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Standardsprache und Variation

0812
2019
978-3-8233-9268-2
978-3-8233-8268-3
Gunter Narr Verlag 
Christa Dürscheid
Jan Georg Schneider

Im Band wird einleitend der Begriff Standardsprache erläutert und als Gebrauchsstandard konzeptualisiert. Die anschließenden Kapitel stellen die Entwicklung der deutschen Standardsprache dar und behandeln Standardsprachideologien. Danach wird ein Überblick über die Unterschiede zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Gebrauchsstandard gegeben und das Verhältnis zwischen Norm und Variation illustriert. Anschließend liegt der Schwerpunkt auf einer Diskussion der Faktoren, die zu sprachlicher Variation führen können. Das Abschlusskapitel widmet sich der diatopischen Variation im Standarddeutschen (z.B. Österreich, Deutschland, Schweiz). Der Band wendet sich an Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft und kann auch im gymnasialen Oberstufenunterricht eingesetzt werden.

<?page no="2"?> Lösungsvorschläge zu den Aufgaben verfügbar unter: www.meta.narr.de/ 9783823382683/ Loesungen.pdf <?page no="3"?> Christa Dürscheid / Jan Georg Schneider Standardsprache und Variation <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr-starter.de www.narr-studienbuecher.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 2509-6036 ISBN 978-3-8233-8268-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9268-2 (ePDF) <?page no="5"?> Inhalt 1. Was ist Standardsprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1 Grundtendenzen in der Standardisierung im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Historisches zur Standardisierung von Rechtschreibung und Aussprache . . . . . . . . . 17 2.3 Ein Standarddeutsch oder mehrere? Historische Unterschiede zum Französischen 22 3. Standardsprachideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1 Zum Diskriminierungspotenzial von Sprachideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.2 Sprache als „ symbolisches Kapital “ . . . . . . . . 33 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4.1 Geschriebenes Standarddeutsch als „ Leitvarietät “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.2 Besonderheiten des gesprochenen Standarddeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5. Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5.1 Zum Normenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5.2 System und Norm in der Grammatik . . . . . 55 narr-starter.de <?page no="6"?> 5.3 System und Norm in der Orthographie . . . . 59 6. Variation, Varianten, Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . 63 6.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 6.2 Variations-, Varietäten- und Soziolinguistik 64 6.3 Dimensionen der Variation . . . . . . . . . . . . . . . 69 7. Diatopische Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 7.1 Standardsprache vs. Dialekt . . . . . . . . . . . . . . 72 7.2 Variation in der Lexik und der Grammatik 78 7.3 Variantenpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Inhalt 6 narr-starter.de <?page no="7"?> 1. Was ist Standardsprache? In unserem Alltag gibt es zahlreiche Situationen, in denen wir bestimmten Handlungsmustern folgen. So grüßen wir einander auf eingespielte Weise, bedanken und entschuldigen uns mit bestimmten Formeln. In Zeiten gesellschaftlichen und technologischen Wandels sowie interkultureller Einflüsse kommt es zur Veränderung und Ausdifferenzierung solcher Muster und je nach Situation zu Unsicherheiten, wie man sich verhalten solle. Manche umarmen sich zur Begrüßung, andere umarmen und küssen sich auf die Wangen, andere begrüßen sich nur verbal, andere geben sich die Hände - auch dabei gibt es eine große Variationsbreite. Wenn sich Menschen begegnen, die einander zwar oberflächlich kennen, aber nicht durch feste Normen oder kommunikative Routinen miteinander verbunden sind, dann kann es hier mitunter zu unsicherem, ungelenkem Verhalten kommen. Ähnlich unsicher sind wir nicht selten, wenn es um das Duzen oder Siezen geht. Während es früher selbstverständlich war, dass Erwachsene, die einander nicht kennen, sich siezen, ist auch dies durch den gesellschaftlichen Wandel seit den ‚ 68ern ‘ komplexer geworden. In bestimmten Berufen, etwa im Werbe- und IT-Bereich, ist das Duzen angesagt, und so auch in manchen alternativen Kindertagesstätten, wo sich die Eltern von vornherein duzen. Bei IKEA wird man schon auf den Werbeplakaten damit konfrontiert, dass man hier - vermutlich auch durch skandinavische Einflüsse bedingt - geduzt wird ( „ Wohnst du noch oder lebst du schon? “ ). Auch das Alter ist kein zuverlässiger Anhaltspunkt mehr, ob die narr-starter.de <?page no="8"?> Du- oder Sie-Anrede angemessen ist: Wenn eine etwa Zwanzigjährige am Sparkassenschalter von einer Gleichaltrigen bedient wird, so ist das Siezen wohl nach wie vor die unmarkierte Anredeform, während sich die beiden wahrscheinlich auf einer Party duzen würden. 1 Zudem gibt es auch regionale Unterschiede (vgl. dazu Kap. 7.3) und solche zwischen Großstädten und ländlicheren Gegenden. In solchen Situationen, die hier nur beispielhaft genannt wurden, stellen sich viele Menschen täglich die Frage: Wie soll ich mich verhalten? In diesen Fällen würde uns ein Standard im Sinne einer allgemein anwendbaren, als ‚ normal ‘ angesehenen Praxis, die man getrost erst einmal anwenden kann, vermutlich entlasten und sicherer machen. Dies alles haben wir hier beschrieben, um in einer ersten Näherung zu veranschaulichen, was wir allgemein unter einem Standard verstehen und wozu er gut ist: Der Standard ist dasjenige, was man zunächst einmal ohne Bedenken verwenden kann, die Pflicht, nicht die Kür, das etwas Langweilige, nicht Originelle, aber doch Praktische - wie das Standardzimmer einer Hotelkette, bei dem man, gleich in welcher Stadt man ist, weiß, was einen in etwa erwartet. 1 In diesem Band verwenden wir wahlweise die feminine Form, die maskuline Form oder die Beidnennung. Auch sei die Fußnote dazu genutzt, Gerard Adarve ganz herzlich für seine genauen Korrekturarbeiten zu danken. 1. Was ist Standardsprache? 8 narr-starter.de <?page no="9"?> Bezogen auf Sprache können wir nun in einem ersten Zugriff sagen: Die deutsche Standardsprache (das Standarddeutsche) ist diejenige Ausprägung der deutschen Sprache, die man verwenden würde, wenn man beispielsweise einem Nicht-Ortsansässigen aus einer anderen Region oder einem Menschen, der Deutsch als Fremdsprache lernt, den Weg zum Bahnhof erklären würde. Es ist das, was man in der Alltagssprache auch ‚ Hochdeutsch ‘ nennt: die Sprachform, die man im Gesprochenen und im Geschriebenen überregional auch in formelleren Situationen verwendet, im Unterschied etwa zur sogenannten Umgangssprache und zu den Dialekten. In der Sprachwissenschaft ist man schon seit Jahrzehnten dazu übergegangen, diesbezüglich nicht von ‚ Hochdeutsch ‘ bzw. ‚ Hochsprache ‘ , sondern von ‚ Standarddeutsch ‘ bzw. ‚ Standardsprache ‘ zu sprechen. Dies hat unter anderem mit der starken Wertung des Ausdrucks Hochdeutsch und der damit verbundenen unberechtigten Abwertung von Dialekten zu tun (vgl. Kap. 3). Außerdem vermeidet man so eine problematische Doppeldeutigkeit, da der Terminus Hochdeutsch in der historischen (diachronen) Linguistik anders verwendet wird. Hier bezeichnet er die süddeutschen Dialekte (z. B. Mittelhochdeutsch), die die sogenannte Zweite Lautverschiebung vollzogen haben. Bei der Zweiten Lautverschiebung hat sich z. B. der Konsonant / p/ in bestimmten sprachlichen Kontexten zu einer sogenannten Affrikate / pf/ entwickelt. So heißt es im Niederdeutschen Appel, im Hochdeutschen Apfel. 1. Was ist Standardsprache? 9 narr-starter.de <?page no="10"?> Obwohl die Standardsprache im beschriebenen Sinne etwas unoriginell ist, bringt sie ihren Nutzerinnen doch klare Vorteile: Wer den Standard beherrscht, kann sich in ungewohnten Situationen und Gruppen daran orientieren und bei passender Gelegenheit dann auch davon abweichen. Gerade mit Bezug auf das gesprochene Deutsch ist allerdings in der Linguistik durchaus umstritten, ob überhaupt von einem Standard die Rede sein kann und - wenn ja - wie dieser zu bestimmen sei (vgl. dazu Kap. 2 bis 4). Andererseits hat aber auch der gesprochene Standard große Relevanz für Lehrkräfte - wird doch sogar in den bundesdeutschen Bildungsstandards für das Schulfach Deutsch „ in der Standardsprache sprechen “ als Anforderung an die mündliche Darstellung in der Schule ausdrücklich genannt (vgl. KMK, 8 und 19). Die „ Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Abschluss “ sind das Ergebnis eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 4. Dezember 2003. Sie definieren die durch den Unterricht zu erzielenden Kompetenzen und sind als bundesweite Standards gedacht, während die Lehrpläne Ländersache sind. Und auch für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache (DaZ und DaF), wo ja die deutsche Standardsprache in ihren schriftlichen und mündlichen Formen vermittelt werden soll, ist das Thema gesprochener Standard relevant. Auch aus diesen Gründen ist es wichtig, dass die Sprachwissenschaft das geschriebene und das gesprochene Standarddeutsch erforscht. Wie geht sie dabei vor? In der Linguistik im Allgemeinen und auch z. B. beim Duden ist es heute üblich, empirisch - d. h. auf einer Datengrundlage - zu arbeiten. Man bildet große Textsammlungen (Korpora) 1. Was ist Standardsprache? 10 narr-starter.de <?page no="11"?> und wertet aus, wie häufig ein bestimmtes sprachliches Phänomen vorkommt. Hierbei ist natürlich die Zusammenstellung des jeweiligen Korpus von entscheidender Bedeutung. Bei der Suche nach geeigneten Texten und Gesprächen hält man nach standard-affinen Kontexten Ausschau, also solchen, in denen Standard tendenziell erwartet wird (vgl. Kap. 4). Im Vorwort des Duden 9 (Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle) von 2016 heißt es hierzu: Mit der Kennzeichnung von sprachlichen Varianten als zur geschriebenen Standardsprache gehörig möchten wir folglich denjenigen ein Angebot zur Orientierung unterbreiten, die im Kontext des beruflichen oder privaten Schreibens eine unauffällige sprachliche Form suchen. Zudem verweisen wir an einigen Stellen auch auf Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Standarddeutsch [. . .]. Wichtig ist, dass das geschriebene und das gesprochene Standarddeutsch in der modernen Wörterbuch- und Grammatikschreibung nicht - wie früher die ‚ Hochsprache ‘ oder das ‚ Hochdeutsche ‘ - als präskriptive, also vorgeschriebene, idealisierte Normgefüge, sondern als Gebrauchsstandards, als Standardvarietäten des Deutschen angesehen werden - als diejenigen Varietäten nämlich, die wir im Deutschen auch in überregionalen, formelleren Kontexten tatsächlich verwenden und als unauffällig akzeptieren. Diese Standardvarietäten sind in den letzten Jahrzehnten, spätestens seit den 1968ern, informeller geworden. So gibt es ein „ größeres stilistisches Ausdrucksspektrum “ ; die „ klassische Norm “ wird „ zwar nicht verdrängt, aber die Variationsbreite nimmt kontinuierlich zu “ (Mattheier 1997, 2). 1. Was ist Standardsprache? 11 narr-starter.de <?page no="12"?> In diesem einleitenden Kapitel war schon mehrfach von Normen die Rede. Es stellt sich nun noch die Frage, wie sich Gebrauchsstandards und Gebrauchsnormen zueinander verhalten. Der grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass Normen in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten eine Rolle spielen (vgl. Kap. 5.1). Auch Jugendliche entwickeln in ihren peer-groups Normen, verwenden beispielsweise bestimmte Grußformeln und jugendsprachliche Ausdrücke. Standard dagegen nennen wir - wie gesagt - nur dasjenige, was auch in überregionalen, formelleren Kontexten üblich und unauffällig ist. Im Zweifelsfälle-Duden heißt es dementsprechend, die Standardsprache sei „ universaler einsetzbar, in ihrer Verwendung nicht auf bestimmte Kontexte beschränkt “ (Duden 9 2016, Vorwort). Hieraus erklärt sich auch, warum die Beherrschung der Standardsprache wichtig ist: Linguistisch betrachtet handelt es sich dabei zwar um eine Varietät neben anderen (etwa den Dialekten); in beruflichen, karriererelevanten Kontexten ist es aber von Vorteil, ein standardnahes Schreiben und Sprechen zu beherrschen. Gerade die Fähigkeit, zwischen Standard und anderen Varietäten je nach kommunikativer Situation zu wechseln, also verschiedene ‚ Register ‘ ziehen zu können, ist Ausdruck einer differenzierten, entwickelten Sprachkompetenz. Oder wie der Linguist Ludwig Eichinger es einmal prägnant formuliert hat: „ Wer fest steht, kann sich freier bewegen “ (vgl. den Titel seines Aufsatzes von 2005). Der vorliegende Band ist wie folgt aufgebaut: Nach dieser kurzen allgemeinen Einführung wird in Kap. 2 die Standardisierung des Deutschen aus historischer Sicht dargestellt, bevor Kap. 3 über verschiedene Standardsprachideologien informiert. In Kap. 4 arbeiten wir die Unterschiede 1. Was ist Standardsprache? 12 narr-starter.de <?page no="13"?> und Gemeinsamkeiten zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Standarddeutsch heraus, in Kap. 5 gehen wir auf den Begriff der Norm, speziell in der Grammatik und der Orthographie, ein. Sodann werden die Begriffe ‚ Variation ‘ , ‚ Variante ‘ und ‚ Varietät ‘ , auch in Abgrenzung zu ‚ Standard ‘ und ‚ Norm ‘ , genauer betrachtet (Kap. 6). Das Abschlusskapitel widmet sich der diatopischen, also geographischen Variation im Standarddeutschen (Kap. 7). Aufgaben zu Kap. 1 Überlegen und recherchieren Sie, in welchen verschiedenen Bedeutungen wir das Wort Standard im Deutschen gebrauchen. Verwenden Sie bei Ihrer Recherche auch Suchmaschinen und schauen Sie, in welchen Kontexten das Wort Standard vorkommt. Diskutieren Sie in einer Gruppe, welche Begrüßungsrituale Sie kennen und benutzen. Zeigen sich dort manchmal Unsicherheiten wie in Kap. 1 beschrieben? Wie verhält es sich nach Ihren Erfahrungen mit dem Duzen und Siezen? Fallen Ihnen andere Bereiche ein, wo es wegen unklarer Konventionen gelegentlich zu Unsicherheiten kommt? 1. Was ist Standardsprache? 13 narr-starter.de <?page no="14"?> 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 2.1 Grundtendenzen in der Standardisierung im Deutschen Der Beginn der deutschen Standardsprache, d. h. zunächst: einer sich allmählich standardisierenden Schriftsprache (vgl. Schmidlin 2011, 54), ist im Spätmittelalter anzusetzen, und zwar nach der Erfindung der Druckerpresse im Jahre 1450. Eine immer wieder zu Recht betonte zentrale Rolle spielte auch Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments. Diese wurde im Jahr 1522 abgeschlossen und war ohne Zweifel ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Standardsprache. Luther hatte großen Einfluss auf die Entwicklung und Verbreitung einer frühen Schriftsprache des Deutschen, die als Ausgleichssprache fungierte, d. h. als eine Varietät, die zwischen regionalen Varietäten vermittelte und damit zur überregionalen Verständigung beitrug. Es handelte sich dabei um eine Mischung von Vokabular vor allem aus ostmitteldeutschen und ostoberdeutschen Dialekten, weniger z. B. aus dem Niederdeutschen. Dabei spielte es auch eine nicht unerhebliche Rolle, dass gerade das Ostmitteldeutsche, insbesondere das Meißnische Obersächsisch, in den Druckereien präferiert verwendet wurde. Diese Ausgleichssprache, auch Meißner oder sächsische Kanzleisprache genannt, die insbesondere durch Johann Christoph Adelung und Johann Christoph Gottsched lexikographisch festgehalten und didaktisiert wurde, bildete die Grundlage für die Entwicklung einer Standardsprache im Deutschen. narr-starter.de <?page no="15"?> Der Ausdruck Kanzleisprache bezeichnet den administrativen Schriftsprachgebrauch, der im Falle des Deutschen (und auch vieler anderer Sprachen) maßgeblich zur Standardisierung beigetragen hat. Im Metzler Lexikon Sprache heißt es hierzu: Die verschiedenen Kanzleisprachen „ streben trotz aller regionalen Unterschiede einen überregionalen Ausgleich an, ihnen wird deshalb für die Herausbildung der nhd. Schriftsprache eine wichtige Rolle zugeschrieben “ (Glück/ Rödel 2016, 320). Hierbei war also die geschriebene Sprache stets der Hauptorientierungspunkt und der Bereich, in dem die Standardisierung vorangetrieben wurde. Dies galt bereits für frühe Normierungsansätze Mitte des 17. Jahrhunderts, wie sie etwa durch die Teutsche Sprachkunst (1641) von Justus Georg Schottelius, der auch den Begriff der „ Grundrichtigkeit “ prägte und sich intensiv mit sprachlichen Zweifelsfällen beschäftigte (vgl. Klein 2018, 50), sowie durch die Grund-Sätze der Deutschen Sprachen im Reden und Schreiben (1690) von Johann Bödiker repräsentiert sind. Relevante Beiträge zur Standardisierung und Kodifizierung der deutschen Grammatik stellten auch Leibniz ’ Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (um 1697) sowie Gottscheds Werk Grundlegung einer deutschen Sprachkunst (1748) dar (vgl. Klein 2018, 49 - 54). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der oben bereits erwähnte Bibliothekar, Lexikograph und Germanist Adelung, der ebenso wie Gottsched und wie viele andere Zeitgenossen die Dominanz des Obersächsischen, genauer gesagt: des Meißnischen, betonte - mit der Begründung, dass diese Varietät seit der Reformation zu der gelehrten „ Mundart “ des Deutschen geworden sei, „ weil fast 2.1 Grundtendenzen in der Standardisierung im Deutschen 15 narr-starter.de <?page no="16"?> alle wohlgesittete [sic] Leute sich derselben bedienen “ (Adelung 1771, 66 f.; zitiert nach Schmidlin 2011, 57). Eine Gegenposition vertrat sein Zeitgenosse Christoph Martin Wieland: Nicht eine bestimmte regionale Varietät des Deutschen sei als Bezugspunkt zu wählen, sondern die Sprache der besten Schriftsteller (vgl. Schmidlin 2011, 57) - eine Vorstellung, die sich in Bezug auf das Französische auch bei Claude Favre de Vaugelas findet, der den guten Gebrauch der geschriebenen Sprache vor allem bei den besten Schriftstellern verortet (vgl. Vaugelas 1647, Vorwort). Die Frage, ob eher bestimmte regionale Varietäten oder Modellschreiber bzw. -sprecher (d. h. Vorbilder, an denen sich die Normierung orientiert) oder bestimmte Textsorten als Quelle für das Standarddeutsche anzunehmen seien, setzt sich im Grunde bis heute fort (vgl. Kap. 4). Zusammenfassend lässt sich bis hierher sagen: Die sächsische Kanzleisprache und die Meißnische Mundart entwickelten sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Vorbild für ein korrektes Deutsch. Sachsen und Brandenburg galten vielen als „ fortschrittlichste und kultivierteste “ Länder, der Süden wurde eher geringgeschätzt und für „ unaufgeklärt “ gehalten (vgl. Schmidlin 2011, 59). Zudem hatten einzelne Autoren, nämlich vor allem die oben genannten von Luther über Leibniz bis Adelung und Wieland, großen Einfluss auf diese Entwicklung (vgl. hierzu Klein 2018, 57 ff.). Die sprachliche Standardisierung lässt sich somit als Ergebnis eines jahrhundertelangen, komplexen Prozesses begreifen. Treibende Kraft war dabei der Ausgleich verschiedener lokaler Schreibsprachen mit ihren ostmitteldeutschen, ostoberdeutschen, aber in geringerem Maße auch westmitteldeutschen und niederdeutschen Varianten. Diese lokalen Schreibsprachen schlos- 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 16 narr-starter.de <?page no="17"?> sen sich zu „ überregionalen Schreiblandschaften “ zusammen (vgl. Schmidlin 2011, 62). Diese Standardisierung (d. h. die sprachliche Vereinheitlichung und der Abbau von Variation) wurde auch durch das visuelle und starre Medium Schrift ermöglicht: Objektiv vor Augen tretende Texte steigerten das Bewusstsein dafür, dass es überhaupt Varianten in der deutschen Sprache gab, und luden dazu ein, sie miteinander zu vergleichen. Die gesteigerte „ Variantenaufmerksamkeit “ förderte denn auch die Diskussionen über sprachliche Zweifelsfälle und führte letztlich zur „ Variantenselektion “ , einem zentralen Faktor bei der Standardisierung (vgl. Klein 2018, 44 und 33 ff.). 2.2 Historisches zur Standardisierung von Rechtschreibung und Aussprache Von einer einheitlichen Orthographie kann bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht die Rede sein. Bemühungen, die in diese Richtung gingen, begannen erst mit der Gründung des deutschen Reiches 1871 und der Einführung der allgemeinen (zumindest intendierten, aber zunächst schwer durchsetzbaren) Schulpflicht in ganz Deutschland. 1876 fand die I. Orthographische Konferenz statt. Sie setzte sich vor allem aus Vertretern einer gemäßigten phonetischen Schreibung zusammen, die forderten, dass eine möglichst eindeutige Zuordnung von Buchstaben (genauer: Graphemen) und Lauten (Phonemen) realisiert werden solle (vgl. Dürscheid 2016, 169 - 174). Die Konferenz fasste u. a. den weitreichenden Beschluss, gänzlich auf Vokallänge-Markierungen zu verzichten (vgl. wülen, Har, Par, Folen, ungefär). Unter anderem dies führte allerdings zu so großen Protesten, dass die Beschlüsse der I. Orthographiekonferenz nicht 2.2 Historisches zur Standardisierung von Rechtschreibung und Aussprache 17 narr-starter.de <?page no="18"?> umgesetzt wurden (vgl. Nübling et al. 2013, 238). Anders war es bei der II. Orthographischen Konferenz im Jahr 1901, die diesen radikalen Vorschlag zurücknahm, aber alles andere beschloss, was bereits 1876 geplant war. Dazu gehörte z. B. die Abschaffung von <th> beim sogenannten Erbwortschatz (d. h. bei Nicht-Fremdwörtern, vgl. Thier/ Tier). In Fremdwörtern wie Apotheke wurde die <th>-Schreibung dagegen beibehalten, in Fremdwörtern mit <c> je nach Lautung <k> oder <z> geschrieben (vgl. Casse/ Kasse, Medicin/ Medizin). Die Endungen (Suffixe) <-niß> und <-iren> wurden generell zu <-nis> und <-ieren>, und <ey> schrieb man nun <ei> (vgl. Nübling et al. 2013, 238). Das daraus resultierende Regelwerk, welches 1902 in Kraft trat und auch von Österreich und der Schweiz akzeptiert wurde, wurde u. a. im Rechtschreib-Duden umgesetzt und galt bis zum Inkrafttreten der amtlichen Regelung im Jahre 1998. Viele linguistische Laien halten deshalb den Dudenverlag für eine staatliche Instanz. Dieser war aber nie etwas anderes als ein Privatunternehmen (ausführlicher hierzu Klein 2018, 79 f.). Allerdings genoss er bei der Sprachnormierung historisch ein hohes Prestige, und die „ Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder “ fasste im Jahre 1955 denn auch den Beschluss, dass in Zweifelsfällen die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich seien. Eine amtliche Neuregelung wurde aber erst 1996 beschlossen und - nach vielen öffentlichen Auseinandersetzungen - im Jahr 2006 nochmals reformiert. Festzuhalten ist hier, dass die Orthographie heute der einzige amtlich geregelte Bereich der deutschen Standardsprache ist (vgl. dazu ausführlich Kap. 5.1). Noch etwas später als die Normierung und Kodifizierung der Orthographie begannen institutionalisierte Bemühun- 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 18 narr-starter.de <?page no="19"?> gen um die korrekte Aussprache (Orthoepie) des Standarddeutschen: Im Jahre 1898 wurde eine Kommission mit Vertretern des deutschen Bühnenvereins und aus der Wissenschaft gegründet, die von Theodor Siebs initiiert und geleitet wurde. Die Ergebnisse der Beratungen hielt Siebs in seinem berühmten Regelwerk Deutsche Bühnenaussprache fest. Mit der 19. Auflage wurde der Buchtitel 1969 in Deutsche Aussprache geändert und neben einer ‚ reinen Hochlautung ‘ auch eine ‚ gemäßigte ‘ zugelassen. ‚ Der Siebs ‘ ist wohl das historisch einflussreichste Werk zur deutschen Standardaussprache. Wie der frühere Titel anzeigt, war dieses Werk ursprünglich nur zur Normierung der Bühnensprache ausgelegt, wurde dann aber vielen zum Maßstab für eine korrekte, ‚ reine ‘ Aussprache des Deutschen überhaupt. Bei Siebs, der selbst aus Bremen stammte, ist eine klare Bevorzugung nordwestdeutscher Aussprachevarianten zu verzeichnen, z. B. die Aussprache von -ig am Wortende als -ich (riesig = ri: z ɪ ç). Zu beachten ist hier, dass Siebs bei seiner Darstellung der Standardlautung - trotz anderer eigener Bekundung (vgl. Seifert 2015, 218 - 227) - größtenteils nicht empirisch, sondern präskriptiv vorging und zum Teil auch von subjektiven Entscheidungen geleitet wurde. Sofern er überhaupt von Sprachbeobachtungen ausging, so waren diese auf die Aussprache von Schauspielern auf der Bühne begrenzt. Seine Bevorzugung nordwestdeutscher Aussprachevarianten steht im Einklang mit der bis heute verbreiteten Laien-Vorstellung, in Hannover werde das ‚ beste Hochdeutsch ‘ gesprochen. Diese Idee einer nordwestdeutschen Überlegenheit im Hinblick auf die Orthoepie geht bis mindestens in die Zeit der Weimarer Klassik zurück. In seinem Text „ Regeln für Schauspieler “ empfiehlt bereits Johann Wolfgang von Goethe die 2.2 Historisches zur Standardisierung von Rechtschreibung und Aussprache 19 narr-starter.de <?page no="20"?> nordwestdeutschen, „ reinen “ Aussprachevarianten ausdrücklich für die Bühnensprache (vgl. Seifert 2015, 212). Dass das Theaterwesen bei der Entwicklung einer Standardlautung im Deutschen so zentral war, liegt wiederum daran, dass es keine einheitliche Sprache, sondern eine Vielzahl von Dialekten gab und dass auch die allmähliche Herausbildung einer überregionalen Schreibsprache - wie oben erläutert - noch eine recht neue Entwicklung darstellte. Bedingt durch „ die Zusammensetzung der Ensembles und häufige Ortswechsel bei den Schauspielern “ bestand beim Theater in besonderer Weise „ die Notwendigkeit einer überregional einheitlichen und allgemein verständlichen Aussprache “ (Seifert 2015, 211). Dass sich hierbei die nordwestdeutschen Aussprachevarianten bei der Kodifizierung der Standardlautung und bei der Sprecherausbildung historisch mehrheitlich durchgesetzt haben, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass schon früh einflussreiche Theatermacher wie Goethe diese subjektiv bevorzugten und sich für sie stark machten. So sagte Goethe etwa im Gespräch mit Eckermann am 5. Mai 1824: Die Aussprache der Norddeutschen ließ im Ganzen wenig zu wünschen übrig. Sie ist rein und kann in mancher Hinsicht als musterhaft gelten. (Eckermann 1986, 495, zitiert nach Seifert 2015, 212) Wenngleich Aussprachewörterbücher heute empirischer geworden sind, stehen sie in gewisser Hinsicht immer noch in der Tradition der normativen Siebs ’ schen Bühnenlautung. In seiner aktuellen, siebten Auflage hat beispielsweise der Aussprache-Duden (Duden, Band 6) die Suffix-Aussprache [ ɪ ç] als Grundvariante beibehalten. Bei den Einzelwörtern wird ausschließlich diese Lautung angegeben. Um zu bemerken, dass beim Duden mittlerweile auch [ ɪ k] als Stan- 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 20 narr-starter.de <?page no="21"?> dardvariante anerkannt wird, muss man eigens den Wörterbucheintrag (das Lemma) „ -ig-Aussprache im Wortnebenton “ aufsuchen, wo man hierzu allgemeine Informationen findet (vgl. Duden 6 2015, 462). Doch sei noch angemerkt, dass für die aktuelle Auflage eine Online-Umfrage durchgeführt wurde, bei der die Duden-Mitarbeiter unter anderem abfragten, welche Varianten etwa bei der Betonung von Fremdwörtern als gängig angesehen werden. Dies zeigt, dass der Aussprache-Duden mittlerweile den Anspruch hat, empirisch fundiert zu sein und weniger präskriptiv gelesen zu werden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Aussprachewörterbücher nicht unbedingt einen Gebrauchsstandard abbilden, sondern eher für die Ausbildung von Radio- und Fernsehsprecherinnen und -sprechern einsetzbar sind. Sie repräsentieren damit eher die angestrebte Aussprache von Berufssprechern als einen allgemeinen Standard. Würde man in alltäglichen Situationen, sogar in formelleren, immer so artikulieren, wäre dies eher als eine Art Hyperkorrektheit, also eine Überartikulation, zu betrachten. Ein gesprochener Aussprachestandard hat sich also, wenn überhaupt die Rede davon sein kann, erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, auch durch den zunehmenden Einsatz von Massenmedien und die Vorbildfunktion von Modellsprechern, entwickelt. Da die Aussprache des Deutschen sehr variabel ist und es auch in standard-affinen Gesprächs- und Redesituationen viele feine regionale Akzente gibt, ist die Ermittlung eines einheitlichen Gebrauchsstandards im Grunde aussichtslos. Etwas anders verhält es sich im Bereich der Grammatik, wo es ebenfalls Besonderheiten des Mündlichen gibt, die allerdings empirisch besser handhabbar sind (vgl. hierzu Kap. 4). 2.2 Historisches zur Standardisierung von Rechtschreibung und Aussprache 21 narr-starter.de <?page no="22"?> 2.3 Ein Standarddeutsch oder mehrere? Historische Unterschiede zum Französischen Anders als in Deutschland, wo sich die Standardisierung wie gesagt über Jahrhunderte fast ausschließlich im Schriftlichen herausbildete, bezog sie sich in Frankreich von vornherein sowohl auf das Geschriebene als auch auf das Gesprochene. Dass die Standardisierung und Normierung der Sprache in Frankreich insgesamt deutlich früher einsetzten, hat vor allem damit zu tun, dass sich dort bereits Mitte des 15. Jahrhunderts ein Nationalbewusstsein entwickelte, das durch die Einführung der absolutistischen Monarchie weiter gefestigt wurde (vgl. Settekorn 1988). Latein und regionale Varietäten wurden aus dem Gerichtswesen verbannt, Verhandlungen sollten nur noch in französischer (Standard-)Sprache geführt werden. Der wohl wichtigste Schritt zur Institutionalisierung des Standardfranzösischen war die Gründung der Académie Française im Jahre 1635, zu der es in Deutschland nie eine Entsprechung gab. Einer der Begründer dieser Institution, die bis heute großen Einfluss auf die Normierung des Französischen hat, war Claude Favre de Vaugelas, der den ‚ guten Gebrauch ‘ des Französischen (den bon usage) als den mündlichen Sprachgebrauch am Hofe definierte: Es sei die Sprechweise ( „ la façon de parler “ ) der höfischen Eliten, die der Art des Schreibens ( „ la façon d ’ escrire “ ) der zeitgenössischen Schriftstellerelite entspräche (vgl. Vaugelas 1647, Vorwort). Durch die Französische Revolution und die damit verbundene Idee „ une nation - une langue “ wurde die Tendenz, eine übergeordnete Norm des Französischen festlegen und durchsetzen zu wollen, noch verstärkt. Ein weiterer interessanter Punkt beim Vergleich der Entwicklungen des Deutschen und des Französischen ist 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 22 narr-starter.de <?page no="23"?> die Plurizentrik. Das Französische gilt als eine plurizentrische Sprache, d. h. es gibt neben dem hexagonalen Standardfranzösisch, also dem Französisch in Frankreich, weitere Standardvarietäten: etwa in Belgien und Quebec (vgl. Pöll 2017). Beim Deutschen dagegen ist eine solche Zuschreibung auch aus historischen Gründen umstritten. Ist es aus diachroner Sicht sinnvoll und sachlich angemessen, etwa von einem eigenständigen österreichischen und schweizerischen Standarddeutsch zu sprechen? Auf diese Frage werden wir in Kap. 7 aus gegenwartsbezogener Sicht Bezug nehmen; hier nur einige Bemerkungen aus historischer Perspektive: Deutschschweizer Autoren setzten sich schon im 18. Jahrhundert für ihre Varianten des Deutschen ein. Aber erst mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 entwickelten sich bei den Deutschsprachigen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in Abgrenzung vom jeweils ‚ anderen ‘ so etwas wie nationale, sprachpolitische Identitäten, und in diesem Sinne kann, wenn überhaupt, erst seitdem vom Deutschen als einer plurizentrischen bzw. pluriarealen Sprache die Rede sein. Bereits die erste Auflage des Rechtschreib-Dudens von 1880 enthielt Wörter, die als spezifisch schweizerisch gekennzeichnet wurden. 1915 schrieb der Germanist Otto Behaghel seinen Zeitungsartikel „ Deutsches Deutsch und österreichisches Deutsch “ , der in Österreich und Deutschland veröffentlicht wurde. Seit 1939 gibt es verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschschweizerischen Sprachverein (heute: dem Schweizerischen Verein für die deutsche Sprache, SVDS) und dem deutschen Dudenverlag. Unter anderen der deutsche Sprachwissenschaftler Hugo Moser, Mitbegründer des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim, forschte zu den 2.3 Ein Standarddeutsch oder mehrere? 23 narr-starter.de <?page no="24"?> arealen Besonderheiten des Deutschen außerhalb der Bundesrepublik, wobei er nicht nur Österreich und die Schweiz, sondern auch die DDR und Luxemburg in den Blick nahm. Dies alles kann als Anzeichen einer Plurizentrik gedeutet werden. Es darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Varietäten - auch in der Sprachwissenschaft - historisch nicht als gleichberechtigt behandelt wurden, sondern das ‚ deutschländische ‘ oder ‚ Binnen ‘ -Deutsche in der Regel gar nicht als Varietät, sondern als neutrale, unmarkierte Grundform des Standarddeutschen wahrgenommen wurde; die österreichischen oder schweizerischen Merkmale dagegen wurden als Abweichungen davon gekennzeichnet. Bundesdeutsche Sprecherinnen und Sprecher, insbesondere solche aus Nordwestdeutschland, neigen z. B. bis heute dazu, ihre eigene Varietät als akzentfrei und ‚ rein ‘ anzusehen, die österreichische und schweizerische Aussprache hingegen als ein ‚ Sprechen mit Akzent ‘ wahrzunehmen. Historisch gesehen wurden immer wieder von österreichischer und von Deutschschweizer Seite die Besonderheiten der jeweiligen nationalen Varietäten des Deutschen gepflegt und betont, was aber nicht unbedingt bedeutet, dass Österreicher und Schweizer von einer eigenständigen, abgrenzbaren Standardvarietät in ihren Ländern ausgehen. Austriazismen z. B. werden mitunter auch einfach rhetorisch und kommunikativ zur Abgrenzung und zur Markierung der Kategorie ‚ nicht-bundesdeutsch ‘ eingesetzt (vgl. Glauninger 2015, 38 - 43). Die Frage, ob es tatsächlich nationale Standardvarietäten des Deutschen gibt, stellt sich auch deshalb, weil es gerade in Grenzregionen zum Teil größere grenzüberschreitende Ähnlichkeiten im Sprachgebrauch gibt als innerhalb des jeweiligen 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 24 narr-starter.de <?page no="25"?> Landes. 2 Das in Bayern gesprochene Deutsch ähnelt beispielsweise demjenigen in Österreich partiell eher als dem in Schleswig-Holstein. Daher sprechen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Bezug auf das Deutsche eher von einer Pluriarealität der Standardvarietäten (vgl. Kap. 7). Andererseits spielten und spielen natürlich auch die nationalen Bildungssysteme sowie die nationalen Massenmedien bei der Standardisierung eine Rolle, wobei aber Letzteres gerade in Zeiten grenzüberschreitender Internetnutzung und transnationaler Ausstrahlung von TV-Sendungen kein so starker Faktor mehr sein dürfte. Zum Ende dieses Kapitels können wir festhalten, dass es sich bei ‚ Standarddeutsch ‘ nicht nur aus gegenwärtiger Sicht, sondern auch historisch betrachtet um einen vielschichtigen und mehrdeutigen Begriff handelt, der mit Sorgfalt zu verwenden ist (vgl. dazu auch Eisenberg 2017). ‚ Standarddeutsch ‘ wird - wie z. B. Klaus Mattheier (1997, 3) feststellt - mit folgenden Eigenschaften assoziiert: „ überregional “ , „ oberschichtlich “ , „ invariant “ , „ ausgebaut “ (d. h. vielseitig einsetzbar), „ geschrieben “ , „ kodifiziert “ (also etwa in Nachschlagewerken oder amtlichen Regelungen festgehalten). Als weitere Eigenschaft könnte man noch, wie in Kap. 1 bereits dargelegt, hinzufügen: ‚ auch in eher formellen Situationen unauffällig ‘ . Dass Mattheier hier auch die Eigenschaft „ geschrieben “ auflistet, kann in Anbetracht der historischen Entwicklung des Standards nicht verwundern. Das Ge- 2 Auch dies ist ein wichtiger Unterschied zur französischen sowie zur englischen Sprache, die beide ebenfalls außereuropäische Standardvarietäten aufweisen: etwa in Quebec, in verschiedenen afrikanischen Ländern sowie - im Falle des Englischen - u. a. in den USA und Australien. 2.3 Ein Standarddeutsch oder mehrere? 25 narr-starter.de <?page no="26"?> schriebene wird - im Vergleich zum Gesprochenen - eher mit Invarianz als mit Varianz in Verbindung gebracht, wenngleich sich das Geschriebene natürlich ebenfalls wandelt und ausdifferenziert. Bezeichnend ist auch, dass Mattheier den Ausdruck „ oberschichtlich “ anführt. Hier zeigt sich, dass die Vorstellung einer höheren Sprache, einer ‚ Hochsprache ‘ , nach wie vor in die Standarddefinition einfließt. Im folgenden Kapitel legen wir dar, wie sich diese Vorstellung eines überlegenen Standards im Vergleich etwa zum sogenannten ‚ Substandard ‘ (z. B. den Dialekten) auch heute noch in Standardsprachideologien niederschlägt. Aufgaben zu Kap. 2 Recherchieren Sie zum Thema Ostmitteldeutsch. In welche Dialektgruppen und Dialekte ist es untergliedert? Welche Merkmale weisen diese auf? Warum konnte sich, historisch betrachtet, die Entwicklung der deutschen Standardsprache besonders gut im Schriftlichen vollziehen? 2. Zur historischen Entwicklung der deutschen Standardsprache 26 narr-starter.de <?page no="27"?> 3. Standardsprachideologien Die im vorangehenden Kapitel dargestellte zentrale Rolle der geschriebenen Sprache bei der Standardisierung des Deutschen hat bis heute Auswirkungen auf unsere Vorstellungen über richtige oder falsche Ausdrucksweisen. Wir neigen dazu, sprachliche Korrektheit generell durch die Schriftbrille zu betrachten (written language bias), deshalb fälschlich von einer Einheitlichkeit von Sprache auszugehen und das Geschriebene zum Maßstab für das Gesprochene zu machen. Besonders ausgeprägt ist dieses written language bias in der populären Sprachkritik: In seiner Kolumne „ Weil das ist ein Nebensatz “ lässt der bekannte Sprachpfleger Bastian Sick z. B. sein alter ego Henry auftreten. Dieser kommt zu spät zu einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden. Auf Henrys Frage, ob die anderen schon bestellt hätten, antwortet einer der Freunde: „ Nein, haben wir noch nicht, weil wir haben auf dich gewartet. “ Als Reaktion darauf schreckt Henry nicht einmal davor zurück, den wartenden Freund sprachlich zurechtzuweisen, da dieser die Nebensatzstellung bei weil nicht beachtet habe. In der gesamten darauffolgenden Diskussion geht keiner der Gesprächspartner auf die sprachlichen Spezifika und Höflichkeitsregeln einer privaten, mündlichen Gesprächssituation ein. Alleiniger Orientierungspunkt bleibt eine davon scheinbar unabhängige, von der Schriftlichkeit her als homogen gedachte Standardsprache, in der sich weil als nebenordnende Konjunktion leider immer mehr durchsetze ( „ steht zu befürchten, dass sich die Grammatikwerke dem irgendwann anpassen und die Einleitung von Hauptsätzen mit ‚ weil ‘ und ‚ obwohl ‘ als zulässig erklären “ ; Sick 2005, 158). narr-starter.de <?page no="28"?> Ein solches Beklagen eines vermeintlichen Sprachverfalls ist typisch für Standardsprachideologien, wie populäre Sprachkritiker und Sprachpfleger sie vertreten. Anders als Sprachwissenschaftler orientieren sie sich nicht am tatsächlichen Sprachgebrauch und -wandel, sondern gehen präskriptiv vor. Besonderheiten der gesprochenen Sprache, in der weil mit Hauptsatzstellung heute in der Tat üblich ist, werden als Normabweichungen und als ‚ Umgangssprache ‘ betrachtet (vgl. Kap. 4). Generell neigen populäre Sprachkritiker wie Sick dazu, sprachliche Variation abzuwerten und von einer homogenen, statischen Standardsprache auszugehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es so wichtig ist, dass gerade Lehrkräfte über variationslinguistisches Wissen verfügen und sich mit den Besonderheiten des gesprochenen Standards auskennen sollten, wie es ja auch durch die bundeseinheitlichen Bildungsstandards für das Fach Deutsch gefordert wird (vgl. Kap. 1). Ist dies nämlich nicht der Fall, dann wirkt das written language bias, die implizite Orientierung an den Normen der Schriftsprache, womöglich noch stärker. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn etwa der mündliche Ausdruck bei einer Präsentation im Hinblick auf seine Korrektheit beurteilt werden soll. Auch für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache ist dies hochrelevant, präsentieren doch manche Bücher und sonstige Lehrmaterialien für DaF und DaZ nach wie vor eine an Schriftlichkeit orientierte, eher künstliche Mündlichkeit und kennzeichnen gesprochensprachliche grammatische Konstruktionen als defizitär (vgl. beispielsweise Kars/ Häussermann 1997, 213; Rug/ Tomaszewski 2008, 216 und 214). 3. Standardsprachideologien 28 narr-starter.de <?page no="29"?> 3.1 Zum Diskriminierungspotenzial von Sprachideologien Treffend stellen die beiden Linguisten Péter Maitz und Stephan Elspaß fest, dass unter „ den zahlreichen sprachlichen Ideologien, die (auch) die deutsche Sprachwirklichkeit maßgeblich “ bestimmen, „ die Standardsprachenideologie “ und die „ Homogenitätsideologie “ eine „ besonders prominente Rolle “ spielen (vgl. Maitz/ Elspaß 2013, 35; siehe dazu auch Durrell 2012). Nicht nur in der publizistischen Öffentlichkeit und der populären Sprachkritik, sondern auch in Teilen der Linguistik, der Forschung zu Deutsch als Fremdsprache (DaF) und der Sprachdidaktik ist diese Ideologie durchaus noch anzutreffen. So kommen in folgendem Zitat des DaF-Spezialisten Lutz Götze beide Ideologien zum Ausdruck: Wir vertreten die These, dass die Standardsprache in ihrer gesprochenen und geschriebenen Variante verbindlich für alle Teilnehmer der Sprachgemeinschaft ist. [. . .] Die Standardsprache ist das Ziel jeglichen Sprachunterrichts, zumal außerhalb des deutschen Sprachraums. Gerade dort würde die Vermittlung von Varianten den Weg der deutschen Sprache in die Bedeutungslosigkeit beschleunigen. Die gleiche Gefahr freilich drohte dem Deutschen innerhalb des deutschen Sprachraums, würde jeder Modetorheit Tür und Tor geöffnet. (Götze 2001, 131 f.) Der Zusammenhang der beiden Ideologien wird hier besonders deutlich: Die Standardsprache wird als etwas Homogenes, Invariantes (d. h. Statisches) charakterisiert. Die Art, wie Götze über Sprache schreibt, erinnert an Formulierungen aus der populären Sprachkritik. Sprache wird 3.1 Zum Diskriminierungspotenzial von Sprachideologien 29 narr-starter.de <?page no="30"?> personifiziert und wie ein gefährdeter Organismus gesehen: „ den Weg der deutschen Sprache in die Bedeutungslosigkeit beschleunigen “ , „ Gefahr [. . .] drohte dem Deutschen “ , „ jeder Modetorheit Tür und Tor geöffnet “ (s. o.). Wenngleich letztlich nicht klar ist, was in der zitierten Passage genau mit Standardsprache, insbesondere mit ihrer ‚ gesprochenen Variante ‘ gemeint ist, scheint auch hier das written language bias eine Rolle zu spielen. Ohne nähere Erläuterung wird die gesprochene Standardsprache sozusagen als ‚ Schriftsprache plus Standardlautung ‘ vorgestellt. Stillschweigend wird vorausgesetzt, das geschriebene und das gesprochene Deutsch seien strukturell identisch, den Unterschied mache nur die Lautung aus (vgl. hierzu kritisch Schneider/ Butterworth/ Hahn 2018, 20 f.). Auf diese Weise misst man die mündliche Standardsprachlichkeit an der Grammatik der geschriebenen Standardsprache und ergänzt diese um traditionelle Vorstellungen einer Standardlautung im Anschluss etwa an präskriptive Vorgaben von Theodor Siebs, wie sie im vorangehenden Kapitel erläutert wurden. Das würde aber in letzter Instanz absurderweise bedeuten, dass die allermeisten deutschen Muttersprachler, auch die meisten Normvermittler, nicht ‚ richtig ‘ Deutsch sprächen. Präziser formuliert: Würde man tatsächlich behaupten wollen, „ dass nur ein an den kodifizierten Aussprachenormen orientiertes Sprechen als korrektes Standarddeutsch gelten könne, würde das den absurden Schluss nahelegen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Lehrer und anderen Normvermittler, z. B. auch Universitätsprofessoren, in deutschsprachigen Ländern keine Standardsprecher “ seien (vgl. Maitz/ Elspaß 2013, 42). Mit einer ähnlichen Stoßrichtung kritisiert der Dialektforscher Werner König (2013), dass Sprecher aus bestimm- 3. Standardsprachideologien 30 narr-starter.de <?page no="31"?> ten Gegenden, z. B. aus Sachsen und Bayern, schon aufgrund eines minimalen regionalen Akzents (etwa der charakteristischen Aussprache eines Vokals) von Laien als Dialektsprecher klassifiziert werden. In der Talkshow „ Hart, aber fair “ beispielsweise formulierte am 29. 10. 2012 ein bayerischer Studiogast seine Argumente in einem Standarddeutsch mit bairischem Akzent, keineswegs jedoch im Dialekt. Sein dunkles / a/ und sein rollendes / r/ waren allerdings dem Moderator Anlass genug, ihm „ einen reizenden Dialekt “ zu attestieren und ihn gleichwohl zu bitten, „ Hochdeutsch “ zu sprechen, damit die Zuschauerinnen und Zuschauer ihn verstünden (vgl. dazu auch König 2013, 8). Die traditionell vorherrschende Bevorzugung nordwestdeutscher Aussprachevarianten (auch in der Aussprache-Kodifizierung) und die damit verbundene Vorstellung, diese seien sozusagen neutral, haben wir im letzten Kapitel ja bereits am Beispiel der -ig- Endung veranschaulicht. Diese Bevorzugung beruhte nicht zuletzt auf subjektiven Vorlieben der verantwortlichen Kodifizierer und hat nichts mit einer ‚ objektiven Überlegenheit ‘ bestimmter Varianten zu tun. Es lässt sich also festhalten, dass die von Maitz, Elspaß, Durrell, König u. a. kritisierte Standard- und Homogenitätsideologie tatsächlich existiert und dass die Diskriminierung von Dialektsprechern sowie Sprechern mit regionalem Akzent ein reales Problem darstellt. So berichtet Werner König in seinem bereits zitierten Aufsatz „ Wir können alles. Außer Hochdeutsch “ gar von einem Mitarbeiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der sich bei einer Londoner Podiumsdiskussion 2010 damit „ brüstete “ , „ einen Bewerber für ein Lektorat wegen dessen bairischen Akzents ausgesondert zu haben “ (vgl. König 2013, 8). 3.1 Zum Diskriminierungspotenzial von Sprachideologien 31 narr-starter.de <?page no="32"?> Um solchen Diskriminierungen entgegenzuwirken, unterbreitet König (2013, 13 f.) mehrere praktische Vorschläge: Zum einen müsste Hochschullehrerinnen und -lehrern des Faches Germanistik klargemacht werden, dass diese Diskriminierungsmechanismen existieren und folgenreich sind. Zum anderen sollten im Studium „ die sprachhistorischen Fakten für die Grundlosigkeit des südlichen Unterlegenheitsgefühls “ vermittelt und über Diskriminierungsmechanismen aufgeklärt werden. Alle mit dem Dialekt und Akzent verbundenen Gesichtspunkte sollten außerdem „ zum Thema des Unterrichts gemacht werden - beginnend mit der Grundschule “ (ebd.). Zudem fordert König auch gesetzliche Maßnahmen gegen sprachliche Diskriminierung. Alle diese Forderungen stoßen gerade in Bayern nicht auf taube Ohren. Seit Jahren unterstützt das Kultusministerium aktiv die Pflege des heimischen Dialekts. 2018 wurde beispielsweise auf der Fachtagung „ Dialekt und Schule “ des Kultusministeriums dazu aufgerufen, die Dialektförderung weiter zu intensivieren. Der bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst Bernd Sibler, selbst „ bekennender Niederbayer und Dialektsprecher “ , wurde im Kontext der Tagung mit folgenden Worten zitiert: Es sei zwar „ unverzichtbar, dass unsere jungen Menschen die Standardsprache beherrschen. Aber unsere Schulen müssen ihnen natürlich auch den besonderen Wert ihres jeweiligen Dialekts vermitteln und sie darin bestärken, ihn auch zu sprechen “ . 3 3 Siehe unter https: / / www.km.bayern.de/ lehrer/ meldung/ 6226/ fachtagung-foerdert-staerkung-des-dialekts-in-der-schule.html <07. 05. 2019>. 3. Standardsprachideologien 32 narr-starter.de <?page no="33"?> 3.2 Sprache als „ symbolisches Kapital “ Königs Vorschläge sind unseres Erachtens bedenkenswert und können dazu beitragen, sprachliche Diskriminierung bewusstzumachen und abzubauen. Ob es allerdings gelingt, eine Gleichwertigkeit aller Varietäten in den Köpfen der Menschen durch eine solche Aufklärung zu erreichen? - Man kann solche Maßnahmen unterstützen und gleichzeitig der Auffassung sein, dass Menschen Zeichen aller Art, nicht nur Sprachzeichen, sondern z. B. auch Mode, Musik, Markenartikel, verwenden, tragen, benutzen, um sozial erfolgreich zu sein und sich von anderen Menschen oder anderen Gruppen abzugrenzen. Auch der oben zitierte Minister wies ja auf die Unverzichtbarkeit einer individuellen Standardsprach-Beherrschung hin. Bestimmte Zeichen genießen in bestimmten Kontexten, wie etwa in Bewerbungs- und Prüfungsgesprächen, ein hohes Prestige. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht hier von einem „ symbolischen Kapital “ (2005, 79), das gesellschaftlich eine ähnlich große Rolle spiele wie das ökonomische Kapital. Damit ist gemeint: Sowohl im standardnahen als auch im standardferneren Sprachgebrauch gibt es Normen, die man erfüllen will, um Anerkennung zu bekommen. Mit bestimmten Sprechweisen ist man in bestimmten Gruppen bzw. Domänen sozial erfolgreicher als mit anderen, oder man glaubt zumindest, damit erfolgreich zu sein. Bourdieu ist sogar der Auffassung, dass in jeder sprachlichen Kommunikationssituation bewertet wird: Die Situationen, bei denen die sprachliche Produktion ausdrücklich der Bewertung unterzogen ist, Examina etwa oder Einstellungsgespräche, erinnern daran, dass bei jedem sprachlichen Austausch eine Bewertung stattfindet [. . .]. (Bourdieu 2005, 63) 3.2 Sprache als „ symbolisches Kapital “ 33 narr-starter.de <?page no="34"?> Dies bedeutet nichts anderes, als dass unsere Haltung zu unserer Sprache grundsätzlich eine normative ist (d. h. eine, die mit Sollen und mit sozialem Druck bzw. sozialen Erwartungen zu tun hat). Dabei sind diejenigen Personen, die über ein großes Variationsspektrum verfügen und bei Bedarf auch zum standardnahen Sprechen und Schreiben wechseln können, oft gesellschaftlich im Vorteil. Die Standardsprache hat sich eben - auch historisch betrachtet - zu einem „ überaus prestige-behafteten Sozialsymbol “ entwickelt (Klein 2018, 59). Die gesellschaftlichen Wirkungen dieses Sozialsymbols lassen sich nicht schon dadurch aus der Welt schaffen, dass man alle Varietäten für gleichberechtigt erklärt, auch wenn sie de facto ein unterschiedliches Prestige in der Gesellschaft genießen. Maßnahmen wie die von König vorgeschlagenen sind jedenfalls dazu geeignet, sprachliche Diskriminierungen einzudämmen und ein Bewusstsein für Sprachvariation zu schärfen. Ein Teil der Lösung kann auch darin bestehen, linguistisch aufzuklären und den Gebrauchsstandard als eine Varietät des Deutschen empirisch zu beschreiben, ohne die Dialekte dabei abzuwerten. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die Frage, wie in der Sprachvermittlung, etwa im DaF-Anfangsunterricht, mit sprachlicher Varianz umzugehen sei. Martin Durrell, der einerseits eine ähnlich ideologiekritische Argumentationslinie wie Péter Maitz und Stephan Elspaß verfolgt, unterstützt andererseits die Auffassung, dass „ dem Unterricht - insbesondere in der Anfangsphase - eine einheitliche sprachliche Erscheinungsform zugrunde gelegt werden “ solle, „ denn sonst könnte man die Lernenden einfach verwirren “ (Durrell 2012, 88). Ab einem bestimmten fortgeschrittenen Niveau ist es allerdings nach unserer Ansicht unumgänglich, darüber hinaus auf sprach- 3. Standardsprachideologien 34 narr-starter.de <?page no="35"?> liche Variationsmöglichkeiten hinzuweisen und insbesondere auch Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Gebrauchsstandard zu vermitteln. Aufgaben zu Kap. 3 Haben Sie auch schon einmal erlebt, dass eine Person wegen ihrer Aussprache oder anderer dialektaler Merkmale benachteiligt oder diskriminiert wurde? Zeigte sich hier Ihrer Meinung nach eine Standardsprachideologie? Wenn ja, versuchen Sie, diese zu beschreiben. Diskutieren Sie in einer Gruppe, inwieweit die von König vorgeschlagenen Maßnahmen geeignet sind, eine Diskriminierung von Sprechern, die regionale Merkmale zeigen, einzudämmen. Fallen Ihnen weitere Maßnahmen ein? Überlegen Sie, durch welche sprachlichen oder nicht-sprachlichen Merkmale Menschen ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zeigen oder sich damit von anderen Gruppen abgrenzen wollen. 3.2 Sprache als „ symbolisches Kapital “ 35 narr-starter.de <?page no="36"?> 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch In den vorangehenden Kapiteln wurde schon verschiedentlich angesprochen, dass nicht nur Dialekte, sondern auch Standardvarietäten im ständigen Wandel sind. Was korrektes und angemessenes Deutsch ist, steht nicht ein für alle Mal fest. Daher müssen auch die Gebrauchsstandards im Mündlichen und im Schriftlichen empirisch, d. h. auf einer Datenbasis, ermittelt und immer wieder aktualisiert werden - wobei wir unter einem Gebrauchsstandard, wie bereits erläutert, dasjenige verstehen, was im Deutschen auch in überregionalen, formelleren, also standard-affinen Kontexten gebräuchlich und stilistisch unauffällig ist. Ausdrucksweisen, die nicht zum Standard gehören, werden aber in empirisch fundierten Sprachratgebern wie etwa dem Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 9) nicht per se als ‚ falsch ‘ gebrandmarkt oder aus der deutschen Sprache ausgeschlossen. Vielmehr legt Duden 9 seinen Nutzerinnen und Nutzern eine Wenn-dann-Beziehung ans Herz: ‚ Wenn du die Standardsprache verwenden möchtest, dann benutze eher Ausdruck x als Ausdruck y! ‘ (vgl. Eisenberg 2007, 215 f. und 226). Wie aber findet man heraus, was gegenwärtig zum geschriebenen und gesprochenen Standarddeutsch gehört? Die empirische Methode besteht darin, den Sprachgebrauch in standard-affinen Kontexten auszuwerten. Entscheidend ist hier die Korpuszusammenstellung, d. h. die Auswahl der zugrunde gelegten Text- und Gesprächssammlungen. Hinzu kommen spezifische Kommunikationsbedingungen, die jenarr-starter.de <?page no="37"?> weils für den geschriebenen und den gesprochenen Standard berücksichtigt werden müssen: Während Ersterer tendenziell monologisch ist und Überarbeitungsmöglichkeiten bestehen, bevor der Text zur Rezeption freigegeben wird, ist die Mündlichkeit und auch der dazugehörige gesprochene Standard von vornherein, d. h. schon beim kindlichen Spracherwerb, tendenziell durch Interaktion und Spontaneität geprägt, was auch bedeutet, dass das Sprechen unter einem gewissen zeitlichen Reaktionsdruck erfolgt (vgl. Kap. 4.2). 4.1 Geschriebenes Standarddeutsch als „ Leitvarietät “ Der Zweifelsfälle-Duden konzentriert sich auf das geschriebene Standarddeutsch der Gegenwart und betrachtet dieses als die „ Leitvarietät “ (vgl. Duden 9 2016, Vorwort) - und zwar aus folgenden Gründen: 1. Die Relevanz eines mehr oder weniger einheitlichen Standards ist im Geschriebenen gesellschaftlich und bildungspolitisch noch höher einzuschätzen als im Gesprochenen. Viele Beurteilungskontexte, in denen Standardsprachlichkeit gefordert ist, sind vorwiegend schriftlich geprägt: etwa in schulischen Prüfungen oder Bewerbungen. Einem Ratgeber-Werk geht es also darum, die Schriftstandardkompetenz zu fördern und den Nutzern Angebote zu machen, wie sie sich unauffällig im geschriebenen Standarddeutsch der Gegenwart bewegen können (vgl. Duden 9 2016, Vorwort). 2. Da sich das Standarddeutsche, wie in Kap. 2 dargelegt wurde, historisch vornehmlich im Schriftlichen herausgebildet hat und dort in besonderem Maße Gegenstand 4.1 Geschriebenes Standarddeutsch als „ Leitvarietät “ 37 narr-starter.de <?page no="38"?> von Kodifizierungsbemühungen war, ist es beim Geschriebenen leichter, mit einer gewissen Objektivität zu sagen, was zum Standard gehört. Die Varianz ist weniger groß und leichter zu handhaben als im Mündlichen. 3. Im Geschriebenen ist es technisch wesentlich einfacher, große Korpora statistisch auszuwerten, also in Korpusrecherchen herauszufinden, wie oft eine bestimmte Form vorkommt. Der Zweifelsfälle-Duden (wie auch der Grammatik-Duden, s. u.) arbeitet mit einem sehr großen Korpus, das über vier Milliarden Wortformen umfasst. Sein Schwerpunkt liegt auf überregionalen Zeitungsartikeln; es schließt aber auch andere Textsorten (etwa verschiedenartige Gebrauchstexte und auch Belletristik) mit ein. Was im Korpus mit einer gewissen Häufigkeit vorkommt, wird dann zum geschriebenen Standard gezählt. Warum aber legt man den Schwerpunkt auf überregionale Zeitungstexte? Ein Grund dafür ist die Annahme, dass Journalistinnen und Journalisten, die täglich professionell mit Sprache umgehen, in besonderem Maße Träger des Gegenwartsstandards sind. Dagegen könnte man natürlich das Argument anführen, dass das ‚ Zeitungsdeutsch ‘ selbst eine besondere Form von Sprache, vielleicht sogar eine eigene Varietät, sei. Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Auf jeden Fall sind Zeitungsberichte eher geeignet als beispielsweise Kommentare oder Feuilleton- Artikel. Auch könnte man einwenden, dass gerade Schreibprofis, wie z. B. Journalistinnen und Journalisten, besonders gern Wörterbücher wie Duden 9 nutzen, um etwas nachzuschlagen. Auch dies ist ein stichhaltiges Argument. Allerdings tun sie dies wohl eher, wenn sie tatsächlich unsicher 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch 38 narr-starter.de <?page no="39"?> sind. Wenn sie es z. B. normal, also standardsprachlich, finden, in 2019 oder im Sommer diesen Jahres zu schreiben, so werden sie diesen Gebrauch vermutlich nicht im Wörterbuch nachschlagen (vgl. dazu Niehaus 2016). Zudem ist zu überlegen, welche methodischen Alternativen zur Verfügung stünden: Belletristische Werke als Hauptkorpus zu nehmen, impliziert in noch höherem Maße die Problematik des spezifischen Stils der Autorinnen und Autoren, da es sich hier ja um Kunstwerke mit der entsprechenden künstlerischen Freiheit handelt. Einzelne Modellschreiberinnen und -schreiber zu nehmen, wäre ebenfalls deutlich subjektiver als ein umfangreiches Korpus mit überregionalen Zeitungstexten auszuwerten. Schließlich könnte man Akzeptabilitätsurteile von Schreiberinnen und Schreibern einholen, aber auch hier müsste entschieden werden, wer als schriftsprachkompetent genug eingeschätzt wird, um solche Urteile fällen zu können - denn es geht ja um das Vorkommen in standard-affinen Kontexten, nicht um eine allgemeine Bestandsaufnahme aller Varietäten und Stile. Zudem stimmen Akzeptabilitätsurteile nicht immer mit dem überein, was tatsächlich von den Befragten selbst benutzt wird. Als weitere Methode kommen sprachsystematische Argumente in Frage: Da ausgewiesene Grammatikerinnen und Lexikographen das Sprachsystem gut überblicken, können sie besonders gut beurteilen, welche Konsequenzen sich insgesamt im System ergeben, wenn etwa eine bestimmte Neuerung ‚ zugelassen ‘ wird. Während Sprachkodifizierer früher hauptsächlich sprachsystematische Überlegungen und eigene Akzeptabilitätsurteile zum Maßstab machten, kommen heute vor allem Korpusanalysen, aber auch sprachsystematische Erwägungen und - in geringerem Maße - 4.1 Geschriebenes Standarddeutsch als „ Leitvarietät “ 39 narr-starter.de <?page no="40"?> Akzeptabilitätsurteile bei der Ermittlung des geschriebenen Standards zur Anwendung. Im Folgenden möchten wir anhand ausgewählter Beispiele veranschaulichen, wie ein geschriebener Gebrauchsstandard ermittelt wird. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es sehr viele Phänomene im geschriebenen Deutsch gibt, bei denen kompetente Schriftnutzer nie in Zweifel kommen würden, ob diese dem Standard entsprechen. Beispielsweise wird im deutschen Aussagehauptsatz das finite (konjugierte) Verb immer an die zweite Position gestellt. So ist der Satz Heute scheint die Sonne standardsprachlich korrekt, Heute die Sonne scheint dagegen fehlerhaft. Weitere Regeln lauten: Der Artikel steht immer vor dem Nomen, schwache Verben werden nach einem bestimmten Schema konjugiert etc. Hier stellt sich die Frage nach der Korrektheit für Schriftkundige im Grunde nicht. Ein Ratgeber wird erst konsultiert, wenn ein sprachlicher Zweifelsfall vorliegt. Nach Wolf Peter Klein (2018, 1) haben wir es mit einem solchen zu tun, wenn „ kompetente, erwachsene Sprecher “ und natürlich auch Schreiber „ des Deutschen mit Blick auf (mindestens) zwei Varianten in Zweifel geraten können, welche der beiden Varianten (standardsprachlich) korrekt ist “ . Hierbei kann es z. B. um die Frage gehen, ob bestimmte Ausdrucksweisen umgangssprachlich oder stark informell sind (z. B. Sie kriegten ihren Wunsch erfüllt) oder bestimmte grammatische Formen bereits standardsprachlichen Charakter haben (etwa die Pluralformen Dinger und Jungens) oder ob ein Partikelverb wie dranbleiben (etwa in Wir müssen an der Sache dranbleiben) zur Standardsprache gehört. Oft betrifft der Zweifel auch die Frage, ob eine bestimmte Form überhaupt korrekt gebildet ist: Heißt es die lilane Tapete oder 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch 40 narr-starter.de <?page no="41"?> doch eher die lila Tapete oder die lilafarbene Tapete? Heißt es gewinkt oder gewunken? Zur Beantwortung solcher Fragen wird u. a. überprüft, ob die betreffenden Ausdrücke im Korpus vorkommen, und wenn ja, wie frequent sie im Verhältnis zu alternativen Formen benutzt werden. Bei winken ergab die Duden-Korpusanalyse beispielsweise, dass gewunken mittlerweile die frequentere Partizipform ist, obwohl das Verb winken im Präteritum regelmäßig konjugiert wird (winkte). An dem letztgenannten Beispiel sieht man, dass die Häufigkeit des Gebrauchs und die grammatische Regelhaftigkeit in ein Spannungsverhältnis treten können (vgl. hierzu auch Kap. 5.1). Das gilt auch für den Ausdruck meines Erachtens nach. Dieser ist in der gesprochenen und geschriebenen Umgangssprache sehr häufig, im standard-affinen Duden-Korpus kommt er dagegen sehr selten vor. Auch ist er systematisch nicht regulär gebildet, denn die Präposition nach verlangt eine Ergänzung im Dativ. Demnach lauten die standardsprachlichen Formen: meinem Erachten nach, nach meinem Erachten oder meines Erachtens. Bei einer empirischen Herangehensweise, die Sprachwandel anerkennt, könnte es aber passieren, dass die (noch) umgangssprachliche Form meines Erachtens nach sich im Laufe der Zeit auch im Standard durchsetzt. Meines Erachtens nach ist als eine Analogiebildung zu meiner Meinung nach zu erklären. Bei Letzterem ist aufgrund der femininen Deklination - anders als beim Neutrum Erachten - keine formale Unterscheidung zwischen Genitiv und Dativ gegeben (beide Formen lauten der Meinung), und somit ist hier im Sprachgebrauch gewissermaßen eine irreguläre Analogie hergestellt worden, die sich in der Alltagssprache bereits ausgebreitet hat. Dies ist ein anschauliches Beispiel, um den Unterschied zwischen 4.1 Geschriebenes Standarddeutsch als „ Leitvarietät “ 41 narr-starter.de <?page no="42"?> Linguistik und populärer Sprachkritik deutlich zu machen: Ein konservativer Sprachkritiker hat große Probleme, eine solche Irregularität zu akzeptieren, ein Sprachwissenschaftler sieht, dass dieses Phänomen einerseits sprachsystematisch irregulär ist, andererseits aber als Analogiebildung wiederum systematisch erklärt werden kann. Ähnliches ist in der deutschen Sprachgeschichte z. B. bei dem Wort nachts/ des Nachts geschehen, das ebenfalls eine irreguläre Form ist, da es sich bei Nacht um ein Femininum handelt (vgl. hierzu Kap. 5.2). Zu Zweifelsfällen kommt es häufig auch bei Fragen der grammatischen Kongruenz. Heißt es standardsprachlich Eine Menge Leute ruft an oder Eine Menge Leute rufen an? Grammatisch gesehen ist hier die erste Variante gefordert, denn das Subjekt steht formal betrachtet im Singular. Semantisch gesehen ist aber eher der Plural korrekt, denn es ruft ja nicht die Menge an, sondern die einzelnen Personen rufen an. In solchen Fällen muss ebenfalls empirisch gearbeitet werden: Die Korpusanalyse ergab hier, dass bei dem Wort Menge meistens der Plural verwendet wird (eine Menge anderer Fragen folgten [. . .]; Duden 9 2016, 553), bei Haufen dagegen überwiegt der Singular (ein Haufen Blumen liegt vor dem Portal; ebd.). 4.2 Besonderheiten des gesprochenen Standarddeutsch Wie die Beispiele zur Ermittlung des geschriebenen Standards gezeigt haben, ist auch dieser in einem stetigen Wandel begriffen. In noch höherem Maße ist dies beim gesprochenen Standard der Fall. Generell gilt: Formen, die zum geschriebenen Standard gehören, können auch im gespro- 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch 42 narr-starter.de <?page no="43"?> chenen Standard unauffällig verwendet werden. Darüber hinaus gibt es aber sprachliche Strukturen, die im Mündlichen auch in überregionalen, formelleren Kontexten häufig vorkommen, nicht aber im geschriebenen Standard. 4 Als Entsprechung zur überregionalen Presse kann man als Korpus für den gesprochenen Standard z. B. Talkshows im Abendfernsehen nehmen. Aufgrund der überregionalen Massenadressierung ist hier ebenfalls eine Standard-Orientierung erwartbar; auf der anderen Seite darf eine gewisse Interaktionalität vorausgesetzt werden. Gerade wenn es in einer solchen Sendung zum verbalen Schlagabtausch kommt, kann nicht alles vorher geplant werden. Mit anderen Worten: Die beteiligten Diskutantinnen rufen einerseits gespeicherte Schemata ab, müssen diese aber andererseits spontan, unter Zeitdruck, neu kombinieren und variieren. Dabei entsteht eine Syntax, die im Unterschied zum geschriebenen Standard stark durch ihre Echtzeit-Prozessierung geprägt ist. Der Sprachwissenschaftler Peter Auer hat hierfür den treffenden Terminus Online- Syntax geprägt (vgl. Auer 2000). Sogar in monologischer, nicht auswendig gelernter Rede entstehen Strukturen, die dieser Art von Zeitlichkeit geschuldet sind bzw. diese nutzen. Das zeigt sich u. a. bei den sogenannten Apokoinu-Konstruktionen (vgl. Schneider 2011). Hier ein Beispiel für eine solche Apokoinu-Konstruktion; es stammt aus einer Fernsehsendung mit dem Natur- 4 Diese Strukturen empirisch zu ermitteln, war Aufgabe eines Landauer Forschungsprojekts, das von 2013 bis 2018 durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse in Schneider/ Butterworth/ Hahn (2018) dokumentiert sind. 4.2 Besonderheiten des gesprochenen Standarddeutsch 43 narr-starter.de <?page no="44"?> wissenschaftler Harald Lesch, der den Zuschauerinnen und Zuschauern bestimmte Formen des religiösen Fundamentalismus und Kreationismus erklärt: 01 sie NENnen sich, 02 UM auch n bisschen die probleme mit der wissenschaft zu vermEIden, 03 nennen sie sich ANhänger der intelligent design theorie. Transkripte gesprochener Sprache werden in diesem Buch - wie in der Gesprächsforschung üblich - nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT 2) erstellt. So werden die Äußerungen in durchnummerierte Intonationseinheiten unterteilt. Am Ende einer Intonationseinheit folgt ein Intonationszeichen: Ein Fragezeichen bedeutet, dass die Stimme hochgeht, ein Punkt, dass sie ganz nach unten geht. Komma und Semikolon bezeichnen intonatorische Zwischenstufen. Die Großbuchstaben zeigen Betonungen an. Eine solche Konstruktion besteht aus drei Teilen A, B und C, wobei B das sogenannte Koinon ist, das in diesem Fall das gesamte Segment 02 umfasst (von um bis vermeiden) und sowohl dem Teil A (Segment 01) als auch C (Segment 03) zugeordnet werden kann. A und B ergeben ebenso wie B und C eine syntaktische Einheit, die auch im geschriebenen Standard vorkommen könnte. A, B und C zusammen wären jedoch im geschriebenen Standard korrekturbedürftig, da die Wiederholung des finiten Verbs (in diesem Fall nennen) dort nicht der Gebrauchsnorm entspricht. In der Zeitlichkeit des mündlichen Vollzugs ist diese Wiederholung jedoch, gerade bei einem langen Koinon wie in diesem Falle, kommunikativ hilfreich, um den roten Faden zu behalten und gleichzeitig die Hörerschaft sozusagen ‚ bei der Stange ‘ zu halten, also das Verständnis und die Aufmerksamkeit zu sichern. Hier sieht 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch 44 narr-starter.de <?page no="45"?> man bereits, dass die Verwendung syntaktischer Konstruktionen des gesprochenen Standards nicht mit umgangssprachlichem oder informellem Reden verwechselt werden darf. Vielmehr nutzen gerade routinierte Sprecherinnen und Sprecher mit solchen Konstruktionen die Zeitlichkeit des Gesprochenen aus und tragen dessen Flüchtigkeit und Nicht- Wiederholbarkeit Rechnung. Ein anderes Beispiel hierfür sind sogenannte Referenz- Aussage-Strukturen. Im Folgenden handelt es sich um die Äußerung eines Dozenten während der Vorlesung in einem großen Hörsaal: 01 die Tür da hinten, 02 können sie die bitte mal SCHLIEßen? Eine solche Konstruktion ist in dieser Situation funktional: Gerade in großen Räumen und bei großem Adressatenkreis kann es der Verständlichkeit dienen, den Referenz-Ausdruck, also den Ausdruck, mit dem man auf etwas Bezug nimmt (hier: die Tür da hinten), vielleicht auch in Verbindung mit einer Zeigegeste, von dem zu trennen, was man über das Referenzobjekt aussagt oder fragt (hier: Können Sie die bitte mal schließen? ). Solche strukturellen Bedingungen und Eigenschaften der jeweiligen Kommunikation gehören zu deren Medialität, hier zur Medialität einer bestimmten Art von Face-to-Face-Kommunikation. Ein weiteres Beispiel, an dem sich das Verhältnis von geschriebenem und gesprochenem Standarddeutsch sehr gut veranschaulichen lässt, sind relativische Anschlüsse mit wo. Liegt dabei ein räumlicher Bezug vor, der auch metaphorisch sein kann, dann ist der relativische Anschluss mit wo standardsprachlich (geschrieben und gesprochen) möglich: „ Noch schlimmer sieht es bei der Arbeitsgruppe drei aus, wo 4.2 Besonderheiten des gesprochenen Standarddeutsch 45 narr-starter.de <?page no="46"?> (alternativ: bei der) der Abwärtstrend am deutlichsten ausgeprägt [. . .] ist. (FAZ) “ (Duden 9 2016, 1031). Auch zeitliche Bezüge kommen bei bestimmten Konstruktionen vor (z. B. in dem Moment, wo . . .; jetzt, wo . . .). Als regional, also weder gesprochen noch geschrieben standardsprachlich, werden dagegen Verwendungen des relativischen Anschlusses mit wo betrachtet, sofern dieses nur ein einfaches Relativpronomen ohne Präposition ersetzt: Das Geld, wo (standardsprachlich: das) auf der Bank liegt (vgl. ebd., 1032). Allerdings besteht im Mündlichen auch in „ überregionalen und formelleren Kontexten “ die Tendenz, „ den Gebrauch von wo als relativischem Anschluss auszuweiten “ , d. h. wo auch bei fehlenden „ räumlichen oder zeitlichen Assoziationen “ zu verwenden (ebd.). Als Beispiele führt Duden 9 Belege aus audio-visuellen Medien an: „ Das ist eine Sache, wo (alternativ: bei der) ich noch unsicher bin. Nun reden wir über ein Thema, wo (alternativ: bei dem) vermutlich unterschiedliche Meinungen auftreten werden “ (ebd.). Gerade solche Phänomene, die im geschriebenen Standard noch selten sind, sich aber mindestens auf dem Weg befinden, im Mündlichen standardsprachlich zu sein, verdeutlichen, dass der Einbezug gesprochensprachlicher Daten hilfreich ist, um Übergänge und Sprachwandelphänomene auch in der Wörterbuch- und Grammatikschreibung zu erfassen. 4. Geschriebenes und gesprochenes Standarddeutsch 46 narr-starter.de <?page no="47"?> Aufgaben zu Kap. 4 Diskutieren Sie in einer Gruppe, ob und inwieweit man den geschriebenen Standard tatsächlich als „ Leitvarietät “ betrachten kann. Beobachten Sie Ihren mündlichen Sprachgebrauch und denjenigen anderer Sprecherinnen und Sprecher. Fallen Ihnen weitere Konstruktionen auf, die zum gesprochenen Standard gehören könnten? Notieren Sie entsprechende Beobachtungen und diskutieren Sie darüber in einer Gruppe. 4.2 Besonderheiten des gesprochenen Standarddeutsch 47 narr-starter.de <?page no="48"?> 5. Normen 5.1 Zum Normenbegriff In den vorangehenden Kapiteln wurde gezeigt, dass der Ausgangspunkt für die linguistische Beschreibung der geschriebenen Standardsprache bei dem liegen sollte, was mit einer gewissen Häufigkeit tatsächlich vorkommt, also in standardsprachlichen Kontexten im Gebrauch ist. Solche Kontexte (wie z. B. in der Schule) werden häufig als normgebunden bezeichnet und dem normfernen Schreiben (z. B. in der privaten Freizeitkommunikation) gegenübergestellt. Das führt uns zu der Frage, welcher Normenbegriff hinter dieser Unterscheidung steht. Denn zweifellos werden auch im Freizeitschreiben Normen eingehalten, niemand würde z. B. eine private WhatsApp-Nachricht im Duktus eines Geschäftsbriefes verfassen. Von welchen Normen ist also die Rede, wenn man davon spricht, dabei handle es sich um ein normfernes Schreiben? Damit kommen wir zu den Normen, die in der Grammatik und in der Orthographie des Deutschen gelten. Welchen Status haben diese Normen? Und wie lässt sich der Normenbegriff genauer fassen? Zwei Ebenen kann man hier unterscheiden (vgl. dazu Gloy 2004 und 2012): Normen sind Erwartungen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden (= subsistente Normen). Es handelt sich dabei um implizite Normen, denen die Sprecherinnen und Sprecher unbewusst folgen. Beispielsweise wird im Mündlichen häufig die Kurzform des unbestimmten Artikels verwendet (z. B. Ich hab noch n bisschen narr-starter.de <?page no="49"?> aufgeräumt). Dieser Sprachgebrauch ist in keiner Weise auffällig und wird stillschweigend akzeptiert, ist aber nicht als Norm ausformuliert (vgl. Ziegler 2011, 80). Das gilt auch für subsistente Normen, die durch sozialen Druck entstanden sind (z. B. seitens einer Lehrperson in der Schule) und denen man Folge leistet. So meinen manche Sprecherinnen und Sprecher, sie dürften das Adverb wo nur verwenden, wenn es sich auf eine Ortsangabe bezieht, nicht aber auf eine Zeitangabe. Tatsächlich deckt sich dies aber nicht mit dem, was empirisch in der Standardsprache vorzufinden ist und deshalb sowohl in den Zweifelsfälleals auch in den Grammatik- Duden Eingang gefunden hat (vgl. Kap. 4.2). Normen sind Regeln, die in Grammatiken, Wörterbüchern, Sprachratgebern etc. schriftlich fixiert sind (= statuierte Normen). Diese Normen können, wie in sprachpflegerischen Arbeiten der Fall (vgl. Kap. 4.1), präskriptiven Charakter haben (vgl. Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen), sie können aber auch empirisch fundiert sein. Im Grammatik-Duden (= Duden 4) beispielsweise finden sich keine Aussagen zu dem, was aus sprachpflegerischer Sicht als ‚ gutes Deutsch ‘ angesehen werden könnte, es wird lediglich darauf Bezug genommen, was im Standard zur Gebrauchsnorm gehört. In Bezug auf das Verb brauchen wird hier etwa darauf verwiesen, dass in der Standardsprache beide Varianten, mit oder ohne zu, vorkommen (allerdings in unterschiedlicher Frequenz): „ Noch ist die Verwendung mit reinem Infinitiv in geschriebenen Texten erheblich seltener (etwa 1: 5) als die Verbindung mit dem zu-Infinitiv “ (Duden 4 2016, 433). Wie das brauchen-Beispiel zeigt, können präskriptive und empirisch fundierte Normen im Widerspruch zueinander 5.1 Zum Normenbegriff 49 narr-starter.de <?page no="50"?> stehen. Das mag viele Ratsuchende in Sprachfragen irritieren. Denn der „ Alltagsbegriff von Sprachnorm ist “ , wie Peter Eisenberg in seinem Beitrag zum Zweiten Bericht zur Lage der deutschen Sprache schreibt, „ häufig mit Wertungen verbunden “ (2017, 59). Und nicht nur das: Der Alltagsbegriff von Sprachnorm ist häufig auch damit verbunden, dass es im Sprachgebrauch ein Richtig und ein Falsch geben müsse - und dass man in Wörterbüchern und Grammatiken eindeutige Antworten darauf bekommen müsse, was richtig und was falsch ist. Tatsächlich gibt es einen Bereich, in dem solche Antworten möglich sind: in der Orthographie. Diese basiert im Deutschen auf einem amtlichen Regelwerk, das im Internet in einer aktuellen, redigierten Fassung von 2018 einsehbar ist (siehe dazu unter www.rechtschreibrat.com). Im Vorwort zu diesem Regelwerk findet man Angaben zum Geltungsbereich der darin aufgelisteten 113 Paragraphen (inkl. aller Ergänzungen). Hier heißt es, der Text „ regelt die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Institutionen (Schule, Verwaltung), für die der Staat Regelungskompetenz hinsichtlich der Rechtschreibung hat “ (2018, 6). Allen Rechtschreibwörterbüchern, die aktuell in Bezug auf das Deutsche publiziert werden, liegt also ein Text zugrunde, der Gesetzescharakter hat und für Schulen und Behörden verbindlich ist. Das gilt für andere Nachschlagewerke nicht, sie haben keinen solch bindenden Charakter. 5 Und doch kann man 5 Daraus resultiert aber auch ein Problem: Wie wir weiter oben gesehen haben, können statuierte Normen im Widerspruch zueinander stehen. Welcher Norm folgt man also, wenn man sich in seinem Handeln an den Normen ausrichten, d. h. im Sinne 5. Normen 50 narr-starter.de <?page no="51"?> sich auf den Standpunkt stellen, dass auch diese Texte Kodizes sind, wenn man den Begriff weiter fasst und darunter all jene Nachschlagewerke zum Sprachgebrauch subsumiert, die Orientierung anbieten und „ deren Nutzung, zumindest zum Teil, von relevanten Institutionen (z. B. Ministerien, Schulen, Verlage) gestützt wird “ (Klein 2013, 27). Peter Eisenberg (2017, 63 - 68) stellt einige dieser Normkodizes im Detail vor und hält fest, dass es die Aufgabe solcher Texte sei, „ sich am Bedarf zu orientieren “ , also das zu behandeln, was „ in der Sprachgemeinschaft an Zweifelsfällen und Unsicherheiten thematisiert wird “ (2017, 64). Als „ wirkmächtigsten Normkodex des Deutschen “ nennt er den Duden, und hier insbesondere die Dudenbände 1 (Rechtschreibung), 4 (Grammatik), 6 (Aussprache) und 9 (Zweifelsfälle). Es sei aber nochmals betont, dass es neben diesen Dudenbänden auch viele andere Angebote (offline wie online) gibt, die in Sprachfragen ebenfalls konsultiert werden können, oft aber nicht im Blickfeld der Ratsuchenden liegen. Meist gilt einzig der Duden als Referenzwerk (z. B. bei der Korrektur von Schülerarbeiten). Ein Grund hierfür ist sicher, dass der Duden-Verlag bis zur Rechtschreibreform einen Sonderstatus hatte: Sein Rechtschreibwörterbuch war, so hieß es auf dem Einband früherer Auflagen, „ [m]aßgebend in allen Zweifelsfällen “ (vgl. Kap. 2.2). Tatsächlich galten aufgrund eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1955 nur die im Duden notierten Schreibweisen und Regeln als verbindlich (vgl. dazu Dürscheid 2016, 174); von Gloy (2012, 34) „ normorientiert “ bzw. „ normbestimmt “ handeln will bzw. muss (z. B. in der Schule)? 5.1 Zum Normenbegriff 51 narr-starter.de <?page no="52"?> andere Verlage (z. B. Wahrig, Bertelsmann) erhielten diesen Status für ihre Rechtschreibwörterbücher nicht. Halten wir also fest: Zum Kodex zählen alle Nachschlagewerke, auf die man sich in Sprachfragen berufen kann, auch wenn diese keine Gesetzestexte darstellen (wie aber bei der Rechtschreibung der Fall) und auch wenn die Gültigkeit der darin explizit formulierten Normaussagen nur durch andauernde Anwendung zustande kommt, also auf einem Gewohnheitsrecht basiert. Und man muss sich vor Augen führen, dass die in diesen Kodizes formulierten Regeln zwar sozial begründet sind, dass sie aber streng genommen nicht als Vorschriften zu lesen sind. Den Nutzerinnen und Nutzern ist es (außerhalb der Schule) freigestellt, sich an ihnen zu orientieren. Dennoch spielen sie in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Eisenberg (2017, 60) sagt es drastisch: „ Wer sich ihnen verweigert, gefährdet die sozialen Beziehungen, in denen er lebt “ . Nun noch einmal zurück zum Grammatik-Duden: Formuliert werden hier Aussagen dazu, was in der Standardsprache mit einer bestimmten Häufigkeit vorkommt. Von seinem Anspruch her will dieser Band den Sprachgebrauch nur beschreiben; formuliert werden also, wie in den Kapiteln 1 und 4 erläutert, Gebrauchsnormen - und zwar von der Laut- und Buchstabenebene über die gesprochene Sprache bis hin zum Text. Wie daraus ersichtlich, liegt diesem Band ein sehr weiter Grammatikbegriff zugrunde. Dieser umfasst nicht nur die Morphologie und die Syntax (wie in vielen anderen Überblickswerken der Fall), sondern alle Ebenen der sprachlichen Beschreibung. Deutlich wird der deskriptive Anspruch bereits im Vorwort, wo erläutert wird, dass im vorliegenden Band der „ heutige Stand des Wissens über Formen und Funktionen der deutschen Standardsprache [. . .] beschrie- 5. Normen 52 narr-starter.de <?page no="53"?> ben “ werde (ebd.). 6 Weiter wird an dieser Stelle darauf verwiesen, dass man eine große Menge aktueller Texte - und hier insbesondere das Dudenkorpus mit über vier Milliarden Wortformen - ausgewertet habe, um „ die Verwendung von sprachlichen Varianten empirisch zu überprüfen und zu dokumentieren “ (ebd.). Wie wir weiter oben gesehen haben (vgl. Kap. 4.1), ist dies das Korpus (bestehend v. a. aus Zeitungsartikeln), mit dem auch die Autoren des Zweifelsfälle-Dudens arbeiten. Wir kommen nun zu einem grundsätzlichen Aspekt in der Normendiskussion, den wir auch schon weiter oben beim Thema Standard kurz angesprochen haben (vgl. Kap. 2): Man könnte einwenden, dass die Häufigkeit des Vorkommens noch nichts darüber aussagt, ob dieses Phänomen auch den Erwartungen entspricht, die an die Standardsprache herangetragen werden. So kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass in Nebensätzen das Verb am Ende zu stehen habe und die Verbzweitstellung (vgl. weil ich habe keine Zeit) falsch sei - auch wenn dieses Phänomen bereits in den Kodizes erfasst ist und es z. B. im Grammatik-Duden heißt, dass es Konjunktionen gibt (z. B. weil, obwohl, während), die „ in der gesprochenen Sprache zunehmend auch mit Verbzweitstellung gebraucht werden “ (Duden 4 2016, 628). Auch daran sieht man, dass das, was manchem als gutes Deutsch gilt, nicht immer dem entspricht, was tatsächlich im Gebrauch ist. Doch muss hier weiter differenziert werden: Von welchem Gebrauch ist die Rede? Handelt es sich um die 6 Hier tut sich allerdings ein Widerspruch zum Untertitel auf. Dieser lautet „ Unentbehrlich für richtiges Deutsch “ , legt also nahe, dass der Band den Sprachstand nicht nur beschreibt, sondern Auskunft über Richtig und Falsch gibt. 5.1 Zum Normenbegriff 53 narr-starter.de <?page no="54"?> gesprochene oder geschriebene Sprache? Ist es ein formeller Text oder ein privates Schreiben? Steht die Äußerung in einer schnellen, dialogischen Sequenz (wie z. B. in einer Chatkommunikation) oder ist sie Teil eines komplexen Textes? Die Beurteilung von sprachlichen Formen sollte also immer auch mit Blick auf ihre situative Angemessenheit vorgenommen werden (vgl. dazu Schiewe 2016; siehe auch Dannerer/ Esterl 2018). Was in einem bestimmten Kontext unpassend ist, mag in einem anderen vollkommen unauffällig sein. Kommen wir abschließend zu der Frage, in welcher Relation der Normenbegriff genauer zum Begriff des Gebrauchsstandards steht. Wie wir weiter oben gesehen haben, orientieren sich die im Grammatik- und im Zweifelsfälle- Duden formulierten Aussagen an dem, was sich empirisch ermitteln lässt - also am Usus. Letztlich gilt dies auch für viele der Rechtschreibregeln, die im Kontext der Rechtschreibreform neu formuliert wurden. Denn bei der Reform spielten nicht nur Faktoren wie inhaltliche Vereinfachung und Systematizität eine Rolle (vgl. Dürscheid 2016, 168), man versuchte auch, dem Schreibgebrauch Rechnung zu tragen. Das zeigt sich z. B. in den Regeln zur Verwendung des Apostrophs. Im Regelwerk wird nun der Tatsache Rechnung getragen, dass viele Schreiber dazu neigen, in Verbindung mit einem Eigennamen einen Apostroph zu setzen (vgl. Peter ’ s Freund). Vor der Rechtschreibreform galt diese Apostroph- Setzung als Fehler, jetzt ist sie zulässig. Während die Rechtschreibregeln präskriptiven Charakter haben, gilt das für andere normative Aussagen nicht. Doch lassen sich auch diese präskriptiv deuten. So kann man die im Grammatik-Duden formulierten Gebrauchsnormen (z. B. „ Im konjunktional eingeleiteten Nebensatz steht das finite 5. Normen 54 narr-starter.de <?page no="55"?> Verb am Ende “ ) in Aussagen mit Verpflichtungscharakter umformulieren: „ Stelle das finite Verb in einem konjunktional eingeleiteten Nebensatz ans Ende “ . In vielen Situationen sind solche Umdeutungen notwendig, so z. B. im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht (vgl. Götze 2001), aber auch beim Korrigieren von Schüleraufsätzen im muttersprachlichen Unterricht. Doch sollten dabei immer Fragen der Angemessenheit berücksichtigt werden. Solche Fragen stellen sich nicht nur in der Grammatik, sondern auch in der Lexik: Wann ist ein Wort wie kriegen in einem Text angemessen, wann nicht? Wann kann eine elliptische Sequenz wie So doch nicht! im Geschriebenen stehen bleiben, wann nicht? In welchem Kontext kann in indirekter Rede der Indikativ akzeptiert werden, wo muss der Konjunktiv verwendet werden? Soll man die Dativverwendung nach wegen oder während als Fehler anstreichen, auch wenn man weiß, dass es gerade bei diesen beiden Präpositionen immer häufiger zu Kasusschwankungen kommt? Alle diese Überlegungen mögen bei der Korrektur von Schülerarbeiten z. B. zeitraubend sein, man kann es aber auch positiv wenden: Es gibt einen Ermessensspielraum in der „ Annehmbarkeit “ (Coseriu 1988/ 2007, 52). Allerdings sind diesem Spielraum Grenzen auferlegt. Das führt uns im nächsten Abschnitt zu der Unterscheidung von Korrektheit und Annehmbarkeit bzw. zur Unterscheidung von System und Norm. 5.2 System und Norm in der Grammatik Bislang wurde der Normenbegriff losgelöst von dem betrachtet, was strukturell im Deutschen überhaupt möglich ist. Nun wenden wir uns der Frage zu, unter welchen Voraussetzungen grundsätzlich über die Einhaltung von 5.2 System und Norm in der Grammatik 55 narr-starter.de <?page no="56"?> Normen gesprochen werden kann. In diesem Abschnitt beziehen wir diese Frage auf die Grammatik, im nächsten auf die Orthographie. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die Arbeiten des rumänischen Sprachwissenschaftlers Eugenio Coseriu, der in seiner „ Theorie des Sprechens “ zwischen dem System einer Sprache (der „ Korrektheit “ ) und ihrer Norm (der „ Annehmbarkeit “ ) unterscheidet. Coseriu schreibt dazu: System ist das, was „ aufgrund der Regeln einer Sprache möglich ist “ (1988/ 2007, 52). Norm ist das, „ was tatsächlich realisiert wird und realisiert worden ist. Die Norm ist eine Einschränkung des Systems, weil gerade nicht alle Möglichkeiten des Systems auch realisiert werden “ (ebd., 52 f.). Betrachten wir dazu ein Beispiel: Ein Genitivobjekt ist im Deutschen möglich (vgl. wir beschuldigen ihn des Diebstahls), es wird aber nur noch bei wenigen Verben verwendet. Nach Eisenberg (2017, 68) sind im Gegenwartsdeutschen nur noch ca. 25 Genitivverben im Gebrauch. Dagegen ist das Genitivattribut (vgl. der Freund meines Bruders) auch im Gegenwartsdeutschen stabil. Zwar steht der präpositionale Anschluss in Konkurrenz dazu (vgl. der Freund von meinem Bruder), doch ist auch das Attribut weiterhin im Gebrauch. Nun gibt es aber auch den umgekehrten Fall: Ein sprachliches Phänomen kommt vor, es ist vom System her aber nicht vorgesehen. Wir denken hier an Beispiele, in denen bewusst mit der grammatischen Korrektheit gespielt wird (vgl. Hundt 2009), um auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf die Äußerung zu lenken (vgl. „ Da werden Sie geholfen! “ ). Möglich ist aber auch, dass versehentlich die Regeln des 5. Normen 56 narr-starter.de <?page no="57"?> Systems durchbrochen werden (vgl. „ Sparen Sie bis zu satte 50 %! “ ). Der erste Spruch stammt aus dem Jahr 2003 und wurde schon zu einem geflügelten Wort, und auch beim zweiten Werbespruch liegt vom System her ein Fehler vor (das Adjektiv ist falsch flektiert), der aber möglicherweise nicht einmal bemerkt wird. Zur Weglassung von Flexionsendungen kommt es vor allem in der gesprochenen Sprache, vereinzelt ist dieses Phänomen aber auch in Printmedien zu beobachten (z. B. in Zeitungsartikeln) - und mehr noch ist es ein Merkmal informeller Schriftlichkeit (wie z. B. in privaten WhatsApp-Nachrichten). Neben solchen Systemfehlern, die auch deshalb passieren, weil sie wenig auffällig (= wenig salient) sind, gibt es andere, die sofort bemerkt werden. Dabei kann es sich um Fehler handeln, die bei Deutschlernern auftreten (vgl. Morgen Maria hat Geburtstag). Weiß man nicht, in welchem Kontext dieser Satz geäußert wird, könnte man aber auch hier vermuten, dass die Konstruktion als Sprachspiel verwendet wird. Und schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es Realisierungsformen gibt, die vom System her nicht möglich sind, aber dennoch - und dies in allen Kontexten - vollkommen unauffällig sind (vgl. dazu auch Kap. 4.1). Das sehen wir beispielsweise an der Nominalphrase eines Nachts (Beispiel übernommen von Ágel 2008). In einem Satz wie Eines Nachts traf ich sie fungiert die NP als Genitivadverbial und wird analog zu Adverbialen wie eines Tages oder frohen Mutes gebildet (vgl. zu diesem Typus von Analogiebildung Schneider 2013). Folgt man den Deklinationsregeln des Deutschen, müsste der Genitiv aber einer Nacht lauten. Denn feminine Substantive im Singular stehen ohne Kasusendung, und der indefinite Artikel bei Feminina im Genitiv Singular endet auf -r, nicht auf -s. Ágel (2008, 67) stellt dazu 5.2 System und Norm in der Grammatik 57 narr-starter.de <?page no="58"?> fest, dass es sich dabei um einen Systemfehler handelt, „ der (mittlerweile) zur Norm avanciert ist “ . Wenden wir uns nun den Formen zu, die vom System her möglich sind und in der Norm als „ standardsprachlich gleichberechtigt “ (so die Formulierung im Grammatik-Duden) ausgewiesen werden, d. h. Realisierungsalternativen darstellen. Dazu gehören Substantive, die verschiedenen Deklinationsmustern folgen (vgl. die Auflistung im Grammatik-Duden 2016, 220 - 246). Für die meisten der hier gelisteten Substantive gilt, dass sie ohne Bedeutungsunterschied in zwei Varianten vorkommen können (vgl. die Federn des Pfaus vs. die Federn des Pfauen). Auch gibt es Komposita, bei denen das Vorkommen eines Fugenelements obligatorisch ist (z. B. immer dann, wenn das Erstglied auf -heit oder -keit oder -ung endet; vgl. Krankheitsverlauf, Vorlesungsende), und andere Zusammensetzungen, wo eine Variation möglich ist (vgl. Adventkranz vs. Adventskranz). Und schließlich sei ein Beispiel aus der Syntax genannt: Im Deutschen bilden die verbalen Teile in Sätzen mit Verbzweitstellung eine Klammer (vgl. Er wird das Buch lesen); weitere Satzglieder stehen innerhalb dieser Klammer (vgl. Er wird das Buch an Weihnachten mit Freude lesen). Daneben besteht unter bestimmten Bedingungen aber auch die Möglichkeit der Ausklammerung (vgl. Erstaunt wollten sie sich umsehen in der Gegend, Beispiel übernommen aus Duden 6 2016, 897). Handelt es sich dabei um einen Nebensatz, ist eine solche Ausklammerung sogar die Regel (vgl. Er wird das Buch lesen, wenn Weihnachten ist vs. Er wird das Buch, wenn es Weihnachten ist, lesen). Das System einer Einzelsprache stellt somit verschiedene Möglichkeiten zur standardsprachlichen Realisierung bereit. Welche dieser Möglichkeiten jeweils genutzt werden, hängt 5. Normen 58 narr-starter.de <?page no="59"?> nicht zuletzt von außersprachlichen Faktoren ab (z. B. regionale Herkunft und Alter der Sprecherinnen und Sprecher). Auf diese Faktoren, die unter das Stichwort diatopische, diaphasische und diastratische Variation fallen, gehen wir weiter unten ein (vgl. Kap. 6). 5.3 System und Norm in der Orthographie Zum Schluss dieses Kapitels kommen wir zu der Frage, in welcher Relation die Orthographie zum graphematischen System des Deutschen steht. Oft gibt es ja mehrere Möglichkeiten, eine bestimmte Lautkette zu verschriften; welche dieser Schreibweisen die jeweils zulässige ist, ist in der Orthographie festgelegt und in einem Regelwerk niedergeschrieben. Im Deutschen umfasst dieses Regelwerk sechs Bereiche, die wie folgt bezeichnet sind (siehe unter www. rechtschreibrat.com): Laut-Buchstaben-Zuordnungen, Getrennt- und Zusammenschreibung, Schreibung mit Bindestrich, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung am Zeilenende. Hinzu kommt ein Wörterverzeichnis mit ca. 12 500 Einträgen, in dem u. a. die Wörter gelistet sind, die zum „ zentralen rechtschreiblichen Wortschatz “ (S. 11) gehören (z. B. bohren, Faust, fegen, Feld). In vielen Fällen findet sich hier auch ein Verweis auf die entsprechende Stelle im Regelwerk, die beiden Texte sind also eng verzahnt. Unter dem Eintrag A-Dur-Tonleiter im Wörterverzeichnis steht beispielsweise § 44(1), § 55(2). Diese Angaben nehmen Bezug auf die entsprechenden Paragraphen im Regelbereich „ Schreibung mit Bindestrich “ . Weiter gibt es im Wörterverzeichnis solche Einträge, die nur durch „ Einzelfestlegungen [. . .] erfasst werden “ können (S. 9), wo es also nicht möglich ist, ihre Schreibung aus dem 5.3 System und Norm in der Orthographie 59 narr-starter.de <?page no="60"?> Regelteil herzuleiten (z. B. Fremdwörter wie Rhythmus oder Silhouette). Die Orthographie legt also fest, welche Schreibweise im graphematischen System des Deutschen die jeweils richtige ist. Allerdings wäre es falsch anzunehmen, dass es immer nur eine orthographisch korrekte Schreibweise gibt; oft sind auch Varianten zugelassen. So wird im Regelwerk an verschiedenen Stellen auf alternative Schreibweisen hingewiesen. Unter der Überschrift „ Spezielle Laut-Buchstaben- Zuordnungen in Fremdwörtern “ liest man beispielsweise: „ Im Prozess der Integration entlehnter Wörter können fremdsprachige und integrierte Schreibung nebeneinanderstehen “ (2018, 32). Im Anschluss daran werden einige Substantive genannt, bei denen zwei Schreibweisen möglich sind (z. B. Ghetto - Getto, Joghurt - Jogurt, Sauce - Soße). Allerdings kann man im Einzelfall nicht wissen, ob eine integrierte Schreibung zulässig ist, weshalb diese Regelung bei vielen zu Verunsicherung führt. Weiter ist auch die Kommasetzung unter bestimmten Bedingungen freigegeben, doch anders als bei der Fremdwortschreibung ist hier die Variation klar geregelt. Die betreffende Regel ist in § 73 formuliert: Bei der Reihung von selbständigen Sätzen, die durch und, oder, beziehungsweise/ bzw., entweder - oder, nicht - noch oder durch weder - noch verbunden sind, kann man ein Komma setzen, um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen. (2018, 81) Konkret bedeutet dies: Wenn selbständig vorkommende Sätze mit einer Konjunktion verknüpft werden, darf - wie bereits vor der Reform - ein Komma gesetzt werden, das Komma darf nun aber auch fehlen (vgl. Der Junge kommt und 5. Normen 60 narr-starter.de <?page no="61"?> das Mädchen geht). In allen anderen Fällen (so z. B. bei der Verknüpfung nominaler Einheiten) ist das weiterhin nicht zulässig, es darf kein Komma stehen (vgl. Der Junge und das Mädchen kommen). Wie wir bereits an diesen wenigen Beispielen sehen, gibt es in der Orthographie einen gewissen Spielraum, was dazu führen kann, dass in ein und demselben Textabschnitt einmal diese, einmal jene Schreibvariante gewählt wird. Empfehlenswert ist eine solche Variation zwar nicht, sie kann aber nicht als Fehler angestrichen werden. Anders ist es bei den vielen Schreibweisen, die außerhalb der Norm liegen: Aus orthographischer Sicht handelt es sich dabei um Fehler. In der Werbung, aber mehr noch in der privaten Internetkommunikation kommen solche Schreibungen häufig vor, was nicht nur dem schnellen, dialogischen Schreiben geschuldet ist, sondern auch andere Gründe haben kann (z. B. Anlehnung an die gesprochene Sprache, vgl. sooo schön). Das Schreiben in solchen Kontexten wird oft als normfern etikettiert und in der Öffentlichkeit kritisch betrachtet (vgl. dazu im Überblick Schiewe 2016). Angemerkt sei aber, dass viele dieser normfernen Schreibweisen vom System her durchaus möglich wären. So könnte man die Lautkette, die hinter dem Verb bohren steht, auf der Basis der Phonem- Graphem-Korrespondenzen des Deutschen durchaus auch als boren oder booren verschriften. Ein Systemfehler läge dagegen vor, wenn man für dieselbe Lautkette baren oder buren schreiben wollte, das / o/ -Phonem kann man nicht unter Beibehaltung der betreffenden Lautung mit <a> oder <u> verschriften. Wie in der Grammatik, gibt es also auch in der Orthographie Systemfehler (z. B. baren) und Normfehler (z. B. boren) - mit einem zentralen Unterschied: In der Grammatik 5.3 System und Norm in der Orthographie 61 narr-starter.de <?page no="62"?> sind auf der Basis des Systems viele Realisierungen möglich, in der Orthographie nur in sehr beschränktem Maße (genau genommen nur dann, wenn im Regelwerk Varianten vorgesehen sind). Und das wiederum hängt mit dem Status der deutschen Rechtschreibung zusammen: Dahinter steht eine staatlich legitimierte Instanz, die darüber entscheidet, welche Möglichkeiten des Systems „ annehmbar “ sind (in Coserius Worten, s. o.) und welche nicht. In der Grammatik gibt es eine solche Instanz glücklicherweise nicht. Denn die Frage, welche grammatischen Realisierungen - auf der Basis des Systems - jeweils annehmbar sind, lässt sich nicht pauschal beantworten. Die ‚ Richtigkeit ‘ einer Äußerung hängt immer auch vom Kontext ab. Aufgaben zu Kap. 5 Lesen Sie im Metzler Lexikon Sprache den Eintrag zum Stichwort Regel. Welche der in diesem Lexikonartikel genannten vier Bedeutungen, die in der Sprachwissenschaft zu unterscheiden sind, entspricht am ehesten dem Terminus Gebrauchsnorm? Besuchen Sie die Website des Instituts für Deutsche Sprache und informieren Sie sich über das Angebot „ Grammatik in Fragen und Antworten “ . Worauf stützen sich die Antworten? Konsultieren Sie die Website des Rats für deutsche Rechtschreibung und informieren Sie sich im Vorwort des Regelwerks von 2018 über die Änderungen, die in dieser Fassung vorgenommen wurden. 5. Normen 62 narr-starter.de <?page no="63"?> 6. Variation, Varianten, Varietäten 6.1 Vorbemerkungen In diesem Kapitel geht es um die Klärung von wichtigen Begriffen im Kontext sprachlicher Variation - und damit um ein Themenfeld, das für die Analyse des Sprachgebrauchs von zentraler Bedeutung ist. So verwundert es nicht, dass rund um dieses Thema einige Einführungswerke vorliegen. An dieser Stelle sei nur das Studienbuch von Sinner (2014) genannt, das den Titel Varietätenlinguistik: eine Einführung trägt. Doch stellt sich hier schon die erste Frage: Warum ist in Sinners Buch von Varietätenlinguistik die Rede, in anderen Überblicksdarstellungen steht dagegen die Bezeichnung Variationslinguistik, und in manchen Nachschlagewerken wird der Terminus Varietätenlinguistik nicht einmal erwähnt? So gibt es im Metzler Lexikon Sprache zwar einen Artikel zu Variationslinguistik (vgl. Glück/ Rödel 2016, 746), nicht aber zu Varietätenlinguistik. Im Lexikon der Sprachwissenschaft wird man vom Stichwort Varietätenlinguistik auf den Artikel Variationslinguistik verwiesen, einen eigenen Eintrag gibt es aber nicht. Unter dem Stichwort Variationslinguistik ist hier zu lesen, dass es sich dabei um Beschreibungsansätze handle, die „ von einer systematisch geordneten Heterogenität natürlicher Sprachen ausgehen “ und die strikt empirisch ausgerichtet seien (Bußmann 2008, 771). Der Terminus Varietätenlinguistik erscheint in diesem Artikel nur in Klammern, als Synonym zu Variationslinguistik. Sind Variationslinguistik und Varietätenlinguistik also zwei verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Disziplin? Und in welcher Relation steht dazu die Soziolinguistik, die ja narr-starter.de <?page no="64"?> nicht nur das Verhältnis von Sprache und sozialer Schicht betrachtet, sondern verschiedene gesellschaftliche Faktoren untersucht, die einen Einfluss auf den Sprachgebrauch haben? Im Folgenden gehen wir zunächst auf die Unterschiede zwischen den genannten Disziplinen ein, dann stellen wir drei Ebenen sprachlicher Variation vor und erläutern mit Bezug auf Arbeiten der beiden Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher, was dafür sprechen könnte, diese drei Ebenen um eine weitere, um die Unterscheidung in Nähe- und Distanzsprache, zu ergänzen (Kap. 6.3). Angemerkt sei an dieser Stelle auch, dass wir das Thema hier auf theoretischer Ebene behandeln; in Kap. 7 wenden wir uns einem konkreten Bereich, der diatopischen Variation im Standarddeutschen zu. 6.2 Variations-, Varietäten- und Soziolinguistik Carsten Sinner führt in seinem Studienbuch aus, dass die Beschreibung der verschiedenen Varietäten einer Sprache und ihre Verknüpfung mit außersprachlichen Faktoren eine wichtige Aufgabe der Varietätenlinguistik sei und dass „ variationslinguistische Fragestellungen eine Rolle in der Varietätenlinguistik spielen [können], aber nicht mit ihr identisch “ seien (Sinner 2014, 16). Folgt man diesen Überlegungen, dann handelt es sich bei Variations- und Varietätenlinguistik nicht um synonyme Bezeichnungen. Tatsächlich kann man argumentieren, dass damit verschiedene theoretische und methodische Prämissen verbunden seien und dass das für beide Disziplinen zentrale Konzept Varietät enger (in der Varietätenlinguistik) oder weiter (in der Variationslinguistik) zu fassen ist. Zunächst zu dem weiten Verständnis von Varietät: Häufig wird der Ausdruck verwendet, ohne dass damit bestimmte 6. Variation, Varianten, Varietäten 64 narr-starter.de <?page no="65"?> theoretische Vorannahmen gemacht oder Korrelationen mit außersprachlichen Faktoren angenommen würden. Folgt man dieser Auffassung, dann kann man beispielsweise auch die Werbesprache als eine Varietät bezeichnen. Denn es lässt sich argumentieren, dass die Werbesprache bestimmte sprachliche Merkmale aufweist, die diese Sprachform von anderen Verwendungskontexten unterscheidet. Man kann den Terminus aber auch enger fassen und Varietäten als eindeutig voneinander zu unterscheidende, in sich homogene Subsysteme einer Sprache (= Lekte) definieren, deren Vorkommen an außersprachliche Parameter geknüpft sind (z. B. Alter der Sprecher, regionale Herkunft, Geschlecht). Im Zentrum dieses Konzepts steht dann die Anbindung an extralinguistische Kategorien, wobei sich hier zum einen die Frage stellt, wie viele distinkte innersprachliche Merkmale vorhanden sein müssen, um von einer Varietät zu sprechen, zum anderen, wie die Varietäten voneinander abgegrenzt werden können. Unabhängig davon, ob man die Varietäten- und Variationslinguistik gleichsetzt und man den Varietätenbegriff enger oder weiter fasst: Allen Arbeiten in der Variationsforschung liegt die Annahme zugrunde, dass Sprachen durch Variation gekennzeichnet sind bzw. - mehr noch - dass Variation das Wesensmerkmal von Sprache ist (vgl. dazu auch Elspaß 2018). Das gilt sowohl für die Standardsprache, wo bereits in den Normkodizes der Variation Rechnung getragen wird (vgl. dazu Kap. 4), als auch für den Nonstandard (wie z. B. die verschiedenen Dialekte). Und nicht nur von Sprecher zu Sprecher kann der Sprachgebrauch variieren (interspeaker variation), auch der Sprachgebrauch nur eines Sprechers ist variabel (inner-speaker variation). 6.2 Variations-, Varietäten- und Soziolinguistik 65 narr-starter.de <?page no="66"?> Nun zu der zweiten Frage, die weiter oben gestellt wurde: In welcher Relation stehen die Variationsbzw. Varietätenlinguistik und die Soziolinguistik? Dazu werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Soziolinguistik. Diese ist eng mit dem Namen des britischen Soziologen Basil Bernstein verbunden: Bernstein führte in den 1960er Jahren empirische Untersuchungen zum Verhältnis von Sprachgebrauch und sozialer Schicht durch. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass Unterschichtkinder einen sog. restringierten Kode sprechen, Mittel- und Oberschichtkinder dagegen einen sog. elaborierten Kode (vgl. hierzu Löffler 2016, 165). Die Unterschiede zeigten sich, so Bernstein, beispielsweise in der Komplexität sprachlicher Äußerungen und ihrer grammatischen Korrektheit; dem restringierten Kode fehle es an beidem. Dieses Defizit müsse im Interesse der Unterschichtkinder überwunden werden - und zwar dergestalt, dass sie durch geeignete Förderprogramme an den elaborierten Kode herangeführt werden. Nur so sei es ihnen möglich, sozial erfolgreich zu sein. Die Bernstein ’ sche Defizithypothese wurde zunächst begeistert aufgenommen, doch es wurde auch schon bald Kritik laut. Diese bezog sich vor allem auf das Schichtenmodell, das Bernstein zugrunde legte, aber auch - und mehr noch - auf seine empirische Vorgehensweise und auf die Schlussfolgerungen, die er daraus zog (z. B. zum Verhältnis von Sprache und Denken). Einer der bekanntesten Bernstein-Kritiker war der US-amerikanische Soziolinguist William Labov. Er vertrat die These, dass die verschiedenen Sprechweisen jeweils voll funktional und schlicht anders seien - eine Ansicht, die als Differenzhypothese in die Geschichte der Soziolinguistik eingegangen und heute sensus communis ist. Labovs Verdienst war es auch, sprachliche 6. Variation, Varianten, Varietäten 66 narr-starter.de <?page no="67"?> Variation mit Hilfe statistischer Methoden und in Relation zu Variablen, die verschiedene Werte annehmen können, zu beschreiben. Diese Vorgehensweise legt er in dem Buch The Social Stratification of English in New York City auf detaillierte Weise dar. Er berichtet darin über seine Studien zum dialektalen Sprachgebrauch des Verkaufspersonals in drei New Yorker Kaufhäusern unterschiedlichen sozialen Milieus. Ein Ziel dieser Studie war, Daten zur Aussprache des / r/ zu erheben. So wurde das Personal von seinen Studenten gefragt, wo man die Spielzeugabteilung finden würde, wohl wissend, dass die Antwort „ Fourth floor “ lauten, also ein / r/ -Laut im Wortinneren (fourth) und am Wortende (floor) verwendet werden würde. Labov konnte mit seiner ‚ Kaufhausstudie ‘ den Nachweis erbringen, dass die Aussprache je nach sozialer Schicht variierte, dass die Sprecher aber durchaus in der Lage waren, sich dem Sprachgebrauch anzupassen - und dies je nach sozialem Milieu auf unterschiedliche Weise geschah. Dies zeigte sich u. a. darin, dass das Verkaufspersonal auf Nachfrage der Studenten (sie gaben vor, die Antwort nicht verstanden zu haben) die Aussprache entsprechend modifizierte. Kommen wir nun noch einmal zurück zu der Unterscheidung von Variations-/ Varietätenlinguistik und Soziolinguistik. Sinner (2016, 14) hält fest, dass Labovs Arbeitsweise, die „ Nutzung von natürlichen, spontan produzierten Sprachdaten und minutiöse Koppelung sprachlicher Realisierungen an außersprachliche Variablen bei Verarbeitung großer Datenmengen “ , charakteristisch für variationslinguistische Untersuchungen sei. Im Englischen wird hierfür der Ausdruck Variationist Sociolinguistics verwendet, die beiden Disziplinen sind also eng miteinander verknüpft. 6.2 Variations-, Varietäten- und Soziolinguistik 67 narr-starter.de <?page no="68"?> Beiden gemeinsam ist, dass sie - um mit Löffler (2016, 13) zu sprechen - „ Sprachwirklichkeitsforschung “ betreiben. 7 In seiner Einführung in die germanistische Soziolinguistik präsentiert Löffler ein „ soziolinguistisches Varietäten-Modell “ (Löffler 2016, 79), das eine ganze Reihe von Lekten umfasst (Soziolekte, Dialekte, Genderlekte, Funktiolekte u. a.). Unter Funktiolekt versteht Löffler den Sprachgebrauch in verschiedenen Domänen (z. B. in der Literatur, in der Wissenschaft und in der Presse). Zur Geschichte der Soziolinguistik sei abschließend noch auf das Buch Making Waves. The Story of Variationist Sociolinguistics hingewiesen. Sali A. Tagliamonte lässt darin bekannte Soziolinguistinnen und -linguisten aus dem englischsprachigen Raum zu Wort kommen (z. B. Nikolas Coupland, Penelope Eckert, William Labov, Lesley Milroy, Dennis Preston, Deborah Tannen). Zwei der Fragen, die sie ihnen in Einzelinterviews gestellt hatte, lauteten: „ How did you get into Sociolinguistics? What was it like doing fieldwork? “ (Tagliamonte 2016, x - xi). Die Antworten sind sehr aufschlussreich, sie dokumentieren die Geschichte der (USamerikanischen) Soziolinguistik auf anschauliche Weise. Dargestellt wird die Geschichte, angelehnt an eine viel zitierte Metapher von Penelope Eckert, in drei Wellen: 7 Die Soziolinguistik ist nicht die erste Disziplin, die sich mit der Sprachwirklichkeit befasst. Ihr Vorläufer ist die Dialektologie, deren Anfänge bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. 6. Variation, Varianten, Varietäten 68 narr-starter.de <?page no="69"?> Die erste Welle steht in enger Verbindung mit den Arbeiten von William Labov. Die zweite Welle ist dadurch gekennzeichnet, dass ethnographische Methoden Berücksichtigung finden, also soziale und kulturelle Faktoren einbezogen werden. Die dritte Welle kehrt die Perspektive gewissermaßen um (vgl. Eckert 2018): Es wird nicht mehr angenommen, dass der Sprachgebrauch von externen Faktoren bestimmt sei, sondern die Sprecher sprachliche Mittel bewusst einsetzen, um sich in ihren „ communities of practice “ zu positionieren und auf diese Weise soziale Bedeutung herzustellen. 6.3 Dimensionen der Variation Coserius Sprachtheorie stellt nicht nur eine wichtige Basis für die Unterscheidung von System und Norm dar (vgl. dazu Kap. 5), seine Publikationen sind auch wichtige Grundlagentexte in der Varietätenlinguistik. Coseriu versteht unter dem Ausdruck Varietät aber nicht, wie allgemein üblich, die verschiedenen Erscheinungsformen einer Sprache (die Lekte), sondern „ die sprachliche Variation als solche “ (Coseriu 1988/ 2007, 139). Diese Variation umfasst nach Coseriu drei Ebenen: die diatopische, die diastratische und die diaphasische „ Verschiedenheit “ . Die diatopische Verschiedenheit bezieht er auf die regionale Variation in einer Einzelsprache, die diastratische auf die Unterschiede, die aus der Zugehörigkeit der Sprecher zu einer sozialen Gruppe resultieren. Zur diaphasischen Verschiedenheit rechnet er die verschiedenen Sprachstile (z. B. Umgangssprache) und die Situationen, in denen diese zur Anwendung kommen (z. B. in der Familie, am Arbeitsplatz). Diese drei Verschiedenheiten stellen nach Coseriu die innere Architektur einer Sprache dar. Die früheren Sprachzustände liegen gewissermaßen dahinter, sie bilden eine eigene Dimension (die Diachronie). 6.3 Dimensionen der Variation 69 narr-starter.de <?page no="70"?> Aufbauend auf Coserius Ansatz vertreten Peter Koch und Wulf Oesterreicher die Ansicht, dass diese Verschiedenheiten eine Varietätenkette bilden, an deren Anfang die diatopische Dimension steht. Darauf aufbauend folge die diastratische Dimension und schließlich die diaphasische (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994; Oesterreicher 2010). Alle drei Dimensionen hätten jeweils eine starke und eine schwache Ausprägung, dazwischen liege ein Kontinuum. So gebe es Dialektwörter, die tendenziell standardfern sind (d. h. stark markiert), und andere, die eher standardnah sind (d. h. schwach markiert). Sie lassen sich auf der diatopischen Ebene also am einen oder anderen Ende des Kontinuums situieren. Oberhalb dieser Varietätenkette nehmen Koch und Oesterreicher nun noch eine weitere Dimension an. Auch diese Dimension stelle, so argumentieren sie, ein Kontinuum dar, das durch die beiden Eckpunkte Nähe und Distanz zu charakterisieren sei und universalen Charakter habe. Ein Gesetzestext und eine feierliche Rede beispielsweise lassen sich tendenziell am Distanzpol situieren, eine WhatsApp- Nachricht aus den Ferien und ein Privatgespräch eher am Nähepol. Beide Pole sind über Parameter charakterisiert, die, so Koch/ Oesterreicher (1994, 587 f.), fundamentale Charakteristika von Kommunikationssituationen betreffen (wie z. B. die Vertrautheit der Kommunikationspartner). Weiter führen sie aus, dass hinter diesem Kontinuum „ anthropologisch begründbare, universale Kommunikationshaltungen “ (Koch/ Oesterreicher 1994, 588) stünden. In allen Sprachgemeinschaften gebe es „ ein Mehr oder Weniger an kommunikativer Nähe und Distanz “ (Koch/ Oesterreicher 1994, 589) - und dies unabhängig davon, ob eine Kultur 6. Variation, Varianten, Varietäten 70 narr-starter.de <?page no="71"?> überhaupt eine Schrift besitzt oder nicht. 8 Sie plädieren deshalb dafür, das Nähe/ Distanz-Kontinuum „ in allen Formen sprachlicher Kommunikation vorauszusetzen “ (Oesterreicher 2010, 33, Hervorhebung im Original). Dieses Kontinuum überdache die drei Dimensionen Diatopik, Diastratik und Diaphasik und habe universalen Charakter. In neueren variationslinguistischen Arbeiten werden Coserius Überlegungen weitergeführt, es wird aber auch Kritik daran geübt (vgl. Sinner 2014, 220 - 224). So wird betont, dass die drei Dimensionen zwar einen großen Bereich abdecken, es aber noch andere relevante Faktoren gebe (wie z. B. die Vertrautheit der Kommunikationspartner, die Spontaneität der Äußerung, gesprochen oder geschrieben) und keine Eins-zu-Eins-Korrelation zwischen inner- und außersprachlichen Faktoren bestehe (vgl. Elspaß 2018). Aufgaben zu Kap. 6 Suchen Sie in einem Bibliothekskatalog nach neueren Einführungswerken zum Thema Variationslinguistik bzw. Varietätenlinguistik. Welche Titel werden genannt? Konsultieren Sie eines dieser Werke und skizzieren Sie, was hier unter dem Stichwort Varietät zu finden ist. Wo liegt der Unterschied zwischen den beiden Termini Variante und Variable? Konsultieren Sie zur Klärung dieser Frage ein linguistisches Nachschlagewerk. 8 Das ist ein Grund dafür, weshalb die häufig verwendeten Bezeichnungen konzeptionelle Mündlichkeit/ konzeptionelle Schriftlichkeit (vgl. dazu ausführlich Dürscheid 2016, 43 - 53) für die beiden Eckpunkte des Kontinuums unpassend sind; in neueren Arbeiten spricht man denn auch nur noch vom Näheresp. Distanzpol. 6.3 Dimensionen der Variation 71 narr-starter.de <?page no="72"?> 7. Diatopische Variation 7.1 Standardsprache vs. Dialekt Im Lexikon der Sprachwissenschaft steht unter dem Eintrag diatopisch: „ Bezeichnung für regional differenzierte Subsysteme (> Dialekt) innerhalb eines Sprachsystems “ (Bußmann 2008, 135). Damit wird nahegelegt, es gebe nur auf dialektaler Ebene diatopische Variation. Doch das ist nicht zutreffend - man denke nur an Formulierungen auf Speisekarten oder Hinweisschildern, auf die man in der Regel nur dann aufmerksam wird, wenn man sich nicht in seiner Heimatregion bzw. seinem Heimatland aufhält. So liest man in Deutschland: „ Zuwiderhandelnde haften für entstehende Kosten “ , in der Schweiz dagegen: „ Fehlbare werden für Umtriebe behaftet “ . Inhaltlich entsprechen sich die Aussagen, sie unterscheiden sich aber in der Lexik (Zuwiderhandelnde vs. Fehlbare; entstehende Kosten vs. Umtriebe) und in der Grammatik (Aktiv: haften für vs. Passiv: werden behaftet). Die Frage stellt sich, wie dieser Typus von diatopischer Variation erfasst werden kann. Dazu muss zunächst einmal bestimmt werden, wie der deutschsprachige Raum untergliedert werden soll. Betrachtet man ihn nur auf nationaler Ebene und spricht demzufolge von nationalen Varietäten (z. B. deutsches Deutsch, österreichisches Deutsch)? Oder untergliedert man weiter in Großareale (z. B. Südwestdeutschland/ Nordwestdeutschland) und geht davon aus, dass sich bereits auf dieser Ebene standardsprachliche Unterschiede zeigen (was empirisch zu überprüfen wäre)? Die folgende Karte zeigt eine solche Untergliederung. Als Basis dienen die sieben europäischen Länder, in denen narr-starter.de <?page no="73"?> Deutsch nationale oder regionale Amtssprache ist: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein, Belgien, Italien und Luxemburg (vgl. dazu VWB 2016; siehe auch Schmidlin 2011 und Glauninger 2015). Die Karte basiert auf den Ar- Berlin Hamburg Leipzig Köln Bern München Stuttgart Wien D-NORDWEST D-NORDOST D-MITTELWEST D-SÜDWEST D-SÜDOST A-OST A-SÜDOST A-MITTE A-WEST STIR CH BELG LUX LIE D-MITTELOST Abb. 1: Diatopische Untergliederung des deutschsprachigen Raums (STIR = Südtirol, LIE = Liechtenstein, A = Österreich, LUX = Luxemburg, B = Belgien, CH = Schweiz, D = Deutschland). 7.1 Standardsprache vs. Dialekt 73 narr-starter.de <?page no="74"?> beiten von Ulrich Ammon, der sich seit den 1990er Jahren mit der diatopischen Variation im Standarddeutschen befasst und auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat. Im Folgenden möchten wir auf der Basis einiger ausgewählter Beispiele zeigen, welche diatopischen Varianten in diesen Ländern bzw. Großarealen standardsprachlich vorkommen und wie sich diese empirisch ermitteln lassen. Damit bewegen wir uns in einem Themenkomplex, der in die Plurizentrikbzw. Pluriarealitätsforschung fällt und natürlich nicht nur das Deutsche betrifft. Man denke nur an Sprachen wie das Französische oder das Englische, die ebenfalls verschiedene Standardvarietäten ausgebildet haben (z. B. britisches, kanadisches, US-amerikanisches und australisches Englisch), was sich wiederum an verschiedenen Varianten festmachen lässt (z. B. elevator/ lift; color/ colour). Die Termini Varianten und Varietäten dürfen nicht verwechselt werden: Varianten liegen auf der Mikro-, Varietäten auf der Makroebene des Sprachsystems. Wir legen den Schwerpunkt im Folgenden auf die Lexik und Grammatik, daneben gibt es im Deutschen aber auch auf phonetischer Ebene ein großes Spektrum an diatopischer Variation (vgl. dazu den Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards 9 ), und auch in der Schreibung gibt es diatopische Unterschiede (vgl. Kap. 5.3). Diese sind zwar minimal, doch eine Variante ist augenfällig und sei hier eigens erwähnt: Bekanntlich verwendet man ein Eszett, 9 Die hier präsentierten Aussprachevarianten reichen von der Setzung des Wortakzentes in Wörtern wie Balkon und Büro bis zur <ch>-Aussprache in Chirurg und Chemie. 7. Diatopische Variation 74 narr-starter.de <?page no="75"?> wenn ein langer Vokal oder ein Diphthong vorausgeht und kein weiterer Konsonant im Wortstamm folgt (vgl. viele Grüße, aber: viele Küsse). Diese Praxis gilt aber nicht für die Schweiz und Liechtenstein; hier werden beide Wörter mit <ss> geschrieben (vgl. viele Grüsse und viele Küsse). Im amtlichen Regelwerk ist dieser Punkt als Ergänzung zu § 25 notiert: „ Steht der Buchstabe ß nicht zur Verfügung, so schreibt man ss. In der Schweiz kann man immer ss schreiben. Beispiel: Straße - Strasse “ (2018, 29). Allerdings fehlt hier der Vermerk, dass die Doppel-s-Schreibung anstelle des Eszett auch in Liechtenstein zulässig ist. Das erstaunt, denn sie ist dort ebenfalls im Gebrauch (wie man bei der Lektüre von Zeitungsartikeln rasch feststellen kann) und wird in den Schulen nicht als Fehler angestrichen. 10 Zurück zur Lexik: Woran lässt sich festmachen, ob ein spezifischer Sprachgebrauch dialektal oder standardsprachlich ist? Auch in Zeitungen könnten ja Wörter wie Chilbi (Kirmes) oder Taferlklassler (Schulanfänger) vorkommen. Handelt es sich um standardsprachliche Varianten, wenn solche Beispiele in einer bestimmten Häufigkeit auftreten? Oder werden sie gerade deshalb verwendet, weil sie dialektalen Charakter haben, ihr Gebrauch in standardsprachlichen Texten also semiotisch aufgeladen ist? In diese Richtung weist z. B. Glauninger (2015, 44), der mit Blick 10 Auf unsere Nachfrage hin hat der Rat für deutsche Rechtschreibung den Text inzwischen geändert. Diese Änderung ist aber noch nicht in der PDF-Version des amtlichen Regelwerks sichtbar (Stand: 22. 06. 2019), sondern nur unter der folgenden Adresse: https: / / grammis.ids-mannheim.de/ rechtschreibung. Hier wurde der Text in § 25 folgendermaßen ergänzt: „ In der Schweiz und in Liechtenstein kann man immer ss schreiben “ . 7.1 Standardsprache vs. Dialekt 75 narr-starter.de <?page no="76"?> auf Österreich dafür argumentiert, dass bestimmte Wörter „ eine Frame-Komponente >nicht-hochdeutsch< indizieren “ und man Sprachvariation vor diesem Hintergrund als eine kommunikative Ressource sehen müsse, die pragmatischfunktional genutzt wird. Die Frage, wie der diatopisch-standardsprachliche Gebrauch ermittelt werden kann, stellt sich auch mit Blick auf die gesprochene Sprache. Eine Möglichkeit ist z. B., Personen nach dem an ihrem Heimatort üblichen Sprachgebrauch zu befragen. Dieses Verfahren liegt dem Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) zugrunde, wobei es hier aber nicht um den Sprachgebrauch in formellen Kontexten geht, sondern die Probandinnen und Probanden ohne Hinweis auf mögliche Verwendungskontexte danach gefragt wurden, welchen Ausdruck sie in ihrer Stadt normalerweise hören würden, „ egal, ob es mehr Mundart oder Hochdeutsch ist “ (AdA). So zielte eine der Fragen auf die ortsübliche Angabe der Uhrzeit ab. Dabei zeigte sich, dass in vielen Regionen des deutschsprachigen Raums viertel nach zehn für 10.15 Uhr gebräuchlich ist, in anderen Regionen (z. B. im Osten Österreichs und in Kärnten) viertel elf. 11 Doch wie bereits erwähnt, muss berücksichtigt werden, dass die Antworten je nach Kommunikationssituation (z. B. Gespräch auf dem Schulhof vs. Bewerbungsgespräch) unterschiedlich ausfallen, die diatopische also möglicherweise von der diaphasischen Dimension überlagert wird (vgl. dazu Kap. 6.3). Ein anderes Problem ist, dass bestimmte Antworten nur deshalb gegeben werden könnten, weil die Befragten meinen, 11 Diese Frage ist Teil der siebten Fragerunde, die im Rahmen dieser Online-Befragung durchgeführt wurde (siehe dazu unter http: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-7/ f11 e/ <07. 05. 2019>). 7. Diatopische Variation 76 narr-starter.de <?page no="77"?> diese seien sozial erwünscht. Das spricht eher für eine direkte Datenerhebung (z. B. über Tonaufnahmen), jedoch stellen sich hier wieder andere Probleme (z. B. das sog. Beobachterparadoxon). Will man dagegen den geschriebenen Standard untersuchen, gestaltet sich dies einfacher, die Daten liegen zudem schon vor und müssen nicht eigens transkribiert werden. So kann man ein Textkorpus erstellen, das regional möglichst ausgewogen sein sollte, und auf dieser Basis die Frequenz bestimmter Ausdrucksweisen überprüfen. Eisenberg (2017, 56) hält dazu fest, dass sich auf diese Weise, bei hinreichend großen Korpora, „ ein klares Bild davon [ergibt], was wo und wie verbreitet ist “ . Sucht man in einem Korpus nach dem Vorkommen von sprachlichen Phänomenen, von denen man annimmt, dass es sich um Varianten handeln könnte, geht man deduktiv vor. Eine andere Möglichkeit ist, Varianten induktiv zu ermitteln, also ohne spezifische Vorannahmen Korpusabfragen durchzuführen. Will man hier zu validen Ergebnissen kommen, gestaltet sich das aber weitaus schwieriger. Doch nicht nur die Größe eines Korpus ist wichtig, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen, das Korpus sollte auch möglichst ausgewogen sein (z. B. hinsichtlich der Regionen, aus denen die Texte stammen). Außerdem stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Textsorten zur Ermittlung von standardsprachlicher Variation geeignet sind. Was etwa die Berichterstattung in überregionalen Zeitungen betrifft, so kann man davon ausgehen, dass diese die Standardvarietäten des Deutschen abbildet (siehe Eisenberg 2007, vgl. dazu auch Kap. 4.1). Bei Leserkommentaren in Online-Blogs und auch bei Texten aus der privaten Alltags- 7.1 Standardsprache vs. Dialekt 77 narr-starter.de <?page no="78"?> kommunikation (z. B. Feriengrüße per WhatsApp) dagegen ist das nicht immer der Fall. In der Schweiz beispielsweise werden WhatsApp-Nachrichten sehr häufig in Dialekt verfasst, auf Basis dieser Daten würde sich deshalb eher eine Studie zur diatopischen Variation auf Dialektebene, nicht aber auf Standardebene anbieten. 7.2 Variation in der Lexik und der Grammatik Was den Wortschatz, die Morphologie und die Syntax des Deutschen, d. h. die Lexik und die Grammatik betrifft, so ist die diatopische Variation im deutschsprachigen Raum bereits gut erforscht. Hier seien nur zwei Forschungsprojekte genannt, die inzwischen zum Abschluss gekommen sind und im Folgenden kurz vorgestellt werden. Beide Projekte haben Nachschlagewerke hervorgebracht, die sich an eine breite Leserschaft richten. Es ist dies zum einen das Variantenwörterbuch des Deutschen, das seit 2016 in zweiter Auflage vorliegt (im Folgenden VWB), zum anderen die Variantengrammatik des Standarddeutschen (im Folgenden VG), die 2018 auf der Website des Instituts für Deutsche Sprache veröffentlicht wurde. Das VWB erfasst die lexikalischen Unterschiede in der Standardsprache, die VG legt den Schwerpunkt auf die Bereiche, die zu den Kerngebieten der Grammatik zählen (d. h. auf die Morphologie und Syntax). Die darin formulierten Gebrauchsnormen sind deskriptiv - was aber nicht bedeutet, dass sie nicht auch präskriptiv gelesen werden könnten. So steht im VWB, dass in Deutschland das Wort Abiturient im Gebrauch sei, in der Schweiz dagegen das Wort Maturand (und in Österreich Maturant). Das besagt aber auch: Willst du dich in der Schweiz unauffällig ausdrücken, solltest du das Wort Maturand 7. Diatopische Variation 78 narr-starter.de <?page no="79"?> und nicht Abiturient verwenden. Je nach Nutzungskontext mag eine solch präskriptive Deutung durchaus sinnvoll sein. Will eine Journalistin beispielsweise einen Artikel für eine Zeitung in der Schweiz verfassen, tut sie gut daran, sich danach zu richten. Im Vorwort des VWB wird darauf hingewiesen, dass in der Wörterliste nur solche Varianten erfasst sind, die „ nicht gemeindeutsch, also nicht im ganzen deutschen Sprachgebiet gebräuchlich “ sind (VWB 2016, XVIII). Einige solche Varianten seien hier als Beispiele genannt: das Abendbrot, die Glace, die Marille, die Abdankung, die Kassa, der Abwart, der Tacker, der Jänner, das Hornussen. Im Einzelnen ist zu fragen, ob es sich dabei um absolute Varianten handelt, also um solche, die z. B. nur in der Schweiz, in Österreich oder in Deutschland vorkommen (= Helvetismen, Austriazismen, Teutonismen). Im VWB findet man dazu die entsprechenden Informationen. Zu jedem Substantiv werden hier die Regionen angegeben, in denen eine Variante bevorzugt oder ausschließlich verwendet wird. Ein Beispiel für einen solchen Artikel aus dem VWB ist hier zur Information abgedruckt. (VWB 2016, 16) 7.2 Variation in der Lexik und der Grammatik 79 narr-starter.de <?page no="80"?> In den meisten VWB-Artikeln werden Korpusbelege angeführt, die das Vorkommen der jeweiligen Variante illustrieren. Das ist auch in obigem Beispiel der Fall; hier findet sich neben der Bedeutungserläuterung auch ein Beleg aus der Schweizer Zeitung Blick. Dies führt uns zu der Frage, wie die Daten für das VWB erhoben wurden. Im Quellenverzeichnis liest man dazu, dass die Bearbeitung „ auf umfangreichen und aktuellen Zeitungskorpora “ basiere (VWB 2016, 859). Als Grund für diese Datenauswahl wird angegeben, dass Zeitungen eine große Vielfalt abdecken würden und dank einer zahlenmäßig großen Leserschaft einen gewissen Vorbildcharakter hätten. Auch wird darauf hingewiesen, dass die Zeitungstexte elektronisch zur Verfügung standen und so Gebrauchsfrequenzen berechnet werden konnten. Wie diese Frequenzen im Detail ermittelt wurden, wird aber nicht erläutert. Anders ist dies in der VG, die ihren Schwerpunkt auf die Variation in der Grammatik legt (vgl. Elspaß et al. 2017). Unter der Überschrift „ Datenerhebung “ findet man hier Informationen zur statistischen Auswertung und zur Berechnung von Gebrauchsfrequenzen. Weiter erfährt man, dass das deutschsprachige Gebiet in 15 Areale unterteilt wurde und ein Zeitungskorpus als Datengrundlage diente. Diese Vorgehensweise entspricht dem VWB, der thematische Schwerpunkt ist aber ein anderer. In der VG werden beispielsweise nur solche Wörter erfasst, die in ihrer morphologischen Struktur diatopische Unterschiede aufweisen (z. B. parken vs. parkieren, grillen vs. grillieren, amten vs. amtieren), nicht aber Wörter wie Marille oder Paradeiser, zu denen es keine Strukturvarianten gibt. Viele Varianten stammen aus dem Bereich der Wortstellung (z. B. dick genug/ genug dick), der Genusmarkierung (z. B. das Event/ der Event), der Pluralmarkierung (z. B. die Balkone/ die Balkons) oder der Verbvalenz. 7. Diatopische Variation 80 narr-starter.de <?page no="81"?> Mit Valenz wird der Umstand bezeichnet, dass in der Umgebung eines Wortes nicht beliebige, sondern oft nur bestimmte syntaktische Einheiten möglich sind (vgl. Glück/ Rödel 2016, 743). So regiert das Verb beglückwünschen den Akkusativ (jemanden beglückwünschen), das Verb gratulieren den Dativ (jemandem gratulieren). In allen Regionen des deutschsprachigen Raumes ist dies der Fall, eine Strukturvariation gibt es hier nicht. Anders ist es dagegen bei Verben wie ändern oder kündigen. Im VG-Grundlagenartikel zu „ Valenz und Rektion “ steht hierzu: Das Verb ändern beispielsweise tritt in der Schweiz standardsprachlich auch ohne Reflexivum auf (vgl. Das Wetter ändert), in anderen Arealen des deutschsprachigen Raums ist das nicht möglich. Und auch der Kasus, der von einem Verb regiert wird, kann variieren: Das Verb kündigen beispielsweise steht in bestimmten Arealen mit Dativ (jemandem kündigen), in anderen mit Akkusativ (jemanden kündigen). mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/ index.php/ Valenz_und_Rektion <18. 03. 2019> Die Erläuterungen zum Vorkommen der Varianten werden in der VG zusätzlich durch Karten visualisiert. Eine solche Karte ist in Abb. 2 abgedruckt. Im VG-Artikel dazu wird dargelegt, dass in Ostösterreich und in der Schweiz mehrheitlich die Variante das E-Mail gebraucht werde, dagegen sei in Deutschland und Ostbelgien „ fast ausnahmslos “ die feminine Variante im Gebrauch, und auch in Südtirol, Westösterreich, Liechtenstein und Luxemburg werde diese Variante „ mehrheitlich verwendet “ . Die Formulierungen „ fast 7.2 Variation in der Lexik und der Grammatik 81 narr-starter.de <?page no="82"?> ausnahmslos “ und „ mehrheitlich “ sind in der VG an anderer Stelle, unter der Überschrift „ Frequenzangaben “ , aufgeschlüsselt: „ Mehrheitlich “ bedeutet beispielsweise, dass die relative Auftretenshäufigkeit einer Variante innerhalb eines Sprachareals zwischen 51 % und 95 % liegt, „ (fast) das E-Mail die E-Mail Abb. 2: Relative Auftretenshäufigkeit von das (E-)Mail / die (E-)Mail innerhalb der einzelnen Areale, http: / / mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/ index.php/ (E-)Mail <11. 05. 2019>. 7. Diatopische Variation 82 narr-starter.de <?page no="83"?> ausnahmslos “ , dass die Variante im betreffenden Areal zwischen 96 % und 100 % vorkommt. Wir haben nun erläutert, wie man standardsprachlichdiatopische Varianten ermitteln kann, auf die kontroversen Diskussionen, die hinter diesem Ansatz stehen, sind wir aber nicht eingegangen. Dabei geht es um die Frage, ob das Plurizentrizitätskonzept oder das Pluriarealitätskonzept den sprachlichen Gegebenheiten eher gerecht wird (vgl. Kap. 2.3). So wird von Elspaß et al. (2017) darauf verwiesen, dass ,plurizentrisch ‘ oft als gleichbedeutend mit ‚ plurinational ‘ angesehen werde und man deshalb der Bezeichnung ‚ pluriareal ‘ den Vorzug gebe. Da viele der als standardsprachlich geltenden Varianten in verschiedenen, auch nicht zusammenhängenden Gebieten des deutschsprachigen Raums vorkommen, sei es zutreffender, die Verhältnisse in den deutschsprachigen Ländern als ‚ pluriareal ‘ zu bezeichnen. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass es durchaus landesspezifische Varianten gibt. Als Beispiel sei hier nur das Wort Hornussen genannt, das einen Schweizer Mannschaftssport bezeichnet, den man in den anderen deutschsprachigen Regionen nicht kennt. Für die meisten diatopischen Varianten aber gilt, dass sie nur relative, nicht absolute Varianten darstellen und ihre Distribution nicht an den Grenzen Halt macht. 7.3 Variantenpragmatik Wir kommen zu einem letzten Aspekt, der die diatopische Variation im deutschsprachigen Raum betrifft, prinzipiell aber unabhängig vom Gebrauch der Standardsprache ist: Im Mittelpunkt steht nun die Frage, welche kommunikativen Routinen in unserem Alltag üblich sind. Damit schlagen wir 7.3 Variantenpragmatik 83 narr-starter.de <?page no="84"?> den Bogen zurück zu dem, was in der Einleitung zu diesem Band kurz angesprochen wurde: zu den Unterschieden im Kommunikationsverhalten. Diese zeigen sich auch auf diatopischer Ebene, so in der pronominalen und nominalen Anrede (z. B. Frau Dr. Müller/ Herr Meier), beim Begrüßen und Verabschieden oder beim Bestellen im Restaurant. Allerdings wird diesem Thema in der Variationslinguistik bislang noch nicht viel Beachtung geschenkt. So weist Staffeldt (2018, 224) in seinem Handbuchartikel zum Thema „ Pragmatischer Standard “ darauf hin, dass in der Beschreibung von Standardvarietäten „ in der Regel morphosyntaktische, lexikalische und semantische Fragen, kaum jedoch pragmatische “ im Vordergrund stehen. Im Anschluss daran nennt er verschiedene Phänomenbereiche, die man aus pragmatisch-diatopischer Sicht genauer untersuchen könnte (z. B. die Markierung von Höflichkeit). Tatsächlich braucht es dazu noch genauere Untersuchungen. Doch immerhin findet sich im VWB ein kurzer Absatz zu dieser Thematik, der unter der Überschrift „ Sprachverwendung in Situationen (Pragmatik) “ steht. Hier wird dargelegt, dass Titel in Österreich häufiger verwendet würden als in Deutschland und der Schweiz oder sich das Bestellen im Restaurant in Deutschland anders gestalten würde als in der Schweiz. Allerdings ist es schwierig, solche Unterschiede empirisch zu überprüfen, auch wenn viele intuitiv der Ansicht sein dürften, dass es sie faktisch gibt. Im VWB wird das Thema denn auch nur kurz erwähnt, und es ist bereits an den Formulierungen erkennbar, dass es sich dabei nur um Mutmaßungen handelt: Außerdem scheint in Österreich und der Schweiz ein indirekter Redeeinstieg bevorzugt zu werden, mit Ein- 7. Diatopische Variation 84 narr-starter.de <?page no="85"?> leiteformulierungen wie Es ist so, dass . . . und dergleichen, während vor allem im nördlichen Deutschland die Aussage eher direkt, also gewöhnlich mit dem Subjekt des Satzes beginnt. (VWB 2016, LXXVIII) Möchte man diesen Typus von Variation genauer untersuchen, dann müsste man streng genommen alle soziolinguistischen Variablen konstant halten (z. B. Alter, Geschlecht, soziale Herkunft) und nur den geographischen Raum (z. B. Wien, Bern, Berlin) kontrastieren. Wie auch in der Lexik und in der Grammatik ist aber davon auszugehen, dass die Unterschiede nicht an Ländergrenzen gebunden sind und es auch innerhalb eines Landes ein Variationsspektrum gibt. Deshalb bietet es sich an, auch hier zunächst eine areale Grobgliederung vorzunehmen (z. B. analog zum VWB und zur VG) und zu überprüfen, ob sich im Vergleich dieser Gebiete Unterschiede zeigen, die das Verwenden von kommunikativen Mustern betreffen. Doch auch hier stellt sich die Frage: Wie kann man vorgehen, um in der Variantenpragmatik zu verlässlichen Daten zu kommen? Eine Möglichkeit ist, in einem Fragebogen Alltagssituationen zu schildern und die Probandinnen und Probanden nach ihrem Kommunikationsverhalten zu fragen (z. B. „ Sie sind in einem Restaurant und versuchen, die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Sie sagen . . . “ ). Dabei handelt es sich um eine Untersuchungsmethode, die gewisse Probleme aufwirft (z. B. das Problem der sozialen Erwünschtheit) und zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen kann. Als Alternative dazu besteht die Möglichkeit, Ton- oder Videoaufnahmen anzufertigen (z. B. von Verkaufsgesprächen in deutschen und Schweizer Bäckereien, vgl. dazu Dürscheid/ Simon 2019), um auf diese Weise zu authentischem Material 7.3 Variantenpragmatik 85 narr-starter.de <?page no="86"?> zu gelangen. Allerdings müsste man dabei streng genommen alle nicht-diatopischen Faktoren konstant halten, damit die Vergleichbarkeit der Daten in diatopischer Hinsicht gewährleistet ist (vgl. zu dieser Problematik auch Staffeldt 2018, 226). Weiter müssen die Personen vorab darüber informiert werden, dass solche Aufnahmen erfolgen - und das kann dazu führen, dass sie sich nicht natürlich verhalten. Es gibt also eine Reihe von Schwierigkeiten, die eine solche Untersuchung recht komplex gestalten. Man sollte sich aber diesen Schwierigkeiten stellen, wenn man nicht nur die diatopische Variation in der Aussprache, der Lexik und der Grammatik, sondern auch im Kommunikationsverhalten untersuchen möchte. Aufgaben zu Kap. 7 Besuchen Sie die Website der Variantengrammatik und informieren Sie sich über die diatopische Variation im Bereich der Wort- und Satzgliedstellung. Welche Informationen finden Sie z. B. zur Verwendung von trennbaren und untrennbaren Verben? In Kap. 7.1 wird dargelegt, dass sich bei empirischen Untersuchungen Probleme einstellen könnten, die auf dem Beobachterparadoxon basieren. Erläutern Sie diesen Terminus und überlegen Sie, wie sich die Probleme umgehen lassen. Befassen Sie sich mit dem Konzept der sozialen Erwünschtheit, das in der empirischen Sozialforschung eine wichtige Rolle spielt. In welcher Relation steht dieses Konzept zum Begriff der Norm? 7. Diatopische Variation 86 narr-starter.de <?page no="87"?> Literaturverzeichnis AdA = Elspaß, Stephan/ Möller, Robert: Atlas zur deutschen Alltagssprache, 2003 - . Online unter: http: / / www.atlas-alltagssprache.de <07. 05. 2019>. Ágel, Vilmos (2008): Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell. In: Info DaF 35/ 1, 64 - 84. Albert, Georg/ Diao-Klaeger, Sabine (Hrsg.) (2018): Mündlicher Sprachgebrauch zwischen Normorientierung und pragmatischen Spielräumen. Tübingen: Stauffenburg. Auer, Peter (2000): On line-Syntax - Oder: Was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 85, 43 - 56. Behaghel, Otto (1915): Deutsches Deutsch und österreichisches Deutsch. In: Frankfurter Zeitung vom 23. Februar 1915, Abendblatt. 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