch, zum Aufhängen. Der Hobel und die Säge werden zur Herstellung des Kreuzes gebraucht. Schlüssel und Beutel hat Dürer mit schlüssell bitewt gwalt, pewtell bitewt reichtum kommentiert, 40 doch damit nicht das zweckwidrig lange Band erklärt, das den schweren Geldbeutel in die Nähe der Nägel und des Lineals geraten und so als den Beutel, den Judas trug, mit den anderen arma Christi vereint sein lässt. Wie Christus als Schmerzensmann auf den Titelblättern der „Großen“ und der „Kleinen Passion“ 41 sitzt die Melancholiefigur auf einem Stein, entsprechend dem auf Flämisch als ‚Christus op de koude steen‘ bezeichneten Bildtypus. Das Gebäude hinter der Melancholie kann Jesu Gefängnis sein ( Lk 23, 19-25). Das magische Quadrat, dessen Ziffern, in der Horizontalen, der Vertikalen und der Diagonalen addiert, jeweils 34, die Anzahl der Lebensjahre Christi, 42 ergeben und hell, gleichsam vor dem dunklen Grund eines vergitterten Fensters, erscheinen, gewährt „den besten Schutz gegen die […] Entartung des melancholischen Temperamentes.“ 43 Kaschiert als Werkzeuge und andere Gegenstände machen die Zeichen der Passion Christi gemeinsam mit der den gesamten Himmelsraum erfüllenden Lichterscheinung und mit dem Regenbogen ( Gen 9, 12-17) dem malus daemon der Melancholie seinen Platz im Bild streitig und bewähren sich damit als Christi Waffen. Auch die Klistierspritze, die, vom Gewand halb verdeckt, dezent unter dem Saum hervorkommt, ist ein Bildgegenstand, der, mit Proust gesprochen, „Kanten hat, die nur den ihm entsprechenden angrenzenden Details des wahren Sachverhalts“, dem er willkürlich entnommen ist, „eingepasst werden“ können. 44 Entweder dient sie der ärztlichen Behandlung des Melancholikers 45 oder aber demonstriert sie, von der Melancholie weg und zum Bildrand hin ausgerichtet, da ja das Verb kristiren in der Bedeutung concumbere cum muliere Dürer geläufig war, 46 dass melancholische studiosi jenem monstrum gegenüber, „das von der 39 Kuder, „Hieroglyphen“, Abb. 19, 20. 40 Zeichnung in London, British Museum; cf. Schuster, Melencolia I , Abb. 8. 41 Beides Holzschnitte, um 1514. 42 Nikolaus von Kues, Gespräch über das Globusspiel , ed. Gerda von Bredow, Hamburg: Meiner 1999, p. 54: XXXIV […] qui sunt anni Christi; cf. Hinweis bei Endres, „Albrecht Dürer“, p. 115sq. 43 Karl Giehlow, „Dürers Stich ‚Melencolia I‘ und der maximilianische Humanistenkreis“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 26 (1903), pp. 29-41, 27 (1904), pp. 6-18, 57-78, hier p. 16; ähnlich Giesecke, „Dürerinschrift“, p. 310. 44 Proust, Un amour de Swann , p. 85. 45 Ficino, De vita, p. 105. 46 Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlass 1, ed. Hans Rupprich, Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 1956, p. 59. <?page no="372"?> MELENCOLIA I 373 irdischen Venus und von Priapus genährt wird“, eher Abstinenz zu üben haben. Quo malo nihil ingenio adversius esse potest. 47 Die Melancholie trägt einen Kranz aus Weinlaub, der mit einzelnen Stängeln der bitteren Gartenkresse gespickt ist. 48 Dem Rat Ficinos zufolge bekommt Wein „mit leicht bitterem Geschmack“ dem Magen gut, 49 doch ist zu bedenken: Verum quantum eius usus spiritibus et ingenio prodest, tantum nocet abusus. 50 Nach der antiken Elementen-, Qualitäten- und Viersäftelehre sind die Erde und die schwarze Galle kalt und trocken, weshalb dem Melancholiker von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde das letzte zugeordnet ist. Daher dominiert der Stein, Teil und Inbegriff der Erde, in Dürers ‚Melancholie‘. Nicht nur sind in diesem Stich drei große Steine versammelt, die Kugel, der Mühlstein und der Rhomboeder, steinern ist auch der Hintergrund. Oben links, wo er sich öffnet, werden alle vier Elemente vereint dargestellt: der Feuertopf, der Landschaftsausschnitt mit Luft, Erde und Gewässer. Unten links führt eine Kugel, deren Lauf, wie Nikolaus von Kues sagt, unterschiedlich und niemals sicher ist, 51 zusammen mit einem Winkelmaß in das Bildgeschehen ein. Im Werk Dürers bedeutet die Kugel Bewegung. 52 Sie wird aber auch als Apotropaion eingesetzt. 53 Das Winkelmaß, zur Anfertigung und zur Kontrolle rechter Winkel dienlich, und, wie das Winkeleisen, ein Attribut der Wahrheit 54 , eröffnet die über den ganzen Stich verteilte Reihe der arma Christi , die, „üblicherweise dem Weltrichter“ beigegeben, 55 mit den göttlichen Zeichen des Weltendes und des Jüngsten Gerichts, dem Zirkel zum Vermessen der Welt, dem Buch des Lebens und der Waage, verbunden sind. Die Melancholiefigur stützt ihr Haupt nicht, wie sonst stets, wenn der Melancholiegestus gezeigt wird, mit der Hand, sondern mit der geschlossenen Faust. 56 Ihren Zirkel hält sie, ungeschickt, nicht oben am Gelenk, sondern an der unteren Spitze des einen Stabes und gefährdet so mit dem anderen ihr Kleid. Ihr schweres Buch kann sie gerade noch vor dem Abrutschen bewahren. Ihre Gewandung 47 Ficino, De vita, p. 66. 48 Kuder, „Hieroglyphen“, p. 269. 49 Ficino, De vita , p. 82. 50 Ibid., p. 78. 51 Nikolaus von Kues, Gespräch, p. 54: ex vario et numquam certo cursu. 52 Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers , vol. II, Nr. 128: „Der Engel des Primum Mobile“ et al. 53 Die Kugeln in den Entwürfen zu den Fuggergräbern cf. ibid., vol. II, Nr. 486sq. 54 Monogrammist JAR: Das Jüngste Gericht, um 1500 (Lübeck, St. Annenmuseum Inv.Nr. 1987/ 38); darin: Veritas mit Winkeleisen. 55 Berliner, „Arma Christi“, p. 42. 56 Zum Melancholiegestus cf. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst , tr. Christa Buschendorf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, pp. 409-413. <?page no="373"?> 374 Ulrich Kuder ist weiblich. Ihre Gesichtszüge aber sind die Dürers, samt seinem Schielen 57 und seinen langen Haaren. Wach blickt sie in die Ferne, in die Richtung, in die der Drache entflieht. Das Weiß der Augäpfel hebt sich von dem verschatteten Antlitz ab. Noch ist der böse Dämon nicht verschwunden. Der Putto, noch schläfrig, steht in der Bildtradition eines längst verschollenen Gemäldes Andrea Mantegnas, das oben mit dem Titel „Malancolia“ versehen war und „sechzehn tanzende und musizierende Putten enthielt“ 58 . Dürers Putto tanzt und musiziert nicht. Was der Melancholiefigur das Buch, ist dem angehenden homo litterarum die Schreibtafel auf seinen Knien. Der zusammengekauerte Stöberhund 59 löst sich, wie sein Auge und sein leicht angehobener Kopf anzeigen, aus dem Schlaf. Zu ihm gehört das Kalamal (Tintenfass mit Schreibetui), denn in Horapollons Hieroglyphica , an denen 1512-1514 Willibald Pirckheimer und Dürer arbeiteten, Pirckheimer an der Übersetzung des griechischen Textes ins Lateinische, Dürer an den Illustrationen, 60 steht für ‚Hund‘ unter anderem die Bedeutung ‚heiliger Schreiber‘. Bei Dürer haben Autoren wie Johannes und Hieronymus ein Kalamal zu ihrer Verfügung. Die abwehrende Kraft des „Melancholie“-Stichs, die im Schadenzauber der den Dämon vernichtenden Schrift, in der Kugel, dem magischen Quadrat und den arma Christi manifest ist, macht ihn zu einem „Amulettbild“ 61 . Durch sein erlösendes Leiden ( Jes 53, 4-5; 1. Kor 15, 3; 1. Petr 2, 24) hat Christus nicht nur Tod und Hölle, sondern auch die Melancholie besiegt, indem er sie auf sich nahm. Um an dieser Überwindung teilzuhaben, lässt Dürer, wie in manchen anderen Werken, seine eigenen Gesichtszüge mit denen Christi zusammenfließen. Christus ballt seine Faust. Den Zirkel und das noch geschlossene Buch des Lebens wird er als Sieger und Richter fest in Händen halten. Die Glocke, die Sanduhr und die Waage signalisieren durch den ungünstigen Ort und die Art ihrer Anbringung, dass sie in einen anderen Kontext gehören. Dass die noch ruhende Glocke durch ihr Schlagen den Tod anzeigen wird, sagt die Sanduhr neben ihr. Memento mori erinnert und mahnt sie auch in den Werken Dürers, in denen sie nicht dem Tod in die Knochenhand gegeben ist. In der Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung und auf die Gnade des Richters hält Dürer seinen Stich der Melancholie, unter der er leidet, entgegen. 57 Ernst Heimeran, „Hat Dürer geschielt? “, in: Die Kunst für alle 49 (1933/ 34), p. 337sq. 58 Klibansky, Panofsky, Saxl, Saturn und Melancholie , p. 435. 59 Ulrich Kuder, Dürers ‚Hieronymus im Gehäus‘ , Hamburg: Kovač 2013, pp. 95-97. 60 Ibid. 61 Diesen Begriff gebraucht Suckale, „Arma Christi“, p. 183. <?page no="374"?> Poor Tom mit Aristoteles. Über den „nightmare charm“ in King Lear Martin von Koppenfels Swithold footed thrice the old; He met the night-mare and her nine-fold; Bid her alight, And her troth plight, And aroint thee, witch, aroint thee! William Shakespeare, King Lear (1608) 1 Diese rätselhaften Verse aus Shakespeares King Lear stellen offenbar einen Zauberspruch dar; und zwar einen Spruch gegen Alpträume, einen „nightmare-charm“ oder „night-spell“. 2 Mit solchen magischen Sprüchlein gegen böse Geister und Ungeziefer (cf. „ratsbane“, III, iv, 54) gingen die „Bedlamites“ hausieren - vagabundierende Bettler, die eine Geisteskrankheit fingierten oder tatsächlich an ihr litten und sich typischerweise als ehemalige Insassen des Londoner Bethlehem-Hospitals darstellten. Die Verse sind Poor Tom, dem Dämonologen des Stücks, in den Mund gelegt - und schon dadurch mit der alptraumhaften Schicht des Lear -Dramas verbunden. Toms alias Edgars erster Auftritt fällt in die Mitte des Textes (in die 13. von 26 Szenen) und gehört zur großen Sturmsequenz (III, i bis III, iv), die der Blendung des Earl of Gloucester, einer der schlimmsten Horrorszenen des Shakespeare’schen Theaters, vorausgeht. In der Hütte, in der Lear und seine letzten Getreuen vor dem Sturm Schutz suchen wollen, wohnt buchstäblich die Angst; kein anderer Akteur verkörpert sie so eindringlich wie die Figur zweiten Grades, die von einer Figur gespielte Figur des Tom o’Bedlam. Er, der selbst für einen bösen Geist („a spirit“, III, iv, 42) gehalten wird, gibt vor, sich selbst für von bösen Geistern besessen zu halten („the foul fiend“, 45). Seine Rolle besteht also wesentlich in der Simulation eines multiplen Verfol- 1 In: The Arden Shakespeare, Second Series, ed. Kenneth Muir, London: Methuen 1964, III, iv, 117-121. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden mit Akt-, Szenen- und Versangabe in Klammern. 2 So in Beaumont and Fletcher, Monsieur Thomas , IV, iv. Cf. King Lear , ed. Horace H. Furness, New York: Dover 1963, Anm. p. 195. <?page no="375"?> 376 Martin von Koppenfels gungswahns. Dieser Wahn beruht auf der Projektion von Angst: auf Tiere und Teufel. Wahnsinn, Tierheit und Dämonie sind benachbart. Tom redet ständig von Tieren und er spricht ständig mit unsichtbaren Teufeln, die er beim Vornamen kennt. Diese Namen sind das Erbe der anti-exorzistischen Traktate, die Shakespeare für diese Szene ausgeschlachtet hat - namentlich Samuel Harsnetts Declaration of Egregious Popish Impostures (1603). 3 Jene Traktate waren von der Praxis des Exorzismus fasziniert, die sie bekämpften. Die Exorzisten wiederum waren von der Besessenheit fasziniert - und all diese Instanzen hielten die Dämonennamen in Umlauf. Zur Spezies der Teufel rechnet Tom offensichtlich auch die ominöse night-mare . Seine Rede ist essentiell paranoid, ihre grundlegenden Sprechakte sind apotropäische: Obszönitäten (die hier wie die Phallus-Amulette der Antike der Abwehr dienen) und Beschwörungen. Diese Abwehrzauber nach der Formel „bless thee from x“ (III, iv, 58) helfen gegen Teufel genauso wie gegen Ungeziefer: „how to prevent the fiend, and to kill vermin“ (156). Der „charm“ ist also im Kern eine Segnung - und als solche das performative Gegenstück zum bevorzugten Sprechakt des tobenden Lear, dem Fluch. Beide Akte laufen hier offenbar leer. Doch anders als Lear spricht Poor Tom Prosa - die allerdings von Versen und Onomatopoiien durchzogen ist. Diese radikal dramatische Figur durchkreuzt also unter anderem die sozio-poetische Ordnung des Shakespeare’schen Dramas: Als Angehöriger der Unterschicht gehört Tom zur Sphäre der Prosa, doch seine Rede kann als wahnsinnige nur poetisch gebundene sein. Wahnsinn ist bei Shakespeare (wie auch Ophelia und die Narrenfiguren zeigen) allemal poetisch überdeterminiert. Als symbolischer Ausdruck der Angst vor dem Angsttraum hat das Sprüchlein vor allem die Aufmerksamkeit der Folklore-Forschung erregt. Es ist aber auch in poetologischer Hinsicht von erheblichem Interesse - nicht nur, weil es (wie alle Zaubersprüche) elementar poetisch ist, sondern vor allem, weil es mitten in einer Tragödie auftaucht, das heißt in einem Text, der eben keine Dämonisierung, sondern ein theatralisches Durcharbeiten von alptraumhaften Zügen der Wirklichkeit versucht. Zwar gilt Toms panische Furcht dämonischen Wesen. Doch in der Welt des Stückes sind die Menschen viel furchterregender, als es Teufel jemals sein könnten. Für die Bannung unserer Alpträume, so könnte man in einem ersten Anlauf formulieren, ist jetzt, da wir an Zaubersprüche nicht mehr glauben, das tragische Drama zuständig. Doch wie genau verhält sich dieses zu jener alten, verrückten Magie und ihren Praktiken? Was tut es damit? Gilt für den Umgang mit dem Alptraum, was Stephen Greenblatt von Besessenheit und Exorzismus behauptet hat? Absorbiert das Theater funktions- 3 Dazu: Stephen Greenblatt, „Shakespeare and the Exorcists“, in: Id., Shakespearean Negotiations , Berkeley/ Los Angeles: University of California Press 1988, pp. 94-128. <?page no="376"?> los gewordene Diskurspraktiken, über die die Kirche nicht mehr verfügen kann oder will? 4 Und wenn das so ist, erbeutet es nur einzelne Versatzstücke oder ganze Praktiken und ihre Funktion? Kann man über Shakespeares Verhältnis zu den elisabethanischen Exorzisten sprechen, ohne die alte Beziehung der Tragödie zu Reinigungs- und Sündenbockritualen zu thematisieren? Bevor wir uns der Frage auch nur nähern können, wie sich die Abwehrmagie des Alptraum-Spruchs zur Tragödie (und das heißt: zu einer Poetik der Angst) verhält, muss der Spruch allerdings erst einmal verstanden werden. Zunächst also bedarf es der philologischen Klärung. Es handelt sich, der Struktur nach, um ein Mini-Märchen; eine kleine Erzählung vom Sieg eines schützenden Helden über den dämonisierten Alptraum: lange Suche ( Swithold footed thrice the old ), Begegnung mit dem Unhold ( He met the night-mare ) und Überwindung. Die Verse gehören allerdings zum Rätselhaftesten, was der Text von King Lear zu bieten hat, passend zu ihrer magischen Funktion und zum schrillen Kauderwelsch des Besessenen, der ständig zwischen Sinn und Unsinn oszilliert. Die irre Rede des armen Tom stellt einen Akt dramaturgischer Radikalität dar, der auch bei Shakespeare seinesgleichen sucht: Minutenlang darf eine Figur, in einer der emotional dichtesten Szenen des Stücks, Unverständliches reden. Man kann in dieser Unverständlichkeit auch eine magische Analogie zum Alptraum selbst sehen, der den Träumer nicht nur mit körperlichem Druck, sondern auch mit Rätselworten bedrängt - zumindest, wenn man Jacques Lacan folgt, der den Alp in einer Randbemerkung in seinem Seminar über die Angst mit der rätselstellenden Sphinx identifiziert hat: „Le Sphinx [ … ] est une figure de cauchemar et une figure questionneuse en même temps.“ 5 Rätselhaft sind hier zunächst die Akteure, deren Namen zu kennen und zu nennen für die bannende Wirkung des Spruchs essentiell ist. 6 Da wäre erstens „Swithold“, wohl identisch mit jenem sonst unbekannten „Saint Withold“, der auch in einem anonymen Historiendrama des späten 16. Jahrhunderts auftaucht: „Sweet Saint Withold, of thy lenity, Defend us from extremity“ 7 ; wohlgemerkt in wenig vertrauenswürdigem Kontext, denn es handelt sich um das Gefasel eines verängstigten Mönches in einem sehr antikatholischen Stück. Da 4 „When in 1603 Harsnett was whipping exorcism toward the theater, Shakespeare was already at the entrance to the Globe to welcome it“ (ibid., p. 115). 5 Jacques Lacan, Le séminaire. Livre X : L’angoisse , 1962-63, Paris: Seuil 2004, p. 76. 6 Die philologische Forschung, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wird zusammengefasst von Jacqueline Simpson, „The Nightmare Charm in King Lear “, in: Charms, Charmers and Charming. International Research on Verbal Magic , ed. Jonathan Roper, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, pp. 100-107. 7 The Troublesome Reign of King John (eventuell bereits in den 1580er Jahren auf der Bühne). Ein obszönes Wortspiel auf „wittold“ (= half-wit, cuckold) vermutet Jacqueline Simpson („The Nightmare Charm“, p. 106). Poor Tom mit Aristoteles 377 <?page no="377"?> 378 Martin von Koppenfels ist ferner die night-mare , die als Femininum gekennzeichnet ist, wodurch hier ein Mischbild aus „nightmare“ (Alp) und „mare“ (Stute) entsteht. Diese volksetymologische Angleichung von „Mahr“ und „Mähre“ ist für die Mythologie des Alps von großer Bedeutung, ging etwa in die Ikonographie von Heinrich Füsslis Nachtmahr-Bildern ein und wurde noch von Ernest Jones für bare Münze genommen. 8 Jedenfalls geht es hier ums Reiten und Gerittenwerden, immerhin wird die night-mare zum Absteigen genötigt ( alight ). Die Aktiv-Passiv-Ambivalenz „Reiten - Gerittenwerden“ taucht auch sonst in der Folklore des Alps auf. 9 Hier trägt diese Mehrdeutigkeit zur Schemenhaftigkeit des Wesens bei, das sowohl Reiterin als auch Mähre ist. Ihr Anhang ( her nine-fold ) wird meist als reimbedingte Entstellung von „foal“ gelesen (reimend auf old , dies wiederum Entstellung von „wold“ - Hügelland) 10 und als ihre neunfache Kinderschar identifiziert; zugleich suggeriert ninefold schlicht die Vervielfältigung des Alps zu einem unfassbaren, weil seriellen Wesen. Dieses Wesen wird nun durch bindende Worte verpflichtet ( to plight one’s troth ) und anschließend als Hexe verjagt oder ausgetrieben, wobei der abschließende Abwehrzauber - aroint thee, witch, aroint thee! - in keiner anderen Quelle auftaucht und offenbar eine Shakespeare’sche Zutat darstellt. Diese Klausel enthält noch ein höchst obskures Wort: aroint ist sonst nur ein einziges Mal bezeugt, und zwar ausgerechnet in Macbeth (I, iii, 6), wo es einer der Weird Sisters in den Mund gelegt wird, und zwar wiederum als Bannspruch gegen Hexen: „‚Aroynt thee, witch! ‘“ 11 Als Parallelen oder Quellen für den „nightmare-charm“ aus King Lear kommen zwei elisabethanische Traktate in Betracht: In Reginald Scots Schrift gegen den Hexenwahn ( A Discoverie of Witchcraft , 1584), die Shakespeare auch für Macbeth ausgebeutet hat, wird ein ähnlicher Spruch als Mittel gegen das Leiden zitiert, das dort „nightmare“, „Incubus“ oder „the Mare“ genannt und als „bodilie disesase“ verstanden wird. Der Humanist Thomas Blundeville wiederum zitiert in seinem pferdekundlichen Traktat The fower chiefest offices belongyng to horsemanshippe (1566), und zwar im Abschnitt über Pferdekrankheiten, einen „fonde foolish charme“ gegen den „nightmare“ oder „Incubus“, von dem es heißt, dass er sowohl Menschen als auch Pferde nächtlich befällt und ihnen den Atem nimmt: 8 Ernest Jones, On the Nightmare , London: Hogarth 1949, pp. 241-339. Kluges etymologisches Wörterbuch sieht keine Verbindung zwischen Mahr (< ahd. mara (f.) < got. marô) und Mähre (< ahd. mer(i)ha (f.) = Stute). 9 Cf. die von Jones ( On the Nightmare , pp. 254-258) versammelten Beispiele aus deutschen Volkserzählungen. 10 Cf. George L. Kittredge, Witchcraft in Old and New England [1929], New York: Atheneum 1972, p. 219sq. 11 Nach H. H. Furness (in: Shakespeare, King Lear , p. 195) findet sich in den seit 1415 verbotenen Schriften John Wyclifs das Verb arunte im Sinne von „vermeiden“. <?page no="378"?> Saint George our Ladyes Knight, He walked day so did he night Untill he hir found, He hir beate, and he hir bounde, Till truely hir trouth she him plyght, That she woulde not come within the night There as Saint George or Ladyes Knight. 12 Man hänge dies, als Schriftzauber, samt einem magischen Stein über Nacht in den Stall oder in die Mähne des Pferdes, um den Alp fernzuhalten. 13 Hier wie in anderen Fällen ist es der Reiterheilige Sankt Georg, der als Schutzpatron angerufen wird. Pferde-Assoziationen ziehen sich auch durch Poor Toms apotropäisches Kauderwelsch: „To ride on a bay trotting-horse over four-inch’d bridges“ (III, iv, 55sq.) - „Dolphin my boy, boy; sessa! let him trot by.“ (98) Tom, in dessen durch und durch projektiver Welt es von Tieren und Dämonen wimmelt (und in der beide ständig ineinander übergehen), ist auch besessen vom Nachtmahr, jenem Dämon, der zugleich Pferd ist; wobei in diesem Fall zweifellos die sexualisierte Vorstellung des Reitens die Verwandlung vermittelt. Die sexuelle Aufladung der panischen Ängste, die hier verhandelt werden, ermöglicht wiederum den mühelosen Übergang von der Dämonologie zum Hexenwesen. Soweit dieser Ausflug in die obskure Folklore der Pferdeställe. 14 Wie aber fügt sich dieses magische Bruchstück in den Kontext der Tragödie? Es ist der erste der Zaubersprüche, die Poor Tom in dieser Szene hervorstößt, und es markiert, zusammen mit der nun ebenfalls einsetzenden Reihe der Dämonennamen, eine schrille Eskalation seiner Rede - ausgelöst vom Auftritt seines (d. h. Edgars) Vaters Gloucester. Diesen Auftritt quittiert Tom mit dem Ausruf: „This is the foul Flibbertigibbet! “ (III, iv, 112); der „nightmare charm“ ist also ein panischer Abwehrzauber gegen den Vater, von dem Edgar nicht erkannt werden will, von dem er aber vor allem brutal verstoßen wurde. Der mit dem Vater identifizierte Dämon ist verantwortlich für Grauen Star („the web and the pin“, 113sq.), Augenentzündungen („squinies the eye“, 114), Hasenscharte („hare-lip“, 114), Mehltau („mildew“, 115) etc. - wobei die Augenkrankheiten auf die Blendung vorausweisen, die Gloucester wenige Szenen später treffen wird. Der Alptraum, der hier abgewehrt werden soll, ist also der Vater - was in einer Generatio- 12 Thomas Blundeville, The fower chiefest offices belongyng to horsemanshippe , London 1565- 1566, p. 17sq. 13 Auch Queen Mab , der Incubus, der in Romeo and Juliet erwähnt wird, macht sich an den Mähnen der Pferde zu schaffen (I, iv, 88sq.). 14 Jaqueline Simpson („The Nightmare Charm“, p. 103) zitiert lebendige Zeugnisse dieser Folklore noch aus dem 19. Jahrhundert. Poor Tom mit Aristoteles 379 <?page no="379"?> 380 Martin von Koppenfels nentragödie dieses Ausmaßes kaum überraschen kann. Der Alptraum ist aber auch das kommende Schicksal des Vaters. Dieses korrespondiert wiederum - als Verlust des Lichts - mit dem Schicksal Lears, der gerade in diesen Augenblicken den Verstand verliert. Wir befinden uns also im Auge des Sturms, in der kritischen Phase des Stücks, in der auch der letzte versteht, dass aus dem Plot-Schema ‚Es war einmal ein Vater, der hatte drei Töchter…‘ heute jedenfalls kein Märchen mehr wird. Es ist der Moment, in dem Shakespeare die Vater-Kind-Konflikte des Stückes (unter maximalem Einsatz der Windmaschine) explodieren lässt und den Angstkern der patriarchalen, ganz und gar mutterlosen Welt dieses Dramas zu Tage bringt: die Phantasie grausamer Destruktion der Väter durch ihre Kinder. 15 Im semantischen Umkreis von Lears zu Ungeheuern mutierten Töchtern häufen sich übrigens die Tiervergleiche. Poor Toms Tiersprüchlein sind auch in diesem Kontext zu verstehen - als hilflose symbolische Gegenwehr. So wie Tom bei Gloucesters Eintritt dessen Blendung als Augenkrankheit vorausphantasiert, könnte sein Alptraum-Zauber die nun eintretende alptraumhafte Wendung des Stücks symbolisieren. Dass hier nichts mehr gut werden wird und nur noch der Weg der Tragödie bleibt, deutet sich auch darin an, dass der Narr, der eine kurze Zeit lang zusammen mit Poor Tom die Bühne behauptet hatte, nun abtreten muss: Eine andere, abgründigere Komik hat in Gestalt des besessenen Irren die Szene übernommen. Lears tobende Wut wird durch Toms atemlose Angst auf bessere Art ergänzt als durch die Melancholie des Narren. Beide Figuren koexistieren für die Dauer der grotesken Gerichtsverhandlung, die im Wahn Gerechtigkeit schafft und damit das glückliche Ende vorgaukelt, das nicht kommen wird: ein Theater der zweiten Potenz, in dem die Spieler spielen, was der Wahn des Königs diktiert. Dann muss der Narr gehen. Er findet in Poor Tom einen würdigen Ersatz - auch in seiner Funktion als metatheatralische Figur. In jenem wird nämlich der besessene Charakter des Theaters selbst reflektiert: Edgars Wandlung zu Poor Tom ist so vollständig, dass die zweite Rolle die erste überwältigt. Edgar ist von Poor Tom besessen wie dieser vom bösen Feind. Für die Zuschauer kommt dies einer Spaltungserfahrung gleich, die zumindest so lange anhält, bis Edgar das erste Mal aus der Rolle fällt (III, vi, 59). Wenn eine solche Figur im Zentrum einer Tragödie einen Alptraum-Zauber produziert, dann stellt sich die Frage, was dieses Motiv dort zu suchen hat. Zwei Erklärungen bieten sich an: Zum einen markiert der „nightmare-charm“ 15 Jacqueline de Romilly hat dieses Motiv - unter der Formel „le roi en haillons“ - als eines der großen Pathos-Themen der antiken Tragödie beschrieben: Jacqueline de Romilly, L’évolution du pathétique d’Eschyle à Euripides , Paris: PUF 1961, pp. 131-134. <?page no="380"?> in King Lear einen Umschlagpunkt der Handlung. Alptraum-Referenzen tauchen bei Shakespeare auch sonst als Hinweise auf eine tragische Wendung der Handlung auf: In Richard III geschieht dies unmittelbar vor dem ersten Mord, in Gestalt von Clarences großem Traumbericht. In Romeo and Juliet , das als Komödie beginnt, ist es der Schelm Mercutio, der Romeos Bericht von schlechten Träumen mit der verspielten Rede von Queen Mab, der Elfenkönigin, pariert. In den Schluss dieser Rede hat sich ein Incubus eingeschlichen - „the hag“, ein sexueller Nachtmahr, wie er zur tödlichen Erotik dieses Stückes passt (I, v, 92). Mercutio aber ist der Erste, der in diesem Stück sterben muss. In Macbeth wiederum, wo niemand ruhig schlafen kann, brüsten sich die Hexen gleich zu Anfang damit, dass sie den Menschen den Schlaf rauben (I, iii, 19sq.). Anders als andere ernste Dramen Shakespeares ist Macbeth von Anfang an auf tragischem Kurs. Der Alptraumzauber in King Lear stellt aber nicht nur ein handlungsinternes Signal, sondern auch einen funktionellen Hinweis dar. Er verweist auf ein überwundenes Modell der Angstbewältigung: Die Beschwörung bzw. der Bannspruch ist die vielleicht älteste Art, mit Angstanfällen umzugehen; eine rein symbolische Praxis, eine Selbst-Besprechung, die man als Schwundstufe eines Exorzismus begreifen kann. Nun aber - so darf man Toms Panikzauber verstehen - gehört die Praxis, Ängste mit einer Handvoll Verse zu bannen, der Vergangenheit an. Als Überwundenes fällt sie dem Wahn anheim. Sie ist durchdrungen von dem, was sie abzuwehren sucht. Poor Tom ist ein einziger performativer Selbstwiderspruch, randvoll mit schlechter magischer Medizin, die ihn zwar von dem, was ihn besitzt, befreien soll, in Wirklichkeit jedoch gerade Ausdruck seiner Besessenheit ist. Beide, Wahn wie magische Abhilfe, sind freilich nur gespielt. Denn von nun an ist die dramatische Bühne der Ort, an dem zerstörerische Affekte zur Verhandlung stehen. Wenn vom Umgang der Bühne mit Ängsten die Rede ist, kann das prominenteste Modell theatraler Wirkung nicht übergangen werden: das Katharsis-Modell der aristotelischen Poetik . Der Alptraum, Monument der scheiternden Bewältigung eines nächtlichen Angstanfalls, stellt die Frage, wie mit übermäßiger Angst umzugehen sei, ja unüberhörbar deutlich. Poor Toms Alptraum-Zauber taucht in Shakespeares Stück nicht von ungefähr auf. Er stellt ein Zerrbild kathartischer Bewältigung von Angst dar: Diese wird phantasmatisch verkörpert und dann unter Einsatz von Machtworten symbolisch ausgestoßen. Das aristotelische Katharsis-Modell, wie immer es genau gedacht war, zielte offenbar darauf, solch exorzistisches Denken rationalisierend aufzuheben. An die Stelle magischer Vorstellungen von Befreiung trat ein medizinisches oder zumindest therapeutisches Modell. Diesem zufolge kann der Affekt, der die Vernunft stört, bereinigt werden. Es geht nicht darum, eine phantasierte Bedrohung mit Worten unmittelbar zu bannen, sondern mit Worten mittelbar auf die Affektseite der Poor Tom mit Aristoteles 381 <?page no="381"?> 382 Martin von Koppenfels Bedrohung einzuwirken. Der Bannspruch war magische, die Katharsis dagegen sollte psychologische Medizin sein. Im Vergleich beider Praktiken der Entängstigung werden freilich auch die Grenzen des Katharsis-Modells deutlich: Der Bannspruch bildet eine Sperrkette aus Symbolen gegen die Angst. Er paktiert gleichsam mit der Projektion, die seine Voraussetzung ist: Die Angst muss zuerst aus der inneren Welt in eine äußere, dämonische Bedrohung projiziert worden sein; der Zauberspruch versucht lediglich, diese Bedrohung draußen zu halten , indem er ihr durch Benennen, Erzählen etc. einen festen Platz in der symbolischen Ordnung zuweist. Es handelt sich um das primitive symbolische Äquivalent einer Verdrängung, die noch stark projektive Züge hat. Die Angst wird somatisiert, zum Druck verdichtet, dann als Quasi-Körper symbolisch fixiert. Das heißt aber: Sie bleibt erhalten - nur eben draußen. Zwischen Körpersensation und Symbol fehlt etwas: Die zwischen beiden vermittelnde Phantasie, der eigentliche Grund der Angst, ist ausgefallen. Kein Wunder, dass die Angst wiederkommt. Kein Wunder, dass Poor Tom irre ist. Die Tragödie hingegen versucht, die Angst samt den Phantasien, die sie hervorgerufen haben, zuzulassen und sie den Zuschauern vor Augen zu führen. Sie nähert sich damit dem Alptraum selbst wieder an, den Toms Sprüchlein nur noch beim Namen nennt. Aber der Alptraum ist in seiner symbolischen Struktur per definitionem beschädigt. Er muss abbrechen, weil der Blick auf diese Phantasien dem träumenden Bewusstsein unerträglich ist. Die Tragödie dagegen macht weiter. Sie ermöglichst es gleichsam, den Alptraum zu Ende zu träumen. Dabei bietet sie eine Kombination verschiedener Mechanismen der Bewältigung auf: Im eigentlichen Sinne kathartisch darf man sich die kollektive Wirkung der chorischen Elemente, der Chorlieder und Kommoi vorstellen, die Affekten wie Trauer, Angst, Zorn rituellen Ausdruck verleihen. In der Handlung und Verhandlung zwischen den Schauspielern hingegen wird der Schrecken wiederholt, ausgespielt und symbolisch verarbeitet. Der aristotelische Katharsis-Begriff will die Wirkung dieses komplexen Tuns auf den Punkt bringen, bleibt dabei jedoch auch in dem Wenigen, was wir von ihm wissen, eigentümlich beschränkt. Zum einen fasst Aristoteles den Begriff der ‚tragischen Affekte‘ sehr eng, zum anderen erkennt er diesen Affekten keine andere Funktion zu, als abgeführt und das heißt, zum Verschwinden gebracht zu werden („peraínousa tên tôn toioutôn pathemátôn kátharsin“, Poet. , 1449b 28). Irreführend ist an diesem Modell vor allem die implizite Behauptung, es sei möglich, die Affekte gleichsam im Reinzustand abzuscheiden, wiederum getrennt von den Vorstellungen und Phantasien, die sie hervorgerufen haben. Diese Vorstellung von der affektiven ‚Reinigung‘ ist selbst eine Phantasie und immer noch der Verdrängung verpflichtet. Grob gesagt: Im Übergang vom exorzistischen zum kathartischen Modell ist eine psychotische durch eine neurotische Struktur ersetzt worden. <?page no="382"?> Sollte die Tragödie nicht mehr können? Sollte sie nicht in der Lage sein, unbewussten Angstphantasien symbolischen Ausdruck zu verleihen - und das heißt, sie zusammen- und auszuhalten und so der bewussten Bearbeitung zuzuführen? Das kathartische Toben hat Shakespeare in die Mitte seines Stückes verpflanzt - in Gestalt der Sturmsequenz des 3. Akts. Zum Toben des Sturms gesellt sich dort das des wahnsinnigen Königs und dann auch noch die fingierte Panik des irren Tom: Unter dem Druck des Pathos ist ein irrer Ausbruch besser als gar keiner. Aber von einer ‚Lösung‘ kann keine Rede sein. Der enorme Schlussakt des Lear hingegen, der alles schrecklich löst, ist nie als kathartisch empfunden worden. Zu diesem Befund passen, wie ich meine, Shakespeares wiederholte Anspielungen auf die Folklore des Alptraums. Diese Folklore mit ihren magischen Mittelchen bildet eine vor-tragische Form der Angstbewältigung. An deren Stelle setzt die Tragödie die sprachliche und theatralische Symbolisierung. Wie um darauf hinzuweisen, hat Shakespeare jenem vor-tragischen Phänomen mitten in einer seiner großen Tragödien ein kleines, verborgenes Denkmal gesetzt. Poor Tom mit Aristoteles 383 <?page no="384"?> „Ach! - Die Venus ist perdü“. Die Keramikmanufaktur in Flauberts Éducation Sentimentale Ulrike Sprenger [1] Frédéric suivit le milieu du pavé ; puis il rencontra sur sa gauche, à l’entrée d’un chemin, un grand arc de bois qui portait écrit en lettres d’or : FAÏENCES. […] [I]l poussa une porte. Mme Arnoux était seule, devant une armoire à glace. La ceinture de sa robe de chambre entrouverte pendait le long de ses hanches. Tout un côté [5] de ses cheveux lui faisait un flot noir sur l’épaule droite ; et elle avait les deux bras levés, retenant d’une main son chignon, tandis que l’autre y enfonçait une épingle. Elle jeta un cri, et disparut. […] Pour le distraire d’abord par quelque chose d’amusant, elle lui fit voir l’espèce de musée qui décorait l’escalier. Les spécimens accrochés contre les murs ou posés sur des [10] planchettes attestaient les efforts et les engouements successifs d’Arnoux. Après avoir cherché le rouge de cuivre des Chinois, il avait voulu faire des majoliques, des faënza, de l’étrusque, de l’oriental, tenté enfin quelques-uns des perfectionnements réalisés plus tard. Aussi remarquait-on, dans la série, de gros vases couverts de mandarins, des écuelles d’un mordoré chatoyant, des pots rehaussés d’écritures arabes, des buires dans le [15] goût de la Renaissance, et de larges assiettes avec deux personnages, qui étaient comme dessinés à la sanguine, d’une façon mignarde et vaporeuse. Il fabriquait maintenant des lettres d’enseigne, des étiquettes à vin ; mais son intelligence n’était pas assez haute pour atteindre jusqu’à l’Art, ni assez bourgeoise non plus pour viser exclusivement au profit, si bien que, sans contenter personne, il se ruinait. Tous deux considéraient ces choses, [20] quand Mlle Marthe passa. — « Tu ne le reconnais donc pas ? » lui dit sa mère. — « Si fait ! » reprit-elle en le saluant, tandis que son regard limpide et soupçonneux, son regard de vierge semblait murmurer : « Que viens-tu faire ici, toi ? » et elle montait les marches, la tête un peu tournée sur l’épaule. [25] Mme Arnoux emmena Frédéric dans la cour, puis elle expliqua d’un ton sérieux comment on broie les terres, on les nettoie, on les tamise. — « L’important, c’est la préparation des pâtes. » Et elle l’introduisit dans une salle que remplissaient des cuves, où virait sur luimême un axe vertical armé de bras horizontaux. Frédéric s’en voulait de n’avoir pas refusé [30] nettement sa proposition, tout à l’heure. 1 5 10 15 20 25 30 <?page no="385"?> 386 Ulrike Sprenger — « Ce sont les patouillards », dit-elle. Il trouva le mot grotesque, et comme inconvenant dans sa bouche. De larges courroies filaient d’un bout à l’autre du plafond, pour s’enrouler sur des tambours, et tout s’agitait d’une façon continue, mathématique, agaçante. [35] Ils sortirent de là, et passèrent près d’une cabane en ruines, qui avait autrefois servi à mettre des instruments de jardinage. — « Elle n’est plus utile », dit Mme Arnoux. Il répliqua d’une voix tremblante — « Le bonheur peut y tenir ! » Le tintamarre de la pompe à feu couvrit ses paroles, et ils entrèrent dans l’atelier des ébauchages. [40] Des hommes, assis à une table étroite, posaient devant eux, sur un disque tournant, une masse de pâte ; leur main gauche en raclait l’intérieur, leur droite en caressait la surface, et l’on voyait s’élever des vases, comme des fleurs qui s’épanouissent. Mme Arnoux fit exhiber les moules pour les ouvrages plus difficiles. Dans une autre pièce, on pratiquait les filets, les gorges, les lignes saillantes. À l’étage [45] supérieur, on enlevait les coutures, et l’on bouchait avec du plâtre les petits trous que les opérations précédentes avaient laissés. Sur des claires-voies, dans des coins, au milieu des corridors, partout s’alignaient des poteries. Frédéric commençait à s’ennuyer. [50] — « Cela vous fatigue peut-être ? » dit-elle. Craignant qu’il ne fallût borner là sa visite, il affecta, au contraire, beaucoup d’enthousiasme. Il regrettait même de ne s’être pas voué à cette industrie. Elle parut surprise. — « Certainement ! j’aurais pu vivre près de vous. » Et, comme il cherchait son regard, [55] Mme Arnoux, afin de l’éviter, prit sur une console des boulettes de pâte, provenant des rajustages manqués, les aplatit en une galette, et imprima dessus sa main. — « Puis-je emporter cela ? » dit Frédéric. — « Êtes-vous assez enfant, mon Dieu ! » Il allait répondre, Sénécal entra. […] Les ouvrières, presque toutes, avaient des costumes sordides. On en remarquait une, [60] cependant, qui portait un madras et de longues boucles d’oreilles. Tout à la fois mince et potelée, elle avait de gros yeux noirs et les lèvres charnues d’une négresse. Sa poitrine abondante saillissait sous sa chemise, tenue autour de sa taille par le cordon de sa jupe ; et, un coude sur l’établi, tandis que l’autre bras pendait, elle regardait vaguement, au loin dans la campagne. À côté d’elle traînaient une bouteille de vin et de la charcuterie. [65] […] Le feu dans la cheminée ne brûlait plus, la pluie fouettait contre les vitres. Mme Arnoux, sans bouger, restait les deux mains sur les bras de son fauteuil ; les pattes de son bonnet tombaient comme les bandelettes d’un sphinx ; son profil pur se découpait en pâleur au milieu de l’ombre. Il avait envie de se jeter à ses genoux. Un craquement se fit dans le couloir, il n’osa. 35 40 45 50 55 60 65 70 <?page no="386"?> [70] Il était empêché, d’ailleurs, par une sorte de crainte religieuse. Cette robe, se confondant avec les ténèbres, lui paraissait démesurée, infinie, insoulevable ; et précisément à cause de cela son désir redoublait. Gustave Flaubert, L’Éducation Sentimentale (1869) 1 1-2 Die goldenen Lettern, die den Weg zu Arnoux’ Keramikmanufaktur in Creil weisen, markieren diese schon am Eingang als Ort des Uneigentlichen, Abbildhaften: Während die Konkurrenzmanufaktur, in deren Schatten Arnoux sich strategisch niedergelassen hat, Frédéric durch ihre bauliche Präsenz beeindruckt, mit der sie die weiblich geformte, fruchtbare Landschaft beherrscht, wird sich ihm Arnoux’ Anwesen als ein undurchschaubares Labyrinth, als ein chaotisches Nebeneinander von Materialien, Formen und Dekoren präsentieren. Die Schrift bleibt auch insofern uneingelöstes Versprechen, als sich hinter ihrer kostbaren, fremd- und einzigartigen Gestalt eine frühindustrielle Massenproduktion verbirgt. 2 Schon der Besuch selbst ist in ein größeres Gefüge charakteristischer Ersatzhandlungen eingelassen: Statt endlich in die Aktiengeschäfte mit Dambreuse einzusteigen, flieht Frédéric spontan nach Creil, in der Hoffnung, Mme Arnoux dort alleine anzutreffen. 3-7 Bei seiner Erkundung trifft er dann weniger auf sie, als sie sich ihm in einer plötzlichen Erscheinung zeigt. Während ihr Anblick sich sonst zur Marienvision verklärt, erblickt Frédéric, von dem es anderer Stelle heißt, er könne Mme Arnoux nur angekleidet imaginieren, hier die Angebetete in der paganen Pose einer Venustoilette - halbbekleidet vor dem Spiegel, die Hand im Haar. Die Laszivität wird gesteigert durch den schlangengleich herabhängenden Gürtel und das Gewaltmoment der Nadel. Flaubert greift den topos einer zauberhaft beseelten Statue auf, in deren Gestalt ihm auch seine Jugendliebe „Maria“ Schlésinger in Mémoires d’un Fou erscheint: „J’étais immobile de stupeur, comme si la Vénus fut descendue de son piédestal et s’était mise à marcher.“ 3 Im Raum der Keramikmanufaktur verweist die herabgestiegene Venus jedoch zudem auf 1 Paris: Garnier Flammarion 2 2003, pp. 279-286. 2 Goldschrift und bunte Farben prägen an anderer Stelle die den Friedhof säumenden Läden mit billigem Trauerschmuck, Flaubert vergleicht sie mit „magasins de faience“. 3 Gustave Flaubert, Mémoires d’un fou, Œuvres de jeunesse , edd. Claudine Gothot-Mersch, Guy Sagnes, Paris: Gallimard 2001 (Bibliothèque de la Pléiade), p. 486. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 387 <?page no="387"?> 388 Ulrike Sprenger die technische Reproduzierbarkeit ihres Bildes: Die Venustoilette gehört zu jenen Kleinskulpturen und Büsten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenhaft für die bourgeoisen Salons in Porzellan und Terrakotta abgegossen wurden. Gegebenenfalls denkt Flaubert an die Toilette de Vénus (1855) von Jean-Baptiste Carpeaux, die spätestens ab den 70er Jahren in Ton kommerzialisiert wurde (cf. Fig. 1). 4 Wie alle klischeehaften Visionen Frédérics lässt Flaubert das Venusbild unvermittelt mit der Formel „et disparut“ wieder verschwinden. 5 4 Carpeaux (1827-1875) war in Schriftstellerkreisen bekannt, mit Dumas befreundet und hat Flauberts Bruder in Ton porträtiert. Seine „Suzanne surprise“ ist ebenfalls eine beliebte Venus pudica . Cf. www.chu-rouen.fr/ wp-content/ uploads/ sites/ 2/ 2017/ 08/ Un-bustede-Carpeaux-au-Musee-Flaubert-Jean-Hossard-Echanges-N%C2%B0-14-Avril-1978-P.-0. pdf (12.01.2018). Sèvres reproduziert unter anderem die Venus von Medici in Porzellan und Terrakotta, die in Wilhelm Buschs titelgebendem Zitat aus der „Frommen Helene“ (1872) gemeint ist. 5 Bildquelle: https: / / passeurdarts.com/ wp-content/ uploads/ 2016/ 11/ Jean-Baptiste-Carpeaux-La-toilette-de-Venus-1873-.jpg. Fig. 1: Jean-Baptiste Carpeaux, La Toilette de Vénus (Terrakotta-Abguss von 1873) 18 <?page no="388"?> 8-20 Um die Situation zu retten, führt Mme Arnoux Frédéric durch die Manufaktur. War die parasitäre Kopie bisher nur unterschwellig als Thema präsent, stellt das kleine fabrikeigene Museum Arnoux’ Übungen in historistischer Imitation exemplarisch aus. Der Aufreihung der Artefakte im Treppenhaus entspricht sprachlich die asyndetische Reihung, mit der Flaubert klischeehafte Beliebigkeit häufig denunziert (so z. B. wenn Frédéric Mme Arnoux in rascher Folge als Schweizer Sennerin oder mittelalterliche Adelige imaginiert). Und wie in vergleichbaren Aufzählungen spielt auch hier das letzte, durch ein et de mouvement angefügte Element („et de larges assiettes“) ein entscheidendes semantisches Feld neu ein: Ähnlich wie die Töpferkunst selbst konnotiert die Mineralfarbe sanguine über das Blut zum einen archaische Vitalität und Gewalt, die im Kunstwerk spürbar bleiben, zum anderen erscheint die zarte Rötelskizze zerbrechlich und flüchtig, an der Grenze zur Auflösung der Gestalt, mit „vaporeuse“ schließlich ruft die Zeichnung das Schlüsselwort der „vapeur“ auf, in das Flaubert seine romantischen tableaux gerne zergehen lässt. Die „vapeur“ zeichnet dabei sowohl ein bereits klischeehaft zitiertes Sublimes als auch eine bedrohliche entropische Bewegung, in die sich Zivilisation und Geschichte entformen. 6 Während Arnoux sich als erfolgloser Kopist verausgabt und auch das unglückliche Paar nicht über ein romantisches „vague“ hinausgelangt, gewinnt der verborgene Erzähler aus seiner Beschreibung der sanguine doch noch eine Wahrheit über die Flüchtigkeit der Kunst, das Blut- oder Liebesopfer, das sie verlangt und das Geheimnis, das ihre Produktion umgibt. 20-24 Der scheinbar unvermittelte Auftritt von Mme Arnoux’ Tochter Marthe schreibt das Motiv eines unerreichbaren Geheimnisses fort und bindet es nun an das Weibliche: Früher Frédéric gegenüber ein zärtliches Kind, gibt Marthe sich hier als jungfräuliche Priesterin, als eine misstrauische, abweisende Salammbô oder Salomé, welche die Keramikmanufaktur in Abwesenheit ihres Vaters hütet. Auch ihre Pose, mit geneigtem Kopf provokant zurückblickend, ist die einer klassizistischen Statue und entstammt wie die Venus mehr einer erotischpaganen Ikonographie als der christlichen Reinheit. 6 Die oben zitierte Vision von Élisa Schlésinger führt beim autobiographischen „Ich“ ebenfalls zu „images vaporeuses“. Cf. Verf., „Landwirtschaft“, in: Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch , edd. Barbara Vinken, Cornelia Wild, Berlin: Merve 2010, pp. 177-179. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 389 <?page no="389"?> 390 Ulrike Sprenger 25-38 Die folgende Führung durch die eigentlichen Werkstätten der Manufaktur verkehrt ironisch eine zwischen Frédéric und ‚seinen Frauen‘ wiederkehrende Situation: Während diese häufig seinen romantisch-literarischen Phantasien nicht folgen wollen, und Rosanette beispielsweise in der Idylle von Fontainebleau durch ständiges Gähnen ihre Langeweile verrät, wird nun Frédéric angesichts der Keramikproduktion von kaum unterdrückbarem ennui befallen. Insbesondere die Rührgeräte erregen sowohl mit ihren monotonen Bewegungen als auch ihrer vulgärsprachlichen Bezeichnung (sie leitet sich vom familiären „patouille“ für „Schlamm“ ab) Frédérics im discours indirect libre wiedergegebenen Unwillen. „Agaçante“ verweist insofern hier direkt auf eine Störung des romantischen Liebesdiskurses durch den frühindustriellen Herstellungsprozess. 7 Die Tonzubereitung per Rührgerät wendet darüber hinaus die Schöpfungsallegorie des Lehmformens mechanistisch: Der unbeirrbare Bewegungsrhythmus der „patouillards“ nimmt ein im Roman allgegenwärtiges, vor allem akustisches Stampfen oder Dröhnen auf („tintamarre“, 38), mit dem der Erzähler die Visionen Frédérics unterlegt und stört. Dahinter verbirgt sich nicht bloß die vom Romantiker ausgeblendete industrielle Beschleunigung, sondern auch der Rhythmus eines sich selbst figurierenden und defigurierenden Universums, einer blinden Schöpfungsmaschinerie, die das Subjekt überwältigt, Gefühlskorrespondenzen verweigert, Geschichte aufhebt und das Gesellschaftliche als solches in Frage stellt. 8 Die anthropomorphe Gestalt der Rührarme reiht sie ein in die das Atelier beherrschenden homunculi , zu denen auch die Vasen auf den Töpferscheiben gehören. Mme Arnoux, die den Prozess ernsthaft überwacht („L’important, c’est la préparation des pâtes“, 27), erscheint wiederum als weiblicher Demiurg - als Hüterin der formlosen Materie kontrolliert sie eine für Frédéric unheimliche und undurchschaubare, unbeseelte „création“. Sein Desinteresse an den Techniken der Töpferkunst entspringt nicht zuletzt seiner Scheu vor dem weiblichen Körper, in die er unmittelbar nach der Venusvision zurückfällt. Die störenden „patouillards“ stehen damit zugleich für das körperliche Opfer, für das „Kreuz der Schöpfung“ 9 , das Frédéric stets ausblendet. Folgerichtig sucht er aus dem Sumpf ungeformter Materie in romantische Fluchträume wie die „cabane en 7 Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative , New York: Knopf 1984, p. 188. Insbesondere die unter der Decke laufende Mechanik verweist auf die Druckerei in Balzacs Illusions perdues als Modell frühindustrieller Räume bei Flaubert. 8 Zu einer „ontologie de l’anéantissement“ in der Nachfolge Cuviers bei Flaubert cf. Rainer Warning, „Flaubert und Fontane“, in: Id., Die Phantasie der Realisten , München: Fink 1999, pp. 185-239. 9 Barbara Vinken, „Kreuz“, in: Flaubert-Wörterbuch , pp. 173-175. <?page no="390"?> ruines“ (35), die an einen verlorenen Garten erinnert, oder die Dachkammer (65-68) zu entkommen. 38-48 Aus der folgenden Beschreibung der wie Blumen aus den Töpferscheiben emporwachsenden Vasen spricht eher eine faszinierte Erzählerstimme als der bereits ermüdete Frédéric - in der virtuosen Darstellung der das Gefäß von außen stützenden und von innen aushöhlenden Männerhände verleiht Flaubert dem Schöpfungsakt abermals eine diskurskritische Dimension, die dem romantischen Blick entgeht, bzw. diesen implizit denunziert: Das Tongefäß als archaisches Bild weiblicher Fruchtbarkeit wandelt sich hier zu einer Hohlform, deren Inneres umso weniger interessiert, je zärtlicher ihre Oberfläche behandelt wird („racler“ vs. „caresser“), ja die Aushöhlung erscheint als die Bedingung weiblicher Gestaltwerdung. Im Vorgang einer aushöhlenden Schöpfung spiegelt sich wiederum Frédérics eigene, körperliche wie geistige Unfruchtbarkeit, welche alle Möglichkeiten einer selbständigen Neugestaltung ungenutzt vorüberziehen lässt zugunsten ästhetisierender Betrachtungen und Belehnungen von Oberflächen. Die Gussformen („moules“) und die weiteren Ateliers führen eine frühindustrielle Fertigungsstraße vor, in deren Verlauf die Spuren eines normierten, streng arbeitsteiligen Herstellungsprozesses zugleich sorgfältig getilgt werden; erneut schreibt Flaubert der Manufaktur selbst die romantische Verleugnung materieller Arbeit und körperlicher Gewalt ein („l’on bouchait avec du plâtre les petits trous“). Das Fachvokabular, das er einsetzt (Flaubert hat für die Episode Sèvres und Creil mehrfach besucht) überträgt zum einen die frühindustrielle Technisierung in den sprachlichen Produktionsprozess und deutet zum anderen mit der Freude am künstlichen Signifikanten auf ein metapoetisches Objekt (cf. die berühmte Mütze von Charles Bovary). 49-59 Wenn der gelangweilte Frédéric gegen Ende des Besuches sich den Tonfladen aneignet, in dem Mme Arnoux beiläufig knetend ihren Handabdruck hinterlässt, gibt er abermals einem Abbild den Vorzug gegenüber einer Einsicht in den Produktionsprozess: Der Abdruck wird zur Reliquie oder zum biedermeierlichen keepsake , zum Pfand für eine fetischisierte Hand, die er nicht haben kann und für deren manuelle Beschäftigungen, für deren Hand-Arbeiten er sich ausschließlich in Bezug auf eine imaginäre, allen Zwängen der Materie und „Ach! - Die Venus ist perdü“ 391 <?page no="391"?> 392 Ulrike Sprenger des Gesellschaftlichen enthobene Zweisamkeit interessieren kann. 10 Sénécal als Repräsentant eines potentiell gewalttätigen männlichen Normierungswillens bricht die Szene ab. 60-66 Die in der Manufaktur vor allem mit dem Dekor beschäftigten Frauen arbeiten unter noch erbärmlicheren Bedingungen als die Männer, einzig Arnoux’ Favoritin, die schöne Bordelaise kann sich aus dem Joch befreien. Ihre widerständig-sehnsüchtige Pose und ihr Kostüm zeichnen sie jedoch als orientalistisch-exotistische Männerphantasie, spätestens die Weinflasche und der Schinken machen das Genrestück erkennbar, aus dessen Rahmung auch sie bei allem romantischen Freiheitspathos nicht entfliehen kann. Der Vergleich mit einer „négresse“ ruft zugleich die erste „apparition“ der Mme Arnoux wieder auf, bei der Frédéric diese in genau jene Rolle einer geheimnisvollen Südländerin phantasierte, welche nun die Bordelaise für Arnoux übernimmt. Venus, Jungfrau, Carmen oder Sklavin, im Raum der Manufaktur begegnet Frédéric jenen zu Klischees geronnenen Frauenbildern des 19. Jahrhunderts, welche an dessen Ende nun verkleinert und in Terrakotta reproduziert jeden bürgerlichen Kaminsims zieren. 11 67-74 Der Besuch der Keramikmanufaktur endet in Schweigen und Dunkelheit: Zwar kann Frédéric sich zuletzt mit Mme Arnoux in die romantische Dachkammer zurückziehen, an deren Fenster der Regen peitscht, aber das Feuer ist verloschen: Mme Arnoux erscheint nun wieder als körperlose Silhouette, selbst weit entfernt von jenem Ur-Schlamm, für dessen Zubereitung sie sich begeistern konnte. Aber noch konkurriert die Sphinx - auch sie ein beliebtes Terrakotta-Objekt - ikonographisch mit dem Madonnenmantel, unter den Mme Arnoux sich gewöhnlich entzieht. Er kehrt zwar wenig später ins Bild zurück, jungfräulicher, weiter und undurchdringlicher denn je (70-72), als Sphinx mit Löwenleib jedoch hütet Mme Arnoux das Geheimnis einer noch vorchristlichen, ursprünglich 10 Cf. Kathrin Fehringer, Textil und Raum. Visuelle Poetologien in Flauberts Madame Bovary , Bielefeld: transcript 2017. 11 Cf. die „Négresse captive“, welche Carpeaux 1867 für das Pariser Observatorium entwarf und ebenfalls als kleineres Terrakottamodell vertrieb. Mit Flauberts Bordelaise teilt sie die üppigen Formen, welche ein „cordon“ zugleich bindet und preisgibt, sowie den sehnsüchtigen Blick in eine unbestimmte Ferne. <?page no="392"?> ägyptischen Schöpfungsallegorie, der Anthropogonie auf der Töpferscheibe. 12 Die paganen Frauenbilder der Passage reproduzieren und ironisieren damit zwar einerseits romantisch-historistische Klischees, andererseits bringen sie Mme Arnoux - einmalig im Roman - in Berührung mit einer vorchristlichen, archaischen weiblichen Fruchtbarkeit und Körperlichkeit, welche Motive aus Salammbô und den Trois Contes vorwegnimmt. 13 Schon in jenen Texten äußert sich männliche Gewalt immer wieder im massenhaften Zerschlagen von „poterie“, deren Scherben die Bilder der Zerstörung prägen: Der Mann formt und der Mann zerschlägt die Gestalt des weiblichen Geschlechts. In der Keramikmanufaktur kann Mme Arnoux kurzfristig einem männlich dominierten, religiös überformten Kunst-Diskurs entkommen, der die Oberfläche der Frau zu seinem einzigen, imaginären Gegenstand macht, zuletzt jedoch wird Frédéric den Madonnenmantel wieder um sie schließen. Die Beschreibung der Keramikmanufaktur in Creil spielt mit jener grundsätzlichen Ambivalenz von Ursprung und Surrogat, die dem Lehm eignet: Zum einen erscheint er als der Stoff, aus dem sich die Nachformungen und Abgüsse romantischer Klischees herstellen und kommerzialisieren lassen, wie die Literatur liefert er also das Material für Frédérics romantische „éducation sentimentale“. Zum anderen jedoch konfrontiert die Manufaktur Frédéric mit einem den Abbildern vorangehenden Schöpfungsprozess, dem das romantisch beseelte tableau auszuweichen sucht. Gerade die Bindung seiner imaginären Frauenbilder an die frühindustrielle Produktion macht das offenbar, was Frédéric selbst in seinen Visionen ausblendet, der verborgene Erzähler aber in die Beschreibungen einträgt: Die entweder in bürgerliche Isolation oder in vulgäre Selbstveräußerung getriebene Frau, die nur die Wahl hat zwischen Heiliger und Hure, gewinnt im Kontakt mit der ursprünglichen Materie und ihrer Verarbeitung unerwartetes Selbstbewusstsein, nirgends perlt der romantische Liebesdiskurs so komisch-hilflos an ihr ab wie hier. Noch in der Dachkammer tritt Mme Arnoux heraus aus dem marianischen hortus conclusus , als Sphinx verspricht sie kurz die vorchristlich mögliche, lebendige Vereinigung von Körper und Seele. Die Keramikmanufaktur, die Flaubert erst für die zweite Fassung der Éducation entwirft, wird in diesem Sinne zu einem „Gründungsort der Moderne“, zu einem Raum, der die Möglichkeiten von Schöpfung in einem unauflöslichen Widerstreit zwischen Urbild und Abbild auslotet. 14 Zugleich findet sich die 12 Cf. „Schöpfung“, http: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 27281 (12.01.2018.) 13 Cf. Daniel Sangsue, „Les apparitions dans la littérature française du XIXe siècle“, in: Littera 1 (2016), pp. 52-67. 14 Cf. Bernhard Teuber, „Gründungsorte der Moderne - Eine Hinführung“, in: Gründungsorte der Moderne - Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street , edd. Maha El Hissy, Sascha Pöhlmann, Paderborn: Fink 2014, pp. 7-18. „Ach! - Die Venus ist perdü“ 393 <?page no="393"?> 394 Ulrike Sprenger archaische Allegorie der Töpferals Schöpferkunst dabei in spezifischer Weise narrativ historisiert und „entallegorisiert“, wenn Flaubert ihre grundsätzliche Ambivalenz in die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft und der frühindustriellen Produktion übersetzt. 15 Der verlorene Ursprung, der verlorengegangene Kontakt zur Materie und ihrer Formung stehen nun ein für eine ganze Fülle romantischer Verblendungen, nicht zuletzt auch des Revolutionsdiskurses: Von der Reproduktion des Freiheitsklischees über die Unterdrückung der (pro-)kreativen Kraft des Weiblichen bis zur Gleichgültigkeit konkreten Arbeitsprozessen gegenüber. 15 Cf. Bernhard Teuber: „Imagination und Historie in Flauberts Tentation de saint Antoine “, in: Poetologische Umbrüche (Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus), edd. Werner Helmich, Helmut Meter, Astrid Poier-Bernhard, München: Fink 2002, pp. 105-124. <?page no="394"?> Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 395 Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie Christian Wehr 1 Comme je descendais des Fleuves impassibles, Je ne me sentais plus tiré par les haleurs : Des Peaux-Rouges criards les avaient pris pour cibles Les ayant cloués nus aux poteaux de couleurs. 5 J’étais insoucieux de tous les équipages, Porteur de blés flamands et de cotons anglais. Quand avec mes haleurs ont fini ces tapages Les Fleuves m’ont laissé descendre où je voulais. Dans les clapotements furieux des marées, 10 Moi, l’autre hiver, plus sourd que les cerveaux d’enfants, Je courus ! Et les Péninsules démarrées N’ont pas subi tohu-bohus plus triomphants. La tempête a béni mes éveils maritimes. Plus léger qu’un bouchon j’ai dansé sur les flots 15 Qu’on appelle rouleurs éternels de victimes, Dix nuits, sans regretter l’œil niais des falots ! Plus douce qu’aux enfants la chair des pommes sûres, L’eau verte pénétra ma coque de sapin Et des taches de vins bleus et des vomissures 20 Me lava, dispersant gouvernail et grappin. Et dès lors, je me suis baigné dans le Poème De la Mer, infusé d’astres, et lactescent, Dévorant les azurs verts ; où, flottaison blême Et ravie, un noyé pensif parfois descend […]. Arthur Rimbaud, „Le Bateau ivre“ (1871/ 1883) 1 1 Arthur Rimbaud, Œuvres, edd. Suzanne Bernard, André Guyaux, Paris: Garnier 1987, pp. 128-131, hier p. 128. <?page no="395"?> 396 Christian Wehr „Le Bateau ivre“ nimmt in Rimbauds Werk eine Schlüsselposition ein. Das Gedicht stößt im Medium gebundener Sprache bereits in semantische Bereiche einer radikalen Verdunkelung des Sinnes vor. Insofern vermittelt es zwischen dem früheren, noch romantisch und parnassisch gefärbten Werk und der späteren, zunehmend hermetischen Prosalyrik. Der Text entstand im Herbst 1871. Rimbaud nahm das Manuskript als poetische Visitenkarte mit nach Paris, um sich den literarischen Zirkeln der Hauptstadt zu empfehlen. Wichtige dichtungstheoretische Hinweise zu seinem Verständnis sind in zwei Briefen formuliert, die Rimbaud am 13. und 15. Mai 1871 an unterschiedliche Adressaten schickte. Der erste ist an Georges Izambard gerichtet, einen Literaturlehrer in Rimbauds Geburtsort Charleville, der zweite und ausführlichere an den Dichter und Freund Paul Demeny. Inhaltlich formulieren beide weitgehend konvergente Positionen. Demnach geht es dem Dichter des „avenir de la poésie“ 2 darum, durch ein „dérèglement de tous les sens“ 3 sehend zu werden und im Unbekannten anzukommen: „Il faut se faire voyant“ 4 und „arriver à l’inconnu“ 5 lauten Rimbauds Formeln. In Überwindung einer romantischen Dichtungsauffassung soll dadurch eine neue Objektivität der Poesie gewonnen werden. Sie sieht sich mit revolutionärem Pathos dem sozialen Fortschritt verpflichtet und überwindet zugleich die romantische Beschränkung auf das Individuum. Ziel ist eine Entdeckung des eigentlichen Selbst als des Anderen, bislang Unbekannten: Das aphoristische Diktum „Je est un autre“ 6 spitzt dieses neugewonnene Selbstverhältnis, dem der Verlust des alten Ich vorausgeht, paradox zu. Poetisch korrespondiert dieses Projekt mit der Suche nach einer neuen Sprache, perzeptiv mit der „Entregelung der Sinne“. Einerseits situiert sich Rimbaud damit selbstbewusst in der Tradition des poeta vates . Er setzt sich aber zugleich in einem entscheidenden Punkt radikal von ihr ab, indem er die metaphysische Legitimation des Topos kappt. Der voyant bezieht seine Inspiration nicht mehr von einer transzendentalen Instanz, sondern aus einer Emanzipation der sinnlichen Wahrnehmung, die sich nicht nur von der seelisch-übersinnlichen Seite des Subjekts löst, sondern auch von der Lenkung durch den Verstand. Zu diesem Akt der Befreiung genügt, wie ein musikalischer Vergleich anschaulich macht, ein einziger Impuls: Der einzelne Bogenstrich lässt in der Folge das gesamte Orchester wie von selbst erklingen, wenn sich der erste Gedanke zu einer ganzen Symphonie der inneren Stimmen vervielfältigt. 7 2 Ibid., p. 347. 3 Ibid., p. 348. 4 Ibid. 5 Ibid. 6 Ibid., p. 347. 7 Ibid. <?page no="396"?> Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 397 Der in den Briefen offen bleibenden Frage, wie sich der Zusammenhang von sinnlichem dérèglement , neuer Sprachlichkeit und Selbstverlust in der poetischen Praxis näherhin manifestiert, möchte ich im folgenden anhand einer Lektüre des „Bateau ivre“ nachgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass Rimbauds Text eine neue, im Kontext der Entstehungszeit zukunftsweisende Struktur figurativer Sprache entwickelt, die sich der Vermittlung des archaischen Topos der Schifffahrt mit der evasiven Poetik des „dérèglement“ verdankt. In diachroner Hinsicht greift diese besondere Synthese auf antike Bestimmungen der Allegorie zurück, auf synchroner Ebene ist sie maßgeblich von Charles Baudelaires Reflexionen über die Möglichkeiten allegorischer Repräsentation in der nachromantischen Moderne inspiriert. Das Zusammenspiel von beidem stiftet die für das Gedicht charakteristische Gegenbewegung von formstiftender Tradition und dissoziierender Innovation. Während die Verlaufsform des „Bateau ivre“ einer relativ konsequent und linear durchgestalteten maritimen Thematik folgt und Syntax wie Metrik des Textes übersichtlich und ebenmäßig gestaltet sind, stößt die eruptive Bildlichkeit die Türe zur Hermetik der späteren Texte auf. Wie schon Hugo Friedrich feststellte, folgt der Text einer einzigen Bewegung der bildlichen, räumlichen und zeitlichen Expansion. 8 Immerhin ist es möglich, einige prägnante Stationen der dargestellten Fahrt zu fixieren: Ein Indianerüberfall, der Besatzung und Treidler das Leben kostet, lässt das Schiff schon am Anfang herrenlos die Flüsse hinabtreiben, ab der dritten Strophe setzt sich die ziellose Fahrt des zunehmend lecken Gefährtes auf dem offenen Meer fort. Die eigentliche Reise ist nun gekennzeichnet durch den oftmals unvermittelten Wechsel von heißen in kalte Regionen. Gleißende Helligkeit und tiefstes Dunkel lösen einander ab wie offene Gewässer und Ufergestade, fremdartige Tiere oder nie gesehene geologische Formationen. In der 17. Strophe erhebt sich das trunkene Schiff, von einem Orkan in die Lüfte geschleudert, und setzt seine Fahrt durch den Himmel fort. Die Reise mündet zu guter Letzt in die Sehnsucht nach den europäischen Ländern und Gewässern, und der Text endet mit der nostalgischen Beschwörung eines Tümpels, in dem kleine Kinder ihre Spielzeugschiffe segeln lassen. Die konventionellen Aspekte des Gedichtes sind erstaunlich zahlreich: Schließlich stellt die Thematik der Schiffsreise seit der Antike einen Gemeinplatz der hohen Dichtung dar, der zudem besonders häufig in der zeitgenössischen Parnasse-Lyrik variiert wurde. Angesichts dieser relativen Traditionalität stellt sich die Frage, worin die besondere Faszinationskraft des Textes begründet liegt. Sie hängt, wie ich im Folgenden darlegen möchte, mit seiner spezifischen figura- 8 Cf. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik , Hamburg: Rowohlt 1981 [1956], pp. 73-75. <?page no="397"?> 398 Christian Wehr len Struktur zusammen. Diesbezüglich greift der latinistisch versierte Rimbaud mit dem Bildfeld der Schifffahrt einen Topos auf, an dem schon Quintilian in seiner Ausbildung des Redners die Allegorie erklärt. Er verweist dabei wiederum auf Horaz, der die Seereise als fortgesetzte Metapher ausgestaltet, welche auf die Geschichte des römischen Staates verweist: Das Schiff selbst steht in dieser Hinsicht für das Gemeinwesen, die Fluten und Stürme für Bürgerkriege, der Hafen für Friede und Eintracht. Der allegorischen Verweisstruktur liegt also eine inversio zugrunde: Ihr Wortlaut, so resümiert Quintilian, steht immer für eine andere, manchmal auch entgegengesetzte eigentliche Bedeutung. Die entsprechende translatio gründet im Verhältnis der Ähnlichkeit, der Nachbarschaft oder des Gegenteils, wodurch die Substitutionsstruktur eine Verwandtschaft zur Metonymie, zur Metapher oder sogar zur Ironie aufweisen kann. 9 Was nun in Rimbauds „Bateau ivre“ vor dem Hintergrund solcher Bestimmungen auffällt, ist vor allem die unverkennbare Struktur einer konsequenten, bis zum Schluss durchgehaltenen Fortsetzung der bildhaften Seereise, die von Beginn an manifest ist: Zum titelgebenden trunkenen Schiff gehören die Treidler, eine Mannschaft, die Fracht, Steuerrad und Ruder, zur Fahrt selbst Sturm und Schiffbruch in unbekannten Gewässern, wenn auch nur rudimentär evozierte geographische Regionen, überhaupt eine rekurrente nautische Begrifflichkeit. Trotz dieser konstanten Durchgestaltung des Textes als Fortsetzung eines initialen Bildes zogen nur zwei Kommentatoren des Textes eine allegorische Deutung in Betracht. Steve Murphy schematisiert den Text im Sinne der biblischen Allegorese, indem er einen vierfachen Schriftsinn unterstellt, 10 Eva Riedel zieht dagegen eine allegorische Lesart in Betracht, um sie letztlich wieder zu verwerfen. Ihr Argument lautet, dass Rimbauds Metaphorik nicht auf einen intendierten Sinn reduzibel sei. 11 Riedel erwägt damit offensichtlich nur die Option der permixta apertis allegoria , die auf einen tieferliegenden sensus allegoricus immer wieder explizit Bezug nimmt. Liest man den „Bateau ivre“ jedoch als allegoria tota , die ihren eigentlichen Sinn an keiner Stelle offen preisgibt, wäre man von dieser Beweislast befreit und müsste ein eigentlich Gemeintes finden, das sich kraft traditioneller Zuweisung in eine übersetzende Relation zur Schiffahrt bringen ließe. Naheliegender als der Topos der navigatio vitae scheint mir dabei im gegebenen Zusammenhang die vergleichsweise seltene Besetzung der Bootsreise als Akt des Dichtens selbst. Sie findet sich etwa in Vergils Georgica , aber auch bei Horaz, der zur allegorischen Formulierung des „vela dare“ greift, 9 Cf. Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae / Ausbildung des Redners, lat.-dt, ed./ tr. Helmut Rahn, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, VIII, 6, pp. 44-53. 10 Cf. Steve Murphy: „Logiques du Bateau ivre“, in: Littératures 54: Rimbaud dans le texte (2006), pp. 25-86. 11 Cf. Eva Riedel, Strukturwandel in der Lyrik Rimbauds , München: Fink 1982, p. 78sq. <?page no="398"?> Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 399 und den Lyriker im Kahn auf dem Fluss fahren lässt, während der Epiker im großen Schiff auf dem offenen Meer reist (Horaz, carmen saeculare , 1,34). Als poetologischen Hinweis auf eine solche Sinnebene wäre etwa das Bild des „Poème de la Mer“ in der sechsten Strophe zu lesen (v. 21sq.), welches schon aufgrund der Großschreibung unter Allegorieverdacht steht. Natürlich reicht dieses einzelne Indiz nicht aus, um dem gesamten Text eine entsprechende figurale Struktur zu unterstellen. Dies gelingt erst, wenn man berücksichtigt, dass der programmatische „dérèglement de tous les sens“ Rimbaud zufolge nicht nur die grundlegende Ermöglichungsbedingung der dichterischen Vision ist, sondern zugleich ein konstitutives Merkmal der lyrischen Sprache selbst sein soll. Im Lichte dieser Konvergenz von produktionsästhetischer und stilistischer Bestimmung wird es nun möglich, den „Bateau ivre“ als bildliche Inszenierung des dérèglement zu lesen, ohne die poetologische Dimension des Textes zu unterschlagen. Schon in den ersten beiden Strophen steht die Bildlichkeit der Schifffahrt im Zeichen einer Orientierungslosigkeit, die in mehrfacher Hinsicht auch als Zustand der Befreiung erscheint. Sie ist also entschieden positiv konnotiert, was den Text von den üblichen Gestaltungen der Thematik deutlich abgrenzt und den Anspruch auf Innovation und Originalität schon mit den ersten Versen hinlänglich signalisiert. Es fällt nicht schwer, vor diesem Hintergrund eine Allegorie des dérèglement in Gestalt der fortgesetzten Metapher zu erkennen: Das führungslos gewordene Schiff selbst stünde dann für die Sinne. Sie reißen sich hier vom Diktat eines leitenden, richtungsweisenden Verstandes, der wiederum von den „haleurs“ (v. 2) repräsentiert wird, sprichwörtlich los. Selbst die „Peaux-rouges“ (v. 3) würden dann einem - wiederum positivierten - Klischee des 19. Jahrhunderts entsprechend als personalisierte Macht des Irrationalen, Ungezügelten und Triebhaften erscheinen. Der Verlust von Steuerrad und Anker, er wird am Ende der fünften Strophe thematisch (vv. 17-20), stellt dann eine folgerichtige Ergänzung und Steigerung dieses Bildzusammenhanges dar, in den auch die eigens betonte Gleichgültigkeit gegenüber der Handelsfracht gehört: Sie drückt die Überwindung einer ökonomisch-rationalen Zweckmäßigkeit der Fahrt aus, deren Bestimmungslosigkeit bereits in der dritten Strophe triumphale Gefühle weckt, und die nun zunehmend ins Anarchische und Chaotische gesteigert wird. In dieser Hinsicht werden die „tohu-bohus […] triomphants“ des zwölften Verses geradezu als lexikalische Signatur des dérèglement lesbar. Die vorgeschlagene figurale Lesart lässt sich auch durch den Bezug zu den Lettres du voyant stützen. Dort macht Rimbaud die poetische Emanzipation der Sinne gleichfalls durch eine bereits erwähnte Allegorie anschaulich: So wie der erste Bogenstrich der Geige wie von selbst ein ganzes Orchester erklingen lässt, so genügt auch im Bildzusammenhang des <?page no="399"?> 400 Christian Wehr Gedichtes ein erster und einziger Impuls, um die neugewonnene Freiheit schon bald ins Grenzenlose und Vielstimmige expandieren zu lassen. 12 Ein entscheidendes Stadium markiert nun der Beginn der sechsten Strophe. Er wird eingeleitet mit der zeitlichen Adverbiale „dès lors“ (v. 21), die direkt Bezug nimmt auf die Zerstörung von Steuer und Anker im unmittelbar vorhergehenden Vers. Hier beginnt die eigentlich ekstatische Fahrt durch die Meere. Dabei verdeutlicht die Allegorie des „Poème de la Mer“, dass die „Verwirrung der Sinne“ zugleich für eine genuin poetische Schau einsteht. In der dramatisch gesteigerten Fortsetzung der Reise geschieht nun etwas, das jede historische und systematische Bestimmung der Allegorie auf spektakuläre und effektvolle Weise unterminiert: Das dérèglement greift vom Niveau des allegorischen Sinnes auf die buchstäbliche Ebene über. Dies geschieht dergestalt, dass sich die eingangs noch dominant figurale Topik der Schifffahrt immer mehr zum phantasmatischen Erlebnisraum wandelt. Die allegorische Bedeutung wird zusätzlich auf der litteralen Ebene des Textes inszeniert. Dies geschieht in vielfacher Hinsicht. Einschlägige Verfahren sind die unvermittelten, teilweise schockartigen Szenenwechsel, die Entgrenzung der sinnlichen Wahrnehmung in kühnen Synästhesien, die Spiegelung des imaginären Erlebnisraumes um eine horizontale Achse oder die dramatische Dynamisierung der Bilder. Sprachlich wird diese evasive Dynamik ergänzt durch eine Tendenz zu teilweise derber Hyperbolik, zu klanglich suggestiven Neologismen oder eine immer wieder anzutreffende Lexematik des Chaotischen und Ungeregelten. Auf diese Weise wird die traditionelle Verweisstruktur der Allegorie als inversio durch die sinnlich-affektische Aufladung der Bildlichkeit sukzessive untergraben. Hielten die rhetorischen Definitionen noch kategorisch fest, dass die Figur grundsätzlich etwas anderes sagt als sie meint, so lässt Rimbaud ihre beiden Sinnebenen konvergieren: Sensus litteralis und sensus allegoricus schließen sich wechselseitig ein. Sie werden, anders ausgedrückt, in ein reziprokes Verhältnis der Motivation gerückt, das auch dem zumeist arbiträren Zeigegestus der Allegorie widerspricht. Dadurch, dass der ikonische Komplex der Seefahrt auf das dérèglement nicht nur verweist, sondern es zugleich szenisch performiert, gewinnt die rhetorische Verfasstheit des Textes eine dominant selbstbezügliche Dimension: Die Allegorie wird somit selbstreferentiell oder, in Anlehnung an eine Formel von Hugo Friedrich, absolut. 13 Diese bemerkenswerte Struktur vermag auch eine Besonderheit der Sprechsituation zu erklären, die den „Bateau ivre“ von den meisten anderen lyrischen Bearbeitungen des Topos unterscheidet. Rimbaud greift, vielleicht in einer Anspielung auf die sprechende 12 Cf. Rimbaud, Œuvres , p. 347. 13 Cf. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik , p. 74. <?page no="400"?> Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 401 Argo der griechischen Mythologie, zur Figur der Prosopopeia : So erscheint das titelgebende Schiff nicht nur in seiner reinen Gegenständlichkeit als Gefährt, sondern steht auch für die subjektive, erlebnishafte Perspektive eines Reisenden, der sich in der Ich-Form mitteilt. Dies zeigt, dass die Konvergenz von uneigentlicher Bildlichkeit und eigentlich Gemeintem auch auf die pragmatische Ebene übergreift. Das hier begegnende Verfahren der absoluten Allegorie ist meines Wissens nach nicht nur in der modernen Lyrik ohne Beispiel. Es wird durch ein bemerkenswertes Verfahren zusätzlich ergänzt und gesteigert, das die besonderen rhetorischen Verweisstrukturen des Textes nochmals effektvoll potenziert: Einzelne Motive der Reise erscheinen wiederholt als Ausgangspunkte einer weiteren Proliferation von Bildern, die bereits die surrealistische métaphore filée vorwegnimmt, wie insbesondere Eva Riedel erkannte. Mit dieser Technik werden längere Bildsequenzen hervorgetrieben, die in formaler Hinsicht wiederum der fortgesetzten Metapher verwandt sind. 14 Auf diese Weise konstituiert sich eine mise en abyme der übergreifenden allegorischen Struktur des Textes, die sich innerhalb kleinerer Abschnitte nochmals gespiegelt findet. Neben der diachronen Tradition der Rhetorik fand Rimbaud eine zweite, nunmehr zeitgenössische Inspirationsquelle für seinen Text in Baudelaires Essay über die Paradis artificiels aus dem Jahre 1860. Sie beschreibt die künstlichen Paradiese, welche sich der Vorstellungskraft durch die bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen erschließen. Baudelaire unterscheidet dabei drei hauptsächliche Stadien des Rausches: Einer anfänglichen Lockerung der Assoziationen folgt eine halluzinatorische Entgrenzung der Einbildungskraft, die schließlich in einen kontemplativen Endzustand mündet. 15 Für den Bezug zum „Bateau ivre“ ist vor allem die mittlere Phase bedeutsam, denn Baudelaire begreift die Verselbständigung der Imagination als poetischen Akt und fasst sie darüber hinaus in rhetorischer Begrifflichkeit; genauer gesagt als allegorische Hypostasierung unbewusster Vorstellungsmächte. 16 Seine Argumentation ist noch stark romantisch geprägt; allerdings weniger im Sinne der französischen als der deutschen Romantik. Das Authentizitätsideal des früheren 19. Jahrhunderts zeigt sich vor allem darin, dass die Rauscherfahrung hier noch unzweifelhaft im Zeichen der Präsenz steht. Sie ist geprägt durch die Simultaneität des 14 Cf. Riedel, Strukturwandel , pp. 81-83. 15 Cf. Charles Baudelaire, Les paradis artificiels , Paris: Le livre de poche 1972, p. 103sq. 16 „L’intelligence de l’allégorie prend en vous des proportions à vous-même inconnues ; nous noterons, en passant, que l’allégorie, ce genre si spirituel , que les peintres maladroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes primitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination légitime dans l’intelligence illuminée par l’ivresse.“ (Baudelaire, Les paradis artificiels , p. 103). <?page no="401"?> 402 Christian Wehr inneren Erlebens und seiner bildlich-zeichenhaften Manifestation. Baudelaires Vergleich mit der mimetischen Macht der Musik bringt dies unmissverständlich zum Ausdruck: 17 Die Sprache der Töne verschmilzt mit ihrem expressiven Gehalt und verwandelt sich somit der affektischen und sinnlichen Wirkung, die sie selbst hervorruft, an. Diese idealistische Transformation des Mediums in das Bezeichnete geschieht, wie Baudelaire ausdrücklich sagt, indem jede Note zum Wort wird. Diese Stilisierung der Musik zum symbolischen Zeichensystem stiftet wieder den Rückbezug zur Allegorie: Analog zum ersten erklingenden Ton der Musik hebt auch die figurale Sprache mit etwas an, das Baudelaire ein „premier objet venu qui devient symbole parlant“ 18 nennt. Dieses sprechende Bild spinnt sich dann rein assoziativ, ohne die lenkende Macht des Verstandes, nach dem formalen Prinzip einer fortgesetzten Metapher weiter, um schließlich einen umfassenden ikonischen Komplex zu konstituieren. Allegorische und musikalische Sprache werden also in ein doppeltes Analogieverhältnis gesetzt: Sie sind homolog, was die formale Struktur betrifft, sie zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass Objekt und Medium der Repräsentation jeweils koinzidieren. Wenngleich sich einschlägige Bezüge weiter vertiefen ließen, so wird schon an dieser Stelle ersichtlich, warum Baudelaires Allegoriekonzept als unmittelbare poetologische Inspiration für den „Bateau ivre“ gelten kann. Die Tatsache, dass Rimbaud selbst Baudelaire in den zitierten Briefen als größten Seher der französischen Literatur feiert, lässt das hier supponierte Verhältnis der aemulatio nur zusätzlich plausibel erscheinen. Rimbaud löst die Implikationen dieses Konzeptes sogar wesentlich radikaler und konsequenter ein, als dies in Baudelaires Lyrik selbst zu beobachten ist. Die Entsprechungen sind vielschichtiger Natur. Am offensichtlichsten ist natürlich der unmittelbar vergleichbare Zusammenhang eines poetologisch besetzten Vorstellungsvermögens, seiner rauschhaften Entgrenzung sowie der allegorischen Form, in der diese innere Schau sinnliche Gestalt gewinnt. Des Weiteren konstituiert sich die Allegorie hier wie dort als Fortführung eines initialen Bildes, mithin als fortgesetzte Metapher. Schon in den Lettres du voyant wurde ja mit einem musikalischen 17 „La musique, autre langue chère aux paresseux ou aux esprits profonds qui cherchent le délassement dans la variété du travail, vous parle de vous-même et vous raconte le poème de votre vie : elle s’incorpore à vous, et vous vous fondez en elle. Elle parle de votre passion, non pas d’une manière vague et indéfinie, comme elle fait dans vos soirées nonchalantes, un jour d’opéra, mais d’une manière circonstanciée, positive, chaque mouvement du rythme marquant un mouvement connu de votre âme, chaque note se transformant en mot, et le poème entier entrant dans votre cerveau comme un dictionnaire doué de vie.“ (Baudelaire, Les paradis artificiels , p. 104sq.). 18 Ibid., p. 103. <?page no="402"?> Rimbauds „Le Bateau ivre“ als absolute Allegorie 403 Vergleich hervorgehoben, wie ein einziger Impuls genügt, um die Entregelung der Sinne zu stimulieren. 19 Vor allem aber scheint mir die Parallele bemerkenswert, dass bereits Baudelaire auf programmatischer Ebene eine Konvergenz von uneigentlicher Sprache und eigentlicher Bedeutung postuliert, die der semiotischen Grundstruktur von Rimbauds absoluter Allegorie entspricht. Selbst die synästhetische Formel des „symbole parlant“ lässt sich unmittelbar mit der besonderen Gestaltung der pragmatischen Ebene im „Bateau ivre“ korrelieren. Vor dem Hintergrund der selbstreferentiellen Struktur wurde ja bereits deutlich, warum das Schiff im Verlauf des Textes sowohl in seiner Materialität erscheint als auch die erlebnishafte Perspektive eines Reisenden konstituiert. Dies löst Baudelaires Beobachtung ein, nach der die dezentrierende Rauscherfahrung imaginäre Fusionen mit der Außenwelt ermöglicht. Insgesamt situiert sich Rimbauds Allegorie also am Schnittpunkt von Diachronie und Synchronie, von rhetorischer Tradition und nachromantischem Repräsentationskonzept. In dieser Vermittlung konterkariert sie die Bestimmungen der Figur in doppelter Weise: nicht nur, was ihre antiken Definitionen betrifft, sondern auch hinsichtlich der Bestimmung Paul de Mans, nach der die Allegorie grundsätzlich einer Rhetorik der Zeitlichkeit und einem arbiträren Zeigegestus gehorcht. 20 Auf den poetologischen Kontext der Seherbriefe bezogen lässt sich die lyrische Inszenierung des dérèglement als antiromantische Objektivierung der poetischen Sprache lesen. Bildlichkeit und rhetorische Verfasstheit des Textes gehorchen nicht dem organisierenden Zugriff eines sinnstiftenden Subjektes. Sie folgen einer kühnen, konnotativen und überindividuellen Logik der Assoziation, die sich durchgehend aus dem sprachlichen Ausgangsmaterial der Schiffahrtstopik speist. So zielt die Entregelung nicht nur auf die Sinne, sondern auch auf die Normierungen der figurativen Sprache. Erst deren Assoziationsreichtum ruft die Flut sinnlicher Impressionen hervor, die auf ein wahrnehmendes Subjekt einstürmen, welches sich vom Diktat des Verstandes befreit hat und nun seiner wuchernden Vorstellungswelt bewusst und schutzlos ausgeliefert ist. „Je est un autre“, hieß es zu diesem Verlust eines kontrollierenden und kontrollierten Selbst. Damit lässt sich auch die transzendenzlose voyance zurückführen auf ein durchaus naives, nämlich assoziativ-unreflektiertes Sehen, das sich im „Bateau ivre“ mit der kindlichen Perspektive der vorletzten Strophe dann auch konkret konstituiert. 19 Cf. Rimbaud, Œuvres , p. 347. 20 Cf. Paul de Man, „The Rhetoric of Temporality“, in: Interpretation: Theory and Practice , ed. Charles P. Singleton, Baltimore: The Johns Hopkins Press 1969, pp. 173-209. <?page no="403"?> 404 Christian Wehr Rimbauds poetologisches Programm ist also nicht nur eklektisch, wie oftmals behauptet. Es trägt auch avantgardistische Züge, weil es bereits unverkennbar einer surrealistischen Ästhetik der Assoziation vorausgreift, welche die poetische Emanation des Unbewussten jenseits rationaler Ordnungen anstrebt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Rimbauds innovationsträchtiges Experiment - immerhin ein halbes Jahrhundert vor Bretons Manifeste du Surrealisme - noch vergleichsweise deutlich im Rahmen fester und definierbarer Formen bleibt. Allerdings lotet es die Allegorie und ihr semantisches Material nahezu gewaltsam aus. Die Grundstruktur der Figur wird dadurch noch nicht zerstört, aber in ihrem expressiven Potential an eine äußerste Grenze getrieben. Mit Julia Kristeva könnte man sagen, dass Rimbaud im „Bateau ivre“ die uneigentliche Repräsentation auf eine semiotische Ebene zurückführt: also dorthin, wo die Signifikanten nicht auf abwesende Objekte verweisen, sondern dem kombinatorischen Spiel der Poesie verfügbar bleiben. <?page no="404"?> Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre 405 Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre Victor Andrés Ferretti Harto de su tierra de España, un viejo soldado del rey buscó solaz en las vastas geografías de Ariosto, en aquel valle de la luna donde está el tiempo que malgastan los sueños y en el ídolo de oro de Mahoma que robó Montalbán. En mansa burla de sí mismo, ideó un hombre crédulo que, perturbado por la lectura de maravillas, dio en buscar proezas y encantamientos en lugares prosaicos que se llamaban El Toboso o Montiel. Vencido por la realidad, por España, don Quijote murió en su aldea natal hacia 1614. Poco tiempo lo sobrevivió Miguel de Cervantes. Para los dos, para el soñador y el soñado, toda esa trama fue la oposición de dos mundos: el mundo irreal de los libros de caballerías, el mundo cotidiano y común del siglo XVii . No sospecharon que los años acabarían por limar la discordia, no sospecharon que la Mancha y Montiel y la magra figura del caballero serían, para el porvenir, no menos poéticas que las etapas de Simbad o que las vastas geografías de Ariosto. Porque en el principio de la literatura está el mito, y asimismo en el fin. Clínica Devoto, enero de 1955. Jorge Luis Borges, „Parábola de Cervantes y de Quijote“ (1955) 1 Borges’ Cervantes-Reflexion, die zum ersten Mal in Sur 233 (1955) erschien und dann in die Sammlung El hacedor (1960) aufgenommen wurde, vertieft ihren metafiktionalen Gedankengang durch den gleichsam metaleptischen Verzicht auf eine Differenzierung von Autor und Werk, wenn in der kanonisierten Fassung aus „del Quijote “ ein „de Quijote“ wird. Nicht Werk, sondern Protagonist ist sonach bedeutet, was der folgenden Analogiesetzung förderlich ist. Drei Metalepsen konturieren das Gleichnis: Zuerst wird Miguel de Cervantes einem erzählten Helden gleich („un viejo soldado del rey“) eingeführt. Es ist die Rede davon, dass er - seines Vaterlandes überdrüssig („Harto de su tierra de España“) in Ariosts Orlando -Welten Labsal („solaz“) gesucht habe. 2 Sodann 1 Jorge Luis Borges, Obras completas , ed. Carlos V. Frías, Buenos Aires: Emecé 1974, p. 799. 2 Zum Verhältnis von Cervantes und Ariost cf. u. a. Georges Güntert, „Ariosto en el Quijote : replanteamiento de una cuestión“, in: Actas AIH 12/ 2 (1998), pp. 271-283. <?page no="405"?> 406 Victor Andrés Ferretti wird Don Quijote als Reflexionsfigur von Cervantes („burla de sí mismo“) eingeführt, auf der Suche („dio en buscar“) nach Wunderbarem („maravillas“) in kastilischen Gefilden („lugares prosaicos que se llamaban El Toboso o Montiel“). Durch eine polyptotische Suche verbunden, verfolgten Cervantes und Don Quijote somit inverse Überschreibungen ihrer jeweiligen Realität: Cervantes, indem er fiktionale Kompensation ersuchte; Don Quijote durch sein Sehnen nach Fiktionalisierung seiner Um-Welt. Beider Streben lässt sich dabei als ein restitutives bezeichnen, sei doch Don Quijote an der Realität („vencido por la realidad“) gescheitert und Cervantes nur ein Jahr nach dem Zweiten Teil des Quijote verstorben („[p]oco tiempo lo sobrevivió“). Und es lässt sich hier ein tertium des Gleichnisses wähnen, da, genau genommen, sowohl Cervantes als auch Don Quijote am Ende ihres Imaginären verlustig gehen: Der fiktive Edelmann, da er wieder die ‚Rolle‘ des Alonso Quijano auf dem Sterbebett einnimmt (DQ II, 74), womit die anderen nicht mehr das wahrnehmen sollen, was sie nicht sehen (Ritter); Cervantes, da er am Ende seines Lebens anerkennen muss, dass ihn der erhoffte Ruhm (Imaginäres) zu Lebzeiten nicht ereilt hat, wie er in seinem „Prólogo al lector“ (DQ II) unmissverständlich macht. 3 Wenngleich der dritte Absatz von Borges’ Parabel eine leitende („trama“) „oposición de dos mundos“ ausmacht, nämlich zwischen Fiktion („mundo irreal de los libros de caballerías“) und Realem („mundo cotidiano y común”), versteht sich, dass dies nicht ohne das Medium des Imaginären vonstattengeht, das „soñador“ und „soñado“ verkoppelt. So fabuliert Cervantes den Idealisten Quijote, der im Unterschied zu ersterem sich jedoch nicht damit begnügt, zu erzählen; nein, seine Poiesis besteht gerade darin, seine Um-Welt mit seinem Ritter-Imaginären und seinen Idealen zu konfrontieren. Spielen die anderen mit, wird Fiktion real (insbes. DQ II, 30sqq . ); teilt jemand sein Imaginäres nicht, wird gewissermaßen an Don Quijotes Frustrationskompetenz appelliert, die nicht allzu ausgebildet ist (cf. DQ I, 8-9). Absatz vier leitet dann die Synthese ein, die Resultat einer Inversion ist, bei der reale Orte der Don Quijote -Fiktion („la Mancha y Montiel“) 4 und Don Quijote („magra figura del caballero“) gewissermaßen zu poetischen Topoi werden. Mit 3 Verwendete Ausgabe: Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha , ed. Francisco Rico, Barcelona: Crítica 1998. Dass nicht nur Cervantes’ Altersarmut, sondern seine Vita insgesamt vom Schicksal gebeutelt war, bezeugt u. a. Jean Canavaggios biographischer Abriss „Resumen cronológico de la vida de Cervantes“, in: CVC (2012), cvc.cervantes.es/ literatura/ clasicos/ quijote/ introduccion/ resumen/ default.htm (23.09.2017). 4 Cf. dazu umfassend El espacio geográfico del Quijote en Castilla-La Mancha , edd. Félix Pillet Capdepón, Julio Plaza Tabasco, Cuenca: Publicaciones de la Universidad de Castilla-La Mancha 2006. <?page no="406"?> Don Quijote und das sanchoeske Imaginäre 407 anderen Worten: Durch den Quijote wurde La Mancha zu einer literarischen Region, und dank Cervantes’ Ingenium wurde Don Quijote zu Weltliteratur wie „Simbad“ oder die „vastas geografías de Ariosto“. Die abschließende Erklärung ist erläuterungsbedürftig: „Porque en el principio de la literatura está el mito, y asimismo en el fin.“ Am Anfang und Ende des literarischen λόγος stehe also der μῦθος, der in seiner Vieldeutigkeit vom ‚Wort‘ bis zur ‚Fabeldichtung‘ reicht. Was ist gemeint? Nun, in jedem Fall ein imaginäres ‚Narrativ‘, durch das erlebte Welt zur Wahrnehmungswelt wird, die sich nicht auf das beschränkt, was positiv(istisch)er Weise „ist“, sondern auch das poietisch einbegreift, was „sein könnte“ (cf. Aristot. poet. 9). So ist der Quijote ein ‚Mythos‘ im Sinne einer Erzählung, durch die reale Orte zu fiktionalen potenziert werden, auf die das Imaginäre Don Quijotes heute rückstrahlt. Und Letzterer ist ‚Mythos‘ insofern, als er eine ingeniöse ‚Erdichtung‘ des Cervantes darstellt, die die δύναμις des Imaginären sodann hypotextuell bezeigt (cf. Sorels Le Berger extravagant , Flauberts Madame Bovary etc.). 5 Und wenn es so etwas wie ein „fin“ der Literatur geben sollte, so im Sinne ihres τέλος, verstanden als die Beschaffenheit, potentiell unendlich zu sein, solange es Lesende gibt, die ihre Texte qua Lektüre weiter und wieder mit anderen Texten, jedoch auch mit außerliterarischen Wahrnehmungswelten vernetzen. So verstanden begönne und mündete etwaige Literatur im μῦθος als ‚Fiktion‘. 6 Borges’ Parabel profitiert sonach von der Nicht-Erwähnung des Imaginären, das als tertium das Quijote-Gleichnis stützt. Erst durch die Cervantes und Quijote einende Dynamik des Imaginären wird die Strahlkraft von Fiktionen offenbar. Diese können eben nicht nur Imaginäres ‚realisieren‘ (Don Quijote), sondern auch ‚Reales‘ imaginär aufladen, so dass wir heute beim Lesen von „La Mancha“ eben auch Quijoteskes mit-wahrnehmen können, obschon diese Figur originär aus Buchstaben besteht. Das Imaginäre ist, wie schon Wolfgang Iser in Das Fiktive und das Imaginäre (1993) festhielt, transgressorisch, ja widerspenstig. Es lässt sich nicht verorten, ist mehr Medium als Form und somit auf Aktualisierungen angewiesen. Es partizipiert an Fiktionen, hilft das ins Spiel zu bringen, was niemand sieht, was jedoch (mit-)wahrgenommen wird. Für das Rollenspiel des Lebens ist es einerlei, ob man ‚wichtig‘ oder ‚Edelritter‘ sein möchte, was zählt ist, dass man als ebensolches wahrgenommen wird - und zwar auch von ande- 5 Cf. hierzu Gérard Genette, Palimpsestes - La littérature au second degré , Paris: Seuil, pp. 201-215. 6 Für weitere Kommentare cf. Carlos Orlando Nallim, „Cervantes y Don Quijote en una parábola de Borges“, in: Revista de literatura moderna 23 (1990), pp. 11-26; Gila Safran Naveh, Biblical Parables and their Modern Recreations - From „Apples of Gold in Silver Settings“ to „Imperial Messages“ , Albany: State University of New York Press 2000, pp. 159-177. <?page no="407"?> 408 Victor Andrés Ferretti ren. Das ist das Spiel des Quijote, der im Gegensatz zu Cervantes auf Mitspieler angewiesen ist, die seine Fiktion ‚realisieren‘. Cervantes selbst setzt Don Quijote ins Textspiel, lässt ihn Aventiuren versuchen, wobei mehr als ihr (Nicht-) Bestehen die Konfrontation mit einer prosaischen Realität von Bedeutung ist, die eben nicht verstanden hat, dass es nicht nur Fiktion und Reales gibt, sondern eben auch Imaginäres, für das die Literatur nicht die einzige Realisierungsform ist. Denn auch wir reichern unsere reale Welt mit Imaginärem an, nur dass wir im Unterschied zu Don Quijote ( Yo sé quién soy ), das vielleicht weniger bewusst machen . So gilt in gewissem Sinn das poietische Apollinaire-Wort von 1918: „Je dirai plus, les fables s’étant pour la plupart réalisées et au delà c’est au poète d’en imaginer des nouvelles que les inventeurs [lecteurs] puissent à leur tour réaliser.“ 7 Cervantes hat dies früh erkannt, so dass man an Borges anschließen könnte, dass sosehr die Literatur in Fiktion gründet und mündet, sosehr wird die Realität von Imaginärem und seinen Narrativen sanchoesk eskortiert. 7 Guillaume Apollinaire, „L’esprit nouveau et les poètes“, digitale und emendierte Fassung, www.uni-due.de/ lyriktheorie/ texte/ 1918_apollinaire.html (02.12.17). <?page no="408"?> Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo Manuel Mühlbacher Poco prima di giungere in cima al colle, quella mattina, Arguto e Teresina iniziarono la danza religiosa dei cani che hanno presentito la selvaggina: strisciamenti, irrigidimenti, caute alzate di zampe, latrati repressi: dopo pochi minuti un culetto di peli bigi guizzò fra le erbe, due colpi quasi simultanei posero termine alla silenziosa attesa; Arguto depose ai piedi del Principe una bestiola agonizzante. Era un coniglio selvatico: la dimessa casacca color di creta non era bastata a salvarlo. Orrendi squarci gli avevano lacerato il muso e il petto. Don Fabrizio si vide fissato da due grandi occhi neri che, invasi rapidamente da un velo glauco, lo guardavano senza rimprovero ma che erano carichi di un dolore attonito rivolto contro tutto l’ordinamento delle cose; le orecchie vellutate erano già fredde, le zampette vigorose si contraevano in ritmo, simbolo sopravvissuto di una inutile fuga; l’animale moriva torturato da un’ansiosa speranza di salvezza, immaginando di poter ancora cavarsela quando di già era ghermito, proprio come tanti uomini; mentre i polpastrelli pietosi accarezzavano il musetto misero, la bestiola ebbe un ultimo fremito, e morì; ma Don Fabrizio e Tumeo avevano avuto il loro passatempo; il primo anzi aveva provato, in aggiunta al piacere di uccidere, anche quello rassicurante di compatire. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo (1958) 1 Schon vor Morgengrauen ist Don Fabrizio, der Prinz von Salina, aufgebrochen, um sich mit seinem Begleiter Don Ciccio Tumeo auf die Jagd zu begeben. Als die beiden Männer ein Kaninchen anschießen, das ihnen der Jagdhund kurz darauf vor die Füße legt, findet eine Szene von seltsamer Ambivalenz statt: Don Fabrizio, der gerade noch mit seinem Gewehr auf den Hasen gezielt hatte, sieht sich plötzlich von dessen trüben Augen fixiert, wodurch sich die Rollen von Betrachter und Objekt, von Jäger und Tier umzukehren drohen. Im Todeskampf der Beute spiegelt sich potentiell der zukünftige Tod des Jägers. Die sinnlose Hoffnung des schwer verwundeten Tiers, sich noch einmal zu retten, wird daraufhin zum Zeichen einer geradezu metaphysischen Revolte erhoben. Als reine Kreatur 1 In: Id., Opere , ed. Gioacchino Lanza Tomasi, Nicoletta Polo, Mailand: Mondadori 1996, pp. 3-257, hier p. 103. <?page no="409"?> 410 Manuel Mühlbacher wurde der Hase verwundet, doch als Symbol 2 menschlicher Fluchtversuche und Illusionen geht er zugrunde. Die Zeitvorstellung, die aus diesem Symbol spricht, ist zutiefst pessimistisch: Das menschliche Leben erscheint hier als ein wahnhafter Leerlauf, dem erst der Tod Einhalt gebieten kann. Auf kollektiver Ebene entspräche dem eine Geschichte, die trotz frenetischer Bewegung auf der Stelle tritt. Vor dem Hintergrund dieses melancholischen tableau mouvant erscheint auch der Fortschrittsglaube des Risorgimento wie eine verzweifelte Illusion. Wem die symbolische Überhöhung des Todeskampfs zuzuschreiben ist, lässt sich nicht ohne Weiteres entscheiden. Geht der Vergleich - „come tanti uomini“ - von der Erzählerperspektive aus, die dem Leser eine metaphysische Dimension eröffnet, an der die Figuren nicht teilhaben? Don Fabrizio würde den Hasen dann nur als Tier bedauern, während ihn der Leser als Repräsentant der gesamten conditio humana verstehen kann. Wenn Don Fabrizio in der gesamten Textstelle aber als ein unauffälliger Fokalisator („si vide fissato“) fungierte, dann wäre es sein Blick, der aus den klaffenden Wunden des Tiers ein Symbol menschlichen Leidens macht. Die eingeschaltete Erwähnung der zärtlichen Geste, die der Prinz dem Hasen zukommen lässt („polpastrelli pietosi“), könnte durchaus darauf hindeuten, dass seine Identifikation mit dem Tier über das Symbol vermittelt ist, während Don Ciccio sich auf die Freude am reinen Töten beschränkt. Doch wenn Don Fabrizio im Todeskampf des Hasen ein Zeichen seines eigenen Verderbens sähe, wie könnte er dann eine persönliche Befriedigung daraus ziehen? Gerade am Ende des Absatzes - „ma Don Fabrizio e Tumeo avevano avuto il loro passatempo“ - scheint sich der Erzähler noch einmal von der lustorientierten und beschränkten Perspektive der Figuren zu distanzieren, denn als metaphysisches Symbol ist der Hase sicher kein bloßer Zeitvertreib. Wem ist das Symbol also zuzuschreiben: Don Fabrizio oder dem Erzähler? Diese Frage soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. 3 2 Ob das hier beschriebene Bild ein Symbol oder eine Allegorie ist, hängt natürlich davon ab, wie man diese Begriffe definiert. Diese Frage soll zunächst eingeklammert und am Ende des Beitrags in Rückgriff auf Paul de Mans Rhetorik der Zeitlichkeit neu gestellt werden. Bis dahin wird - dem Wortlaut des Textes folgend - von einem Symbol gesprochen. 3 In der Forschung ist immer wieder auf das „bestiario gattopardiano“ hingewiesen worden. Die Kommentare zur soeben zitierten Szene sind jedoch kursorisch und gehen an den Fragen vorbei, die hier aufgeworfen werden. Zur hier kommentierten Szene cf. Emanuele Cutinelli-Rèndina, „Sorrisi degli animali e ghigni degli uomini nel Gattopardo di Giuseppe Tomasi di Lampedusa“, in: Bollettino di italianistica 2 (2016), pp. 56-69, hier p. 63sq.; Nunzio La Fauci, Lo spettro di Lampedusa , Pisa: ETS 2001, p. 68sq.; sowie allgemein Maria Pagliara-Giacovazzo, Il Gattopardo o la metafora decadente dell'esistenza , Lecce: Milella 1983, pp. 115-159. <?page no="410"?> Tierwelt und Zeiterfahrung in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo 411 Ausgehend von der beruhigenden („rassicurante“) Lust am Mitleid lässt sich die zitierte Stelle in den Roman einbetten und mit der psychischen Dynamik verbinden, die Don Fabrizio antreibt. In den zahlreichen Unannehmlichkeiten, die ihm aus der politischen Situation des Risorgimento und aus den privaten Angelegenheiten seiner eigenen Familie erwachsen, kann Fabrizio keinen Zweck erkennen; die strukturlose Beweglichkeit seiner Sorgen besitzt kein Telos, das sie erklären könnte: „[sperava] di scorgere nelle loro evoluzioni un qualsiasi senso di finalità che potesse rassicurarlo; e non ci riusciva“ (p. 95). Wenn sich die über ihn hereinbrechenden Ereignisse nicht mehr rationalisieren lassen und die Unruhe unerträglich wird, greift Fabrizio stets zu kompensierenden Handlungen, mit deren Hilfe er seine Sorgen wieder „in zone non coscienti“ (p. 64) verdrängt - die Figurenpsychologie ist offensichtlich psychoanalytisch angelegt, wie auch ein expliziter Verweis auf Freud nahelegt (cf. p. 110). Schon in Palermo, wo er der langsamen Erosion des Familienvermögens tatenlos zusieht und vom schnellen Vorrücken der „garibaldiani“ überrascht wird, vergleicht er sein eigenes Interesse an der Astronomie mit der anästhetisierenden Wirkung des Morphins, „che permetteva di non soffrire durante le operazioni più crudeli, di rimanere sereni fra le sventure“ (p. 42). Die abstrakte Wissenschaft von den Himmelskörpern ist für ihn das Betäubungsmittel, mit dessen Hilfe er den irdischen Machtverlust seiner Familie sowie die damit einhergehenden sozialen Demütigungen erträgt. Die Selbstbetäubung qua Abstraktion ist eine Flucht vor der melancholischen Zeiterfahrung, der Fabrizio ausgesetzt ist; in letzter Konsequenz fällt sie mit dem Todestrieb zusammen, mit dem Streben nach Selbstauslöschung und Reizlosigkeit: „vivere questa vita dello spirito nei suoi moment più astratti, più simili alla morte“ (p. 51). In den Sommer- und Herbstmonaten, die auf die Landung Garibaldis am 11. Mai 1860 folgen, zieht sich der Prinz mit seiner Familie nach Donnafugata, einen Landsitz der Salina zurück, wo auch die eingangs zitierte Jagdszene stattfindet. Auch wenn Fabrizio dort auf die betäubende Wirkung des heimischen Observatoriums verzichten muss, lässt sich seine Reise nach Donnafugata - wie schon der Name besagt - ebenfalls als Flucht vor dem historischen Wandel und dem Dahinschwinden seines sozialen Prestiges verstehen. Im Kernland der Salina scheint der „senso di possesso feudale“ (p. 60) alle politischen Umwälzungen unbeschadet überstanden zu haben. Doch die Flucht scheitert, denn auch hier wird Fabrizio von der „stupefacente accelerazione della storia“ (p. 99) überrascht: Einerseits wird ihm sein eigenes Alter schmerzhaft bewusst, als seine Kinder ins Erwachsenenalter eintreten (cf. p. 73), andererseits sieht er sich auf Bitten seines Neffen und Ziehsohns Tancredi gezwungen, über dessen Eheschließung mit Angelica, der Tochter des skrupellosen Parvenüs Don Calogero Sedàra, zu verhandeln. <?page no="411"?> 412 Manuel Mühlbacher Da er auch im einstmals feudalen Donnafugata nicht umhinkommt, sich mit den neuen politischen Gegebenheiten und der Perspektive seines eigenen Alterns auseinanderzusetzen, flieht Fabrizio ein weiteres Mal. Diese Flucht führt ihn nicht auf einen noch entlegeneren Landsitz, sondern in die sizilianische Wildnis, wo er sich auf die Jagd begibt. Die „boscaglia“ (p. 102) ist ein von der menschlichen Kultur unberührter und außerhalb jedes historischen Wandels stehender Raum. Er ist nicht nur zeitlos, sondern für einen menschlichen Betrachter im Grunde auch formlos - ein Ort, der sich gerade durch den Verlust aller raum-zeitlichen Koordinaten auszeichnet: „L’aspetto di un’aridità ondulante all’infinito, in groppe sopra groppe, sconfortate e irrazionali delle quali la mente non poteva afferrare le linee principali, concepite in una fase delirante delle creazione“ (p. 104). Die amorphe Zeitlosigkeit der sizilianischen Landschaft ist für Fabrizio nur ein neues Morphin, durch das er vor dem Bewusstsein des unaufhaltsamen Wandels zu fliehen versucht: „il diletto dei giorni di caccia era […] nel fuggire“ (p. 93sq.). Mit dem Schuss auf den Hasen erreicht diese Fluchtbewegung ihren vorläufigen Zielpunkt - die räumliche Flucht geht in eine psychische über, insofern die Lust am Töten und am