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Lernaufgaben für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht

Unterrichtsverlaufsmodell und empirische Untersuchungen

1217
2018
978-3-8233-9280-4
978-3-8233-8280-5
Gunter Narr Verlag 
Michael Müller

Die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen ist ein hohes Bildungsziel. Insbesondere dem bilingualen Unterricht (z.B. Erdkunde-Englisch) wird seit Jahrzehnten ein großes Potential dafür zugeschrieben. Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Entwicklung komplexer Lernaufgaben, die im bilingualen Erdkundeunterricht in mehreren Forschungszyklen erprobt und beforscht wurden. Die Ergebnisse sind in einem klar strukturierten Unterrichtsmodell zusammengefasst, welches Lehrkräften die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen auf der Basis eines zeitgemäßen Kulturbegriffs ermöglicht.

<?page no="1"?> Lernaufgaben für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Michael Müller Lernaufgaben für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht Unterrichtsverlaufsmodell und empirische Untersuchungen <?page no="4"?> © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8280-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 11 1 13 2 18 2.1 18 2.1.1 19 2.1.2 20 2.1.3 21 2.2 22 2.2.1 23 2.2.2 24 2.2.3 25 2.2.4 27 2.3 28 2.3.1 29 2.3.2 29 2.3.3 30 2.3.4 37 2.3.5 40 2.4 45 2.4.1 46 2.4.2 48 2.5. 54 2.5.1 54 2.5.2. 57 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung des Forschungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Perspektive der Geographiedidaktik . . . . . . . . . . . . Die Perspektive der Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . Bildungspolitische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens . . . . Kultur als Bedeutungszuschreibungen einer Gruppe . . Vielfalt innerhalb einer Kultur als Wert an sich . . . . . . Wer bestimmt, was eine Kultur kennzeichnet? . . . . . . . Die Rolle der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele des interkulturellen Lernprozesses . . . . . . . . . . . . Zentrale Begriffe im Kontext des interkulturellen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverstehen und Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik . . . Unterrichtsforschung zum interkulturellen Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . Bennetts „Developmental Model of Intercultural Sensitivity“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Byrams Modell der „Intercultural Communicative Competences“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implikation für die vorliegende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . Kriterien für die Entwicklung von Lernaufgaben . . . . Unterrichtsphasenmodell für interkulturelle Lernaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3. 63 3.1. 65 3.2 66 3.2.1. 67 3.2.2 69 3.3 70 3.3.1 71 3.4.2 76 3.4 85 3.4.1 85 3.4.2 85 3.4.3 86 3.4.4 89 3.5 90 4 94 4.1 95 4.1.1 95 4.1.2 97 4.1.3 99 4.1.4 100 4.2 101 4.2.1 102 4.2.2. 105 4.2.3. 113 4.2.4 115 4.2.5 116 4.2.6 118 Bilingualer Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff ‚bilingualer Unterricht‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilingualer Unterricht - Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des bilingualen Unterrichts in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulpraxis geht Hochschullehre und Theoriebildung voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven auf bilingualen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachenkompetenzen im bilingualen Unterricht Sachfachkompetenzen im bilingualen Unterricht . . . . . Kompromiss-Suche und Überschneidungsfelder . . . . . . . . . . . Inhalte reduzieren zugunsten von Spracharbeit? . . . . . Operatoren klären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungstheoretische Begründungen für den bilingualen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee und Bezug zur vorliegenden Untersuchung . . . . . . . Aufgabenorientiertes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kennzeichen Aufgabenorientierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenorientierung als alternatives Konzept . . . . . . Die Einheit von Ziel und Methode im aufgabenorientierten Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsansätze in der Aufgabenforschung . . . . . . . Definitionen zu task . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren . . . . . . . Workplan - Struktur von Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . Focus on meaning - zum Verhältnis von Sprache und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Authenticity - Lernende nehmen an gesellschaftlichen Prozessen teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Language skills für die Teilhabe an Diskursen . . . . . . . . Kognitive Prozesse und Anforderungsbereiche von Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von aim, outcome und Aufgabenprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.3 121 4.3.1 121 4.3.2 122 4.3.3 123 4.3.4 124 4.3.5. 125 4.3.6. 126 4.4. 127 4.5 130 5 131 5.1 131 5.2 133 5.2.1 133 5.2.2 133 5.2.3 134 5.2.4 135 5.2.5 135 5.2.6 135 5.3 136 5.3.1 136 5.3.2 139 5.4 142 5.5 143 6 145 6.1 146 6.2 148 6.2.1 149 6.2.2 150 6.2.3 150 6.2.4 151 6.2.5 152 Ergänzende Aufgabenmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlmöglichkeiten - choice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktivismus und Fremdsprachenunterricht . . . . . Die Rolle der Lehrkraft bei aufgabenorientiertem Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung zu den Merkmalen von tasks . . . . . Aufgaben mit Hilfe eines task frameworks beschreiben . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative und qualitative Forschungsansätze . . . . . . . . . . . Prinzipien qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozesshaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Explikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien bei qualitativen und quantitativen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion zu Gütekriterien in der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitative Interviews allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitfadeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviewstudie mit Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviews mit Lehrkräften für den bilingualen Unterricht . . Durchführung der Interviewstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilotierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit dem Leitfaden vertraut werden und Interviewen trainieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der Interviewten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen bei der studentischen Datenauswertung . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 6.3 153 6.3.1 153 6.3.2 156 6.3.3 157 6.4 157 6.5 158 6.5.1 158 6.5.2 160 6.5.3 161 6.5.4 164 6.5.5 165 6.6 167 6.6.1 167 6.6.2 167 6.6.3 168 6.7 169 6.8 170 7 172 7.1 172 7.2 173 7.2.1 173 7.2.2 177 7.2.3 182 7.2.4 188 7.2.5 191 7.3 194 7.3.1 194 7.3.2 195 7.4 196 7.4.1 196 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammensetzung der Interviewtengruppe . . . . . . . . . Interviewdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Validierung der Transkription durch die Lehrkräfte . . Vorgehen bei der endgültigen Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrkräfte berichten von erfolgreichen Unterrichtssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrkräfte benennen Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des interkulturellen Lernens für die Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen und Konnotationen der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstellung der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen Forschungsmethodische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingeschränkte Generalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Zuverlässigkeit der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion zur Eignung des Leitfadens und dessen Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forderungen, Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterrichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung . . . . . . . . . . . Unterrichtsforschung in der Fachdiskussion . . . . . . . . . Unterrichtsforschung im vorliegenden Projekt . . . . . . . Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Triangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenertrag und Dateninterpretation im vorliegenden Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichts- und Forschungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schule und das Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die beiden untersuchten Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Klassenforschungsprojekt im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich der Durchführungsbedingungen in Zyklus 1 und 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 7.4.2. 197 7.4.3 199 7.4.4. 201 7.5 204 7.5.1 207 7.5.2 220 7.5.3 241 7.5.4 255 7.5.5 282 7.5.6 310 7.5.7 352 7.6 376 7.6.1 378 7.6.2. 387 Unterrichtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Stundenthemen vom ersten zum zweiten Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht zu den ausgewerteten Aufgaben und den Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung . . . . . . . . Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home - Interkulturelle Kompetenzen in der direkten Begegnung erproben (Zyklus 1) . . . . . . Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home - Interkulturelle Kompetenzen in der direkten Begegnung erproben (Zyklus 2) . . . . . . How Sita and Deepak met - Anderskulturelle Konzepte der Partnerwahl diskutieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cultural practices in everyday life - Vielfalt von eigen- und anderskulturellen Praktiken hinsichtlich der Daseingrundfunktionen miteinander vergleichen . . . . Comparing our jobs with Ashok’s job in Kanchipuram - Eigen- und anderskulturelle Praktiken des Gelderwerbs von Jugendlichen vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . School education of three software developers from Pune in India - Vielfalt anderskultureller Praktiken hinsichtlich Schule und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . Cultural practices in everyday life - Designing schoolbook pages for a school class in Pune (India) - Kulturelle Praktiken als repräsentativ für ein Schulbuch auswählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts . . . . . . . . . . . . . Einsichten zum forschungsmethodischen Vorgehen . . Inhaltliche Erkenntnisse zum interkulturellen Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> 8. 426 8.1. 427 8.2 428 8.2.1 428 8.2.2 430 444 461 475 476 Ausgewählte Ergebnisse und ihre Relevanz für die Unterrichtspraxis . . . Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den Theoriekapiteln Zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchungen . . . . . . Interviewstudie mit Lehrkräften: Interkulturelle Kompetenzen sind nur selten ein Lernziel im bilingualen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsforschung: Aufgabenmerkmale für eine gelingende Entwicklung interkultureller Kompetenzen Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand als Dissertationsprojekt im Forschungs- und Nachwuchskolleg ‚Lernaufgabenforschung in schulischen Kontexten‘, einem Kooperationsprojekt der Pädagogischen Hochschulen Freiburg und Heidelberg. Das Forschungskolleg untersuchte den Einsatz von tasks im fremdsprachlichen Unterricht an Schulen und als Inhalt der Ausbildung von Fremdsprachenlehr‐ kräften. Mein Teilprojekt setzte sich mit Lernaufgaben für den Erwerb inter‐ kultureller Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht auseinander, also der Vermittlung interkultureller Kompetenzen mit nicht-fiktionalen Texten. Ziel meiner Arbeit war die Ermittlung von Aufgabenmerkmalen, die Lernenden Gelegenheiten für den interkulturellen Kompetenzerwerb bieten. Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und vor allem ein Bewusstsein für Perspektiven zu entwickeln sind zwei zentrale interkulturelle Kompetenzen, die ich den Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsforschungsprojekt zur Ent‐ wicklung von Lernaufgaben für interkulturelles Lernen im bilingualen Geogra‐ phieunterricht vermitteln wollte. Wenn ich nun am Ende der Untersuchung auf den Entstehungsprozess der Arbeit zurückschaue, stelle ich fest, dass auch meine eigenen Perspektiven, insbesondere die fachdidaktischen, vielfältige Wandel durchlaufen haben. Mein Forschungsprojekt ist auf der Grenze zwischen Eng‐ lischdidaktik und Geographiedidaktik angesiedelt, und deren jeweilige auch in‐ nerhalb des Faches schon vielfältige Perspektiven haben mich geprägt - mal mehr die einen, mal mehr die anderen. Diese Wechsel liegen auch darin begründet, dass ich in den letzten Jahren zunächst als Lehrer in der Schule gearbeitet habe, dann auch in der Fremdsprachendidaktik und zuletzt in der Geographiedidaktik an der Hochschule. Die Übergänge waren für mich wichtige Impulse, Wissensbestände zu hinterfragen und mir fachkultureller Perspektiven und Praktiken bewusst zu werden. Ich hoffe, mit dieser Arbeit auch zeigen zu können, dass sich die beiden Fachdidaktiken wichtige gegenseitige Anregungen geben können, und dass ihre Interessen im bilingualen Unterricht vereinbar sind. Meine Danksagungen möchte ich einleiten mit einem herzlichen Dank an Prof. Dr. Marita Schocker (Pädagogische Hochschule Freiburg) und Prof. Dr. Andreas Müller-Hartmann (Pädagogische Hochschule Heidelberg), die nicht nur den organisatorischen Rahmen des ‚Forschungs- und Nachwuchskollegs Lernaufgabenforschung‘ schufen, sondern mir jederzeit zugewandt und hilf‐ reich zur Seite standen. Ich danke Prof. Dr. Rudolf Denk für seine geduldige <?page no="12"?> Unterstützung und für die Zweitkorrektur der Arbeit, sowie Prof. Dr. Michael Legutke für wichtige Hinweise zu Beginn der Planungen. Ferner danke ich dem Wissenschaftsministerium des Landes Baden-Württemberg, das diese Arbeit durch eine dreijährige Abordnung zur Forschung und Lehre an die Pädagogische Hochschule Freiburg förderte, sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft Frei‐ burg für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ein aufrichtiger Dank gilt den ehemaligen Schülerinnen und Schülern der beiden 9. Klassen, mit denen ich die interkulturellen Lernaufgaben erproben konnte und die mir auch Arbeitszeit außerhalb ihres Stundenplans opferten. Danken möchte ich auch den Lehrerkolleginnen und -kollegen sowie der Schul‐ leitung, die mich immer wieder verlässlich unterstützten. Ich bin ferner besonders dankbar dafür, dass mich zu wichtigen Phasen des Projekts studentische Co-Forscherinnen unterstützten. Jennifer Bodansky, Sandra Günther, Christina Kolgraf, Jennifer Krisch und Miriam Tischner halfen mir bei der Datenaufnahme und auch zu Beginn der Dateninterpretation. Die Beforschung von Lernaufgaben in einem Unterrichtssetting ist ein komplexes Unterfangen und wäre nicht ohne diese Unterstützung möglich gewesen. A very special ‚thank you‘ goes to Deborah, our guest student from Manipur. You handled the learners‘ questions and contributions with such honesty, gen‐ tleness and respect that it made the project a learning experience they will never forget. I’m also grateful to Anubhav, Sravan and Rajeev, from the software de‐ veloper team of First Futures ® in Pune. Thank you for your openness and time in allowing us to gain an insight into your lives. Den Mitgliedern unseres Forschungskollegs möchte ich danken für die vielen kleinen Besprechungen und für eine Reihe von schönen gemeinsamen Erleb‐ nissen. Wenn nun auch meine Arbeit vorliegt, dann haben wir tatsächlich alle Teilprojekte erfolgreich zu Ende geführt. Für die vielen Hinweise und Korrekt‐ uren zum Manuskript danke ich ganz herzlich Nicola Straub und Miriam Séné‐ cheau. Danken möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen aus der Geo‐ graphie für ihr Verständnis, dass ich sie in der letzten Zeit im Hinblick auf neue und gute Projekte immer vertröstet habe. 12 Vorwort <?page no="13"?> 1 Fragestellung und Gliederung der Arbeit In den letzten Jahrzehnten hat der Kulturbegriff einen grundlegenden Wandel durchlaufen. Kulturen werden zunehmend als dynamisch und durchlässig an‐ gesehen. Menschen gehören auf verschiedenen Ebenen verschiedenen Gruppen an. Kulturen überlappen und durchkreuzen sich zunehmend. Dem bilingualen Unterricht wird seit seinen Anfängen in den 1970er Jahren für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen eine besondere Rolle zugesprochen. Wie aller‐ dings reagiert eine sich noch entwickelnde Didaktik des bilingualen Unterrichts heute auf den Wandel des Kulturbegriffs, und wie sucht sie nach Methoden für die zeitgemäße Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen? Das ist bislang erst in Ansätzen erkennbar (vgl. Breidbach 2007: 234-237, 278-280). An diesem Punkt setzt meine Studie an: In ihrem Rahmen entwickelte und erprobte ich Lernaufgaben für die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilin‐ gualen Geographieunterricht. Dafür habe ich Kriterien für solche Aufgaben zu‐ sammengestellt und entsprechende Aufgaben geplant, erprobt sowie beforscht, um letztlich ein Unterrichtsmodell zu konzipieren, das Strukturierungshilfe für interkulturelles Lernen in der Schule sein kann. Dem beschriebenen Themenkomplex nähert sich die Arbeit in einem Grund‐ lagenteil und einem empirischen Teil. Der Grundlagenteil umfasst drei Kapitel, die sich sowohl erläuternd als auch kritisch mit den Begriffen ‚interkulturelles Lernen‘, ‚bilingualer Unterricht‘ und ‚aufgabenorientiertes Lernen‘ auseinan‐ dersetzen (Kap. 2-4). Bei jedem dieser drei Themen stieß ich in meiner Ausein‐ andersetzung mit dem Forschungsstand auf ungeklärte Fragen oder Wider‐ sprüche, die eine grundlegendere Darstellung erforderlich machten. Darauf folgt überleitend in den empirischen Teil ein Kapitel, in dem ich die Auswahl der Forschungsmethoden für meine Studie vorstelle und begründe (Kap. 5). Der empirische Teil umfasst die Darstellung zweier von mir durchgeführter quali‐ tativer Untersuchungen und der daraus ableitbaren Ergebnisse (Kap. 6-8). Bei den Untersuchungen handelt es sich zum einen um eine Interviewstudie mit Lehrkräften zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht (Kap. 6), zum anderen um die Erprobung von interkulturellen Lern‐ aufgaben in der Unterrichtspraxis, durchgeführt in Form eines zweizyklischen Unterrichtsprojekts (Kap. 7). Im Folgenden möchte ich die Inhalte der ange‐ sprochenen Kapitel kurz skizzieren: <?page no="14"?> Ein zentrales Ziel schulischer Bildung ist die Erziehung zu (internationaler) Solidarität und Akzeptanz von Heterogenität. Traditionell wird dafür im Fremd‐ sprachen- und im Geographieunterricht der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ verwendet. Zwar hat sich das, was unter ‚Kulturen‘ verstanden wird, in den vergangenen Jahren gewandelt (vgl. Hallet 2015). Dennoch gehe ich für diese Studie davon aus, dass ein entsprechend reformierter Begriff des ‚interkultu‐ rellen Lernens‘ bzw. der ‚Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen‘ wei‐ terhin verwendet werden kann. In Kapitel 2 wende ich mich zunächst bildungs‐ politischen Forderungen nach einem solchen interkulturellen Lernen zu und frage danach, wie sich der zu Grunde gelegte Kulturbegriff verändert hat. Welche Diskussion zum interkulturellen Lernen in der Fremdsprachendidaktik sowie der Geographiedidaktik gibt es? Welche maßgeblichen empirischen Untersuchungen liegen aus den beiden Fachdidaktiken vor? Was ist der Bestand an publizierten Aufgabenformaten für diese Art von Bildung? Welchen Kriterien sollten Lernaufgaben für interkulturelles Lernen genügen? Ich setze mich kri‐ tisch mit Byrams Modell der „Intercultural Communicative Competences“ (ICC) als Bezugsmodell für den Nachweis von zu beobachtenden interkulturellen Kompetenzen auseinander (vgl. Byram 1997). Ich verwende allerdings den Be‐ griff ‚interkulturelle Kompetenzen‘ (IK) statt ICC, da ich in Übereinstimmung mit anderen Autoren annehme, dass IK bereits kommunikative Kompetenzen beinhalten. Ausgehend von einer Zusammenstellung von Merkmalen interkul‐ tureller Lernaufgaben integriere ich diese am Ende von Kapitel 2 soweit möglich in ein Unterrichtsphasenmodell, das mir bei der Aufgabenerstellung für das Un‐ terrichtsforschungsprojekt als Grundlage diente. Bilingualer Unterricht (BU) soll besondere Möglichkeiten für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen bieten. Die Vermittlung interkultureller Kompe‐ tenzen könnte ein Ertrag des bilingualen Unterrichts sein, die nicht nur erklärtes Richtziel des Fremdsprachenunterrichts sind (vgl. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen 2001: 105-107), sondern auch als möglicher Mehr‐ wert des BU für (gesellschaftswissenschaftliche) Sachfächer beschrieben werden (vgl. Otten & Wildhage 2003: 21). In Kapitel 3 frage ich nach unterschiedlichen Perspektiven aus den Fachdidaktiken auf BU und diskutiere kritisch die zent‐ ralen empirischen Untersuchungen, die für sich in Anspruch nehmen, Aussagen über den fremdsprachlichen und geographisch-fachlichen Ertrag von BU treffen zu können. Ebenfalls zeige ich auf, dass die empirischen Studien, die sich bislang mit der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Geogra‐ phieunterricht befasst haben, zwar die gängigen Praktiken von Lehrkräften be‐ schreiben, in diesen Untersuchungen aber noch nicht ausgelotet wurde, welches Potential der bilinguale Unterricht für diese Kompetenzen haben könnte. Nach 14 1 Fragestellung und Gliederung der Arbeit <?page no="15"?> einem Exkurs zu bildungstheoretischen Begründungen für den bilingualen Un‐ terricht frage ich, ob gegenüber der Geographie die Nutzung dieser Unterrichts‐ form auch durch die Vermittlung geographischer Kompetenzen legitimiert werden kann. Es könnte argumentiert werden, dass bilingualer Geographieun‐ terricht auch fachlich von fremdsprachlichen internationalen Diskursen profi‐ tiert. Die wichtigere zu klärende Frage ist aus meiner Sicht allerdings, ob die Fremdsprachenverwendung im bilingualen Geographieunterricht Aufgabenar‐ rangements für interkulturellen Kompetenzerwerb unterstützt, die in der deut‐ schen Sprache nicht möglich sind. Aufgabenorientiertes Lernen zielt - zumindest in der deutschen fremdspra‐ chendidaktischen Diskussion - auf die Vermittlung interkultureller kommunika‐ tiver Kompetenzen ab (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 2). In Kapitel 4 stelle ich zunächst das in der Fremdsprachendidaktik diskutierte auf‐ gabenorientierte Lernen als alternativen Sprachlernansatz vor. Welche Bezüge gibt es zwischen inhaltsorientierten tasks, Lernen für und durch Diskursteilhabe und bilingualem Unterricht? In der kritischen Auseinandersetzung mit der inter‐ nationalen task-Literatur zeige ich auf, dass der Inhaltsauswahl von tasks eine besondere Bedeutung zugemessen werden sollte und dass tasks bevorzugt in in‐ haltsverbundenen Einheiten statt in isolierten Aufgaben einzusetzen sind. Grund für diese oft anzutreffende mangelnde inhaltliche Kohärenz ist die von mir kri‐ tisch hinterfragte Trennung zwischen sprachlichen Zielen der Lehrkräfte und in‐ haltlichen Zielen der Lernenden, die von manchen Autoren vorgeschlagen wird. Ich folgere, dass sich der bilinguale Unterricht wegen seiner klaren Inhaltsorien‐ tierung als ein besonders geeignetes Einsatzfeld für tasks erweisen kann. Am Ende des Kapitels ergänze ich aus der task-Diskussion Aufgabenmerkmale für die in der vorliegenden Untersuchung zu erprobenden interkulturellen Lernaufgaben und stelle ein task framework vor, mit dessen Strukturierungshilfe ich die im Unter‐ richtsforschungsprojekt erprobten Lernaufgaben darstelle und analysiere. Die beiden empirischen Untersuchungen meiner Studie arbeiten mit quali‐ tativen Forschungsmethoden. In Kapitel 5 stelle ich die Aspekte der Forschungs‐ methoden-Diskussion vor, die für beide empirischen Untersuchungen relevant sind. Ich begründe, weshalb der Einsatz qualitativer Forschungsmethoden für die vorliegenden Untersuchungen gegenstandsangemessen ist, stelle Prinzipien der qualitativen Forschung vor und erläutere ihre Relevanz für die vorliegenden empirischen Untersuchungen. Ferner diskutiere ich Gütekriterien empirischer Forschung allgemein sowie qualitativer Untersuchungen im Besonderen und prüfe, ob bzw. in wieweit die in der Literatur diskutierten Gütekriterien im For‐ schungsprojekt umgesetzt sind. Die größte Annäherung an die Forschungs‐ praxis erfährt das Kapitel bei der Diskussion zum Einsatz von qualitativen In‐ 15 1 Fragestellung und Gliederung der Arbeit <?page no="16"?> terviews. Alle spezifischeren Methodendiskussionen sind dann zu Beginn der beiden darauf folgenden Kapitel (Kap. 6 und 7), direkt auf die jeweilige Unter‐ suchung bezogen, dargestellt. In Kapitel 6 beschreibe ich die erste der beiden empirischen Untersuchungen des Projekts: eine Interviewstudie mit Lehrkräften, die anhand von problem‐ zentrierten Interviews zum Stellenwert von interkulturellen Kompetenzen in ihrem bilingualen Unterricht beforscht wurden. Die Untersuchung wurde im Laufe eines Semesters mit Fremdsprachendidaktik-Studierenden an 32 Lehr‐ kräften als kooperatives Forschungsprojekt durchgeführt. Ich diskutiere das forschungsmethodische Vorgehen, erläutere die besondere Gestaltung des In‐ terviewleitfadens und stelle das beforschte sample vor. Hinsichtlich der Ergeb‐ nisse konnte ich Interpretationen der Studierenden mit meinen Interpretationen vergleichen. Als Ergebnis stelle ich fest, dass für die große Mehrheit der be‐ fragten Lehrkräfte die Vermittlung interkultureller Kompetenzen in ihrem bi‐ lingualen Unterricht entsprechend der Beschreibungen in der Literatur (vgl. Viebrock 2007: 300) nur eine geringe Rolle spielt. Gleichzeitig bekunden aller‐ dings die meisten Lehrkräfte eine positive Einstellung zur Vermittlung inter‐ kultureller Kompetenzen. Wie ist diese Diskrepanz zwischen berichteten Über‐ zeugungen und der Schulpraxis zu erklären? Ein Erklärungsansatz ist das Fehlen von unterrichtspraktisch wirksamen Aufgabenkriterien und Modellen zur Ver‐ mittlung von interkulturellen Kompetenzen. Diese Ergebnisse der Interview‐ studie bestärkten mich darin, im nächsten Schritt Lernaufgaben für den inter‐ kulturellen Kompetenzerwerb zu entwickeln und zu erproben. Kapitel 7 enthält die Hauptuntersuchung der Studie: ein zweizyklisches Un‐ terrichtsforschungsprojekt, bei dem ich als forschender Lehrer die folgende zentrale Frage untersuchte: Wie müssen Lernaufgaben im bilingualen Geogra‐ phieunterricht gestaltet sein, dass Lernende interkulturelle Kompetenzen er‐ werben können? Hinsichtlich der Untersuchungsmethoden diskutiere ich ins‐ besondere a) die Forschungsansätze Aktionsforschung und Design-Based Research, b) eine von Nentwig-Gesemann entwickelte Adaption der Dokumen‐ tarischen Methode (Nentwig-Gesemann 2006: 159-182) und c) Datentriangula‐ tion. Triangulationen waren insbesondere durch die Unterstützung von Co-For‐ schenden bei der Datenaufnahme und den Interpretationen möglich. Die Interpretationen zum Aufgabenverlauf führen zum einen zur Formulierung von aus den Daten abgeleiteten Aussagen, die ich ‚Folgerungen‘ nenne und die nach einer weiteren Verdichtung (Kap. 7.6) der kritischen Diskussion der Ausgangs‐ theorien dienen (Kap. 8). Zum anderen gehen die Interpretationen in konkrete Empfehlungen zu den Optimierungen der einzelnen Aufgaben und ins Fazit zu jeder Aufgabe ein (siehe die Unterkapitel in Kap. 7.5). 16 1 Fragestellung und Gliederung der Arbeit <?page no="17"?> Zu den beforschten und ausführlich dargestellten Lernaufgaben konnten 108 Folgerungen abgeleitet werden. In Kapitel 7.6 gruppiere ich sie thematisch und fasse alle Folgerungen, die zu einem Thema gehören, zu jeweils einer umgreif‐ enden Aussage zusammen. Dabei entstehen 22 Aussagen zu interkulturellen Lernaufgaben und sechs Aussagen zu den in der Untersuchung verwendeten Forschungsmethoden. An dieser Stelle findet auch der Abgleich mit Ergebnissen anderer Forschungen zu den jeweiligen Themengebieten statt. Die Aussagen der Untersuchung sind über die Folgerungen bis hin zu den Interpretationen der erhobenen Daten nachvollziehbar. Abschließend löse ich mich von dieser recht strengen Herleitung und hebe in Kapitel 8 die Themen hervor, die mir am Ende des Projekts als zentrale Aussagen wichtig sind: Ich stelle das erprobte Unterrichtsphasenmodell in seiner Endfas‐ sung vor und diskutiere bezogen auf die unterschiedlichen Funktionen der Un‐ terrichtsphasen im Modell die situationsangemessene Verwendung von Fremd- und Muttersprache. Zur interkulturellen Kompetenzvermittlung bilanziere ich, wie angemessene Darstellungen fremdkultureller Personen erfolgen können, und ich schlage die Kompetenz ‚Perspektivenbewusstsein‘ als zentralen Indikator für den Nachweis interkultureller Kompetenzen vor. Hinsichtlich des forschungsme‐ thodischen Vorgehens erläutere ich, weshalb (Daten- und Methoden-)Triangula‐ tion für Unterrichtsforschungsprojekte nicht verzichtbar sind. 17 1 Fragestellung und Gliederung der Arbeit <?page no="18"?> 2 Interkulturelle Kompetenzen 2.1 Begründung des Forschungsgegenstands That since wars begin in the minds of men, it is in the minds of men that the defences of peace must be constructed […] (Präambel der UNESCO-Verfassung 1945). Education shall be directed to the full development of the human personality and to the strengthening of respect for human rights and fundamental freedoms. It shall promote understanding, tolerance and friendship among all nations, racial or religious groups, and shall further the activities of the United Nations for the maintenance of peace. (Universal Declaration of Human Rights 1948: Article 26, Paragraph 2) Diese Auszüge aus der UNESCO-Verfassung und aus der Erklärung der Men‐ schenrechte, den beiden wohl wichtigsten Vereinbarungen der Weltgemein‐ schaft, unterstreichen die Bedeutung des interkulturellen Lernens. Interkultu‐ relles Lernen zielt darauf ab, Menschen in einer Weise zu erziehen und zu bilden, dass sie sich gegenseitig achten und schätzen - trotz möglicher Unterschiede in ihren Kulturen und Weltanschauungen. In der Vergangenheit und in der Ge‐ genwart war und ist die Erfahrung von Krieg, Propaganda, Vorurteilen und Fremdenhass weit verbreitet. Es muss auch die Aufgabe von Pädagogen sein, Lernen so zu gestalten, dass es immer auch ein interkulturelles Lernen ist, ein Lernen zum gelingenden Miteinander auf verschiedenen Maßstabsebenen. Diese Gedanken sind auch in die Grundsatzpapiere internationaler und na‐ tionaler mit Bildungsfragen betrauter Institutionen mit eingeflossen. Die in diesen Dokumenten enthaltenen pädagogischen Empfehlungen und bildungs‐ politischen Setzungen zeigen die Bedeutung der vorliegenden Untersuchung auf und legitimieren sie. Im Anschluss an die Diskussion solcher bildungspolitischer Setzungen erörtere ich in diesem Kapitel die Bedeutung eines zeitgemäßen Kul‐ turbegriffs als Grundlage für das interkulturelle Lernen, wende mich dann den Debatten zum interkulturellen Lernen in der Geographiedidaktik und der Fremdsprachendidaktik zu, diskutiere aktuelle Untersuchungen und Modelle zum interkulturellen Lernen und schließe mit Empfehlungen zur Aufgabenge‐ staltung ab, die sich daraus ergeben. <?page no="19"?> a) b) c) d) e) f) g) 2.1.1 Die Perspektive der Geographiedidaktik Dass die Declaration of Human Rights mehr als nur eine unverbindliche Samm‐ lung normativer Aussagen ist, wird dadurch deutlich, dass internationale fach‐ didaktische Dachverbände auf sie Bezug nehmen: Im Bestreben, auf der einen Seite innerhalb von Völkern und zwischen Völkern Frieden zu schaffen und auf der anderen Seite Frieden mit der Natur herzustellen, gründen geographische Erzieher ihre Arbeit auf die Universelle Erklärung der Men‐ schenrechte (Commission on Geographical Education 1992: 8.4). In diesem Fall wird das fachdidaktische Positionspapier ‚Internationale Charta der Geographischen Erziehung‘zum Vermittler zwischen den universellen Werten der Menschenrechte und dem konkreten Geographieunterricht in den beteiligten Ländern. Die Landesvertreter, die 1992 in der Kommission Geogra‐ phische Erziehung der Internationalen Geographischen Union (IGU) unter der Leitung von Prof. Dr. Hartwig Haubrich die Charta verabschiedeten, sagten damit zu, in ihren Mandatsgebieten den Unterricht und die Curricula entspre‐ chend auszurichten. Interkulturelles Lernen ist das zentrale Richtziel der Charta. Die Geographie fördert Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Nationen, Rassen und religiösen Gruppen und unterstützt die Aktivitäten der Vereinten Nati‐ onen zur Erhaltung des Friedens durch die Beachtung folgender Ziele: eine internationale Dimension und globale Perspektive der Erziehung auf allen Stufen und in allen ihren Formen; Verständnis und Achtung aller Völker, ihrer Kulturen, Zivilisationen, Werte und Lebensformen, die ethnischen Kulturen im eigenen Land und in anderen Nati‐ onen eingeschlossen; Bewußtsein der zunehmenden globalen Abhängigkeit der Völker und Nationen; Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren; Bewußtsein nicht nur der eigenen Rechte, sondern auch der Pflichten Individuen, sozialen Gruppen und Nationen gegenüber; Einsicht in die Notwendigkeit der internationalen Solidarität und Kooperation; Bereitschaft des Individuums, sich bei der Lösung von Problemen der eigenen Gemeinde, des eigenen Landes und der Welt insgesamt zu beteiligen (Commission on Geographical Education 1992: 8 f.). Im Kontext dieser Arbeit ist insbesondere die unter Punkt d) erwähnte Kom‐ munikationsfähigkeit von Interesse. Fremdsprachenkompetenz und bilingualer Unterricht lassen sich somit auch aus der ‚Internationalen Charta der Geogra‐ phischen Erziehung‘ ableiten. Die Erklärung „International Declaration on Ge‐ 19 2.1 Begründung des Forschungsgegenstands <?page no="20"?> 1.1 - 1.2 - 1.3 - ographical Education for Cultural Diversity“ der ‚Kommission Geographische Erziehung der Internationalen Geographischen Union‘ (IGU) von Seoul im Jahr 2000 bestätigt die 1992 formulierten Ziele (vgl. Commission on Geographical Education 2000). 2.1.2 Die Perspektive der Fremdsprachendidaktik Mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) wurde im Auftrag des Europarats unter Beteiligung der Europäischen Kommission ein Dokument erstellt, das das Sprachenlernen in jenen Mitgliedstaaten unterstützen soll, die in den Sprachenprojekten des Europarats zusammenarbeiten. Das Dokument definiert europaweit anzustrebende Kompetenzen im Bereich des Lehrens, Lernens und Bewertens von Fremdsprachen. Ein wichtiger Bestandteil des Do‐ kuments sind Kompetenzbeschreibungsskalen (Niveaus A1 bis C2), die dabei helfen, den Sprachstand von Lernern europaweit nach einheitlichen Kriterien einzustufen. Das Dokument beschreibt die Vermittlung von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen als das wichtigste Ziel von Fremdsprachenun‐ terricht. Um dieses Ziel zu verwirklichen, ist so weit wie möglich sicherzustellen, dass alle Bevölkerungsgruppen zu wirkungs‐ vollen Mitteln und Wegen Zugang haben, Kenntnisse der Sprachen anderer Mitglied‐ staaten (oder anderer Sprachgemeinschaften innerhalb des eigenen Landes) ebenso zu erwerben wie die Fertigkeiten im Gebrauch jener Sprachen, die sie befähigen, ihre kommunikativen Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere um das tägliche Leben in einem anderen Land zu meistern und um Ausländern im eigenen Land zu helfen, ihren Alltag zu bewältigen; Informationen und Ideen mit jungen Menschen und Erwachsenen auszutau‐ schen, die eine andere Sprache sprechen, und um eigene Gedanken und Ge‐ fühle mitzuteilen; ein besseres und tieferes Verständnis für die Lebensart und die Denkweisen anderer Menschen und für ihr kulturelles Erbe zu gewinnen (GER 2001: 15). Besonders interessant ist, dass „Fremdenfeindlichkeit und der Rückfall in einen extremen Nationalismus als Haupthindernisse der europäischen Mobilität und Integration“ bezeichnet werden, und nicht etwa sprachliche Barrieren (GER 2001: 16). Interkulturelles Lernen wird als wichtigste Integrationshilfe gesehen. Zur interkulturellen Kompetenz wird weiter ausgeführt, dass die verschiedenen (nationalen, regionalen oder sozialen) Kulturen, zu denen ein Mensch Zugang gefunden hat, […] in seiner kulturellen Kompetenz nicht einfach nebenein‐ 20 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="21"?> ander [existieren]. Sie werden verglichen und kontrastiert, und sie interagieren beim Entstehen einer reicheren, integrierten plurikulturellen Kompetenz (GER 2001: 18). Die im GER 2001 beschriebenen interkulturellen Kompetenzen enthalten somit Bezüge zu Aspekten von Transkulturalität. Die in der Interaktion neu erwor‐ benen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen bleiben nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Die Lernenden erwerben Interkulturalität. Dabei wird „interkulturelles Bewusstsein, Fertig‐ keiten und prozedurales Wissen“ gefördert, „zur Entwicklung einer reicheren, komplexeren Persönlichkeit bei[getragen]“ und die Lernenden werden offener für zukünftige interkulturelle Begegnungen (GER 2001: 51). Der GER räumt kulturellen Kompetenzen damit höchsten Stellenwert ein. Auf der internationalen Ebene weisen die ‚Internationale Charta der geogra‐ phischen Erziehung‘ und der ‚Gemeinsame Europäischen Referenzrahmen für Sprachen‘ auf die besondere Verantwortung von Geographie- und Fremdspra‐ chenlehrkräften für die Vermittlung von kommunikativen und kulturellen Kom‐ petenzen hin. 2.1.3 Bildungspolitische Perspektiven Auf nationaler Ebene ist es die Aufgabe der Kultusministerkonferenz (KMK), länderübergreifende Empfehlungen für Schule und Bildung auszusprechen. KMK-Beschlüsse haben hohen Verbindlichkeitscharakter. Von der KMK getrof‐ fene Empfehlungen werden von Bundesländern eher in Bildungspläne über‐ nommen als beispielsweise die schon erwähnten Empfehlungen einer fachdi‐ daktischen Organisation. Die KMK hat 1996 und in einer revidierten Fassung nochmals 2013 das Positionspapier „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ verabschiedet. Das interkulturelle Lernen wird hierbei als Vorbe‐ reitung der heranwachsenden Generation für ein gelingendes Miteinander ver‐ schiedener Kulturen in Deutschland, als ein Lernen für ein zusammenwach‐ sendes Europa und als ein Lernen für ein friedvolles Miteinander in der Einen Welt angesehen. Für den Kontext dieser Arbeit ist von Interesse, dass Themen der Geographie und des Fremdsprachenunterrichts für das interkulturelle Lernen als besonders geeignet angesprochen werden. Die Geographie befasse sich mit der „Raum‐ wirksamkeit kulturbedingter Strukturen“ (Kultusministerkonferenz 1996: 10). Im Fremdsprachenunterricht und im bilingualen Unterricht erfahren die Lern‐ enden anderskulturelle Perspektiven und dabei insbesondere auch „Außenper‐ spektive[n] auf das vertraute und für selbstverständlich gehaltene Eigene“ (vgl. Kultusministerkonferenz 1996: 10). Weiterhin ist von Interesse, dass affektive 21 2.1 Begründung des Forschungsgegenstands <?page no="22"?> Komponenten des interkulturellen Lernens im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Lernende sollen Interesse, Offenheit und Toleranz für anderskulturelle Lebensweisen entwickeln. „Emotionalen Erlebnissen und Erfahrungen kommt bei der Ausprägung von Einstellungen und Umgangsformen eine grundlegende Bedeutung zu“ (Kultusministerkonferenz 1996: 7). Das Papier leistet ferner eine interessante Vorarbeit für die Strukturierung von interkulturellen Lernaufgaben. Im Unterricht soll es darum gehen a) ein Bewusst‐ sein für eigenkulturelle Praktiken zu entwickeln, b) mit Offenheit Kenntnisse über anderskulturelle Praktiken zu erwerben, c) in Begegnungen mit anderskultu‐ rellen Lebensformen Spannungen aushalten zu können, d) sich möglichen Stere‐ otypen bewusst zu werden, e) zu anderskulturelle Praktiken eigenkulturelle Per‐ spektiven zu reflektieren, sowie f) Regeln für gemeinsames Zusammenleben auszuhandeln (vgl. Kultusministerkonferenz 1996: 5 f.). Die Auseinandersetzung mit den eigenkulturellen Praktiken (a) fördert den ebenfalls geforderten Einbezug von Lebenswirklichkeit und Schülererfahrungen (vgl. Kultusministerkonferenz 1996: 9). In den Aushandlungsprozessen (f) werden die geforderten Lernsituati‐ onen geschaffen, in denen zugrundeliegende Wertvorstellungen geklärt und be‐ urteilt werden können (vgl. Kultusministerkonferenz 1996: 9). Das Positionspapier beschreibt die Notwendigkeit, dass Lehrkräfte in Aus- und Weiterbildungen verstärkt dazu befähigt werden, interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln. Es fordert ferner, die Vermittlung interkultureller Kompetenzen fest in den Bildungsplänen zu verankern (vgl. Kultusministerkonferenz 2013a: 5 f.). Für das Fach Geographie im Bildungsplan 2016, Baden-Württemberg, Sekun‐ darstufe I, ist das interkulturelle Lernen im Rahmen der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ genannt. „Perspektiven zu wechseln und andere Standpunkte […] zu verstehen und zu prüfen“, führt dieser Bildungsplan als zentrale Handlungskompetenzen für den Geographieunterricht auf (Ministe‐ rium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016: 7 f.). 2.2 Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens In der Fachdidaktik Englisch wird die Diskussion zum interkulturellen Lernen seit Anfang der neunziger Jahre intensiv geführt (vgl. Bausch, Christ & Krumm 1994; Bredella & Christ 1995). Zunächst standen Diskussionen zu Konzepten, Benennungen und Modellentwicklungen im Vordergrund. Anschließend be‐ gann die empirische Erforschung von Möglichkeiten der unterrichtlichen Um‐ setzung (vgl. Bechtel 2003; Burwitz-Melzer 2003; Göbel 2007). Die genannten Autoren betonen den Bedarf weiterer empirischer Arbeiten: 22 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="23"?> Um in dieser Situation dennoch die Förderung eines interkulturellen Bewusstseins im Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I zu ermöglichen, bedarf es, wie von vielen Fachdidaktikern bereits nachdrücklich gefordert, zunächst vor allem empiri‐ scher Forschung, die belegt, was überhaupt passiert, wenn interkulturelle Lerninhalte im Unterricht angesprochen werden […] (Burwitz-Melzer 2003: 127). Dass im Bereich des schulischen interkulturellen Lernens Entwicklungen im Gange sind, mag neben den neuen Möglichkeiten von medialen und realen Be‐ gegnungsformen auch der Tatsache geschuldet sein, dass das Verständnis des zugrundeliegenden Kulturbegriffs erst vor wenigen Jahrzehnten starke Ände‐ rungen erfahren hat. Zum einen herrschte bis in die 1980er Jahre ein humanis‐ tisch-ästhetisch geprägter Kulturbegriff in Deutschland vor (vgl. Bach 1998: 192). ‚Kultur‘ wurde als high culture angesehen und objektivierte sich u. a. in Kunstwerken. Die landeskundlich ausgerichtete Fremdsprachendidaktik er‐ gänzte dies für den Fremdsprachenunterricht um für die ‚jeweilige Kultur‘ re‐ präsentatives Faktenwissen (vgl. Caspari 2007: 70). Und zum anderen wurden Kulturen bis in die 1990er Jahre als weitgehend homogene und statische Gruppen angesehen. 2.2.1 Kultur als Bedeutungszuschreibungen einer Gruppe Mit der Ablösung des humanistisch-ästhetischen durch einen ethnologisch, d. h. kulturanthropologisch geprägten Kulturbegriff gelangte nicht nur das Alltags‐ leben von Menschen aller Bevölkerungsschichten in den Fokus der Betrachtung, sondern auch die für die Interpretationen und Handlungen zu Grunde liegenden, in einer sozialen Gruppe geteilten Bedeutungen und Einstellungen. Kultur wird seither allgemein verstanden als „das Geflecht von Bedeutungen, in denen die Menschen ihre Erfahrungen interpretieren, und nach denen sie ihr Handeln aus‐ richten“ (Geertz 1983 zit. in Auernheimer 2003: 75). Curtin definiert den Kultur‐ begriff ähnlich wie Geertz als die charakterisierenden Eigenschaften, Normen und Praktiken einer Gesellschaft (vgl. Curtin & Gaither 2007: 35). Sie bezieht sich dabei auf die Definition von Hall und Williams, die allerdings noch stärker die Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit des Kulturbegriffs betonen. „Culture is the process by which meaning is produced, circulated, consumed, modified, and end‐ lessly reproduced and renegotiated in society“ (Hall 1980; Williams 1961 & 1981 zit. in Curtin & Gaither 2007: 35). Kultur drückt sich in Bedeutungszuschrei‐ bungen von Gruppen aus. Bedeutungszuschreibungen werden gesellschaftlich konstruiert und dienen als Klassifizierungsschemen, unter deren Perspektiven Menschen die Welt wahrnehmen (vgl. Curtin & Gaither 2007: 36). 23 2.2 Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens <?page no="24"?> 2.2.2 Vielfalt innerhalb einer Kultur als Wert an sich Ein Kulturbegriff, der von homogenen kulturellen Gruppen ausging, leistete der Stereotypenbildung Vorschub. Insofern war es von zentraler Bedeutung, dass der Kulturbegriff dahingehend erweitert wurde, dass Gruppen bzw. Gesell‐ schaften ein großes Maß an intrakultureller Heterogenität aufweisen können. Entsprechend zeichnen sich Mitglieder zwar durch Gemeinsamkeiten in einem Teil von Merkmalen aus, sie können allerdings hinsichtlich anderer Merkmale (politischer Überzeugung, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Sprache, Bildung, Gender etc.) größere intrakulturelle als interkulturelle Unterschiede im Ver‐ gleich zu anderen Gruppen aufweisen. Die jeweilige Kultur [determiniert] nicht das Handeln der Menschen, sondern schafft für sie nur einen Rahmen, in dem sie handeln. […] Kulturen dürfen daher nicht als statische Gebilde, sondern müssen in ihrer Dynamik betrachtet werden. Neben der Veränderbarkeit in diachronischer Sicht ist außerdem die Diversität innerhalb einer Kultur in synchronischer Sicht zu berücksichtigen (Bechtel 2003: 52). Bechtel, im ersten Teil des Zitats bezugnehmend auf Bredella, stellt diese Hete‐ rogenität von Mitgliedern einer Kultur heraus und weist ferner auf die Verän‐ derlichkeit von Kulturen über die Zeit hin. Er befindet sich damit in Überein‐ stimmung mit Auernheimer: Als Konsens kann man - speziell auch für die interkulturelle Pädagogik - festhalten, dass Kulturen erstens als heterogen, nicht homogen und geschlossen, und zweitens als prozesshaft, dynamisch verstanden werden (Auernheimer 2003: 75). Als Gründe für Wandel in Kulturen werden intrakulturelle Entwicklungen und interkulturelle Einflüsse gesehen. Kultureller Wandel entsteht sowohl durch Übernahme aus anderen Kulturen und kul‐ turelle Fremdeinflüsse, als auch aus dem Zwang der Individuen, sich mit Struktur‐ veränderungen, z. B. Marktabhängigkeit und Individualisierung des Lebens, ausein‐ ander zu setzen (Rohwer 1996: 6). Mit dem Hinweis auf Fremdeinflüsse deutet Rohwer die Nähe ihrer Aussage zur Transkulturalität an. Auf dem Makro-level machen Kulturen nicht an Grenzen halt, sondern gehen durch diese hindurch. Kulturen greifen ineinander und sind miteinander verwoben. Für den Mikro-level, das Individuum, gilt, dass es vie‐ lerlei kulturelle Einflüsse verschiedener Herkunft in sich trägt. Es wird zum kulturellen Hybriden. Ein wichtiger Teil individueller Identitätsbildung besteht darin, diese Anteile zu integrieren. 24 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="25"?> Work on one’s identity is becoming more and more work on the integration of com‐ ponents of differing cultural origin. And only the ability to transculturally cross over will guarantee us identity and competence in the long run (Welsch 1999: 94). Diese Aspekte werden uns in den Reflexionen zum interkulturellen Lernen wieder begegnen. Wolfgang Nieke bewertet diese Heterogenität innerhalb von Kulturen positiv. Er argumentiert, dass die Homogenität einer Kultur keineswegs als deren be‐ sondere Stärke anzusehen ist, sondern dass gerade die Verschiedenartigkeit von Individuen einer Kultur es dieser Kultur erlaubt, erfolgreich auf Umweltverän‐ derungen reagieren zu können. Was aus statischer Perspektive als unerwünschte Störung des Reproduktionsprozesses angesehen werden könnte, ist für hochkomplexe Gesellschaften notwendiges Poten‐ tial, um für veränderte Lebensbedingungen nach außen wie nach innen Denk- und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben, die jeweils noch nicht zum gesi‐ cherten Erfahrungsbestand einer Kultur gehören, aber geeignet sind, die neuartige Anforderungssituation erfolgreich zu bewältigen. Darin liegt der Wert der Heraus‐ bildung eigenständiger, unverwechselbarer Individualitäten im Prozess der Interna‐ lisierung einer Kultur für die Evolution einer Gesellschaft und Kultur (Nieke 2008: 45). Der im amerikanischen Schulkontext häufig auftauchende Ausdruck ‚appreciate diversity‘ bekommt damit Sinn und Bedeutung über den allgemeinen Grundsatz der Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen hinaus. Entsprechend ist es wichtig, durch Prozesse interkulturellen Lernens ein Kulturverständnis zu ent‐ wickeln, das kulturelle Vielfalt als Wert schätzt, und das Individuum sowohl bei eigenals auch bei fremdkulturellen Betrachtungen ins Zentrum stellt. An spä‐ teren Stellen wird aufgezeigt, welche Folgen diese Überlegung für die Erstellung von Lernaufgaben (tasks) für interkulturelles Lernen haben. Es ist offensichtlich, dass eine Unterrichtspraxis des Vergleichs einer vermeintlichen eigenen (Nati‐ onal-) Kultur mit einer vermeintlich anderen Kultur dem interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht nicht zuträglich ist. 2.2.3 Wer bestimmt, was eine Kultur kennzeichnet? Wenn eine Kultur als ‚geteilte Bedeutungen‘, ‚practices of a society‘, ‚negotiated meanings‘ o. ä. definiert wird, dann stellt sich die Frage, wer die Kulturmitglieder sind, die durch ihre Aushandlungsprozesse definieren, was ihre Kultur kenn‐ zeichnet. Wenn, wie oben beschrieben, Gruppen und Gesellschaften heterogen sind, dann ist nicht davon auszugehen, dass alle Individuen am Prozess der Be‐ deutungsaushandlung mit gleichem Einfluss teilnehmen. Die Idee einer gleich‐ 25 2.2 Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens <?page no="26"?> berechtigten Gesellschaftsteilhabe ist die Zielvorstellung im (inter-)kulturellen Lernprozess. In der Realität gibt es jedoch innerhalb jeder (Sub-)Kultur Indivi‐ duen und Gruppen, deren Einflussmöglichkeiten größer sind, und die damit die Bedeutungszuschreibungen und kulturellen Praktiken stärker beeinflussen als andere. Bestimmte Randgruppen, Subkulturen, soziale Klassen und ökonomisch schwache Gruppen hingegen haben möglicherweise wenig Teilhabe. Wenn Andreas Müller-Hartmann und Marita Schocker-von Ditfurth den ‚Cultural Stu‐ dies Approach‘ von der Landeskunde abgrenzen, dann rücken sie diese Teilhabe in den Fokus: […] the question of power plays an important role [in the cultural studies approach] and the question is who assigns meaning to cultural symbols and actions. Media and the control of media are decisive in conveying these meanings (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2004: 111). Die Frage nach Einfluss und Macht stellte Bourdieu für die Prägung der Sprache, der wohl wichtigsten Kulturobjektivation, ins Zentrum seiner Überlegungen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Kommunikationsbeziehungen […] auch symbolische Machtbeziehungen sind, in denen sich die Machtverhältnisse zwi‐ schen den Sprechern oder ihren jeweiligen sozialen Gruppen aktualisieren (Bourdieu 1990: 11). Dabei prägen die verschiedenen sozialen Klassen die Sprache in unterschiedli‐ cher Weise. Über die Strukturierung der Wahrnehmung, die die sozialen Akteure von der sozialen Welt haben, trägt das Benennen zur Strukturierung dieser Welt selbst bei, und zwar umso grundlegender, je allgemeiner es anerkannt ist, das heißt autorisiert ist. Kein sozialer Akteur, der nicht auch im Rahmen seiner Möglichkeiten Anspruch auf die Macht erhöbe, zu benennen und benennend die Welt zu gestalten (Bourdieu 1990: 71). Die schulische Bildung sieht er dabei als Institution, die bestehende Machtver‐ hältnisse verfestigt. Als sprachlicher Markt, der streng den Urteilen der Hüter der legitimen Kultur un‐ terworfen ist, wird der Bildungsmarkt von den sprachlichen Produkten der herr‐ schenden Klasse beherrscht und verfestigt tendenziell die bereits bestehenden Kapi‐ talunterschiede (Bourdieu 1990: 40 f.). Für das interkulturelle Lernen sind die Überlegungen, wer eine Kultur definiert, von besonderer Wichtigkeit. Wenn Lehrkräfte kulturelle Praktiken ohne eigene kritische Reflexion vermitteln, dann besteht die Gefahr, „that it leads to emphasis 26 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="27"?> on the meanings shared by a politically dominant elite group within a society“ (Byram 1997: 39). Es würden die Bilder vermittelt, die von der kulturdefinier‐ enden Gruppe erwünscht sind, und Subkulturen wären nicht angemessen re‐ präsentiert. Um dies zu vermeiden, müssen bei der Vermittlung interkultureller Kompetenzen die Inhalte zu einer exemplarisch erarbeiteten Kultur von einer kompetenten Lehrkraft facettenreich ausgewählt werden, auch wenn dies mög‐ licherweise dem Zwang zu didaktischer Reduktion (didaktischer Rekonstruk‐ tion) widerspricht. Zudem müssen Methoden zur kritischen Reflexion von Kul‐ turen vermittelt werden. So betont Byram hierbei den Fokus auf processes and methods of analysing social processes and their outcomes, is to take se‐ riously the issues of social power in FLT, to provide learners with critical tools and to develop their critical understanding of their own and other societies (Byram 1997: 19). Im Zusammenhang mit dem Lernzielbereich critical cultural awareness präzisiert Byram entsprechende Lernziele. Er verweist auch auf die Arbeit der Lernenden an der eigenen Identität, einem weiteren zentralen Aspekt. (Inter-)kulturelles Lernen bedeutet auch Erziehung zur kritischen Reflexion und zur Teilhabe an der eigenen Gesellschaft. 2.2.4 Die Rolle der Sprache Die Interaktion der Mitglieder einer sozialen Gruppe zur Erschaffung eines Ge‐ flechts von Bedeutungen spielt in dem dargestellten Kulturbegriff eine zentrale Rolle. Sie erfolgt zumeist in Form von symbolischer Interaktion, weshalb der Sprache eine zentrale Rolle für die Ermöglichung von Kultur zukommt. „Das wesentliche Prinzip, mit dem Kultur hervorgebracht wird, ist die Fähigkeit zur Symbolisierung“ (Nieke 2008: 42). Dies ist auch die Position von Claire Kramsch. Ihrer Ansicht nach ist Kultur „ein von Sprache konstituiertes soziales Konstrukt“ (Kramsch zit. in Bach 1998: 193). Kramsch sieht aufgrund dieser Verknüpfung von Sprache und Kultur eine besondere Zuständigkeit des Sprachenunterrichts für (inter-)kulturelles Lernen. Sie schreibt, dass materielle Kultur und gemeinsames Gedankengut nicht einfach gegeben sind und weitergegeben werden, sondern dass sie zum größten Teil, und das fortlaufend, durch Sprache vermittelt, interpretiert und festgehalten werden. Gerade wegen dieser ver‐ mittelnden Rolle von Sprache wird Kultur zum Anliegen von Sprachlehrern (Kramsch zit. in Bach 1998: 193). Peter Doyé verweist auf die doppelte Rolle von Sprache im Zusammenhang mit interkulturellem Lernen. 27 2.2 Kulturbegriff als Grundlage des interkulturellen Lernens <?page no="28"?> On the one hand language is a constituent part of culture, but on the other hand it is also an expression of culture and obviously its most comprehensive and differentiated repre‐ sentation. It is both substance and medium at one and the same time (Doyé 1999: 19). Sprache ist somit sowohl Voraussetzung für Kultur als auch ihre zentrale Ob‐ jektivation. Die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen ist für ihn eine „spezifische Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts“ und nicht etwa des Sprachunterrichts in der Muttersprache wegen der „Notwendigkeit, mit an‐ derssprachigen Partnern zu kommunizieren“ (Doyé 1994: 44). Der Kulturbegriff, auf dem die folgenden Darstellungen basieren, ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Kultur im Wesentlichen durch die einer Gruppe ge‐ meinsamen Bedeutungszuschreibungen definiert wird, dass Kulturen sich ver‐ ändern, also nicht statisch sind, dass Kulturen nicht von allen sozialen Gruppen ihrer Gesellschaften in gleicher Weise geprägt werden, dass Kulturen lediglich den Rahmen bereitstellen innerhalb dessen Individuen dann mehr oder weniger frei agieren, dass Gruppen ein hohes Maß an intrakulturellen Unterschieden aufweisen können und dass Sprache Voraussetzung für die Entstehung und Weiterentwicklung einer Kultur ist. 2.3 Interkulturelles Lernen Obwohl Bedeutungszuschreibungen und Handlungsmuster Kulturen kenn‐ zeichnen, sind sie den Mitgliedern häufig nicht bewusst. Wenn Lehrkräfte Schüle‐ rinnen und Schüler auf Kommunikation und Interaktion mit Personen aus anderen Kulturen vorbereiten, also interkulturelles Lernen ermöglichen und interkulturelle Kompetenzen vermitteln möchten, besteht ein großer Teil des interkulturellen Lernens daher in der Bewusstwerdung dieser eigenen Vorstellungen. Die jeweils nachwachsende Generation wird in das bestehende System einer Kultur oder Teilkultur hineinsozialisiert, indem ihre Mitglieder die Orientierungen, Deu‐ tungen und Handlungsmuster dieser Kultur internalisieren. Die internalisierte Kultur ist wegen der Struktur dieses Lernprozesses den Betroffenen nur noch zum Teil be‐ wusst. Deshalb ist es nicht ohne aufwendige Verfahren der Bewusstwerdung und Re‐ flexion möglich, aus den Denkprägungen und Handlungsschablonen der jeweiligen Kultur herauszukommen (Nieke 2008: 44). Mit solcherart „aufwendigen Verfahren“, also mit den Möglichkeiten interkul‐ turellen Lernens zu eigenen, aber auch zu anderen Kulturen, befasst sich dieses Kapitel. 28 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="29"?> 2.3.1 Ziele des interkulturellen Lernprozesses Interkulturelles Lernen wird als der Lernprozess angesehen, der zum Erwerb von interkulturellen Kompetenzen führt. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Eigenen ist dabei Weg und Ziel zugleich. Die idealisierte Person, die über interkulturelle Kompetenzen verfügt, bezeichnet Michael Byram als den intercultural speaker. [The intercultural speaker is] someone who is able to see relationships between dif‐ ferent cultures […] and is able to mediate, that is interpret each in terms of the other, either for themselves or for other people. It is also someone who has a critical or analytical understanding of (parts of) their own and other cultures - someone who is conscious of their own perspective, of the way in which their thinking is culturally determined, rather than believing that their understanding and perspective is natural (Byram 2000: 9). Michael Byram weist hier auf die kulturelle Bedingtheit von Denk-, Verstehens- und Sichtweisen hin. In „Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence“ definiert er Kultur als gemeinsame Bedeutungszuweisungen, als „shared meanings“ (Byram 1997: 39). Bei seiner Diskussion der Definition ist er darauf bedacht, mögliche Einwände kritisch zu reflektieren. Die gemeinsamen Bedeutungszuweisungen sollen a) in ihrem Bezug zur Sprache, b) nicht als zu statisch, c) nicht als von einer Machtgruppe dominiert, aber auch d) sich in non-verbalem Verhalten ausdrückend angesehen werden (vgl. Byram 1997: 39). Byram nennt in der oben zitierten Definition des ‚intercultural speakers‘ Teil‐ kompetenzen der interkulturellen Kompetenz, beispielsweise zwischen Kul‐ turen zu vermitteln oder ein Bewusstsein für die Perspektivengebundenheit der Denkweisen zu besitzen („mediate“, „conscious of their own perspective“, vgl. Byram 2000). Diese Teilkompetenzen seines Modells der „Intercultural Com‐ municative Competence“ (Byram 1997) erläutere ich in einem eigenen Kapitel (siehe S. 5). Auf den Aspekt des Selbst- und Fremdverstehens („analytical un‐ derstanding of their own and other cultures“, Byram 2000) wird im folgenden Kapitel zu Begrifflichkeiten für das interkulturelle Lernen genauer eingegangen. 2.3.2 Zentrale Begriffe im Kontext des interkulturellen Lernens In der Pädagogik löste der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ den Begriff ‚Auslän‐ derpädagogik‘ Anfang der 1980er Jahre ab. Der Begriff Ausländerpädagogik war in der Pädagogik mit der damaligen Praxis einiger Bundesländer assoziiert, aus‐ ländische Schüler und Schülerinnen in separaten Klassen zu unterrichten. Die folgende Phase der Integration von ausländischen Schülern in Regelklassen ging 29 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="30"?> mit dem Begriffswechsel hin zu interkulturellem Lernen und interkultureller Pädagogik einher (Holzbrecher 2004: 51-55). Der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ unterscheidet zunächst nicht zwischen ‚Lernen zugunsten einer Integ‐ ration von verschiedenen Kulturen innerhalb einer Schulklasse in Deutschland‘ und ‚Lernen zugunsten einer internationalen Verständigung‘. Wenn die inter‐ kulturelle Pädagogik sich auf das ‚Lernen zugunsten einer internationalen Ver‐ ständigung‘ beziehen möchte, dann nutzt sie auch den Begriff ‚globales Lernen‘. Friedenserziehung und Erziehung zur Solidarität kann als das nach außen gerichtete Element des interkulturellen Lernens aufgefasst werden, also als das Fremdverstehen. Das auf den Lerner selbst gerichtete Element ist das des Selbst‐ verstehens, der Identitätsbildung, auf das im folgenden Kapitel eingegangen wird. Auch wenn Selbstverstehen und Fremdverstehen hier nacheinander dis‐ kutiert werden, sind sie immer als sich gegenseitig bedingende Elemente des interkulturellen Lernens anzusehen. 2.3.3 Selbstverstehen und Identitätsbildung „No person knows his own culture, who only knows his own culture“ (Allport 1954 zit. in: Stephan W. G. & Stephan C. W. 2005: 433). Kehrt man Allports Aussage um, so kann nur derjenige sich selbst verstehen und seine Identität entwickeln, der den Anderen kennt, das Eigene mit dem Anderen vergleichen kann und sich in die Position des Anderen versetzen kann. Interkulturelles Lernen wird so zum Anliegen des Individuums, das seine Identität weiter ent‐ wickeln möchte. Christ schreibt, dass [e]s […] beim Fremdverstehen nicht darum gehen [kann], ein absolut Anderes anzu‐ nehmen und das Fremde um des Fremden willen zu untersuchen, sondern wir unter‐ suchen das Fremde gerade um unseretwillen und unter Einbringung unserer selbst (Christ 1999: 294). Das Fremdverstehen unterstützt die Identitätsbildung. Bredella sieht die Ver‐ knüpfung von Fremdverstehen und Selbstverständnis ähnlich. „Fremdverstehen erweist sich somit als ein dynamischer und unabschließbarer Bildungsprozess mit Rückwirkungen auf das eigene Selbst- und Weltverständnis“ (Bredella 2007: 24). In diesem Identitätsbildungsprozess können Lernende durch den Vergleich von eigenen und fremden Perspektiven die Unsinnigkeit von absoluten Gel‐ tungsansprüchen erkennen. „[D]as Fremdverstehen [ist] eine Transformation unseres Selbst und eine Relativierung unserer eigenen Auffassungen, die uns toleranter machen kann“ (Bredella 2007: 27). Mit dieser Aussage zur Toleranz schließt sich der Kreis zum Fremdverstehen. Es wird offensichtlich, dass Fremd‐ 30 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="31"?> verstehen und Selbstverstehen sich gegenseitig bedingende Elemente des inter‐ kulturellen Lernens sind. Das einleitende Zitat Allports kann noch dahingehend ergänzt werden, dass im Selbstverstehen und bei der Identitätsbildung nicht nur der Kompetenzbereich Wissen („knows his own culture“ [Allport 1954 zit. in: Stephan W. G. & Stephan C. W. 2005: 433]), sondern auch Fertigkeiten und Ein‐ stellungen gefördert werden sollen. Der Vergleich der fremden mit der eigenen Kultur eröffnet dem Lerner Einblicke in unbekannte, neue Welten und soll aus heutiger Sicht zur Relativierung des eigenen Standpunkts führen. Dies ist für den Lerner nicht nur ein Wissensgewinn, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung (Merkl 2006: 22). 2.3.3.1 Fremdverstehen Für die Fremdsprachendidaktik hat sich insbesondere das Gießener Graduierten‐ kolleg ‚Didaktik des Fremdverstehens‘ mit dem Begriff ‚Fremdverstehen‘ ausei‐ nandergesetzt. Bredella und H. Christ beschreiben, dass Fremdverstehen einer‐ seits durch Einfühlung und Analogiebildung gekennzeichnet ist, andererseits aber auch den Dialog mit dem Anderen voraussetzt. Den Anderen verstehen zu können setzt weder voraus, den gleichen kulturellen Hintergrund mit ihm zu teilen, noch ist es eine hinreichende Bedingung für das Verstehen, dass der zu Verstehende mit dem Verstehenden den gleichen kulturellen Hintergrund teilt. [E]ine Analyse des Verstehens [kann] uns davor bewahren, daß wir in der eigenen Kultur die Unterschiede nivellieren und im Verhältnis zur fremden Kultur die Unter‐ schiede zu einer unüberwindlichen Kluft stilisieren (Bredella & Christ 1995: 9). Kulturelle Zugehörigkeit kann Verstehensprozesse erleichtern oder erschweren. Daneben spielt Sprache eine zentrale Rolle. Auch wenn man die Sprache des Anderen kennt und über Wissen zu dessen Lebenswelt verfügt, muss im Ver‐ stehensprozess vieles interpretiert werden. Ist die Sprache des Anderen eine fremde Sprache und ist seine Kultur fremd, dann erhöht das die Unsicherheit bei der Interpretation. Mit diesem Verstehensprozess von „Menschen oder Do‐ kumenten einer fremden Kultur in einer fremden Sprache“ setzt sich das Fremd‐ verstehen auseinander (Bredella & Christ 1995: 11). Die Befürworter des Begriffs ‚Fremdverstehen‘ verteidigten ihn in der Ver‐ gangenheit immer wieder gegen Kritik oder Missverständlichkeit. Bur‐ witz-Melzer zählt mehrere Kritikpunkte auf, die von verschiedenen Seiten ge‐ äußert wurden. Sie berichtet über Adelheid Hus Forschungen, die ergaben, dass „kulturelle Unterschiede auch herbeigeredet werden können und intrakulturelle Differenzen oft größer und schwerwiegender sind als interkulturelle“ (Bur‐ 31 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="32"?> witz-Melzer 2003: 43). Sie schreibt, dass ‚verstehen‘ eine Form der Machtaus‐ übung darstellt. Den Anderen verstehen bedeutet ihm überlegen zu sein (Bur‐ witz-Melzer 2003: 43). Und sie stellt Hunfelds Position dar. „Nur die Anerkennung der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden kann vor der Subsummierung des Fremden nachhaltig bewahren und es schützen“ (Bur‐ witz-Melzer 2003: 44). Lothar Bredella, Mitbegründer des Graduiertenkollegs, geht auf weitere Kritik am Begriff Fremdverstehen ein. Der Begriff könnte implizieren, dass der Andere als Fremder vom Eigenen ab- und ausgegrenzt wird (vgl. Bredella 2007: 11). Der Verstehende im Fremdverstehen könnte so stark in der eigenkulturellen Perspektive und den eigenkulturellen Interessen gefangen sein, dass er den An‐ deren nicht verstehen kann (vgl. Bredella 2007: 20). Bredella und Christ heben hervor, dass Fremdverstehen immer auch Arbeit an der eigenen Identitätsbil‐ dung ist (Bredella & Christ 1995: 18). Dabei nimmt Bredella auch zu Fragen des Kulturrelativismus Stellung, wenn er meint, dass das Fremdverstehen nicht nur Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Verstehenden hat, sondern auch dazu führen kann, den Anderen verändern zu wollen, wenn der Verstehende glaubt, den Fremden besser zu verstehen als dieser sich selbst. „Fremdverstehen geht nicht im Einnehmen einer Innenperspektive auf, sondern hat Rückwir‐ kungen auf das eigene Selbstverständnis, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass wir durch das Einnehmen der Innenperspektive unsere Auffassung über das Fremde verändern, sondern auch dadurch, dass wir das Fremde zu verändern suchen, wenn wir glauben, dass wir die Fremden besser verstehen als diese sich selbst oder wenn wir das, was wir verstehen nicht billigen können. Es kommt dann zu einem Wechselspiel zwischen Eigenem und Fremdem, bzw. zwischen Innen- und Außenperspektive, aus denen beide nicht unverändert hervorgehen“ (Bredella et al. 2000: XIII). Die Position, die hinter dieser Aussage von 2000 steht, unterscheidet sich deutlich von Bredellas Aussagen von 2007. Bredella schreibt: „Deshalb bedeutet Fremdverstehen […], dass wir den Anderen nicht auf das Eigene reduzieren, sondern ihn gerade in seiner Verschiedenheit anerkennen“ (Bredella 2007: 28). Hier zeigt sich das Dilemma, in dem sich diejenigen befinden, die sich mit di‐ daktischen Fragen des interkulturellen Lernens befassen. Der Frage, ob man Fremde besser verstehen darf als sie sich selbst, oder ob der Andere in seiner Verschiedenheit anerkannt wird, ist auch nicht auszuweichen, da sie sich in der Unterrichtspraxis umgehend stellt: Wie gehen wir mit kulturellen Praktiken um, die wir nicht gut heißen? In neueren Veröffentlichungen schlägt Bredella einen Kompromiss vor, ohne natürlich die Problematik auflösen zu können. Er schreibt, dass wir „die Bereitschaft mitbringen [müssen], uns in Andere hinein‐ 32 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="33"?> zuversetzen und die Welt mit deren Augen zu sehen. Das bedeutet nicht, dass wir das Handeln der Anderen vorbehaltlos akzeptieren […]“ (Bredella 2012: 121). 2.3.3.2 Kulturrelativismus Die Diskussion zum Kulturrelativismus stellt die grundsätzliche Frage, ob jede kulturelle Praktik als gleichwertig zu akzeptieren ist, oder ob es Normen gibt, die eine Bewertung von kulturellen Praktiken erlauben. Die Debatte zum Kul‐ turrelativismus reicht dabei von „das Fremde zu verändern suchen“ (Bredella et al. 2000: XIII) bis zu „Wir müssen lernen mit dem Fremden, Unverständlichen und oft sogar Unerträglichen zu leben“ (Rother 1995: 8). Byram empfiehlt, zu‐ nächst auf die Menschenrechte als Wertmaßstab zurückzugreifen: Taking international standards of human rights as the base-line for evaluation is not of course a ready-made solution to the question of what standpoint should or could be recommended, since interpretations of human rights differ, but it provides a starting point for those teachers who feel that they need to offer their learners a rational approach to evaluations of the value systems of other cultures (Byram 1997: 44). Dies kann im Extremfall auch bedeuten, dass wir kulturelle Praktiken nicht billigen und Veränderungen herbeiführen wollen. Es gilt natürlich auch für die Menschenrechte, die hier als Wertmaßstab herangezogen werden, dass sie den Bedeutungszuschreibungen derjenigen unterliegen, die sie ausgehandelt und beschlossen haben sowie derjenigen, die sie heute interpretieren. Es gibt keinen Menschen mit unabhängigem Standpunkt, da jede und jeder kulturell sozialisiert ist. 2.3.3.3 ‚Außenperspektive 2‘ und ‚third place‘ Das Dilemma des Kulturrelativismus ist letztlich nicht für jeden Fall zu lösen. Für einfache Fälle, die unterhalb der Bedeutung der Menschenrechte angesiedelt sind, können Verstehensprozesse weiterhelfen. Bei Bredella weist der Begriff ‚Außenperspektive 2‘ auf solch einen Prozess hin. Bredella versteht darunter, dass wir ausgehend von unserer Außenperspektive auf die andere Kultur ver‐ suchen können, die Innenperspektive, also die Sicht des Anderen, einzunehmen. Damit erreichen wir eine Außenperspektive „auf einer reflektierteren Stufe […], die nun auch die Auffassungen und Sichtweisen des Anderen umgreift“ (Bredella 2007: 24) und die Bredella als ‚Außenperspektive 2‘ bezeichnet. Unter Berufung auf diese ‚Außenperspektive 2‘ könnte man nun versucht sein, anderskulturellen Praktiken von dieser reflektierteren Stufe aus zu beur‐ teilen und somit den anderen „besser verstehen“ (Bredella et al. 2000: XIII) zu wollen, doch Bredella (2007) schlägt einen vorsichtigeren Weg vor: „Diese Fä‐ 33 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="34"?> higkeit zur Außenperspektive 2 ist die Voraussetzung für einen Dialog, in dem sich beide Partner verändern und in dem ein Drittes entstehen kann, das über Fremdes und Eigenes hinausgeht“ (2007: 24). Dieses Dritte in der dialogischen Aushandlung Entstandene entspricht dem, was Claire Kramsch als „third per‐ spective“ oder „third place“ bezeichnet (Kramsch 1993: 210). Das bedeutet, dass es erst im Dialog mit dem Anderen zu gemeinsam ausgehandelten Werteent‐ scheidungen über kulturelle Praktiken kommen kann. Für den schulischen Un‐ terricht, der häufig ohne Einbezug des Anderen auskommen muss, bedeutet es, dass mit wertmaßstäblichen Urteilen besonders behutsam umgegangen werden muss. Dies ist ein noch behutsameres Vorgehen, als Byrams Vorschlag, die Per‐ spektive, unter der eine Entscheidungsfindung getroffen wird, explizit bewusst zu machen: „The intercultural speaker is aware of their own ideological per‐ spectives and values and evaluates documents or events with explicit reference to them“ (Byram 1997: 64). Das folgende Unterkapitel diskutiert den zentralen Begriff der interkultu‐ rellen kommunikativen Kompetenz, der die Diskussion der Fremdsprachendi‐ daktik in Deutschland seit Byrams Veröffentlichung „Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence“ (1997) stark geprägt hat. 2.3.3.4 Interkulturelle Kompetenz oder Interkulturelle Kommunikative Kompetenz Das interkulturelle Lernen im Unterricht zielt auch auf die Vorbereitung einer gelingenden Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg. Insofern soll für die Verwendung der Begriffe interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompe‐ tenz(en) in dieser Arbeit immer auch der fremdsprachliche Aspekt mitgedacht sein. Lies Sercu schreibt in diesem Kontext, „[It] is important to underline that ‚intercultural competence‘ always implies ‚communicative competence‘, and therefore always has a linguistic, sociolinguistic and discourse component“ (Sercu 2004: 75, vgl. Risager 2007: 121-125, 223-224). Michael Byram verwendet die Begriffe ‚interkulturelle Kompetenz‘ und ‚interkulturelle kommunikative Kompetenz‘ in leicht unterschiedlicher Bedeutung. Interkulturelle Kompe‐ tenzen sind für ihn die Kompetenzen, auf die eine Person in interkulturellen Kommunikationssituationen zugreift, wenn diese Situation in der Mutter‐ sprache der Person stattfindet. Interkulturelle kommunikative Kompetenz um‐ fasst für Michael Byram darüber hinaus die Verwendung der Fremdsprache in dieser Situation. It is thus possible to distinguish Intercultural Competence from Intercultural Com‐ municative Competence. In the first case, individuals have the ability to interact in their own language with people from another country and culture […]. On the other 34 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="35"?> hand, someone with Intercultural Communicative Competence is able to interact with people from another country and culture in the foreign language (Byram 1997: 70 f.). Genau genommen müssten sowohl Sercu als auch Byram den Begriff ‚commu‐ nicative (competence)‘ dahingehend präzisieren, dass sie eine fremdsprachen‐ kommunikative Kompetenz meinen. ‚Interkulturelle fremdsprachenkommuni‐ kative Kompetenz‘ wäre dann möglicherweise ein treffender Begriff für das, was Byram mit interkultureller kommunikativer Kompetenz meint. Ich schließe mich Lies Sercus Standpunkt an, dass der Begriff ‚interkulturelle Kompetenz‘ wegen der an früher Stelle dargestellten zentralen Rolle von Sprache für eine Kultur und wegen seiner Zielsetzung, über Sprachgrenzen hinweg Kommuni‐ kation zu ermöglichen, den fremdsprachenkommunikativen Aspekt umfasst. Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff interkulturelle Kom‐ petenz(en) verwendet. 2.3.3.5 Transkulturelles Lernen Zentrale Gedanken eines kulturellen Lernens gemäß eines modernen Kultur‐ begriffs sind in den letzten Jahren auch unter dem Begriff ‚transkulturelles Lernen‘ formuliert worden. Welsch, der den Begriff der Transkulturalität ge‐ prägt hat, beschreibt ihn so: Cultures de facto no longer have the insinuated form of homogeneity and separate‐ ness. They have instead assumed a new form, which is to be called transcultural insofar that it passes through classical cultural boundaries. Cultural conditions today are lar‐ gely characterized by mixes and permeations (Welsch 1999: 197). Breidbach argumentiert, dass das bisherige interkulturelle Lernen als ein „kom‐ munikatives Verhältnis von getrennt gedachten Kulturen“ gesehen wurde (Breidbach 2003: 230). Kulturen sei eine Homogenität zugeschrieben worden, wie sie vermutlich nie geben war und heute nicht gegeben ist. Wenn interkul‐ turelles Lernen unter einem Kulturbegriff erfolgt, der von intrakultureller Ho‐ mogenität eigener und fremder Kulturen ausgeht, dann schafft es mehr Stereo‐ type, als es aufzulösen vermag. Welsch und Breidbach mahnen an, dass ein angemessener Kulturbegriff diese Heterogenität innerhalb von Kulturen bzw. (je nach Reichweite des Begriffs) die Zugehörigkeit von Personen zu verschie‐ denen Kulturen berücksichtigen muss. Dabei stellt sich die Frage, ob der Begriff interkulturelles Lernen zugunsten des transkulturellen Lernens ersetzt werden muss, oder ob eine Anpassung, Erweiterung oder neue Schwerpunktsetzung im bisherigen ‚interkulturellen Lernen‘ der berechtigten Kritik Genüge tun. Aus meiner Sicht ist eine Integration des transkulturellen Ansatzes in das interkul‐ turelle Lernen möglich, da grundsätzlich ein kulturvergleichendes Vorgehen 35 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="36"?> beizubehalten ist, weil nur durch den Vergleich ein Bewusstsein für Perspekti‐ vität geschaffen wird. Bredella formuliert: Grundsätzlich können sagen, dass erst interkulturelles Verstehen es ermöglicht, un‐ terschiedliche Auffassungen von Liebe, Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit usw. zu erkennen und dass wir in der Auseinandersetzung mit ihnen unsere eigenen Auffas‐ sungen klären können (Bredella 2012: 122). Steht ein Vergleich mit dem Anderen nicht zur Verfügung, ist es ungleich schwerer, sich seiner selbst bewusst zu werden. Allerdings sollten in einer zeit‐ gemäßen Vorstellung des interkulturellen Lernens Aspekte wie Randgruppen, Subkulturen, kultureller Wandel und transkulturelle Einflüsse eine ausdrück‐ lichere Berücksichtigung finden. Die Begriffe ‚interkulturelles Lernen‘ und auch ‚bilingualer Unterricht‘ sind dabei nicht als das In-Beziehung-Setzen binärer Systeme wie ‚eigene und fremde Kultur‘ und ‚Mutter- und Fremdsprache‘ ge‐ dacht, sondern als Teilhabe an vernetzten Diskursen in einer sich globalisierende Welt bzw. als Vorbereitung für die Teilhabe daran (vgl. Hallet 2015). Ein radikal gedachter transkultureller Ansatz hingegen, bei dem die intrakulturelle Hete‐ rogenität so stark im Vordergrund steht, dass eine Gruppe nicht mehr identifi‐ zierbar ist, weil es kaum geteilte Praktiken gibt, ist in einer Schule, die unter den Bedingungen von Exemplarität und didaktischer Reduktion (Rekonstruktion) arbeitet, praxisfern und gibt den Lernenden möglicherweise auch zu wenig Ori‐ entierung für die kulturelle Identitätsbildung. Es wäre in letzter Konsequenz kein Lernen zu Kultur mehr, da Kulturen über ‚geteilte Praktiken‘ definiert sind. Auch wenn Aspekte von Transkulturalität in den Fachdidaktiken in den letzten Jahren vermehrt diskutiert werden (vgl. Breidbach 2003; Viebrock 2008; Hallet 2015), sind sie dennoch nicht neu. Werner Hüllen hat für die Fachdidaktik Englisch 1992 darauf hingewiesen, dass eine Kultur kein geschlossenes System von Wissens- und Normvoraussetzungen [ist], sondern ein Komplex von häufig sich einander widersprechenden Überzeugungen, die selbst innerhalb einer Sprechergemeinschaft Spannungen verursachen […] (Hüllen 1992: 9). Hüllen trifft damit die Bedeutung von Transkulturalität nicht in vollem Umfang, die Auswirkung für die Aufgabenerstellung ist jedoch ähnlich: Um Stereoty‐ penbildung zu vermeiden, dürfen Aufgaben nicht von homogenen Kulturen ausgehen und diese miteinander vergleichen. Alternativ können die Perspek‐ tiven von Individuen in das Zentrum der tasks gestellt werden. Obwohl wichtige Vorstellungen des transkulturellen Lernens sehr nahe liegen, wird im Rahmen dieser Arbeit der Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ ver‐ wendet. Bei der Diskussion des hier dargestellten Kulturbegriffs wurde insbe‐ 36 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="37"?> sondere der zentrale Aspekt der ‚intrakulturellen Heterogenität‘, auf dessen große Bedeutung das transkulturelle Lernen u. a. zu Recht verweist, mit aufge‐ nommen und damit das interkulturelle Lernen modernisiert, das auf diesem Kulturbegriff basiert. Auch wenn die Impulse aus dem transkulturellen Lernen für das interkulturelle Lernen sehr wichtig sind, ist das für den Unterricht wich‐ tige Grundkonzept des interkulturellen Vergleichs im interkulturellen Lernen bisher klarer verankert (vgl. Hallet 2015: 303), weshalb ich diesen Begriff ver‐ wende (vgl. Bredella 2012: 76-82, 122). 2.3.3.6 Interkulturelles Lernen als schulisches aufgabengeleitetes Lernen In dieser Arbeit werden die gebräuchlichen Begriffe ‚interkulturelles Lernen‘ und ‚Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen‘ verwendet. Beide sind als Synonyme anzusehen. Der hier beschriebenen Definition von interkulturellem Lernen liegt ein Kulturbegriff zu Grunde, bei dem eine kulturelle Gruppe durch in vielen Lebensbereichen gemeinsame Deutungs- und Handlungsmuster ge‐ kennzeichnet ist, deren Mitglieder allerdings in einer Reihe von Bereichen (Re‐ ligion, Politik, Ethnie, soziokultureller Hintergrund, Bildung etc.) deutliche Un‐ terschiede aufweisen können, die auch über die Zeit veränderlich sind. Das interkulturelle Lernen ist im Kontext dieser Arbeit als ein schulisches, durch Aufgaben initiiertes Lernen anzusehen, bei dem Fremdverstehen und Selbst‐ verstehen zentrale Rollen spielen und bei dem hin zu einem kritischen Bewusst‐ sein für Machtfragen innerhalb von Kulturen erzogen wird. In Aufgaben soll die Aushandlung von Bedeutungszuschreibungen zentraler Inhalt sein, im Sinne eines transkulturellen Lernens an heterogenen Kulturen sollen Generalisie‐ rungen vermieden werden, und die Sprache soll auch als Fremdsprache, als Ver‐ mittlungsmedium zwischen Kulturen, Berücksichtigung finden. Im Kontext dieser Arbeit wird vorrangig der Lernort ‚Unterricht in der Schule‘ behandelt. Es versteht sich aber von selbst, dass es weitere Lernorte gibt. Byram nennt hierzu „fieldwork“ und „independent learning“ (Byram 1997: 68-70). Ins‐ besondere wenn man interkulturelles Lernen als lebenslanges Lernen be‐ trachtet, ergeben sich eine Vielzahl von Lerngelegenheiten in der Begegnung mit anderen Kulturen. Im Klassenforschungsprojekt dieser Arbeit, in Kapitel 7, wird erforscht, wie Lehrkräfte gezielt mit tasks Lernmöglichkeiten für interkul‐ turelles Lernen im Unterricht bereitstellen können. 2.3.4 Interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik Für die Geographiedidaktik zeichnet Budke die inhaltliche Entwicklung von in‐ terkulturellem Lernen nach. Die Diskussionen entsprechen zeitlich und inhalt‐ 37 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="38"?> lich denjenigen, die in der Pädagogik und Fremdsprachendidaktik geführt wurden und werden (vgl. Budke 2008). Auch die Geographiedidaktik setzt sich mit Konstruiertheit und Perspektivität von Kultur und Ethnisierung ausein‐ ander und reflektiert, wie Schule die Lernenden dafür sensibilisieren kann. Das Ziel des Geographieunterrichts sollte […] weniger die Bekämpfung und Berich‐ tigung der Stereotypen, als vielmehr die Offenlegung der Konstruktionsprinzipien dieser Fiktion (Schultz 1999) und eine Sensibilisierung der SchülerInnen für ihre ge‐ sellschaftliche Bedeutung sein. Im Erdkundeunterricht sollte gefragt werden: Wer verbreitet Stereotypen, aus welchem Grund, auf welchem Weg und welche „realen“ (räumliche) Konsequenzen hat dies? (Budke 2008: 22). Als zentrale Kategorie für die Qualität von interkulturellem Lernen markiert Budke eine Orientierung an konstruktivistischen Kulturdefinitionen, die sich insbesondere an Welschs transkulturellem Ansatz orientieren (Welsch 1999) und von essentialistischen Kulturdefinitionen abzugrenzen ist, die auf der Vorstel‐ lung beruhen, „dass man verschiedene Kulturen präzise unterscheiden und cha‐ rakterisieren kann“ (Budke 2013: 154, 159). Hinsichtlich der Entwicklung der Bezeichnungen für interkulturelles Lernen kann für die Geographiedidaktik eine ähnliche Vielfalt wie in der Fremdspra‐ chendidaktik festgestellt werden. Neben dem Begriffspaar Selbsterkenntnis und Fremdverstehen war in der Geographiedidaktik in den 1990er Jahren der Begriff ‚internationale Erziehung‘ für den Anteil der interkulturellen Erziehung, der sich auf Lernen für eine internationale Verständigung bezieht, gebräuchlich (vgl. Kroß & Westrhenen 1992; Haubrich 1988: 30 f.). Kroß definiert ‚interkulturelle Erziehung‘ als das Lernen zu einem gelingenden Zusammenleben einer multi‐ kulturellen Gesellschaft in Deutschland und ‚internationale Erziehung‘ als das Lernen zu einem gelingenden internationalen Verständnis (vgl. Kroß 1992: 41). Die Geographiedidaktiker Gertrude Rohwer und Lothar Rother nutzen 1995 und 1996 den Begriff ‚interkulturelles Lernen‘ sowohl für lokale als auch globale Aspekte dieses Lernens (vgl. Rother 1995: 7; Rohwer 1996: 8) - Kroß’ Einteilung von 1992 setzte sich nicht durch. Leif Mönter und Arian Schiffer-Nasserie setzen sich mit Erziehung zum Anti‐ rassismus und interkulturellem Lernen auseinander. Im empirischen Teil ihrer Arbeit analysieren sie knapp 200 Untersuchungseinheiten aus 50 Geogra‐ phie-Schulbüchern der Bundesländer Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Sie stellen eine Reihe von Mängeln in den beforschten Untersuchungseinheiten fest (Charakterisierung von Migranten als defizitär, Zuschreibung sozialer Posi‐ tionen in Deutschland, binäre Darstellung von Deutschen einerseits und Auslän‐ dern andererseits, utilitaristisch verkürzte Argumentation hinsichtlich des Ver‐ 38 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="39"?> bleibs von Ausländern in Deutschland, einseitige Ausrichtung auf deutsche Kinder als Adressaten etc.), die sie „weitgehend quantitativ“ belegen können (Mönter & Schiffer-Nasserie 2007: 363). Sie stellen auch fest, dass „im Vergleich von Schulbüchern aus Bundesländern mit unterschiedlichem bildungspolitischem Hintergrund […] hinsichtlich der Perspektive und Häufigkeit der Beschäftigung mit interkulturellen Aspekten markante Differenzen sichtbar“ werden, die „Hand‐ lungsspielräume für eine antirassistische Pädagogik“ aufzeigen (Mönter & Schiffer-Nasserie 2007: 362). Für Lehrkräfte sehen sie in der unterrichtlichen Ar‐ beit mit den untersuchten Schulbüchern eine besondere Chance darin, problema‐ tisch einzustufende Darstellungen im Sinne einer medienkritischen Erziehung mit den Lernenden zu reflektieren (vgl. Mönter und Schiffer-Nasserie 2007: 364). Um unbewusste Zuschreibungen zu vermeiden fordert Schröder eine Sensibili‐ sierung von Lernenden und von Lehrkräften: Ein kritisch-reflexiver interkultureller Geographieunterricht erfordert vielmehr an‐ gesichts der Selbstverständlichkeit von Zuschreibungen des Andersseins eine pro‐ zesshafte Verankerung und eine kontinuierliche, durchgängige Reflexionspraxis (Schröder 2016: 23). Anke Müller-Bittner setzt sich wie Mönter und Schiffer-Nasserie ebenfalls mit Schulbüchern auseinander. Sie untersucht deren Verwendung im bilingualen deutsch-französischen Geographieunterricht. Bei ihrer Interviewstudie mit 18 Lehrkräften spielt das interkulturelle Lernen insbesondere hinsichtlich der Frage eine wichtige Rolle, ob authentische Lehrmaterialien eingesetzt werden oder nicht. Sie formuliert, dass der interkulturelle Perspektivenwechsel „nicht durch die Adaption und den Einsatz deutschsprachiger Materialien realisierbar“ ist, sondern dass er „nur durch den Einbezug authentischer zielsprachiger Mate‐ rialien erreicht werden kann“ (Müller-Bittner 2008: 295). Allerdings würde das deutsche Schulbuch für einen kontrastiven Vergleich nur in seltenen Fällen ein‐ gesetzt. Ferner stellt sie in ihrer Untersuchungsgruppe auch ablehnende Hal‐ tungen gegenüber authentischen Materialien fest, da letztere nicht ohne Auf‐ bereitung im Unterricht verwendet werden können (Müller-Bittner 2008: 295, 296). Der bilinguale Geographieunterricht bietet aus Sicht von Müller-Bittner aufgrund seiner möglichen Besonderheiten (besondere Schülerzusammenset‐ zung, Lehrperson mit besonderen kulturellen Bezügen, direkte Kontakte, au‐ thentische Medien) ein Potential für interkulturelle Perspektivenwechsel und interkulturelles Lernen, das über den Beitrag des regulären Geographieunter‐ richts hinausgeht (Müller-Bittner 2004: 187-192). Für empirische Unterrichtsforschung zum interkulturellen Lernen in der Ge‐ ographiedidaktik sind insbesondere die Arbeiten von Gabriele Schrüfer be‐ 39 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="40"?> deutsam. Sie konzipierte und evaluierte eine vierstündige Unterrichtseinheit für acht Oberstufenklassen (2003) und eine hochschulische Tansania-Exkursion (2011) hinsichtlich der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen der Teil‐ nehmerinnen und Teilnehmer. Als Untersuchungsdesigns wählte sie 2003 quan‐ titative und 2011 qualitative bzw. Mixed-Method-Designs. Als Referenzmodell zur Definition der Kompetenzstufen diente ihr hier zunächst das Modell von Winter (vgl. Winter 1988); seit 2009 arbeitet sie an der Adaption des Modells zur interkulturellen Sensibilität von Bennett für die Geographiedidaktik (vgl. Schrüfer 2009, Schrüfer 2012). Allerdings ist dieses Kompetenzstufenmodell für die Ausbildung von Angestellten in Wirtschaftsunternehmen nicht unum‐ stritten, da es einem veralteten Kulturbegriff folgt und kulturrelative Positionen als höhere Kompetenzstufen und somit als Ziel interkulturellen Lernens be‐ trachtet werden (siehe S. 47, vgl. Applis 2015). Als zentrales Ergebnis ihrer Un‐ tersuchung von 2011 stellt sie die sehr hohe Bedeutung von Metareflexion im interkulturellen Lernprozess heraus (vgl. Schrüfer 2011) - eine Feststellung, die sich in fremdsprachendidaktischen Untersuchungen (Burwitz-Melzer 2003; Jäger 2011) wie auch in der vorliegenden Arbeit bestätigt. 2.3.5 Unterrichtsforschung zum interkulturellen Kompetenzerwerb Eva Burwitz-Melzer veröffentlichte 2003 ihre Untersuchungen zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen mittels literarischer Texte im Fremdspra‐ chenunterricht der Sekundarstufe 1. Ihre Untersuchung war zur Zeit der Kon‐ zeption der vorliegenden Arbeit das Forschungsprojekt, das ihr hinsichtlich des Forschungsdesigns am nächsten stand. Aus diesem Grund erfolgt hier eine aus‐ führliche Darstellung. Sie schließt mit einem Fazit, welche Erfahrungen von Burwitz-Melzer in die Konzeption des vorliegenden Projekts einflossen. Auf die Arbeit von Kerstin Göbel (2007) wird hier nicht näher eingegangen. Ihr Dissertationsprojekt im Rahmen einer DESI-Pilot-Studie erforscht mit einem weitgehend quantitativ orientierten Untersuchungsdesign, mit welchem inter‐ kulturellen Kompetenzzuwachs zehn Lehrkräfte in je einer Unterrichtsstunde im Fremdsprachenunterricht ihre Lernenden unterrichteten. Die Anlage von Göbels Studie weicht damit deutlich von dem hier vorgestellten Projekt ab und wird auch kritisch diskutiert (vgl. Küppers & Trautmann 2008: 1-5). Auf Forschungspro‐ jekte, die andere Settings als den Klassenunterricht untersuchen (z. B. Lernertan‐ dems bei Bechtel, M. 2003), soll hier ebenfalls nicht eingegangen werden. 40 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="41"?> 2.3.5.1 Interkulturelles Lernen mit fiktionalen Texten bei Burwitz-Melzer Burwitz-Melzer wertete Daten aus 15 Unterrichtsprojekten der Klassenstufen 6-10 von Förderstufen, Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien im Überblick aus und untersuchte anschließend acht dieser Unterrichtseinheiten im Detail. Zentrales Anliegen der Studie war, mit einer qualitativ-empirischen Untersuchung Verstehensprozesse bei literaturdi‐ daktischen und literaturwissenschaftlichen Inhalten im Englischunterricht zu er‐ gründen; sie [die Studie] hinterfragt, was geschieht, wenn Jugendliche in der Sekun‐ darstufe I mit fremdkulturellen fiktionalen Texten in Berührung kommen (Burwitz-Melzer 2003: 131). Sie ordnet mit Verweis auf Nunan ihre Studie dem ethnographischen Ansatz zu. Despite differences of emphasis, these different statements all agree that ethnography involves the study of the culture / characteristics of a group in real-world rather than in laboratory settings (Nunan 1992 zit. in Burwitz-Melzer 2003: 133). Gemäß eines theoretical samplings wählte Burwitz-Melzer, Klassen unterschied‐ lichen Alters, unterschiedlicher Leistungsstärke und mit unterschiedlichen Aus‐ länderanteilen aus, um eine möglichst breite Streuung zu erhalten. 2.3.5.2 Vorgehen und Datenaufnahme bei Burwitz-Melzer Mit den Lehrkräften dieser Klassen bereitete sie Unterrichtsprojekte zur Ver‐ mittlung interkultureller Kompetenzen auf der Basis von literarischen Texten (zumeist Kurztexte: Gedichte und Kurzgeschichten) unter Verwendung von kre‐ ativen Aufgaben vor. Die Projekte waren zu Beginn ihrer Studie zumeist auf eine Doppelstunde ausgelegt. Im Verlauf ihrer gesamten Untersuchung gestaltete sie jedoch Projekte mit größerem Stundenumfang: Um eine bessere Beobachtungsbasis zu erlangen, die auch einen Verstehensprozess auf Seiten der Lernenden erkennen lässt, wurde das Untersuchungsdesign nach we‐ nigen Monaten aber so erweitert, dass umfangreichere Unterrichtseinheiten von drei, vier oder fünf Unterrichtsstunden aufgezeichnet wurden (Burwitz-Melzer 2003: 137). Die einzelnen Projekte waren in zunächst vier, dann fünf Phasen gegliedert: (1) Einstieg mit Hinführung zum Thema, (2) erste Begegnung / Auseinander‐ setzung mit dem Text, (3) kreative (Schreib-)Arbeitsphase mit Ergebnisprä‐ sentation, (4) Unterrichtsgespräch zum Ausgangstext oder zu Schülertexten mit Konfliktlösungsversuch und Perspektivenkoordination. Zur fünften Phase schreibt die Autorin: 41 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="42"?> […] im Verlauf der empirischen Untersuchung wurde deutlich, wie wichtig ein ab‐ schließendes, den interkulturellen Lernprozess reflektierendes Gespräch für die Schüler und Schülerinnen ist. In einigen Unterrichtsstunden wurde deshalb im An‐ schluss an die Textarbeit eine Meta- oder Reflexionsphase durchgeführt, die die erar‐ beiteten oder auch nicht erarbeiteten interkulturellen Lernziele verstärkt zur lebens‐ weltlichen Erfahrung der Jugendlichen in Beziehung setzt und das interkulturelle Lernen selbst thematisiert (Burwitz-Melzer 2003: 157). Zu den ausführlicher dargestellten Unterrichtsprojekten ist nur für ein Projekt eine die ganze Klasse betreffende Metaphase beschrieben (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 432, 456). Offensichtlich dienten in den anderen Projekten die retrospek‐ tiven Lernendeninterviews als Metaphase - dann allerdings nur für den kleinen Teil der Klasse, der für diese Interviews ausgewählt wurde. Neben den Notizen der Forscherin und der Videographie aus dem Unterricht dienten Lehrerfrage‐ bogen und anonymisierte (und damit nicht individuell zuordenbare und trian‐ gulierbare Schülertexte) als Datenquellen. Die Forscherin sichtete zeitnah die Unterrichtsvideos und Schülertexte, um innerhalb einer Woche retrospektive Interviews mit ausgewählten Lernenden und mit der Lehrkraft zu führen. 2.3.5.3 Datenauswertung bei Burwitz-Melzer Die Audiodaten aus dem Unterricht und aus den Interviews wurden transkri‐ biert und in zweifacher Hinsicht ausgewertet. Zum einen versuchte die Autorin zu ergründen, warum die Lernenden sich in der Unterrichtssituation so ver‐ hielten, eine diskursanalytische Vorgehensweise [ist] immer da anzustreben, wo der Schwer‐ punkt der Fragestellung auf dem prozessorientierten Aushandeln von Bedeutung und der Rekonstruktion bestimmter Versionen von Realität durch die untersuchten Sub‐ jekte im Unterricht liegt (Burwitz-Melzer 2003: 148-149). Die zweite Auswertung erfolgte in Form einer qualitativen Inhaltsanalyse mit deduktiver Kategorienanwendung. Burwitz-Melzer nutze ihre Zusammenstellung von interkulturellen Lernzielen zur Erstellung des Kategorienkatalogs. In der Auswertung wird dieser Katalog als brauchbar bestätigt, da er die Kompetenzen der Lernenden tatsächlich abbildete. Sie spricht eine Überprüfung der Kategorien im Laufe des Datenauswertungsprozesses zwar an, eine induktive Erweiterung des Kriterienkatalogs erwähnt sie jedoch nicht (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 483). Möglicherweise war der Kategorienkatalog von Beginn an weitgehend voll‐ ständig, und es konnte eine rasche deduktive Kategorienanwendung bei der Aus‐ wertung erfolgen. Sie verweist mehrfach auf die besondere Bedeutung von Tri‐ angulation für die Abbildung von Wirklichkeit in ihrer Untersuchung. „[Es] wird 42 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="43"?> sowohl eine Datenwie auch eine Methoden-Triangulation als Strategie der sys‐ tematischen Ergänzung und Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten einge‐ setzt“ (Burwitz-Melzer 2003: 152). Eine Triangulation der Interpretierenden (In‐ terraterreliabilität) wird nicht diskutiert. 2.3.5.4 Ergebnisse bei Burwitz-Melzer Ergebnisse im Zusammenhang mit den retrospektiven Lernendeninterviews bilden einen Schwerpunkt bei den Schlussfolgerungen von Burwitz-Melzer. In forschungsmethodischer Hinsicht hebt sie die Erweiterung und Vervollständi‐ gung von Erkenntnismöglichkeiten durch Perspektivenvielfalt und Perspekti‐ ventriangulation bei Unterrichtsforschungsprojekten mittels dieser Lernenden‐ interviews hervor. Insbesondere die Lernendenperspektive hätte die Forscherinnenperspektive sinnvoll ergänzt. Der Einsatz von weiteren unabhän‐ gigen Beobachtern wird nicht diskutiert (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 486, 488). Ferner stellt sie fest, dass die retrospektiven Lernendeninterviews besonders gut geeignet waren, interkulturelle Lernziele in den Mittelpunkt zu stellen, also Daten zu interkulturellen Kompetenzen zu erheben, während es in den Unterrichts‐ phasen 1 bis 4 auch um pädagogische, fremdsprachendidaktische und literaturdi‐ daktische Lernziele ging (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 502). In inhaltlicher Hinsicht beschreibt sie für die Lernendeninterviews als Me‐ taphase, neben deren Relevanz für die Entwicklung von interkulturellen Kom‐ petenzen, auch deren Bedeutung zur Kommentierung von Aussagen und Klä‐ rung von offenen Fragen sowie deren besondere Möglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler, ihre Lebenswelt einzubringen. Die Lebenswelt und damit die Erfahrungen der Schüler üben einen großen Einfluss auf die inter‐ kulturellen Lernprozesse der Schüler aus (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 506). Mit einer Gymnasialklasse der Klassenstufe 10 konnte diese Metaphase auch in der Fremdsprache durchgeführt werden. Mit schwächeren Schülern, beispielsweise Gymnasium Klasse 9 und schwächere Niveaus, wurden die Lernerinterviews auf Deutsch durchgeführt (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 407, 502). Burwitz-Melzer kommt zu einem eher kritischen Fazit hinsichtlich des von Lehrkräften in Interviews berichteten interkulturellen Lernens im Fremdspra‐ chenunterricht. Sie schreibt, dass viele Lehrkräfte bisher interkulturelles Lernen nur als Schlagwort kennen, kein wirklich umsetzbares Lernkonzept damit verbinden und keine wiederholbaren und beobachtbaren Lernziele zu erreichen versuchen (Burwitz-Melzer 2003: 487). Für das interkulturelle Lernen im Fremdsprachenunterricht empfiehlt sie eine kleinschrittige und genau auf die Lernendengruppe angepasste Aufgabenstel‐ 43 2.3 Interkulturelles Lernen <?page no="44"?> lung, eine detaillierte Unterrichtsplanung, ausreichend Zeit, sinnvoll struktu‐ rierte Lernziele, eine intensive Vor- und Nachbereitung der kreativen schriftli‐ chen Leistungen, hohe sprachliche aber nur geringe inhaltliche Fehlertoleranz, Anhalten zur Fremdsprachenverwendung bei gleichzeitiger Erlaubnis der Mutterbzw. Zweitsprache im Bedarfsfall, sinnvolle Wechsel von Aktions- und Sozialformen, Vermeidung von Stereotypisierungen, motivierende, aber nicht zu komplexe Stundeneinstiege und eine vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 508, 512-516). Sie stellt Lehrkräften eine erprobte Zusammenstellung von Merkmalen zu geeigneten Texten für interkulturelles Lernen zur Verfügung und diskutiert kritisch textergänzende Materialien (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 494-496). Hinsichtlich der Lernziele kann sie Lehrkräften für den interkulturellen Literaturunterricht ihren detaillierten und empirisch überprüften Katalog von operationalisierten Lernzielen an die Hand geben (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 497). Schülerbeurteilungen können entweder durch Ab‐ gleich von Schüleräußerungen im Unterricht mit dem Lernzielkatalog erfolgen oder durch eine zusätzliche Form der Leistungsmessung wie Klassenarbeit oder Portfolio (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 515). 2.3.5.5 Schlüsse für die vorliegende Arbeit Burwitz-Melzers Ergebnis, dass „viele Lehrkräfte bisher interkulturelles Lernen nur als Schlagwort kennen [und] kein wirklich umsetzbares Lernkonzept damit verbinden“ (Burwitz-Melzer 2003: 487) wurde für die vorliegende Arbeit mittels Interviews mit Lehrkräften des bilingualen Unterrichts als projektbegründende Studie überprüft. Burwitz-Melzers Ergebnisse konnten auch für den bilingualen Unterricht bestätigt werden (siehe Kapitel 6). Hinsichtlich der Unterrichtskonzeption ging Burwitz-Melzers Empfehlung dahingehend in die vorliegende Untersuchung ein, dass die untersuchten Klassen in zeitlich umfangreicheren Unterrichtseinheiten unterrichtet und be‐ forscht wurden (Burwitz-Melzer 2003: 137), und dass eine Phase der Metarefle‐ xion nicht nur als Datenquelle, sondern vor allem auch als Lernphase für alle Lernenden im zweiten Unterrichtszyklus berücksichtigt wurde. Ferner wurde die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler explizit einbezogen (siehe S. 58, Unterrichtsphasenmodell: Phase 1: eigenkulturelle Erfahrungen), und die Auf‐ gaben entsprechend an die Lernendengruppe angepasst. In der Unterrichtsdurchführung wurde den Schülerinnen und Schüler eine große sprachliche Fehlertoleranz zugestanden. Es war für die Lernenden selbst‐ verständlich, dass im bilingualen Unterricht die Fremdsprache Kommunikations‐ medium ist, die Lernenden wussten aber auch, dass sie im Bedarfsfall auf Deutsch zurückgreifen können. Mir, dem forschenden Lehrer, waren die Schülerinnen und 44 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="45"?> Schüler aus früheren Schuljahren bekannt. Dies und der Umstand, dass das Pro‐ jekt pro Klasse 8 Doppelstunden umfasste, unterstützten einen guten Lehrer- Schüler-Bezug. Hinsichtlich der Datenerhebung und -auswertung wurde darauf geachtet in besonderem Maße die Schülerperspektive einzubeziehen. 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen Im Folgenden werden zwei international bekannte Kompetenzmodelle vorge‐ stellt, die als Referenzmodelle für empirische Studien zum interkulturellen Lernen dienen. Die beiden Modelle verfolgen unterschiedliche Ansätze: Michael Byrams Modell der ‚intercultural communicative competences‘ (Byram 1997) ist ein klassisches Kompetenzstrukturmodell. Byram differenziert zwischen Kompetenzbereichen (knowledge, attitudes, skills) und Einzelkompe‐ tenzen, aus denen sich, gemäß seiner Erfahrungen in diversen interkulturellen Unterrichtsprojekten, interkulturelle Kompetenzen zusammensetzen. Die Nut‐ zung dieses Modells bietet sich für Studien an, die in überwiegend qualitativer Weise das Feld erkunden. Es erlaubt, als Kodierkatalog genutzt, Aussagen dazu, ob die erprobten Lernaufgaben und Datenerhebungsmethoden geeignet sind, interkulturelle Kompetenzen anzustoßen und zu belegen. Für die Messung einer Kompetenzentwicklung, z. B. innerhalb eines vorge‐ gebenen Zeitraums bedarf es hingegen eines Kompetenzentwicklungsmodells, das Kompetenzniveaus (Kompetenzstufen) definiert und operationalisiert. Hierzu greifen empirische Studien (z. B. Göbel 2007, Schrüfer 2009) auf Milton Bennetts ‚Developmental Model of Intercultural Sensitivity‘ (DMIS) (Bennett 1986) zurück, da es eine sechsstufige Skala für die Einstufung von Lernenden in Kompetenzniveaus sowie ein Einstufungsinstrument (Fragebogen) bietet. Das Modell wird entsprechend in eher quantitativ ausgerichteten Unterrichtsfor‐ schungsprojekten (z. B. Göbel 2007) eingesetzt. Solange die Wirkung von Aufgaben für Kompetenzbereiche des interkultu‐ rellen Lernens noch grundlegend erforscht wird, wie auch im Rahmen dieser Arbeit, bietet Byrams Modell eine geeignete Ausgangsbasis für Forschungspro‐ jekte. Die Einstufung interkultureller Kompetenz in Kompetenzniveaus ist deut‐ lich komplexer und damit anfälliger für Fehlinterpretationen. Bennetts Modell der DMIS will mittels 50 Fragen einstufen, auf welcher von sechs Niveaustufen sich eine Person befindet. Wenn man davon ausgeht, dass ein Lerner nicht in allen Kompetenzbereichen und Kompetenzen (bei Byram: 29 Kompetenzen) auf dem gleichen Kompetenzniveau rangiert, dann ist es kaum möglich, anhand dieser Fragen eine Person einem konkreten Kompetenzniveau zuzuordnen. Mit 45 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen <?page no="46"?> dieser Problematik setzt sich auch Jan-Oliver Eberhardt in seinem Dissertati‐ onsprojekt auseinander; er verschränkt Byrams Kompetenzstrukturmodell mit Kompetenzstufen wie bei Bennetts Kompetenzentwicklungsmodell (vgl. Eber‐ hardt 2010 und 2013). 2.4.1 Bennetts „Developmental Model of Intercultural Sensitivity“ Bennetts Modell der ‚Developmental Model of Intercultural Sensitivity‘ (DMIS) wird auch von Gabrielle Schrüfer in der Geographiedidaktik genutzt (vgl. Schrüfer 2009). Ferner diskutiert es Karin Vogt für die Fremdsprachendidaktik (vgl. Vogt 2007). Abb. 1: Bennetts Modell der Intercultural Sensitivity. Bennett 1986: 182. Im Modell verläuft die Entwicklung der interkulturellen Sensibilität eines Lerners von den ethnozentrischen Phasen (links) hin zu den ethnorelativen, also interkulturell kompetenten Phasen (rechts). Bennett betont die Bedeutung der subjektiven interkulturellen Erfahrungen der einzelnen Lerner, die es mit sich bringen, dass Lerner sich in verschiedenen Stadien interkultureller Sensibilität befinden. Unter Verweis auf Vygotskys ‚Zone of Proximal Development‘ führt Bennett aus, dass Lerner auf unterschiedlichen Niveaus jeweils angemessene Lernaufgaben benötigen (vgl. Bennett 1986: 187-194). Eine ausführlichere Dar‐ stellung didaktischer Vorschläge zur Weiterentwicklung in deutscher Sprache findet sich bei Kerstin Göbel (vgl. 2007: 54-55). Bennetts Ansatz, dass Menschen sich in verschiedenen Stadien interkultu‐ reller Kompetenz befinden, und dass es für verschiedene Stadien jeweils geeig‐ 46 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="47"?> nete Aufgaben für die Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen gibt, er‐ scheint zunächst plausibel. Im vorliegenden Kapitel wurde im Kontext des transkulturellen Lernens dargelegt, dass eine Person in verschiedenen Lebensbe‐ reichen (Religion, Sprache, etc.) verschiedene Kulturen in sich tragen kann und dass es keine homogenen Kulturen gibt. Wenn Bennett einen Amerikaner be‐ schreibt, der leicht in eine weitgehend japanische Weltanschauung wechseln kann (vgl. Bennett 1986: 185), dann deutet das an, dass Nationalkulturen möglicher‐ weise hier die Grundlage eines simplifizierenden Kulturbegriffs darstellen (vgl. Schocker & Müller-Hartmann 2013: 113). Wenn sich Personen hinsichtlich ver‐ schiedener Kompetenzbereiche auf verschiedenen Kompetenzstufen gleichzeitig befinden, dann wird das Modell sehr viel komplexer und die Kompetenzniveaus einer Person sind nicht nur mit lediglich 50 Selbstauskünften unzureichend ab‐ bildbar, sondern sie sind auch nicht mehr eindeutig einer Stufe zuzuordnen. Applis setzt sich mit Bennetts Modell der DMIS hinsichtlich der Gesichts‐ punkte Kulturrelativismus und Universalität von Menschenrechten auseinander (vgl. Applis 2015). Im Kontext der Vermittlung interkultureller Kompetenzen für Personen, die in der internationalen Wirtschaft tätig sind, sind ethnorelative Einstellungen (höhere Stufen im DMIS) sicherlich kontakt- und somit wirt‐ schaftsförderlich. In schulischen Bildungskontexten, die immer auch die Ver‐ mittlung von Werten fordern, ist der Einsatz eines Modells, das eine kulturre‐ lativistische Position als Ziel betrachtet, hingegen kritisch zu sehen. Die Nutzung von Bennetts Kompetenzentwicklungsmodells könnte unter den oben genannten Einschränkungen bei einer Langzeitstudie plausibel sein. Wenn es jedoch wie in der vorliegenden Arbeit darum geht, den Nachweis zu erbringen, ob die gewählten tasks grundsätzlich interkulturelle Lernprozesse initiieren, dann empfiehlt sich weniger die Wahl eines solchen Kompetenzent‐ wicklungsmodells. Vielmehr sollte zunächst mittels eines Kompetenzstruktur‐ modells erfasst werden, ob die konzipierten Aufgaben überhaupt Lernprozesse in den intendierten Bereichen auslösen. Dennoch enthält Bennetts Modell die wichtige Überlegung, dass die Schülerinnen und Schüler sich auf unterschied‐ lichen Kompetenzstufen befinden können und daher unterschiedlicher Stimuli zur Kompetenzentwicklung bedürfen. Diese Individualisierung und Differen‐ zierung stellt den Unterricht mit teils heterogenen Schulklassen vor große He‐ rausforderungen. In meiner Studie habe ich deswegen u. a. in einem Teil der Unterrichtsphasen in Kleingruppen gearbeitet, die sich unterschiedliche Unter‐ stützungen auswählten und unterschiedliche Ziele setzen konnten. 47 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen <?page no="48"?> 2.4.2 Byrams Modell der „Intercultural Communicative Competences“ Byrams Modell der ‚intercultural communicative competences‘ möchte ich an dieser Stelle ausführlich diskutieren, da es für die vorliegende Arbeit eine zen‐ trale Grundlage darstellt. Byram unternimmt 1997 den Versuch, interkulturelle Kompetenzen zunächst in Kompetenzbereiche (knowledge, attitudes, skills) und anschließend in Teilkompetenzen zu gliedern. Er beschreibt mit geringem Ab‐ straktionsniveau die Teilkompetenzen (ein Beispiel aus skills: „Objective: Ability to identify ethnocentric perspectives in a document or event and explain their origins“ [Byram 1997: 52]) und macht Vorschläge dazu, wie diese Teilkompe‐ tenzen evaluiert werden können. Sein 29 Teilkompetenzen umfassender Katalog ist für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung. Er kann genutzt werden, um in den Untersuchungsdaten systematisch nach Belegen für interkulturelle Kompetenzen zu suchen, die Byram für sein Modell bereits postuliert hat. In zukünftigen Forschungsprojekten zum interkulturellen Kompetenzerwerb kann alternativ das Modell des Europarats „Kompetenzen für eine demokrati‐ sche Kultur“ (Europarat 2016) verwendet werden. Das dort vorgestellte Kom‐ petenzstrukturmodell arbeitet mit vier Kompetenzbereichen (Werte, Einstel‐ lungen, Fähigkeiten, Wissen und kritisches Denken), die in insgesamt 20 Kompetenzen mit jeweils drei bis zwölf Unterpunkten gegliedert sind. Nachdem im Zuge der Kompetenzorientierung Kompetenzstrukturmodelle die Bereiche Werte und Einstellungen wenig berücksichtigten, ist es zu begrüßen, dass sie in einer jüngeren Publikation wieder eine zentrale Rolle spielen. Mein Unterrichts‐ forschungsprojekt war zu weit fortgeschritten, um das Modell des Europarats zu nutzen. 2.4.2.1 Byrams Kulturbegriff Byram sieht Kultur als die „shared meanings“ einer Gesellschaft und betont den engen Bezug dieser Definition zur Sprache. Er erweitert die Definition dann zu „beliefs, meanings and behaviours“, um möglichem non-verbalen kulturellem Verhalten gerecht zu werden (Byram 1997: 39). Byrams Kulturbegriff bezieht sich eher auf Individuen als auf große Gruppen (we should not think in terms of encounters between different language and culture systems, but rather of encounters between individuals with their own meanings and cultural capital [Byram 1997: 40]). Er wendet sich gegen Geertz’ Definition von Kultur 48 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="49"?> [as] an historically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in a symbolic form by means of which men com‐ municate, perpetuate and develop their knowledge about attitudes towards life (Geertz 1975 zit. in Byram 1997: 18), weil sie seiner Ansicht nach Kultur als zu statisch definiert. Veränderungen durch fortlaufende Entwicklungsprozesse und Aushandlungen in der Kultur seien in Geertz’ Definition nicht ausreichend berücksichtigt. Weiterhin kritisiert Byram, dass mit den „pattern of meanings“ die kulturprägenden Bedeutungen der dominanten Gruppe(n) einer Kultur gemeint sind, und Subkulturen keinen Raum erhalten. Damit bindet er erstens schon 1997 implizit einen wichtigen Aspekt des transkulturellen Ansatzes ein: Eine Kultur kann nicht als homogene Einheit angesehen werden, sondern sie ist durchzogen von anderen Kulturen. Zweitens spricht Byram unter Rückgriff auf Bourdieu (1989) die Frage nach der kulturprägenden Macht innerhalb einer Kultur an: Welche Gruppe definiert, was angemessene kulturelle Praktiken sind und welche Mitglieder werden dadurch bevorzugt? Dieser Aspekt wurde im vorliegenden Kapitel unter Einbezug wei‐ terer Zitate Byrams und auch Bourdieus bereits ausgeführt (siehe S. 26). Byrams Kulturbegriff beinhaltet somit die Idee der gemeinsamen Bedeu‐ tungsaushandlung unter Berücksichtigung der Frage, welche Gruppe in einer Kultur diese prägt. Sein Kulturbegriff bezieht sich eher auf Individuen bzw. kleine Gruppen, er ist nicht statisch und ferner sind Aspekte des transkulturellen Ansatzes eingebunden. Allerdings überrascht es, dass Byram in seinen Be‐ schreibungen von interkulturellen Einzelkompetenzen neben geeigneten Be‐ griffen wie „own environments“ (Byram 1997: 50) auch Begriffe wie „one’s own country“ u. ä. benutzt (Byram 1997: 51). Letztere können für einen an Nationen orientierten Kulturbegriff stehen. Auch wenn in der interkulturellen Unter‐ richtspraxis die ‚Nation‘ eine häufig genutzte Bezugsgruppe für Vergleiche, Analysen und Rekonstruktionen sein mag, da politische Grenzen tatsächlich großen Einfluss auf kulturelle Praktiken haben können, hätte aus meiner Sicht nichts dagegen gesprochen, die Kompetenzformulierungen unverfänglicher zu gestalten (vgl. Kritik bei Risager 2007: 125; Belz 2007: 137; Eberhardt 2013: 165,). Byram verteidigt seinen Bezug auf die Nationalkultur mit Argumenten wie ‚di‐ daktische Reduktion/ Rekonstruktion‘, ‚Alltagsrelevanz der nationalkultureller Zugehörigkeit‘, ‚Nationalkulturelle Identität als eine von mehreren Identitäten von Lernenden‘ und den spezifischen Inhalten von Fremdsprachenunterricht ([…] the focus on national cultures […] is a consequence of writing for a particular audience of language teachers working within a tradition that focuses on national cultures. The point is that ‚foreign‘ language teachers and their learners engage with 49 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen <?page no="50"?> one kind of otherness, expressed in the notion of national identity; other teachers may focus on interactions with other identities and identifications with the multitude of other groups that any individual forms (Byram 2009: 330). Seine Argumente beziehen ihre Berechtigung aus der Unterrichtspraxis. Eine stärkere Orientierung seines Modells an einem transcultural speaker wäre für die Unterrichtspraxis sicherlich eine größere Herausforderung, insbesondere hinsichtlich der Darstellung von kultureller Heterogenität, doch solch eine kla‐ rere Zielsetzung könnte Fremdsprachenlehrkräfte darin unterstützen, ihren Kulturbegriff zu hinterfragen, anstatt ihn zu rechtfertigen, wie hier geschehen. In wesentlichen anderen Punkten entspricht sein Modell der aktuellen Fachdis‐ kussion. Wie Eberhardt (2013: 165-167) komme ich zu dem Schluss, dass es unter den dargestellten Vorbehalten als hilfreiches Ausgangsmodell für empirische Arbeiten angesehen werden kann. Die recht konkret beschriebenen Kompe‐ tenzen können bei Codierungen zur deduktiven Kategorienanwendung ver‐ wendet und bei Bedarf induktiv erweitert bzw. ausdifferenziert werden. Eber‐ hardt nutzt am Ende seiner Untersuchung für sein Kompetenzmodell beispielsweise für die Beschreibung von Wissenskompetenzen alternativ die angemesseneren Begriffe „eigene und andere Kommunikationsgemeinschaften“ (Eberhardt 2013: 401). Es versteht sich von selbst, dass Arbeiten, die später ent‐ standen sind, für die Begriffswahl stärker sensibilisiert waren. 2.4.2.2 Kulturrelativismus Byram versucht hinsichtlich des Kulturrelativismus Stellung zu beziehen. Spra‐ chenlehrkräfte und Sprachenlernende sollen mit Hilfe der internationalen Men‐ schenrechte die „trap of cultural relativism“ meiden (Byram 1997: 46). Er stellt sich damit auf die Seite derjenigen, die darauf bestehen, dass es unveräußerliche Werte gibt. Bei der Frage, welcher Wertmaßstab gelten soll, bietet auch Byram keine einfache Antwort an. In der Berufung auf internationale Menschenrechte sieht er zwar keine Fertiglösung, doch sei deren Zugrundelegung ein geeigneter Ausgangspunkt. Er ist sich der Problematik bewusst, dass „interpretations of human rights differ“ (Byram 1997: 44) und gibt zu bedenken, dass „human rights might be felt to be too much in debt to western concepts“ (Byram 1997: 46). 2.4.2.3 Zusammenhang von Sprache und Kultur bei Byram „Teaching for linguistic competence cannot be separated from teaching for in‐ tercultural competence“ (Byram 1997: 22). Nach Byram kann Sprachenlernen kann nicht vom interkulturellen Lernen getrennt werden, denn eine Sprache zu erlernen bedeutet nach seiner Auffassung, auch die kulturellen Praktiken und Überzeugungen, die sie für bestimmte Gruppen beinhaltet, kennen zu lernen. 50 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="51"?> Diesem schon an früherer Stelle angesprochen Aspekt fügt Byram noch einen weiteren ebenso wichtigen hinzu: Durch das Erlernen einer Fremdsprache er‐ halten Lernende die Möglichkeit, den Zusammenhang von Sprache und Kultur für ihre eigene Identität (Selbstverstehen, Identitätsbildung) zu erfahren. Die Reflexion der Bedeutung der Sprache für (die eigene) Identität zeichne das in‐ terkulturelle Lernen im fremdsprachlich geführten Unterricht aus. 2.4.2.4 Kompetenzmessung bzw. Lernzieloperationalisierung Michael Byram stellt sich mit seinem Modell den Forderungen nach einer Eva‐ luation (assessment) interkultureller Kompetenzen. Neben der Zertifizierungs‐ funktion (vgl. Byram 1997: 2) betont er die pädagogische Dimension von Eva‐ luation, insbesondere die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zur Selbstevaluation (vgl. Byram 1997: 111). Er verlangt den Lehrkräften besonderen Aufwand bei der Evaluation ab. „[…] we move away from the notion of a score, a single statistic, and look at other forms of describing achievement including ‚thick‘ description of achievement […]“ (Byram 1997: 111). Byram wählt für die Benennung der 29 Lernziele seines Katalogs die Be‐ zeichnung ‚Lernziele‘ (objectives), obwohl beispielsweise der Titel seiner Mono‐ graphie den Begriff ‚competence‘ beinhaltet. Er begründet diese Begriffswahl für seine Lernzielbereiche damit, dass der Begriff Kompetenz eng mit Operationa‐ lisierbarkeit verknüpft sei, und der Begriff Lernziel eine ganzheitlichere Eva‐ luation erlaube: „[…] the ‚objectives‘ defined for each savoir are not restricted to those which are observable as behaviour or changes in behaviour“ (Byram 1997: 89). Er beschreibt, dass die zunehmende Tendenz zur Zertifizierung zu‐ verlässige Evaluationsformen erfordere, jedoch dürften die Kompetenzerfas‐ sungsmöglichkeiten nicht diktieren, welche Lernziele zu vermitteln sind: „There is a risk of oversimplifying and misrepresenting a learner’s ability in order to ensure objectivity in measurement“ (Byram 1997: 29). Sein Fazit in der Zusam‐ menfassung zum Kapitel assessment geht in die gleiche Richtung. Er warnt davor, dass nicht die Messbarkeit von Kompetenzen den Ausschlag geben dürfe, welche unterrichtet werden, sondern dass alle interkulturellen Kompetenzen vermittelt werden sollen: It is the simplification of competences to what can be tested which has a detrimental effect: the learning of trivial facts, the reduction of subtle understanding to general‐ isations and stereotypes, the lack of attention to interaction and engagement because these are not tested. When assessment recognises all aspects of ICC, even if they cannot be quantified and reduced to a single score, then the learner can see their efforts rewarded, and the teacher and the curriculum planner can give full attention to the 51 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen <?page no="52"?> whole phenomenon of ICC rather than only that which can be represented statistically (Byram 1997: 111). Byram schlägt zu den von ihm genannten 29 Lernzielen jeweils Möglichkeiten der Evaluation vor, beispielsweise Tests, Simulationen und Portfolios (vgl. Byram 1997: 102). In der Diskussion zum interkulturellen Lernen wird insbe‐ sondere die Evaluation von Einstellungen (attitudes) als schwierig erachtet. Die von Byram dazu vorgeschlagenen Verfahren (vgl. auch Byram 1997: 91-94) bergen die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler, beeinflusst durch soziale Er‐ wünschtheit und Notengebung, willkommenes Verhalten und angemessene Einstellungen zur Schau stellen, die sie aber eigentlich nicht haben. Unabhängig von der Frage, ob Lehrkräfte Einstellungen messen können, sollte auch hinter‐ fragt werden, ob dies überhaupt wünschenswert ist. Die Qualität menschlichen Verhaltens zeichnet sich durch die Ausübung freien Willens aus. Ein Angebot zur Bildung von Einstellungen können Schülerinnen und Schüler annehmen. Wenn sie es aber durch Noten- und Zertifikationsdruck annehmen müssen, dann geht der freie Wille verloren, und mit ihm die interne Validität der Evaluation von Einstellungen. Es werden dann nicht mehr Einstellungen erfasst, sondern die Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler zur Antizipation erwünschten Verhaltens und dessen Zurschaustellung. Das bedeutet auch, dass Einstellungen letztlich nicht messbar sind. Die Problematik wurde nach Byrams Vortrag auf dem 22. Kongress der DGFF in Gießen in der Sektion 2 (Interkulturelle Kompe‐ tenz als Bildungsziel von Fremdsprachenunterricht) kritisch diskutiert. Byrams Beitrag ist nicht in der Kongressdokumentation enthalten (vgl. Burwitz-Melzer et al. 2008). Neuere Publikationen zur Thematik (vgl. Vogt 2007; Jäger 2008) gehen über Byrams Vorschläge von 1997 nicht hinaus. 2.4.2.5 Geeignete Themen und Fächer Byram sieht neben dem Fremdsprachenunterricht insbesondere den Geogra‐ phie-, Literatur- und Geschichtsunterricht für die Vermittlung von interkultu‐ rellen Kompetenzen als geeignet an (vgl. Byram 1997: 3). Im Fazit des Buches erweitert er diese Aufzählung von Unterrichtsfächern noch um den bilingualen Unterricht („immersion-type programmes“, Byram 1997: 114) wegen dessen Möglichkeiten zur Vermittlung von Wissen durch Vergleiche und der Entwick‐ lung eines kritischen Bewusstseins. „In short, the crucial element of the know‐ ledge/ savoirs dimension is that it should include a comparative method and be related to the development of critical cultural awareness/ savoir s’engager“ (Byram 1997: 114). 52 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="53"?> 2.4.2.6 Kompetenzkatalog Michael Byram ordnet seinen Kompetenzkatalog in fünf Kompetenzbereiche, welche interkulturelle Kompetenz ausmachen: attitudes, knowledge, skills of in‐ terpreting and relating, skills of discovery and interaction und critical cultural awareness/ political education. Trotz dieser Aufschlüsselung legt er besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Kompetenzbereiche eng miteinander verflochten sind und teilweise einander bedingen (Byram 1997: 49, 57, 105). Abb. 2: Byrams Modell der Intercultural Communicative Competence. Byram 1997: 73. 2.4.2.7 Kompetenzstufen Die beschriebenen 29 Lernziele in den Lernzielbereichen knowledge, attitudes, skills werden als das Endziel, als die letztlich zu erreichende interkulturelle Kompetenz, angestrebt. In einem gestuften Kompetenzmodell würden sie die höchste Stufe (den höchsten level) darstellen (vgl. Byram 1997: 42). Für die Er‐ fassung von Zwischenstufen bietet Byram kein Evaluationsinstrument an. Da Byram sich (im Gegensatz zu Bennett) auf Schülerinnen und Schüler, also young learners, bezieht, gibt er zu bedenken, dass möglicherweise zentrale Aspekte von interkultureller Kompetenz aus entwicklungspsychologischen Gründen bei jün‐ geren Lernenden keine Berücksichtigung finden können (vgl. Byram 1997: 53 2.4 Kompetenzmodelle für interkulturelles Lernen <?page no="54"?> 75-76). Das bedeutet, dass der Umfang der Teilkompetenzen, und auch die mög‐ liche erreichbare Kompetenzstufe innerhalb einer Kompetenz, an die Kontext‐ bedingungen, beispielsweise das Alter, anzupassen sind. Die Bereitstellung von Methoden zur Erfassung verschiedener Kompetenzstufen stellt sich bei ihm als zukünftige Aufgabe dar: „[…] perhaps even more refinement of judgements can be devised, as an answer to the question whether it is necessary or possible to define different levels of attainment for purposes of certification“ (Byram 1997: 78). Eberhardt (2013) hat sich in seinem Dissertationsprojekt dieser Aufgabe angenommen. Es bleibt abzuwarten, ob die entstandenen Instrumente schul‐ praktische Relevanz haben werden. Möglicherweise sind sie dafür zu komplex (vgl. Eberhardt 2013: 412-415). 2.5. Implikation für die vorliegende Untersuchung Das Anliegen dieses Forschungsprojektes ist es, mittels Lernaufgaben interkul‐ turelle Kompetenz im bilingualen Erdkundeunterricht zu fördern. Ich möchte abschließend zusammenstellen, welche Kriterien sich aus den oben darge‐ stellten Diskussionen und Studienergebnisse für die Aufgabenplanung und das Forschungsdesign des hier beschriebenen Unterrichtsforschungsprojekts ab‐ leiten lassen. 2.5.1 Kriterien für die Entwicklung von Lernaufgaben Die Lernaufgaben sollten gemäß der folgenden Merkmale gestaltet sein: Auswahl der Fächer Interkulturelles Lernen kann mit fiktionalen Texten und mit Sachtexten (Texte i.w.S.) erfolgen. Wenn mit Sachtexten gearbeitet wird, bieten sich Unterrichts‐ fächer an, die gesellschaftswissenschaftliche Themen vermitteln wie beispiels‐ weise Geographie, Geschichte oder Gemeinschaftskunde. Auswahl der Fremdsprache bzw. der fokussierten kulturellen Praktiken Wenn in einer Fremdsprache gearbeitet wird, dann sollte dies im Idealfall die Sprache der fokussierten Kulturen sein. In diesem Fall können authentische Texte genutzt werden können. Fremdsprachenkompetenzen Interkulturelle Kompetenzen beinhalten auch Fremdsprachenkompetenzen, wenn Lernende sich auf kulturelle Praktiken von anderssprachigen Menschen einlassen und auf den Austausch mit ihnen vorbereitet werden. Die Aufgaben‐ 54 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="55"?> bearbeitung erfolgt so weit wie möglich in der Fremdsprache. Die zeitweilige Nutzung der deutschen Sprache kann für die Reflexion von Bedeutungszu‐ schreibungen und für die Reflexion der Bedeutung der Sprache für die (eigene) Identität wichtig sein. Kulturbegriff; Alltagskultur Innerhalb des Rahmenthemas sind die Teilthemen so zu wählen, dass das All‐ tagsleben der Menschen im Fokus des Unterrichts steht und nicht (nur) Kultur‐ objektivationen der sogenannten Hochkultur (literarische Werke, Kunstwerke der bildenden Künste etc.). Kulturbegriff; Machtverteilung in Kulturen Die Teilthemen, Materialien und Aufgaben beziehen auch Subkulturen, Rand‐ gruppen und benachteiligte Gruppen in das Lernen über andere Kulturen mit ein und ermöglichen eine kritische Reflexion der Machtverhältnisse, bzw. der prägenden Gruppen und Prozesse. Die Aufgaben reflektieren kritisch, welche Bilder Kulturen repräsentieren, und weshalb gerade diese Bilder die Wahrneh‐ mung stärker prägen als andere. Die Aufgaben ermöglichen ferner einen Rück‐ bezug dieser Reflexionen auf die prägenden Gruppen und Prozesse der eigenen Kulturen. Die Lernenden gewinnen ein Bewusstsein dafür, welche Gruppen und Prozesse Kulturen prägen. Kulturbegriff; gemeinsame Aushandlungsprozesse Aufgaben und Materialauswahl erlauben die Herausarbeitung von verschie‐ denen Interpretationen und Perspektiven zu einem Thema. Die Aufgaben er‐ lauben Perspektivenvergleiche und deren Reflexion. Heterogenität Aufgaben und Materialien vermeiden Vergleiche vermeintlich homogener (National-)Kulturen. Perspektiven von Individuen stehen im Zentrum der Auf‐ gaben, intrakulturelle Heterogenität wird erkennbar. Die Offenheit von tasks hinsichtlich Wahlmöglichkeiten (choice) lässt eine Heterogenität der möglichen Lösungen und Interpretationen zu. Kulturelle Vielfalt wertschätzen Aufgaben und Materialauswahl sind so angelegt, dass kulturelle Vielfalt als an‐ gemessener und geschätzter Wert für den Umgang mit vielfältigen Anforde‐ rungssituationen von Gesellschaften angesehen wird. Sie ermöglichen einen Perspektivenwechsel, da die Angemessenheit vielfältiger kultureller Hand‐ lungsweisen am besten aus Perspektive der Anderen verstanden wird. Stehen eigenkulturelle Perspektiven als vermeintlich korrekte Praktiken im Vorder‐ 55 2.5. Implikation für die vorliegende Untersuchung <?page no="56"?> grund, dann verengt das die Sicht und widerspricht der positiven Darstellung von Vielfalt. Kulturbegriff; dynamisch Aufgaben stellen Kulturen nicht nur heterogen zu einem ausgewählten Zeit‐ punkt ihrer Betrachtung dar, sondern gehen auch auf die Entwicklung von Praktiken und Perspektiven ein. Aufgabenstellungen können sich konkret auf zukünftige Entwicklungen von kulturellen Praktiken und Perspektiven be‐ ziehen. Globalisierungs- und transkulturelle Aspekte werden hier ebenfalls ein‐ gebunden. Kulturbegriff; individuelle Freiheit im Rahmen der Kultur Aufgaben sind so angelegt, dass die Lernenden erfahren, dass Kulturen Indivi‐ duen nicht determinieren, sondern dass Individuen innerhalb des kulturellen Rahmens Handlungsfreiheit und damit auch Verantwortung besitzen. Selbstverstehen, Identitätsbildung Neben dem Fremdverstehen ist dem Selbstverstehen in der Aufgabenstellung ausreichend Raum zu geben. Lernen über Andere muss an die eigenen Erfah‐ rungen der Lernenden anknüpfen, bzw. auf eigenen Erfahrungen basieren. In einem späteren Aufgabenschritt ist das über Andere Gelernte wieder auf die eigenen Erfahrungen und das eigenkulturelle Umfeld zurück zu beziehen und zu reflektieren. Damit werden die eigenen Sichtweisen und Handlungsmög‐ lichkeiten erweitert. Aushandlungsprozesse Im Idealfall sehen Aufgaben in einzelnen Phasen dialogische Aushandlungs‐ prozesse mit anderskulturellen Menschen vor. Wenn Lernende zuvor die Fähig‐ keit zur Einnahme der Außenperspektive 2 (siehe S. 33) erworben haben, kann in diesem Dialog mit dem Anderen versucht werden, eine dritte Perspektive (third place) auszuhandeln. Kulturrelativismus Die interkulturellen Lernaufgaben sollen den Lernenden bewusst machen, auf welcher Entscheidungsgrundlage, gemäß welchen Maßstabs, sie Werturteile fällen. Wenn dabei auf die Menschenrechte zurückgegriffen wird, sollten die Schüler erfahren, dass diese stark von westlichen Vorstellungen geprägt sind - nicht um sie zu relativieren, sondern um den Lernenden verständlich zu machen, warum die Menschenrechte nicht überall gleich verstanden werden. 56 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="57"?> Umfang der Aufgabensequenz Burwitz-Melzer hat in ihrer Untersuchung die Erfahrung gemacht, dass Verste‐ hensprozesse der Lernenden bei Projekten von nur einer Doppelstunde weniger erfolgreich verlaufen als bei mehrstündigen Projekten (Burwitz-Melzer 2003: 137). Aufgabensequenzen sollten den Lernenden ausreichend Gelegenheit und Zeit bieten, sich auf fremdkulturelle Praktiken einzulassen. Metaphase, Aufgabenreflexion Burwitz-Melzer schreibt der Metaphase (Aufgabenreflexion in Form von retro‐ spektiven Interviews) besondere Möglichkeiten für die Perspektivenkoordina‐ tion und das Einbringen der Eigenwelt der Lernenden zu (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 146, 157, 501-502). Die Metaphase ist in der hier beschriebenen Untersu‐ chung fester Bestandteil der Aufgabensequenz. Alle Schülerinnen und Schüler reflektieren ihr Lernen. Die Metaphase wird je nach fremdsprachlicher Kom‐ petenz der Lernenden auf Deutsch oder auf Englisch durchgeführt. Sie steht am Ende einer Aufgabe. Es versteht sich von selbst, dass nicht alle hier aufgeführten Aspekte in jeder Unterrichtsstunde, und vielleicht auch nicht in jedem Unterrichtsprojekt, zu verwirklichen sind. Sie stellen eine Zielvorgabe für Aufgaben für den interkul‐ turellen Kompetenzerwerb dar. 2.5.2. Unterrichtsphasenmodell für interkulturelle Lernaufgaben Zur Unterstützung bei der Planung von interkulturellen Lernaufgaben wurden die im vorangegangen Abschnitt genannten Kriterien soweit wie möglich in das Unterrichtsverlaufsmodell integriert. Die KMK-Veröffentlichung von 1996 ‚In‐ terkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule‘ war für die Konzeption des Modells ein wichtiger Hinweis (siehe S. 22). In der KMK-Publikation werden u. a. die folgenden Elemente für das Vermitteln von interkulturellen Kompe‐ tenzen genannt (ohne dass dabei ein Unterrichtsmodell konzipiert wird): • ein Bewusstsein für eigenkulturelle Praktiken entwickeln • Kenntnisse über anderskulturelle Praktiken erwerben • in Begegnungen mit anderskulturellen Lebensformen Spannungen aus‐ halten können • Regeln für gemeinsames Zusammenleben aushandeln, zu anderskultu‐ rellen Praktiken eigenkulturelle Perspektiven reflektieren • sich möglichen Stereotypen bewusst werden (vgl. KMK 1996: 5 f.). Es ist offensichtlich, dass die aufgezählten Elemente nicht in einer einzigen Un‐ terrichtsphase vermittelt werden können, sondern dass es einer komplexen mehr‐ 57 2.5. Implikation für die vorliegende Untersuchung <?page no="58"?> phasigen Lernaufgabenstruktur bedarf. Die Abfolge der Aufgabenschritte einer solchen mehrphasigen Lernaufgabe ergibt sich weitgehend aus Überlegungen zur Lernermotivation und aus der Sachlogik des Aufgabenverlaufs. Der folgende Ab‐ schnitt erläutert die Aufgabenschritte, im Überblick ergibt sich damit die fol‐ gende Sequenz: Die Lernaufgabe beginnt aus Gründen der Motivation und der sprachlichen Progression mit Berichten der Lernenden zu deren eigenkulturellen Erfahrungen hinsichtlich der fokussierten kulturellen Praktik. Erst im zweiten Schritt folgen dann Informationen zu anderskulturellen Praktiken. Ihnen kann eine Phase zum Vorwissen der Lernenden zu den anderskulturellen Praktiken vorausgehen. Erst nachdem eigen- und anderskulturelle Praktiken erarbeitet wurden, kann sich die folgende Unterrichtsphase Vergleichen und Aushand‐ lungsprozessen zu diesen Praktiken widmen. Im letzten Schritt erfolgt die Refle‐ xion z. B. des Aufgabenprozesses und des Aufgabenprodukts. 2.5.2.1. Erläuterungen zu den Aufgabenschritten A) Eigenkulturelle Erfahrungen Im ersten Aufgabenschritt setzen sich Lernende mit ihren individuellen eigen‐ kulturellen Erfahrungen zur fokussierten kulturellen Praktik auseinander. Die Aufgabe knüpft dadurch an die Lebenswelten der Lernenden an. Die Lernenden sind motiviert, von ihren Erfahrungen zu berichten und daran interessiert, von den Praktiken der Mitschülerinnen und Mitschüler zu erfahren. Recherchen der Lernenden für diesen Aufgabenschritt (Eltern befragen, Fotos mitbringen u. ä.) können auch als vorbereitende Hausaufgabe gestellt werden. Wenn mehrere Ler‐ nende im Unterricht präsentieren und die Lernenden die Möglichkeit des Ver‐ gleichs haben, können sie sich ihres Vorverständnisses zur fokussierten kultu‐ rellen Praktik bewusst werden. Sie erhalten die Möglichkeit zu erkennen, dass sich kulturelle Praktiken in der ‚eigenen‘ vermeintlich homogenen Gruppe unter‐ scheiden können. Wenn diese Aufgabenphase im bilingualen Unterricht in der Fremdsprache erfolgt, aktivieren Lernende, unter Nutzung ihrer eigenen Sprach‐ ressourcen und ergänzt durch eigene sprachliche Vorbereitung, ihren Wort‐ schatz zum Themenfeld. Durch die sprachliche Arbeit am eigenen inhaltlich na‐ hestehenden Beispiel sind die Lernenden auch sprachlich darauf vorbereitet, sich mit anderskulturellen Praktiken auseinander zu setzen, d. h. die Schwierigkeiten (Sprache und Inhalt) werden getrennt und nacheinander vermittelt. B) Anderskulturelle Praktiken - Vorwissen Der Auseinandersetzung mit anderskulturellen Praktiken kann eine Unter‐ richtsphase vorausgehen, in der sich Lernende zu ihrem Vorwissen über an‐ derskulturelle Praktiken bewusst werden oder austauschen. Dies kann insbe‐ 58 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="59"?> sondere für eine später folgende Reflexion zu möglichen Stereotypen hilfreich sein. Die Lernenden legen ihre Perspektiven zu fremdkulturellen Praktiken offen, in dem sie ihre Wissensbestände vorstellen, oder sie machen eine private Notiz zu ihrem Vorwissen. Werden die Wissensbestände in der Lerngruppe aus‐ getauscht, erkennen die Lernenden, dass sich ihre Wissensbestände und Inter‐ pretationen über anderskulturelle Praktiken unterscheiden können. Die Lehr‐ kraft erhält Einblicke in die bestehenden Konzepte der Lernenden und berücksichtigt diese in der weiteren Aufgabenbearbeitung (z. B. zu stereotypi‐ sierende Darstellungen mit alternativen kulturellen Praktiken kontrastieren). C) Anderskulturelle Praktiken - Input Die Lernenden erarbeiten sich Informationen zu anderskulturellen Praktiken. Die dafür verwendeten Texte (im weiteren Sinne) oder die Kommunikation mit anderskulturellen Personen ermöglichen den Lernenden, die Perspektiven der dargestellten Informationen zu erkennen. Wissensbestände werden also nicht als perspektivenunabhängige objektive Wahrheiten dargestellt. Personen werden in ihren komplexen Lebensbezügen präsentiert. Anderskulturelle Prak‐ tiken werden in ihrer Heterogenität und Veränderlichkeit erfahrbar. In der schulischen Praxis ist insbesondere der Anspruch der Darstellung von intra‐ kultureller Heterogenität eine starke Herausforderung, da sie dem Zwang zu Vereinfachung, Reduktion und Exemplarität entgegensteht. Im bilingualen Un‐ terricht erhält die Verwendung der Fremdsprache in diesem Aufgabenschritt insbesondere dann Sinn, wenn die Lernenden (nur) durch fremdsprachige Texte oder Personen Zugang zu anderskulturellen Perspektiven erhalten. D) Perspektiven aushandeln Innerhalb der Klasse oder zwischen den Lernenden und fremdkulturellen Part‐ nern werden Perspektiven auf kulturelle Praktiken ausgehandelt. Aufgaben können dafür ein Setting vorsehen, das einen Perspektivenvergleich oder einen Perspektivenwechsel vorsieht und Arbeitsgruppen dazu anhält, ein gemein‐ sames Aufgabenprodukt zu erstellen. Die Aufgaben sind dabei so gestaltet, dass die Mitglieder der Arbeitsgruppen vor oder während der Gestaltung des Auf‐ gabenprodukts untereinander aushandeln, welche Praktiken und somit welche Perspektiven im Arbeitsprodukt festgehalten werden. Die Aufgaben betreffen häufig höhere Anforderungsbereiche (z. B. Beurteilen, Bewerten, Diskutieren), die Lernenden erstellen Texte (im weiteren Sinne) und argumentieren auf der Basis des erworbenen Wissens unter Berücksichtigung der eingenommenen Perspektiven. Diese Aushandlungen können zu eigenund/ oder anderskultu‐ rellen Praktiken sowie mit eigenund/ oder anderskulturellen Partnern erfolgen. 59 2.5. Implikation für die vorliegende Untersuchung <?page no="60"?> Vielfältige Arbeitsformen sind denkbar (Kommunikation in Kontakten, Rollen‐ spiele, Diskussionen, Lösungssuche für Dilemma-Situationen etc.). Ihnen allen ist gemein, dass Lernende mit anderen in Kontakt treten und Aushandlungen zu Perspektiven auf kulturelle Praktiken führen, um ein untereinander abge‐ stimmtes Arbeitsprodukt zu erstellen. E) Reflexion Am Ende einer komplexen interkulturellen Lernaufgabe steht die Reflexion des Lernprozesses und des Aufgabenprodukts. Lernende reflektieren die Entwick‐ lung ihrer Wissensbestände zu den fokussierten kulturellen Praktiken sowie die damit möglicherweise einhergehenden Änderungen ihrer Perspektiven und Einstellungen. Das Aufgabenprodukt kann ein geeigneter Startpunkt für den Reflexionsprozess sein. Am Aufgabenprodukt können insbesondere die unter‐ schiedlichen Perspektiven der Arbeitsgruppenmitglieder auf kulturelle Prak‐ tiken angesprochen werden. Die Gruppenmitglieder werden sich hier der mög‐ lichen Heterogenität ihrer Perspektiven bewusst. Fokussiert die Aufgabenreflexion Veränderungen der Perspektiven der Lernenden auf die in‐ dividuellen eigenkulturellen Praktiken, dann arbeiten sie an ihrem Selbstver‐ stehen, Identitätsbildung findet statt. Abb. 3: Unterrichtsphasenmodell für interkulturelle Lernaufgaben (eigene Darstellung). Wie jedes Modell arbeitet auch das vorliegende mit Vereinfachungen, um die zentralen Funktionen zu fokussieren. Es versteht sich von selbst, dass man gemäß eines zeitgemäßen Kulturbegriffs (siehe S. 24) nicht simplifizierend von ‚den eigenkulturellen‘ und ‚den anderskulturellen‘ Praktiken sprechen kann. Dies sind lediglich Begriffe in der Tradition der wissenschaftlichen Diskurse 60 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="61"?> zum interkulturellen Lernen, um rasch die wesentlichen Funktionen der Auf‐ gabe zu beschreiben. Es sei also darauf hingewiesen, dass diese Differenzzie‐ hungen als problematisch anerkannt sind. Die kulturprägenden geteilten Prak‐ tiken sind immer bezogen auf das Individuum und mehr oder weniger kleine Gruppen zu denken, jedoch nicht generell nationalkulturell in Abgrenzung zu anderen Nationen - das wäre nur eine von vielen Gruppenzugehörigkeiten, die Menschen prägen kann. Aus forschungsmethodischer Perspektive ist die Phase der Modellentwick‐ lung der kreative Teil wissenschaftlicher Arbeit, bei dem Bestehendes rekom‐ biniert und mit neuen Ideen ergänzt wird. Dieses kreative Element unterscheidet reine Evaluationsforschung von Classroom-Action-Research und Design-Based Research, die ich in Kapitel 7.2.1 anspreche. 2.5.2.2 Handhabung Das vorgestellte Modell stellt die zentrale Struktur des Unterrichtsforschungs‐ projekts der vorliegenden Untersuchung dar. Alle Aufgaben des Projekts sind nach den dargestellten Prinzipien und vorwiegend auch mit Aufgabenschritten in der vorgestellten Reihenfolge aufgebaut. Da interkulturelle Lernaufgaben al‐ lerdings eine sehr große Bandbreite an Variationen aufweisen, können Anpas‐ sungen erforderlich sein. Dies können beispielsweise ein Tausch der Reihenfolge von Aufgabenschritten sein, die Streichung eines Aufgabenschritts oder eine zusätzliche Unterrichtsphase, wenn eine Schwerpunktsetzung dies erfordert. Ferner können auch Kontextbedingungen (Schulausstattung, Lernendenvoraus‐ setzungen, etc.) eine situationsangemessene Adaption erforderlich machen. 2.5.2.3 Entwicklung des Unterrichtsphasenmodells - Bezugsmodelle Die im voranstehenden Abschnitt beschriebene Folge von Aufgabenschritten entwickelte sich erst im Laufe des Projekts. Einflüsse für Veränderungen und Verbesserungen ergaben sich dabei einerseits aus berichteten Erfahrungen an‐ derer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, und andererseits im Laufe des Projekts aus eigenen Erfahrungen, oder aus einer Kombination von beiden Einflüssen. An der Entwicklung des Aufgabenschritts ‚E‘, der Reflexionsphase, lässt sich dieser Prozess gut darstellen. Die empirische Erprobung des Unterrichtsver‐ laufsmodells erfolgte zunächst mit einem vierphasigen Modell (A-D) und an‐ schließendem retrospektiven Gruppeninterview mit fünf bis sechs Schülerinnen und Schülern als Element von Unterrichtsforschung. In einer ersten Daten‐ durchsicht deutete sich an, dass diese Interviews als Aufgabenreflexion beson‐ dere Erträge für den Nachweis und den Erwerb von interkulturellen Kompe‐ 61 2.5. Implikation für die vorliegende Untersuchung <?page no="62"?> tenzen versprachen, eine Erfahrung, die Burwitz-Melzer in sehr ähnlicher Weise zuvor schon gemacht hatte (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 146, 157, 501-502). Die Auswertung der Interviewgespräche ergab, dass die Denkanstöße der Reflexi‐ onsphase eine zentrale Rolle für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen spielten. Es wurden nicht nur Kompetenzen sichtbar, die in vorangegangenen Phasen erworben wurden, sondern es wurden in der Aufgabenreflexion auch interkulturelle Kompetenzen neu erworben, insbesondere ein Bewusstsein für kulturelle Perspektivität. Für den zweiten Unterrichtszyklus werte ich deswegen die retrospektiven Gruppeninterviews vom Rang des Ortes einer Datenerhe‐ bung zu einer eigenständigen und wichtigen Phase des interkulturellen Lern‐ prozesses auf (fünfter Aufgabenschritt ‚E‘). Die gesamte Klasse reflektierte unter Anleitung von mehreren Co-Forscherinnen in Kleingruppen ihren interkultu‐ rellen Lernprozess. Burwitz-Melzer entwickelte ein Unterrichtsphasenmodell, das für die Ver‐ mittlung von interkulturellen Kompetenzen mittels fiktionalen Texten im Fremdsprachenunterricht konzipiert ist. Sie beschreibt als erste empirisch fun‐ diert die Bedeutung einer Metaphase (Reflexion) für den interkulturellen Kom‐ petenzerwerb (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 146, 157, 501-502). Andere Aufgaben‐ schritte ihres Modells waren für meine Untersuchung zum interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht nicht in gleicher Weise übertragbar (vgl. Bur‐ witz-Melzer 2003: 511 f.). Mehr Anknüpfungspunkte zu dem für meine Untersuchung entwickelten Unterrichtsmodell (siehe S. 58) sind bei Caspari 2001 zu finden. Sie entwickelte ein Unterrichtsphasenmodell für die Literaturarbeit im Fremdsprachenunter‐ richt, das in einem ersten Schritt die „Bereitschaft [der Lernenden] für die Aus‐ einandersetzung mit dem Text und seinen Fremdheiten wecken“ soll. Anschlie‐ ßend soll eine „Bewusstwerdung und Artikulation des Eigenen“ erfolgen, die Lernenden sollen eine „Wahrnehmung, Deutung und Beurteilung des Fremden mit dem Ziel des Perspektivenwechsels“ vollziehen und schließlich eine „Inbe‐ ziehungsetzung von Eigenem und Fremdem mit dem Ziel der Perspektivenko‐ ordination“ vornehmen (Caspari 2001: 174-178). Die drei letzteren Schritte finden sich in ähnlicher Art in dem von mir für das interkulturelle Lernen im bilingualen Unterricht entwickelten und ab 2007 empirisch erprobten Modell wieder. Das Modell wurde erstmals 2011 publiziert (Müller & Müller-Hartmann 2011: 32). Bei Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth wird das Modell dann auch für die Vermittlung von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen vorgeschlagen (2011: 186) und im IQB-Projekt „Lernaufgaben Englisch Sekundarstufe I“ weiter ausdifferenziert (Müller & Müller-Hartmann 2013: 115, 142 f.). 62 2 Interkulturelle Kompetenzen <?page no="63"?> 3. Bilingualer Unterricht In der vorliegenden Arbeit stellt der bilinguale Unterricht den Rahmen dar, in dem Aufgaben für den Erwerb von interkulturellen Kompetenzen erprobt werden. Der bilinguale Unterricht erhält seine besondere Eignung für den in‐ terkulturellen Kompetenzerwerb durch seine durchgängige Inhaltsorientie‐ rung. In bilingualen Sachfächern wie Geographie oder Geschichte werden prak‐ tisch ständig kulturelle Praktiken thematisiert, häufig auch solche von anderskulturellen Gruppen. Selbst naturwissenschaftliche Prozesse der physi‐ schen Geographie werden in der Regel auf deren Auswirkungen auf Menschen diskutiert. Dabei widmet der bilinguale Unterricht ganze Unterrichtseinheiten von mehreren Stunden einem Inhaltsthema, um ein vertieftes Verständnis der Vorgänge zu erarbeiten. Er unterliegt nicht wie der traditionelle Fremdspra‐ chenunterricht dem Zwang im Sinne einer sprachlichen Progression, viele Themen eher oberflächlich zu erarbeiten (Lexis) und auch sprachliche Aspekte fokussieren zu müssen (Pragmatik, Grammatik). Da bilingualer Unterricht in den derzeit üblichen Organisationsformen keine Benotung sprachlicher As‐ pekte vorsieht, wird er von vielen Lernenden als sanktionsfreier sprachlicher Erprobungsraum angesehen, wodurch Lernende tendenziell unbefangener agieren. Das Kapitel gibt einen Überblick zur Entwicklung des bilingualen Unterrichts mit einem besonderen Schwerpunkt auf der sogenannten ‚Mehrwert-Diskus‐ sion‘, also der Frage ob und welche Vorteile der bilinguale Unterricht gegenüber dem deutschsprachigen hat. Es diskutiert, wie die Forderung nach der ver‐ stärkten Nutzung des Unterrichtsansatzes begründet wird, und ob die Vermitt‐ lung interkultureller Kompetenzen der Mehrwert des bilingualen Unterrichts für das Fach Geographie sein kann. Zu dieser Theorie steht eine empirische Bestätigung bislang aus. Inzwischen hat sich das besondere Interesse der fachdidaktischen Forschung, das dem bilingualen Unterricht in den 1990er Jahren zukam, etwas gelegt. Nachdem zwischen 1980 und 1989 durchschnittlich etwa zehn fachdidaktische Veröffentlichungen pro Jahr von der FIS-Bildung zu diesem Thema erfasst wurden, stieg die Zahl in den Jahren 1990 bis 1999 auf etwa 85 Beiträge pro Jahr. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der erfassten Veröffentlichungen zum bi‐ lingualen Unterricht auf durchschnittlich etwa 65 eingependelt, allerdings mit einem sehr starken Abfall für die Jahre 2014 und 2015 (siehe Fachportal Päda‐ <?page no="64"?> gogik). Waren es bis etwa 2002 eher die Fremdsprachendidaktiken, die sich mit dem bilingualen Unterricht befassten, so beteiligten sich nach der Bremer Kon‐ ferenz „Didaktiken im Dialog“ im Frühjahr 2003 verstärkt auch Kolleginnen und Kollegen aus Sachfächern mit Studien und Beiträgen. In den 1990er Jahren, als die bislang meisten fachdidaktischen Publikationen entstanden, war bilingualer Unterricht in Deutschland jedoch kein neues Phä‐ nomen. Die ersten bilingualen Züge an Schulen bestanden damals schon seit gut 20 Jahren. Vor dem Hintergrund eines vereinten Europas wurde insbesondere in der Fremdsprachendidaktik verstärkt nach Methoden zur Optimierung des Sprachenlernens geforscht, um eine gemeinsame Verständigungsbasis zu schaffen. Denn wenn, wie von der Europäischen Kommission gefordert, jeder europäische Bürger „drei Gemeinschaftssprachen beherrschen soll“ (Europä‐ ische Kommission 1995: 62), so gilt es, nach ergänzenden oder alternativen Kon‐ zepten zum derzeit praktizierten Fremdsprachenunterricht zu suchen. Neben einer Reihe anderer Autoren heben insbesondere die Fremdsprachen‐ didaktiker Zydatiß und Wolff hierfür die Bedeutung des bilingualen Unterrichts hervor. Sie beschreiben den bilingualen Unterricht als eines der wichtigsten sprachdidaktischen Innovationsfelder. Wolff sieht den bilingualen Unterricht als Teil eines „innovativen Konzepts zur Entwicklung von Mehrsprachigkeit in Eu‐ ropa“ (Wolff 2000: 163, 170). Zydatiß erwähnt in seiner „konstruktiv realisti‐ schen Vision“ zu den „wahrscheinlichsten Veränderungen des Englischunter‐ richts“ als erstes ebenfalls das „frühe Fremdsprachenlernen“ und den „bilingualen Unterricht“ (Zydatiß 1998: 18 f.). Die Europäische Kommission schlägt zum Erreichen der Mehrsprachigkeit u. a. vor, „die zuerst erlernte Fremdsprache in der Sekundarstufe als Unterrichts‐ sprache in verschiedenen Fächern“ zu benutzen (Europäische Kommission 1995: 62 f.). Die Kultusministerkonferenz sieht im Einklang mit dem Europarat den bilingualen Unterricht als „wichtige Maßnahme zur Erhöhung der sprachlichen und interkulturellen Kompetenz der Schülerinnen und Schüler“ (Kultusminis‐ terkonferenz 2006: 10). Dem bilingualen Unterricht wird zuerkannt, dass er zum „mehrperspektivischen Lernen anregt und dadurch zum Erwerb interkultureller Kompetenzen beiträgt“ (Kultusministerkonferenz 2013: 3). Gliederung des Kapitels Das Kapitel stellt die besondere Entwicklung und die ungewöhnliche Stellung des bilingualen Unterrichts zwischen Sachfach- und Fremdsprachendidaktiken vor und reflektiert, ob damit der Befund begründet werden kann, dass dem bi‐ lingualen Unterricht auch bei zentralen Fragen (s. u.) nach wie vor keine schlüs‐ sige und allgemein akzeptierte Theorie unterliegt. Das Kapitel setzt sich kritisch 64 3. Bilingualer Unterricht <?page no="65"?> mit Studien zum Potential des bilingualen Unterrichts zur Vermittlung von Kompetenzen aus den Fremdsprachendidaktiken und aus der Geographiedi‐ daktik auseinander. Ein besonderes Augenmerk liegt ferner auf der bildungs‐ theoretischen Argumentation zum interkulturellen Lernen. 3.1. Zum Begriff ‚bilingualer Unterricht‘ Zahlreiche Beiträge zum bilingualen Unterricht beginnen mit Erklärungen der Autoren, dass der Begriff bilingual eigentlich nicht angemessen sei, da weder der Unterricht wirklich zweisprachig sei, noch die Zielkompetenz Zweispra‐ chigkeit in der Schule erreicht werden könne (vgl. Bach 2000: 16; Mentz 2001: 68; Breidbach 2007: 24). Alternativ wird oft auch der Begriff fremdsprachiger Sachfachunterricht verwendet. In beiden Fällen wird die Begriffsfindung von Überlegungen zur Sprache geleitet, wobei bilingualer Unterricht dabei zumeist als ein nahezu ausschließlich in der Fremdsprache erteilter Unterricht ange‐ sehen wird. Die Begriffsfindung zum bilingualen Unterricht ist außer durch das Span‐ nungsfeld Fremdsprache versus Muttersprache auch durch das Spannungsfeld Sprache versus Inhalte geprägt. Hinter einem ‚inhaltsbezogenen Fremdspra‐ chenlernen‘ steht eine andere Auffassung von bilingualem Unterricht als hinter einem ‚fremdsprachigen Sachfachunterricht‘ oder einem ‚content and language integrated learning‘ (vgl. Wolff 2007: 15). In der Wahl der Begrifflichkeiten spie‐ gelt sich die Diskussion zum bilingualen Unterricht wider. Christ, eine Fremd‐ sprachendidaktikerin, bezeichnet den bilingualen Unterricht 1996 als „language learning through non-linguistic subjects“ (Christ 1996: 85). Bei ihr steht dem Titel nach der Spracherwerb im Vordergrund. Die später erschienenen Artikel von Geographielehrkräften und -didaktikern hingegen nutzen Begriffe, die un‐ terstreichen, dass dieser Unterricht immer noch Sachfachunterricht ist, wenn auch in der Fremdsprache erteilt. Weible benennt ihn 1995 als „Fremdsprache als Unterrichtssprache in Sachfächern“ (Weible 1995), Ernst und Reitz als „fremdsprachlichen Sachfachunterricht“ (Ernst & Reitz 2001) und Lenz als „bi‐ lingualen Geographieunterricht“ (Lenz 2002: 2). Möglicherweise trägt Christ der Perspektive der Sachfächer Rechnung, wenn sie ab 1999 den neutraleren Begriff „Bilinguales Lehren und Lernen“ wählt (Christ, I. 1999). Ähnliches könnte auch für Wolff gelten, der den bilingualen Unterricht im Jahr 2000 noch „inhaltsbe‐ zogenes Fremdsprachenlernen“ nennt und damals ergänzend anmerkt, er werde „in Deutschland häufig irrtümlicher Weise als bilingualer Sachfachunterricht 65 3.1. Zum Begriff ‚bilingualer Unterricht‘ <?page no="66"?> bezeichnet“ (Wolff 2000: 167). Er selbst bezeichnet die Unterrichtsform dann im Jahr 2002 als „content and language integrated learning“ (Wolff 2002: 66). Betrachtet man die Entwicklung der Begriffswahl deutet es sich an, dass ein Prozess des Ausgleichs und der Integration der Interessen beider Fachdidaktik‐ gruppen angestrebt ist. Ob auch Kompromisslösungen für die im bilingualen Unterricht zu vermittelnden Kompetenzen gefunden werden können, ist damit noch nicht geklärt. Breidbach (2000: 173) und Zydatiß (2002: 52) halten die Klä‐ rung des Verhältnisses der beiden Fachdidaktik-Gruppen im bilingualen Unter‐ richt zueinander für zentral. Trotz erster Untersuchungsergebnisse ist diese Frage bis heute weitgehend offen. 3.2 Bilingualer Unterricht - Theoriebildung Bredenbröker stellt im Jahr 2000 fest, dass einerseits […] den bilingualen Bildungsgängen aufgrund der fortschreitenden euro‐ päischen Integration eine wesentliche Rolle zugestanden [wird], andererseits konnte sich nach einigen Jahren der schulpraktischen Erprobung weder in organisatorischer noch in didaktisch-methodischer Hinsicht ein Grundmodell herausbilden, welches allgemein Zustimmung findet (Bredenbröker 2000: 15). Dieser Befund scheint auch mehr als fünfzehn Jahre später zumindest in Teilen gültig zu sein. Bredenbröker kritisiert die unzureichende Abstimmung zwischen der Schulpraxis, der schulischen Organisation von bilingualem Unterricht und der didaktisch-methodischen Theoriebildung. Für die auch heute noch andau‐ ernde Suche nach einer Theorie des bilingualen Unterrichts ist damit mögli‐ cherweise nicht nur das oben erwähnte Spannungsverhältnis der beteiligten Fachdidaktiken zwischen Inhalts- und Sprachlernen verantwortlich, sondern auch die von Bredenbröker erwähnte unzureichende Abstimmung zwischen Schulpraxis und Hochschulen, die auch in der Entwicklung des bilingualen Un‐ terrichts begründet ist. Der bilinguale Unterricht ist eine der wenigen echten grass-root-Bewegungen in der deutschen Bildungslandschaft (vgl. Breidbach 2007). Während man erwarten würde, dass eine Innovation wie der bilinguale Unterricht zunächst an den Hochschulen erforscht und gelehrt wird, um dann Eingang in die Schulpraxis zu finden, verlief hier die Entwicklung bottom-up. Lehrkräfte erteilten bilingualen Unterricht und berichteten darüber seit 1989 vermehrt in Fachzeitschriften. Erst 1996 entstand der erste Zusatzstudiengang zum bilingualen Unterricht in Wuppertal. Entsprechend vielfältig und wenig 66 3. Bilingualer Unterricht <?page no="67"?> einheitlich ist die Praxis der oftmals autodidaktisch ausgebildeten Lehrkräfte und entsprechend groß sind die Lücken in der Theorie. 3.2.1. Entwicklung des bilingualen Unterrichts in Deutschland Der bilinguale Unterricht in Deutschland hat seine Wurzeln in den Bemühungen um Versöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon vor dem Abschluss des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags im Jahre 1963 entstand in Saarbrücken 1961 die erste Schule mit expliziter bilingualer und bikultureller Ausrichtung, also bereits vier Jahre vor der Einrichtung des ersten Immersions-Programms in Kanada, dem St. Lambert Experiment, im Rahmen dessen ab 1965 englischsprachige Vorschul‐ gruppen ein Immersions-Programm durchliefen (vgl. Horn 1990: 90; Martin 1999: 20). In den deutsch-französischen Gymnasien erhält die gemischte Schülerschaft aus Franzosen und Deutschen zum Teil integrierten Unterricht, der durch die Mischung der verschiedenen Muttersprachler zwangsläufig für einen Teil der Klasse bilingual ist. Bilinguale Programme in Deutschland, die von der Situation ausgehen, ein Sachfach oder mehrere Sachfächer in der Fremdsprache für eine muttersprachlich überwiegend deutsche Klasse zu unterrichten, setzten in Deutschland in den 1970er Jahren ein. Das Hegau-Gymnasium in Singen war 1969 die erste Schule Deutschlands mit bilingualem Programm. 1973 existierten bereits 24 Schulen mit einem bilingualen Programm: 17 Gymnasien mit Fran‐ zösisch und 7 Gymnasien mit Englisch (vgl. Fehling & Finkbeiner 2002: 11). Von 1973 bis 1988 wurden eher vereinzelt bilinguale Programme an Schulen neu eingeführt. Erst 1989 setzte ein sehr starker Anstieg bei der Einführung von bilingualen Bildungsprogrammen ein (vgl. Thürmann 2000: 476). Betrachtet man die Zeitpunkte für Neueinrichtungen von bilingualen Ange‐ boten, dann sind zwei Phasen besonderer Zunahme von bilingualen Angeboten auszumachen. Die erste Phase sind die frühen 1970er Jahre. In dieser Zeit rich‐ teten insbesondere Gymnasien vor allem bilinguale Angebote mit der Fremd‐ sprache Französisch ein. Die zweite Phase beginnt Ende der 1980er Jahre und dauert bis heute an. In dieser zweiten Phase entstehen bilinguale Angebote zu‐ meist mit der Fremdsprache Englisch. Damit geht die Öffnung der Unterrichts‐ form für weitere Schularten (z. B. Realschule) einher (vgl. Lohmann 2008: 9). Thürmann und Breidbach sehen die Zeitpunkte der Einrichtung von bilin‐ gualen Angeboten eng verwoben mit der „Europäisierung der Bildungspolitik“ (Thürmann 2000: 477; Breidbach 2007: 49). Die „erste Konjunkturphase“ für die Einrichtung von bilingualen Angeboten sieht Breidbach als Folge des 67 3.2 Bilingualer Unterricht - Theoriebildung <?page no="68"?> Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags von 1963. Die zweite Phase sehen er und Thürmann im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht von 1993. Mit dem Vertrag führte die EG einen gemeinsamen Binnenmarkt für Güter, Dienstleistungen und Arbeitskräfte ein. Mit dieser Öffnung geht auch der Bedarf nach einer europäischen bzw. internationalen Kommunikationssprache einher. Das Beherrschen mehrerer Gemeinschaftssprachen ist zu einer unabdingbaren Vor‐ aussetzung dafür geworden, dass die Bürger der Union die beruflichen und persönli‐ chen Möglichkeiten nutzen können, die sich ihnen mit der Vollendung des Binnen‐ marktes ohne Grenzen bieten (Europäische Kommission 1995: 62). Auch wenn die europäische Bildungspolitik die Sprachenvielfalt unterstützt, gilt Englisch als die „internationale Handels-, Verkehrs- und Wissenschaftssprache“ (Breidbach 2007: 53). Vor diesem Hintergrund entstehen seit 1989 in Deutsch‐ land weitaus mehr bilinguale Angebote mit der Fremdsprache Englisch als mit der Fremdsprache Französisch oder einer anderen Fremdsprache. Die europä‐ ische Bildungspolitik unterstützt die Einrichtung bilingualer Angebote ideell mit ihren Forderungen nach der Intensivierung des Sprachenlernens und der Einrichtung von bilingualen Bildungsangeboten (Europäische Kommission 1995: 63). In der Folgezeit ging die Entwicklung eines Sprachenlernens zu Gunsten einer europäischen Integration nahtlos in die Globalisierungsentwicklungen über. Insbesondere hinsichtlich einer fortschreitenden Globalisierung hat die Fremd‐ sprachenkompetenz der Bürger eine zentrale Bedeutung. Schülerinnen und Schüler schätzen bilingualen Unterricht als willkommene Möglich‐ keit des Erwerbs einer vertieften kommunikativen und interkulturellen Kompetenz im Sinne der Vorbereitung auf die Internationalisierung der Lebenswelten (Kultus‐ ministerkonferenz 2006: 10). Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhält Englisch die Funktion als Lingua Franca und dominiert die bilingualen Bildungsangebote in Deutschland. Bislang wird über eine stete Ausweitung der bilingualen Angebote berichtet. „Für das ge‐ samte Bundesgebiet werden von den Kultusverwaltungen inzwischen 847 bi‐ lingual unterrichtende Schulen [776 allgemeinbildende] erfasst - eine deutlich angestiegene Zahl von Schulen (+ 231. %) gegenüber dem Beobachtungszeitraum des ersten Berichts [von 1999]“ (Kultusministerkonferenz 2006: 9). Die Erhe‐ bungen der KMK bei den Bundesländern ergeben für 2013 die Anzahl „von mehr als 1500 Schulen mit bilingualen Angeboten“ (Kultusministerkonferenz 2013: 4). 68 3. Bilingualer Unterricht <?page no="69"?> 3.2.2 Schulpraxis geht Hochschullehre und Theoriebildung voraus Jede Form von praktischem unterrichtlichen Handeln - und auch der bilinguale Sach‐ fachunterricht ist eine Form des praktischen unterrichtlichen Handelns - bedarf einer unterliegenden Theorie, durch die abgesichert wird, dass das, was im Klassenzimmer geschieht auch lerntheoretisch sinnvoll ist, dass es pädagogisch angemessen ist und zum gewünschten Ergebnis führt (Wolff 1997: 50). Wolff hat dieses Defizit des bilingualen Unterrichts als einer der ersten benannt. Dass die Universität Wuppertal, an der er in dieser Zeit forschte und lehrte, 1996 als erste einen Zusatzstudiengang zum bilingualen Unterricht einrichtete, passt zu seiner Argumentation. Lehrerausbildung an einer Hochschule zu bilingualem Unterricht muss zumin‐ dest ansatzweise auf Theoriebildung basieren. So musste an den Hochschulen rasch deutlich werden, dass im Bereich bilinguales Lehren und Lernen ein De‐ fizit an theoretischer Fundierung herrscht. Dies wird auch in einem Beitrag von Helbig und Raabe zum bilingualen Zusatzstudiengang der Universität Bochum thematisiert, in dem der damalige Stand der Theoriebildung kritisch reflektiert wird (Helbig & Raabe 2000: 129-148). Das Defizit an Theoriebildung wurde erst mit dem Einsetzen der Lehrerausbildung für den bilingualen Unterricht an den Hochschulen ab 1996 offenkundig. Entsprechend groß sind auch heute noch die Theorie-Lücken und Forschungsdesiderate zum bilingualen Unterricht. Ein besonders interessantes Ergebnis des Vergleichs zwischen dem Einsetzen der Schulpraxis und der Hochschullehre zum bilingualen Unterricht ist, dass sehr viele Jahre lang bilingualer Unterricht an Schulen in Deutschland erteilt wurde, ohne dass die Lehrkräfte eine besondere Ausbildung für diese Unterrichtsform erhalten hatten. Da selbst die ältesten Ausbildungseinrichtungen für den bilingu‐ alen Unterricht erst seit 1996 bestehen und da an den meisten Hochschulstand‐ orten erst vor wenigen Jahren mit der Ausbildung begonnen wurde, ist davon auszugehen, dass auch heute bilingualer Unterricht in den Schulen in einer Viel‐ zahl von Fällen von Lehrkräften erteilt wird, die keine spezielle Ausbildung durchlaufen haben. Der Mangel an einer didaktischen Theorie zum bilingualen Unterricht wurde offenkundig, als Hochschulen ab 1996 in diesem Bereich Lehre und Forschung anbieten wollten (vgl. Denk & Bong 2002: 321-341). Dementspre‐ chend hat die Praxis der oftmals autodidaktisch ausgebildeten Lehrkräfte einen deutlichen Vorsprung vor der hochschulischen Theoriebildung. In empirischen Studien wird häufig die bestehende Unterrichtspraxis beforscht (vgl. z. B. Meyer 2003, Viebrock 2007). Darüber hinaus bedarf es an Studien, die neue Konzepte erproben und beforschen, um Erkenntnisse zu erlangen, die über die tradierte Unterrichtspraxis hinaus weisen (vgl. Breidbach 2007: 35). 69 3.2 Bilingualer Unterricht - Theoriebildung <?page no="70"?> 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht Den Mangel an Theoriebildung im bilingualen Unterricht habe ich im ersten Schritt mit der Vorreiterrolle der bilingualen Unterrichtspraxis erklärt. Im Fol‐ genden möchte ich mich mit einem zweiten Erklärungsansatz auseinander‐ setzen. Die Defizite in der Theoriebildung sind möglicherweise auch durch den Umstand zu erklären, dass bilingualer Unterricht nicht als neues und eigen‐ ständiges Fach seinen Eingang in den Bildungskanon der Schule fand, sondern dass sich der bilinguale Unterricht, in seiner Synthese von Fremdsprachen- und Sachfachunterricht, immer um einen Ausgleich der Interessen seiner Ausgangs‐ fächer und -didaktiken bemühen muss. Im Lichte der sogenannten Mehrwert‐ diskussion betrachte ich den bilingualen Unterricht aus den Perspektiven der Fremdsprachendidaktiken sowie der Sachfachdidaktiken und reflektiere ihre gemeinsamen und unterschiedlichen Interessen an dem Unterrichtsansatz. Die Theoriebildung zum bilingualen Unterricht erfolgte möglicherweise auch deswegen verzögert, weil die Fremdsprachen- und Sachfachdidaktiken unter‐ schiedliche Interessen und Ziele mit der Unterrichtsform verbinden. Zwar spielen Sprachlichkeit und Fachlichkeit in den Kompetenzstrukturmodellen beider Fachdidaktikgruppen eine Rolle, jedoch in deutlich unterschiedlicher Gewichtung. Das fremdsprachendidaktische Richtziel ‚intercultural communi‐ cative competence‘ enthält auch zu vermittelnde Inhalte (vgl. Byram 1997). Die Sachfachdidaktiken vermitteln auch kommunikative Kompetenzen (vgl. Ringel 2005: 30) und beschäftigen sich mit Fragen der Spracherziehung und Begriffs‐ bildung (vgl. Czapek 1998 und 2000). Fremdsprachendidaktiker bemängeln je‐ doch die zu geringe sprachliche Arbeit im bilingualen Unterricht (vgl. Vollmer 2007). Die Geographiedidaktiker hingegen befürchten, dass sachfachliche Kom‐ petenzdefizite möglich sind (vgl. Lenz 2002: 2). Hoffmann möchte „Fragen der Vergleichbarkeit von ‚bilingualem‘ und ‚traditionellem‘ Fachunterricht […] sehr sorgfältig behandelt“ wissen (Hoffmann 2004: 211). Meyers Feststellung, dass „die Bedeutung des Lernens der Sachfachinhalte im [bilingualen] Geographie‐ unterricht der Mittelstufe aus Sicht der Schüler/ innen und Absolvent/ innen zu‐ nächst in den Hintergrund tritt“ (Meyer 2004b: 189), widerspricht der Setzung von Priorität hinsichtlich der Lernziele aus der Perspektive des Sachfachs. Van Hals Forschungsergebnis, dass „die kognitiven Anforderungen durch die Fremd‐ sprache auch auf fortgeschrittenem Niveau so hoch sind, dass eine unbewusste bzw. spontane Artikulation der Schüler zumeist nicht möglich ist“ (van Hal 2007: 114), gefährdet die Vermittlung von geographischen Kompetenzen der Anfor‐ derungsbereiche zwei und drei (DGfG 2014: 32 f.) und stützt die Argumentation des Geschichtsdidaktikers Hasberg, der ein Defizit an „elaborierte[r] Sprachfä‐ 70 3. Bilingualer Unterricht <?page no="71"?> higkeit“ befürchtet, das die Bearbeitung anspruchsvoller Aufgaben behindere (Hasberg 2004: 232; vgl. Müller & Falk 2014: 118 f.). Die didaktische Diskussion zum bilingualen Unterricht - damit sind nicht deskriptive Erfahrungsberichte und Materialveröffentlichungen gemeint - ging von den Fremdsprachendidaktiken aus. Betrachtet man, in welchen fachdidak‐ tischen Zeitschriften Themenhefte dazu veröffentlicht wurden, dann fällt auf, dass die Sachfachdidaktiken erst nach 2001 das Thema in breiter Form für sich entdeckt haben und auch erst dann eine verstärkte Reflexion dazu einsetzt, was das Interesse der Sachfächer am bilingualen Unterricht sein könnte (siehe Fach‐ portal Pädagogik). In dieser Diskussion sind auf der Sachfach-Seite die Geogra‐ phie und die Geschichte die Vorreiter, es spielen jedoch auch die Sozialkunde, Biologie und Kunst eine wichtige Rolle (vgl. Mentz 2015: 247-250; Kultusminis‐ terkonferenz 2013: 14) Ein wichtiger Impuls für die Diskussion war die Konfe‐ renz „Didaktiken im Dialog“ in Bremen 2003. Im Folgenden wird bilingualer Unterricht zunächst aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktiken und dann aus der Perspektive der Sachfachdidaktiken betrachtet. 3.3.1 Fremdsprachenkompetenzen im bilingualen Unterricht Aus der Fremdsprachendidaktik ist derzeit keine Stimme zu hören, die den bi‐ lingualen Unterricht in seiner derzeitigen Organisationsform ablehnt. Die in der Einleitung zum Kapitel ‚bilingualer Unterricht‘ erwähnten Zitate von Zydatiß und Wolff (siehe S. 64) stehen stellvertretend für das überaus positive Verhältnis der Fremdsprachendidaktik zum bilingualen Unterricht. Diese Aufgeschlossen‐ heit beruht sicherlich auf den durchweg positiven Ergebnissen von Studien zum Zuwachs der Fremdsprachenkompetenzen durch den bilingualen Unterricht. Horn hält in seiner Zusammenfassung kanadischer Studien im Rahmen seiner Monographie zur bilingualen Erziehung in den USA und Kanada fest, dass die Schülerinnen und Schüler der Immersions-Programme insbesondere hinsicht‐ lich rezeptiver Fertigkeiten besondere Kompetenzen erreichen. Auswertungs‐ ergebnisse bestätigten, dass die Immersions-Methode dem herkömmlichen Fremdsprachenunterricht deutlich überlegen sei, auch wenn die produktiven Fertigkeiten nicht ganz so stark profitierten (vgl. Horn 1990). Marsh und Masih beschreiben für Finnland: „Die Auswertung von Abitursexamen hat gezeigt, dass auf der Ebene der Schulen dort ein deutlicher Fortschritt bei der Sprach‐ beherrschung erreicht wurde […]“ (Marsh et al. 1996: 64). Wode, Burmeister u. a. belegen, dass die Phonologie der Fremdsprache relativ wenig profitiert, hin‐ gegen Wortschatz und Satzbau sich deutlich durch bilingualen Unterricht ver‐ bessern. Dieser Effekt tritt auch dann ein, wenn, wie ihrer der Versuchsklasse 71 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="72"?> geschehen, 11bis 12-jährige nur drei Stunden bilingualen Geschichtsunterricht zusätzlich zum Fremdsprachenunterricht erhalten (vgl. Wode u. a. 1996). Bre‐ denbröker zeigt für Deutschland in seiner empirischen Untersuchung zur För‐ derung der fremdsprachlichen Kompetenz durch bilingualen Sachfachunter‐ richt an 195 Schülerinnen und Schülern, dass bilingual unterrichtete Schülerinnen und Schüler ein signifikant differenzierteres Textverständnis schon nach einem Jahr bilingualem Unterricht aufweisen (vgl. Bredenbröker 2000: 141). Schrandt vergleicht je drei Realschulklassen bezüglich ihrer sprach‐ lichen Leistungen. Die eine Gruppe hatte nur regulären Englischunterricht er‐ halten, die andere Gruppe auch bilingualen Erdkunde- (Klasse 9 und 10) und Geschichtsunterricht (Klasse 10). Sie stellt fest, dass die Behauptung aufgestellt werden [kann], dass im bilingualen Unterricht eine weitaus größere Kompetenz in der Fremdsprache Englisch erreicht wird, als dieses der reguläre Englischunterricht zu leisten vermag (Schrandt 2002: 126). Eine Zusammenfassung zu weiteren Studien findet sich bei Heine (vgl. Heine 2013: 216-220). 3.3.1.1 Aufbau und Ergebnisse der DESI-Studie zu Fremdsprachenkompetenzen durch bilingualen Unterricht Die für Deutschland umfassendste Erhebung zur Sprachkompetenz von Schü‐ lerinnen und Schülern, die ein bilinguales Angebot durchlaufen haben, wurde mit der DESI-Studie vorgelegt. Die Englischleistungen von 958 Schülerinnen und Schülern aus 38 Klassen (31 Gymnasium, 7 Realschule), die bilingualen Un‐ terricht zumindest von der siebten bis zur neunten Klasse in mindestens einem, in der Mehrzahl aber zwei oder drei Sachfächern erhalten hatten, wurden mit den Leistungen von 987 Schülerinnen und Schülern mit ähnlichen Vorausset‐ zungen verglichen, die keinen bilingualen Unterricht erhalten hatten. Die Eng‐ lischleistungen der Schülerinnen und Schüler aus den bilingualen Programmen sind im Durchschnitt deutlich besser als die der Kontrollgruppe. Die Lernenden erreichen in vier von sechs Bereichen das jeweils höhere Kompetenzniveau. Zu den beiden anderen Bereichen schreiben die Autorinnen und Autoren: Die bilinguale Schülergruppe zeichnet sich jedoch auch in ihrer Sprachbewusstheit, bezogen auf sprachliches Handeln (Soziopragmatik) (oberes Kompetenzniveau B), sowie in ihrer Schreibkompetenz (oberes Kompetenzniveau C) durch eine jeweils hö‐ here Kompetenzausprägung innerhalb eines Niveaus aus (DESI-Konsortium 2006: 59). 72 3. Bilingualer Unterricht <?page no="73"?> Abb. 4: Ergebnisse der bilingualen Klassen in der DESI-Studie. Nold et al. 2008: 455. Entsprechend fällt das Fazit sehr positiv aus: Die Ergebnisse der Untersuchung zum bilingualen Sachfachunterricht Englisch in DESI belegen erstmalig in einer großen Stichprobe, dass das Konzept von bilingualem Sachfachunterricht die mit ihm verbundenen Hoffnungen umfassend erfüllt. So werden die Erwartungen in den meisten Bereichen der sprachlichen Kommunikation sowie der Sprachbewusstheit sehr überzeugend erfüllt, wenn nicht sogar übertroffen, da die Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt schon in der neunten Klasse ein sprachliches Niveau erreichen, das bei vergleichbaren Klassen ohne bilinguales Pro‐ gramm in der Regel erst in der Sekundarstufe II erreicht wird (Nold et al. 2008: 457). Bei Studien, die die Fremdsprachenkompetenzen von bilingualen Schülerinnen und Schülern mit denen von Lernenden aus dem Regelunterricht vergleichen, sollte beachtet werden, dass im bilingualen Unterricht fast immer die sprachlich besten und die motiviertesten Schülerinnen und Schüler versammelt sind, da gerade Sprachkompetenz und Motivation zentrale Kriterien sind, nach denen Lernende zu bilingualen Zügen zugelassen werden. Die Variable ‚Schüleraus‐ wahl‘ wurde nur in der DESI-Studie durch die Zusammenstellung einer ver‐ gleichbar leistungsstarken Kontrollgruppe aus dem sehr großen Datenpool der Studie kontrolliert. Bei allen anderen Studien kann letztlich nicht abgeschätzt werden, wie stark die gemessenen besonderen Fremdsprachenkompetenzen durch den bilingualen Unterricht oder die Schülerauswahl bedingt sind. Die Auswirkungen der Lehrerauswahl auf die Entwicklung der Fremdspra‐ chenkompetenzen werden hingegen auch in der DESI-Studie nicht kontrolliert. Untersuchungen folgend beteiligen sich bislang insbesondere innovative und 73 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="74"?> engagierte Lehrkräfte an bilingualen Angeboten der Schulen (vgl. Breidbach 2007: 29; er bezieht sich auf die Studien von Dirks (2002, 2004), Mayer (2002), und Viebrock (2007)). Möglicherweise motivieren sie die Schülerinnen und Schüler in besonderer Weise für ihren Unterricht und zeichnen sich durch be‐ sonders lernförderliches unterrichtliches Vorgehen aus. Eine Berücksichtigung des Faktors Lehrerauswahl ist schwierig, dabei wären Studien dazu, wie z. B. Lehrkräfte bei durchschnittlichen Lehrkompetenzen und Motivation bilingu‐ alen Unterricht umsetzen von großer Bedeutung für die Ausweitung des bilin‐ gualen Unterrichts. Breidbach sieht hier ein „berufsbiographisches Risiko“ (Breidbach 2007: 29) für Lehrkräfte bilingualen Unterricht geben zu müssen, obwohl sie es nicht wollen, „das sich schließlich sogar zu einem Risiko für den bilingualen Sachfachunterricht selbst wenden könnte“ (Breidbach 2007: 30). In der DESI-Studie wurde ferner nicht erhoben, um wie viele Unterrichts‐ stunden der Sachfachunterricht der untersuchten Lernenden aufgestockt wurde, und wie viel Fremdsprachenkontaktzeit somit die Lernenden erhielten. Der Bericht verweist lediglich darauf, dass „nach einem weit verbreiteten Modell […] der Einstieg in das Sachfach durch eine weitere zusätzliche Unterrichts‐ stunde in der siebten bzw. der achten Klassen erleichtert [wird]“ (Nold 2008: 58). Überlegungen zur Variablen ‚Sprachkontaktzeit‘ bergen spannende Fragen. Bei‐ spielsweise, wie gut Schülerinnen und Schüler aus bilingualen Bildungsange‐ boten abschneiden würden, wenn ihr Fremdsprachenunterricht um die Stun‐ denzahl reduziert wird, die sie fremdsprachlich in den Sachfächern unterrichtet werden. Es stellt sich die Frage, ob nur die zusätzliche Sprachkontaktzeit die besonderen Fremdsprachenkompetenzen bewirkt, oder es besondere dem bilin‐ gualen Sachfachunterricht innewohnende Effekte gibt wie z. B. Lebenswelt‐ bezug oder Inhaltsorientierung. Eine weitere spannende Frage ist auch, wie gut Schülerinnen und Schüler aus nicht-bilingualen Bildungsangeboten im Fremd‐ sprachenkompetenzvergleich abschneiden, wenn sie so viele zusätzliche Stunden Fremdsprachenunterricht erhalten, wie die bilingualen Schülerinnen und Schüler fremdsprachlichen Sachfachunterricht. Im Fachdiskurs wird die besondere Eignung des bilingualen Unterrichts für den Fremdsprachenerwerb häufig durch dessen besondere Authentizität, Schü‐ lerorientiertheit, Fehlerkorrektur etc. begründet. Für diese Thesen fehlen bis‐ lang empirische Belege. Moderner Fremdsprachenunterricht weist diesbezüg‐ lich ähnliche Merkmale auf (vgl. Kapitel 4 Aufgabenorientiertes Lernen). Bislang ist mit der DESI-Studie lediglich bewiesen, dass mehr Fremdsprachenkontakt‐ zeit eine höhere Fremdsprachenkompetenz bewirkt. 74 3. Bilingualer Unterricht <?page no="75"?> 3.3.1.2. Rumlichs Studie zur Entwicklung von Fremdsprachenkompetenzen durch bilingualen Unterricht Dominik Rumlich setzte sich in seiner Dissertation eingehend mit den Gründen für die besonderen Fremdsprachenkompetenzen der Schülerinnen und Schüler aus bilingualen Zweigen auseinander. An 13 Gymnasien in Nordrhein-West‐ falen erhob er Daten an ca. 1000 Schülerinnen und Schülern insbesondere zu deren Fremdsprachenkompetenzen in Englisch. Das untersuchte sample bestand aus drei Gruppen: a) Lernende aus bilingualen Zügen, b) Lernende aus nicht-bi‐ lingualen Zügen von Gymnasien mit bilingualen Zügen und c) Lernende von Gymnasien ohne bilinguale Züge. Die Fremdsprachenkompetenzen wurden mit C-Tests erhoben. Die Studie war als zweijährige Langzeitstudie konzipiert mit Fremdsprachenkompetenztests am Ende von Klasse 6, in Klasse 7 und in Klasse 8. Zum Zeitpunkt der ersten Datenerhebung hatte für die bilingualen Lernenden der eigentliche bilinguale Unterricht noch nicht begonnen; diese Lernenden waren aber seit Anfang der fünften Klasse in bilinguale Züge eingeteilt und hatten insgesamt vier Stunden zusätzlichen Fremdsprachenunterricht erhalten. Der C-Test ergab, dass die Lernenden aus den bilingualen Zügen gegenüber den anderen Lernenden einen Fremdsprachenkompetenzvorsprung im Äquivalent von mehr als einem Jahr Fremdsprachenunterricht bereits Ende Klasse 6 hatten. Dieser Fremdsprachenkompetenzvorsprung der Lernenden aus den bilingualen Zügen wurde in der siebten und achten Klasse nicht ausgebaut, alle drei unter‐ suchten Gruppen haben in etwa gleiche Kompetenzzuwächse, nur auf unter‐ schiedlichen Niveaus. Rumlich kommt zu folgendem Schluss: „After two years, the analyses found no CLIL-related benefits for general EFL proficiency“ (Rum‐ lich 2017: 110). Der Fremdsprachenkompetenzvorsprung der Lernenden aus den bilingualen Zügen bestand also bereits zum ersten Messzeitpunkt und muss somit ein Effekt von Auswahl und/ oder Zusatzunterricht für die bilingualen Züge sein. Entsprechend bedeutet dies, dass gemäß Rumlichs Ergebnissen der bilinguale Unterricht selbst keinen zusätzlichen allgemeinen Fremdsprachen‐ kompetenzzugewinn bewirkt (vgl. Rumlich 2016: 448). Es ist davon auszugehen, dass die Studie, die derzeit nur auf Englisch publiziert ist, eine Reihe von Dis‐ kussionen zum bilingualen Unterricht in naher Zukunft anstoßen wird. Die Fremdsprachendidaktik steht vor der Aufgabe, sicher geglaubte Überzeugungen und Argumentationen zu hinterfragen. Sollte der bilinguale Unterricht dennoch seinen Platz in der Schule haben bzw. ausbauen? Man könnte argumentieren, dass eine Verbesserung der Fremdspra‐ chenkompetenz allein mit vermehrtem Fremdsprachenunterricht unter den ge‐ gebenen schulischen Rahmenbedingungen vermutlich nicht zu erreichen ist. Wenn zukünftige Schülergenerationen eine zweite Sprache so beherrschen 75 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="76"?> sollen, dass sie damit beruflich und privat komplexe Themen kommunizieren können, dann geht kaum ein Weg am bilingualen Unterricht vorbei, da zum einen an anderer Stelle nur schwerlich zusätzliche Fremdsprachenkontaktzeit zu gewinnen ist und zum anderen ein ausgeweiteter Fremdsprachenunterricht zwangsläufig zunehmend auf Sachfachinhalte zurückgreift, wenn er inhaltsori‐ entiert arbeiten möchte. Der Gefahr, dass der bilinguale Unterricht an Qualität verliert, weil zukünftig alle Lehrkräfte und Lernenden an ihm beteiligt sind - und nicht nur die engagiertesten - ist eine erprobte Methodik und geeignete Unterrichtsorganisation entgegenzusetzen. Bei der bisher so positiven Resonanz aus der Fremdsprachendidaktik hin‐ sichtlich bilingualen Unterrichts, sollte auch ein ganz einfacher praktischer Grund nicht übersehen werden. Bislang wird der bilinguale Unterricht aus der Unterrichtszeit der Sachfächer, und evtl. aus zusätzlichen Unterrichtsstunden, bestritten. Mir sind keine Studien und keine Unterrichtsversuche bekannt, bei denen Unterrichtszeit für den bilingualen Unterricht aus dem Zeitkontingent der Fremdsprachen entnommen wurde. Sollte in Zukunft möglicherweise Un‐ terrichtszeit für den bilingualen Unterricht aus den Fremdsprachen entnommen werden, oder beispielsweise in den Klassenstufen neun und zehn Fremdspra‐ chenunterricht ganz oder teilweise durch bilingualen Unterricht ersetzt werden, dann wird der bilinguale Unterricht mit Sicherheit auch in der Fremdsprachen‐ didaktik kontrovers diskutiert werden. Vollmer sieht die Bereitschaft der Fremd‐ sprachendidaktik, bzw. der Fremdsprachenlehrkräfte, diesbezüglich ebenfalls kritisch: Ideal wäre ein von den Zielsetzungen des Lernens her legitimiertes Gesamtcurriculum, zumindest aber eine auch stundenplanmäßig realisierte Annäherung bzw. Integration von Fremdsprachenunterricht und bilingualem Unterricht. Allerdings deutet das Selbstverständnis der philologisch orientierten Gymnasiallehrer nicht gerade auf eine solche Bereitschaft hin, wie es an den jüngsten Rahmenrichtlinien für Englisch der Sekundarstufe II in NRW (MSWWF 1999) ablesbar ist (Vollmer 2000b: 154). Bislang findet die kontroverse Auseinandersetzung vor allem in den Sachfach‐ didaktiken statt, die ihre Unterrichtszeit in den bilingualen Unterricht ein‐ bringen. 3.4.2 Sachfachkompetenzen im bilingualen Unterricht Im vorliegenden Kapitel zum bilingualen Unterricht argumentiere ich, dass die Theoriebildung zu dieser Unterrichtsform uneinheitlich und verzögert ver‐ laufen ist, da es sich um eine Bewegung handelt, die erstens von der Unter‐ 76 3. Bilingualer Unterricht <?page no="77"?> richtspraxis ihren Ausgang genommen hat und die zweitens in ihrer Stellung zwischen zwei Fachgruppen (Fremdsprachen- und Sachfächer) sehr unter‐ schiedlichen Vorstellungen und Zielsetzungen unterliegt. Ich habe dargestellt, dass die Position der Fremdsprachendidaktiker gegenüber dem bilingualen Un‐ terricht trotz einiger ungeklärter Fragen offen und positiv ist. Viele Fremdspra‐ chendidaktiker befürworten auch eine Klärung zum Kompetenzerwerb im Sach‐ fach. Bonnet sieht hier Handlungsbedarf, denn „die Frage des sachfachlichen Lernens in fremdsprachlich unterrichteten Sachfächern [ist] einer der bisher am wenigsten berücksichtigte Aspekte […] in der Diskussion um den BU in Deutschland“ (Bonnet 2004: 45). Auch Breidbach (2000: 173) und Zydatiß (2002: 52) messen der einvernehmlichen Abstimmung der Fremdsprachendidaktik mit den Sachfachdidaktiken einen zentralen Stellenwert bei. Breidbach schreibt, dass es im Bereich Bilingualer Sachfachunterricht (BiliSFU) nach wie vor ungeklärt zu sein scheint, ob es sich in erster Linie um Sprachunterricht handelt […] oder um Sachfachunterricht […]. Dass diese Frage nicht trivial und ihre Antwort nicht uner‐ heblich für die Unterrichts- und Forschungspraxis des BiliSFU ist, halte ich für evident (Breidbach 2000: 173). Wenn Zydatiß 2002 für ein Forschungsprogramm des bilingualen Unterrichts sieben Forschungsfelder und etwa 80 Forschungsfragen zusammenstellt, dann sollen damit drei übergeordnete Fragestellungen geklärt werden: a) Gibt es vergleichbare Leistungen im Sachfach? […] b) Welche spezifischen sprach‐ lichen Lernziele kann der Verbund von ‚regulärem‘ Fremdsprachenunterricht und bi‐ lingualem Unterricht einlösen? […] c) Was ist das Verhältnis der Leistungen im Sach‐ fach zu den Erträgen in der Fremdsprache […] Sollten sich die Gewichte deutlich zu Ungunsten der Sachfächer verschieben, wird der bilinguale Unterricht Legitimations‐ probleme haben (Zydatiß 2002: 52). Es gilt also zu klären, ob bzw. in welchem Ausmaß sachfachlicher Kompetenz‐ erwerb durch die Fremdsprachenverwendung gefördert oder behindert wird, um bei Bedarf mit Kompensationsstrategien die Bereitschaft der Sachfachdi‐ daktiker für eine Ausweitung des bilingualen Unterrichts zu gewinnen. Der fol‐ gende Abschnitt setzt sich mit Untersuchungen zum sachfachlichen Kompe‐ tenzerwerb im bilingualen Unterricht auseinander, und konzentriert sich exemplarisch auf die Geschichts- und Geographiedidaktik. Die Auswahl erfolgt aufgrund der Praxisrelevanz der beiden Fächer. Laut Thürmann (2000) findet ca. 80. % des bilingualen Unterrichts mit der Zielsprache Englisch in den beiden Fächern statt. Die beiden Fächer waren ferner die ersten, die sich mit dem bi‐ lingualen Unterricht theoretisch auseinandersetzten. Außerdem wird der Geo‐ 77 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="78"?> graphie und der Geschichte gemeinhin eine besondere Rolle für die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen, einer häufig anzutreffenden Begründung für bilingualen Unterricht, zugesprochen. 3.3.2.1 Bilingualer Geschichtsunterricht Hasberg, der sich von Seiten der Geschichtsdidaktik besonders intensiv mit dem bilingualen Unterricht auseinandergesetzt, sieht die Unterrichtsform sehr kri‐ tisch. Das von ihm benannte zentrale Ziel der Geschichtsdidaktik, der Vermitt‐ lung von Geschichtsbewusstsein, wird womöglich dadurch beeinträchtigt, dass das Werkzeug zu dessen Vermittlung - die Sprache - nicht mehr in der dafür notwendigen Feinheit zur Verfügung steht (vgl. Hasberg 2004: 232). Anhand einer Transkription eines deutschsprachigen Unterrichtsgesprächs zeigt er, dass moderner Geschichtsunterricht weniger durch Faktenvermittlung, als vielmehr durch die Anleitung zu reflexivem und selbst-reflexivem historischem Lernen geprägt ist. Im Beispiel wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler für diese Aufgabe auf der Metaebene einen differenzierten Umgang mit Sprache benö‐ tigen (vgl. Hasberg 2004: 222). Die beiden zentralen Operationen zur histori‐ schen Sinnbildung, die Rekonstruktion von Geschichte aus Quellen heraus und Dekonstruktion historischer Narration durch ihre Überprüfung auf Triftigkeit, erforderten einen besonders feinfühligen Umgang mit Sprache (vgl. Hasberg 2004: 225). Vergangene wie gegenwärtige Kulturen, die es durch historisches Lernen zu er‐ schließen gilt, bieten sich in kulturwissenschaftlicher Sicht als Texte dar, als sprachlich geflochtene Bedeutungsgewebe, die es zu entflechten gilt, will man zu den vergan‐ genen Bedeutungen vordringen. Als Nadel, mit der diese Geflechte aufzuknüpfen sind, steht alleine die Sprache zur Verfügung (Hasberg 2004: 232). Ältere geschichtsdidaktische Konzepte, die sich am Faktenlernen orientierten, sind möglicherweise eher für bilingualen Geschichtsunterricht geeignet. Mo‐ derne Konzepte, die Geschichte als Konstruktion vermitteln und Lernende zur (Selbst-)Reflexivität anleiten, setzen jedoch eine sprachliche Sensibilität voraus, die derzeit im bilingualen Geschichtsunterricht nicht gegeben scheint. Aller‐ dings deutet Hasberg an, dass die Geschichtsdidaktik beim Umgang mit Quellen immer schon Kompromisse eingehen musste. So führte die Fremdsprachigkeit eines Teils der Quellen schon immer zu Einschränkungen im sprachlichen Um‐ gang mit ihnen oder zur Verwendung von Übersetzungen. In empirischen Stu‐ dien zum bilingualen Geschichtsunterricht sieht er das historische Lernen als zu wenig in die jeweilige Fragestellung einbezogen. Bei Müller-Schneck (2000) seien „Aspekte des historischen Lernens durch das Untersuchungsdesign allen‐ 78 3. Bilingualer Unterricht <?page no="79"?> falls peripher und eher zufällig tangiert“, bei Helbig (2001) würden „die Spezifika historischen Denkens […] keine originäre Berücksichtigung [finden]“ und Lamsfuß-Schenk (2002b) hätte Befunde möglicherweise falsch interpretiert (Hasberg 2004: 229, 230). Hasberg kommt zu dem Schluss: „[Der] Gewinn des bilingualen Geschichtsunterrichts für das Fremdsprachenlernen steht nicht in‐ frage, wohl aber sein ‚Mehrwert‘ für das historische Lernen“ (Hasberg 2004: 233). Hasberg setzt sich auch intensiv mit Breidbachs Argumentation zu einer refle‐ xiven Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht auseinander und resü‐ miert, dass bilingualer Unterricht „weder aus den Didaktiken der beteiligten Fächer noch aus einer allgemeinen Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts legitimiert werden [kann]. Er verdankt seine Existenz einer politischen Setzung“ (Hasberg 2009: 62). Die Geschichtsdidaktik könne sich heute aufgrund der Ver‐ breitung der Unterrichtsform und aufgrund normativer Setzungen der Diskus‐ sion nicht entziehen. Geschichtsdidaktisch stellt sich mithin nicht die Aufgabe, den bilingualen Geschichts‐ unterricht zu begründen, der als politisch (und fremdsprachendidaktisch) gewollte Unterrichtsform als bestehende Größe zu betrachten ist (Hasberg 2009: 63). Er weist die Forderung von Zydatiß und Breidbach nach einer eigenständigen Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts zurück, und legt stattdessen nahe Bilingualität als (normatives) Prinzip des Schulunterrichts im Rahmen der einzelnen ‚Fachdidaktiken‘ zu erörtern, die als solche derart unterschiedlich sind, dass es schon deshalb eine Sachfachdidaktik nicht geben kann (Hasberg 2009: 62). Selbstkritisch sieht er die Geschichtsdidaktik aber auch in der Pflicht, sowohl mit den praktizierenden bilingualen Geschichtslehrkräften als auch mit den Fremdsprachendidaktiken in den Dialog zu treten. In den beiden geschichtsdidaktischen Grundlagenwerken „Erste Begeg‐ nungen mit Geschichte“ (Schreiber 1999) und „Handbuch Methoden im Ge‐ schichtsunterricht“ (Mayer 2007) erfolgt keine Auseinandersetzung mit bilin‐ gualem Unterricht. Lamsfuß-Schenk schreibt in den Neusprachlichen Mitteilungen im Jahr 2002: Bilingualer Unterricht ist in der Geschichtsdidaktik bislang kaum beachtet worden, sondern hauptsächlich aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik diskutiert und untersucht worden. Man hat sich mit verschiedenen Fragen des Fremdsprachenler‐ nens im bilingualen Sachfachunterricht - jedoch kaum mit Fragen des Sach-Lernens, hier des Geschichtslernens, befasst (Lamsfuß-Schenk 2002: 87). 79 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="80"?> 3.3.2.2 Bilingualer Geographieunterricht In der Geographiedidaktik spielt der bilinguale Unterricht eine größere Rolle als in der Geschichtsdidaktik. War im Standardwerk „Didaktik der Geographie Konkret“ herausgegeben von Haubrich 1988 der bilinguale Unterricht noch aus‐ gespart (vgl. Haubrich 1988), so finden sich in Rinschedes „Geographiedidaktik“ von 2003 erste unzusammenhängende Erwähnungen (vgl. Rinschede 2003: 184, 270). In Kestlers „Einführung in die Didaktik des Geographieunterrichts“ von 2004 ist dem bilingualen Unterricht bereits ein eigenes Unterkapitel gewidmet (vgl. Kestler 2004: 236-238); und im Standardwerk „Geographie unterrichten lernen“ herausgegeben von Haubrich 2006, sowie in der von Reinfried und Haubrich 2015 herausgegebenen Neukonzeption, werden zum bilingualen Un‐ terricht die theoretische Diskussion dargestellt und Beispiele für language sup‐ port zur verschränkten Sprach- und Inhaltsarbeit angeboten (vgl. Lenz & Meyer 2006: 160-163; Meyer 2006: 338-341; Lenz 2015: 204-207, Meyer 2015: 422-425). Von den zehn Autoren des Buchs „Geographie unterrichten lernen“ haben zu‐ mindest drei bereits mehrfach zum bilingualen Unterricht publiziert. Die „Einführung in die Didaktik des Geographieunterrichts“ (Kestler 2004) und „Geographie unterrichten lernen“ (Haubrich 2006) stellen heraus, dass Geo‐ graphie für den bilingualen Unterricht besonders geeignet sei. Als Gründe werden z. B. „Visualisierungsmöglichkeiten“ in der Geographie genannt. Kestler ergänzt hinsichtlich der Eignung die internationale Ausrichtung der Geogra‐ phie. Er kommt letztlich allerdings zu dem Schluss, dass sich aus der Sicht der Geographiedidaktik allein noch keine hinreichende Be‐ gründung für einen bilingualen Geographieunterricht ergibt. Er kann […] aber eine wichtige ‚Dienstleistungsfunktion‘ für die Vermittlung übergeordneter Bildungsziele und Schlüsselqualifikationen leisten (Kestler 2004: 238). „Geographie unterrichten lernen“ erwähnt ebenfalls die „Dienstleistungsfunk‐ tion“ der Geographie. Allerdings wird hier zusätzlich die Befürchtung geäußert, dass die Vermittlung geographischer Fachkompetenzen wegen des zunächst unzureichenden Sprachvermögens der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt sein könnten. Als Pro-Argumente und Begründungen für den bilingualen Geo‐ graphieunterricht werden das fächerübergreifende Lernziel Interkulturelle Kompetenz und das übergeordnete Lernziel Mehrsprachigkeit als Kulturkom‐ petenz zur Diskussion gestellt. Eine eigenständige Didaktik für den bilingualen Unterricht wird unter Verweis auf Hoffmann 2004 abgelehnt. Die Autoren räumen aber ein, dass „die methodischen Modifizierungen […] allerdings For‐ derungen nach einer eigenständigen Methodik [vgl. Thürmann 1999] stützen [könnten]“ (Lenz & Meyer 2006: 162). 80 3. Bilingualer Unterricht <?page no="81"?> In Haversaths „Geographiedidaktik“ von 2012 besprechen Alexandra Sieg‐ mund und Kathrin Viehrig den bilingualen Unterricht im Kapitel „Internationale Vernetzung“ (Siegmund & Viehrig 2012). Die Ergebnisse der DESI-Studie (2006) zum sprachlichen Lernen und der Studie von Golay (2005) zum geographischen Lernen im bilingualen Unterricht werden dort kurz und ohne kritische Ausei‐ nandersetzung vorgestellt. Hoffmann (2004) möchte die Deutungshoheit für die Inhalte des bilingualen Geographieunterrichts bei der Geographiedidaktik belassen. Er benennt die „Herausbildung von Raumverhaltenskompetenz“ als oberstes Richtziel der Geo‐ graphie (Hoffmann 2004: 209). Er argumentiert, dass „bilingualer Geographie‐ unterricht als Sachfachunterricht in einer Fremdsprache […] sich primär von den grundlegenden Zielen geographischer Schulbildung leiten lassen [muss]“ (Hoffmann 2004: 212) und „dass der bilinguale Geographieunterricht vor allem durch methodische Modifizierungen gekennzeichnet ist. Oder anders formu‐ liert: Die durch den bilingualen Sachfachunterricht ausgelösten und notwen‐ digen didaktischen ‚Eingriffe‘ in die Fremdsprachendidaktik sind gravierender, als das für die Geographiedidaktik zutrifft“ (beide Hervorhebungen von Hoff‐ mann 2004: 214). Damit sichergestellt ist, dass die geographischen Unterrichts‐ inhalte vermittelt werden, fordert er „Fragen der Vergleichbarkeit von bilingu‐ alem und ‚traditionellem‘ Fachunterricht“ sorgfältig zu behandeln. Er schließt sich damit Forderungen von beispielsweise Bonnet (2000: 150), Abend‐ roth-Timmer & Wendt (2000: 137), Bredenbröker (2000: 111), Breidbach (2000: 173), Zydatiß (2002: 52) und Lamsfuß-Schenk (2002b: 191) an. Studien sollen erfassen, ob und in welcher Größe ein „Substanzverlust für das bilingual unter‐ richtete Sachfach“ zu befürchten ist (Ruhren 2002: 1). Hoffmann schreibt ferner, dass die Mehrzahl der vorliegenden Untersuchungen zum bilingualen Unterricht den „‚Zugewinn‘ für die Fremdsprache deutlich höher einschätzen, als es für die betreffenden Sachfächer erkennbar ist“. Allerdings räumt er ein, dass auch in der Geographiedidaktik „akuter Forschungsbedarf“ zu dieser Frage bestehe (Hoffmann 2004: 211). Hoffmann sieht den Mehrwert des bilingualen Unterrichts vor allem in dem übergeordneten Bildungsziel „Herausbildung von Mehrsprachigkeit“, zu welchem bilingualer Geographieunterricht einen wichtigen Beitrag liefert (Hoffmann 2004: 213). Dieser Aspekt wird am Ende des Kapitels auf‐ gegriffen, und es wird dargelegt, mit welchen Aufgaben und Unterrichtsarrange‐ ments sich durch den Einsatz der Fremdsprache möglicherweise ein Plus an Kom‐ petenzentwicklung für die Geographie erreichen lässt. Hoffmann weist hierzu auf zwei fächerübergreifende Zielbereiche hin, die im bilingualen Unterricht und in der Geographiedidaktik eine wichtige Rolle spielen: a) Interkulturelles Lernen durch Multiperspektivität und Empathiefähigkeit zur Relativierung ethnozentrischer 81 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="82"?> Sichtweisen, b) Begriffs- und Sprachbildung als Prinzipien des Geographieunter‐ richts (Hoffmann 2004: 216). 3.3.2.3 Studien zur Entwicklung von geographischen Kompetenzen im bilingualen Unterricht Mit der Frage des geographischen Kompetenzerwerbs von bilingual und nicht-bilingual unterrichteten Schülerinnen und Schülern im Vergleich haben sich die beiden Studien von a) Golay (2005) und b) Passon (2007) & Vollmer (2006, 2007, 2012) befasst. Beide Studien kommen zu dem Schluss, dass im bilingualen Geographieunterricht die gleichen fachlichen Kompetenzen erworben werden können wie im muttersprachlichen. Wenn man sich mit den beiden Studien intensiv auseinandersetzt, dann zeigt sich allerdings, dass die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar sind (Golay) oder dass Daten für wichtige Aussagen fehlen (Vollmer). Wenn meine folgenden Analysen stimmen, dann bedarf es aus geo‐ graphischer Perspektive weiterhin einer schlüssigen Begründung, warum Ge‐ ographieunterricht in der Fremdsprache erfolgen sollte. Bei der Auswertung des vorliegenden Unterrichtsforschungsprojekts kann ich prüfen, ob der interkul‐ turelle Kompetenzerwerb der Mehrwert für die Geographie sein kann. Golays Studie zur geographischen Kompetenzentwicklung im bilingualen Unterricht Golay untersuchte an einer Schule im Raum Basel (Schweiz), ob Lernende der Klassenstufe 8 mit der Muttersprache Deutsch gleich gute Testergebnisse hin‐ sichtlich geographischer Kompetenzen erzielen, unabhängig davon, ob sie im Fach Geographie auf Deutsch oder auf Französisch unterrichtet wurden. Je drei Klassen erhielten ihren Geographieunterricht auf Deutsch bzw. auf Französisch erteilt (insgesamt zwei Klassen in der Vorstudie, vier Klassen in der Haupt‐ studie). Als Ergebnis steht für Golay nach Auswertung der Test-Performanz fest: Bei keinem der während der einjährigen Untersuchung behandelten Unterrichts‐ themen zeigten die bilingual unterrichteten SchülerInnen Lernschwächen im Sach‐ fach Geographie im Vergleich zu den regulär auf Deutsch unterrichteten Parallel‐ klassen. Im Gegenteil, die Bilingualen waren gemäß den Testergebnissen sogar tendenziell leistungsstärker als die monolinguale Vergleichsgruppe (Golay 2005: 105). Bei kritischer Betrachtung ergibt sich m. E. eine Reihe von Unstimmigkeiten, die die Übertragbarkeit seiner Ergebnisse in Frage stellen. Beispielsweise hat Golay an der Schule die leistungsstärkeren Lernenden (Progymnasium) bilingual in der Fremdsprache Französisch unterrichtet, die schwächeren (Realschulniveau) in deren Muttersprache Deutsch. Die unterschiedliche Niveauzugehörigkeit be‐ einflusst m. E. das Ergebnis. Der von Golay eingesetzte Intelligenztest kann die 82 3. Bilingualer Unterricht <?page no="83"?> Effekte auf die Test-Performanz nicht kontrollieren. Außerdem Golay diskutiert seine Vorgehensweise bei der Auswahl der Testinhalte nicht. Für den bilingualen Unterricht empfiehlt er eine „kleinschrittige Vorgehensweise“ (Golay 2005: 106), die zu einem erhöhten Zeitbedarf führt. Da beide Gruppen die gleiche Unter‐ richtszeit erhielten, können die bilingualen Lernenden nicht so viele Inhalte durchgenommen haben wie die deutschsprachig Unterrichteten. Wenn Golay für die Tests Inhalte nutzt, die in allen Klassen unterrichtet wurden und in den bilingualen Klassen wegen Sprachproblemen kleinschrittig erarbeitet werden mussten, werden die bilingualen Lernenden bessere Ergebnisse erreichen. Wenn er allerdings Inhalte testet, die in den bilingualen Klassen aus Zeitgründen ent‐ fallen mussten, aber in den deutschsprachigen erarbeitet wurden, werden die einsprachig-Deutsch Unterrichteten besser abschneiden. Es ist davon auszu‐ gehen, dass Golay Inhalte getestet hat, die die bilingualen Lernenden (klein‐ schrittig) erarbeitet hatten. Neben den beiden genannten können weitere Punkte zur Untersuchung von Golay aufgezeigt werden, die eine Übertragbarkeit der Ergebnisse in Frage stellen (dazu ausführlicher Müller & Falk 2014: 120 f.). Vollmers Studie zur geographischen Kompetenzentwicklung im bilingualen Unterricht Die zweite für die Geographiekompetenzen wichtige Untersuchung wurde von Vollmer geleitet und umfasst mehrere Teilstudien zum Fremdsprachen- und Geographiekompetenzerwerb. In der Teilstudie zum Geographiekompetenzer‐ werb, die von Passon bearbeitet wurde, sollte insbesondere herausgefunden werden, ob die fachlichen Leistungen der bilin‐ gualen Schüler denjenigen der Regelschüler entsprechen, da bislang ungeklärt ist, ob der Zuwachs an Fremdsprachenkompetenzen (der empirisch gut belegt ist) auf Kosten einer gediegenen Fachlichkeit der betroffenen Lerner geht (Vollmer 2006: 207; Passon 2007). Die Studie vergleicht die Geographiekompetenzen von 90 deutsch und 84 bilin‐ gual englisch unterrichteten Lernenden der Klassenstufe 10 aus vier Gymnasien im Raum Osnabrück (Passon 2007: 68). Die Lernenden bearbeiteten u. a. einen sehr umfangreichen Fragebogen (persönliche Angaben, Selbsteinschätzungen, Vorlieben) und einen gemeinsam mit Geographiedidaktikern entwickelten Ge‐ ographiekompetenztest. Wir haben es hier mit einem Elizitationsinstrument zu tun, das am Ende von Klasse 10 des Gymnasiums im Fach Geographie Aufschlüsse über jeweils vorhandene Kom‐ petenzprofile und Niveaustufungen geben soll, unabhängig davon, wie die Kompe‐ tenzen im Einzelnen erworben worden sind (Vollmer 2006: 216). 83 3.3 Perspektiven auf bilingualen Unterricht <?page no="84"?> Die Lernenden bearbeiteten die Geographietests in der jeweiligen Unterrichts‐ sprache. Ebenso wie Golay (vgl. Golay 2005: 105) zieht Vollmer (vgl. Vollmer 2012: 102) das Fazit, dass die Gleichwertigkeit der Geographiekompetenzen von bilingualen Lernern im Vergleich zu deutschsprachig unterrichteten belegbar sei. Doch auch zur Studie von Vollmer (2006, 2007, 2012) und Passon (2007) müssen wichtige Einschränkungen benannt werden: Im 15-seitigen (139 Fragen umfassenden) Schülerfragebogen wird nicht er‐ fasst, wie viel Zusatzunterricht die bilingualen Lerner in Geographie erhielten, und auch zu den Profilen der untersuchten Schulen wird dies nicht dargestellt (vgl. Passon 2007: Anlagen). Da die bilingualen Schülerinnen und Schüler aus Gymnasien Niedersachsens stammen, ist davon auszugehen, dass sie zusätzliche Unterrichtszeit im fremdsprachlich unterrichteten Sachfach erhalten haben. Aus testtheoretischer Sicht ist diese Unklarheit problematisch, da sich hier die Frage stellt, wie viel Zusatzunterricht die bilingualen Lernenden erhalten hatten, um annähernd vergleichbare geographischen Kompetenzen zu erreichen (vgl. Müller & Falk 2014: 121 f.). [I]n die Datenauswertung [gehen] nur sechs der 17 Teilaufgaben des Geografietests [ein], da bei den anderen Teilaufgaben von den Schülern nicht genügend Text pro‐ duziert wurde, um das Ergebnis sinnvoll beurteilen zu können (Passon 2007: 72). Es waren alle Aufgaben zum Anforderungsbereich II (Reorganisation und Transfer) (vgl. DGfG 2014: 32 f.) von der unzureichenden Textproduktion be‐ troffen (vgl. Passon 2007: 52). Für die Perspektive des Faches Geographie ist durch das Fehlen von Aufgaben zum Anforderungsbereich II die Aussagekraft von Vollmers Vergleichsuntersuchung weiter eingeschränkt (dazu ebenso Müller & Falk 2014: 120 f.). Nach kritischer Diskussion der beiden Studien ist festzustellen, dass es wei‐ terer differenzierter Studien bedarf, um mit größerer Sicherheit Aussagen zur Vergleichbarkeit von Sachfachkompetenzen im bilingualen und muttersprach‐ lichen Geographieunterricht zu machen, da die vorliegenden Ergebnisse wider‐ sprüchlich, bzw. unvollständig, sind. Mit den bisher vorliegenden Studien können mögliche Vorbehalte von Geographiedidaktikern gegenüber dem bilin‐ gualem Unterricht hinsichtlich der Vergleichbarkeit des Sachfachkompetenzer‐ werbs nicht ausreichend entkräftet werden (siehe auch Falk & Müller 2013: 4). 84 3. Bilingualer Unterricht <?page no="85"?> 3.4 Kompromiss-Suche und Überschneidungsfelder 3.4.1 Inhalte reduzieren zugunsten von Spracharbeit? Eine zentrale These Vollmers, in den letzten Jahren und im Kontext seiner Un‐ tersuchung, lautet „jedes Fachlernen ist Sprachlernen und umgekehrt“ (Vollmer 2007: 296). Ergebnisse des Teilprojekts von Heine (2010) zeigen, dass der bilin‐ guale Unterricht tatsächlich einen zusätzlichen Kompetenzerwerb fördern kann: „I demonstrated how a focus on linguistic form led to a deeper semantic pro‐ cessing of the conceptual content, and how this effect could be enhanced when an L2 was used as a working language“ (Heine 2010: 160 f.). In der Diskussion der Ergebnisse fehlt aber auch hier der Einbezug des Mehraufwands. Welche zusätzliche Unterrichtszeit wird benötigt, um die sachfachlichen Konzepte durch die besondere fremdsprachliche Arbeit im bilingualen Unterricht in ihrer besonderen Weise zu verankern? Welche Abstriche müssen deswegen an den Inhalten gemacht werden? Nicht umsonst regt Vollmer an, im bilingualen Un‐ terricht Sachinhalte zu reduzieren, um Raum für die Verwendung der Fremd‐ sprache und für sprachliches Lernen zu schaffen: „Dies erfordert eine Neustruk‐ turierung und wohl auch Reduzierung des fachlichen Wissens auf das Wesentliche, auf die Kernkonzepte und -aussagen (core content)“ (Vollmer (2000a: 63). Diese Aussage kann bei Sachfächern, deren Inhalte bereits erheblich reduziert wurden, so dass nicht einmal der core content immer gesichert ist, ganz zu schweigen von den Anforderungsbereichen der Analyse- und Reflexionsfä‐ higkeit, auf Unverständnis stoßen. 3.4.2 Operatoren klären Nach Vollmer liegt ein Unterschied zwischen muttersprachlich und fremd‐ sprachlich geführtem Sachfachunterricht auch darin, dass fachlich bestimmte Umgangsweisen mit Materialien und Erkenntnissen […] in der Fachtradition veran‐ kert sind und damit scheinbar nicht mehr der Explikation bedürfen. Im bilingualen Unterricht jedoch wird ihre Explikation auf dem Wege über die Fremdsprache mehr oder minder erzwungen (Vollmer 2000a: 63 unter Verweis auf Bonnet 1999). Es ist beispielsweise sehr wahrscheinlich, dass muttersprachlich unterrichtende Geographielehrkräfte häufig ungeprüft voraussetzen, dass Operatoren wie ‚be‐ schreiben‘, ‚erklären‘, ‚erörtern‘ den Schülerinnen und Schülern bekannt sind. Genauere Nachfragen würden möglicherweise ergeben, dass die Lernenden bei‐ spielsweise nicht wissen, dass ‚erklären‘ bedeutet „Informationen und Sachver‐ 85 3.4 Kompromiss-Suche und Überschneidungsfelder <?page no="86"?> halte (z. B. Erscheinungen, Entwicklungen) so darzustellen, dass Bedingungen, Ursachen, Folgen und Gesetzmäßigkeiten verständlich werden“ (Falk 2009: 120). Fehlende Klarheit zu Aufgabenstellungen und Arbeitsformen führt zu Minder‐ leistungen. Dass über die Diskussion zum bilingualen Unterricht ein Bedarf an Explikation z. B. von Operatoren im Sachfach stärker ins Bewusstsein rückte, wäre ein positiver Effekt. Im Prinzip kann und sollte der Umgang mit Operatoren jedoch auch im deutschsprachigen Geographieunterricht geübt werden. Der bi‐ linguale Unterricht dient bzw. diente hier möglicherweise der Bewusstmachung eines Versäumnisses der Geographiedidaktik. Die Untersuchungen und Überlegungen zur Vertiefung von sachfachlichen Kompetenzen durch a) Spracharbeit und b) Explikation von Operatoren und Arbeitsformen zeigen einen möglichen Mehrwert des bilingualen Unterrichts für die Sachfächer. Allerdings verbleiben die Mehrkosten dafür bislang ungeklärt, da zu den Untersuchungen nicht dargestellt wird, welche zusätzliche Unterrichts‐ zeit benötigt wird, bzw. welche Sachfachinhalte dafür gestrichen werden müssen. Ferner sind solche Vertiefungen und Bewusstmachungen im Prinzip auch im deutschsprachigen Geographieunterricht möglich. 3.4.3 Bildungstheoretische Begründungen für den bilingualen Unterricht Fachdisziplinen, hier die Fremdsprachen- und Sachfachdidaktiken, treten an die Sozialisationsinstanz Schule mit der Erwartung heran, möglichst viel ihres spe‐ zifischen Kompetenzprofils in Bildungsplänen abzubilden. Wird eine Fachdis‐ ziplin in Bildungsplänen um zu vermittelnde Kompetenzen beschnitten, be‐ deutet das für sie ein Bedeutungsverlust. Das Heranführen der kommenden Generation an die Disziplin wird erschwert, die Disziplin verliert graduell an Stellenwert in der Gesellschaft. Die Fachdidaktiken stehen deshalb immer ein Stück weit auch im Wettbewerb zueinander, der Bildungspolitik die besondere Bedeutung ihres jeweiligen Kompetenzspektrums darzustellen. Dieser Wettbe‐ werb hilft die spezifischen Bildungsgehalte der einzelnen Fächer zu präzisieren. Die Auswahl der in der Schule zu vermittelnden Kompetenzen wird dann von einer über der Ebene der Fachdidaktiken angesiedelten Instanz festgelegt. Diese Auswahl erfolgt nicht im Hinblick auf Partikularinteressen von Fachdisziplinen, sondern unter der Prämisse, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler, und damit unsere Gesellschaft, heute und vermutlich in der Zukunft benötigen. Das heißt, dass die Entscheidung über die zu vermittelnden Kompetenzen mit Hinblick auf das Ganze, also die Gesellschaft, und nicht im Hinblick auf eine (Fach-)Wissenschaft getroffen werden (vgl. Klafki 1996: 166). Zur Frage, wer die 86 3. Bilingualer Unterricht <?page no="87"?> schulisch zu vermittelnden Kompetenzen bestimmt, schreiben Kiper, Meyer und Topsch, dass „didaktische Entscheidungen weder aus Bildungsnormen noch aus fachwissenschaftlichen Vorgaben ‚abgeleitet‘ werden [können]. Sie müssen in einem eigenständigen Begründungszusammenhang erarbeitet werden“ (Kiper et al. 2002: 68). Sie verweisen dabei auf Klafkis Grundfragen der didaktischen Analyse. Deren erste beiden Fragen betreffen die Gegenwartsbedeutung („Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er - vom pädagogischen Ge‐ sichtspunkt aus gesehen - darin haben? “ [Klafki 1963: 135]) und die Zukunfts‐ bedeutung („Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? “ [Klafki 1963: 135]) von Bildungsinhalten. Für den bilingualen Unterricht ist zu reflektieren, ob es angemessen ist, über Sinn und Ausgestaltung dieser Unter‐ richtsform aus den Einzelperspektiven der Fremdsprachendidaktik und der Sachfachdidaktiken zu argumentieren, oder ob Entscheidungen zum bilingualen Unterricht nicht auf der übergeordneten Ebene getroffen werden sollten, und somit bildungstheoretische Entscheidungen sind. Breidbach brachte diesen Gedanken als erster in die Diskussion zu Begrün‐ dungszusammenhängen im bilingualen Unterricht ein: Nach meinem Verständnis bedarf es […] eines eigenständigen didaktischen Denkmo‐ dells für BiliSFU auf dem Fundament einer bildungstheoretischen Reflexion, die ih‐ rerseits vor dem Hintergrund gegenwärtig relevanter Zukunftsanforderungen an schulisches Lernen und Lehren stattfinden müsste (Breidbach 2000: 183). Als relevante Zukunftsanforderungen diskutiert er interkulturelle Kompetenzen, den Globalisierungsbegriff und das interkulturelle Lernen (vgl. Breidbach 2000: 181 und 2007: 120). Damit greift er insbesondere das erste von Klafkis „epochal‐ typischen Schlüsselproblemen“ auf, die „Friedensfrage“ (Klafki 1996: 56-58). Zydatiß begründet den bilingualen Unterricht ebenfalls aus bildungstheoreti‐ scher Perspektive (vgl. Zydatiß 2002: 34). In seiner Argumentation stellt er aller‐ dings weniger die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen in den Mittel‐ punkt, sondern nimmt vielmehr Sprachkompetenzen in den Fokus. Er stellt zunächst die beiden zentralen Fragen, die den Einsatz von bilingualem Unter‐ richt rechtfertigen oder nicht: „Was ist der Sinn und Zweck von Schule? […] Was ist die Spezifik des bilingualen Unterrichts im Gesamtkontext des Fächerkanons und des Bildungsauftrags von Schule generell? “ (Zydatiß 2002: 34). Sinn und Zweck von Schule sei die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf heutige und angenommene zukünftige Anforderungen. Diese bestehen darin, dass unsere Lebenswelt und Lebenswege (Alltag, Urlaub, Freizeit, Beruf, Studium, Ausbildung, Medienkonsum und -Nutzung, kommunale und regionale Nachbarschaft, 87 3.4 Kompromiss-Suche und Überschneidungsfelder <?page no="88"?> Migration und Mobilität) immer mehr von einer Kommunikationspraxis charakter‐ isiert werden, in deren rezeptivem wie produktivem Vollzug zwischenmenschliche oder medial transportierte Interaktionsprozesse über außersprachliche Sachverhalte in einer fremden Sprache realisiert werden (Zydatiß 2002: 35). Daher liegt es nahe, über den bilingualen Unterricht verbesserte inhaltsbezo‐ gene Fremdsprachenkompetenzen bei Schülerinnen und Schüler anzustreben. Zydatiß ist sicherlich zuzustimmen, dass die erforderliche Verbesserung und Verbreiterung der Fremdsprachenkompetenzen praktisch nur über den bilingu‐ alen Unterricht realisiert werden können. Eine Ausweitung des Fremdspra‐ chenunterrichts in der Stundentafel der Schule ist wenig realistisch und würde andere Fächer eher noch mehr einschränken. Auch aus theoretischer Sicht kann der Fremdsprachenunterricht nicht beliebig ausgeweitet werden. Ab einem ge‐ wissen Punkt schlägt die mögliche quantitative Ausweitung des Fremdspra‐ chenunterrichts, in einen qualitativen Unterschied um: der Fremdsprachenun‐ terricht würde Inhalte und Kompetenzen der Sachfächer vermitteln - dieser Unterricht wäre also wieder bilingualer Unterricht. Wenn beispielsweise ein stark ausgeweiteter Englischunterricht noch intensiver zu Nordamerika Inhalte vermittelt, dann gerät er zwangsläufig in die Situation, Themen aus der Geo‐ graphie und Geschichte zu unterrichten. Bei Themen wie ‚Immigration in die USA‘ oder ‚Nationalparks der USA‘ u. ä. ist das heute schon der Fall. Bei einer weiteren Ausweitung des Themenkatalogs (z. B. ‚Ölsande in Kanada‘, ‚Erdbeben in Kalifornien‘ etc.) ist es sicherlich sinnvoller, dass diese Themen von fachlich ausgebildeten Geographielehrkräften unterrichtet werden. Die Schwelle, wo die quantitative Themenausweitung in eine qualitative Andersartigkeit umschlägt, ist auch aus linguistischer Hinsicht interessant. Sie repräsentiert den schwer zu definierenden Übergang von BICS (Basic Interpersonal Communicative Compe‐ tences) zu CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) (vgl. Cummins 1979), bzw. die problematische Unterscheidung zwischen Allgemeinsprache und Fach‐ sprache im bilingualen Unterricht. Auch wenn die bildungstheoretische Argumentation in sich schlüssig ist, kann sie dennoch von Sachfachdidaktikern als Zugriff auf ihre Kompetenzbe‐ reiche empfunden werden (vgl. Hasbergs 2009: 67). Der Befürchtung der Sach‐ fachdidaktiker, dass durch den bilingualen Unterricht ihre in der Schule zu ver‐ mittelnden Kompetenzen beschnitten werden, sollte organisatorisch (beispielsweise durch Zusatzstunden für das Sachfach) und methodisch (bei‐ spielsweise durch frühe Vermittlung sachfachspezifischer Sprachfunktionen) begegnet werden. 88 3. Bilingualer Unterricht <?page no="89"?> 3.4.4 Interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht Der fachliche Mehrwert des bilingualen Unterrichts wird von einigen Autoren im Bereich des interkulturellen Lernens gesehen (vgl. Kirchberg 1997: 31; Müller, Ch. 2000: 42; Otten & Wildhage 2003: 21). Mit interkulturellem Lernen im bi‐ lingualen Geographieunterricht haben sich auch Meyer (2003b) und Viebrock (2007) befasst. Der folgende Abschnitt dieses Kapitels geht nun der Frage nach, ob bilingualer Geographieunterricht mit interkulturellem Lernen legitimiert werden kann. 3.4.4.1. Aussagen aus Meyers Studie zu interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht Als einen Teilbereich ihrer empirischer Untersuchung zum bilingualen Unter‐ richt interviewt Meyer zehn junge Erwachsene, die über mehrere Jahre bilin‐ gualen Geographieunterricht erhalten hatten, dazu, ob „der bilinguale Erdkun‐ deunterricht in besonderer Weise zum interkulturellen Lernen beitragen [kann]“ (Meyer 2003b: 10). Bei den Interviews kannten viele der Befragten den Begriff interkulturelles Lernen nicht. Wenn sie dann Überlegungen dazu an‐ stellten, lag dabei zumeist ein Kulturbegriff einer „separierten, homogenen Na‐ tionalkultur“ zu Grunde (Meyer 2003b: 236). Meyer stellt fest, dass die Inter‐ viewten auf der Basis ihres selbst erfahrenen bilingualen Geographieunterrichts nicht davon ausgehen, dass dieser Unterricht eine besondere Bedeutung für den Erwerb von interkulturellen Kompetenzen hat (vgl. Meyer 2003b: 235). In einer anderen Publikation formuliert Meyer, dass der „bilinguale Geogra‐ phieunterricht […] nicht vorrangig mit dem Erreichen einer interkulturellen Kompetenz zu begründen [ist]“ (Meyer 2004a: 173). Für diese Aussage werden keine empirischen Belege angeführt. Meyer kommt offenbar aufgrund theore‐ tischer Überlegungen zu diesem Ergebnis (vgl. Meyer 2003a: 34-39; vgl. Meyer 2003b: 27-36). Empirisch kann sie nur aufzeigen, dass der Erwerb von interkul‐ turellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht der von ihr interviewten Per‐ sonen keine besondere Gewichtung erfuhr bzw. von den Interviewten nicht als wichtig wahrgenommen wurde. Damit kann sie allerdings keine Prognose zu möglichem interkulturellen Lernen im bilingualen Geographieunterricht bei gelungenen Aufgaben treffen (vgl. Müller & Falk 2014: 124 f.). 3.4.4.2 Aussagen aus Viebrocks Studie zu interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht Viebrock (2007) kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Meyer (2003b). Viebrock untersucht bei zehn Lehrkräften, welche subjektiven didaktischen Theorien sie 89 3.4 Kompromiss-Suche und Überschneidungsfelder <?page no="90"?> zum bilingualen Unterrichten in Geographie haben. In halboffenen Interviews befragt sie die Lehrkräfte zu vielen Bereichen in deren bilingualer Unterrichts‐ praxis. Ein zentrales Ergebnis ist, dass den interviewten Lehrkräften die Ver‐ mittlung interkultureller Kompetenzen wenig präsent ist (vgl. Viebrock 2007: 300). Auch Viebrock erkennt bei ihren Interviewpartnern einen Kulturbegriff, der „zumeist entlang nationaler Grenzen [verläuft]“ (Viebrock 2007: 319). Mit interkulturellem Lernen und einem zeitgemäßen Kulturbegriff hatten die inter‐ viewten Lehrkräfte sich offensichtlich wenig auseinandergesetzt. Aus Viebrocks Daten kann genauso wie bei Meyer nicht geschlossen werden, ob oder ob nicht interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht vermittelt werden können, denn auch sie kann nur Aussagen über die unzureichende von ihr beforschte Unterrichtspraxis der interviewten Lehrkräfte treffen. Das Re‐ sultat erlaubt keine Aussage dazu, ob bei geeigneten Aufgaben nicht doch in besonderer Weise interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Geographieun‐ terricht vermittelt werden können (vgl. Müller & Falk 2014: 125). Wenn geklärt werden soll, ob die Vermittlung interkultureller Kompetenzen der sachfachliche Mehrwert des bilingualen Geographieunterrichts sein kann, dann sind auf der Basis eines zeitgemäßen Kulturbegriffs unter Berücksichti‐ gung didaktisch-theoretischer und schulisch-praktischer Aspekte Aufgaben zu entwickeln, die in einem Unterrichtsforschungsprojekt erprobt und evaluiert werden. Dabei ist zu klären, ob den Lernenden durch die Verwendung der Fremdsprache besonderer interkultureller Kompetenzerwerb ermöglicht wird. Die Lernenden könnten beispielsweise durch die Nutzung der Fremdsprache Zugang zu authentischen Texten (im weiteren Sinne) und zu anderskulturellen Personen und Perspektiven erhalten. Aufgaben und Inhalte des interkulturellen Kompetenzerwerbs, die im deutschsprachigen und im bilingualen Geographie‐ unterricht in ähnlicher Weise erarbeitet werden können, stellen letztlich keinen fachlichen Mehrwert dar (vgl. Meyer 2003a: 37-39). Die Ermöglichung von in‐ terkulturellem Lernen wegen der Nutzung der Fremdsprache macht den sach‐ fachlichen Mehrwert des bilingualen im Geographieunterricht aus (vgl. Müller & Falk 2014: 125). 3.5 Resümee und Bezug zur vorliegenden Untersuchung In diesem Kapitel wurde zunächst die Entwicklung des bilingualen Unterrichts im Überblick dargestellt, um seine derzeitige Ausgestaltung und vorhandene Lücken in seiner theoretischen Fundierung nachzuvollziehen. Es ist empirisch belegt, dass die Fremdsprachenkompetenzen der Lernenden, die unter den der‐ 90 3. Bilingualer Unterricht <?page no="91"?> zeit üblichen Bedingungen bilinguale Züge durchlaufen (zusätzlicher Fremd‐ sprachenunterricht, keine Umwidmung von Fremdsprachenunterricht zu bilin‐ gualem Unterricht; bilingualer Unterricht als Additum zum Fremdsprachenunterricht), besonders profitieren (vgl. Nold et al. 2008: 457). Nach wie vor ist allerdings nicht geklärt, ob es für die besonders ausgeprägten Fremdsprachenkompetenzen der Lernenden aus bilingualen Zügen eine andere Begründung gibt, als die schlichte Tatsache, dass insgesamt mehr Sprachkon‐ taktzeit - auch durch den zusätzlichen Fremdsprachenunterricht - zur Verfü‐ gung steht (vgl. Heine 2013: 217; vgl. Rumlich 2017: 126). Umgekehrt konnte für die Geographiekompetenzen bislang kein Mehrwert empirisch belegt, bzw. sachfachlicher Kompetenzverlust ausgeschlossen werden. Golays Aussage, dass im bilingualen Unterricht die gleichen Geographiekompetenzen in der gleichen Zeit wie im muttersprachlichen vermittelt werden können, erscheint aufgrund der im Kapitel dargestellten Unsicherheiten nicht ausreichend fundiert. Das Design der Studie von Passon (2007) und Vollmer (2006, 2007, 2012) erschiene schlüssig, wenn ergänzend der Umfang des Zusatzunterrichts für das bilinguale Sachfach Geographie erhoben wäre und sicher gestellt wäre, dass Aufgaben aus allen drei Anforderungsbereichen (Reproduktion; Reorganisation und Transfer; Reflexion und Problemlösung) (vgl. DGfG 2014: 31) in den Geographiekompe‐ tenztest einbezogen werden könnten. Die Alternative, den bilingualen Unterricht gegenüber den Sachfachdidak‐ tiken durch a) durch eine vertiefte kognitive Verarbeitung von Sachfachinhalten durch die Nutzung einer unvollständig beherrschten Fremdsprache (vgl. Heine 2010: 160 f.) oder b) durch die besondere Explikation von Operatoren und Ar‐ beitsformen zu begründen (vgl. Vollmer 2000a: 63), greift nicht, da a) hinsichtlich der vertieften Verarbeitung durch die Nutzung einer unvollständig beherrschten Fremdsprache unklar verbleibt, in welcher Relation hier Kosten und Nutzen für die Sachfachkompetenzen stehen und b) Explikationen auch im deutschspra‐ chigen Geographieunterricht erfolgen können, also kein besonderes Merkmal des bilingualen Unterrichts sind. Damit verbleibt derzeit nur die Rechtfertigung des bilingualen Unterrichts durch die bildungstheoretische Argumentation, die den Einsatz der Unterrichts‐ form über die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gesellschaft begründet. Die Perspektiven der einzelnen Fachdidaktiken sind demgegenüber nachrangig. Als bildungstheoretisch legitimierte Kompetenzen des bilingualen Unterrichts werden a) verbesserte Fremdsprachenkompetenzen (vgl. Zydatiß 2002: 34 f.) und b) interkulturelle Kompetenzen (vgl. Breidbach 2000: 181, 183) vorgeschlagen: a) Über die bildungstheoretische Argumentation des Bedarfs an allgemeinsprach‐ licher und fachsprachlicher Fremdsprachenkompetenz der Schülerinnen und 91 3.5 Resümee und Bezug zur vorliegenden Untersuchung <?page no="92"?> Schüler kann die Forderung nach bilingualem Unterricht bereits heute schon schlüssig begründet und auch in der Geographiedidaktik der Nutzen einer interna‐ tionalen Fremdsprachenfertigkeit herausgearbeitet werden: Geographie-Lehrkräfte und -Dozierende bemerken auf Klassenfahrten und Exkursionen im fremdspra‐ chigen Raum sehr bald, dass die Lernenden bei der Aufgabenbearbeitung vor Ort andere als die üblichen geographischen und fremdsprachlichen Kompetenzen be‐ nötigen. Für die Arbeiten an komplexen Aufgaben brauchen sie ‚internationale fachliche Kommunikationskompetenzen‘ (fremdsprachliche Fachsprachenkompe‐ tenzen und interkulturelle kommunikative Kompetenzen), um beispielsweise bei Interviews fachlich korrekt und interkulturell angemessen interagieren zu können. Solche Aufgaben sind zentral für die geographischen Kompetenzen und aus meiner Sicht unterschätzt. Sie zielen auf das zentrale Ziel der Geographie ab, die Entwick‐ lung raumbezogener Handlungskompetenz, allerdings - und das ist neu - auf in‐ ternationaler Ebene (vgl. Köck 1999, Köck 2011, DGfG 2014: 5). In einer sich globa‐ lisierenden Welt (vgl. Schamp 2008; Neiberger 2010) werden fachsprachige Fremdsprachenkompetenzen und interkulturelle Kompetenzen zunehmend an Be‐ deutung gewinnen. Geographieunterricht kann sich nicht mehr nur ausschließlich in deutschsprachigen Diskursen bewegen. Würde die Geographie fremdsprach‐ liche und interkulturelle Kompetenzen nicht vermitteln, dann verfehlte sie nicht nur ihren Bildungsauftrag den Lernenden gegenüber, sondern schädigte sich selbst, indem die Möglichkeiten des bereichernden fachlichen Austauschs und Außenkon‐ takts verringert würden. Am Ende dieser zu führenden Diskussion könnte die For‐ derung stehen, die Bildungsstandards der Geographie um fachlich-fremdsprachige Kompetenzen zu erweitern (vgl. DGfG 2014: 22 f.; Hoffmann 2013: 340; Müller & Falk 2014: 125 f.). Nichtsdestotrotz könnten Sachfachdidaktiker den Zugriff auf ihre Unterrichtsinhalte und zu vermittelnden Kompetenzen als Bedrohung für ihr Fach empfinden. Dann kann m. E. nur über die Vermittlung interkultureller Kompe‐ tenzen argumentiert werden, die auch in der Geographiedidaktik einen bedeu‐ tenden Stellenwert besitzen (DGfG 2014: 27 f.). b) Die Begründung des bilingualen Geographieunterrichts mit seiner beson‐ deren Eignung für interkulturelles Lernen muss weiter empirisch untersucht werden. Die Studien von Meyer (2003b) und Viebrock (2007) erfassen interkul‐ turelles Lernen im bilingualen Geographieunterricht nur als je einen von vielen Aspekten ihrer Untersuchungen und beforschen dabei lediglich die vorhandene unzureichende Unterrichtspraxis. In meiner Interviewstudie mit Sekundarstu‐ fenlehrkräften zu deren Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bi‐ lingualen Unterricht untersuche ich die Stichhaltigkeit der Ergebnisse von Meyer und von Viebrock. Ferner versuche ich zu erfassen, welche Relevanz die Lehrkräfte dem interkulturellen Kompetenzerwerb zumessen. 92 3. Bilingualer Unterricht <?page no="93"?> In meinem Unterrichtsforschungsprojekt hingegen greife ich gestaltend in den Prozess ein. Hier möchte ich untersuchen, ob im bilingualen Unterricht interkulturelle Kompetenzen vermittelt werden können, wenn dies absichtsvoll mit dazu geeigneten Aufgaben erfolgt. Kriterien für die Planung und Durch‐ führung interkultureller Lernaufgaben entwickle ich in den Kapiteln 2 und 4. Für die Entscheidung über den Einsatz von Fremdsprachen im Geographieun‐ terricht (bilingualer Unterricht) ist aus geographischer Perspektive die zentrale Frage, ob aufgrund der Verwendung der Fremdsprache zusätzliche interkultu‐ relle Kompetenzen entstehen, die nicht auch im muttersprachlichen Geogra‐ phieunterricht zu erreichen wären. Möglicherweise sind diesbezüglich rezeptive und produktive Fremdsprachenkompetenzen unterschiedlich zu bewerten. Zu diesen Fragen möchte ich auf der Basis der Ergebnisse meines Unterrichtsfor‐ schungsprojekts Stellung nehmen. Bei einem Nachweis von besonderen Ef‐ fekten durch die Nutzung der Fremdsprache wäre der bilinguale Unterricht auch gegenüber der Geographiedidaktik stärker legitimiert. Der Erforschung von Aufgaben für interkulturelles Lernen durch englischsprachigen Geographieun‐ terricht widmet sich das ergebnisoffene qualitative Unterrichtsforschungspro‐ jekt im empirischen Teil dieser Arbeit. 93 3.5 Resümee und Bezug zur vorliegenden Untersuchung <?page no="94"?> 4 Aufgabenorientiertes Lernen Eine der theoretischen Grundlagen für das hier beschriebene Unterrichtsfor‐ schungsprojekt ist das aufgabenorientierte Lernen. Zusammen mit dem bilin‐ gualen Unterricht und dem interkulturellen Lernen trägt das aufgabenorien‐ tierte Lernen Kriterien zur Aufgabenplanung und -durchführung des Unterrichtforschungsprojekts bei. Dabei stellt der bilinguale Unterricht tenden‐ ziell eher den Kontext des Unterrichts dar, während das interkulturelle Lernen und das aufgabenorientierte Lernen Kriterien für die konkrete Aufgabengestal‐ tung bereitstellen. Die für diese Arbeit relevanten theoretischen Diskussionen zum interkulturellen Lernen und aufgabenorientierten Lernen werden in sepa‐ raten Kapiteln vorgestellt. Für die konkrete Aufgabenentwicklung ergibt sich jedoch eine Reihe von Überschneidungen. Grundsätze für die Aufgabengestal‐ tung werden am Ende dieses Kapitels (Kap. 4) zusammengestellt. Eine aus der Diskussion zum interkulturellen Lernen begründete Aufgabenfolge befindet sich am Ende des Kapitels zum interkulturellen Lernen (Kap. 2). In der internationalen Diskussion zum aufgabenorientierten Lernen werden bislang vornehmlich die Begriffe task-based language teaching (TBLT) bzw. task-based language learning (TBLL) verwendet. Für den deutschsprachigen Fremdsprachenunterricht führten Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2011 den Begriff task-supported language learning (TSLL) ein (vgl. Müller-Hart‐ mann & Schocker-von Ditfurth 2011). Bei dem TSLL gibt das Schulbuch Themen, Inhalte und grammatische Progression vor. Die Lehrkraft wandelt dann aller‐ dings Aufgaben so ab, dass sie den Kriterien des aufgabenorientierten Lernens entsprechen. Da mein Unterrichtsprojekt im bilingualen Unterricht und nicht im Fremdsprachenunterricht angesiedelt ist, ist es von dieser Diskussion nur am Rande betroffen. In der vorliegenden Arbeit verwende ich den offenen Begriff ‚Aufgabenorientierung‘. In diesem Kapitel setze ich mich damit auseinander, welche Impulse aus der Diskussion zur Aufgabengestaltung im aufgabenorientierten Lernen für inter‐ kulturelle Lernaufgaben im bilingualen Unterricht erfolgversprechend genutzt werden können. Das Ziel ist, Merkmale für solche Lernaufgaben ausfindig zu machen, konkrete Aufgaben zu planen und zu erproben. In aktuellen Konzep‐ tionen des bilingualen Unterrichts spielt explizite sprachliche Arbeit eine deut‐ lich geringere Rolle als im Fremdsprachenunterricht. Das Kapitel diskutiert auch, ob für den bilingualen Unterricht die Diskussion um task-Inhalte und <?page no="95"?> task-Ziele möglicherweise konsequenter inhaltlich gedacht werden kann als das im eigentlichen Fremdsprachenunterricht möglich ist. Als Leitstruktur für die folgenden Diskussionen dienen die task-Definition und task-Merkmale von Ellis 2003. Die dort genannten task-Merkmale werden unter Einbezug weiterer Au‐ torinnen und Autoren kritisch diskutiert. Task-Aspekte, die bei Ellis fehlen oder weniger ausführlich dargestellt sind, werden aus Schriften anderer Autoren er‐ gänzt. 4.1 Kennzeichen Aufgabenorientierten Lernens Aufgabenorientiertes Lernen ist ein Sprachlernansatz, der untrennbar mit dem kommunikativen Ansatz des Fremdsprachenunterrichts (communicative lang‐ uage teaching) verbunden ist (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2011: 29 f.). Nunan sieht im task-based language teaching die Umsetzung der Forderungen des kommunikativen Ansatzes auf den Ebenen von Lehrplanent‐ wicklung und Unterrichtsmethodik (vgl. Nunan 2004: 10). Den „broad philoso‐ phical approach“ des kommunikativen Ansatzes sieht er außer im task-based language teaching auch in den Ansätzen „content-based instruction (Brinton 2003), text-based syllabuses (Feez 1998), problem-based learning and immersion education ( Johnston and Swain 1997)“ umgesetzt (Nunan 2004: 10). Die Basis‐ konzepte meiner Untersuchung (Vermittlung von interkulturellen Kompe‐ tenzen, bilingualer Unterricht und die für die Geographiedidaktik charakteris‐ tische Problemorientierung) stehen demzufolge in engem Verbund mit dem task-based language teaching. 4.1.1 Aufgabenorientierung als alternatives Konzept Die Entwicklung des task-based language teaching wurde vor allem auch durch die Unzufriedenheit mit zumeist grammatikorientiertem traditionellem Fremd‐ sprachenunterricht befördert. Die traditionelle Vorgehensweisen (PPP: Presen‐ tation einer neuen Form durch die Lehrkraft; controlled Practice durch die Lerner mittels spezifisch auf die zu erlernende Form ausgerichtete exercises; vom Lerner erwartete Production und Integration der neuen Form in das aktive Sprachre‐ pertoire) führten nicht zu den erwünschten kommunikativen Kompetenzen der Lernenden. Selbst in Fällen, in denen „so-called meaning-based, ‚communica‐ tive‘ syllabuses, such as functional, situational, thematic or content syllabuses“ Anwendung fanden, erwiesen sich als „no more effective than structural sylla‐ buses in achieving satisfactory results when delivered via a presentation me‐ 95 4.1 Kennzeichen Aufgabenorientierten Lernens <?page no="96"?> thodology“ (Shehadeh 2005: 13 f.). Auch Skehan stellt fest: „Learners do not simply acquire language to which they are exposed, however carefully the ex‐ posure may be orchestrated by the teacher. It is not simply a matter of converting input into output“ (Skehan 1996: 18). Die von den Lernenden verwendeten Stra‐ tegien und ihre kognitiven Prozesse laufen häufig unabhängig vom erteilten Unterricht ab. Sprachenlernen scheint stärker von internen als von externen Faktoren gelenkt zu sein. Entsprechend kann Sprachenlernen nicht als linearer Kompetenzerwerb betrachtet werden. From research, we know that if we test a learner’s ability to use a particular gram‐ matical form several times over a period of time their accuracy rates will vary. Their mastery of the structure will not increase in a linear fashion from zero to native-like mastery. (Nunan 2004: 30). Im Gegensatz zur PPP-Vorgehensweise lässt das aufgabenorientierte Lernen die Lernenden zunächst die bisher verfügbare Fremdsprachenkompetenz inhalts‐ bezogen kommunikativ anwenden, ihre Weiterentwicklung erfolgt erst in einem späteren Schritt. Shehadeh schlägt unter Verweis auf Dave Willis (2003) vor „[…] let learners deploy whatever language they have already, and look for ways of building on that, of improving and expanding on their current language capa‐ bilities“ (Shehadeh 2005: 15). Diesen Aussagen zu Folge hängt erfolgreicher Er‐ werb kommunikativer Fremdsprachenkompetenz weniger davon ab, ob gemäß eines grammatisch-, lexikalisch- oder sprachfunktionsorientiertem Curriculum unterrichtet wird, sondern insbesondere davon, dass Lehrkräfte die Vermittlung neuer sprachlicher Formen an vorhandene Lernersprache anknüpfen, nachdem die Lernenden einen Bedarf dafür in inhaltsbezogenen und für sie relevanten Kommunikationssituationen (real-life tasks) erfahren haben. Grammatisch ori‐ entierte Curricula weisen hierbei als besondere Problematik geringe Schülerre‐ levanz und geringen Inhaltsbezug auf. Diese Aussagen bedeuteten für den Rahmen meiner Untersuchung zu Lernaufgaben für den interkulturellen Kom‐ petenzerwerb im bilingualen Unterricht: Die Relevanz der Aufgabeninhalte musste für meine Lernenden ersichtlich sein. Die Aufgaben sollten lernereigene Sprachressourcen aktivieren und sprachlich angemessen anspruchsvoll sein. Die Aufgaben sollten auch (interkulturelle) Kommunikationssituationen bein‐ halten, in denen die Lernenden ihre Kompetenzen zu geographischen Inhalten erweiterten. Das Projekt und die Aufgaben waren so anzulegen, dass die Lern‐ enden Meinungen und Bedeutungen untereinander und mit anderskulturellen Partnern aushandeln konnten. Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GER) unterstützt die Vorge‐ hensweise des aufgabenorientierten Ansatzes, vorhandene Sprachkompetenzen 96 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="97"?> zu aktivieren bevor sie um neue Elemente erweitert werden, und schlägt u. a. vor, „keine Vorausplanung der Wortschatzentwicklung, sondern [eine] organi‐ sche Entwicklung in Reaktion auf die Bedürfnisse der Lernenden bei kommu‐ nikativen Aufgaben“ zu betreiben (GER 2001: 148). Der Begriff ‚kommunikative Aufgaben‘ steht dabei als Synonym für tasks. Diese Aufgaben (im Gegensatz zu Übungen, bei denen das dekontextualisiertes Einüben von Formen im Mittelpunkt steht) haben das Ziel, die Lernenden aktiv an sinnvoller Kom‐ munikation zu beteiligen; sie sind relevant (im Hier und Jetzt der Unterrichtssituation), sind eine Herausforderung, jedoch machbar […] und führen zu erkennbaren […] Er‐ gebnissen. Aufgaben dieser Art können ‚metakognitive‘ Teilaufgaben beinhalten. […] kommunikative Aufgaben […] verlangen, Inhalte zu verstehen, auszuhandeln und auszudrücken, um ein kommunikatives Ziel zu erreichen (GER 2001: 153). Im GER, einer der wohl sprachenpolitisch prominentesten Publikationen in Eu‐ ropa, sind neben der Verwendung von tasks auch die beiden anderen Basiskon‐ zepte meiner Arbeit genannt. Der GER schlägt den Einsatz von bilingualem Un‐ terricht vor (vgl. GER 2001: 136, 167) und unterstützt die Vermittlung interkultureller Kompetenzen wegen deren günstigen Einfluss auf die „Ent‐ wicklung der gesamten Persönlichkeit des Lernenden und seines Identitätsge‐ fühls“; er sieht im interkulturellen Ansatz „ein zentrales Ziel fremdsprachlicher Bildung“ (GER 2001: 14). Das im GER verwendete Kompetenzstrukturmodell lehnt sich an Michael Byrams Model of Intercultural Communicative Competences an (Byram 1997), welches auch der vorliegenden Studie zu Grunde liegt (vgl. Kap. 2). Es geht im GER um die Entwicklung der allgemeinen Kompetenzen der Lernenden […] in Bezug auf das deklarative Wissen (savoir), die prozeduralen Fertigkeiten (savoir-faire), die Persön‐ lichkeitsmerkmale, Einstellungen usw. (savoir-être) oder die Lernfähigkeit [savoir-ap‐ prendre] (GER 2001: 135). Die von Nunan 2004 beschriebene Verbindung zwischen tasks, interkulturellen Kompetenzen und die mögliche Verknüpfung zum bilingualen Unterricht zeigt sich auch im GER. 4.1.2 Die Einheit von Ziel und Methode im aufgabenorientierten Lernen Aufgabenorientiertes Lernen ist gekennzeichnet durch die Einheit von philo‐ sophisch begründeter Zielausrichtung und methodischem Vorgehen, daher wäre die Bezeichnung ‚Unterrichtsmethode‘ für task-based language learning 97 4.1 Kennzeichen Aufgabenorientierten Lernens <?page no="98"?> nicht ausreichend umfassend. Nunans (2004) Vorschlag, die Kommunikation in das Zentrum von Curriculumsentwicklung zu stellen, erklärt anschaulich das Verschmelzen von Zielausrichtung und Methode, und warum das Eine nicht ohne das Andere erreicht werden kann. Nunan schreibt, […] when we place communication at the centre of the curriculum the goal of that curriculum (individuals who are capable of communicating in the target language) and the means (classroom procedures to develop this capability) begin to merge: learners learn to communicate by communicating. The ends and the means become one and the same (Nunan 2004: 8). Van den Branden bestätigt diese Aussage: From a task-based perspective then, people not only learn language in order to make functional use of it, but also by making functional use of it […] the traditional dis‐ tinction between syllabus, i.e. what is taught, and methodology, i.e. how to teach, is blurred in TBLT […] (van den Branden 2006: 6). In gleicher Weise arbeiten Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth (2006a) mit dem Begriff ‚Aufgaben bewältigen‘. Das Bewältigen von Aufgaben ist ei‐ nerseits Ziel- und andererseits Prozessdimension des Fremdsprachenunter‐ richts. „[D]ie Bewältigung vielfältiger Aufgaben in interkulturellen Begeg‐ nungssituationen ist das bildungspolitisch gewünschte Ziel des Fremdsprachenunterrichts, mittels Aufgaben werden fremdsprachlich Lernpro‐ zesse gesteuert […]“. Aufgabenbewältigung wird damit zum „Weg und Ziel des Fremdsprachenunterrichts“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 2). Mit der Festlegung auf interkulturelle kommunikative Kompetenz als das oberste Richtziel des Fremdsprachenunterrichts erfolgt eine Präzisierung der angestrebten Kompetenzbereiche und Einzelkompetenzen (vgl. Byram 1997). Mit der Wahl von interkultureller kommunikativer Kompetenz als Richtziel für das task-based language learning unterstreichen Müller-Hartmann und Scho‐ cker-von Ditfurth, dass task-based language learning nicht nur eine „strong ver‐ sion of communicative language teaching“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2011: 30) ist, sondern dass ausdrücklich auch die interkulturellen Kom‐ petenzbereiche Wissen, Fertigkeiten, Einstellungen und critical cultural aware‐ ness (vgl. Byram 1997) verstärkt Berücksichtigung finden. Die Weiterentwick‐ lung des communicative language teaching zum task-based language learning geht einher mit der Erweiterung der Kompetenzbereiche. Tasks stellen den Lernenden auf dem Weg zu interkulturellen kommunika‐ tiven Kompetenzen geeignete Lernmöglichkeiten bereit. Der Erwerb von inter‐ kulturellen kommunikativen Kompetenzen bedeutet in Ziel und Methode die 98 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="99"?> Teilhabe an kulturellen Diskursen. Diese Position findet sich auch bei Hallet, der zum aufgabenorientierten Lernen schreibt: „Oberstes Ziel des Erlernens einer Fremdsprache ist demnach die Fähigkeit, an den vielfältigen fremdspra‐ chigen Diskursen in verschiedenen kulturellen Kontexten teilzuhaben“ (Hallet 2006: 75). Er folgert daraus, „dass die Lernarrangements, die Aufgaben und die fremdsprachlichen Diskurse so angelegt sein müssen, dass sie die zur Partizi‐ pation an gesellschaftlichen Diskursen erforderlichen Fähigkeiten entwickeln“ (Hallet 2006: 76). In der Schule wird der Großteil derartiger Diskurse in den Unterrichtsfächern Politik, Wirtschaft, Geschichte und Geographie geführt. Soll eine fremdsprachige Diskurskompetenz entwickelt werden, ist der bilinguale Unterricht der richtige Ort und die passende Unterrichtsform für die Vermitt‐ lung dieser Kompetenzen. 4.1.3 Forschungsansätze in der Aufgabenforschung Im Rahmen dieser Studie wird der Einsatz von tasks zum Erwerb interkultureller Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht im Unterricht zweier Real‐ schulklassen untersucht. Das Forschungsprojekt begreift tasks als „the basic units for the organization of educational activities in intact language class‐ rooms“ (van den Branden 2006: 1), es untersucht also den Einsatz von tasks im ‚normalen‘ von vielerlei Faktoren beeinflussten Unterricht und folgt dement‐ sprechend einem soziokulturellen Forschungsansatz. Ein anderer Forschungs‐ ansatz wäre die psycholinguistische task-Forschung, die tasks unter möglichst kontrollierten und kontextreduzierten Bedingungen untersucht. Im vorlie‐ genden Unterrichtsforschungsprojekt werden Aufgaben erforscht, die durch komplexe task-Zyklen gekennzeichnet sind, die sich teilweise über mehrere Tage erstrecken und von den Lernenden praktische interkulturelle Kommuni‐ kation einfordern. In einem laborähnlichen Setting hätten diese Aufgaben nicht angemessen untersucht werden können. Daher wäre ein psycholinguistischer Forschungsansatz der Fragestellung nicht gerecht geworden. Unterrichtsfor‐ schung erlaubt ferner Einsichten in das Lehrerverhalten der forschenden Lehr‐ kraft (vgl. Schart 2008: 42) und in die Differenzen zwischen task-as-workplan im Vergleich zu task-in-process (vgl. Breen 1987). In der Dokumentation zur Frühjahrskonferenz der ‚Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung‘ (DGFF) 2006 ist der Bedarf an Unterrichtsfor‐ schung vielfach beschrieben. Legutke notiert hierzu: Trotz der großen Produktivität der Lernaufgabenforschung wird in der Literatur durchgängig bedauert, dass es an überzeugenden empirischen Studien fehlt, die sich 99 4.1 Kennzeichen Aufgabenorientierten Lernens <?page no="100"?> wirklich auf die Komplexität der Lehr- und Lernsituation im Klassenzimmer einlassen. Umfangsreiche Forderungskataloge liegen vor, was zu tun sei (Legutke 2006: 144). Er bezieht sich dabei auf Ellis 2003: 199-202 und Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2005: 43-46. Auf die besonderen Herausforderungen von Forschung im Klassenzimmer gehe ich bei der Diskussion der Forschungsmethoden im Kapitel zur Unterrichtsforschung ein (Kap. 7). Nach diesen einführenden Reflexionen werden im Folgenden Merkmale des aufgabenorientierten Lernens vorgestellt und deren Bedeutung im Kontext des bilingualen Unterrichts diskutiert. 4.1.4 Definitionen zu task Es gibt nicht die eine Definition von task. Die Diskussion, was den aufgaben‐ orientierten Ansatz von anderen Möglichkeiten des Sprachenlernens unter‐ scheidet und auszeichnet, ist nach wie vor in vollem Gange: „the sheer volume of definitions, redefinitions and counterdefinitions […] must come as something of a surprise to colleagues working in other areas“ (Bygate & Samuda 2008: 62). Willis und Willis sehen das ähnlich: „if you ask the question ‚What is a task? ‘ in the context of language teaching, you will get different answers from different researchers and practitioners“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 12). Ellis (2003: 4 f.) sowie Bygate und Samuda (2008: 62 f.) haben die Diskussion um task-Definiti‐ onen aufgearbeitet, und sich intensiv mit Definitionen anderer Wissenschaft‐ lerinnen und Wissenschaftlern und dahinterstehenden Konzepten auseinander gesetzt. Ellis kritisiert, dass es nicht nur inhaltliche Unterschiede zu den Vor‐ stellungen von tasks gibt, sondern dass auch die Fachterminologie nicht ein‐ heitlich verwendet wird. (vgl. Ellis 2003: 2). Nach der Auseinandersetzung mit task-Definitionen und darin enthaltenen task-Merkmalen der Autoren Breen, Long, Prabhu, Nunan, Skehan und einigen weiteren notiert Ellis, dass tasks, die mittels Kommunikation im Klassenzimmer zu kommunikativen Kompetenzen der Lerner führen sollen, durch folgende Merkmale gekennzeichnet sind. 1. A task is a workplan […] 2. A task involves primary focus on meaning. […] 3. A task involves real-world processes of language use. […] 4. A task can involve any of the four language skills. […] 5. A task engages cognitive processes. […] 6. A task has a clearly defined communicative outcome (Ellis 2003: 9 f.). In seiner eigenen task-Definition verknüpft Ellis die aufgelisteten Dimensionen in folgender Weise: 100 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="101"?> A task is a workplan [1] that requires learners to process language pragmatically in order to achieve an outcome that can be evaluated in terms of whether the correct or appropriate propositional content has been conveyed [6]. To this end, it requires them to give primary attention to meaning [2] and to make use of their own linguistic resources [7], although the design of the task may predispose them to choose partic‐ ular forms. A task is intended to result in language use that bears resemblance, direct or indirect, to the way language is used in the real world [3]. Like other language activities, a task can engage productive or receptive skills, and oral or written skills [4], and also various cognitive processes [5] (Ellis 2003: 16). In seiner Definition ergänzt Ellis als siebtes Merkmal die zuvor nicht genannte, von Willis, D. 2003 und Shehadeh 2005 aber als besonders wichtig angesehene Verwendung der lernereigenen linguistic resources [7]. Tasks werden in der Fachdiskussion exercises gegenübergestellt. Letztere sind sprachbezogene Übungen, die nicht den kommunikativen Anforderungen einer task genügen und bei denen Lernende sprachliche Formen benutzen, die sie gerade erst gelernt haben oder deren Benutzung ihnen die Lehrkraft vorschreibt (PPP-Vorgehensweise). In solchen exercises geht es nicht darum, Meinungen und Bedeutungen auszuhandeln und auszutauschen (vgl. Willis, Jane 2005: 4). Ellis führt zu seiner Definition aus, dass sowohl tasks als auch exercises durch einen workplan [1] angeleitet werden, unterschiedliche sprachliche Fertigkeiten her‐ ausfordern [4] und beschreibbare kognitive Prozesse ansprechen [5]. Deswegen seien diese drei Punkte zwar wichtig für die allgemeine Beschreibung von tasks und exercises, eigneten sich jedoch nicht zu deren Abgrenzung voneinander. Die anderen Punkte, also der focus on meaning [2], die Verwendung der den lern‐ ereigenen linguistic resources [7], die Verwendung von Sprache, wie sie in der realen Welt vorkommt [3] und die Frage, ob die Lernenden ein inhaltlich defi‐ niertes Arbeitsergebnis kommunizieren konnten [6], machen für ihn im engeren Sinne die Besonderheit von tasks aus (vgl. Ellis 2003: 16). 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren In den folgenden Abschnitten setze ich mich mit Merkmalen und Definitionen von tasks auseinander. Dabei entwickle und begründe ich einen task-Begriff, wie er einerseits aus Publikationen abgeleitet und andererseits in meiner Unter‐ richtsforschung angewendet werden kann. 101 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="102"?> 4.2.1 Workplan - Struktur von Aufgaben Ellis formuliert bei seiner Definition, dass eine task ein ‚workplan‘ sei (Ellis 2003: 9), er legt damit einen Schwerpunkt auf die task-Planung. Die meisten anderen Autoren wie beispielweise Willis, Bygate und Samuda, van den Branden und Skehan sehen in der task zuerst eine Unterrichtsaktivität. Cameron (2001: 35) schreibt: „A task is an environment in which learning can occur“. Betont wird in den Definitionen also der Aspekt des Unterrichtsprozesses, im Unterschied zu Ellis’ Auffassung von task als Aufgabenplanung. Bygate und Samuda gehen in ihren Vorüberlegungen zu ihrer task-Definition darauf ein, dass der gewählte Begriff activity beide Dimensionen enthalten muss: sowohl Aufgabenplanung, als auch die Durchführung und Aufgabeninterpretation durch die Lernenden und die Lehrkräfte (vgl. Bygate & Samuda 2008: 66). Beide Aspekte, Planung und Lernaktivität, sind in der Aufgabenorientierung untrennbar aufeinander be‐ zogen und konstituieren die task. 4.2.1.1 Zum Verhältnis von ‚task-as-workplan‘ und ‚task-in-process‘ Geplante tasks weichen häufig von real durchgeführten tasks ab. „[…] tasks on paper and tasks in real classrooms may differ from each other in an astonishing number of ways“ (Van den Branden, van Gorp, Verhelst, Kris 2007: 3). Die Er‐ forschung von Gründen dafür ist ein zentrales Ziel von task-Unterrichtsfor‐ schungsprojekten. Für mein zweizyklisches Unterrichtsforschungsprojekt ist die Ergründung möglicher Differenzen zwischen intendierter Aufgabestellung (task-as-workplan) und tatsächlicher Aufgabenausführung (task-in-process) für die Aufgabenanalyse und -optimierung von hoher Bedeutung. Aufgabenstel‐ lungen der Lehrkraft werden von den Lernenden immer interpretiert. Aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen und Vorkenntnisse von Lernenden und Lehr‐ kräften ist diese Interpretation selten exakt identisch mit der intendierten Auf‐ gabenstellung. Grobe Abweichungen sind zwar durch genaue Aufgabenpla‐ nung, gute Kenntnis der Lernenden und Empathie weitgehend vermeidbar, können aber dennoch auftreten. In diesem mehrzyklischen Unterrichtsfor‐ schungsprojekt gab es die Möglichkeit, zweifach die Aufgabenstellungen zu präzisieren, und somit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sie wie inten‐ diert verstanden werden. Im Forschungsprojekt unterrichtete ich selbst, d. h. die Aufgaben waren nur der Interpretation durch die Lernenden ausgesetzt. Wenn andere bilinguale Geographielehrkräfte die Aufgaben erprobt hätten, dann wären sie zweifach interpretiert worden, zunächst durch die Lehrkräfte und anschließend durch deren Lernende. Es wäre also zu zwei aufeinander aufbau‐ enden Interpretationen gekommen, und damit zu einer höheren Wahrschein‐ lichkeit von Abweichungen zur ursprünglichen Intention. 102 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="103"?> 4.2.1.2 Binnenstruktur von tasks Die Struktur von tasks wurde in der Forschung bereits mehrfach diskutiert. Als eines von acht „general features of tasks“ beschreiben Bygate und Samuda, dass tasks aus mehreren unterschiedlichen Phasen bestehen (vgl. Bygate & Samuda 2008: 16). Nunan bezieht in seine Definition Hinweise zur Struktur ein. Demnach besteht eine task aus den Phasen „a beginning, a middle and an end“, die der task als geplante Unterrichtsaktivität Geschlossenheit („completeness“) verleiht, damit sie als „a communicative act in its own right“ für sich stehen kann (vgl. Nunan 2004: 4). Den wohl bekanntesten Strukturierungsvorschlag im Feld der Aufgabenori‐ entierung stellt Jane Willis (1996) mit ihrem TBL framework vor. Willis betont, dass das framework flexibel zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Lernenden anzuwenden sei, empfiehlt aber grundsätzlich folgende Struktur (vgl. Willis, J. 1996: 41). Der task-Rahmen (TBL framework) besteht aus drei Hauptabschnitten: Der erste Hauptabschnitt, die pretask, führt die a) Lernenden in das Thema ein (introduction), b) aktiviert den relevanten Wortschatz (activating) und erklärt für alle Lernenden in verständlicher Weise, was in der folgenden task zu tun ist (instruction). Der zweite Hauptabschnitt, Willis nennt ihn task cycle, ist wie‐ derum in drei Teile gegliedert. a) Die Lernenden führen die eigentliche task durch (task), b) sie planen die Ergebnispräsentation (planning) und c) sie prä‐ sentieren ihre Arbeit (report). Der dritte Hauptabschnitt, der language focus, be‐ steht aus zwei Teilen. a) Zunächst reflektieren die Lernenden im Abschnitt analysis, welche sprachlichen Formen sie während des task cycles genutzt haben oder benötigt hätten (vgl. Willis, J. 1996: 102). b) In der folgenden practice-Phase werden sprachliche Aspekte konsolidiert und wiederholt (vgl. Willis, J. 1996: 110). Willis bettet damit die task im engeren Sinne zunächst in den task cycle und dann noch in das TBL framework ein. Die Hinführung zur task, die task Präsentation und die task Reflexion trennt sie von der task im engeren Sinne. Dieses Vorgehen schärft den Blick für den Zweck der einzelnen Phasen. Die in der Fachdiskussion angeführten task-Beispiele (z. B. Samuda & Bygate 2008: „Things in Pockets“ oder Van Avermaet, van den Branden et al. 2006: 178 „A brochure from Palindria“) fassen allerdings eine task in der Regel als das auf, was Jane Willis mit TBL framework bezeichnet. In der gleichen Weise wie Sa‐ muda & Bygate sowie Van Avermat nutze auch ich in meiner Studie den Begriff task. Eine task besteht bei mir in der Regel aus fünf Aufgabenphasen bzw. Auf‐ gabenschritten (siehe S. 58). 103 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="104"?> 4.2.1.3 Makrostruktur: Die Bedeutung von Szenarios bzw. task-Folgen Neben der Binnenstruktur von tasks, in meiner Studie sind das die Aufgaben‐ schritte A bis E, gilt es, insbesondere im Kontext des bilingualen Unterrichts, auch Stunden- und task-übergreifende Strukturen zu beachten. Tasks sollten i. d. R. nicht isoliert für sich stehen und damit beziehungslos aneinandergereiht werden, sondern im Sinne einer Makrostruktur in inhaltlicher Beziehung zuei‐ nander stehen und dadurch gemeinsam größere Einheiten bilden. „Eine zentrale Rolle wird m. E. das Konstrukt eines Szenarios spielen, das bereits im Zusam‐ menhang mit der Projektdidaktik entwickelt wurde“ (Legutke & Thomas 1991 zit. in Legutke 2008: 144). Legutke definiert Szenarien als Ensembles von Aufgaben, die einer Abfolge kommunikativer Handlungen und Lern‐ eraktivitäten, die zum Teil erwartet und daher planbar, zum Teil spontan sind, Kohä‐ renz dadurch verleihen, dass allen Beteiligten ihr Sinn klar wird (Legutke 2008: 144). Legutke schlägt für den Fremdsprachenunterricht u. a. vor, sprachfokussierende Phasen in Szenarien zu integrieren, so wie das auch bei Jane Willis (1996) zu finden ist. Szenarien erlauben es, die für den gesteuerten Fremdsprachenerwerb notwendige isolierte Behandlung und das isolierte Üben von Sprachintentionen, von einzelnen, sprachlichen, sozialen sowie organisatorischen Fertigkeiten zu einem Ganzen zusam‐ menzuführen (Legutke 2008: 145). Van Avermaet, van den Branden u. a. (2006: 178) stellen z. B. ein Unterrichtsbei‐ spiel vor, in dem die beiden tasks „read a tourist brochure […] in order to find out whether the island would be a nice place for children to visit“ und „write a tourist brochure about [your] own country“ nacheinander folgen und aufein‐ ander bezogen sind. Solche task-Verknüpfungen von im Prinzip eigenständigen tasks befürwortet auch Christ, denn ein „beliebiges Hüpfen von Aufgabe zu Aufgabe muss ausgeschlossen werden […]“ (Christ 2006: 49). Christ plädiert für geplante task-Folgen und eine Einbindung in ein Curriculum. In meiner Untersuchung ist eine task eine geplante und in mehrere Phasen gegliederte Unterrichtsaktivität, die einerseits soweit in sich geschlossen ist, dass sie für sich selbst stehen könnte, andererseits jedoch in einem auch für die Lernenden offensichtlichen Bedeutungszusammenhang mit anderen Aufgaben steht, und damit Teil einer größeren unterrichtlichen Einheit, einer task-Folge bzw. eines Szenarios ist. Für tasks für den bilingualen (Geographie-)Unterricht ist letzteres Merkmal (Makrostruktur) von besonderer Bedeutung, da im Geo‐ graphieunterricht in mehrstündigen Themeneinheiten unterrichtet wird. 104 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="105"?> 4.2.2. Focus on meaning - zum Verhältnis von Sprache und Inhalt Die Diskussion zum Verhältnis von Sprache und Inhalten ist in meiner Unter‐ suchung von besonderer Relevanz. Im Kontext des ‚French immersion teaching‘ wurde es in Kanada ausgiebig diskutiert (vgl. Lightbown 1989; Genesee 1994; Swain & Lapkin 1982). Im bilingualen Unterricht in Deutschland erfuhr es bis‐ lang wenig Aufmerksamkeit, weil hier in der Regel ausschließlich der Fremd‐ sprachenunterricht den focus on form leistet. Bilingualer Unterricht ist in Deutschland weitgehend inhaltlich ausgerichtet - der focus on meaning kann als kennzeichnend angesehen werden. Auch für das aufgabenorientierte Lernen gilt der focus on meaning als eines der Schlüsselmerkmale. Er stellt einen der vier Kernkriterien dar, die Ellis zur Abgrenzung zwischen exercises und tasks nutzt. „The key criterion is […] the need for a primary focus on meaning“ (Ellis 2003: 16). Willis hebt hervor, dass das Ziel aufgabenorientierten Lernens inhaltliche Aushandlungen seien („the emphasis is on exchanging meanings not producing specific language forms“ Willis, J. 1996: 36). Die Lernenden bedienen sich der Fremdsprache, um Bedeu‐ tungen auszuhandeln „in order to achieve some non-linguistic outcome […]“ (Bygate & Samuda 2008: 69). Inhalte stehen somit im Fokus der task-Bearbeitung. Die Inhalte verleihen den tasks in den Augen der Lernenden Sinnhaftigkeit, sie motivieren durch lebensweltlichen Bezug sowie kognitiven Anspruch, fördern die internationale Diskursfähigkeit und ermöglichen den Lernenden damit die Teilhabe an relevanten Diskursen. 4.2.2.1 Meaning - Inhalte - Diskurse Hallet (2006) betont die übergeordnete Bedeutung der Teilhabe an Diskursen. Die Ausbildung der Lernenden zu „kulturellen Aktanten“, die an „realen gesell‐ schaftlichen Prozessen partizipieren“ (Hallet 2006: 77), und damit auch zuneh‐ mend zu autonomen Lernenden und Persönlichkeiten werden, erachtet er als übergeordnetes Richtziel. Didaktisch gesehen integrieren tasks also personale, interaktionale und diskursive Kompetenzen; zu ihrer Bearbeitung sind grundsätzlich Kompetenzbündel und nicht, wie in reduktiven Aufgabenformen, lediglich einzelne, zu Übungs- oder sonstigen Zwe‐ cken künstlich isolierte Fähigkeiten und Fertigkeiten erforderlich (Hallet 2006: 80). Die Auswahl der task-Inhalte erhält damit eine zentrale Bedeutung, da sie die Diskurse bestimmt, zu denen die Lernenden befähigt werden. Die zu erlern‐ enden sprachlichen Funktionen richten sich also primär nach der didaktisch begründeten Auswahl des Diskurses und nicht umgekehrt. Ein Negativbeispiel hierfür wäre, dass eine Lehrkraft mit den Schülerinnen und Schülern deren Fe‐ 105 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="106"?> rienplanung bespricht, nur weil sie das going-to future einführen will. Hallet nennt als erstes von sechs task-Merkmalen die topicality. Eine task hat eine Fragestellung oder eine Problemlage zum Gegenstand, die auch in der Lebenswelt und Gesellschaft als relevant betrachtet und verhandelt wird. Diese thematische Orientierung (vgl. Legutke &Thomas 1991: 49 f.) ist (aus der Perspektive der Vermittlung) die eigentliche Legitimation und (aus der Sicht der Lernenden) die Motivation für die Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstand. Relevanz und Bedeutsamkeit ausgewählter Texte, Materialien und Medien ergeben sich im Wesent‐ lichen aus ihrer inhaltlich-thematischen Dimension (Hallet 2006: 79f.). Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth schreiben zur Frage welche Inhalte der focus on meaning bei tasks im Fremdsprachenunterricht thematisieren sollte: „Gute Lernaufgaben orientieren sich an lebensweltlichen Fragestellungen, knüpfen an die lebensweltlichen Diskurse der Kinder an, sind damit kontextu‐ alisiert (focus on meaning)“ (Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2008). Die lebensweltliche Orientierung verleiht den tasks Bedeutsamkeit in den Augen der Lernenden, sie aktiviert und integriert das Vorwissen der Lernenden in die Auf‐ gabenbearbeitung und motiviert damit zu inhaltlicher Auseinandersetzung sowie zur Annahme sprachlicher Herausforderungen. Neben der wichtigen Forderung nach Lernerorientierung ist bei der The‐ menauswahl auch die von Hallet eingebrachte gesellschaftliche Relevanz der Themen zu berücksichtigen. Geographiecurricula, auf denen bilingualer Geo‐ graphieunterricht basiert, nehmen für sich in Anspruch, gesellschaftlich rele‐ vante Kompetenzen und Inhalte zu vermitteln. Die in diesem Forschungsprojekt verwendeten Aufgaben integrieren lernerindividuelle lebensweltliche Erfah‐ rung mit gesellschaftlicher Relevanz. Die Ausgangsbasis ist dabei die relevante Kompetenz, die zur Diskursteilhabe befähigt. Erst die Aufgabenstellung schafft dann Bezüge zur lernerindividuellen lebensweltlichen Vorerfahrung. Bei dem Thema „Lebensraum Stadt“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016: 22) können beispielsweise eigenkulturelle Erfah‐ rungen mit der Infrastruktur und den Daseinsgrundfunktionen am Wohnort einbezogen werden. Als wichtige Merkmale der im Rahmen dieses Projektes erprobten Aufgaben sind die gesellschaftliche Relevanz der Themen und der mittels tasks erstellte Bezug der Lernenden zu diesen Themen festzuhalten. 4.2.2.2 Erst Bedarf für Sprache erfahren, dann focus on form Welche Aussagen gibt es in der Fachliteratur ergänzend zur o. g. primär inhalt‐ lichen Orientierung, zur sprachlichen Arbeit und zu einem focus on form? Welche Relevanz haben diese Konzepte für tasks im bilingualen Unterricht? By‐ 106 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="107"?> gate und Samuda stellen in ihrer task-Definition als übergeordnetes Ziel heraus: „A task is a holistic activity […] with the overall aim of promoting language learning through process or product or both“ (Bygate & Samuda 2008: 69). Wann findet das intendierte Sprachenlernen statt? Lässt sich der didaktische Ort für einen focus on form näher bestimmen? Jane Willis (1996) sieht diesen Ort in einer Reflexionsphase nach der task im engeren Sinne. In diesem nachgestellten lang‐ uage focus wird die verwendete bzw. für die task benötigte Sprache reflektiert. Dadurch erfahren die Lerner zunächst in einer Kommunikationssituation einen Bedarf für eine sprachliche Form, bevor anschließend der language focus erfolgt. Somit wird die sprachliche Arbeit immer vorbereitet durch einerseits den er‐ fahrenen Bedarf und andererseits die Aktivierung der lernereigenen Sprach‐ kompetenzen (Interimssprache). Tasks unterscheiden sich von exercises nicht dadurch, dass exercises Grammatik beinhalten und tasks nicht, sondern (u. a.) dadurch, dass in exercises sprachliche Formen (Grammatik, Sprachfunktionen, Lexik) vorangestellt unterrichtet werden, während in tasks die Lerner zunächst einen Bedarf an sprachlichen Formen für bestimmte Kommunikationssituati‐ onen erfahren, den die Lehrkraft dann durch geplante oder spontane Sprach‐ hilfen unterstützt. Es erfolgt ein „focus on form when learners notice a ‚hole‘ or gap in their interlanguage“ (Shehadeh 2005: 17). Ellis bestätigt diese Aussage zur Abgrenzung von tasks zu exercises: „There is a fundamental difference between ‚task‘ and ‚exercise‘ according to whether linguistic skills are viewed as deve‐ loping through communicative activity (task) or as a prerequisite for engaging in it (exercise)“ (Ellis 2003: 3). Müller-Hartmann und Schocker-v. Dithfurth be‐ tonen hierbei die Abfolge. Gute Lernaufgaben ermöglichen es den Lernern, ihre Aufmerksamkeit der Sprache zuzuwenden, nachdem sie sich mit dieser zunächst inhaltlich beschäftigen (focus on form follows focus on meaning) (Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2008; vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2013: 45). Im Idealfall nutzt die Lehrkraft die von den Lernenden erstellten sprachlichen Produkte für das sprachliche Lernen. Die Lehrkraft evaluiert sprachliche As‐ pekte dieser Texte (im weiteren Sinne) und korrigiert sie individuell oder grup‐ penbezogen. Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth schlagen vor, „hete‐ rogene Lernertexte als Basis der individuellen Sprachentwicklung [zu] nehmen“ (Müller-Hartmann & Schockervon Ditfurth 2006: 6). Dieser nachgestellte focus on form lässt sich tendenziell leichter bei weniger umfangreichen tasks reali‐ sieren. Insbesondere wenn tasks miteinander zu einer größeren Einheit ver‐ knüpft sind, beispielsweise zu einem Szenario oder Projekt, kann es erforderlich sein, dass der angemessene Ort für einen focus on form nicht erst das Ende des 107 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="108"?> Gesamtprojekts ist, sondern dass sprachliche Arbeit zwischen inhaltlich ausge‐ richteten tasks erfolgen muss, um weiteres inhaltliches Arbeiten zu gewähr‐ leisten. Beispielsweise war es in Legutkes und Thomas’ airport-project not‐ wendig, sprachliche Aspekte der Interviewdurchführung vor der Aufgabe ‚Interviewen‘ zu erarbeiten (vgl. Müller-Hartmann & Schockerv. Ditfurth 2004: 49 f.). Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth befürworten eine flexible Handhabung von sprachlicher Arbeit innerhalb des task-Verlaufs, „denn schon im Bearbeitungsprozess der Aufgabensequenz können sich sprachliche Anfor‐ derungen ergeben, auf die Lehrkräfte flexibel eingehen müssen, damit Aufgaben bearbeitet werden können, wie z. B. Hilfestellungen beim Entwickeln von Fragen geben“ (Müller-Hartmann & Schockerv. Ditfurth 2006: 6). In jedem Fall sollten die Lerner jedoch zuerst den Bedarf für eine form erfahren haben, bevor diese eingeführt wird und „das kommunikative Probehandeln [hat] Vorrang vor formaler Korrektheit“ (Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2013: 45). Sprachliches Arbeiten (gemeint ist ein Fokus auf Grammatik, Lexik, Sprach‐ funktionen) an den Fremdsprachenkompetenzen der Lernenden erfolgt in der Sekundarstufe 1 bislang in den Unterrichtsstunden des Fremdsprachenunter‐ richts. Im bilingualen Unterricht hingegen wird nahezu ausschließlich inhaltlich gearbeitet, sprachliche Arbeit erschöpft sich in der Regel auf Wortschatzarbeit. Seit einigen Jahren, etwa zeitgleich mit dem Aufkommen und der Verwendung der Bezeichnung content and language integrated Learning (CLIL) statt Bilingu‐ aler Unterricht (vgl. Nikula & Marsh 1998), wird eine stärkere Integration von sprachlicher Arbeit in den bilingualen Unterricht gefordert (vgl. Vollmer 2007: 296). Wenn eine solche Integration von Sprache und Inhalt erfolgen soll, ist eine Vorgehensweise zu empfehlen, wie oben zum focus on form in tasks beschrieben: In einem inhaltlich orientierten Unterricht wird Spracharbeit dann integriert, wenn die Lerner einen Bedarf für z. B. eine Sprachfunktion erfahren haben, wobei die inhaltliche Arbeit vorrangig bleibt. Eine solchermaßen integrierte Spracharbeit ist eigentlich zu begrüßen. Allerdings gilt es sicherzustellen, dass die zu vermittelnden Kompetenzen und Inhalte der Sachfächer (z. B. Geographie) nicht wegen der sprachlichen Arbeiten weiter beschnitten werden (vgl. Müller & Falk 2014). Überlegungen zum focus on form besitzen eine besondere Relevanz für zukünftige Konzeptionen von bilingualem Unterricht bzw. CLIL. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass in der task-Diskussion für den Fremdsprachenunterricht Einigkeit über einen focus on meaning besteht, gleichzeitig aber die Vermittlung von fremdsprachlichen Kompetenzen im en‐ geren Sinne ebenfalls Hauptziele sind. Dazu ist auch eine phasenweise Fokus‐ sierung sprachlicher Aspekte vorgesehen. Die dort erarbeiteten Elemente dienen dem sprachlichen Anteil der funktionalen Diskursfähigkeit. Sprachliche 108 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="109"?> Elemente werden somit nicht um ihrer selbst willen erarbeitet, sondern immer in Hinblick auf ihre konkrete funktionale Anwendung zur Erfüllung der task und damit zur Aushandlung von Bedeutung. In einer task-Diskussion für den bilingualen Unterricht aktueller deutscher Ausprägung ist die Fokussierung sprachlicher Aspekte derzeit weit weniger prominent als im Fremdsprachen‐ unterricht. Würde für Deutschland ein Konzept des content and language integ‐ rated learning genutzt (und mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet), müsste sich auch die Aufgabenentwicklung für den bilingualen Unterricht mit einer phasenweise Fokussierung sprachlicher Aspekte auseinandersetzen. In meiner Studie steht die inhaltliche Arbeit im Vordergrund. Wenn die kommu‐ nikative Situation es erfordert, werden aber auch sprachliche Aspekte (insbe‐ sondere Pragmatik) beispielsweise mit Redemitteln unterstützt. 4.2.2.3 Widersprüche: Focused tasks Der Begriff focused tasks beschreibt Aufgaben, die auf einen ausgewählten sprachlichen Aspekt abzielen. „Focused tasks aim to induce learners to process, receptively or productively, some particular linguistic feature, for example a grammatical structure“ (Ellis 2003: 16). Dem gegenüber steht die unfocused task, die nicht auf eine ausgewählte sprachliche Form abzielt. „[They] may pre‐ dispose learners to choose from a range of forms but they are not designed with the use of a specific form in mind“ (Ellis 2003: 16). Bygate und Samuda sowie eine Reihe von anderen task-Forschern, deren Studien sie aufführen, nehmen die Position ein, dass es möglich ist, Aufgaben so anzulegen, dass Lernende mit hoher Wahrscheinlichkeit einen bestimmten sprachlichen Aspekt verwenden bzw. Bedarf für dessen Verwendung erfahren (focused tasks). [A] main challenge is to create tasks that provide learners with opportunities to en‐ gage in meaningful interaction and to direct their attention to linguistic form […] al‐ though it may not be possible to predict the occurrence of particular language features with certainty, most tasks are likely to be associated with the use of some language features with at least a reasonable degree of probability (Bygate & Samuda 2008: 99). Eine Aufgabe kann also so gestaltet werden, dass Lernende zu Aushandlungs‐ prozessen angeregt werden, deren sprachliche Form mit hoher Wahrschein‐ lichkeit vorhergesagt werden kann. Eine focused task beschreibt Ellis wie folgt: In the case of the former [focused task] the learners are not informed about the specific linguistic focus and therefore treat the task the same way as they would an unfocused task, i.e. pay primary attention to message content. Of course, this does not mean that learners will not attend to the target form while they perform the task - indeed a focused task is designed to elicit such attention (Ellis 2003: 141). 109 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="110"?> Eine focused task zielt auch bei Ellis auf vorhersagbare sprachliche Formen ab. Dadurch, dass die Lernenden nicht über dieses sprachliche Ziel informiert werden, liegt der Schwerpunkt für die Lernenden scheinbar auf dem Inhalt. Auf die Problematik, dass die Lernenden nicht über die sprachlichen Ziele informiert werden, werde ich später eingehen. Zunächst soll das Grundproblem diskutiert werden, dass hinter einer Verwendung von focused tasks immer ein sprachlich orientiertes Curriculum stehen muss, das die Sprachprogression steuert. Gegen die Ausrichtung eines Curriculums an grammatischer Progression spricht die allgemein anerkannte Bedeutung der Inhalte. Das gilt in besonderem Maße für den bilingualen Unterricht. Ein an grammatischer Progression orien‐ tiertes Curriculum ist dann besonders leicht zusammenzustellen, wenn die Lehrkraft mit inhaltlich isolierten, aber sprach-strukturell miteinander in Be‐ ziehung stehenden tasks arbeitet. Die Aufgaben stünden dann nicht, wie z. B. in einem Projekt oder Szenario, auch für die Lerner nachvollziehbar zueinander in Beziehung, sondern es würden Themen zum Zuge kommen, die die Lehrkraft aufgrund ihres sprachstrukturellen Lernpotenzials aussucht. Ein so entstan‐ denes Curriculum wäre also eines, das zwar für die Lehrkraft sprachlich eine klare Struktur aufweist, für die Lernenden hingegen tendenziell durch inhalt‐ liche Brüche oder künstliche Themen und Texte (im weiteren Sinne) gekenn‐ zeichnet wäre. Ferner ist zu hinterfragen, ob Lernende als gleichberechtigte Partnerinnen und Partner im Unterricht gelten können, wenn Aufgaben zwar einen focus on meaning vorgeben, es dann aber einen dahinterliegenden sprachlichen Schwer‐ punkt gibt, der den Unterricht bestimmt. „In the case of the former [focused task] the learners are not informed about the specific linguistic focus“ (Ellis 2003: 141). Wenn Lehrkräfte die Lernenden über die sprachlichen Lernziele von Auf‐ gaben im Unklaren lassen, dann verbinden Lehrkräfte und Lernende mit dem Unterricht unterschiedliche Ziele. Bei Cameron ist die Problematik ähnlich, al‐ lerdings bezieht sie sich hier auf Lernende der Schuljahre 1 bis 6, bei denen ein solches Vorgehen eher gerechtfertigt sein kann. „For the child, a classroom task should have a clear purpose and meaning; for the teacher, the task should have clear language learning goals“ (Cameron 2001: 31). Wenn den Schülerinnen und Schülern nicht der eigentliche Zweck der Aufgabe, das Sprachenlernen, mitge‐ teilt wird und ihnen stattdessen ein inhaltliches Ziel genannt wird, können sie sich nicht als gleichberechtigte und zielinformierte Partner im Lernprozess empfinden. Eines der wichtigsten erzieherischen Ziele von Schule und Bildung überhaupt, die Erziehung von Schülerinnen und Schülern zu autonomen Per‐ sönlichkeiten, wird dadurch gestört und dem Ideal der autonomen Lernenden wird nicht ausreichend Rechnung getragen. Für den inhaltlich ausgerichteten 110 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="111"?> bilingualen Unterricht in Deutschland ist die Lösung einfach, weil inhaltliche Ziele den Unterricht prägen und bislang keine sprachlichen Ziele erreicht werden müssen. Doch auch für den Fremdsprachenunterricht gibt es Alterna‐ tiven zum oben genannten Vorgehen. 4.2.2.4 Lösungsvorschlag: Sprache und Inhalte als gemeinsames Ziel Wenn Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth schreiben Aufgaben integrieren die Lerner-Aufmerksamkeit auf sprachstrukturelle Aspekte in Lernaufgaben mit meaning-focus: Lerner werden zu metasprachlicher Reflexion und Diskussion von Prozess und Ergebnis der durch sie bearbeiteten Aufgaben angeregt (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 4), dann bedeutet das, dass die Lernenden über die beiden Zieldimensionen Sprache und Inhalt informiert sind. Dabei entnehmen sie die Inhalte aus den Kompetenz‐ bereichen der intercultural communicative competences (vgl. Byram 1997; Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 3). In die Richtziele „interkul‐ turelle kommunikative Kompetenz“ und „interkulturelle Aufgaben bewältigen“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 2) ist das Doppelziel Sprache und Inhalt weitaus leichter zu integrieren als in die eher sprachlichen Lernziele anderer Autoren (vgl. Nunan 2004: 8; Cameron 2001: 31). Bei Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth stehen Sprache und Inhalte neben weiteren Zieldi‐ mensionen von interkultureller kommunikativer Kompetenz (vgl. Byram 1997) gleichrangig nebeneinander. Die zu bewältigende interkulturelle Aufgabe inte‐ griert Sprache, Wissen (Inhalte), Fertigkeiten und Einstellungen als Zieldimensi‐ onen. Hallets Ansatz zur kulturwissenschaftlichen Perspektive auf tasks mit dem Richtziel der Diskursbefähigung ist ebenfalls sehr stark auf Inhalte ausgerichtet. Sprachliche Lernziele sind inbegriffen, doch sie erhalten ihre Rechtfertigung und Bedeutung dadurch, dass sie zu einem zukunftsrelevanten Diskurs befähigen. Dieser Diskurs ist in erster Linie durch gesellschaftsrelevante Inhalte bestimmt, Hallet nennt die Beispiele „Guantánamo“ und „global warming“ (Hallet 2006: 76). In diesem Fall kann die Lehrkraft ihre Lehrziele den Schülerinnen und Schülern offen darlegen, dass z. B. global warming Inhalte erarbeitet werden, dass es in diesem Kontext aber auch wichtig ist, beispielsweise Sprachfunktionen zur Be‐ schreibung von Folgen (… wenn, dann …; if-clauses) zu erarbeiten. Ein auf diesen Überlegungen aufgebautes Curriculum sollte nicht mit einzelnen thematisch iso‐ lierten tasks arbeiten, sondern mit Einheiten von komplexen tasks über mehrere Stunden zu einem Diskurs. Die Trennung zwischen Schule und Realität ist durch die Teilhabe am Diskurs aufgehoben: 111 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="112"?> In einem solchen (kulturwissenschaftlichen) approach werden die Schüler/ innen nicht nur als Lernende, sondern als kulturelle Aktanten wahr- und ernst genommen, die - ob gewollt oder ungewollt - immer auch an realen gesellschaftlichen Prozessen par‐ tizipieren (Hallet 2006: 77). Diskursfähigkeit zum jeweiligen lebensweltlich relevanten Thema vermitteln aufeinander abgestimmte tasks bzw. inhaltlich kohärente Unterrichtseinheiten bzw. Szenarien, die aus zusammengehörigen tasks bestehen. Zur Erlangung von Diskursfähigkeit können das auch focused tasks mit sprachlichem Fokus sein. Die Lernenden sind dabei über sprachliche und inhaltliche Ziele informiert. Der fokussierte sprachliche Aspekt richtet sich aber immer nach dem gewählten inhaltlichen Diskurs (Primat des Inhalts). Es versteht sich dabei von selbst, dass in diesem Fall die zu vermittelnden sprachlichen Strukturen auf dem Vorwissen der Lernenden aufbauen und deren Kompetenzen weiter entwickeln. Dies gilt für einen zeitgemäßen Fremdsprachenunterricht ebenso wie für ein möglicher‐ weise zukünftiges content and language integrated learning. 4.2.2.5 Zusammenfassung zum Verhältnis von Sprache und Inhalt Der task-Ansatz sowie berechtigte Annahmen zum Spracherwerb und erste Forschungsergebnisse deuten an, dass Inhalte bei der Vermittlung von Sprache eine zentrale Rolle spielen. In der europäischen (vgl. Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen 2001) und deutschen Diskussion (vgl. Legutke & Thomas 1991, Schocker-v. Ditfurth & Andreas Müller-Hartmann 2006, Hallet 2006) sind In‐ halte und Fertigkeiten gleichberechtigt neben Sprache in die Zieldimension integriert. Hallet (2006) leitet task-Inhalte aus Diskursen ab. Die Lernenden sollen zur Diskursteilhabe (Kompetenz) mittels Teilhabe an solchen Diskursen (Methode) befähigt werden, wenn auch in didaktisierter Form. Der Begriff Modellierung [von Diskursen] impliziert, dass dies [die Nachbildung und Bearbeitung realer Diskurse] im Klassenzimmer nur in ausschnitthafter, repräsenta‐ tiver Weise möglich ist, verlangt aber zugleich, dass die wesentlichen Merkmale realer Diskurse erkennbar erhalten bleiben (Hallet 2006: 78). Dadurch, dass der Diskursbegriff inhaltliche und kommunikative Anteile ent‐ hält, besteht hier die Möglichkeit, a) Ziele transparent zu machen, b) Lernende in die Auswahl der Unterrichtsinhalte einzubeziehen und c) task-Abfolgen ko‐ härent zu gestalten. In der vorliegenden Studie werden Aufgaben im Kontext des bilingualen Un‐ terrichts untersucht. Dabei geht es vorwiegend um nicht-sprachliche Lernziele. Wenn bilingualer Unterricht zukünftig als content and language integrated lear‐ ning konzipiert sein sollte, dann ist ein phasenweiser focus on form angemessen. 112 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="113"?> In jedem Fall abzulehnen sind focused tasks, da sie ein Curriculum mit gram‐ matischer Progression voraussetzen. Eine Beteiligung der Lernenden an der In‐ haltsauswahl (negotiated curriculum) ist bei focused tasks schwierig; wenn Ler‐ nende über die fokussierten sprachlichen Aspekte von Aufgaben im Unklaren gelassen werden, ist es sogar unmöglich. 4.2.3. Authenticity - Lernende nehmen an gesellschaftlichen Prozessen teil Authenticity gehört zu den zentralen abgrenzenden task-Merkmalen und ist mit dem focus on meaning eng verbunden. „If the tasks are real-world tasks, the activities will be authentic as well since they represent meaningful language use“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2004: 43). Cameron (2001) be‐ schreibt die historische Entwicklung von tasks zunächst (seit den 1980er Jahren) aus dem Bedürfnis der Fremdsprachenvermittlung in der Erwachsenenbildung, Aufgaben anzubieten, die Sprache lehren, die außerhalb des Sprachkurses/ Klas‐ senzimmers benötigt wird. Mit tasks wurden Aufgaben bezeichnet, die Fremd‐ sprachenunterricht und reale Welt zusammenbringen sollten. Für Cameron ist der Begriff ‚Authentizität‘ zentrales task-Merkmal in mehrfacher Hinsicht. Die erste Auffassung zu Authentizität von tasks war laut Cameron die Hinwendung zu realen Bedürfnissen der Lernenden. Dieser Aspekt ging, wie im letzten Ka‐ pitel beschrieben, in die Zusammenstellung von task-Inhalten ein (vgl. learner needs bei Willis, D. & Willis, J. 2007: 196). Ein weiterer, und laut Cameron um‐ strittener, Aspekt von Authentizität im Zusammenhang mit tasks war, ob au‐ thentische Materialien und Texte Verwendung finden sollten, oder ob eine Au‐ thentizität der Lernaktivitäten und/ oder Lerner-Text-Interaktion ausreichend und angemessener sei. Alternativ kann auch die Authentizität im kommunika‐ tiven outcome der task verortet werden, beispielsweise das Lösen von Problemen und der Austausch von Erfahrungen. Trotz dieser Fragen wird Authentizität als ein zentrales Merkmal von tasks angesehen, das auch Cameron sehr eng neben dem focus on meaning verortet: „In all these developments [of what is meant with authenticity], the essential aspect of a ‚task‘ is that learners were focused on the meaning of content rather than on form“ (Cameron 2001: 29 f.). Ellis betont bei seiner Auffassung von Authentizität in tasks den sprachlichen Aspekt: „A task is intended to result in language use that bears resemblance, direct or indirect, to the way language is used in the real world“ (Ellis 2003: 16), während Willis und Willis (2007) wie Cameron den Zusammenhang zur Sprache weniger in den Vordergrund stellen: „Does the activity relate to real world ac‐ tivities? “ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 13). Die Auffassungen von Ellis sowie Willis 113 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="114"?> und Willis zu Authentizität sind recht allgemein formuliert und decken sich mit den drei letzten Punkten bei Cameron (siehe S. 113). Realweltlicher Sprachge‐ brauch bzw. auf die reale Welt bezogene Aktivitäten finden sich bei Texten, in Lernaktivitäten und bei der Ergebnispräsentation von tasks. Die Bedeutung von Authentizität in tasks wird auch in einem Artikel des Au‐ tors im Zusammenhang mit Aufgaben für den bilingualen Unterricht diskutiert (vgl. Müller 2006). An einem Unterrichtsbeispiel wird dargelegt, dass Authenti‐ zität von tasks in dreierlei Hinsicht angestrebt werden kann. Die Inhalte sollen authentisch sein: In diesen Bereich würden Aspekte hineinfallen, wie die „real needs of learners“ (Cameron 2001: 30) und die „[…] lebensweltliche Relevanz von Aufgaben, die sich auch wesentlich durch die Bedürfnisse einer spezifischen Lerngruppe definiert“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 2); aber auch tasks, die sich mit „gesellschaftlich relevanten Diskursen“ (Hallet 2006: 76) befassen. Wobei beim letzten Punkt der Übergang zur sprachlichen Authentizität fließend ist, da der Begriff Diskurs Inhalt und Sprache integriert. Die Sprache bei tasks soll authentisch sein. Dies können authentic texts sein (Cameron 2001: 30), aber auch die Sprachverwendung von Lernenden während der Aufgabenbearbeitung oder bei der Ergebnispräsentation; „real-world tasks […] are those that require learners to approximate, in class, the sorts of beha‐ viours required of them in the world beyond the classroom“ (Nunan 1989: 40). Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth fassen zusammen: „Gute Lern‐ aufgaben verwenden Sprache so, wie sie auch im Alltag vorkommen könnte“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 4). Personen, die in die task-Bearbeitung eingebunden sind, sollen authentisch sein. Wie schon bei den Inhalten erwähnt, sollen die Lernenden mit ihren echten eigenen Anliegen angesprochen werden. Die Lernenden werden als kulturelle Aktanten wahr- und ernstgenommen, die […] an realen gesellschaftlichen Prozessen partizipieren […]. [Sie werden] nicht wie, sondern als gesellschaftlich ver‐ antwortlich deutende und handelnde Menschen betrachtet (Hallet 2006: 77). In einem solchen lebensweltlichen Diskurs, bei dem die Grenze zwischen Unter‐ richt und Außenwelt verschwindet, ist auch Authentizität von der Person Lehr‐ kraft gefragt. Es geht dann nicht nur um eine wertfreie Vermittlung einer sprach‐ lichen Struktur, sondern um Inhalte sowie Haltungen, und damit auch um eine Hinführung der Lernenden zu Kritikfähigkeit. Die Lehrkraft nimmt dann auch als authentische Person, die Widerpart in Diskursen sein kann, an geeigneten Stellen Positionen ein, ohne zu oktroyieren. Authentische Personen können ferner „dritte Personen“/ Experten sein, die in den Unterricht eingeladen werden. Im Fremd‐ sprachenunterricht sind das insbesondere native speakers oder Personen, mit 114 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="115"?> denen die Schülerinnen und Schüler kommunizieren. Solche dritte Personen können auch Partner in E-mail-Projekten oder bei Video-Konferenzen sein. Betrachtet man E-mail-Projekte und Direktbegegnungen mit fremdkulturellen Personen unter den drei aufgeführten Gesichtspunkten, dann weisen sie das task-Merkmal Authentizität in besonderer Weise auf. Bei geeigneter Planung sind Inhalte solcher Projekte authentisch, da z. B. kulturell geprägte Perspektiven auf für die Lernenden bedeutsame Themen ausgehandelt werden. Die Verwendung der Fremdsprache ist ebenfalls authentisch, da sie Kommunikation erst ermög‐ licht, denn ein Rückgriff auf eine gemeinsame Muttersprache ist ausgeschlossen. Durch unterschiedliche Medien (E-mails, Video-Konferenz, etc.) können alle vier skills angesprochen werden. Die Personen sind authentisch und so werden die Diskurse andere und eventuell unerwartete Sichtweisen erweitert. In den tasks des vorliegenden bilingualen Unterrichtsforschungsprojekts wurde versucht die Authentizität von Sprache, Inhalten und Personen zu berücksichtigen. 4.2.4 Language skills für die Teilhabe an Diskursen Da tasks auf lebensweltlichen Diskursen basieren und die in der Aufgabenaus‐ handlung beteiligten Personen im Prinzip, wenn auch in didaktisch verein‐ fachter Weise, Sprache authentisch verwenden, können alle vier sprachlichen skills (rezeptiv: hören und lesen, produktiv: sprechen und schreiben) bei Auf‐ gabenbearbeitung und Ergebnispräsentation genutzt werden. Teilnahme an Diskursen bedeutet Informationsaufnahme durch Hören und/ oder Lesen, sowie das Einbringen eigener Ansichten durch Sprechen und Schreiben. Ellis nimmt das task-Merkmal four skills zwar in seine task-Definition mit auf, wenn er schreibt „like other language activities, a task can engage productive or receptive skills, and oral or written skills“ (Ellis 2003: 16). Doch er relativiert ihre Bedeutung mit dem Hinweis, dass die skills in seiner Definition (neben dem workplan und den cognitive competences) zwar dazu dienen, Aufgaben zu be‐ schreiben, dass sie aber im Vergleich zu beispielsweise dem focus on meaning kein definierendes Merkmal seien, das dazu tauge, tasks von anderen Sprach‐ lernaktivitäten wie grammatischen Übungen zu unterscheiden (vgl. Ellis 2003: 16). Außer Ellis beziehen auch Nunan (2004: 4), Willis, J. (2005: 3) und Shehadeh (2005: 19) die verschiedenen sprachlichen Fertigkeiten in ihre task-Definitionen ein. Bei anderen Autoren (beispielsweise Willis, D. & Willis, J. 2007, Bygate & Samuda 2008, van den Branden 2006) sind die four language skills nicht in die Definition von task aufgenommen. Vermutlich gehen diese Autoren davon aus, dass authentischer Sprachgebrauch automatisch eine Nutzung der unterschied‐ 115 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="116"?> lichen sprachlichen Fertigkeiten beinhaltet. Dies wird auch für die vorliegende Untersuchung angenommen. 4.2.5 Kognitive Prozesse und Anforderungsbereiche von Aufgaben Die kognitiven Prozesse bei der Aufgabenbearbeitung sind die Auseinanderset‐ zungen der Lernenden mit den task-Inhalten. Es gibt verschiedene Kategorien‐ systeme, um tasks zu klassifizieren. Eines der am häufigsten zitierten ist das von Jane Willis (1996), das tasks gemäß den bei der Lösung angesprochenen kogni‐ tiven Prozessen einteilt (s. u.). Nunan hat sich besonders intensiv mit der Klas‐ sifizierung von tasks auseinandergesetzt. Neben anderen Einteilungssystemen beschreibt auch er die betroffenen kognitiven Operationen als eine Möglichkeit (vgl. Nunan 2004: 58-63). Willis’ Klassifizierungsmodell bestand zunächst aus den sechs Kategorien „listing tasks; ordering and sorting tasks; comparing tasks; problem solving tasks; sharing personal experiences; and creative tasks“ (Willis, J. 1996: 26-28; Willis. J. 2005: 4). Willis und Willis ergänzen diese Zusammenstel‐ lung 2007 um die Aspekte matching und projects. Zudem stellen sie nun den Punkt sharing personal experiences an das Ende ihrer Zusammenstellung. Zu‐ sammengefasst ergibt sich daraus folgende Übersicht: 1. Listing: brainstorming and fact-finding (vgl. Willis, D. & Willis, J. 2007: 66). 2. Ordering and sorting „includes a variety of cognitive processes, including sequencing, ranking, and classifying“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 72). 3. Matching tasks (vgl. Willis, D. & Willis, J. 2007: 85 - 89) 4. Comparing and contrasting: finding similarities or differences (vgl. Willis, D. & Willis, J. 2007: 90 - 93). 5. Problem solving tasks „make demands upon [the learner’s] intellectual and reasoning powers“ (Willis, J. 1996: 27). „These tasks can stimulate wide ranging discussions“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 93); sie decken eine Bandbreite von „short puzzles to real life problems“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2004: 46) ab. Problem solving tasks sind im Ver‐ gleich zu den vorangegangen vier Aufgabentypen komplexe Aufgaben, die aus einem „set of mini-tasks“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 94) zusam‐ mengesetzt sind. 6. Projects and creative tasks. „A task-based project comprises a sequence of tasks based around one specific topic, each task with its own outcome or purpose, which culminates in a specified end-product“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 99). Damit gehört dieser task Typ, wie der vorangegangene, zu den zusammengesetzten komplexen Aufgaben. 7. Sharing personal experiences (vgl. Willis, D. & Willis, J. 2007: 105). 116 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="117"?> Willis und Willis listen die kognitiven Prozesse in der Reihenfolge ihres Schwie‐ rigkeitsgrads auf. Zu Beginn stehen „comparetively simple listing task“ und jede folgende Stufe stellt einen „slightly greater cognitive and linguistic challenge“ dar (Willis, D. & Willis, J. 2007: 110). Nach Willis & Willis sind sharing personal experiences tasks entsprechend als kognitiv am anspruchsvollsten anzusehen. Die Aufgabentypen, und damit die kognitiven Prozesse, beanspruchen für sich im Sinne eines real world-Bezugs von tasks, dass sie sowohl im Klassen‐ zimmer, aber auch außerhalb des Klassenzimmers im Alltag, vorkommen können. Dieses Kriterium trifft auf die Aufgabentypen 4 bis 7 sicherlich zu. Die weniger komplexen Aufgabentypen 1 bis 3 kommen außerhalb des Klassenzim‐ mers vermutlich weniger oft vor und haben daher wenig lebensweltliche Rele‐ vanz. Listing, ordering, sorting und matching activities haben allerdings als Sprachhilfen (language support) eine wichtige Funktion im Fremdsprachenun‐ terricht und im bilingualen Unterricht, wenn die Sprachkompetenzen der Lerner für freie Aussagen nicht ausreichen, bzw. ein Wortschatz verfügbar gemacht werden muss. Wenn tasks im anspruchsvollsten Fall sharing personal experiences und Aus‐ handlungen realer Diskurse (in didaktisch angepasster Form) sind, dann ent‐ sprechen die Prozesse der Aufgabenbearbeitung in der Schule den Prozessen im Alltag. Insofern ist das task-Merkmal cognitive processes sehr eng mit den Merk‐ malen focus on meaning und authenticity verbunden. Diese tasks sind dann eher real-world tasks, die von pedagogic tasks unterschieden werden. Real-world tasks sind Aufgaben, die solchen außerhalb des Klassenzimmers entsprechen, „[they] involve activities and topics that one might well do or talk about outside the classroom - choosing holidays, earthquake safety procedures“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 64). Der bilinguale Unterricht deutscher Ausprägung soll bei den Lernern die gleichen fachlichen Kompetenzen fördern wie der deutschsprachige Sachfach‐ unterricht. Dazu bedient er sich in der Regel den im jeweiligen Sachfach aner‐ kannten Aufgabentypen. Für die Geographie sind Aufgabentypen und Opera‐ toren in den Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) formuliert. Aufgaben sind darin in drei Anforderungsbereiche eingeteilt: Im Anforderungs‐ bereich 1 werden als kognitive Leistungen vor allem die Reproduktion (wie bei‐ spielsweise beschreiben, lokalisieren, nennen) gefordert. Der Anforderungsbe‐ reich 2 erfordert die selbständige Anwendung von Fachmethoden und Transferleistungen (wie beispielsweise analysieren, erklären, zuordnen, ver‐ gleichen). Der Anforderungsbereich 3 erfordert Operationen wie Beurteilung, Problemlösung und Reflexion und nennt dafür Operatoren wie beurteilen, ent‐ 117 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="118"?> wickeln, erörtern und überprüfen (DGfG 2010: 31-33). Mit Ausnahme des Auf‐ gabentyps sharing personal experiences finden sich alle kognitiven Operationen des Klassifzierungsschemas von Willis, D. und Willis, J. (2007) in den Bildungs‐ standards der DGfG wieder und sind dort auch in nahezu der gleichen Folge angeordnet. Sie sind hier weiter ausdifferenziert (insgesamt 19 Operatoren) und teils fachtypisch geprägt („lokalisiere“). Diese großen Übereinstimmungen sind für den bilingualen Unterricht als positiv zu bewerten, da mit Aufgabentypen gearbeitet werden kann, die in der Fremdsprachendidaktik und in der Fachdi‐ daktik Geographie fest verankert sind. In dem vorliegenden Unterrichtsforschungsprojekt setzen sich die Lerner zu‐ meist mit den komplexeren Aufgabentypen 5 bis 7 auseinander, bzw. mit Auf‐ gabensequenzen, die verschiedene kognitive Prozesse miteinander kombi‐ nieren. Willis und Willis’ Empfehlung, prediction tasks wegen deren „excellent preparation for content-based learning“ (Willis, D. & Willis, J. 2007: 97) werden ebenfalls aufgegriffen. Prediction tasks spielen im problemorientierten Geogra‐ phieunterricht als Unterrichtsphase der Hypothesenbildung eine wichtige Rolle. Eine zu Unterrichtsbeginn aufgeworfene inhaltliche Fragestellung lenkt die Aufgabenbearbeitung durch die Lernenden. 4.2.6 Zum Verhältnis von aim, outcome und Aufgabenprodukt Das task-Merkmal outcome findet sich sehr häufig in task-Definitionen (Ellis 2003: 16; Willis, J. 1996: 36; Willis, D. & Willis, J. 2007: 13; Bygate & Samuda 2008: 69; van den Branden 2006: 4). Die Fachdiskussion billigt dem Aspekt, den Lern‐ enden ein klares und fassbares Ziel (outcome) für ihre Aufgabenbearbeitung zu nennen, besondere Bedeutung zu. Innerhalb der Aufgabe ist dieses Ziel so for‐ muliert, dass es aus der Sicht der Lernenden inhaltlich definiert ist. Eine Aufgabe hat ein/ en „non-linguistic purpose or goal“ (Shehadeh 2005: 18) und sie strebt „some non-linguistic outcome“ an (Bygate & Samuda 2008: 69). Lernende und Lehrkräfte erkennen die vollständige task-Bearbeitung daran, dass die Aufgabe inhaltlich komplett gelöst wurde. So ist laut Shehadeh sowie Bygate und Samuda klar, dass mit dem outcome ein inhaltliches outcome gemeint ist. Widersprüchlich ist hingegen die folgende Aussage von Ellis, die von meinem Verständnis von task abweicht. It is useful to distinguish between ‚outcome‘ und ‚aim‘ of the task. ‚Outcome‘ refers to what the learners arrive at when they have completed the task, for example a story, list of differences etc. ‚Aim‘ refers to the pedagogic purpose of the task, which is to elicit meaning-focused language use, receptive and/ or productive. This distinction is important. It is possible to achieve a successful outcome without achieving the aim of 118 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="119"?> the task. […] In fact, tasks involve a sleight of hand. They need to convince learners that what matters is the outcome. […] However, the real purpose of the task is not that learners should arrive at a successful outcome but that they should use language in ways that will promote language learning. In fact, the actual outcome of a task may be of no real pedagogic importance. For example, whether learners successfully iden‐ tify the difference between two pictures is not what is crucial for language learning. It is the cognitive and linguistic processes involved in reaching the outcome that matter. […] Ultimately the assessment of task performance must lie in whether the learners manifest the kind of language use believed to promote language learning (Ellis 2003: 8). Ellis rechtfertigt hier die Täuschung der Lernenden mittels eines vorgeschützten inhaltlichen outcome über die eigentlichen sprachlichen Ziele (aim) der Lehr‐ kraft. Sein Unbehagen mit dem Widerspruch, den Lernenden ein inhaltliches Aufgabenziel vorzutäuschen, in Wahrheit aber sprachliche Lehrziele zu ver‐ folgen, bringt er mit den Worten „sleight of hand“ zum Ausdruck, was sinn‐ gemäß mit ‚Trick‘ übersetzt werden kann. Auch wenn andere Autoren diesen Aspekt nicht konkret ansprechen, deuten in der Fachliteratur vorgestellte Auf‐ gabenbeispiele an, dass Ellis’ Aussage keine Einzelmeinung darstellt. Diese Hal‐ tung ist m. E. problematisch. Damit Lernende sich im Lernprozess als gleichbe‐ rechtigte Partner ernst genommen fühlen, Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen sowie zu autonomen Lernenden gefördert werden, müssen die Unterrichtsziele transparent sein. Es darf nicht sein, dass der Fremdsprachen‐ unterricht durchgängig auf der Prämisse beruht, die Lernenden über die Unter‐ richtsziele zu täuschen. Lehrkräfte und Lernende sollten stattdessen mit einer task übereinstimmende Ziele verbinden. Die Fachdiskussion ist sich im Prinzip über die zentrale Bedeutung eines Fokus auf Inhalte für tasks einig. Wenn Ellis schreibt „In fact, the actual outcome of a task may be of no real pedagogic importance“ (Ellis 2003: 8), dann deutet dies allerdings auf ein Missverständnis bei der Auswahl bedeutsamer Inhalte hin. Natürlich ist es kein relevanter Inhalt, bei einer Aktivität wie „Find seven differences“ (hierbei geht es darum, in zwei fast identischen Zeichnungen einer Häuserfront Unterschiede zu finden; [vgl. Willis, J. 1996: 29]), diese Unterschiede zu kennen oder sich gar zu merken. Hinter der Aufgabe stehen rein sprachliche Lernziele. Wenn allerdings solch ein Bild mit terraced houses in einer konkret benannten englischen Stadt mit Bildern von Wohnsiedlungen aus verschiedenen Städten z. B. in Asien und Nordafrika sowie den Wohnungen oder Häusern der Lernenden in Deutschland verglichen werden, wenn die Bewohner zur Sprache kommen, wenn gar mit den Bewohnern kommuniziert wird, dann bekommen auch die Inhalte eine lernwürdige Bedeutung. Dann kann es sich nicht um eine 119 4.2 Task-Dimensionen bei Ellis und bei anderen Autoren <?page no="120"?> isolierte kurze Unterrichtsaktivität handeln, sondern um eine komplexe im Zu‐ sammenhang mit anderen tasks stehende (Teil-)Aufgabe (vgl. Nunan 2004: 35 f.), bei der beispielsweise die jeweiligen Hausbewohner und ihre Wohnsituation in Interviews vorgestellt werden. Zu derlei Inhalten können Lehrkräfte guten Gewissens stehen, weil die Inhalte pädagogische Bedeutsamkeit besitzen. Als Konsequenz daraus muss die Zieldimension aim für die Lehrkräfte um wirklich bedeutsame Inhalte erweitert werden, so dass neben die sprachlichen auch in‐ haltliche Ziele treten (vgl. Bredella 2006: 22). Lehrkräfte sowie Lernende ver‐ binden dann jeweils die gleichen Ziele mit der Aufgabe. Im Abschnitt ‚4.3.2 focus on meaning‘ (siehe S. 6-113) habe ich diskutiert, welche Inhalte für tasks be‐ deutsam sein können. Wie dort beschrieben, haben sich Legutke und Thomas (1991) mit dieser Frage auseinandergesetzt. Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth beziehen interkulturelle Kompetenzen, zu denen auch Wissensinhalte und Fertigkeiten gehören, in ihre Zielperspektive für tasks ein (2004). Hallet (2006) schlägt eine Modellierung kultureller Diskurse durch tasks vor. Wenn, wie von diesen Autoren gefordert, das kommunikativ-sprachliche Unterrichts‐ ziel um eine tatsächliche bedeutsame inhaltliche Dimension erweitert wird, dann kann dieses mehrdimensionale Unterrichtsziel den Schülerinnen und Schülern auch offen mitgeteilt werden, weil es stimmig zum Arbeitsergebnis der task passt. Diese Übereinstimmung der Unterrichtsziele ist im bilingualen Un‐ terricht leichter zu bewerkstelligen als im Fremdsprachenunterricht, weil im bilingualen Unterricht bisheriger Ausprägung zwar auch allgemein Fremdspra‐ chenkompetenzen gefördert werden, aber die einzelnen Stunden keine kon‐ kreten sprachlichen Ziele fokussieren. Die Lehrkraft kann hier den Lernenden ein inhaltliches Ziel für das outcome vorgeben, welches ihrem tatsächlichen Un‐ terrichtsziel (aim) entspricht. Die größten Unterschiede zwischen Ellis’ auf den Fremdsprachenunterricht bezogenen Vorstellungen von tasks und den meiner Studie zum bilingualen Un‐ terricht zu Grunde gelegten, sehe ich hinsichtlich des task-Merkmals outcome. Aus meiner Sicht ist die Verwendung des Begriffs aus zwei Gründen problematisch. Erstens weil er mit der dargestellten Täuschung der Lernenden verknüpft ist, und zweitens weil nicht geklärt ist, ob er inhaltliche und sprachliche Aspekte um‐ fasst. Die Funktion von task-Merkmalen ist es, tasks so zu charakterisieren, dass Leserinnen und Leser sie rasch und einfach nachvollziehen können. Als Merkmal halte ich zu diesem Zweck eine gemeinsame Darstellung der mentalen und prak‐ tischen Aufgabenprodukte der Lernenden für geeignet. Diese enthalten in der Regel sowohl sprachliche als auch inhaltliche Anteile. Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth verwenden hierfür den recht offenen Begriff output (vgl. Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth 2011: 136), der Begriffen wie Lerner‐ 120 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="121"?> texte und Lernerprodukte (products) entspricht. Da sie in ihrem Modell mit der umfassenden Zieldimension der intercultural communicative competences ar‐ beiten, ist es konsequent, dass sie auch inhaltliche Ziele einbeziehen. Dieses Auf‐ gabenverständnis ist für den bilingualen Unterricht allgemein und für meine Studie im Besonderen passender. Aus diesem Grund verwende ich im Folgenden nicht den Begriff outcome sondern nutze den Begriff ‚Aufgabenprodukt‘. 4.3 Ergänzende Aufgabenmerkmale An dieser Stelle möchte ich Aufgabenmerkmale diskutieren, die in der Fachdis‐ kussion besprochen, aber nicht direkt aus Ellis’ task-Definition abgeleitet werden können. Die folgenden Merkmale sind zumeist mit den Kern-Merk‐ malen von tasks eng verbunden: 4.3.1 Wahlmöglichkeiten - choice Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth nehmen das Merkmal choice in ihren task-Kriterien-Katalog auf: „Gute Lernaufgaben gestehen den Lernern Wahlfreiheit zu“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 4). Die Lerner haben Einfluss auf die Wahl und Ausgestaltung der tasks. Sie können sich innerhalb des task-Rahmens Schwerpunkte setzen und erleben sich damit stärker selbstbestimmt. Die Identifikation mit dem Arbeitsprodukt der Aufgabe wird verstärkt, indem der Lerner das Anliegen der Aufgabe zu seinem eigenen macht (ownership), was wiederum die Lernermotivation erhöht. Die Wahlfrei‐ heit stärkt die Position der Lernenden insbesondere dann, wenn bei der task-in-process in einem negotiated curriculum (vgl. Breen 1987: 25 f.) Lernende und Lehrkräfte ihre Vorstellungen zum task-Verlauf einbringen. Auswahl und Aushandlungen können Aspekte wie Schwerpunktsetzungen bei Themen sowie Auswahl von Materialien, Vorgehen, Zeitrahmen, Gruppen‐ zusammensetzung und Endprodukt betreffen (vgl. Müller-Hartmann & Scho‐ cker-von Ditfurth 2004: 43 f.). Dadurch „ermöglichen [tasks] unterschiedliche Zugänge und Lösungswege, individuelle Erkenntnisse durch eigene Biografie entstandene Deutungsmuster und Äußerungen“ (Müller-Hartmann & Scho‐ cker-von Ditfurth 2006: 4). Ferner dient die Auswahlmöglichkeit bei tasks einer durch die Lernenden selbst verantworteten inneren Differenzierung bei der Aufgabenbearbeitung. Die Lernenden schätzen ihre Kompetenzen selbst ein und schlagen Lösungswege ein, die ihren individuellen Möglichkeiten entsprechen. Das Aufgabenmerkmal ‚Wahlmöglichkeiten‘ spielt somit eine zentrale Rolle bei 121 4.3 Ergänzende Aufgabenmerkmale <?page no="122"?> der Förderung von Lernerautonomie und Persönlichkeitsentwicklung im auf‐ gabenorientierten Lernen. Auf den ersten Blick scheint im (bilingualen) Geographieunterricht der Spiel‐ raum für Wahlmöglichkeiten von Inhalten geringer zu sein als im Fremdspra‐ chenunterricht. Allerdings sind im Zuge der Kompetenzorientierung in den Bil‐ dungsplänen der Länder die Inhalte zu Gunsten von Fertigkeiten zurückgedrängt worden, bzw. es wird den Lehrkräften (und damit potentiell auch den Lernenden) Wahlfreiheit gegeben, mit welchen Wahl-Inhalten Kom‐ petenzen erworben werden (vgl. ‚Bildungsplan Realschule 1994‘ versus ‚Bil‐ dungsplan Realschule 2004‘ des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg). Ein gutes Beispiel dafür ist im Bildungsplan für Real‐ schule Baden-Württemberg von 2004 zu finden. Im Fächerverbund Erdkunde-Wirtschaftskunde-Gemeinschaftskunde in Klassenstufe 9/ 10 bear‐ beiten die Lernenden an einem selbstgewählten Raum die Themeneinheit 5 „Selbstständige Anwendung von gelernten Methoden an jeweils einer Fallstudie zu einer globalen Raumproblematik und einem politischen Handlungsfeld“ (Mi‐ nisterium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004: 125). In den Bildungsplänen von 2016 wird zu den Themen Wirtschaft, Verstädterung, Mi‐ gration, Welthandelsgüter, Nutzung von Naturräumen und Zukunftsfähigkeit freigestellt, an welchen konkreten Raumbeispielen sie erarbeitet werden (Mi‐ nisterium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016: 16, 21 f., 27, 29, 30-32). Neben Wahlmöglichkeiten zum Inhalt sind also auch im (bilingualen) Geographieunterricht genauso wie im Fremdsprachenunterricht alle von Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth oben genannten Aspekte von Wahl‐ möglichkeiten realisierbar. 4.3.2 Interaktion Da eines der zentralen Merkmale von tasks der Aspekt focus on meaning ist, und da Bedeutungen am besten in Interaktion ausgehandelt werden, enthalten gute Aufgaben interaktive Anteile. Dieses task-Merkmal ist eng mit dem task-Merkmal Authentizität verknüpft, da für Kommunikationsprozesse, wie sie im Alltag vorkommen, reale Kommunikationspartner benötigt werden. Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth ergänzen, dass gute tasks „gleich‐ berechtigt interaktiv“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006: 4) sind. Neben der Gleichberechtigung der Lernenden untereinander kann sich diese Gleichberechtigung auch auf das Verhältnis der Lehrkraft zu den Lernenden beziehen und fördert die Verantwortlichkeit der Lernenden für ihren Bildungs‐ prozess. Die Gleichberechtigung bezieht sich aber auch auf Außenkontakte beim 122 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="123"?> interkulturellen Lernen im Fremdsprachenunterricht. Wenn die task-Bearbei‐ tung es erforderlich macht, dass die Lernenden mit anderen Menschen direkt oder medial kommunizieren, dann sollen die Lernenden achtsam, selbstreflexiv und nicht überheblich mit den Anderen umgehen - also gleichberechtigt inter‐ aktiv. Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth formulieren solche affek‐ tiven Lernziele als Zweck und Zieldimension der task, da tasks ihrer Auffassung nach nicht nur sprachliche, sondern insbesondere interkulturelle kommunika‐ tive Kompetenzen fördern. Interaktion ist für einen Fremdsprachenunterricht, der kommunikative Kom‐ petenzen fördern soll, selbstverständlich eine charakterisierende Eigenschaft. Werden im bilingualen Unterricht interkulturelle Kompetenzen angestrebt, dann rückt interkulturelle Interaktion mittels Fremdsprache verstärkt in den Fokus. Letztere kann der bilinguale Mehrwert im Vergleich zum deutschspra‐ chigen Geographieunterricht sein (vgl. Kap. 3.5, S. ). 4.3.3 Konstruktivismus und Fremdsprachenunterricht Lernerautonomie war bereits in der Reformpädagogik ein erklärtes Bildungsziel. Pädagogische Konzepte von Dewey, Kilpatrik, Freinet und Montessori sind da‐ rauf ausgerichtet. Projektorientierte Ansätze für den Fremdsprachenunterricht bei Legutke und Thomas (1991) stehen in dieser Tradition. In den 1990er Jahren setzte sich Wolff mit Konstruktivismus und Lernerautonomie auseinander. Er weist unter Bezug auf Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie, Biologie und Philosophie darauf hin, dass menschliches Erkennen und menschliches Lernen anders vor sich gehen, als wir es bisher angenommen haben, d. h. in stärkerem Maße aktiv, konstruktiv und selbstbe‐ stimmt. Dies muss auch unsere methodisch-didaktischen Überlegungen bestimmen (Wolff 1997b: 1). Lernen ist keine Anhäufung vorgegebener Wissens-Elemente, sondern vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Lerngegenstand (vgl. Nunan 2004: 36 f.), auf der Basis ihrer jeweiligen Kompetenzbestände, also ihrem Vorwissen und ihren Vorerfahrungen. Wolff sieht konstruktivistische Lernprinzipien besonders gut im aufgabenorientierten Lernen verwirklicht, weil die Lerninhalte komplex und authentisch sind, der Projektcharakter des unterrichtlichen Geschehens den Bezug zur Lebenswirklichkeit herstellt und das Prinzip des kooperativen Lernens (Gruppenarbeit, Interaktion) verwirklicht ist (vgl. Wolff 1994: 423). Im vorliegenden Unterrichtsforschungsprojekt räume ich der Vorwissensaktivierung einen hohen Stellenwert ein. Bevor Lernende 123 4.3 Ergänzende Aufgabenmerkmale <?page no="124"?> sich mit fremdkulturellen Texten auseinandersetzen, erfolgen Vorwissensakti‐ vierungen zu eigenkulturellen Perspektiven auf die fokussierten Praktiken (vgl. Unterrichtsphasenmodell, Kapitel 2.5.2‚ S. ). 4.3.4 Die Rolle der Lehrkraft bei aufgabenorientiertem Lernen Der Lehrkraft kommt bei der Planung und Durchführung von aufgabenorien‐ tiertem Unterricht die zentrale Rolle zu. Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth stellen hinsichtlich der Lehrerrolle im Fremdsprachenunterricht ins‐ besondere die Bedeutung der „mediating interventions of teachers“ auf dem „microlevel in their classrooms“ heraus (Müller-Hartmann & Schocker-von Dit‐ furth 2011: 136). Mit diesen vermittelnden Interventionen erfüllt die Lehrkraft eine ganze Reihe von wichtigen Funktionen. Sie schafft eine Arbeitsatmosphäre, in der sich die Lernenden geborgen fühlen. Sie motiviert die Lernenden, sich auf die Aufgabe einzulassen. Sie initiiert Aushandlungsprozesse der Lernenden zu task-Design und task-Inhalten. Sie stellt sicher, dass die Lernenden während der Aufgabendurchführung nicht abschweifen und den gesamten Aufgabenprozess durchhalten. Sie adaptiert die Aufgabenanforderungen (demands) und Unter‐ stützungen (support) an die Leistungsfähigkeit der Lernenden in der Aufgaben‐ bewältigung (task-in-process). Bei Bedarf fokussiert sie sprachliche Anforde‐ rungen (focus on form). Im Anschluss an die Aufgabe im engeren Sinne reflektiert sie mit den Lernenden deren Arbeitsprodukte und Aufgabendurch‐ führung („reflect on task output and process afterwards“) (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2011: 136). Mit Ausnahme des focus on form können diese Vorschläge so auch für das aufgabenorientierte Arbeiten im bilingualen Unter‐ richt übernommen werden. Insbesondere die Reflexion der Lernertexte (output, Aufgabenprodukte) stellt, wie es der folgende Abschnitt dargelegt, einen Schritt hinsichtlich der Aufwertung von inhaltlichen Zielen dar, die für den bilingualen Unterricht kennzeichnend sind. Hallet diskutiert hinsichtlich der Lehrerrolle ähnliche Aspekte. Aus seiner Zusammenstellung der Funktionen der Lehrkraft für die Planung von Aufgaben für das interkulturelle Lernen (task-as-work‐ plan) sollte insbesondere der Aspekt der Auswahl kulturell repräsentativer In‐ halte und das Herunterbrechen dieser Diskurse auf das Schülerniveau (didakti‐ sche Reduktion bzw. Rekonstruktion) sowie die Planung von language support beachtet werden (vgl. Hallet 2006: 81). 124 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="125"?> 4.3.5. Aufgabenreflexion Aufgabenreflexion ist ein eher weniger beachtetes Merkmal von tasks. „Kaum Erwähnung gefunden hat bisher die Überlegung, welche Bedeutung der Faktor ‚Reflexion‘ bei der Aufgabenorientierung inne hat“ (Burwitz-Melzer 2006: 28). Aufgabenreflexion bedeutet, mit den Lernenden aus dem Arbeitsbzw. Lern‐ prozess herauszutreten und quasi von außen zu betrachten, wie zielführend die eingeschlagenen Wege waren und welcher Lernzuwachs erreicht wurde. Die Reflexion ist eine zumeist kommunikative Evaluation und steht eher am Ende der Aufgabenbearbeitung. Das Ergebnis der Reflexion kann dazu dienen, zu‐ künftig gleichartige Aufgaben besser zu lösen. Für das interkulturelle Lernen hat die Aufgabenreflexion eine besonders gewichtige Rolle, da häufig erst im Prozess des Heraustretens aus der eigenen Perspektive (decentering) bzw. im Prozess des Heraustretens einer in der Aufgabe übernommenen fremden Pers‐ pektive ein Perspektivenvergleich und ein Bewusstsein dafür entstehen, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt. Ein reiner Perspektivenwechsel, also eine unkritische Übernahme einer anderen Sichtweise, leistet kaum einen Beitrag zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. Erst ein Perspektivenwechsel mit darauf folgenden Reflexionen zu Perspektivenvielfalt, und einem damit ver‐ bundenen Perspektivenbewusstsein, dienen dem Kompetenzerwerb. Aus diesem Grund erscheint mir eine Aufgabenreflexion, die Perspektivenwechsel fokussiert, also eine Perspektiven-Reflexion, die zu einem Perspektivenbewusst‐ sein führt, als Indikator für interkulturelles Lernen eine größere Bedeutung zu besitzen, als der in der Fachliteratur genannte Perspektivenwechsel (vgl. Bechtel 2003: 364-366). Einer Perspektiven-Reflexion geht allerdings ein Perspektiven‐ wechsel voraus, um die Grundlagen für die folgende Reflexion zu schaffen. Im hier vorgestellten Forschungsprojekt wurden komplexe tasks erprobt, deren letzte Aufgabensequenz eine Perspektiven-Reflexion darstellt. 4.3.5.1. Sprachliche und inhaltliche Aspekte in der Aufgabenreflexion Bei Willis’ task framework ist die Reflexion ausschließlich auf die sprachlichen Aspekte des Aufgabenprozesses und der Aufgabenprodukte bezogen. Auf der Basis dieser Analyse verbessern Lernende ihre Sprachkompetenz (vgl. Willis, J. 1996: 101 f.). Wenn die Verbesserung der Sprachkompetenz das einzige Ziel des aufgabenorientierten Ansatzes wäre, dann wäre dieses Vorgehen plausibel. Wenn, wie bereits dargestellt, die Ziele des aufgabenorientierten Lernens weiter gefasst werden, wenn es also um die Vermittlung von interkultureller kommu‐ nikativer Kompetenz (Kompetenzbereiche knowledge, attitudes, skills) geht, dann muss auch die Reflexion auf nicht sprachliche Bereiche ausgedehnt werden. Bislang war es im Fremdsprachenunterricht für Lernende verwirrend, 125 4.3 Ergänzende Aufgabenmerkmale <?page no="126"?> dass die inhaltliche Arbeit, die im Fokus der task-Bearbeitung stand, später nicht mit einer Reflexion gewürdigt wurde. Aufmerksamen Lernenden zeigte sich hier, dass die wahren sprachlichen Ziele der Lehrkräfte nicht mit den inhaltli‐ chen Zielen der Lernenden übereinstimmen (vgl. Ellis 2003: 8). Nicht-sprach‐ liche Ziele sind in eine Aufgabenreflexion einzubeziehen, nicht nur weil dort wesentliche Anteile des interkulturellen Lernens erfolgen (vgl. Perspek‐ tiven-Reflexion oben), sondern auch zur Würdigung der Arbeitsergebnisse, also aus Gründen der Motivation. Im bilingualen Unterricht bisheriger Ausprägung, in welchem sprachliche Arbeit eine deutlich untergeordnete Rolle spielt, stünde entsprechend die Reflexion von Inhalten im Fokus der Arbeit. 4.3.5.2. Reflexion des Aufgabenprozesses Nunans Vorstellungen von Reflexion und Optimierung weichen von Jane Willis’ rein sprachlicher Analyse ab und wenden sich dem Lernprozess bei der Aufga‐ benbearbeitung zu: „Becoming a reflective learner is part of a learner’s training where the focus shifts from language content to learning processes“ (Nunan 2004: 38). Nunan schreibt, dass die Reflexion von Lernprozessen eigentlich in jedem Lernansatz verankert sein sollte. Er sieht für den aufgabenorientierten Ansatz aber eine besondere Notwendigkeit für Reflexionen, da durch die recht hohe Einflussnahme der Lernenden auf den Lernprozess die Reflexion der ver‐ wendeten Lernstrategien eine besondere Bedeutung für deren zukünftige Auf‐ gabenbearbeitungen erhält. Ferner hätten Untersuchungen bestätigt, dass Ler‐ nende, die sich ihrer Strategien bewusst sind, die besseren Lernenden sind (vgl. Nunan 2004: 37 f.). In der Projektarbeit spielte die Reflexion von Prozessen und Produkten schon immer eine wichtige Rolle (vgl. Haubrich 1988: 181; Rinschede 2007: 266 f.). Lernende übernehmen Mitverantwortung für ihren Lernprozess und das Lernprodukt. 4.3.6. Zusammenfassung zu den Merkmalen von tasks Der folgende Abschnitt bilanziert die Diskussionen des Kapitels in Form einer Liste von Merkmalen, die aufgabenorientiertes Lernen charakterisieren. Bei der Aufgabenplanung und -Durchführung des Unterrichtsforschungsprojekts wurden sie berücksichtigt. • Die Arbeit an Inhalten steht im Vordergrund der task (focus on meaning). • Lernaufgaben arbeiten mit authentischen Diskursen, Rollen und Inhalten. Lernende nutzen die Fremdsprache bei der Aufgabenbearbeitung und -präsentation so, wie dies auch außerhalb des Unterrichts geschieht (au‐ thenticity). 126 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="127"?> • Lehrkräfte und Lernende verbinden die gleichen Unterrichtsziele mit der Aufgabenbearbeitung. Das Richtziel ist die interkulturelle Kompetenz. Neben sprachlichen Zielen sind das auch Wissen, Einstellungen und Fer‐ tigkeiten. Im Fremdsprachenunterricht ist die Verwendung des Begriffs ‚interkulturelle kommunikative Kompetenz‘ gebräuchlich. • Lernende erfahren zunächst den Bedarf für eine Sprachstruktur (bzw. Sprachfunktion oder Wortschatz). Erst danach wird dieses Sprachelement vermittelt. Im Fremdsprachenunterricht hat dieses Merkmal eine deutlich höhere Bedeutung als im bilingualen Unterricht. • Am Ende einer Aufgabe reflektieren die Lernenden ihre Vorgehens‐ weisen, Perspektiven auf Inhalte und bei Bedarf auch die sprachliche Re‐ alisierung der task. • Lernaufgaben stehen in inhaltlichem Zusammenhang mit anderen Auf‐ gaben. Im bilingualen Unterricht bilden sie zusammen mit anderen Auf‐ gaben Makrostrukturen in Form von Unterrichtseinheiten zu Themen‐ feldern. • Lernaufgaben bieten den Lernenden Möglichkeiten zu Auswahl, Schwer‐ punktsetzungen und / oder Veränderungen (Wahlmöglichkeiten, choice). • Lernaufgaben greifen die unterschiedlichen Vorerfahrungen von Lern‐ enden auf und beziehen sie in den Lernprozess ein. • Lernaufgaben nutzen Medien, die Themeninhalte aus verschiedenen Per‐ spektiven darstellen (Multiperspektivität). Sie geben zu den genutzten Materialien die Quelle an, damit die Perspektive der Darstellung nach‐ vollziehbar ist und Quellenkritik geübt werden kann. • Lernaufgaben fördern Interaktion und Aushandlungsprozesse zwischen den Lernenden. • Lernaufgaben zielen auf Aufgabenprodukte ab, sind aber dennoch ergeb‐ nisoffen. • Lernaufgaben fördern Lernerautonomie durch im Schwierigkeitsgrad an‐ gemessene Aufgaben (task demands) und stellen bei Bedarf Unterstüt‐ zungen bereit (task support). 4.4. Aufgaben mit Hilfe eines task frameworks beschreiben Ein task framework stellt die Spezifikationen von tasks vor und ermöglicht ihre systematische Beschreibung. Es erleichtert die Suche nach Variationsmöglich‐ keiten des task-Designs, und es unterstützt die Unterscheidung und Klassifika‐ tion unterschiedlicher task-Typen (vgl. Ellis 2003: 20). Als zu beschreibende 127 4.4. Aufgaben mit Hilfe eines task frameworks beschreiben <?page no="128"?> Merkmals-Kategorien nennt Ellis in seinem task framework die Aspekte goal, input, conditions, procedures und predicted outcomes (product and process) (vgl. Ellis 2003: 21). Ein ähnliches und breit rezipiertes Modell stellt auch Nunan vor. Als zentrale Aufgabenkategorien nennt er goals, input und procedures. Sie werden ergänzt durch teacher role, learner role und settings (vgl. Nunan 2004: 41). Lynne Cameron stellt task demands und task support in das Zentrum ihrer Überlegungen zu einem „framework for analysing tasks“ (Cameron 2001: 21-28). Die geeignete Balance zwischen demands und support ist ihr besonders wichtig. A task that is going to help the learner learn more language is one that is demanding but not too demanding, that provides support, but not too much support. The differ‐ ence between demands and support creates the space for growth (Cameron 2001: 27). Für die Aufgabenanalyse schlägt sie vor, die folgenden demands und supports einzubeziehen: • cognitive: Welche kognitiven Anforderungen stellen die Aufgabe an die Lerner? Welche geplanten und welche spontanen Unterstützung gibt es? • language: Welche sprachlichen Anforderungen stellt die task an die Lerner? Welcher geplante und welcher spontane language support wird bereitgestellt? • interactional: Welche Interaktionsformen sind geplant? Welche Ände‐ rungen erfolgen dazu durch die Lerner oder die Lehrkraft im Prozess? • metalinguistic: Welche Fachbegriffe z. B. für die Besprechung von Gram‐ matik benötigen die Lerner, und wie können sie diesbezüglich unterstützt werden? • involvement: Welche Elemente der task-Planung und task-Durchführung fördern oder schaden der Lernermotivation? • physical: Welche körperlichen Anforderungen stellt die Aufgabe (z. B. längeres Stillsitzen)? Welche physischen Arrangements können die Auf‐ gabenbearbeitung unterstützen? Camerons Überlegungen beziehen sich auf den Fremdsprachenunterricht für young learners. Dies umfasst im englischsprachigen Raum Kinder der Klassen 1 bis 6. Für meine Überlegungen zu tasks für den bilingualen Unterricht in der Sekundarstufe spielen zwar die metalinguistic und physical demands eine unter‐ geordnete Rolle. Dennoch ist der Ansatz von Camerons framework hilfreich, die zu analysierenden Aspekte (z. B. Sprache) im Spannungsfeld zwischen Anfor‐ derungen (demands) und Unterstützungen (support) zu betrachten. Dieses Vor‐ gehen unterstützt die Lehrkraft a) bei der Vorbereitung der Aufgaben (task-as-workplan), die Perspektive der Lernenden einzunehmen (Empathiever‐ 128 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="129"?> mögen wird eingefordert), und b) in der nachträglichen Aufgabenanalyse zu reflektieren, welche unerwarteten Schwierigkeiten aufgetreten sind und welche spontanen Unterstützungen die Lehrkraft zur Verfügung gestellt hat, bzw. hätte zur Verfügung stellen sollen (task-in-process). Aus den genannten Modellen habe ich für mein bilingual-interkulturell aus‐ gerichtetes Unterrichtsforschungsprojekt folgendes task framework zur Be‐ schreibung der Aufgaben entwickelt. Die Abweichungen und Ergänzungen zu den drei vorgestellten Modellen ergeben sich aus den Diskussionen des Kapitels (z. B. Aufgabenprodukte statt outcome). Das folgende task framework nutze ich in Kapitel 7 zur Darstellung der Aufgaben. Dabei werden dort die Ziele (Punkt 1) der gesamten Aufgabe vorangestellt. Die anderen Aspekte (Punkte 2 bis 6) hingegen werden für jeden Aufgabenteilschritt (A bis E) beschrieben. 1. Ziele: Welche (insbesondere interkulturellen) Kompetenzen sollen mit der Aufgabe gefördert werden? 2. Input: Mit welchen Texten (im weiteren Sinne) arbeiten die Lernenden? Welchen input erhalten sie von anderen Personen (Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrkraft, Gästen)? 3. Inhalte: Welche kognitiv-inhaltlichen Anforderungen werden an die Lernenden gestellt? Welche Unterstützungen erhalten die Lernenden zur Bewältigung der Anforderungen? 4. Sprache: Welche sprachlichen Anforderungen stellt die task an die Lern‐ enden? Welche sprachlichen Unterstützungen werden angeboten (lang‐ uage support)? 5. Sozial- und Aktionsformen: Wie sind die Lernenden gruppiert und in welchen Lernarrangements arbeiten sie? 6. Aufgabenprodukte: Welche Texte (im weiteren Sinne) und welche münd‐ lichen Beiträge werden die Lernenden vermutlich bei der Bearbeitung der Teilschritte einer Aufgabe produzieren? Zu den Punkten Inhalte und Sprache beschreibe ich jeweils die geplanten An‐ forderungen (demands) und Unterstützungen (support). Bei der retrospektiven Aufgabenanalyse ergänze ich zu den Punkten des task-frameworks einer Auf‐ gabe, mit welchen Maßnahmen die Lernenden spontan im Prozess bei der Auf‐ gabenbewältigung unterstützt wurden bzw. hätten unterstützt werden können (vgl. Kap. 7). 129 4.4. Aufgaben mit Hilfe eines task frameworks beschreiben <?page no="130"?> 4.5 Zusammenfassung Im Fokus dieses Kapitels lag die Diskussion der Merkmale von tasks für den Fremdsprachenunterricht und deren Eignung für das vorliegende Unterrichts‐ forschungsprojekt im Kontext des bilingualen Unterrichts. Als Leitlinie durch das Kapitel dienten mir dabei die von Ellis (2003) zusammengestellten Aufga‐ benmerkmale. Diese wurden unter Einbezug anderer Autoren diskutiert und anschließend um weitere Aufgabenmerkmale ergänzt. Hinsichtlich der Bedeu‐ tung von Aufgabeninhalten von tasks und hinsichtlich der Auswahl dieser In‐ halte zeigten sich Widersprüche in der task-Diskussion. Lernende und Lehr‐ kräfte sollten dieselben Ziele mit einer Aufgabe verbinden. Deswegen müssen neben sprachlichen Kompetenzen auch Wissensinhalte, Einstellungen und Fer‐ tigkeiten in die Aufgabenziele der Lehrkraft eingebunden sein. Es bietet sich insofern an, wie von einigen Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern vorge‐ schlagen, interkulturelle kommunikative Kompetenzen bzw. interkulturelle Kompetenzen als die Zieldimension für aufgabenorientiertes Lernen zu verein‐ baren. Diesbezüglich zu wählende Inhalte sollten ‚gesellschaftsrelevante Dis‐ kurse‘ und ‚Einbezug lebensweltlicher Erfahrungen der Lernenden‘ bei der The‐ menauswahl und Aufgabengestaltung integrieren. Wenn wie in meinem Unterrichtsforschungsprojekt interkulturelle Kompetenzen vermittelt werden sollen, sind tasks derart zu gestalten, dass sie Lernenden die Erfahrungen eines Perspektivenwechsels mit einer Perspektivenreflexion ermöglichen. Auf der Basis dieser Überlegungen und unter Integration von Ergebnissen des Theorie‐ kapitels ‚Interkulturelles Lernen‘ wurde ein Unterrichtsphasenmodell (Kap. 2, S. 50) entwickelt, welches in meinem Unterrichtsforschungsprojekt (Kap. 7) als Matrix zur Aufgabenentwicklung dient und in der Praxis interkulturelle Kom‐ petenzen aufzeigen soll. Zur Charakterisierung der von mir verwendeten Auf‐ gaben nutze ich in der Aufgabenanalyse ein task-framework, das im Unterschied zu den meisten vorhandenen Modellen den Aufgabeninhalten einen größeren Stellenwert zumisst und deswegen für den bilingualen Unterricht, der den Rahmen meines Forschungsprojekts bildet, besonders geeignet ist. 130 4 Aufgabenorientiertes Lernen <?page no="131"?> 5 Forschungsmethoden Das Forschungsprojekt umfasste zwei empirische Untersuchungen. Die erste Untersuchung erforscht mittels halboffener Interviews mit Lehrkräften, wie in‐ terkulturelle Kompetenzen im bilingualen Unterricht vermittelt werden. Sie untersucht die Motivation und Praxis von Lehrkräften für die Vermittlung bzw. Nicht-Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen. Die zweite Untersu‐ chung ist ein zwei Zyklen umfassendes Unterrichtsforschungsprojekt, das Auf‐ gaben für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen im bilingualen Unter‐ richt entwickelt und erprobt, und dabei Aufgabenlösungen von Schülerinnen und Schülern auf interkulturellen Kompetenzerwerb prüft. Beide Untersu‐ chungen arbeiten mit qualitativen Untersuchungsdesigns, in denen Textdaten erhoben und interpretiert werden. Diejenigen Anteile der Forschungsmethoden-Diskussion, die beide Untersu‐ chungen betreffen, werden hier in Kapitel 5 vorgestellt. Kapitel 6 und Kapitel 7 stellen die beiden Untersuchungen vor und diskutieren zuvor jeweils die spezi‐ fischen Forschungsmethoden. 5.1 Quantitative und qualitative Forschungsansätze Die Sozialwissenschaften ordnen empirische Forschung verallgemeinernd ge‐ sprochen qualitativer und quantitativer Forschung zu, auch wenn in neuerer Zeit Autoren verstärkt Überlappungen und Integrationsmöglichkeiten disku‐ tieren (vgl. Dörnyei 2007). Die Sozialforschung orientierte sich lange Zeit an „der Entwicklung quantitativer und standardisierter Methoden“, vergleichbar mit dem Streben nach Exaktheit naturwissenschaftlicher Forschung (Flick 2006: 13). Qualitative Forschung ist eine recht junge Disziplin, insbesondere in Deutschland, und befindet sich dementsprechend noch in der Entwicklung. Me‐ thoden werden ausdifferenziert und die Bedeutung von Begriffen geschärft. So sieht Flick 2006 unter qualitativer Forschung „verschiedene Ansätze der For‐ schung zusammengefasst, die sich in ihren theoretischen Annahmen, in ihrem Gegenstandsverständnis und methodischen Fokus unterscheiden“ (Flick 2006: 33). Was vereint qualitative Forschungsansätze und was grenzt sie gegenüber quantitativen ab? In einer Gegenüberstellung definieren Bortz und Döring 2006 die beiden Ansätze wie folgt. <?page no="132"?> Quantitative Forschung: Empirische Forschung, die mit besonderen Datenerhebungsverfahren quantitative Daten erzeugt und statistisch verarbeitet, um dadurch neue Effekte zu entdecken (Ex‐ ploration), Populationen zu beschreiben und Hypothesen zu prüfen (Explanation) (Bortz & Döring 2006: 738). Qualitative Forschung: Empirische Forschung, die mit besonderen Datenerhebungsverfahren qualitative Daten erzeugt und interpretativ verarbeitet, um dadurch neue Effekte zu entdecken (Exploration), neue Hypothesen und Theorien zu bilden und (seltener) auch Hypo‐ thesen zu prüfen (Explanation). Inhaltlich ist es ein besonderes Anliegen der qualita‐ tiven Forschung, soziale und psychologische Phänomene aus Sicht der Akteure zu rekonstruieren (Bortz & Döring 2006: 738). Bortz und Döring heben als besonderes Merkmal der quantitativen Forschung die statistische Datenverarbeitung heraus, in der qualitativen Forschung tritt die interpretative Datenverarbeitung an diese Stelle. Die Exploration, hier beiden Ansätzen zugeschrieben, wird gemeinhin eher den qualitativen Verfahren zu‐ geordnet, die Hypothesenprüfung, wie im Zitat angemerkt, eher den quantita‐ tiven. Existiert also eine Annahme bzw. eine Theorie, dann kann mit quantita‐ tiven Verfahren versucht werden, diese Annahme zu bestätigen oder zu widerlegen. Ist das Forschungsgebiet neu und Theorien sind überhaupt erst zu generieren, sind dafür interpretierende qualitative Methoden besser geeignet, weil sie offener und ohne Vorannahmen an das Feld herangehen und nicht durch ein standardisiertes Messinstrument unvorhergesehene Inhalte ausschließen. Allerdings bestätigen Bortz und Döring mit ihrer Aussage zu überlappenden Anwendungsbereichen, dass die Grenzen der Einsatzgebiete fließend sind und vom jeweiligen Projekt abhängen. Diese Gegenstandsangemessenheit der For‐ schungsmethode unterstreichen Bortz und Döring mit der eigentlich selbstver‐ ständlichen Aussage, dass empirische Untersuchungen […] nicht nach der Art der verwendeten Untersuchungsme‐ thoden, sondern nach ihren Ergebnissen, nach ihrer Funktion und ihrem Stellenwert für den Wissenschaftsprozess beurteilt werden [sollten] (Bortz & Döring 2006: 303). Ähnliche Aussagen finden sich beispielsweise auch bei Lamnek (2005: 3), Rein‐ ders (2005: 97) und Dörnyei (2007). Bei meinem Unterrichtsforschungsprojekt handelt es sich um eine von we‐ nigen derartigen Arbeiten zum interkulturellen Lernen im Kontext des Fremd‐ sprachenunterrichts (vgl. Burwitz-Melzer 2003; Göbel 2007; Jäger 2011; Eber‐ 132 5 Forschungsmethoden <?page no="133"?> hardt 2013). Im spezifischen Kontext des bilingualen Unterrichts sind Unterrichtsforschungsprojekte zu Aufgaben für das interkulturelle Lernen ein Desiderat. Ein qualitativer Ansatz für die Neuentwicklung, Erprobung und Eva‐ luation von Schüleraufgaben ist die angemessene Vorgehensweise. 5.2 Prinzipien qualitativer Forschung Auch wenn qualitative Forschung eine junge und sich entwickelnde Disziplin ist, deren Strömungen sich teils deutlich voneinander unterscheiden (man ver‐ gleiche beispielsweise die grounded theory mit einer Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring) so gibt es dennoch eine Reihe von Prinzipien, die die Ansätze von qualitativer Sozialforschung eint. Lamnek nennt sechs Prinzipien, die so oder ähnlich auch beispielsweise bei Mayring (2002: 24-39), Reinders (2005: 34-42) und Flick (2006: 16-20) zu finden sind. 5.2.1 Offenheit „Ein erstes Prinzip empirischer [qualitativer] Forschung besteht in der Offenheit des Forschers gegenüber den Untersuchungspersonen, den Untersuchungssitu‐ ationen und den Untersuchungsmethoden“, so Lamnek bei seiner Diskussion der „zentrale[n] Prinzipien qualitativer Sozialforschung“ (Lamnek 2005: 26). Die Offenheit ist vermutlich das wichtigste Abgrenzungskriterium der qualitativen Forschung gegenüber quantitativen Hypothesen-prüfenden Ansätzen. Der For‐ scher prüft nicht, ob eine Annahme stimmt oder nicht, sondern die Untersu‐ chungssituation ist für ihn die Möglichkeit, bei der Interpretation des Verhaltens der Forschungssubjekte neue Hypothesen und/ oder Theorien zu entwickeln. Dafür bedarf es der Offenheit auch für nicht erwartete Wendungen. Im vorlie‐ genden Unterrichtsforschungsprojekt ist das Prinzip Offenheit u. a. grundlegend für die Erfassung von interkulturellen Kompetenzen. Nur durch Offenheit im Auswertungsprozess können neue und unerwartete Kompetenzen in die Da‐ tenanalyse eingehen. 5.2.2 Kommunikation „Empirische Forschung ist immer auch Kommunikation, weshalb die alltägli‐ chen Regeln der Kommunikation im Forschungsprozess zu beobachten sind“ (Lamnek 2005: 26). Gelingt die Kommunikation, dann kann der Forscher vom Beforschten wichtige Aussagen zur Bestätigung, Erweiterung oder Generierung 133 5.2 Prinzipien qualitativer Forschung <?page no="134"?> von Hypothesen und/ oder Theorien erhalten. Gelingt die Kommunikation nicht, und es entsteht beispielsweise eine asymmetrische Kommunikationssituation durch Abfragen, und der Beforschte verweigert Aussagen bzw. ist in seinen Möglichkeiten Erfahrungen zur Thematik zu schildern eingeschränkt, dann sind die Gesprächsdaten kaum verwertbar. Während die Asymmetrie und das Ungleichgewicht durch das Frage-Antwort-Spiel in der quantitativen Sozialforschung geradezu strukturell angelegt sind, wird im qua‐ litativen Paradigma angestrebt, diese unglückliche Struktur tendenziell aufzubrechen (Lamnek 2005: 335). Im Unterrichtsforschungsprojekt wird die Kommunikation beforscht, da davon ausgegangen wird, dass sie am ehesten erlaubt, Vorstellungen der Untersuchten zu verstehen und Einblicke in Kompetenzen zu geben. Mit dem Bemühen um unvoreingenommene und symmetrische Kommunikation sollen zuverlässige Ergebnisse erarbeitet werden. Wenn im Forschungsprozess unsymmetrische Kommunikation als kommunikationsbehindernd festgestellt werden konnte, dann wurde die Vorgehensweise angepasst. Im konkreten Fall wurde beispiels‐ weise die Erfassung von Kontextdaten zu Interviewten vom Beginn an das Ende des Interviews verlegt (vgl. Kap. 6, S. , ). 5.2.3 Prozesshaftigkeit „Die empirische Forschung ist prozesshaft und damit in ihrem Ablauf verän‐ derbar“ (Lamnek 2005: 26). Durch die bewusst offen gestaltete Kommunikation zwischen Forscher und Beforschten muss immer wieder auf neue und unvor‐ hergesehene Aspekte der zu erarbeitenden Theorie eingegangen werden. Da‐ durch ist der Forschungsverlauf nicht im Detail vorhersehbar und linear, son‐ dern er ist immer wieder prozesshaft an die spezifische Situation anzupassen. Weitere Beispiele für die Prozesshaftigkeit sind das theoretical sampling in der grounded theory, bei dem sich erst im Laufe des Forschungsprozesses ent‐ scheidet, wer als nächstes befragt wird, oder die Aufgabenimplementationsfor‐ schung, bei der zuvor nicht abzusehen ist, wie viele praktische Forschungs‐ zyklen für die Erforschung von Aufgaben letztlich notwendig sind. Reinders schreibt zu dieser Thematik: Prozesshaftigkeit bei qualitativer Forschung bedeutet erstens, den dynamischen Pro‐ zess bei der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit zu beachten. Zweitens muss aus diesem Grund der Forschungsprozess als eine Reihe von Schleifen verstanden werden, die um die Formulierung von Fragen, dem Sammeln von Informationen und der Re‐ formulierung von Fragen kreist (Reinders 2005: 40). 134 5 Forschungsmethoden <?page no="135"?> Die Prozesshaftigkeit wird in meinem Unterrichtsforschungsprojekt beispiels‐ weise dann offenkundig, wenn Aufgabenplanungen, die sich in der Praxis nicht bewährt haben, überarbeitet und neuerlich erprobt werden (vgl. Kap. 7.4.3). 5.2.4 Reflexivität „Empirische Forschung ist reflexiv in Gegenstand und Analyse und der Sinn‐ zuweisung zu Handlungen, also auch im Analyseprozess“ (Lamnek 2005: 26). Analyse und Sinnzuweisungen von Handlungen erfolgen nicht schematisch oder statistisch-mathematisch, sondern sind Interpretationen von Forschern, die diese auf der Basis von eigenen Vorerfahrungen vornehmen. Das In-Fragestellen und Reflektieren von Bedeutungszuweisungen unterstützt die Vermei‐ dung von Fehlinterpretationen bzw. tendenziösen Interpretationen. Reflexivität spielt im Auswertungsprozess meines Unterrichtsforschungsprojekts z. B. dann eine wichtige Rolle, wenn bei dem Vergleich von Dateninterpretationen durch mehrere Interpretierende Unterschiede festgestellt und ergründet werden (vgl. Kap. 7.2.2.5). 5.2.5 Explikation „Die einzelnen Untersuchungsschritte sollen expliziert werden, um den kom‐ munikativen Nachvollzug zu ermöglichen“ (Lamnek 2005: 27). Die Prozesshaf‐ tigkeit qualitativer Forschung bringt es mit sich, dass im Prinzip für jede Un‐ tersuchung eine zumindest etwas andere Vorgehensweise gewählt werden kann. Die Verfahren sind im Vergleich zu quantitativer Forschung weniger standardisiert. Die Glaubwürdigkeit der Untersuchung und die Darstellung der Angemessenheit des Forschungsvorgehens erfordern deswegen eine besondere Transparenz und Nachvollziehbarkeit in der Beschreibung des Forschungspro‐ jekts. Mit Hilfe von „contextualization and thick description“ (Dörnyei 2007: 60) versuche ich meine Vorgehensweisen im Unterrichtsforschungsprojekt nach‐ vollziehbar zu präsentieren. 5.2.6 Flexibilität Die empirische Forschung muss im gesamten Forschungsprozess flexibel auf die Si‐ tuation und die Relation zwischen Forscher und Beforschten (auch im Instrumenta‐ rium) reagieren, sich an veränderte Bedingungen und Konstellationen anpassen (Lamnek 2005: 27). 135 5.2 Prinzipien qualitativer Forschung <?page no="136"?> Die Flexibilität steht im engen Zusammenhang mit der oben ausgeführten Pro‐ zesshaftigkeit. Es geht um die besondere Kompetenz der Forschenden, eine große Variationsbreite an gegenstandsangemessenen Forschungsvorgehen als Antwort auf sich verändernde Forschungsbedingungen zur Verfügung zu haben. Das Prinzip der Flexibilität wurde auch in diesem Unterrichtsforschungsprojekt in Anspruch genommen. Unterrichtsverläufe und die Beforschung des Unter‐ richts wurden so gut wie möglich antizipiert und vorgeplant. Doch Unterricht ist ein dynamischer Prozess und die Arbeit mit Gruppen von über 30 Personen ist nicht in jedem Detail vorhersehbar und steuerbar. Flexibler Umgang mit De‐ tailfragen ist unumgänglich, um den im Folgenden dargestellten Gütekriterien von Forschung gerecht zu werden. 5.3 Gütekriterien Wissenschaftliche Forschung bedarf Gütekriterien, um Standards bei empi‐ rischen Untersuchungen zu sichern. Wenn sich quantitative und qualitative Forschung wie oben beschrieben hinsichtlich einer Reihe von Aspekten unter‐ scheiden, dann stellt sich die Frage, ob bei beiden Ansätzen die gleichen Güte‐ kriterien angewendet werden können (vgl. Steinke 2005: 320-326). Im Anschluss an eine kurze Einführung zu den klassischen Gütekriterien ‚Validität‘ (Gültig‐ keit) und ‚Reliabilität‘ (Zuverlässigkeit), soll hier zunächst dargestellt werden, hinsichtlich welcher Kriterien die beiden Forschungsansätze (qualitativ, quan‐ titativ) ihre spezifischen Stärken und Schwächen haben. Dabei geht es letztlich darum zu überlegen, wie in den qualitativen Untersuchungen der vorliegenden Studie wissenschaftliche Standards gesichert werden können. 5.3.1 Gütekriterien bei qualitativen und quantitativen Untersuchungen Eine Untersuchung verfügt über eine hohe innere Validität, wenn der Forscher bei einer Untersuchung tatsächlich das untersucht, was er zu untersuchen vor‐ gibt. Das wäre beispielsweise nicht der Fall, wenn bei einem Textver‐ ständnis-Test mit offenen Antworten ein Proband nicht die korrekte Antwort geben kann, weil ihm die erforderlichen Schreibkompetenzen fehlen, obwohl er die Antworten eigentlich weiß. Der Test misst dann nicht nur das, was er zu messen vorgibt (das Textverständnis), sondern auch Sprachproduktionskompe‐ tenzen. Hinsichtlich der inneren Validität sind qualitative Untersuchungen im Vergleich zu quantitativen nicht schlechter gestellt. Durch die intensivere Aus‐ 136 5 Forschungsmethoden <?page no="137"?> einandersetzung mit den einzelnen Beforschten liegt bei der Erfüllung dieses Kriteriums der Vorteil eher bei den qualitativen Untersuchungen. Eine Untersuchung verfügt über eine hohe äußere Validität, wenn ihre Er‐ gebnisse, die sich aus der Untersuchung einer Teilgruppe (eines samples) er‐ geben, auf eine Großgruppe übertragen lassen, wenn sie also generalisierbar sind. In quantitativen Untersuchungen wird dieses Kriterium über eine statis‐ tisch ausreichend große Anzahl von Untersuchten erfüllt, die in wesentlichen Parametern die Eigenschaften der Großgruppe abbilden. Qualitative Untersu‐ chungen können in der Regel wegen der intensiveren Auseinandersetzung mit den einzelnen Beforschten weniger Fälle erfassen. Sie stellen in der Projektbe‐ schreibung das sample besonders genau dar, damit der Leser entscheiden kann, ob Ergebnisse der Untersuchung relevant und plausibel sowie übertragbar sind. Entsprechend habe ich in meinem Unterrichtsforschungsprojekt die Kontext‐ bedingungen und die Untersuchten ausführlich dargestellt (vgl. Kap. 7.3). Die eingeschränkte Übertragbarkeit von Ergebnissen qualitativer Forschung gilt, zumindest unter quantitativ orientierten Forschern, als eine Schwäche qualita‐ tiver Forschung. Sie erkennen zwar an, dass qualitative Forschung kleine Gruppen sehr exakt beschreiben kann, vermissen aber die Generalisierbarkeit der Ergebnisse als Teil ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Die Reliabilität einer Untersuchung zeigt an, ob die Messung zuverlässig er‐ folgt. Es gilt im Prinzip der Grundsatz, dass eine Untersuchung unter den glei‐ chen Bedingungen die gleichen Ergebnisse erbringt. Diese Replizierbarkeit ist in der empirischen Sozialforschung praktisch allerdings nicht gegeben, weder für qualitative noch für quantitative Forschung. Es ist weder möglich, die glei‐ chen Untersuchten nochmals zu beforschen, ohne dass die erste Untersuchung Einfluss auf die zweite hätte, noch findet sich eine identische zweite Untersu‐ chungsgruppe. Für die Reliabilität werden in der Fachliteratur die untergeord‐ neten Kriterien Durchführungsobjektivität, Auswertungsobjektivität und Zu‐ fallsunabhängigkeit angesprochen. Durchführungsobjektivität ist dann gegeben, wenn die Datenerhebung an allen Beforschten in gleicher Weise erfolgt. Bei quantitativen Untersuchungen können z. B. mit einheitlichen Fragebogen recht gut alle Probanden in der glei‐ chen Art und Weise befragt werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Ver‐ wendung eines gleichen Messinstruments schon die Einheitlichkeit der Erhe‐ bung sichert. Angenommen, mit dieser Fragebogenerhebung werden auch Personen befragt, die Fragen auf Deutsch nicht immer sicher verstehen oder für die aufgrund eines anderskulturellen Hintergrunds manche Fragen nicht rele‐ vant oder schlüssig sind, dann kann das individuellere Vorgehen bei einer qua‐ litativen Datenerhebung, bei der Fragen erklärt oder für diesen Interviewpartner 137 5.3 Gütekriterien <?page no="138"?> umformuliert werden, dem Kriterium der Durchführungsobjektivität näher kommen. Ein weiterer Aspekt der hinsichtlich der Durchführungsobjektivität eine Rolle spielen kann, ist die soziale Erwünschtheit der Antwort. Um zu ge‐ fallen, könnten Befragte Antworten geben, von denen sie vermuten, dass sie vom Forscher höher angesehen sind. Möglicherweise ist es daher ein Vorzug anonymer Fragebogen quantitativer Forschungsprojekte, den Befragten so viel Anonymität bei ihren Antworten zu gewähren, dass sie sich trauen, auch nicht erwünschte Antworten zu geben. Allerdings kann ein vertrauensvoll geführtes Interview ähnlich erfolgreich sein. Ein weiterer Vorteil des Interviews ist, dass es für Befragte schwerer ist, im persönlichen Gespräch absichtlich die Unwahr‐ heit zu sagen, als in einem Fragebogen eine unwahre Information anzukreuzen. In Interviews können zudem auch Widersprüche aufgedeckt und thematisiert werden. Die letzteren Argumente werden für die Interviewstudie mit den bi‐ lingual unterrichtenden Lehrkräften in Kapitel 6 dieser Arbeit in Anspruch ge‐ nommen. Ein weiterer Aspekt, der in dieser Untersuchung mittels Interviews zur Durchführungsobjektivität beitrug, war, dass in Interviews Themen erst Schritt für Schritt zur Sprache kommen und nicht, wie bei Fragebogenuntersu‐ chungen, sich die Befragten am Ende des Fragebogens anhand der erfragten Themen kundig machen können, worauf die Befragung hinausläuft, um ihre Antworten sozialerwünscht anpassen. Auswertungsobjektivität ist dann gegeben, wenn alle Datensätze in gleicher Weise ausgewertet werden. Bei den für quantitative Untersuchungen typischen Frageformen mit z. B. Ankreuzantworten ist Auswertungsobjektivität in der Regel besonders gut erfüllt. Bei Textdateninterpretationen in qualitativen Unter‐ suchungen ist es möglich, dass sich die Interpretationskompetenzen der Aus‐ wertenden erst im Verlauf der Analyse entwickeln bzw. verbessern und mit mehr Auswertungserfahrung werden Sachverhalte möglicherweise anders interpre‐ tiert. Zur Erhöhung der Auswertungsobjektivität habe ich deshalb in mehreren Auswertungszyklen gearbeitet und zu Beginn ausgewertete Datensätze später mit mehr Auswertungserfahrung nochmals gesichtet. Um individuell gefärbte Interpretationen und Auswertungsfehler zu vermeiden, sollten die Daten zu‐ mindest teilweise von mehreren Personen ausgewertet und die jeweiligen In‐ terpretationen miteinander verglichen werden. Zu diesem Zweck habe ich mit mehreren Co-Forscherinnen zusammengearbeitet (vgl. Kap. 7.2.2.5). Die Zufallsunabhängigkeit eines Tests will sicherstellen, dass ein Tester‐ gebnis möglichst nicht durch Zufallstreffer, also durch Erraten, erzielt werden kann. Frageformate mit Ankreuzantworten u. ä. in quantitativen Untersu‐ chungen besitzen eine geringere Zufallsunabhängigkeit als qualitative Unter‐ suchungen mit freien Antworten. 138 5 Forschungsmethoden <?page no="139"?> 1 2 3 Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass keine pauschale Aussage dazu getroffen werden kann, ob quantitative oder qualitative Forschungsansätze die genannten klassischen Gütekriterien erfüllen, sondern dass je nach Güte‐ kriterium die verschiedenen Ansätze ihre Stärken und Schwächen besitzen. 5.3.2 Diskussion zu Gütekriterien in der qualitativen Forschung Ines Steinke lehnt die Übernahme von Gütekriterien aus der quantitativen For‐ schung ab. Viele Formen von Objektivität, Reliabilität und Validität wurden für standardisierte [quantitative] Forschung entwickelt und sind daher nur bedingt auf qualitative For‐ schung übertragbar. Die Verwendung dieser Begriffe könnte dazu führen, dass unter‐ schiedliche und teilweise ungerechtfertigte Erwartungen an die […] Kriterien ge‐ knüpft werden (Steinke 2005: 323). Konkrete Gütekriterien ließen sich nur individuell für Forschungsvorhaben for‐ mulieren. Die Individualität qualitativer Forschungsprojekte steht ihrer Mei‐ nung nach im Widerspruch zu einem allgemeinverbindlichen Gütekriterienka‐ talog für alle Forschungsprojekte. Als Lösung stellt Steinke folgendes Vorgehen vor: Im ersten Schritt werden wenige Kern-Gütekriterien qualitativer Forschung formuliert, die dann im zweiten Schritt individuell und gegenstandsangemessen an Forschungsprojekte angepasst werden. Als Kern-Gütekriterien nennt sie die folgenden sieben Kriterien: Intersubjektive Nachvollziehbarkeit Eine umfangreiche Dokumentation (Vorverständnis des Forschers, Erhe‐ bungsmethode, Erhebungskontext, Transkriptionsregeln, Daten, Auswer‐ tungsmethoden, Informationsquellen, Entscheidungen und Probleme, Kri‐ terien für erfolgreichen Abschluss der Arbeit), Interpretation in Gruppen und Anwendung kodifizierter Verfahren (narratives Interview, Grounded Theory, u. ä.) soll sicher stellen, dass der Forschungsprozess transparent und nachvollziehbar ist. Indikation (Angemessenheit) des Forschungsprozesses Forschende stellen sicher, dass Forschungsansatz (qualitativ), Methoden‐ wahl, Transkriptionsregeln, Samplingstrategie, methodische Einzelent‐ scheidungen und Bewertungskriterien angemessen ausgewählt sind. Empirische Verankerung Die Theoriebildung erfolgt dicht an den Daten. Dabei ist die Theorie so an‐ gelegt, dass die Daten die Theorie erweitern und Vorannahmen des For‐ schers in Frage stellen können. Die Daten werden zum Versuch der Verifi‐ 139 5.3 Gütekriterien <?page no="140"?> 4 5 6 7 kation oder Falsifikation der Theorie genutzt. Kommunikative Validierung dient der Rückbindung der Theorie an die Untersuchten. Limitation Wo liegen die Grenzen des Geltungsbereichs der Theorie? Inwieweit ist die Theorie verallgemeinerbar? Durch die Einbeziehung welcher Fälle oder Be‐ dingungen können die Grenzen der Theorie ausgelotet werden? Kohärenz Ist die Theorie in sich konsistent? Wie wurden Widersprüche in den Daten und Interpretationen bearbeitet? Relevanz Bearbeitet ein Forschungsprojekt eine relevante Thematik? Können mit der Theorie relevante Phänomene erklärt werden? Reflektierte Subjektivität Kann der Forscher sich als Subjekt (mit seinen Erfahrungen, Theorien, Vo‐ rannahmen) reflektieren? Bezieht man Steinkes Gütekriterien auf die klassischen Kriterien Validität, Re‐ liabilität und Objektivität, kann man feststellen, dass Punkt 1, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität zuge‐ ordnet werden kann. Punkt 2, Indikation, kann weitgehend innerer Validität zugeordnet werden. Punkt 3, empirische Verankerung, ist selbstverständlich für jedes empirische Forschungsprojekt. Punkt 4, die Limitation, betrifft die äußere Validität (Generalisierbarkeit). Punkt 5, Kohärenz, kann innerer Validität und teils auch Auswertungsobjektivität zugeordnet werden. Punkt 6, Relevanz, be‐ trifft sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchungen in gleicher Weise. Punkt 7, die reflektierte Subjektivität, ist der Durchführungs- und Auswer‐ tungsobjektivität zuzuordnen. Steinkes Gütekriterien erscheinen schlüssig, leicht nachvollziehbar und kon‐ kret anschaulich, und sie liegen im Prinzip recht nahe an den klassischen Gü‐ tekriterien. Anstatt den Versuch zu unternehmen, quantitative von qualitativen Gütekriterien zu unterscheiden, könnte auch argumentiert werden, dass sich die beiden forschungsmethodischen Ansätze auf die gleichen Kriterien be‐ ziehen, aber ihre Stärken hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien besitzen. Dörnyei, der von einer zukünftigen Hinwendung zu mixed method designs aus‐ geht, hält eine strikte Trennung für nicht nötig. Er führt Maxwells Kriterienka‐ talog von 1992 an (vgl. Maxwell 1992), der beiden Forschungsansätzen Rechnung tragen soll (vgl. Dörnyei 2007: 58). Maxwell nennt die fünf Gütekriterien 140 5 Forschungsmethoden <?page no="141"?> 1. Descriptive Validity: Wie exakt beschreibt der Forscher bei der Datener‐ hebung das beobachtete Phänomen? Investigator Triangulation kann die Erfüllung dieses Kriteriums fördern. 2. Interpretative Validity: Interpretiert ein Forscher eine Aussage so, wie es der Interviewte gemeint hat? Kommunikative Validierung der Interpre‐ tation zusammen mit dem Interviewten können die Erfüllung des Krite‐ riums genauso fördern wie der Vergleich von Interpretationen verschie‐ dener Auswertender. 3. Theoretical Validity: Wie gut erklärt die Theorie das beobachtete Phä‐ nomen? 4. Generalizability: Können die am Sample gewonnenen Ergebnisse auf an‐ dere Gruppen der beobachteten Institution (Internal Generalizability) oder auf die Allgemeinheit (External Generalizability) übertragen werden? Maxwell und Dörnyei schreiben die Internal Generalizability eher der qualitativen Forschung zu, gestehen der qualitativen Forschung hinsichtlich Generalisierbarkeit aber zu, dass „even if the particulars of a study do not generalize, the main ideas and the process observed might“ (Dörnyei 2007: 59). 5. Evaluative Validity: Wie erfolgen Wertungen in der Untersuchung? Auf welchem Wertekanon basiert die Forschung? Die Kriterien 1.-4. können der Durchführungsobjektivität, der Auswertungsob‐ jektivität, der inneren Validität und äußeren Validität zugeordnet werden. Punkt 5, die Schaffung von Transparenz hinsichtlich des der Forschung zu Grunde liegenden Wertekanons, kann eher qualitativen Ansätzen zugeordnet werden. Quantitative Ansätze nehmen hier eher die Annahme der Wertfreiheit von Wis‐ senschaft für sich in Anspruch statt Motivation bzw. Werthaltungen darzulegen. Bei Byram ist dieses Kriterium zu finden, er führt aus, dass er seinen Analysen zur Intercultural Communicative Competence den Wertekanon der Menschen‐ rechte zugrunde legt (vgl. Byram 1997: 44). Wenn man die Wertfreiheit von For‐ schung generell in Frage stellt (vgl. kritische Theorie) und das erkenntnislei‐ tende Interesse der Forscher für wichtig für die Einschätzung von Forschungsergebnissen hält, dann trägt eine Transparenz hinsichtlich des zu‐ grundliegenden Wertekanons wesentlich zu einem vertieften Verständnis der Forschungsergebnisse bei. Hinsichtlich Maxwells Kriterien wurde im Rahmen des vorliegenden Unter‐ richtsforschungsprojekts bei der Datenaufnahme mit fünf Co-Forscherinnen zusammengearbeitet, um Informationen mehrfach, sicher und aus verschie‐ denen Perspektiven zu erfassen (1). Große Anteile der Datenauswertung er‐ folgten kooperativ und vergleichend (2). Vermutete Effekte des interkulturellen 141 5.3 Gütekriterien <?page no="142"?> Kompetenzerwerbs konnten durch Aufgabenoptimierung im Sinne der Theorie weiter verstärkt werden (3). Es ist davon auszugehen, dass das im Unterrichts‐ forschungsprojekt erarbeitete Unterrichtsmodell zur Vermittlung interkultu‐ reller Kompetenzen in der Institution Schule auch in anderen Klassen mit ver‐ gleichbaren Voraussetzungen erfolgreich eingesetzt werden kann (4). Für die vorliegende Untersuchung zu interkulturellen Kompetenzen ist die Auseinan‐ dersetzung mit Wertefragen wie z. B. zum Kulturrelativismus oder zur kultu‐ rellen Vielfalt grundlegend. Sie erfolgte in Kapitel 3 ausführlich (5). 5.4 Qualitative Interviews allgemein Die wichtigste Datenerhebungsmethode des vorliegenden Forschungsprojekts sind Interviews. In der ersten der beiden empirischen Untersuchungen zu Art und Umfang interkulturellen Lernens im bilingualen Unterricht dienen sie als alleinige Datenerhebungsmethode. In der zweiten empirischen Untersuchung, dem Unterrichtsforschungsprojekt, sind Gruppeninterviews mit Schülerinnen und Schülern im Anschluss an den Unterricht die wichtigste Datenquelle. Interviews sind eine verabredete Zusammenkunft zwischen Interviewer und Befragtem, mit dem Ziel, planmäßig und systematisch Informationen aus der subjektiven Perspektive von Per‐ sonen zu erhalten, die der Beantwortung einer wissenschaftlichen Fragestellung dienen (Reinders 2005: 130). In der qualitativen Forschung werden eine Reihe verschiedener Interviewtypen genutzt, beispielsweise narrative Interviews, Leitfadeninterviews, problemzent‐ rierte Interviews etc. Die Benennung der Interviewformen erfolgt nicht syste‐ matisch und auch nicht bei allen Autoren einheitlich. Mayring schlägt vor, die beiden Kriterien Offenheit und Strukturierung als zentrale Elemente zur Un‐ terscheidung qualitativer Interviews zu nutzen (vgl. Mayring 2002). Wie viel Raum lässt der Interviewende dem Interviewten? Wie viel Struktur, und damit Steuerung, gibt der Interviewende vor? Im Prinzip gilt: Offene Interviewformen (z. B. narratives Interview) geben dem Interviewten viel Raum für eigene Beiträge und Selbstständigkeit hinsicht‐ lich der Steuerung des Verlaufs des Interviews, so dass der Interviewte theo‐ rieerweiternde und unvorhergesehene Aussagen machen kann. Es besteht aber auch die Gefahr, dass große Teile des Interviews vom Untersuchungsthema ab‐ schweifen, und damit auch die Zeit für die wesentlichen Fragen fehlt. Ferner können Interviewer und Interviewte vom offenen Format auch überfordert sein. 142 5 Forschungsmethoden <?page no="143"?> Der Interviewer hält möglicherweise die Pausen während des Interviews nicht aus. Der Interviewte ist möglicherweise überfordert, eine Erzählung selbst zu strukturieren, und eine stärkere Führung durch Impulse und Fragen würde mehr Informationen hervorbringen. Offene Interviews sind besonders stark von der Kompetenz der Interviewpartner abhängig. Besonders stark strukturierte Interviews werden entlang einer Checkliste geführt, die Fragenreihenfolge variiert nur wenig und es werden vornehmlich Fragen gestellt, die mit Ja oder Nein, mit Alternativantworten oder mit Kurz‐ antworten zu beantworten sind. Der Interviewer erhält hier ausschließlich Aus‐ sagen zur Thematik und erfährt nur wenig Unvorhergesehenes. Die Auswertung solcher Interviews ist relativ einfach, da die Daten leicht zu gruppieren und miteinander zu vergleichen sind. Komplett durchstrukturierte Interviews gelten demnach eher als quantitative Erhebungsmethode. Die in der qualitativen For‐ schung erwünschte Symmetrie des Interviewgesprächs, bei der Interviewte als gleichwertiger Partner im Forschungsprozess angesehen wird, ist bei starker Strukturierung kaum erreichbar. Aus den genannten Gründen setzte ich in meiner Studie sowohl bei der Befragung von Lehrkräften zu interkulturellen Kompetenzen in deren bilingualem Unterricht (Kap. 6) als auch im Unterrichts‐ forschungsprojekt (Kap. 7) halboffene Interviewformen ein. 5.5 Leitfadeninterviews Leitfadeninterviews gelten als Kompromiss zwischen Offenheit und Struktu‐ riertheit, es handelt sich dabei um halbstandardisierte Interviews (vgl. Reinders 2005: 99). Der Interviewer nutzt für das Interviewgespräch eine Liste von Fragen und Impulsen. Der Leitfaden dient hierbei als Orientierung, damit kein rele‐ vantes Thema vergessen wird. Der Interviewer kann die Reihenfolge der Fragen ändern, und beispielsweise ein vom Interviewten angesprochenes Thema auf‐ greifen. Reinders bezeichnet den Leitfaden als „zentrale[s] Scharnier zwischen Theorie und Empirie“ (Reinders 2005: 151). Der Forscher kann einen Leitfaden nur dann erstellen, wenn er bereits Vorannahmen zum Untersuchungsgegen‐ stand besitzt. Die Berücksichtigung von Vorannahmen und Theorie unter‐ scheidet Leitfadeninterviews von rein induktiv orientierten qualitativen Erhe‐ bungsmethoden. Der Interviewer hat im Vorfeld die Fachliteratur zur Thematik konsultiert, und seine Fragen und Impulse sind nun geeignet, die Theorie zu ergänzen und Lücken zu füllen. Ein Leitfaden sollte zumindest zu Beginn offene und erzählungsgenerierende Fragen enthalten. Ferner sollten die Fragen so offen angelegt sein, dass der Interviewte auch Unerwartetes äußern kann. Ver‐ 143 5.5 Leitfadeninterviews <?page no="144"?> allgemeinernd kann festgehalten werden, dass der Leitfaden thematisch struk‐ turierend wirkt, und dass das Attribut Offenheit mittels entsprechender Fragen und Impulse angestrebt wird. Im Idealfall entsteht eine symmetrische Ge‐ sprächsbeziehung entlang einer vom Interviewer gewählten Themenstruktur. Im vorliegenden Forschungsprojekt wurden sowohl bei der Untersuchung zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht als auch beim Klassenforschungsprojekt Leitfadeninterviews genutzt. In den beiden folgenden Kapiteln (Kap. 6 und Kap. 7) wird deren spezifische Struktur jeweils erläutert. 144 5 Forschungsmethoden <?page no="145"?> 6 Interviewstudie mit Lehrkräften Interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Unterricht fördern - Lehrkräfte be‐ richten aus der Unterrichtspraxis Dieses Kapitel beschreibt Planung und Durchführung der ersten meiner beiden empirischen Untersuchungen zur Vermittlung von interkulturellen Kompe‐ tenzen im bilingualen Unterricht. Bilingual unterrichtende Lehrkräfte wurden dazu interviewt, welche Bedeutung sie der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen beimessen, und wie die Unterrichtspraxis zur Vermittlung inter‐ kultureller Kompetenzen aussieht. Wie in den vorhergegangenen Kapiteln be‐ schrieben fordern sowohl kultusministerielle Veröffentlichungen als auch die Fachliteratur das interkulturelle Lernen im bilingualen Unterricht ein (siehe S. , , f.). Es gilt als der bilinguale Mehrwert für das Sachfach (vgl. Otten & Wild‐ hage 2003: 21). In informellen Gesprächen mit bilingual unterrichtenden Leh‐ rerinnen und Lehrern entstand bei mir allerdings der Eindruck, dass dem inter‐ kulturellen Lernen in der Praxis eher wenig Bedeutung beigemessen wird. Häufig werden Themen bilingual unterrichtet, die nur wenig Potential für in‐ terkulturelles Lernen beinhalten, und es werden häufig Unterrichtsmaterialien verwendet, die die Erarbeitung einer fremdkulturellen Perspektive nicht er‐ möglichen. Der erste empirische Teil dieser Arbeit überprüft deshalb meine subjektiven Eindrücke, die auf eine geringe Bedeutung des interkulturellen Lernens im bilingualen Unterricht hindeuten. Folgenden Fragen wurde in der Voruntersuchung zur Vermittlung interkul‐ tureller Kompetenzen von Lehrkräften im bilingualen Unterricht (Leitfadenin‐ terviews mit narrativem Intervieweinstieg) nachgegangen: • Welchen Stellenwert haben interkulturelle Kompetenzen im bilingualen Unterricht der interviewten Lehrkräfte? • Welche konkreten Unterrichtssituationen schildern die Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht? • Wie sind die Lehrkräfte gegenüber interkulturellem Lernen eingestellt? Nachdem das vorherige Kapitel (Kap. 5) qualitative Forschung und qualitative Interviews allgemein diskutiert hat, steht in diesem Kapitel nun die konkrete Interviewstudie und deren forschungsmethodisches Vorgehen im Mittelpunkt. Die Ergebnisse der Studie sollen auch Aufschluss darüber geben, ob es einen <?page no="146"?> Bedarf für Aufgabenforschung zum interkulturellen Lernen im bilingualen Un‐ terricht gibt. 6.1 Interviews mit Lehrkräften für den bilingualen Unterricht Diese erste empirische Untersuchung erhob Daten ausschließlich mittels Leit‐ fadeninterviews. Der für die Interviews konzipierte Leitfaden greift insbeson‐ dere zentrale Elemente des Problemzentrierten Interviews (PZI) auf. Im PZI wird der Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselverhältnis organisiert (vgl. Witzel 2000, Zusammenfassung). Das Vorwissen des Forschers geht in die Leitfadenkonzeption und in die Ideen für Nachfragen ein. Der eingesetzte In‐ terviewleitfaden (siehe Anlage 1) enthält 17 Leitfragen, die auf der Basis des Vorwissens und Annahmen der Interviewenden zur Thematik formuliert wurden. Der Interviewleitfaden enthält ferner Ausführungen zum Erkenntnis‐ interesse der jeweiligen Frage, um das Nachfragen zu erleichtern, und insgesamt 10 mögliche Nachfragen. Der Gegenpol zu vorstrukturierten Leitfadeninterviews sind offene Inter‐ views. Witzel schlägt vor, zum Zwecke der Berücksichtigung des Offenheits‐ prinzips die Interviewten zu Erzählungen anzuregen (vgl. Witzel 2000). Der in meinem Projekt eingesetzte Leitfaden enthält eine Reihe von offenen Fragen insbesondere zu Beginn des Interviews. Die Lehrkräfte werden hier gebeten, von Praxiserfahrungen zu berichten, denen sie Bedeutung hinsichtlich der The‐ matik zusprechen. Problemzentrierung im PZI beschreibt die Fokussierung einer gesellschaftlich relevanten Fragestellung, wobei der Interviewer dann während des Interviews am Problem orientierte Nachfragen stellt und zunehmend stärker seine For‐ schungsinteressen in das Zentrum der Kommunikation rückt (vgl. Witzel 2000). Der bei den Interviews mit den Lehrkräften verwendete Leitfaden beginnt mit allgemeinen und erzählungsgenerierenden Fragen und fokussiert dann zuneh‐ mend stärker die Thematik interkulturelles Lernen. Witzel schlägt vor, das Interview durch eine vorgelagerte Abfrage mittels Kurzfragebogen zur Ermittlung der Sozialdaten zu entlasten (vgl. Witzel 2000). In den Interviewleitfaden für die Interviews mit den Lehrkräften habe ich aus diesem Grund ebenfalls ein Kurzfragebogen integriert (siehe Anlage 1). In der Endfassung wurden diese Daten - entgegen Witzels Empfehlungen - erst nach dem eigentlichen Interview erfasst, da deren Erfassung kaum in symmetrischer Kommunikation zu bewerkstelligen ist, und eine unsymmetrische Kommuni‐ 146 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="147"?> kation zu Beginn des Interviews die Offenheit der Interviewten beeinträchtigen kann. Diese Empfehlung findet sich auch bei Flick (2006: 137). Mittlerweile selbstverständlich ist Witzels Empfehlung der Tonträgeraufzeichnung. Die In‐ terviews mit den Lehrkräften wurden in der Regel digital aufgezeichnet. Ferner wurden Postskripte erstellt, die zusätzliche Informationen zum Interviewten und zur Interviewsituation erfassten. Neben den von Witzel genannten Infor‐ mationen wurde insbesondere vermerkt, ob die Aussagen der Lehrkraft schlüssig und zuverlässig erschienen. Die von Witzel vorgeschlagene Gliederung des Interviews in die Phasen er‐ zählungsgenerierender Einstieg, allgemeine Sondierungsfragen und Ad Hoc Fragen sowie spezifische Sondierungsfragen, wurde für die Interviews mit Lehr‐ kräften übernommen. Witzel befürwortet die Offenlegung des Erkenntnisinter‐ esses gegenüber den Interviewten (vgl. Witzel 2000). In der vorliegenden Inter‐ viewstudie wurde im Laufe des Interviews das Erkenntnisinteresse offen gelegt. Die Thematik ‚interkulturelles Lernen‘ enthält in besonderem Maße soziale Er‐ wünschtheit, da kaum eine Lehrkraft dieses von Bildungsplänen eingeforderte Richtziel bewusst ablehnen würde. Das gewählte Vorgehen mit narrativem In‐ tervieweinstieg zur tatsächlichen Unterrichtspraxis der Lehrkräfte und einer erst darauf folgenden Befragung zur Einschätzung der Bedeutung des interkul‐ turellen Lernens im Unterricht erschien daher besser geeignet, zuverlässige Daten zu generieren, da die Konsistenz der Aussagen (Unterschiede zwischen berichtetem Handeln und berichteter Bedeutungszumessung) eingeschätzt werden kann. Hinsichtlich der Kommunikationsstrategien wurden die von Witzel ge‐ nannten Techniken ‚Rückspiegelung mit kommunikativer Validierung der In‐ terviewäußerungen‘ und ‚klärende Verständnisfragen‘ eingesetzt. Witzels Vor‐ schlag des Einsatzes von Konfrontationen wurde wegen deren besonderen Anforderungen an das Interviewklima verworfen. Die folgenden von Witzel vorgeschlagenen Aspekte wurden berücksichtigt: vollständige Transkriptionen aller Interviews, mehrfaches Durcharbeiten aller Texte zu Gunsten einheitlicher Interpretationsvoraussetzungen, elektronische Kodierung der Texte zum Ver‐ gleich von Aussagen zu Einzelthemen, eine Reflexion der Auswertenden (hin‐ sichtlich Interviewdurchführung, interpretativen Unsicherheiten und mögli‐ chen methodischen Fehlern) und diskursive Validierung der Interpretationen durch die Auswertungsteams (vgl. Witzel 2000). Über Witzels Vorschläge hinaus erfolgte in der vorliegenden Interviewstudie eine Validierung der Transkripti‐ onstexte durch die Interviewten. Sie hatten Gelegenheit, Aussagen zu ergänzen und zu korrigieren. Wenn dies erfolgte, wurden ursprüngliche und geänderte Aussagen dokumentiert. Bei der Pilotierung des Interviewleitfadens konnte er 147 6.1 Interviews mit Lehrkräften für den bilingualen Unterricht <?page no="148"?> an mehreren Stellen verbessert werden. Insbesondere die Reihenfolge von Fragen und Frage-Blöcken wurde kritisch reflektiert und angepasst. Die meisten der oben genannten Empfehlungen Witzels zum Vorgehen bei Interviews finden sich auch in Texten von anderen Autoren (z. B. Flick 2006; Reinders 2005: 96-100), die Gesamtschnittmenge mit Empfehlungen aus dem PZI erschien allerdings am größten. Reinders zitiert Mayring (2000: 71) [sic! korrekt: 2002] damit, dass sich das PZI „vor allem bei stärker theoriegeleiteter Forschung mit spezifischen Fragestellungen und bei Forschung mit größeren Stichproben“ anbietet (Reinders 2005: 123) - beide Merkmale treffen für diese Interviewstudie mit Lehrkräften zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingu‐ alen Unterricht zu. Reinders beschreibt die Auswertung von PZI als recht zeit‐ effizient, da durch den Leitfaden ein recht großes Maß an Standardisierung vor‐ handen ist und „das Kategoriensystem zur Auswertung [sich] in Teilen an den Leitfaden an[-lehnen kann]“ (Reinders 2005: 124). Reinders empfiehlt eine Ober‐ grenze von 10 Interviews bei Abschlussarbeiten - im vorliegenden Projekt wurden 32 Interviews bearbeitet. Das kooperative Vorgehen ermöglichte eine Ausweitung des samples. 6.2 Durchführung der Interviewstudie Die Durchführung und Auswertung der Studie fand in Zusammenarbeit mit Lehramtsstudierenden statt, die zugleich Teilnehmer eines von mir durchge‐ führten fremdsprachendidaktischen Seminars waren. Ich versuchte die Studie‐ renden so stark wie möglich in die Untersuchung einzubinden. Letzte Entschei‐ dungen, beispielsweise zur Konzeption des Interviewleitfadens, wurden von mir getroffen. Auch die hier vorgestellten Dateninterpretationen sind zwar mit den Interpretationen der Studierenden trianguliert, geben jedoch letztlich die von mir begründet vertretenen Interpretationen wieder. Im Januar 2007 wurden 32 bilingual unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe 1 an deutschen Regelschulen durch 64 Studierende der Pä‐ dagogischen Hochschule Freiburg dazu befragt, welche Rolle die Vermittlung interkultureller Kompetenzen in ihrem bilingualen Unterricht spielt. Die Inter‐ views dauerten zumeist zwischen 15 und 20 Minuten. Die Zuhilfenahme eines Interviewleitfadens stellte sicher, dass bei allen Interviews in etwa die gleichen Aspekte angesprochen wurden und vergleichbare Fragen gestellt bzw. Impulse gesetzt wurden. Die Vorbereitung der Interviewerinnen und Interviewer er‐ folgte im Rahmen eines Hochschulseminars zum interkulturellen Lernen im bi‐ lingualen Unterricht. Im Seminar setzten sich die Studierenden einerseits in‐ 148 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="149"?> haltlich mit der Thematik auseinander, andererseits arbeiteten sie zur Datenerhebungsmethode ‚Interview‘. 6.2.1 Der Interviewleitfaden Der verwendete Interviewleitfaden (siehe Anlage 1) wurde so konzipiert, dass das Interview zu Beginn einem narrativen Interview ähnelt (vgl. Flick 2006: 147). Die interviewte Lehrkraft weiß von Beginn an, dass es im Interview um das Thema bilingualer Unterricht geht. Den genaueren Fokus, die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht, erfährt sie im Laufe des Interviews. In den Fragen und Impulsen geht es zunächst darum, dass die Lehrkraft vom konkreten Unterricht berichtet. Sie wird aufgefordert „erfolg‐ reiche Unterrichtssituationen“ zu schildern und zu erläutern, woran diese zu erkennen sind. Sie wird zudem gefragt, was ihr im bilingualen Unterricht wichtig zu vermitteln ist, also zu ihren Lernzielen. Erst bei Frage Nummer. 7, wenn danach gefragt wird, ob die Lehrkraft im bilingualen Unterricht „kulturelle Sichtweisen vergleichen lässt“ wird offensichtlich, dass es um interkulturelles Lernen geht. Auch bei dieser Frage wird nach konkreten Handlungen gefragt und nicht etwa abstrakt, ob „interkulturelle Kompetenzen vermittelt werden“ oder gar „ob der Lehrerin / dem Lehrer das interkulturelle Lernen ein wichtiges Lernziel ist“. Fokus ist immer der konkrete Unterrichtsbezug. Diese Vorgehens‐ weise - über konkrete Situationen zu sprechen und das interkulturelle Lernen zunächst gar nicht direkt anzusprechen, sondern die Bedeutung des Themas erst im Laufe der ersten sieben Fragen zu entwickeln - versprach am ehesten, zu‐ verlässige Aussagen zu liefern. Die soziale Erwünschtheit bei dieser Thematik könnte sonst die Ergebnisse beeinflussen, wie aus meiner Sicht bei der Unter‐ suchung von Buchinger geschehen (vgl. Buchinger 2006: 58, 70). Die vorlie‐ genden Interviews waren also so angelegt, dass sich eine Lehrkraft über kon‐ krete Unterrichtssituationen mit den Interviewenden unterhielt, und sich das Gespräch nur langsam der Thematik ‚interkulturelles Lernen‘ näherte. Entspre‐ chend ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Gespräch möglichst korrekt die Unterrichtswirklichkeit bzw. die Perspektive der Lehrkraft auf die Unterrichts‐ wirklichkeit abbildet. Der zweite genauso gewichtige Grund, mit halbstrukturierten Interviews zu arbeiten war, dass in einem Interview differenzierter und individueller auf Vor‐ stellungen von und Beweggründe für die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen der Lehrkräfte eingegangen werden kann. Ein Interview bildet somit besonders gut die Motivation und die Praxis der Lehrkraft ab. 149 6.2 Durchführung der Interviewstudie <?page no="150"?> 6.2.2 Pilotierung Die Konzeption und die Fragen des Interviewleitfadens wurden mit Experten, die schon mehrfach Interviewstudien durchgeführt hatten, besprochen, und die vorläufige Endversion wurde dann pilotiert, also im Interview mit einer bilin‐ gual unterrichtenden Lehrkraft erprobt. Für diese Erprobung wurde eine Lehr‐ kraft ausgewählt, bei der mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen war, dass interkulturelle Kompetenzen eine Rolle in ihrem bilingualen Unterricht spielen, denn die Fragen 8 bis 17 des Leitfadens können nur in diesem Fall wirk‐ lich auf ihre Eignung für die Interviews erprobt werden. Im Unterschied zu den Interviews der eigentlichen Untersuchung wurde dieses Testinterview nicht nur als MP3-Audio-Datei, sondern zusätzlich mit einer Videokamera aufgezeichnet. Außerdem wurden die Interviewführung und die Fragen gemeinsam mit der Lehrkraft direkt nach dem Interview reflektiert. In einer Seminarsitzung diente dann das aufgezeichnete Interview als Anschauungsmaterial für die Studie‐ renden und zur weiteren Verbesserung des Interviewleitfadens. Folgende Opti‐ mierungen des Interviewleitfadens erfolgten nach der Pilotierung: a) Verlegung der Erfragung von Basisdaten an das Ende des Interviews entgegen Empfeh‐ lungen aus der Literatur (vgl. Witzel 2000, Absatz 6), da die Abfrage einen har‐ monischen, symmetrischen Gesprächsauftakt eher behinderte als unterstützte; b) Ergänzung von Hilfen zur Interviewdurchführung (z. B. ‚aktives Zuhören‘); c) Ergänzung von Hinweisen zur Interviewdurchführung (siehe Anlage 1); d) Herabstufung einer Frage auf den Rang einer Nachfrage; e) Änderung der Rei‐ henfolge von Fragen im hinteren Interviewteil; f) stärkere Ausrichtung einer Frage (Frage 8) auf die Unterrichtspraxis. 6.2.3 Mit dem Leitfaden vertraut werden und Interviewen trainieren Um die 64 studentischen Interviewerinnen und Interviewer noch intensiver mit der Endversion des Interviewleitfadens vertraut zu machen und den Umgang mit ihm zu üben, erhielten sie in einer Seminarsitzung im nächsten Schritt die Aufgabe, sich gegenseitig mit dem Leitfaden zu interviewen. Für dieses Rollen‐ spiel erhielten beide je eine Anweisung, von der der Interviewpartner keine Kenntnis hatte. Derjenige, der die Rolle der Lehrkraft einnahm, erhielt die Auf‐ gabe „Weichen Sie zunächst immer erst in die Theorie aus, wenn der Interviewer Sie zu Ihren Erlebnissen befragen möchte (z.B.: „Man sagt ja, …..“; „In der Lite‐ ratur steht dazu ….“). Erzählen Sie erst etwas von Ihren Unterrichtssituationen, wenn der Interviewer noch Mal nachfragt.“ Derjenige, der die Rolle des Inter‐ viewenden einnahm, erhielt die Anweisung „Geben Sie sich nicht mit allge‐ 150 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="151"?> meinen Aussagen zufrieden. Fragen Sie höflich und beharrlich nach den Erfah‐ rungen der Lehrkraft in der Klasse. Das wird manchmal mehrerer Anläufe bei einer Frage bedürfen.“ Die Studierenden zeichneten ihre Interviews auf und konnten mit den Aufnahmen prüfen, ob ihre Fragetechnik geeignet war. 6.2.4 Auswahl der Interviewten In qualitativen Forschungsprojekten spielt die Auswahl (sampling) der zu Be‐ forschenden eine besondere Rolle. Nicht durch eine große Anzahl von Unter‐ suchten wird eine repräsentative Stichprobe geschaffen, sondern durch die be‐ sondere Auswahl der Untersuchten wird eine Gruppe zusammengestellt, deren Aussagen vermutlich geeignet sind, Antworten auf die Forschungsfragen zu liefern (vgl. Dörnyei 2007: 126). Beim theoretical sampling der Grounded Theory ergeben sich aus den bislang gewonnenen und ausgewerteten Daten von Un‐ tersuchungspersonen, wer als nächstes beforscht wird, d. h. es wird die Überle‐ gung angestellt, welcher zu Untersuchende mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Beitrag zur Theoriekonstruktion liefern kann. Bei der hier vorgestellten Untersuchung zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht wäre ein Vorgehen gemäß der Grounded Theory nur theoretisch geeignet gewesen. Man hätte beispielsweise zunächst die Unterrichtspraxis und die Motivation für die Vermittlung von interkultu‐ rellen Kompetenzen von Lehrkräften mit gesellschaftswissenschaftlichen Fä‐ chern am Gymnasium erforschen können und anschließend, je nach den Zwi‐ schenergebnissen, dies weiter vertiefen, oder auf andere Fächer, Schularten, Jahrgangsstufen erweitern können. Praktisch war im hier beschriebenen For‐ schungsprojekt durch die Einbindung von Studierenden und aufgrund des Zeit‐ rahmens von einem Semester ein solches Vorgehen nicht möglich. Die Studie‐ renden haben etwa gleichzeitig ihre Interviews geführt und die Daten für ihren jeweiligen Anteil ausgewertet. Die Interviews mit folgenden Personengruppen gingen in diese Untersu‐ chung ein: 1. Die interviewten Lehrkräfte arbeiten an einer Schule, an der Unterrichts- und Kommunikationssprache Deutsch ist, und nicht die Sprache, die im bilingualen Unterricht verwendet wird. Damit werden sogenannte inter‐ nationale Schulen mit ihrer besonderen Schülerzusammensetzung aus‐ geschlossen. Dieser Ausschluss ist damit begründet, dass insbesondere für den Bereich interkulturelles Lernen an internationalen Schulen ganz besondere Vermittlungsmöglichkeiten gegeben sind, die mit denen an Regelschulen nicht vergleichbar sind. Der Fokus dieser Untersuchung 151 6.2 Durchführung der Interviewstudie <?page no="152"?> liegt auf den Regelschulen, da auch Bezug auf KMK-Veröffentlichungen, Bildungspläne und fachdidaktische Veröffentlichungen genommen wird, die sich an Lehrkräfte von Regelschulen wenden. 2. Die interviewten Lehrkräfte erteilen bilingualen Unterricht in der Sekun‐ darstufe. Damit werden Interviews mit Lehrkräften, die in der Primarstufe bilingual unterrichten, ausgeschlossen. Bilingualer Unterricht in der Pri‐ marstufe von Regelschulen ist in Deutschland bislang wenig verbreitet, und er unterliegt wegen der geringen Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler besonderen Bedingungen. Die Vermittlung von interkultu‐ rellen Kompetenzen in dieser Stufe ist ein eigenständiges Thema, auf das hier nicht eingegangen werden soll. 6.2.5 Vorgehen bei der studentischen Datenauswertung Die Interviews wurden im Januar 2007 durchgeführt. In den meisten Fällen (21) wurden die Lehrkräfte im direkten persönlichen Kontakt interviewt. Sechs Lehrkräfte wurden telefonisch befragt, vier per E-mail und eine Person per chat. Zu den 27 mündlichen Befragungen gibt es in vier Fällen keine Audioauf‐ nahme, entweder aus technischen Gründen, oder weil die Lehrkraft das nicht wünschte. Um im Seminar arbeitsteilig mit den Daten arbeiten zu können, transkri‐ bierten die Studierenden die 15bis 20-minütigen Interviews und fassten an‐ schließend die Aussagen der interviewten Lehrkraft zu jeder der 17 Fragen zu‐ sammen. Ferner enthalten die studentischen Zusammenfassungen Angaben zu formalen Aspekten, wie Namen der Interviewer und Interviewten, Kontakt‐ daten, Ort und Form des Interviews, Art der Datenaufnahme, Schulstandort, Schultyp, Fremdsprache, bilingual unterrichtete Klassenstufe und Fächer, Aus‐ bildung der Lehrkraft für den bilingualen Unterricht, Umfang der Erfahrung der Lehrkraft mit bilingualem Unterricht und Art des bilingualen Programms der Schule. Die Studierenden beschrieben ferner ihren Eindruck von der Atmo‐ sphäre während des Interviews und der Offenheit des Interviewpartners (vgl. „Postskripte“ in Witzel 2000, Absatz 9). Besonders wichtig für diese Arbeit sind die zusammenfassenden Einschätzungen der Interviewenden nach den Frage‐ blöcken 1 und 2 (siehe Anlage 1) zu Absicht und Bewusstheit der Lehrerinnen und Lehrer bezüglich der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht. Diese Einschätzungen eignen sich in besonderer Weise, um sie mit meinen Interpretationen zu triangulieren. Um den Studierenden die arbeitsteilige Auswertung ihrer Daten zu erleich‐ tern, wurden für alle Interviews die Basisdaten und die Zusammenfassungen zu 152 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="153"?> den einzelnen Fragen mit der Textanalyse-Software MaxQDA kodiert, so dass sich die Studierenden nach einer kurzen Einweisung in die Software die Aussagen aller Lehrkräfte zu einer Thematik per Mausklick anzeigen lassen konnten. Mit den Zusammenfassungen, und unter Einbezug von Schlüsselzitaten aus den Transkriptionen präsentierten die Studierendengruppen die verschiedenen The‐ menbereiche der Interviews in der letzten Seminarsitzung des Semesters. Es gab Kurzvorträge zu den Lernzielen der Lehrkräfte, zum Stellenwert des interkultu‐ rellen Lernens, zu Materialien, die als geeignet für das interkulturelle Lernen be‐ schrieben wurden u. ä. Das Seminar beinhaltete somit ein vollständiges For‐ schungsvorhaben. In 15 doppelstündigen Seminarsitzungen konnte bei teilweise recht umfangreicher häuslicher Vor- und Nachbereitung von der Interviewleitfa‐ denerstellung über die Interviews, die Datenauswertung bis zur Präsentation ein komplettes kleines Forschungsprojekt durchgeführt werden. Die Studierenden beschrieben die Mitarbeit an einem Forschungsprojekt als bereichernd, da Theorie direkt angewandt wurde, und Wissen über Forschungs‐ methoden in forschungsmethodische Kompetenz umgewandelt werden konnte. Vielen Interviews und Transkriptionen ist das besondere Engagement der Stu‐ dierenden für ihre Arbeit anzumerken. Forschung und Lehre bildeten im Se‐ minar eine Einheit und bereicherten sich gegenseitig. Unabhängig von den Aus‐ wertungen und Interpretationen der Studierenden wurden sämtliche 32 Interviews nochmals von mir, dem Forschungsleiter, interpretiert. Meine Inter‐ pretationen konnten dann mit denen der Studierenden verglichen werden (Tri‐ angulation). 6.3 Datenerhebung Im Folgenden wird die Interviewtengruppe vorgestellt. Zunächst werden hierfür Basisdaten besprochen; zu interpretierende Daten werden im Überblick be‐ schrieben und anschließend besonders interessante Einzelfälle behandelt. 6.3.1 Zusammensetzung der Interviewtengruppe 6.3.1.1 Fremdsprachen Von den 32 ausgewählten Interviews wurden 22 mit Lehrkräften geführt, die ihren bilingualen Unterricht mit der Fremdsprache Englisch (Engl.) und neun Lehrkräften, die ihn mit der Fremdsprache Französisch (Frz.) erteilen. Eine Leh‐ rerin unterrichtet sowohl auf Englisch als auch auf Französisch. Damit ist der Anteil der französisch bilingual Unterrichtenden etwas höher als im bundes‐ 153 6.3 Datenerhebung <?page no="154"?> weiten Durchschnitt (vgl. Kultusministerkonferenz 2006 „Konzepte für den bi‐ lingualen Unterricht - Erfahrungsbericht und Vorschläge zur Weiterentwick‐ lung“), was daran liegen mag, dass ein recht großer Teil der Interviews in Südbaden geführt wurde, wo es verhältnismäßig viele Schulen mit bilingualem Unterricht auf Französisch gibt. 6.3.1.2 Schulstandorte 22 der 32 Interviews wurden mit Lehrkräften aus Baden-Württemberg geführt, die restlichen Interviews mit Lehrkräften aus Nordrhein-Westfalen, Rhein‐ land-Pfalz, Bayern, Niedersachsen, Berlin und mit einer Lehrkraft aus der Schweiz. 6.3.1.3 Schularten 16 der 32 Interviews wurden mit Realschullehrkräften (RS) und 14 mit Gymna‐ siallehrkräften (Gym) geführt, eines mit einer Hauptschullehrkraft (HS) und eines mit einer Gesamtschullehrkraft. Damit fällt der Anteil der Realschullehr‐ kräfte recht hoch aus (vgl. Kultusministerkonferenz 2006: 14), was daran liegen mag, dass die interviewenden Studierenden die Pädagogische Hochschule Frei‐ burg besuchten, die eine starke Verbindung zu Realschulen hat. Im Jahr 2007 wurden in Baden-Württemberg Lehrkräfte für das Gymnasium an den Univer‐ sitäten und Lehrkräfte für Grund-, Haupt- und Realschule an den Pädagogischen Hochschulen ausgebildet. 6.3.1.4 Sachfächer Mit 16 Nennungen ist das Fach Geographie (Geo) das am stärksten repräsen‐ tierte Sachfach in dieser Interviewstudie. Es folgen Geschichte (Hist) (12) und Biologie (Bio) (3) sowie einzelne Nennungen von Kunst (Kun), Mathematik (Math), Sport (Spo), Politik (Pol) und Hauswirtschaft (Hw). Die starke Dominanz von Geographie und Geschichte ist auch deutschlandweit zu beobachten (vgl. Kultusministerkonferenz 2006: 16). Vier Lehrkräfte unterrichten zwei Fächer bilingual. In der untersuchten Gruppe wird an Realschulen häufiger Geographie (8) als Geschichte (3) in der Fremdsprache unterrichtet. An den Gymnasien ist die Nennung in etwa ausgeglichen (Geographie 6 und Geschichte 7). Außer mit der Historie des bilingualen Unterrichts lässt sich dies damit erklären, dass Ge‐ schichte als das sprachlich anspruchsvollere der beiden Fächer gilt, und an Gymnasien tendenziell sprachlich kompetentere Schülerinnen und Schüler un‐ terrichtet werden. Auch die beiden folgenden Interviewzitate bestätigen, dass die befragten Lehrkräfte die Geographie als einfacher und häufig auch als für geeigneter als die Geschichte ansehen. 154 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="155"?> Erdkunde ist anschaulicher als zum Beispiel Geschichte, was ja auch sehr häufig bi‐ lingual unterrichtet wird. Die Texte dort sind meist ziemlich schwer und nicht so eindeutig wie in Erdkunde. (Interview 31: Geo, Engl; Gymnasium). Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass Geschichte z. B. sich kaum eignet für den bilingualen Unterricht, weil es so unglaublich schwer ist, und weil sich Geschichte so sehr auf Quellen stützt und auf Quellenstudium und auf Medien und wenig auf eigenes Erleben, weil es eben vergangen ist. Da sehe ich in dem Realschulbereich ganz große Schwierigkeiten, (…) ich glaube nicht, dass es ein ganz besonders geeignetes Fach ist. (Interview 26: Bio, Frz; Realschule, Ausbildungslehrkraft). 6.3.1.5 Klassenstufen Die Lehrkräfte der Untersuchungsgruppe unterrichteten am häufigsten in achten Klassen bilingual, gefolgt von den Klassen 7 und 9 (Mehrfachnennungen möglich). Klasse 5 - 7x Klasse 6 - 12x Klasse 7 - 17x Klasse 8 - 21x Klasse 9 - 16x Klasse 10 - 13x Klasse 11 - 4x Klasse 12 - 3x Klasse 13 - 1x In der untersuchten Gruppe wurde auch innerhalb der Gymnasialgruppe haupt‐ sächlich in der Sekundarstufe 1 bilingualer Unterricht erteilt, die Oberstufe spielte hier eine eher untergeordnete Rolle. 23 der 32 befragten Lehrkräfte un‐ terrichten ganze Schuljahre hindurch ihre Sachfächer in der Fremdsprache. Neun unterrichten in der Fremdsprache, wenn es sich bei dem jeweiligen Thema anbietet, bzw. sie unterrichten einzelne Unterrichtsthemen bilingual. 6.3.1.6 Erfahrung der Lehrkräfte mit bilingualem Unterricht In der Untersuchungsgruppe liegt die Erfahrung der Lehrkräfte mit bilingualem Unterricht zwischen einem und 14 Jahren. 26 der 32 Lehrkräfte haben drei Jahre und mehr Erfahrung mit der Unterrichtsform, der Mittelwert liegt bei knapp sechs Jahren. In der Tendenz unterrichten Lehrkräfte mit langjähriger Erfahrung eher ganze Schuljahre durchgehend in der Fremdsprache, als solche mit weniger Erfahrung - und mit vermutlich weniger großen Beständen an vorbereitetem Unterrichtsmaterial. 155 6.3 Datenerhebung <?page no="156"?> 6.3.1.7 Aus- und Fortbildung Von den 32 interviewten Lehrkräften haben acht Personen während ihres Lehr‐ amtsstudiums oder im Vorbereitungsdienst Inhalte zur Didaktik des bilingualen Unterrichtens belegt. Dies trifft vorwiegend auf die jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu. 10 Personen besuchten Fortbildungen. 14 Personen haben weder eine Ausbildung noch eine Fortbildung zum bilingualen Unterricht er‐ halten. Unter diesen rein autodidaktisch gebildeten Personen sind auch mehrere mit besonders langer Unterrichtserfahrung. Wenn Untersuchte keine Ausbil‐ dung zum bilingualen Unterricht erhalten haben, dann verweisen sie auch häufig darauf, dass es zu ihrer Studienzeit kein entsprechendes Angebot gab. 6.3.2 Interviewdurchführung Wie bereits im Zusammenhang mit der Seminarbeschreibung erwähnt, haben sich bei 21 der 32 Interviews die Studierenden mit den Lehrkräften für das Ge‐ spräch getroffen. Von diesen 21 Interviews wurden 18 als Audioaufnahme auf‐ gezeichnet, die anderen drei wurden handschriftlich festgehalten. Sechs Inter‐ views wurden per Telefon geführt, davon wurden fünf aufgezeichnet, eines handschriftlich dokumentiert. Von den verbleibenden fünf Befragungen wurde eine per chatlog durchgeführt und die anderen vier per E-mail. Von der Inter‐ view-Durchführung per E-mail wurde zuvor abgeraten, sie fand nur in den Fällen statt, in der keine andere Befragungsmöglichkeit praktikabel war. In diesen vier Fällen wurde dann so vorgegangen, dass die Fragen und Impulse in zwei Tranchen zugesandt wurden: Zunächst die allgemeinen Fragen, mit denen sich die Befragung nur langsam dem Thema „interkulturelles Lernen“ nähert; dann in einer zweiten E-mail die Fragen, die die Arbeit der Lehrkraft zum in‐ terkulturellen Lernen genauer erfragt. Während für alle mündlich durchgeführten Interviews eine gute oder sehr gute Interviewatmosphäre dokumentiert ist, berichteten die Studierenden für zwei der fünf schriftlich durchgeführten Befragungen (chatlog und E-mail) von unmotivierten Interviewten. Informationen wurden nur spärlich gegeben, Nachfragen nicht beantwortet. Bei der Durchsicht der Befragungen fallen diese auch durch ihren geringen Textumfang auf. Die Befragung per chatlog ist eine Vorgehensweise, die der Idee des Interviewleitfadens mit seiner langsamen An‐ näherung an die Thematik entspricht. Der Befragte hat zu keinem Zeitpunkt mehrere Fragen vor sich, die den Interviewverlauf andeuten, sondern ihm werden nacheinander Frage für Frage gestellt. Doch auch bei guten technischen Voraussetzungen ist die Kommunikation per Tastatur so langwierig, dass sich die Interviewdauer von den üblichen 15-20 Minuten auf 1,5 Stunden ausdehnte, 156 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="157"?> womit die geringere Kooperationsbereitschaft des Befragten zu erklären sein mag. Die Interviewdauer der mündlichen Interviews von 15-20 Minuten wurde von den Studierenden als geeignet beschrieben, auch um die Konzentration und Motivation der Interviewten aufrecht zu erhalten. 6.3.3 Validierung der Transkription durch die Lehrkräfte Alle Interviewdokumentationen, sowohl Transkriptionen der Audioaufnahmen als auch die Texte, die bei fehlender Audioaufnahme aus den Gesprächsnotizen erstellt wurden, wurden den Lehrkräften zur Ergänzung und Korrektur zuges‐ endet. In zwei Fällen wurden einzelne Formulierungen geändert, in einem Fall hat eine Lehrkraft in größerem Umfang ihre gesprochene Sprache in Schrift‐ sprache abgeändert. Wesentliche inhaltliche Änderungen wurden nicht vorge‐ nommen. Alle Veränderungen wurden dokumentiert. Die Interviews sind aus meiner Sicht aussagekräftig und liefern wichtig Ein‐ sichten zu den erfragten Themen. Dennoch muss für dieses kooperative Inter‐ viewforschungsprojekt festgestellt werden, dass die Qualität der Interviews, vor allem auch wegen der großen Anzahl an Interviewenden und ihren unter‐ schiedlichen Kompetenzen, nicht einheitlich ist. Es kam in Einzelfällen vor, dass Studierende sich so weit vom Leitfaden gelöst hatten, dass sie nicht alle Fragen berücksichtigten (Interview 17), oder dass sie sich bei der Frage nach konkreten Unterrichtssituationen mit allgemeinen Aussagen zur Theorie zufrieden gaben, anstatt auf einem konkreten Beispiel zu bestehen (Interviews 5 und 31). Ande‐ rerseits gab es auch Studierende, die sich intensiv mit den Aussagen zum bilin‐ gualen Unterricht auf der Website der jeweiligen Schule zuvor auseinanderge‐ setzt hatten, und dieses Wissen im Interview geschickt einsetzten (Interview 13). Wenn ich die Vor- und Nachteile eines solchen kooperativen Vorgehens abwäge, komme ich zu dem Schluss, dass ich es vorziehen würde, wieder ar‐ beitsteilig mit Studierenden eine große Gruppe an Personen zu beforschen und dabei einzelne Datenverluste in Kauf zu nehmen, statt eine wesentlich kleinere Gruppe alleine aber einheitlicher zu beforschen. 6.4 Vorgehen bei der endgültigen Auswertung Unabhängig von der Auswertung der Studierenden im Zusammenhang mit der Seminarveranstaltung nahm ich eine detaillierte Auswertung der Daten vor. Die Auswertung der Aussagen der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen erfolgte in mehreren Teilschritten. 157 6.4 Vorgehen bei der endgültigen Auswertung <?page no="158"?> 1. Zusammenstellung von Kriterien, mit denen später die Bedeutung des interkulturellen Lernens für die Lehrkraft erfasst werden kann. Zumeist ergeben sich diese aus der Struktur des Interviewleitfadens. 2. Kodierung der Interviews mit der Textanalysesoftware MaxQDA. Um Fehler zu vermeiden und später Vergleiche zu den studentischen Inter‐ pretationen anstellen zu können, wurde bewusst nicht auf die Zusam‐ menfassungen der Studierenden zurückgegriffen, sondern es wurde di‐ rekt an den Interviewtranskriptionen kodiert. Bei einfachen Daten (z. B. Lehrkraft gibt an, welche Materialien sie benutzt) ist MaxQDA sehr ge‐ eignet, die relevanten Textstellen zu markieren und leicht wiederzu‐ finden. Bei interpretationsbedürftigen Aussagen, bei denen ein Abschnitt zunächst paraphrasiert werden sollte, bevor er kodiert werden kann, muss der Auswertende zunächst seine Paraphrase mittels Editor in den eigent‐ lichen Text des Interviews einfügen (und farblich kenntlich machen), bevor dann die Paraphrase codiert werden kann. MaxQDA verfügt über die zwei Ebenen ‚(Interview)-Text‘ und ‚Codierung‘. Die qualitative In‐ haltsanalyse erfordert eigentlich die drei Ebenen ‚Text‘, ‚Paraphrase‘ und ‚Codierung‘, dennoch empfiehlt auch Mayring die Software WinMax, den Vorgänger von MaxQDA (Mayring 2000). 3. Unter Zuhilfenahme der kodierten Interviewtranskriptionen wurden im nächsten Schritt zusammenfassende Einschätzungen zur Bewusstheit und Unterrichtspraxis des interkulturellen Lernens der einzelnen Lehr‐ kräfte geschrieben, und deren wichtigsten Aussagen als Zitate beigefügt. Diese zusammenfassenden Einschätzungen konnten nun mit denen der Studierenden verglichen werden. Es fand somit eine Triangulation der Interpretationen statt. 6.5 Ergebnisse 6.5.1 Lehrkräfte berichten von erfolgreichen Unterrichtssituationen Nach einleitenden allgemeinen Fragen zur Gesprächsaufnahme (Frage 1 und 2) wurden die Interviewten in Interviewfrage 3 gebeten, eine aus ihrer Sicht er‐ folgreiche Unterrichtssituation aus ihrem bilingualen Unterricht zu schildern. Es ist dies die erste Frage, die sich mit der konkreten Praxis der Lehrkräfte und gleichzeitig mit den Lernzielen der Lehrkraft (Was empfindet sie als erfolg‐ reich? ) befasst. 158 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="159"?> 3. „Könnten Sie bitte eine Unterrichtssituation aus dem bilingualen Unterricht der letzten Wochen beschreiben, die aus Ihrer Sicht besonders erfolgreich war? “ Das Ergebnis: Interkulturelles Lernen spielt bei den geschilderten „erfolgrei‐ chen Unterrichtssituationen“ nur eine sehr geringe Rolle. Von 32 Lehrkräften berichten 27 von konkreten Unterrichtssituationen. Von diesen 27 lässt sich le‐ diglich in zwei Fällen recht sicher sagen, dass interkulturelle Kompetenzen ver‐ mittelt wurden, in vier weiteren Fällen aus dem Geschichtsunterricht mögli‐ cherweise. Es bleibt in diesen Fällen allerdings offen, ob die Lehrkräfte die Unterrichtsthemen auch in Bezug zu den heutigen Lebenswelten der Lernenden setzten, wie es für interkulturelles Lernen auf der Basis eines modernen Kul‐ turbegriffs erforderlich wäre. Vor allem, denke ich, ist es für die Schüler gut, dass sie die Verbindung sehen zwischen deutscher und französischer Geschichte, also gerade auch dass das Thema National‐ sozialismus nicht isoliert als Thema der deutschen Geschichte behandelt wird, son‐ dern dass da eben auch dieser französische Aspekt mit rein kommt (Interview 16: Hist, Frz.; Realschule). In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle wurden Beispiele geschildert, die für interkulturelles Lernen ungeeignet waren oder deren Potential für interkul‐ turelles Lernen, zumindest für die geschilderte Unterrichtssituation, nicht be‐ dacht wurde (‚Auswertung Klimadiagramm‘ in Interview 7; ‚Tiere in der Arktis‘ in Interview 14; ‚Mumien‘ in Interview 12; ‚Stürme in den USA‘ in Interview 3). Also ich habe ein Arbeitsblatt gemacht, bei dem es um Erdkunde und geologische Methoden ging, und da waren die Schüler sehr motiviert und haben gut im Unterricht mitgemacht. Sie haben sich motiviert eingebracht und auf Französisch mitgearbeitet. Also für mich ist das Sachfach Mittel zum Zweck (Interview 4: Geo, Hist, Frz.; Gym‐ nasium). Zu Beginn des Interviews ist die Fragestellung sehr offen. Die Lehrkräfte konnten viele verschiedene Aspekte des bilingualen Unterrichts als „erfolg‐ reiche Unterrichtssituation“ einbringen. Interkulturelle Kompetenzen hätten erwähnt werden können, kommen aber hier kaum vor. Zu diesem Zeitpunkt des Interviews kann nicht unterschieden werden, ob interkulturelles Lernen nur eine geringe Rolle im bilingualen Unterricht der Untersuchungsgruppe spielt, oder ob es zwar häufig vorkommt, den Lehrkräften aber nicht besonders präsent ist. In jedem Fall deutet sich hier schon an, dass interkulturelles Lernen nicht die zentrale Stellung im bilingualen Unterricht einzunehmen scheint, wie es ihm von kultusministerieller Seite zugeschrieben wird. 159 6.5 Ergebnisse <?page no="160"?> 6.5.2 Lehrkräfte benennen Lernziele Die drei folgenden Fragen sollten die Lernziele ermitteln, die Lehrkräfte mit bilingualem Unterricht verbinden (siehe Interviewleitfaden Anlage S. 1). 4. „Was haben die Schüler in dieser [in der Antwort zu Frage 3 geschilderten] Situation gelernt? “ 5. „Ist es das ….. (Aussage aus Frage 4), worauf es Ihnen am meisten ankommt? Gibt es auch andere wichtige Lernziele, die in dieser Situation nicht vorkamen und Ihnen dennoch wichtig sind? “ 6. „Bilingualer Unterricht bringt offensichtlich etwas für die Fremdsprachen‐ kompetenz der Schüler. Was hat nach Ihrer Ansicht das Sachfachlernen vom bilin‐ gualen Unterrichten? “ Das Ergebnis ist hier, bezogen auf die Vermittlung von interkulturellen Kom‐ petenzen, ernüchternd. Lediglich sechs der 32 Lehrkräfte nennen auf diese Nachfrage interkulturelles Lernen von sich aus als Lernziel für den bilingualen Unterricht. Einer davon verweist ausdrücklich darauf, dass dies ein Lernziel aus der Theorie („Literatur“) sei, nachdem er zuvor sprachliche und fachliche Lern‐ ziele benannt hat. Ja, in der Literatur können sie jetzt nachlesen ‚interkulturelle Kompetenz‘ und ‚kom‐ munikative Kompetenz‘. Also ganz klar, es geht um die Fachkompetenz und um die Sprachkompetenz, und alles andere ist meines Erachtens zwar ein positiver Beieffekt aber nicht primär im Vordergrund (Interview 7: Geo, Engl.; Gesamtschule). Bei einer der sechs Lehrkräfte vermerkten die Interviewenden, dass sie nicht umhin kamen, ihr vor dem Interview mitzuteilen, dass es um das Thema „in‐ terkulturelles Lernen im bilingualen Unterricht“ gehen wird (Interview 32; Mail d. Stud. vom 15.09.2008). Bei einer weiteren vermerkten die Interviewenden, dass die Lehrkraft vermutlich von einer zuvor interviewten Kollegin über das Interviewthema Bescheid wusste (Interview 9; Mail d. Stud. vom 08.09.2008). Somit haben von 32 interviewten Lehrkräften vier Personen interkulturelles Lernen von sich aus als Lernziel des bilingualen Unterrichts benannt. Das ist ein nur sehr geringer Anteil der Lehrkräfte. Die geringe Präsenz von interkultu‐ rellen Kompetenzen ist in dieser Untersuchung somit nicht nur in konkreten geschilderten Unterrichtssituationen erkennbar (siehe vorheriger Abschnitt), sondern auch im Bewusstsein der bilingualen Lehrkräfte für Lernziele und Kompetenzen, die mit dem bilingualen Unterricht verbunden werden. Sprachliche und fachliche Kompetenzen wurden deutlich am häufigsten ge‐ nannt. Recht häufig wird auch das Lernziel Kommunikation genannt. Die we‐ nigen Nennungen zu interkulturellen Kompetenzen liegen gleichauf mit Nenn‐ ungen zu Medienkompetenz, Selbstständigkeit und Präsentationskompetenz. 160 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="161"?> 6.5.3 Bedeutung des interkulturellen Lernens für die Lehrkräfte Nach den drei unspezifischen Fragen zu den Lernzielen folgen im Leitfaden nun Fragen, die das interkulturelle Lernen direkt ansprechen. Die Lehrkräfte wurden nach ihrer Unterrichtspraxis hinsichtlich der Vermittlung interkultureller Kom‐ petenzen befragt. Anschließend wurden sie um Hilfe zu einer Definition ge‐ beten, dann zu ihrer Vermittlung der verschiedenen Lernzielebenen des inter‐ kulturellen Lernens gefragt, und gebeten, geeignete Unterrichtsmaterialien, Themen und Fächer zu nennen sowie zu benennen, woran sie den Zuwachs an interkulturellen Kompetenzen messen (vgl. Interviewleitfaden Anlage 1). Die meiste Zeit im Interview unterhielten sich die Beteiligten dementsprechend über interkulturelles Lernen. Dieser Teil dauerte in der Regel etwa zehn Minuten. Wenn Lehrkräfte überhaupt nichts mit dem Begriff interkulturelles Lernen an‐ fangen konnten (z. B. Interview 23), dann gestaltete sich dieser zweite Inter‐ viewteil zäh. Die meisten Lehrkräfte konnten nach der Nennung des Begriffs interkulturelles Lernen durch die Studierenden allerdings etwas mit ihm ver‐ binden. Auch wenn interkulturelles Lernen für viele dieser Lehrkräfte kein oder kein wichtiges Lernziel war, beteiligten sie sich aktiv an der Suche nach Defi‐ nitionen, Themen, Materialien, Möglichkeiten der Evaluation u. ä. In einzelnen Interviews wurden von Studierenden und Lehrkräften gemeinsam interkultu‐ relle Lernsituationen aus der Unterrichtspraxis der Lehrkräfte gefunden, derer sich die Lehrkräfte zunächst nicht bewusst waren. Diese gemeinsamen Re‐ flexionen dienten aus Forschersicht dazu herauszufinden, welche Bedeutung die Lehrkräfte der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen zumaßen. Da hierbei die Möglichkeit von Fehleinschätzungen gegeben war, wurde diese In‐ terpretation zum einen von den beiden interviewenden Studierenden vorge‐ nommen, zum anderen davon unabhängig von mir als Forschungsleiter. Bei diesem Vergleich der Interpretationen ergab sich eine weitgehende Überein‐ stimmung: In 27 von 32 Fällen stimmten die Interpretationen miteinander übe‐ rein. In drei Fällen sind die Interpretationen leicht verschieden, in der Tendenz aber ähnlich. Nur in zwei Fällen (Interviews 8 und 18) gibt es größere Abwei‐ chungen der beiden Interpretationen. Interview 8 enthält sowohl Aussagen, die für die eine, als auch Aussagen, die für die andere Interpretation sprechen. Bei Interview 18 befand ich die Interpretation der Studierenden als nicht ausrei‐ chend datengestützt. Die Interpretationen zur Bedeutung des interkulturellen Lernens für die Lehrkräfte ergaben, dass von den 32 bilingual Unterrichtenden mit hoher Wahr‐ scheinlichkeit fünf Lehrkräfte interkulturelles Lernen als wichtiges Lernziel an‐ sehen (Interviews 5, 15, 16, 19, 28): 161 6.5 Ergebnisse <?page no="162"?> Wir waren im September gemeinsam mit einer polnischen Jugendgruppe in der Ge‐ denkstätte Auschwitz. In Planung ist auch ein Treffen in einer KZ-Gedenkstätte mit einer amerikanischen Schülergruppe. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Ge‐ schehnisse ist beeindruckend für Schüler und Lehrer gleichermaßen (Interview 5: Hist, Engl.; Gymnasium). Und das geht jetzt auch wieder in dieses interkulturelle rein… ähm… wenn wir Sach‐ zusammenhänge besprochen haben, dass wir geguckt haben, ja wie ist es denn bei uns. Also dass auch diese Emotion oder diese Empathie eben auch mit dabei war. Das fand ich unheimlich wichtig (Interview 15: Geo, Engl.; Realschule). Frage: Und wenn sie jetzt grad über den Regenwald das Thema haben, da haben sich ja bestimmt keine kulturellen Sichtweisen vergleichen lassen. Antwort: Doch haben wir schon. Frage: Ja, haben sie? Antwort: Also wir haben im Prinzip den Tagesablauf von einem deutschen Kind mit dem Tagesablauf von einem Kind auf Ecuador verglichen. […] Man muss einfach einen Anknüpfungspunkt finden in dem die Kinder sich wiederfinden (Interview 28: Geo, HTW, Engl.; Realschule). Zwei weitere Lehrkräfte (Interviews 9, 32) stufen interkulturelles Lernen eben‐ falls als wichtig ein, sie waren aber (wie oben beschrieben) über das Thema des Interviews vorher informiert. Es kann also davon ausgegangen werden, dass in der Gruppe von 32 Personen fünf bis sieben Personen interkulturelles Lernen als wichtig ansehen. Diesen positiven Beispielen stehen mehr als drei Mal so viele Interviews ge‐ genüber, die dahingehend interpretiert wurden, dass interkulturelles Lernen nicht als wichtig betrachtet wird. Bei den folgenden Interpretationen weisen die Lehrkräfte dem interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht wenig Be‐ deutung zu. Ein Teil der Lehrkräfte sieht interkulturelles Lernen in ihrem bilingualen Un‐ terricht als etwas Nebensächliches oder Unwichtiges an (Interviews 2, 3, 6, 11, 13, 17): Interkulturelles Lernen steht nicht auf meiner Lernzielliste. Für mich ist interkultu‐ relles Lernen etwas, was nebenbei passiert (Interview 2: Bio, Engl.; Gymnasium). Also ich muss ihnen jetzt ganz ehrlich sagen, dass ich das nicht gezielt plane (Interview 3: Geo, Engl.; Realschule). Also meiner Meinung nach wird dieser Begriff ‚Interkulturelle Kompetenzen‘ ein bisschen hochgehangen (Interview 17: Hist, Frz.; Gymnasium). 162 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="163"?> Manchen Lehrkräften sind andere Lernziele in ihrem bilingualen Unterricht wichtiger (Interviews 4, 12, 21, 29, 30): Wie gesagt, das Sachfach ist für mich Mittel zum Zweck, um die Sprache zu lernen, mir kommt es hauptsächlich auf das Sprachenlernen an (Interview 4: Geo, Hist, Frz.; Gymnasium). Das Hauptlernziel ist halt, dass er einfach in der Fremdsprache über das Sachfach redet, […] den Mut oder die Kompetenz hat, freier in einer Fremdsprache über ein Thema zu reden, das jetzt mit der Fremdsprache nichts zu tun hat. Das sind so die Hauptziele, und ich denke, die erreicht er auf jeden Fall, ohne dass der Inhalt darunter leidet. Und ich denke, das kann man schon auch sagen. Aber speziell interkulturell, also, ich weiß jetzt auch nicht (Interview 30: Hist, Engl.; Gymnasium). Für andere Lehrkräfte ist interkulturelles Lernen in ihrem bilingualen Unterricht generell kein Lernziel (Interviews 23, 25, 26, 31) oder kein Lernziel, weil sie keine spezifische Eignung des bilingualen Unterrichts dafür sehen (Interviews 7, 10, 14, 24, 27): Für den bilingualen Unterricht haben wir uns keine Ziele - keine konkreten Ziele - in Bezug auf interkulturelles Lernen gesetzt (Interview 23: Geo, Engl.; Realschule). Diese [interkulturellen] Lernmöglichkeiten sind nie geplant. Sie sind auch überhaupt kein Thema in unseren Fachkonferenzen (Interview 25: Geo, Engl.; Realschule). Der Kunstunterricht ist so ein bisschen, ich möchte sagen, der kann so Grundlagen legen. Für spätere Unterrichtsfächer, die wirklich ganz gezielt auf die Interkulturalität eingehen können (Interview 10: Kunst, Engl., Frz.; Realschule). Also ich weiß auch nicht, ob es wirklich dadurch, dass ich auf Französisch unterrichte, das Interkulturelle besser gefördert wird. Ich bleibe ja trotzdem beim selben Lerninhalt (Interview 14: Geo, Frz.; Realschule). Mehrere Lehrkräfte nehmen sich aber vor, zukünftig interkulturelles Lernen in ihren bilingualen Unterricht einzubeziehen (Interviews 1, 18, 22): Das [Vergleich kultureller Sichtweisen] könnte man unter Umständen probieren. Ich habe es aber noch nicht probiert (Interview 18: Hist, Engl.; Realschule). Noch nicht gemacht [kulturelle Sichtweisen vergleichen lassen]. Aber es ist eine, eine gute Idee (Interview 22: Bio, Engl.; Gymnasium). Es kann festgehalten werden, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung höchstens ein Viertel der Lehrkräfte die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht als wichtiges Lernziel erachtete. 163 6.5 Ergebnisse <?page no="164"?> 6.5.4 Wissen und Konnotationen der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen Wenn Lehrkräfte eine klare Vorstellung vom Konzept ‚interkulturelle Kompe‐ tenzen‘ haben, wenn sie beispielsweise Teilkompetenzen und Aufgaben dazu kennen, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie ihren bilingualen Un‐ terricht entsprechend ausrichten. Wenn sie diese Kenntnisse haben, aber den‐ noch interkulturelles Lernen nicht in ihren Unterricht integrieren, dann kann das daran liegen, dass sie entweder die Mühen scheuen, ihren Unterricht ent‐ sprechend auszurichten, oder dass sie sich selbst nicht für kompetent genug halten. Die weitere Alternative, dass Lehrkräfte negativ gegenüber interkultu‐ rellen Kompetenzen eingestellt sein könnten, untersucht das nächste Kapitel. Zunächst geht es um die Kenntnisse zum interkulturellen Lernen in der unter‐ suchten Lehrergruppe. Der Impuls der interviewenden Studierenden aus dem Interviewleitfaden „Wir haben im Seminar am meisten Probleme damit, uns vorzustellen, was in‐ terkulturelles Lernen ist“ wurde verbunden mit der Bitte um Hilfe zu einer De‐ finition, konkreten Unterrichtssituationen, Informationen zu Teilkompetenzen, Aufgabenbeispielen und Materialien. Dieser Impuls sollte die Wissensbestände der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen aktivieren. Von den 32 befragten Lehrkräften haben 12 eine recht umfassende Vorstel‐ lung davon, was interkulturelles Lernen bedeutet. Als Beispiel sei dazu Inter‐ view 16 (Hist, Frz.; Realschule) vorgestellt: Der Lehrkraft ist es wichtig, dass „die Schüler sehr interessiert und auch sehr sensibilisiert für das Thema [deutsch-französische Geschichte] sind“, und dass sie eine „Verbindung sehen zwischen deutscher und französischer Geschichte“; der Lehrkraft geht es also um die Vermittlung von Wissen und Einstellungen. Sie möchte den Lernenden Perspektivenvergleiche ermöglichen: „Wie wird das deutsche Kaiserreich von beiden Seiten [Deutschland, Frankreich] gesehen? “; „Es gibt eben auch so etwas wie eine europäische Geschichte, eine gemeinsame deutsch-französische Ge‐ schichte, wo die gleichen Ereignisse von beiden Seiten teilweise sehr unter‐ schiedlich betrachtet werden“. Sie begibt sich mit den Lernenden auf die inter‐ kulturelle Handlungsebene: „Wir haben auch einen Schüleraustausch mit Frankreich, das heißt viele von den bilingualen Schülern verbringen auch eine Woche in unserer französischen Partnerstadt, und das bringt natürlich auch jede Menge für das interkulturelle Lernen“. Die Vermittlung interkultureller Kom‐ petenzen plant die Lehrkraft auch intendiert in den Unterricht ein: Interviewer: „Also das heißt, sie planen einerseits diese interkulturellen Lern‐ möglichkeiten, aber sie kommen auch auf natürliche Weise zustande. So wie im Schüleraustausch.“ 164 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="165"?> Lehrkraft: „Ja genau, das kann man so sagen, wie im Schüleraustausch. Wobei der auch eben geplant ist und von der Schule eben auch gewollt ist.“ Als zentrales einstellungsbezogenes Lernziel nennt die Lehrkraft, dass sich die Lernenden „auf die Kultur eines fremden Landes einlassen können“ Inter‐ view 16 (Hist, Frz.; Realschule). Wie bereits erwähnt haben zwölf Lehrkräfte eine recht klare Vorstellung davon, was interkulturelles Lernen sein kann, auch wenn die meisten keine konkreten interkulturellen Lernsituationen wie hier im Beispiel aus dem ei‐ genen Unterricht schildern konnten. Bei 11 Befragten traten nur eingeschränkte und vage Kenntnisse zum interkulturellen Lernen zu Tage. Bei einer recht großen Gruppe, bei neun Personen, kann anhand der vorliegenden Interviews nicht ausreichend sicher über deren Vorstellung von interkulturellem Lernen geurteilt werden. Sie äußerten sich nur zu einzelnen Aspekten des interkultu‐ rellen Lernens. Nach Interviewdurchsicht konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass bei entsprechenden Impulsen diese Lehrkräfte mehr zu dem Thema hätten sagen können. Trotz der Einschränkungen deuten die Daten an, dass von den Befragten mehr Personen eine Vorstellung davon haben, was interkulturelles Lernen bedeutet, als es Personen gibt, die interkulturelles Lernen tatsächlich bewusst als Lernziel im bilingualen Unterricht anstreben. Der Frage, ob der Mangel an interkultu‐ rellem Lernen im bilingualen Unterricht in den Einstellungen der Lehrkräfte begründet ist, gehe ich im folgenden Abschnitt nach. 6.5.5 Einstellung der Lehrkräfte zum interkulturellen Lernen Wie bereits dargestellt nennt die weitaus überwiegende Mehrheit der Lehrkräfte nicht von sich aus interkulturelles Lernen als wichtiges Lernziel im bilingualen Unterricht. Wie ebenfalls ausgeführt, waren interkulturelle Kompetenzen für zumindest drei Viertel der befragten Lehrkräfte bis zum Zeitpunkt der Befra‐ gung kein Lernziel im bilingualen Unterricht. Eine Durchsicht der Interviews auf Hinweise der Lehrkräfte zu ihrer Haltung zum interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht ergab, dass knapp zwei Drittel der Lehrkräfte (20/ 32) ge‐ genüber der Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen positiv oder eher positiv eingestellt sind, und dass bei neun von 32 Befragte eine Einstellung im Interview nicht zu erkennen ist. In drei Fällen sind die Aussagen innerhalb eines Interviews widersprüchlich. Die Lehrkräfte, die interkulturelles Lernen als Lernziel benannten, zeigten - wie zu erwarten - auch eine positive Einstellung gegenüber dem interkultu‐ rellen Lernen (within-method triangulation). Beispiele: 165 6.5 Ergebnisse <?page no="166"?> Es ist mir wirklich auch sehr wichtig, dass Schüler erkennen, dass andere Länder einfach Dinge anders machen, aber dass es genauso gut ist wie unsere Herangehens‐ weise (Interview 9: Hauswirtschaft, Engl.; Hauptschule). Also generell finde ich es einfach unheimlich spannend zu gucken, wie leben andere Leute, und das interessiert die Schüler auch (Interview 15: Geo, Engl.; Realschule). Diejenigen Lehrkräfte, die die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen nicht als wichtiges Lernziel im bilingualen Unterricht benannt haben, haben in der Mehrzahl dennoch eine positive Einstellung ihr gegenüber. Hier bewirkt interkulturelles Lernen etwas. Es macht Sinn und läuft dabei aber ganz subtil ab. Schüler werden dadurch nachdenklich gestimmt und fühlen sich mit den Schicksalen verbunden. Und ich denke wenn, lässt es sich daran erkennen, dass die Schüler nachdenken und Fragen stellen (Interview 25: Geo, Engl.; Realschule). Bei neun Interviewten kann man hierzu keine Einstellung aus den Aussagen ablesen. In den 32 Interviews kamen insgesamt drei negative Aussagen zum interkul‐ turellen Lernen vor (Interviews 7, 8, 17). Allerdings gab es in allen drei Inter‐ views auch Aussagen, die auf eine positive Einstellung gegenüber interkultu‐ rellem Lernen schließen lassen: Um ganz ehrlich zu sein, halte ich das für eine Worthülse und kann mich auch nicht direkt erinnern (Interview 7: Geo, Engl., Gesamtschule). Dieselbe Lehrkraft an anderer Stelle: Interkulturelles Lernen ist doch der intensive Austausch […] wo man wirklich in die Tiefe geht. (Interview 7: Geo, Engl.; Gesamtschule). In der Untersuchungsgruppe befinden sich keine Lehrkräfte, die durch ihre In‐ terviewaussagen zu erkennen geben, dass sie eine eindeutig negativ Einstellung zur Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen besitzen. Dieses Ergebnis kann natürlich vom Faktor soziale Erwünschtheit beeinflusst sein, wie es mög‐ licherweise in der folgenden Aussage („sollte“) erkennbar wird: Ich weiß, interkulturelles Lernen sollte dort [in der Fachkonferenz] besprochen werden, aber mit dem neuen Bildungsplan ist so viel Neues gekommen, dass wir noch keine Zeit hatten, uns auch auf diesen Aspekt zu konzentrieren (Interview 25: Geo, Engl.; Realschule). 166 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="167"?> 6.6 Forschungsmethodische Reflexion 6.6.1 Eingeschränkte Generalisierbarkeit Eine Studie mit nur 32 Interviewten ist nicht repräsentativ, sie kann keine Ge‐ neralisierbarkeit (externe Validität) der Ergebnisse beanspruchen. Der darge‐ stellte Befund, dass interkulturelles Lernen im bilingualen Unterricht in den allermeisten Fällen eine Nebenrolle spielt, deckt sich jedoch mit den Ergebnissen einer Reihe anderer Studien, die in verwandten Kontexten arbeiten (vgl. Bur‐ witz-Melzer 2003: 487, vgl. Meyer 2003b: 236, vgl. Viebrock 2007: 300) und reiht sich somit plausibel in bestehende Untersuchungsergebnisse ein. Die hier vor‐ genommene Ausdifferenzierung, dass tendenziell interkulturelles Lernen bei in jüngerer Zeit ausgebildeten bilingualen Lehrkräften eine größere Rolle spielt als bei älteren autodidaktisch ausgebildeten, besitzt ebenfalls augenscheinliche Plausibilität. Wenn dieser Befund durch gleichlautende Ergebnisse in weiteren Untersuchungen bestätigt wird, dann unterstreicht dies die große Bedeutung der Sensibilisierung für interkulturelles Lernen in der Lehrerbildung. 6.6.2 Zuverlässigkeit der Daten Da die Untersuchung nur berichtetes Verhalten und berichtete Einstellungen der Lehrkräfte untersucht, ist die Reliabilität der Interviewstudie besonders stark von den Aussagen der Lehrkräfte abhängig. Eine Triangulation mit bei‐ spielsweise Unterrichtsbeobachtungen wäre wünschenswert, war aber im Rahmen des Projekts nicht durchführbar. In Kenntnis dieser Problematik war der Interviewleitfaden so gestaltet, dass er in hohem Maße auf a) konkrete be‐ richtete Unterrichtspraxis der Lehrkräfte abhob und b) erst im Laufe des Inter‐ views die Fragestellung (Bedeutung des interkulturellen Lernens für die Lehr‐ kraft) präzisierte. Damit war für die Interviewten die soziale Erwünschtheit ihrer Antworten im ersten Teil des Interviews nicht ersichtlich, was die Zuverlässig‐ keit der Aussagen erhöht. Die Vorgehensweise wurde in der Forschungsgruppe auch forschungsethisch diskutiert. Das Vorgehen den Interviewten mitzuteilen, dass es im Interview um ‚bilingualen Unterricht‘ geht und nicht gleich noch den Vertiefungsaspekt ‚interkulturelles Lernen im bilingualen Unterricht‘ zu nennen, wurde als wenig problematisch angesehen. 167 6.6 Forschungsmethodische Reflexion <?page no="168"?> 6.6.3 Reflexion zur Eignung des Leitfadens und dessen Handhabung An dieser Stelle soll reflektiert werden, ob der Interviewleitfaden die erhoffte Hilfestellung gab und welche weiteren Verbesserungen möglich sind. Die Hilfen zur Interviewdurchführung auf Seite. 1 des Leitfadens haben sich in der Praxis bewährt. Der Hinweis, die Interviewten von Erlebnissen berichten zu lassen, sollte stärker herausgestellt werden. Die Interviews sollten dann alle beharrlich nach der Unterrichtspraxis fragen und Lehrkräfte nicht in allgemeine Aussagen ausweichen lassen. Bei dieser Untersuchung mit zumeist unerfah‐ renen Interviewenden hat sich gezeigt, dass diejenigen Interviews die aussage‐ kräftigsten waren, die relativ eng entlang des Leitfadens geführt wurden. Bei freier durchgeführten Interviews wurden in mehreren Fällen einzelne Fragen vergessen. Es sollte beibehalten werden, die Basisdaten zur Lehrkraft unbedingt nach dem eigentlichen Interview zu erfragen. Einzelne abweichend geführte Inter‐ views zeigten, dass eine Abfrage zu Beginn des Interviews kein geeigneter Auf‐ takt ist, und sich kaum Symmetrie im Interviewgespräch herstellen lässt. Die langsame Annäherung an das interkulturelle Lernen über die Unter‐ richtspraxis und die Reflexion dazu kann als forschungsmethodisch besonders gelungen bezeichnet werden. Dadurch dass die Lehrkräfte zunächst nicht wussten, dass der Fokus des Interviews auf dem interkulturellen Lernen lag, wurde im ersten Frageblock sehr klar ersichtlich, welchen Stellenwert das in‐ terkulturelle Lernen für die Lehrkraft hat. Wenn Lehrkräfte zu Beginn des In‐ terviewgesprächs zunächst ausschließlich andere Kompetenzen in den Vorder‐ grund gestellt hatten, gaben sie im weiteren Interviewverlauf nicht plötzlich an, dass ihnen interkulturelle Lernziele doch ein besonders hohes Anliegen wären. Aus heutiger Sicht sollte eine zusammenfassende direkte Frage zur Meinung der Lehrkraft zur Bedeutung des interkulturellen Lernens im bilingualen Un‐ terricht am Ende des Leitfadens ergänzt werden. In Interview 8 hatten Studie‐ rende am Ende des Interviews, wohl auch weil die Aussagen der Lehrkraft Wi‐ dersprüche enthielten, um eine Zusammenfassung der Meinung zum interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht gebeten. Die Antwort der Lehrkraft ist für die Auswertung des Interviews hilfreich. Eine solche Zusam‐ menfassung kann zuvor getätigte Aussagen aufgreifen, auf den Punkt bringen und bei der Auswertung zur within triangulation genutzt werden. Alles in allem sehe ich die arbeitsteilige Interviewstudie als erfolgreich und erkenntnisfördernd an. In inhaltlich-wissenschaftlicher Hinsicht hätte ein/ e er‐ fahrene/ r Interviewforscher/ in fraglos die Interviews einheitlicher durchgeführt und weniger Fehler gemacht (nicht einzelne Fragen vergessen, stärker auf Klä‐ 168 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="169"?> rung von Themen beharrt, technische Geräte sicherer gehandhabt), doch ande‐ rerseits ist auch festzuhalten, dass nur selten eine solch große Untersuchungs‐ gruppe mit halboffenen Forschungsmethoden befragt werden kann. Aus meiner Sicht sind die Daten trotz der einzelnen Versäumnisse der Interviewenden aus‐ reichend reliabel, um die vorgestellten Schlüsse zu erlauben. Abgesehen vom wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bot die arbeitsteilige Interviewstudie in hochschuldidaktischer Hinsicht den Studierenden eine besonders gelungene Lernaufgabe für den Kompetenzerwerb zu qualitativen Forschungsmethoden in Theorie und Praxis. 6.7 Zusammenfassung der Ergebnisse Es bleibt festzuhalten, dass die Interviewstudie die Diskrepanz aufzeigen konnte, dass einerseits die Bildungspolitik die Vermittlung von interkulturellen Kom‐ petenzen fordert und Lehrkräfte überwiegend eine positive Einstellung gegen‐ über diesen Bildungszielen haben, andererseits die Lehrkräfte aber kaum von interkulturellem Lernen im bilingualen Unterricht zu berichten wissen, und die meisten angeben, dass die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen kein vorrangiges Lernziel in ihrem bilingualen Unterricht ist. Der hohe bildungspo‐ litische Stellenwert interkulturellen Lernens im bilingualen Unterricht scheint sich kaum in der Unterrichtspraxis und den Zielsetzungen der untersuchten Gruppe von Lehrkräften widerzuspiegeln. Wenn man die Sachfachzugehörigkeit der untersuchten Lehrkräfte be‐ trachtet, dann ist zwar festzustellen, dass die wenigen Lehrkräfte mit naturwis‐ senschaftlichen Sachfächern die Bedeutung des Lernziels interkulturelle Kom‐ petenz als recht gering einschätzten. Aber auch die große Gruppe der gesellschaftswissenschaftlichen Sachfachlehrkräfte ist hinsichtlich der Bedeu‐ tung von interkulturellen Kompetenzen für ihren bilingualen Unterricht ge‐ spalten. Entsprechend kann die Sachfachzugehörigkeit nicht als zentraler Faktor für die Bedeutung der Vermittlung von interkulturellen Lernzielen einer Lehr‐ kraft angenommen werden. Auch die Schulartzugehörigkeit lässt einen solchen Schluss nicht zu sowohl Realschullehrkräfte als auch Gymnasiallehrkräfte, finden sich in beiden Gruppen. Wenn man sich die Lehrerfahrung der Befragten im bilingualen Unterricht anschaut, dann fällt auf, dass die Lehrkräfte, die das Lernziel interkulturelle Kompetenz als wichtig einstufen, eher Lehrkräfte mit weniger bilingualer Be‐ rufserfahrung sind, also i. d. R. jüngere Lehrkräfte. Mit einer Ausnahme (bei sieben Personen) trifft ferner zu, dass diese Lehrkräfte entweder selbst eine 169 6.7 Zusammenfassung der Ergebnisse <?page no="170"?> Ausbildung für bilinguales Unterrichten an einer Hochschule oder im Vorbe‐ reitungsdienst/ Referendariat erhalten haben, oder dass sie selbst Ausbilder (Teildeputat Schule und Teildeputat Hochschullehre bzw. Referendariatsse‐ minar) sind. Von den 12 Interviewten, die weder eine Ausbildung erhalten haben noch Ausbilder sind und sich autodidaktisch das bilinguale Unterrichten erar‐ beitet haben, sieht nur eine Person interkulturelle Kompetenzen als wichtig an. Das heißt, dass für die Untersuchungsgruppe ausgesagt werden kann, dass Lehrkräfte mit Ausbildung für bilingualen Unterricht und Lehrkräfte, die für den bilingualen Unterricht auch ausbilden, besonders oft die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen als wichtiges Lernziel ansehen, und diejenigen, die keine Ausbildung erhalten haben, nur in Ausnahmefällen. Die im Kapitel 2, bilingualer Unterricht, dargestellte autodidaktische Ausbildung vieler und ins‐ besondere älterer bilingualer Lehrkräfte wirkt sich möglicherweise als Hemmnis für interkulturelles Lernen im bilingualen Unterricht aus. Haben Be‐ fragte Fortbildungen besucht, so hat das überraschenderweise in dieser Unter‐ suchung keinen erkennbaren Einfluss auf verstärktes interkulturelles Lehren und Lernen im bilingualen Unterricht. Diesbezüglich wäre es vermutlich auf‐ schlussreich, Fortbildungsprogramme insbesondere in Baden-Württemberg zu untersuchen (22 von 32 Interviewten). 6.8 Forderungen, Ausblick Gesetzt den Fall, man betrachtet interkulturelles Lernen als wichtiges Element des bilingualen Unterrichts, dann ist es erfreulich festzustellen, wie die vorlie‐ gende Untersuchung darauf hinweist, dass in den recht neu konzipierten Aus‐ bildungsgängen für bilinguale Lehrkräfte in Studium und Vorbereitungsdienst (Referendariat) interkulturelles Lernen ein wichtiger Lernbaustein zu sein scheint. Da die Interviewdaten der vorliegende Untersuchung aus dem Jahre 2007 stammen, ist davon auszugehen, dass zwischenzeitlich der Anteil von bi‐ lingual unterrichtenden Lehrkräften mit grundständiger Ausbildung höher sein wird und entsprechend mehr Lehrkräfte dem interkulturellen Lernen im bilin‐ gualen Unterricht eine hohe Bedeutung zumessen. Die jüngeren Lehrkräfte werden für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen nicht nur in ihrer Ausbildung für den bilingualen Unterricht sensibilisiert worden sein, sondern auch in ihrem Fremdsprachenstudium bzw. ihrem Studium einer Gesellschafts‐ wissenschaft. Untersucht man Konzepte für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen, stellt man fest, dass es durchaus eine Reihe von Ansätzen in der Geographiedi‐ 170 6 Interviewstudie mit Lehrkräften <?page no="171"?> daktik (z. B. Rohwer 1996, Rother 1995) und der Fremdsprachendidaktik (z. B. Burwitz-Melzer 2003; Jäger 2008) gibt. Für den bilingualen Geographieunterricht hingegen beschränken sich empirische Arbeiten auf die Erfassung des Ist-Zu‐ standes der Unterrichtspraxis (vgl. Meyer 2003b; Viebrock 2007). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind für das interkulturelle Lernen wenig erfreulich (vgl. Kap. 3.4.4, S. ) und bestätigen die Interpretationen der vorliegenden Interview‐ studie. Entsprechend ist es ein Desiderat für den bilingualen Geographieunter‐ richt, Konzepte für interkulturelles Lernen auf der Basis eines angemessenen Kulturbegriffs zu entwickeln und zu erproben. Mit dem Unterrichtsforschungs‐ projekt, das ich in Kapitel 7 vorstelle, soll diese Lücke gefüllt werden. 171 6.8 Forderungen, Ausblick <?page no="172"?> 7 Die Unterrichtsforschung Das Kapitel ‚Unterrichtsforschung‘ ist das zentrale und verbindende Glied zwi‐ schen allen vorangegangenen Kapiteln. Die für die Aufgabenplanung und -durchführung relevanten Elemente der Theoriekapitel (Kap. 2 bis 5) finden hier genauso Eingang wie die Schlussfolgerung aus dem vorangegangenen Kapitel zur Interview-Studie (Kap. 6): Es gilt darzulegen und zu erproben, wie interkul‐ turelle Kompetenzen im bilingualen Geographieunterricht vermittelt werden können. Die Kapitel 5 bis 7 der vorliegenden Arbeit beinhalten theoretische und prak‐ tische Aspekte empirischer Forschung. Kapitel 5 beschreibt Grundlagen quali‐ tativer Forschung und qualitativer Interviews, die für beide Untersuchungen (Kapitel 6: Interviewstudie, Kapitel 7: Unterrichtsforschungsprojekt) des vorlie‐ genden Gesamtprojekts relevant sind. Kapitel 6 beschreibt die konkrete An‐ wendung qualitativer Forschungsmethoden auf die Interviewstudie mit Lehr‐ kräften zum interkulturellen Lernen im bilingualen Unterricht. Kapitel 7, das vorliegende Kapitel mit der Darstellung der Hauptuntersuchung, ergänzt wei‐ tere Datenerhebungsmethoden und bezieht sie auf das konkrete zwei-zyklische Unterrichtsforschungsprojekt zur Vermittlung interkultureller Kompetenzen mittels tasks im bilingualen Geographieunterricht, welches den Hauptanteil dieses Kapitels darstellt. 7.1 Erkenntnisinteresse Für die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen im bilingualen Unterricht sind die Aufgaben (tasks) zentral, mit denen die Lernprozesse initiiert werden. Die geplanten Aufgaben (task-as-workplan) hängen eng mit den Themen (topics) und Arbeitsmaterialien (texts) zusammen. Bei der Aufgabendurchführung (task-in-process) spielen dann die Akteure (teacher and learners) sowie die Kon‐ textbedingungen wichtige Rollen. In der folgenden Darstellung der Hauptunter‐ suchung, einem Unterrichtsforschungsprojekt mit zwei Zyklen, werden die ge‐ nannten Faktoren erforscht und diskutiert. Ich untersuche die Eignung von Lernaufgaben für interkulturelles Lernen, die ich gemäß der in den Theoriekapi‐ teln entwickelten Kriterien gestaltet habe. Die zentrale Frage war dabei, wie kom‐ plexe Lernaufgaben aufgebaut sein sollten, damit sie den Erwerb interkultureller <?page no="173"?> Kompetenzen fördern. Welche Merkmale und Inhalte zeichnen sie aus? Welche Kompetenzbereiche interkultureller Kommunikation können mit welchen Auf‐ gabenmerkmalen gefördert werden? Welche Rolle spielen z. B. die Strukturierung der Lernaufgaben, Möglichkeiten der Identifikation, Echtkontakte mit anderskul‐ turellen Partnern, angeleitete Reflexionen u.ä.? Ferner galt es, gegenstandsange‐ messene Forschungsmethoden zu finden, die über den Nachweis interkultureller Kompetenzen hinaus auch deren Entwicklung verstehen helfen und die geeignet sind, Werthaltungen zu beforschen, die gemeinhin als schwer evaluierbar gelten. Welche der genutzten Datenquellen erweisen sich dabei als bedeutsam? Welche Datenquellen könnten möglicherweise entfallen? Welche Rolle spielt die Daten‐ triangulation? Zeigt sie gleichberechtigt nebeneinanderstehende Perspektiven auf oder ergänzen sich die Daten einander verständniserweiternd zu einer umfassen‐ deren Interpretation? Wie für alle explorativ angelegten qualitativen Studie gilt auch in meiner Untersuchung, dass im Prozess weitere Fragestellungen auf‐ kommen können, die dann bearbeitet werden. 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung Im vorliegenden Forschungsprojekt unterrichtete und erforschte ich in Perso‐ nalunion als forschender Lehrer Aufgaben für den interkulturellen Kompetenz‐ erwerb. Die folgenden Abschnitte diskutieren Chancen und Probleme dieses methodischen Vorgehens. 7.2.1 Unterrichtsforschung in der Fachdiskussion Als Unterrichtsforschung (classroom research) werden wissenschaftliche Unter‐ suchungen bezeichnet, die sich mit dem Lehren und Lernen in institutionellen settings auseinandersetzen. Unterrichtsforschung ist somit ein Überbegriff, der sehr verschiedene forschungsmethodische Zugänge beinhalten kann (vgl. Dörnyei 2007: 176). Quantitativ-statistische Verfahren (vgl. Göbel 2007) finden genauso Anwendung, wie qualitativ-interpretative (vgl. Burwitz-Melzer 2003). Über die Auswahl der Verfahren entscheidet die Eignung der Forschungsme‐ thode für den spezifischen Forschungskontext und die Forschungsfragen. Die Gegenstandsangemessenheit ist, wie auch sonst, hierbei das relevante Kriterium (vgl. Dörnyei 2007: 179). Da Unterrichtsforschung im Vergleich zu anderen For‐ schungsfeldern nicht dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich einem der beiden großen Forschungsansätze (qualitativ, quantitativ) zuordnen lässt, stellt sich die Frage, was Spezifika der Unterrichtsforschung sind. Dörnyei (2007: 176-178) 173 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="174"?> stellt überzeugend und anhand einer Vielzahl von Untersuchungen dar, dass Unterrichtsforschung durch eine besondere Komplexität des settings gekenn‐ zeichnet ist. Eine Reduktion dieser Komplexität wie beispielsweise in quasi-ex‐ perimentellen Studien oder in kontextreduzierten Lernsettings (vgl. Eckerth 2003; Bonnet 2004) ist nicht vorgesehen und auch nicht erwünscht. Bei echter Unterrichtsforschung im Klassenzimmer ist der Forschungsgegenstand ständig den Einflüssen einer Vielzahl großteils nicht kontrollierbarer Variablen ausge‐ setzt. Diese komplexen Vorgänge werden durch die Nutzung mehrerer Daten‐ quellen und deren Triangulation rekonstruiert und interpretiert. Aktionsforschung - action research Aktionsforschung ist in der Sozialforschung gemäß den Ausführungen von Bortz und Döring den folgenden drei Grundsätzen verpflichtet: a) „Forscher und Beforschte sind gleichberechtigt […] Die Untersuchungsteilnehmer werden auch an der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse beteiligt (Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung)“; b) „Untersuchungsthemen sind praktisch und emanzipatorisch […]. Sozialwissenschaft hat die Verpflichtung an der Lösung sozialer und politischer Probleme aktiv mitzuarbeiten und […] auf bestehende Herrschaftsverhältnisse hinzuweisen statt diese zu verschweigen oder zu un‐ terstützen (Ablehnung des Wertfreiheitspostulats)“; c) „Der Forschungsprozess ist ein Lern- und Veränderungsprozess […] für alle Beteiligten - auch für den Forscher (dialogische Wahrheitsfindung)“ (Bortz & Döring 2006: 342). Aktionsforschung mit Beforschten als gleichberechtigten Untersuchungs‐ partnern kann nur mit qualitativen Forschungsansätzen erfolgen, denn es geht in erster Linie darum, die Motivationen, Aussagen und Handlungen im Rahmen von Fallstudiendesigns zu verstehen sowie bei Bedarf um gemeinsame Arbeit an der Verbesserung der Situation. Über das Verstehen von Handlungsmotiva‐ tionen hinaus geht es in der Aktionsforschung auch um die Erforschung der Wirkung von Interventionen und somit - im Umfeld Schule - um die Optimie‐ rung von Unterricht. „It [action research] represents a move from a descriptive/ interpretive stance to an interventionist position“ (Richards 2003: 24). Interven‐ tionen zu initiieren macht die Sonderstellung von Aktionsforschung (action re‐ search) aus, denn wenn ich eine Intervention initiiere, dann mache ich eine nor‐ mative Setzung, wie eine Situation sein kann bzw. sein soll. Im Vergleich zu traditioneller empirischer Forschung, die quantitativ und / oder qualitativ ver‐ stehen möchte, was ist, geht die Aktionsforschung hier einen Schritt weiter. Es ist offensichtlich, dass normative Setzungen nicht mit dem klassischen Wert‐ freiheitspostulat ‚objektiver‘ Wissenschaft vereinbar sind - an die Stelle von 174 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="175"?> Wertfreiheit muss ein Explizieren von Werthaltungen und erkenntnisleitendem Interesse treten. In der Unterrichtsforschung ist der Einsatz von Aktionsforschung (action re‐ search) anerkannt (vgl. Richards 2003; McKay 2006; Dörnyei 2007). Kennzeich‐ nend für die Aktionsforschung sind hier folgende Aspekte: Forschende und Lehrende sind ein und dieselbe Person, oder sie kooperieren sehr eng mitein‐ ander. Forscher und Beforschte arbeiten als gleichwertige Partner im For‐ schungsprojekt miteinander. Die Forschungsprojekte zielen darauf ab, das Un‐ terrichtsgeschehen besser zu verstehen und den Unterricht zu verbessern. Gegenstand der Forschung ist das konkrete Unterrichtsgeschehen (vgl. Richards 2003: 24; McKay 2006: 29, 30; Dörnyei 2007: 191). Einige Autoren stellen ferner den Aspekt des empowerments durch action research heraus. Lehrkräfte sollen ermutigt und befähigt werden, ihren Unterricht zu erforschen bzw. kritisch zu reflektieren. Sie sollen nicht nur Rezipienten fachdidaktischer Theorien und Li‐ teratur sein, sondern durch ihre Forschung z. B. fachdidaktische Lehrmeinungen hinterfragen und zur Erweiterung von Theorien zum Unterricht beitragen (vgl. Richards 2003: 25; Dörnyei 2007: 193). Aktionsforschung ist zyklisch angelegt. Norton schlägt den Zyklenablauf „reflection, planning, acting, observing, reflecting and so on“ vor (Norton 2009: 55; vgl. McKay 2006: 30). Allerdings würde die Praxis häufig Abweichungen von diesem idealtypischen Ablauf erforderlich machen (Norton 2009: 55). Altrichter und Posch sprechen von Aktion und Reflexion (Altrichter & Posch 2007: 27). Richards bezeichnet die Folge „planning, acting & observing, reflecting, plan‐ ning, and so on“, als „action research spiral“ (Richards 2003: 24). Hinsichtlich der Anzahl von Zyklen fordert er Bescheidenheit: „The description suggests an eternal cycle spiralling through a professional life, but in practice there will be limits to what is possible or desirable, and a project may be concentrated on a single cycle“ (Richards 2003: 25). Das vorliegende Projekt bestand aus zwei For‐ schungszyklen. Ich hielt die Möglichkeit einer zweimaligen Erprobung und Op‐ timierung der Lernaufgaben hinsichtlich des fachdidaktischen Erkenntnisge‐ winns für angemessen und gleichzeitig hinsichtlich des Bearbeitungsaufwands auch für bewältigbar. Die Verbesserung der „Qualität des Lehrens und des Lernens an der Schule und die Bedingungen, unter denen Lehrer/ -innen und Schüler arbeiten“ sind auch für Altrichter und Posch die zentralen Aufgaben der Aktionsforschung im Forschungsfeld Schule (Altrichter & Posch 2007: 13). Altrichter beschreibt, dass die wissenschaftliche Anerkennung von Unterrichtsforschung häufig als ein‐ geschränkt angesehen wird, da „Lehrforschung primär von Personen betrieben [wird], die aus der Perspektive professioneller Wissenschaftler ‚Laien‘ ohne 175 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="176"?> längerdauernde methodische Ausbildung und Vorerfahrung sind“ (Altrichter 1990: 158). Trotz dieser Kritik sprechen aus der Sicht von Altrichter und Posch mehrere Gründe für eine Forschung, die Lehrkräfte aktiv involviert: a) Lehr‐ kräfte sind Spezialisten für Kompetenzvermittlung, die b) das Vertrauen ihrer Klassen genießen. Externen Forschern fehlen häufig die fachliche und fachdi‐ daktische Expertise sowie der Schülerbezug. Wenn c) Lehrkräfte für Unter‐ richtsforschung weitergebildet werden, wirkt sich dies auf die Definitionshoheit von Bildung und Unterricht aus. Lehrkräfte werden von Vermittlungswissens‐ rezipienten zu Autoren von Theorien. d) Praxiswissen wird aufgewertet. Die Verknüpfung von Theorie und Praxis wird gestärkt und die Position von Lehr‐ kräften gestärkt. e) Die Arbeit der Lehrkräfte erfährt durch die Verpflichtung zu Weiterbildung und Reflexion im Zuge einer Forschungstätigkeit eine Qualitäts‐ verbesserung (vgl. Altrichter & Posch 2007: 13 f.). Entsprechend gilt es nach Wegen zu suchen, die Lehrkräfte zu wissenschaftlicher Forschung zu befähigen. Weitere Kritik an der Aktionsforschung betrifft die Doppelrolle von for‐ schenden Lehrkräften. Freeman (1998) thematisiert die Problematik des Rollen‐ konflikts von forschenden Lehrkräften. Trotz des gleichen Grundinteresses an der Verbesserung von Unterricht ergeben sich im konkreten Unterrichts- und Forschungsalltag widersprüchliche Ziele. Er unterstreicht deshalb, dass es wichtig ist, die beiden folgenden Prinzipien zu beachten: a) Die Forschung darf aus ethischen Gründen niemals die Lehrkraft in ihrer hauptsächlichen Arbeit („to help students learn and grow“ Freeman 1998: 7) behindern. Und b) Es ist unvermeidlich, dass die Anforderungen und Belastungen der Lehrertätigkeit Einfluss auf Entscheidungen zum Verlauf von Unterrichtsforschungsprojekten nehmen (vgl. Freeman 1998: 7). Beide Gründe sind plausibel, sie zeigen die Zwänge auf, unter denen Unterrichtsforschung stattfindet. Durch die Doppelrolle entsteht noch eine zweite zu beachtende Problematik: Die Lehrkräfte sind einerseits Teil des Untersuchungsgegenstands, andererseits aber auch Forscher, die das Unterrichtsgeschehen erforschen. Durch das Fehlen einer Außenperspektive kann es zu einer ‚Betriebsblindheit‘ kommen, durch die Alternativen unberücksichtigt bleiben, Daten übersehen, oder Daten falsch bzw. im gewünschten Sinne interpretiert werden. Die Alternative zur Eigenerfor‐ schung von Unterricht durch Lehrkräfte ist der Einsatz externer Forscher, die mit der Lehrkraft zusammen den Unterricht kooperativ beforschen. Design-based research Zum Zeitpunkt des Beginns meiner Untersuchung war Aktionsforschung der einzige mir bekannte Forschungsansatz für die von mir durchgeführte Art von Unterrichtsforschung (Aufgabenentwicklung und -erprobung mit rekonstruier‐ 176 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="177"?> enden Interpretationen zum Kompetenzerwerb). Seit 2015 wird in der Geogra‐ phiedidaktik als Alternative zur Aktionsforschung der Ansatz des design-based research diskutiert (vgl. Feulner & Ohl & Hörmann 2015). Die Diskussionen zum design-based research wurden in Deutschland insbesondere durch Gabi Rein‐ mann geprägt (Reinmann 2005). Design-based research und Aktionsforschung weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die sie beide für mein Projekt als geeignet ausweisen. In beiden Fällen handelt es sich um Forschungsansätze, unter denen sich je nach Forschungsprojekt mehrere verschiedene Forschungsmethoden wie bei‐ spielsweise teilnehmende Beobachtung, fokussierte Interviews, Dokumenten‐ analyse u. ä. versammeln. Die Daten aus den unterschiedlichen Forschungsme‐ thoden werden dann mittels Triangulationen aufeinander bezogen. Im Kontext von Aufgabenforschung haben beide Ansätze zum Ziel, einerseits Aufgabende‐ sign und andererseits auch das Design des forschungsmethodischen Vorgehens zu planen, zu erproben, zu evaluieren und zu optimieren. Für diese Optimie‐ rungen arbeiten beide mit mehreren Forschungszyklen. Beide Ansätze stellen klar, dass bei Vorgehensweisen, die den ‚Soll-Zustand‘ untersuchen, ein inter‐ ventionistisches Vorgehen zwangsläufig mit normativen Setzungen arbeitet - ein in Bildungskontexten unumgängliches Vorgehen, das jedoch im Wider‐ spruch zu klassischen Forschungsansätzen stehen kann (vgl. Richards 2003: 24; vgl. Reinmann 2010: 242). In Übereinstimmung mit Reimann sehe ich den größten Unterschied zwischen den beiden Ansätzen im emanzipatorischen An‐ spruch von Aktionsforschung (vgl. Reinmann 2016). Für meine Forschung trifft es tatsächlich zu, dass ich als Lehrer mit Hilfe der Aktionsforschung fachdidak‐ tische Theorien hinterfragt, auf die Probe gestellt und erweitert habe und mich damit von meiner Rolle als bloßer Rezipient von Theorien löste (vgl. Dörnyei 2007: 193). Allerdings stellt sich die Frage, ob dieses emanzipatorische Element als kennzeichnendes Merkmal eines Forschungsansatzes immer einzufordern ist. Es sollte beispielsweise auch für Wissenschaftler von Hochschulen möglich sein, diese Art von Forschung in einem Arbeitsfeld zu betreiben, in dem sie bereits etabliert sind. Design-based research bietet sich hier als Alternative zur Aktionsforschung an. 7.2.2 Unterrichtsforschung im vorliegenden Projekt Der folgende Abschnitt erläutert, wie in der vorliegenden Untersuchung mit den oben beschriebenen Potenzialen und möglichen Problemen umgegangen und forschungsmethodische Standards gesichert wurden. 177 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="178"?> 7.2.2.1 Wertfreiheitspostulat Unterricht und damit auch Unterrichtsforschung ist immer an Werte gebunden und normative Setzungen (z. B. Erziehung zur Offenheit) sind Ausgangspunkte unterrichtlicher Arbeit. Ein Wertfreiheitspostulat ist somit für die Unterrichts‐ forschung weder erreichbar noch erstrebenswert. Ob es überhaupt wertfreie Forschung geben kann und sollte, ist fraglich, soll an dieser Stelle aber nicht diskutiert werden. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Vermittlung interkultureller Kompetenzen zu fördern und damit letztlich einen Beitrag zur Friedenserzie‐ hung zu leisten. Die Arbeit orientiert sich an Byrams Modell der Intercultural Communicative Competences (siehe S. 48). Byram sieht die Allgemeine Erklärung der Menschrechte als Wertegrundlage für die Vermittlung interkultureller Kom‐ petenzen an (siehe S. 33, 50). Damit stehen seine Ausführungen im Einklang mit den Werten der Internationalen Charta der geographischen Erziehung, einem zweiten Fundament dieser Arbeit (siehe S. 19). 7.2.2.2 Umgang mit dem Rollenkonflikt teacher-researcher In der Unterrichtsforschung muss die forschende Lehrkraft immer wieder ab‐ wägen, welche Maßnahmen einerseits aus wissenschaftlicher Sicht wünschens‐ wert, andererseits aus pädagogischer Sicht noch tolerierbar sind, ohne den all‐ tagsnahen Unterrichtsverlauf zu beeinträchtigen (Beispielsweise ob das Unterrichtsgeschehen mit mehreren Kameras erfasst werden soll oder Schüler‐ arbeitsgruppen von Co-Forschenden beforscht werden sollen). Die forschende Lehrkraft gerät wegen ihrer Doppelfunktion häufig in einen Rollenkonflikt. Freeman schlägt für solche Situationen vor, im Zweifelsfall dem Unterrichten Vorrang einzuräumen (vgl. Freeman 1998: 7). In der vorliegenden Untersuchung galt im Konfliktfall ebenfalls das Primat Unterricht vor Forschung. Genau be‐ trachtet kommt die Unterrichtsforschung um dieses Prinzip auch um der Qua‐ lität der Forschung willen nicht umhin. Zwei Beispiele aus meiner Forschung sollen dies illustrieren: a) In einer der ersten Stunden des zweiten Unterrichtszyklus beschwerten sich die Schüle‐ rinnen und Schüler darüber, dass sie von der Schulleitung im Stundenplan Zu‐ satzstunden wegen meines Forschungsprojekts zugeteilt bekommen hatten. Der Zeitaufwand für die anschließende Diskussion machte Änderungen zum Ablauf des Forschungsvorhabens an diesem Tag nötig. Wäre ich auf die Unzufrieden‐ heit der Lernenden allerdings nicht eingegangen, und hätten wir für das Problem keine Lösung gefunden, dann wären für die Forschung an diesem Tag und ver‐ mutlich auch an den folgenden Tagen keine validen Daten zu gewinnen ge‐ 178 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="179"?> wesen. Der Ärger der Schülerinnen und Schüler hätte vielmehr die Wirkung der Aufgaben überlagert. b) Im Forschungsprojekt wäre es wünschenswert gewesen, alle acht Schü‐ lerarbeitsgruppen einer Klasse bei ihren Aushandlungsprozessen zu beforschen. Allerdings hätte die Anwesenheit von acht Co-Forschenden im Klassenzimmer ein massiver Eingriff bedeutet und ein alltagsnahes Unterrichten wäre gestört gewesen. Um diese Störungen zu vermeiden, wurden nur vier Gruppen be‐ forscht und somit auf ein Teil von Daten verzichtet. Dafür waren diese Daten dann unter schulalltagsnahen Bedingungen entstanden. Das Primat Unterricht vor Forschung gilt also auch um der Forschung willen, da Unterrichtsforschung nur in funktionierenden Klassengefügen valide Ergeb‐ nisse erbringen kann (internal validity). Nur wenn die Lernenden sich vom For‐ schungsprozess (weitgehend) unbeeinflusst verhalten, habe ich als Forscher die Möglichkeit, das zu erforschen, was ich zu erforschen vorgebe. Es wäre hingegen schlecht, wenn ich Lernenden-Verhalten erfassen würde, das durch die Befor‐ schung entstanden ist. 7.2.2.3 Forschungskompetenzen der Lehrkraft Die Aus- und Weiterbildung von mir als forschender Lehrkraft sowie Bera‐ tungen zum Forschungsprojekt sind zur Sicherung forschungsmethodischer Standards zentral. Sie werden hier im Überblick vorgestellt. Über die in der Lehramtsausbildung in Baden-Württemberg vermittelten Kompetenzen zu empirischer Unterrichtsforschung hinaus beziehe ich meine forschungsmethodischen Kompetenzen aus folgenden Erfahrungen: eigene em‐ pirisch-quantitative Staatsexamensarbeit zum Umweltverhalten junger Men‐ schen, Betreuung von Studierenden bei der Evaluation von bilingualen Unter‐ richtsprojekten als Dozent, Besuch von Seminaren zu qualitativen Forschungsmethoden (Pädagogische Hochschule Freiburg, GESIS Mannheim), Teilnahme an Kongressen und Nachwuchstagungen der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung, Workshops zu Unterrichtsforschungsmethoden des Forschungs- und Nachwuchskollegs ‚aufgabenorientiertes Lernen‘ mit kri‐ tischer Diskussion des Designs der vorliegenden Untersuchung sowie eigenes Unterrichten von Seminaren zu qualitativen Forschungsmethoden an der Pä‐ dagogischen Hochschule Freiburg. Eine an Forschung interessierte Lehrkraft kann sich im Prinzip in gleicher Weise weiterbilden und ein Forschungsprojekt starten. Allerdings sollte ich da‐ rauf hinweisen, dass ich dank einer Teilabordnung schon mehrere Jahre vor Beginn des Dissertationsprojekts an der Hochschule (parallel zum Schuldienst) gearbeitet habe und außerdem für die Dissertation für drei Jahre unter Bezügen 179 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="180"?> mit mehr als der Hälfte der Arbeitszeit für das Forschungsprojekt freigestellt wurde. Diese Möglichkeiten stehen nicht vielen Lehrkräften zur Verfügung. Wenn Dörnyei schreibt „I am still to meet a teacher who has been voluntarily involved in an action research project“ (Dörnyei 2007: 191), dann spielt er darauf an, dass die Arbeitsbelastungen für fachliche und forschungsmethodische Fort‐ bildungen sowie Vorbereitung, Durchführung und Auswertung eines For‐ schungsprojekts so groß sind, dass sich kaum eine Lehrkraft an ein solches Pro‐ jekt wagt. Die erhoffte Demokratisierung von Theoriebildung findet bislang kaum statt. Um Lehrkräfte stärker in Forschungsprojekte einzubinden, schlägt Dörnyei vor, in der Lehramtsaus- und Weiterbildung verstärkt Forschungsme‐ thoden zu vermitteln, die Kooperationen zwischen Forschern und Lehrkräften zu verstärken, und die zeitliche Zusatzbelastung für Lehrkräfte durch For‐ schungsprojekte zumindest teilweise durch Deputatsreduktionen zu kompen‐ sieren (vgl. Dörnyei 2007: 191-194). 7.2.2.4 Anzahl von Forschungszyklen Wie bereits erwähnt, erprobte ich die Aufgaben zur Förderung von interkultu‐ rellen Kompetenzen in zwei Forschungszyklen. Nach Zyklus 1 wurden die Auf‐ gaben verbessert und einzelne auch durch alternative Aufgaben ersetzt. Nach Zyklus 2 wurden wiederum Optimierungsmöglichkeiten zu den Aufgaben ge‐ sammelt und diskutiert. Da die Veränderungen von Zyklus 1 zu Zyklus 2 größer waren als die vorgeschlagenen Veränderungen von Zyklus 2 zu Zyklus 3 gehe ich davon aus, dass mein Forschungsprojekt mit der Aufgabenoptimierung von zwei Zyklen die wichtigsten Verbesserungen vornehmen konnte. Die Anzahl von zwei Forschungszyklen erachte ich für die Bearbeitung meiner Fragestel‐ lungen als ausreichend. Weitere Zyklen wären wünschenswert, in denen nun auch das Unterrichten an andere Lehrkräfte abgegeben worden wäre und deren Aufgabeninterpretation hätte untersucht werden können. Diese Erweiterung war innerhalb des vorgesehen Rahmens jedoch nicht umsetzbar. 7.2.2.5 Zusätzliche Perspektiven durch Co-Forschende Wie oben beschrieben, arbeitete ich in beiden Forschungszyklen als Lehrer und Forscher. Im ersten Zyklus wurde ich durch eine Co-Forscherin in allen Unter‐ richtsstunden unterstützt. In einzelnen Unterrichtsstunden des ersten Zyklus unterstützten mehrere Studierende die Datenaufnahme. Die Kamerafrau aus dem ersten Forschungszyklus filmte auch bei dem zweiten Zyklus den Unterricht. Aus schulorganisatorischen Gründen mussten im zweiten Zyklus die acht zu erprobenden Aufgaben innerhalb von zwei Wo‐ chen unterrichtet werden. Dadurch waren die Projekt-Unterrichtszeiten in den 180 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="181"?> Unterrichtszeiten von mehreren Lehrkräften verortet. Eine Unterstützung bei der Datenerhebung durch wechselnde Lehrkräfte erschien damit wenig realis‐ tisch. Deswegen wurden für den zweiten Zyklus vier studentische Hilfskräfte als Co-Forscherinnen engagiert. Die Co-Forscherinnen hatten ein im Semester zuvor von mir angebotenes Seminar zum interkulturellen Lernen besucht, aus dem die Vorstudie zur empirischen Erfassung des Vermittelns von interkultu‐ rellen Kompetenzen von bilingual unterrichtenden Lehrkräften hervorge‐ gangen war (vgl. Kap. 6). In einer umfangreichen Vorbereitungsphase wurden die Co-Forscherinnen ferner in die Unterrichtsziele, -inhalte und -methoden sowie die Forschungsmethoden des Projekts eingearbeitet. Für die Beobach‐ tungen während des Unterrichts wurden jeder Co-Forscherin zwei der acht Schülergruppen (à vier Personen) zugeteilt. Ferner beforschten sie in Gruppen‐ aushandlungsprozessen je eine Schülergruppe (vier von acht Gruppen konnten so beforscht werden). Außerdem führten sie Aufgabenreflexionen als Gruppen‐ interviews mit den von ihnen beforschten Schülerinnen und Schülern durch. Die Co-Forscherinnen unterstützten das Forschungsprojekt auch bei der Da‐ teninterpretation. Sie waren insgesamt mit mehreren Treffen wöchentlich über einen Zeitraum von 10 Wochen im Einsatz. Mit der Vergrößerung der Forschergruppe von Zyklus 1 zu Zyklus 2 ging auch eine Erweiterung der Perspektiven auf das Unterrichtsgeschehen und die Daten einher. Die Perspektive als forschender Lehrer konnte so mit unabhängigen Perspektiven von mehreren Co-Forscherinnen verglichen und bei Bedarf kor‐ rigiert werden. 7.2.2.6 Einflussfaktoren reduzieren: task-as-workplan vor task-in-process Die mögliche Alternative, die Unterrichtseinheit von einer anderen Lehrkraft unterrichten zu lassen und selbst als beobachtender Forscher teilzunehmen, wurde verworfen. Diese im Prinzip sinnvolle Vorgehensweise kann beim For‐ schungsstand meines Themas erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Über‐ arbeitung der Aufgaben erfolgen. In den hier dargelegten beiden Unterrichts‐ zyklen des Projekts erfolgte noch die Überarbeitung der ursprünglich konzipierten Aufgaben (task-as-workplan). Dabei ist es ideal, wenn der Ersteller der Aufgaben sie auch selbst unterrichtet, da er ihre Intentionen am besten kennt (Fokus: Erforschung der task-as-workplan). Wenn die Aufgaben dann optimiert sind, ist Implementationsforschung zur Verwendung (und Interpretation) der Aufgaben durch andere Lehrkräfte angemessen (Fokus: Erforschung der task-in-process). Geschieht der letztere Schritt allerdings verfrüht, d. h. dass eine andere Lehrkraft die Aufgaben unterrichtet, bevor sie wirklich ausgereift sind, dann besteht das Problem, dass in der Dateninterpretation die schwierige Un‐ 181 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="182"?> terscheidung zu treffen ist, ob eine Aufgabe nun möglicherweise nicht gut funk‐ tioniert hat, weil sie schlecht geplant war (task-as-workplan), oder weil sie von der Lehrkraft schlecht eingesetzt wurde (task-in-process). Aus diesem Grund wurde in den ersten beiden Zyklen auf das Unterrichten durch eine andere Lehrkraft verzichtet. 7.2.3 Datenquellen Im folgenden Abschnitt wird beschrieben, welche Datenquellen im Rahmen des Unterrichtsforschungsprojekts genutzt wurden. Ich entwickelte Aufgaben zu einer Unterrichtseinheit, die sich mit dem Vergleich kultureller Praktiken aus‐ einandersetzte. Diese Aufgaben wurden zunächst in einer 9. Klasse unterrichtet, anschließend optimiert und im folgenden Schuljahr in einer anderen 9. Klasse nochmals unterrichtet. Außer der Verbesserung der Aufgaben, die jeweils am Ende der jeweiligen Aufgabenanalyse diskutiert wird, erfolgte auch eine Opti‐ mierung der Datenerhebung. Im Folgenden stelle ich zu den verwendeten Da‐ tenerhebungsmethoden jeweils zunächst eine Zusammenfassung der Empfeh‐ lungen aus der Fachliteratur vor und beschreibe dann die Verwendung der Erhebungsmethode in den beiden Zyklen meines Projekts. 7.2.3.1 Unterrichtsbeobachtung Unterrichtsforscher setzen non-participant-observers ein, um die Auswirkungen der verschiedenen Einflüsse - auch der Lernarrangements - rekonstruieren zu können. Die Beobachtungen können mittels Beobachtungsbogen standardisiert werden, wodurch die Datenerhebung und -auswertung wegen der Vergleich‐ barkeit der Daten erleichtert bzw. ermöglicht wird. Dörnyei weist allerdings darauf hin, dass bei der Verwendung von observation schemes zum einen Daten verloren gehen können, die nicht in das Schema passen, weil der Aufmerksam‐ keitsfokus der Beobachter zu eng ist. Zum anderen wird die Motivation für Handlungen alleine aus Beobachtungen häufig nicht klar. Er empfiehlt deshalb, die Beobachtungen um andere Methoden zu ergänzen (z. B. Interviews), die die Beobachteten zu ihrer Handlungsmotivation befragen (vgl. Dörnyei 2007: 179). Der besondere Vorteil von Beobachtungen ist, dass tatsächliche Handlung beob‐ achtet wird, und nicht nur Handlungsintentionen erfragt werden: „The main merit of observational data is that it allows researchers to see directly what people do without having to rely on what they say they do“ (Dörnyei 2007: 185). Unterrichtsbeobachtung spielte insbesondere im zweiten Forschungszyklus des Unterrichtsforschungsprojekts eine wichtige Rolle. Diese Datenquelle konnte aufgrund der dann ausreichend zur Verfügung stehenden geschulten 182 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="183"?> Beobachterinnen systematisch genutzt werden. Die Beobachterinnen waren eng vertraut mit dem Kompetenzkatalog von Byram (1997: 57-64) im Allgemeinen und den intendierten interkulturellen Kompetenzen der Unterrichtsstunden im Besonderen. Letztere lagen ihnen während der Beobachtung auch schriftlich vor. Die Beobachterinnen notierten, welche interkulturellen Kompetenzen sich in den beobachteten Gruppen zeigten (deduktive Verwendung des Katalogs). Sie notierten auch Beobachtungen, die sich noch nicht eindeutig Kompetenzen zu‐ ordnen ließen (induktive Erweiterung). Eine stärkere Standardisierung der Be‐ obachtungen, z. B. mittels vorstrukturierter Beobachtungsbögen, wurde ver‐ worfen. Beobachtungsbögen aus der Literatur (vgl. z. B. Dörnyei 2006: 179-183) hätten zu viel Beobachter-Aufmerksamkeit auf für diese Untersuchung Neben‐ sächliches gelenkt. 7.2.3.2 Videographie In Verbindung mit Unterrichtsbeobachtung bietet sich die Videoaufnahme an, da sie eine zeitversetzte ‚Beobachtung‘ - auch durch die unterrichtende Lehr‐ kraft - erlaubt. Dörnyei warnt davor zu glauben, dass eine Videographie das komplette Unterrichtsgeschehen einfangen kann, und sieht dabei die Gefahr, dass sich die Lernenden durch die ungewohnte Situation, gefilmt zu werden, anders verhalten als ohne Kameraeinsatz (vgl. Dörnyei 2007: 184). Flick erwähnt als weitere Problematik den Verlust der Anonymität der Beforschten (vgl. Flick 2006: 246). Nach abwägender Diskussion zieht Dörnyei jedoch das Fazit, dass bei vorsichtiger Beachtung dieser Aspekte die genannten Nachteile wettge‐ macht würden, da die dauerhafte Verfügbarkeit der Daten ein wiederholtes und gemeinsames Anschauen und Interpretieren erlaubt (vgl. Dörnyei 2007: 184 f.). Ferner ermöglichen Videoaufnahmen im Vergleich zu reinen Audioaufnahmen häufig eine Zuordnung von Stimmen zu Sprechern. Alle Unterrichtsstunden der beiden Forschungszyklen wurden videogra‐ phiert. Nach meinem Eindruck reagierten die Schülerinnen und Schüler der beiden untersuchten Klassen lediglich zu Projektbeginn auf die Anwesenheit der Kameras (z. B. kurzer fragender Blick in die Kamera), danach zeigten sie keine besonderen Verhaltensweisen mehr. In beiden Zyklen stand die Kamera auf der Fensterseite des Klassenzimmers in etwa 2/ 3 der Raumtiefe. Diese Posi‐ tion erwies sich als am besten geeignet, um bei guter Ausleuchtung sowohl das Geschehen vorne (präsentierende Schülerinnen und Schüler, Lehrkraft, Tafel, Overheadprojektor, Karte, Poster, etc.) als auch die Reaktionen der Lernenden aufzunehmen. Die Aufnahmen erfolgten mit digitalen Videokameras auf Mini DV, deren Bildqualität ausreichend gut ist. Die Brauchbarkeit der Bildauf‐ nahmen hängt insbesondere von den Antizipationsfähigkeiten der Kamerafrau 183 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="184"?> ab. Sie muss vorhersehen, welches vermutlich der nächste Ort des Geschehens im Klassenzimmer sein wird. Die Bildaufnahmen beider Zyklen sind in Ord‐ nung; die Tonaufnahmen des ersten Zyklus sind teilweise schlecht. Schüle‐ rinnen und Schüler, die in der Nähe der Kamera saßen, wurden halbwegs ver‐ ständlich aufgenommen, diejenigen, die weiter entfernt saßen, sind sehr häufig nicht zu verstehen. Für den zweiten Zyklus wurden deswegen sechs parallel geschaltete Mikrofone im Klassenzimmer verteilt auf die Schülertische gestellt. Für deren Verwendung mussten die Schülerinnen und Schüler darauf hinge‐ wiesen werden, möglichst wenig Nebengeräusche zu machen, da jedes Geräusch im Klassenzimmer gleichzeitig aufgenommen wird. Die Schülerinnen und Schüler kamen dieser Bitte weitgehend nach. Die Tonaufnahmen deckten das gesamte Klassenzimmer gleichmäßig ab, alle in normaler Lautstärke erbrachten Beiträge sind gut verständlich. Bei Gruppenarbeiten wurden allerdings alle Ge‐ spräche gleichzeitig erfasst, d. h. der Kameraton erlaubt hier keine Rekonstruk‐ tion der Vorgänge. Gruppenarbeiten wurden deshalb auf vier separaten MP3-Re‐ cordern von den Co-Forscherinnen aufgenommen. Sie saßen bei den Gruppen und nahmen die Aushandlungsprozesse als Audiodateien auf (vier von acht Gruppen abgedeckt). Die Videographien dienten bei der Auswertung dazu, dass die Forschergruppe sich die Unterrichtssituationen nochmals vergegenwärtigen konnte. Eine Transkription des kompletten Unterrichtsgeschehens wurde als zu aufwändig verworfen. Stattdessen wurden bei der Sichtung der Videos Unter‐ richtssituationen transkribiert, die für das interkulturelle Lernen der Lernenden bedeutsam waren, und damit für die Interpretation aufbereitet. Ferner doku‐ mentierten die Co-Forscherinnen die für den interkulturellen Kompetenzerwerb relevanten Schüleraussagen bei der Unterrichtsbeobachtung (s. o.). 7.2.3.3 Arbeitsprodukte der Lernenden Eine weitere wichtige Datenquelle zur Rekonstruktion der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen sind Lernertexte, also durch die tasks initiierte Arbeitsprodukte der Schülerinnen und Schüler, mit denen die Kompetenzent‐ wicklung dokumentiert werden kann. Diese Texte sind geeignete Ausgangs‐ punkte für die retrospektiven Gruppeninterviews, in denen die Interviewenden die Lernenden nach Beweggründen für Aussagen fragen können. Die Lerner‐ texte selbst können ähnlich wie Interviewtexte interpretiert werden. Es bieten sich Triangulationen von Interpretationen verschiedener Forscher sowie Tri‐ angulationen mit anderen Datenquellen an, insbesondere mit den genannten Interviews. Als Schülerarbeitsprodukte entstanden im Forschungsprojekt Botschaften an fremdkulturelle Adressaten, vorbereitende Hausaufgaben, von den Lernenden 184 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="185"?> gestaltete Schulbuchseiten (zunächst als Poster) und Verschriftlichungen von beispielsweise Stellungnahmen in Rollenspielen. Die Schülerinnen und Schüler erhielten zu Beginn des Projekts einen Schnellhefter für die geordnete Ablage ihrer Arbeiten. Am Ende des Projekts wurden die Hefterinhalte fotokopiert und die Wandposter fotografiert. Die Auswertung der Lernertexte erfolgte größten‐ teils vergleichend in der Forschergruppe. So interpretierten beispielsweise alle Co-Forscherinnen und der forschende Lehrer die Schülerposter aus Aufgabe 7 (zweiter Zyklus) zunächst alleine, und verglichen anschließend ihre Interpre‐ tationen (Investigator-Triangulation vgl. Flick 2005: 312). 7.2.3.4 Forschertagebuch Für die geordnete Erfassung seiner Beobachtungen kann der Forschende Feld‐ notizen machen oder ein Forschertagebuch führen. Da es als forschende Lehr‐ kraft nicht möglich ist, den Unterricht für die Eintragung von Feldnotizen zu unterbrechen, bietet sich das Führen eines Forschertagebuchs an. Die Eintra‐ gungen erfolgen also erst nach Abschluss der Feldbegegnung eines jeden (Un‐ terrichts-)Tages. Es ist darauf zu achten, dass in der Aufzeichnung klar unter‐ schieden wird zwischen Beobachtungen und Interpretationen des Forschenden. Forschende sollten sich ferner vergegenwärtigen, dass es sich bei den notierten Beobachtungen um selektive Wahrnehmungen handelt, dass schon an dieser Stelle die Forschenden durch Auswahl Einfluss auf die Inhalte nehmen. Es bietet sich an, die Tagebuchaufzeichnungen mit anderen Datenquellen und anderen Forscherperspektiven vergleichend zu interpretieren. Über die Feldnotizen (Be‐ obachtung und Interpretation) hinaus hält das Forschertagebuch auch Ge‐ danken zu den Forschungsmethoden, Überlegungen zu Verbesserungsmöglich‐ keiten, erste Theoriebildung und ähnliches fest (vgl. Flick 2006: 249-251; Richards 2003: 135-139). Dörnyei befürwortet stärker strukturierte Eintra‐ gungen. Sie können als Notizen zu Beobachtungen, zur Forschungsmethodik, zur Theorieentwicklung und zu subjektiven Eindrücken gegliedert werden (vgl. Dörnyei 2007: 161). Das Forschertagebuch kann Theoriebildung und -entwick‐ lung offen legen. Dörnyei sieht als größtes Hemmnis für das Führen eines For‐ schertagebuchs in den arbeitsintensiven Phasen der Datenaufnahme die zur Verfügung stehende Zeit und die Selbstdisziplin als Forschender systematisch Einträge vorzunehmen. „Keeping a systematic account of one’s research activi‐ ties and reflections takes considerable discipline“ (Dörnyei 2007: 160). Im ersten Unterrichtszyklus führte ich ein Forschertagebuch. Nach jeder Un‐ terrichtsstunde notierte ich möglichst zeitnah Beobachtungen und Interpreta‐ tionen sowie Vorschläge für die Aufgabenoptimierung für den zweiten Zyklus. Hinsichtlich der Selbstreflexion, der Aufgabenoptimierung und auch eines kom‐ 185 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="186"?> pakten Zugriffs auf die Unterrichtsstunde bei späterer Rekonstruktion erwies sich das Forschertagebuch als nützlich und als eine gute Ergänzung zu den an‐ deren Datenquellen. Im zweiten Zyklus verhinderte der sehr dichte Zeitplan mit fast täglich einer neuen Aufgabe, die sowohl unterrichtlich als auch forschungs‐ methodisch vorbereitet werden musste, das Führen eines Forschertagebuchs. Im zweiten Zyklus ersetzten die Unterrichtsbeobachtungen der Co-Forscherinnen und die verbesserten Unterrichtsvideos diese Datengruppe. 7.2.3.5 Interviews Im Unterrichtsforschungsprojekt kamen Gruppeninterviews und fokussierte Interviews zum Einsatz. Die beiden Kategorien Gruppeninterviews und fokus‐ sierte Interviews sind keine sich gegenseitig ausschließenden Begriffe. Sie können somit im selben Interview beinhaltet sein. Der Begriff Gruppeninter‐ view bezieht sich auf die gewählte Gruppengröße, der Begriff fokussiertes In‐ terview auf die Vorgehensweise beim Interviewgespräch. Der Einsatz von Gruppeninterviews empfiehlt sich, wenn die Beziehungssi‐ tuation im Interview der alltäglichen Situation ähneln soll, „der soziale Druck zum Reden ist für den Einzelnen etwas geringer und das Erzählen wirkt anste‐ ckend“ (Altrichter & Posch 2007: 154). Sie können als standardisierte, teilstan‐ dardisierte und offene Interviews geführt werden. Um reichhaltige Daten zu erhalten, empfiehlt Dörnyei mindestens 4-5 Gruppen mit einer Gruppengröße von 6-10 Personen zu einem Thema zu interviewen. Als Interviewer gilt es ins‐ besondere zu beachten, dass alle Interviewteilnehmer beitragen und nicht Ein‐ zelne das Gespräch dominieren. Dadurch, dass viele Personen zum gleichen Thema befragt werden, können nicht viele Themen behandelt werden. Ande‐ rerseits kann zu den angesprochenen Themen aber ein umfangreicher Daten‐ ertrag erwartet werden (vgl. Dörnyei 2007: 145). Für die Datenaufnahme emp‐ fehlen sich Audioaufnahmen, denn der Interviewer muss seine Konzentration nicht nur auf inhaltliche Aspekte lenken, sondern auch gruppendynamische Prozesse beachten. Das zusätzliche Anfertigen von Gesprächsnotizen kann da‐ durch vermieden werden. Gruppeninterviews sind anspruchsvoller als Einzel‐ interviews (vgl. Dörnyei 2007: 145). Wenn die Gruppensituation Aussagen ver‐ fälscht, sind Einzelinterviews vorzuziehen. „Das Einzelinterview [ist] immer dann unersetzbar, wenn die Beantwortung der Frage eine persönliche, durch Gruppendruck unbeeinflusste Atmosphäre erfordert“ (Bortz & Döring 2006: 242). Dörnyei empfiehlt die Nutzung von Gruppeninterviews in der Unter‐ richtsforschung: „In educational contexts they are also often used for pro‐ gramme evaluation to assess the effectiveness of a particular course to under‐ stand what was or was not working and why“ (Dörnyei 2007: 146). 186 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="187"?> Das fokussierte Interview gehört zu den teil-standardisierten Verfahren, das mit Hilfe eines Interviewleitfadens durchgeführt wird. Für forschende LehrerInnen kommen vor allem fokussierte Interviews in Frage: das sind Interviews, bei denen Wahrnehmungen und Deutungen bestimmter Ereignisse (z. B. von Situationen in einer Unterrichtsstunde = der Fokus) erfragt werden (Al‐ trichter & Posch 2007: 153). Das fokussierte Interview kann sowohl als Gruppenals auch als Einzelinter‐ view eingesetzt werden. Im Mittelpunkt (dem Fokus) stehen Erfahrungen, die die Interviewten gemacht haben. Der Forscher hat dieses Erleben beobachtet und stellt Fragen zu den Assoziationen des Interviewten zu dieser Situation. Fokussierte Interviews gehören damit zu den retrospektiven Verfahren. Der Forscher kann seine eigenen Beobachtungen und Interpretationen mit den Be‐ deutungszuschreibungen der Interviewten zu einer Situation vergleichen, wo‐ durch eine kommunikative Validierung ermöglicht wird. Im Interview gilt es zu beachten, dass die Fragen und Impulse eine große Bandbreite an Antworten zulassen, dass zu konkreten Situationen nach Wertungen und Gefühlen gefragt wird, und dass die Ursachen für diese Wertungen erforscht werden (vgl. Rein‐ ders 2005: 111-113). Ein Thema wird üblicherweise mit einer offenen Frage ein‐ geleitet, es folgen dann semi-strukturierte und strukturierte Fragen, um „im Verlaufe des Interviews sukzessive den Detaillierungsgrad zu erhöhen“ (Rein‐ ders 2005: 113). Für den Einsatz mit Jugendlichen sind fokussierte Interviews besonders geeignet, da auf eine konkrete zeitnahe Situation Bezug genommen wird, und zwischen offenen und stärker strukturierten Fragen gewechselt wird (vgl. Reinders 2005: 115). Fokussierte Interviews gelten wegen den Vorarbeiten (Beobachtungssituation initiieren, Interviewleitfaden erstellen, Beobachten, Be‐ obachtungsauswertung als Interviewvorbereitung) und den Nacharbeiten (zu‐ sätzlich: Abgleich der Analysen von Beobachtungen und Interviews) als sehr arbeitsintensiv (vgl. Reinders 2005: 115). Fokussierte Gruppeninterviews, die die gemeinsam erlebten Unterrichtsin‐ halte und Schüleraufgaben reflektieren, bilden eine zentrale Datenquelle dieses Forschungsprojekts. Im ersten Zyklus wurden nach jeder Unterrichtsstunde eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern von der forschenden Lehrkraft inter‐ viewt, die sich in wechselnden Konstellationen freiwillig für das Interview ge‐ meldet hatten. Die Auswertung der Daten des ersten Zyklus ergab, dass sich in den Aufgabenreflexionen (Gruppeninterviews im Anschluss an den Unterricht) eine besondere Dichte von Aussagen fand, die auf interkulturelle Kompetenzen hinwiesen, und dass interkulturelle Kompetenzen teilweise durch die Reflexionen im Interview initiiert wurden. Wegen dieses Befundes wurde die Bedeutung der 187 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="188"?> Interviews als Reflexionsanlass für interkulturelles Lernen als besonders hoch eingeschätzt. Die Interview-Reflexionsphase erhielt im zweiten Zyklus den Status einer eigenen Unterrichtsphase, und alle Schülerinnen und Schüler nahmen daran teil. Für den zweiten Zyklus wurde die unterrichtete Klasse in fünf Interview‐ gruppen à durchschnittlich 6 Schülerinnen und Schüler aufgeteilt, deren Zu‐ schnitt in etwa den beforschten Gruppen der Co-Forscherinnen entsprachen. Mit dieser Einteilung konnten alle Schülerinnen und Schüler des zweiten Zyklus zu jeder Unterrichtsstunde interviewt werden. Alle Interviews wurden mit MP3-Re‐ cordern aufgenommen und von den Interviewenden transkribiert. Die Co-For‐ scherinnen sowie die forschende Lehrkraft interpretierten jeweils ihre Transkrip‐ tionen. Die Interpretationen von ca. einem Viertel der Interviewdaten wurden zu Beginn der Datenauswertung gemeinsam verglichen, um eine einheitliche Hand‐ habung des Kriterienkatalogs sicher zu stellen. 7.2.4 Triangulation Der Begriff Triangulation stammt aus der Geodäsie (Erdvermessung) und be‐ schreibt dort das Prinzip, dass zur Vermessung einer neuen Position zwei be‐ kannte Referenzpunkte benötigt werden. Die neue Position wird dann als dritter Punkt im Dreieck mittels Winkelmessung und mathematischer Berechnung be‐ stimmt. In der Sozialforschung beschreibt der Begriff das Heranziehen einer oder mehrerer weiterer Perspektiven (d. h. Datenquellen, Forscher, Theorien, Untersuchungsmethoden), um eine erste Interpretation zu validieren bzw. zu erweitern. Die Metapher bezieht sich offensichtlich auf die Veranschaulichung der Eigenschaft, dass unter einer Perspektive die Realität nur ungenau be‐ schreibbar ist. Eine zweite Perspektive (zweiter gemessener Winkel) ermögliche so die bessere Beschreibung der Realität. Das Konzept, was unter Triangulation in der Sozialforschung zu verstehen ist, wurde stark von Denzin geprägt. Er unterscheidet vier Arten von Triangulati‐ onen: Datentriangulation, Forschertriangulation, Methodentriangulation und Theorientriangulation (vgl. Denzin 1970). Ursprünglich wurde die Triangulation in der Sozialforschung dazu verwendet, die beforschte Realität durch Aussagen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven (z. B. verschiedenen Datengruppen oder verschiedenen Forschern) gegenseitig bestätigen, valider und reliabler zu beschreiben. Dieses Konzept von Triangulation setzt die implizite Annahme vo‐ raus, dass es für die unterschiedlichen Perspektiven eine gemeinsame objektive Wirklichkeit gibt, die es nun von mehreren Seiten zu beschreiben gilt. Es wurde also angenommen, dass alle Perspektiven eine gleichlautende Realität beob‐ achten. Wenn alle Daten des Forschungsvorhabens dann die gleichen Aussagen 188 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="189"?> treffen, dann scheinen sich die verschiedenen Perspektiven in der Gültigkeit ihrer Aussagen gegenseitig zu bestätigen. Allerdings widerspricht die Annahme einer allgemeingültigen Realität einer konstruktivistischen Auffassung der Beschrei‐ bung von Wirklichkeiten, die unterschiedlichen Perspektiven ihre individuellen Realitäten zubilligt, und wird in der Literatur kontrovers diskutiert. With an ontology [Seins-Lehre] that allows for multiple realities (Schutz, 1962), and an epistemology [Erkenntnistheorie] that recognizes that accounts of any social world are relative in time and space, and to the observer, the use of multiple data sources and multiple observers does not solve the problems [der Validierung der Daten]. In‐ terpretivists […] are not likely to use triangulation to reduce bias and increase validity (Blaikie 1991: 124). Wird so argumentiert, ist es konsequent, Triangulation in erster Linie als die Anreicherung und Erweiterung der Sicht auf ein Phänomen zu sehen. Triangu‐ lation dient dann also eher einer Erweiterung als einer Validierung des Ver‐ ständnisses zu einer Beobachtung. Flick trägt beiden Aspekten der Bedeutung von Triangulation Rechnung, wenn er postuliert, dass Triangulation als eine Strategie anzusehen ist, die versucht „Erkenntnisse durch die Gewinnung wei‐ terer Erkenntnisse zu begründen und abzusichern“ (Flick 2005: 311). Bei Trian‐ gulationen in meinem Projekt brachte eine zweite Perspektive zumeist beides ein: neue Informationen und Informationen, die in ähnlicher Form bereits vor‐ lagen und sich gegenseitig bestätigen. In der qualitativen Forschung kann sich der Begriff Triangulation auf eine Reihe von Verfahren zur Sicherung der Wissenschaftlichkeit von Forschungs‐ vorhaben beziehen. Denzin (1978) applied the term [triangulation] to refer to the generation of multiple perspectives on a phenomenon by using a variety of data sources, investigators, the‐ ories or research methods with the purpose of corroborating an overall interpretation (Dörnyei 2007: 165). Für meine Arbeit sind insbesondere die Triangulationen von Datenquellen und Forscherperspektiven relevant. Bei der Triangulation von Datenquellen kann beispielsweise eine umfassen‐ dere Sicht auf den interkulturellen Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler gewonnen werden, wenn nicht nur ihr Verhalten bei der Aufgabenbear‐ beitung beobachtet wird, sondern sie auch zur Aufgabenbearbeitung befragt werden. Der Umstand, dass sich in dieser Phase der Metakognition teilweise in‐ terkulturelle Kompetenzen erst entwickelten, also dass die Wirklichkeit zur Auf‐ gabenbearbeitung sich im Moment der Reflexion erst konstituierte, spricht im 189 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="190"?> Übrigen gegen den Ansatz einer vergleichenden Triangulation, die Perspektiven zur vermeintlich einen Wirklichkeit zu Gunsten eines Zuwachses an Validität zu gewinnen sucht. Die Triangulation ist hier in erster Linie verständniserweiternd. Bei der Triangulation von Forscherperspektiven können beispielsweise die Perspektiven von unabhängigen Beobachtern und der Lehrkraft auf eine Auf‐ gabenbearbeitung verglichen werden. Gleichlautende Forscherperspektiven können als gegenseitige Validierung der Perspektiven gelten und eine Interpre‐ tation bestärken. Andererseits muss ein unterschiedliches Erleben der gleichen sozialen Wirklichkeit nicht zwangsläufig die beiden Beobachtungen als nicht-valide qualifizieren. Solche Unterschiede können beispielsweise in den unterschiedlichen Vorerfahrungen der Forschenden begründet sein. Ein aus‐ führlicher und gleichrangiger Austausch der Forschenden zu den Gründen un‐ terschiedlicher Interpretationen vertieft die Sicht auf das Phänomen, ist wegen der Perspektivenerweiterung bereichernd für die Forschenden und erleichtert die Dateninterpretation im weiteren Projektverlauf. Durch den Vergleich von Perspektiven [z. B. von Lernenden, Lehrkraft und Beobach‐ tenden] können Unterschiede, Widersprüche, Diskrepanzen entdeckt werden. Diese sind Ansatzpunkte, um die Interpretation einer Situation weiter zu entwickeln und besser durch Erfahrung zu stützen. Wenn hingegen die unterschiedlichen Perspek‐ tiven übereinstimmen […] nimmt man an, dass sich die Vertrauenswürdigkeit dieser Interpretation erhöht hat (Altrichter & Posch 2007: 197). In meinem Forschungsprojekt spielt die Triangulation von Daten und Perspek‐ tiven zur Sicherung der Befunde und zur Erweiterung von Aussagen an vielen Stellen eine wichtige Rolle. Im ersten Forschungszyklus erfolgen Triangulati‐ onen in erster Linie als Datentriangulationen. Beispielsweise werden Daten der Unterrichtsvideos mit Interviewaussagen trianguliert. Im zweiten Forschungs‐ zyklus wird zusätzlich zur Datentriangulation eine Triangulation weiterer For‐ scherperspektiven vorgenommen. Dabei ergänzen sich die Forscherperspek‐ tiven zum einen bei der Datenaufnahme (Welche interkulturellen Kompetenzen haben welche Co-Forscherinnen im Unterricht wahrgenommen? ) und zum an‐ deren bei der Dateninterpretation (Wie deuten die Forschenden die Daten im Vergleich? ). Als besonders ertragreich erwiesen sich die Triangulationen der Deutungen zu a) Schülerarbeitsprodukten mit b) Schüleraussagen der Aushand‐ lungsprozesse bei der Erstellung der Produkte mit c) Reflexionen über die Auf‐ gabenprozesse und Aufgabenprodukte in Form von Gruppeninterviews. Bei den Analysen zu Aufgabe 7 des zweiten Unterrichtszyklus (siehe S. 358-375) wird exemplarisch besonders ausführlich dargestellt, wie die Triangulationen ein umfassendes Aufgabenverständnis förderten. 190 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="191"?> 7.2.5 Datenertrag und Dateninterpretation im vorliegenden Projekt Die Datenerträge aus den beiden Untersuchungszyklen unterscheiden sich in Umfang und Quellenvielfalt. Aus dem ersten Zyklus liegen für alle Aufgaben‐ erprobungen (a) jeweils Videographien zu den Unterrichtsstunden mit Trans‐ kriptionen ausgewählter Passagen, (b) mein Forschertagebuch als forschender Lehrer sowie (c) zu jeder Aufgabe ein fokussiertes Gruppeninterview mit Au‐ dioaufnahme und dessen Transkription vor. Zu einzelnen Aufgaben gibt es (d) Aufgabenprodukte (beispielsweise notierte Fragen der Lernenden an die Gast‐ studentin aus Indien bei Aufgabe eins). Es können also Beobachtungen, Befra‐ gungen und Lernertexte interpretiert werden. Bei Erhebung und Auswertung der Daten dominiert meine Perspektive als forschender Lehrer. Nur bei den Vi‐ deoaufnahmen wirkte eine Co-Forscherin mit. Die Perspektive von Lernenden wurde mittels Aufgabenreflexionen einbezogen. Zum zweiten Zyklus liegen ebenfalls (a) Videographien mit Transkriptionen ausgewählter Passagen zu allen Unterrichtsstunden vor. Zu allen acht Aufgaben‐ erprobungen liegen (b) jeweils fünf fokussierte Gruppeninterviews vor, die die Perspektive der Lernenden auf die Aufgaben erfassen. Diese Interviews wurden von mir und vier Co-Forscherinnen durchgeführt, aufgenommen, transkribiert und mittels Kategorien nach dem Modell der Intercultural Communicative Com‐ petences von Byram codiert (vgl. Byram 1997). Zu sechs Interviews wurden die Codierungen von allen Forschenden getrennt vorgenommen und dann ge‐ meinsam verglichen. Eine Intercoderreliabilität wurde nicht formal berechnet, allerdings war festzustellen, dass weitgehend gleichlautend codiert wurde und mit zunehmender Vertrautheit mit den Codes die Übereinstimmung bei den Code-Zuweisungen weiter stieg. Im zweiten Zyklus wurde (c) die Datengruppe ‚Aufgabenprodukte der Lernenden‘ stärker einbezogen. Es wurden beispiels‐ weise Schülerposter neu einbezogen, die von allen Forschenden interpretiert und deren Interpretationen dann trianguliert wurden. Als neue Datengruppe traten im zweiten Zyklus (d) Audioaufnahmen von Gruppenaushandlungsprozessen hinzu. Die vier Co-Forscherinnen nahmen bei vier von acht Schülergruppen die Aushandlungsprozesse auf. Bei den 35 vorliegenden Audioaufnahmen zu Grup‐ penaushandlungsprozessen wurden nur ausgewählte Passagen transkribiert (vgl. z. B. Aushandlungsprozess „Do you speak Indish“ S. ). Die Co-Forscherinnen no‐ tierten ferner (e) ihre Unterrichtsbeobachtungen zu interkulturellen Kompe‐ tenzen zu allen Untersuchungsaufgaben. Die Beobachtungen waren fast aus‐ schließlich Schülerredebeiträge, zu denen notiert wurde: Namen der Sprechenden, Zeitangaben und möglichst wörtliche Notierungen der Beiträge. Die notierten 191 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="192"?> Beobachtungen waren eine hilfreiche Orientierung bei der Durchsicht der Unter‐ richtsvideos und der Gruppenaushandlungsprozesse. Für die Dateninterpretation wurde zunächst die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring eingesetzt (vgl. Mayring 2005). Dabei wurden als Kategorien die interkulturellen Kompetenzen verwendet, die Byram in seinem Model der In‐ tercultural Communicative Competences nennt (deduktive Nutzung). Einzelne interkulturelle Kompetenzen, die die Co-Forscherinnen und ich nicht zuordnen konnten, wurden gesammelt, diskutiert und ergänzten induktiv Byrams Ka‐ talog. Diese Vorgehensweise erlaubte zwei Aussagen. Erstens ist Byrams Ka‐ talog der Intercultural Communicative Competences nicht nur plausibel, sondern die dort postulierten Kompetenzen können empirisch bestätigt werden. Zwei‐ tens wurden durch die eingesetzten Aufgaben tatsächlich interkulturelle Kom‐ petenzen bei den Lernenden erkennbar. Das ‚Was eine Aufgabe bewirkt‘ konnte also mit der Qualitativen Inhaltsanalyse erfasst werden, allerdings ist die Me‐ thode zu grob, um zu erfassen, ‚Wie eine Aufgabe wirkt‘. Aufgabenforschung, die immer auch eine mögliche Aufgabenoptimierung einbezieht, erfordert einen Forschungsansatz, der sehr feinteilig versucht, die Wirkung einer Aufgabe nachzuvollziehen. Es geht dann nicht nur um die Erfassung, Nennung, Para‐ phrasierung, Kategorisierung und Gruppierung von für interkulturelle Kompe‐ tenzen relevanten Einzelaussagen wie bei der Qualitativen Inhaltsanalyse, son‐ dern es bedarf eines Verfahrens, das ausgehend von der Beobachtung einer sich aufzeigenden interkulturellen Kompetenz möglichst umfassend nachzeichnet, wie die einzelnen Aufgabenschritte und andere Einflüsse auf die Lernenden wirkten. Es muss ein sequenzielles Analyseverfahren sein, das die Reihenfolge der beobachteten Handlungen und der Datenentstehung berücksichtigt, da die Beforschten auf Interventionen oder Personen reagieren und ihre Handlungen nur verstehbar sind, wenn man weiß, was zuvor passiert ist (vgl. Kleemann; Krähnke; Matuschek 2009: 20). Die beforschten Aufgaben erforderten von Auf‐ gabenschritt zu Aufgabenschritt unterschiedliche Tätigkeiten von den Lern‐ enden. Entsprechend der jeweiligen Tätigkeiten mussten dann auch die Daten‐ erhebungsmethoden wechseln. Beispielsweise erforderte die Aufgabe ‚Postererstellung‘ zunächst (a) die Beforschung der Gruppenaushandlungspro‐ zess zur Postergestaltung (Audioaufnahmen, teilweise Transkriptionen, Inter‐ pretationen). Dann wurden (b) die Aufgabenprodukte ‚Poster‘ hinsichtlich ihrer Bildauswahl und ihrer Texte interpretiert. Im nächsten Schritt (c) wurde mit fokussierten Interviews der Ablauf der Postergestaltung nachvollzogen (Au‐ dioaufnahmen, Transkription, Interpretationen). Der Verstehensprozess zu dieser Aufgabe erfordert entsprechend die Integration und Triangulation der Datenquellen, mit denen die unterschiedlichen Schritte einer Aufgabe beforscht 192 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="193"?> a) b) c) d) e) wurden. Die Dateninterpretation soll dann Sinnzusammenhänge aufdecken und Wirkungsweise der Aufgaben nachzeichnen. Wie zu sehen sein wird, konnten auch aufgabenübergreifende Kompetenzerwerbsprozesse nachgezeichnet werden, die dann die Integration von weiteren Daten aus vorangegangenen oder nachfolgenden Aufgaben erforderten. Der Forschungsprozess ist zwar komplex und aufwändig, kann aber im Idealfall das Verstehen von Aufgabenprozessen in vergleichbaren Kontexten fördern (vgl. Dörnyei 2007: 59). Es versteht sich von selbst, dass solche Untersuchungsergebnisse keine generellen Theorien mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit [sind] son‐ dern kontextualistische Erklärungen, […] von befristeter Gültigkeit, von lokaler An‐ wendbarkeit und von perspektivistischer Relevanz (Bude 2005: 576). Die zunächst eingesetzte Qualitative Inhaltsanalyse war ein notwendiger Analy‐ seschritt, auch um in den Daten die Stellen hervorzuheben, an denen sich inter‐ kulturelle Kompetenzen zeigten. Sie war aber nicht hinreichend, die aufgezeigten interkulturellen Kompetenzen mit der Aufgabendurchführung in Beziehung zu setzen. Für diesen Schritt bedurfte es eines rekonstruierenden Verfahrens, das einerseits die Reihenfolge der zu interpretierenden Ereignisse berücksichtigte und vergleichend zueinander in Beziehung setzte, aber andererseits auch dafür geei‐ gnet war, mit großen Datenmengen zu arbeiten. Unter dem Gesichtspunkt der Gegenstandsangemessenheit griff ich auf eine für die Qualitative Evaluationsfor‐ schung von Nentwig-Gesemann, eine Mitarbeiterin Bohnsacks, entwickelte Ad‐ aption der Dokumentarischen Methode zurück (Nentwig-Gesemann 2006: 159-182). Nentwig-Gesemann sieht für ihre Adaption ausdrücklich das For‐ schungsfeld Schule vor (S. 166) und führt folgende Merkmale aus. Bei solchen Forschungsprojekten kann das sample aus forschungspragma‐ tischen Gründen schon vor Projektbeginn definiert werden (S. 166). Beforschte Gruppendiskusionsverfahren erlauben den Zugang zu sowohl reflexiven, theoretischen als auch impliziten, atheoretischen, handlungs‐ praktischen Wissensbeständen der Lernenden, vergleichen diese mitein‐ ander und lassen Rückschlüsse auf Werthaltungen zu (S. 163). Reflexionsgespräche über Gruppenprozesse werden einer dokumentar‐ ischen Interpretation unterzogen mit dem Ziel, unterschiedliche Perspek‐ tiven aufzuzeigen (S. 165). Es ist ausdrücklich vorgesehen, die Lernerperspektiven einzubeziehen (S. 167). Handlungspraktiken und Orientierungsmuster von Gruppen werden mit‐ einander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen 193 7.2 Forschungsmethodik in der Hauptuntersuchung <?page no="194"?> f) und Gründe zu rekonstruieren (S. 167); entsprechend bedarf es eines se‐ quenziellen Verfahrens. Die Untersuchungsergebnisse werden mit den Zielen von Interventionen / Programmen abgeglichen (S. 168). Die bei der Dokumentarischen Methode prominenten Elemente der formulier‐ enden (Was wird gesagt? ) und reflektierenden Interpretation (Wie wird etwas ge‐ sagt? ) lässt Nentwig-Gesemann in den Hintergrund treten (vgl. Bohnsack 2013). Um in der Ergebnisdarstellung mein Vorgehen transparent zu präsentieren, zeige ich, wie meine Interpretationen der Daten in Folgerungen münden, die zunächst zu jeder Aufgabenanalyse in chronologischer Reihenfolge dargestellt werden. In einem Schritt der Ergebniszusammenfassung werden dann Folge‐ rungen aus verschiedenen Aufgaben, die in die gleiche Richtung weisen bzw. die gleichen Aspekte der zu Grunde liegenden Theoriemodelle betreffen, ge‐ clustert und als Untersuchungsergebnisse vorgestellt. 7.3 Unterrichts- und Forschungskontext 7.3.1 Die Schule und das Umfeld Beide Zyklen des vorliegenden Unterrichtsforschungsprojektes wurden an einer Realschule im Regierungsbezirk Freiburg in Baden-Württemberg durchgeführt. Die Schule bietet seit dem Schuljahr 1999/ 2000 bilingualen Unterricht mit der Fremdsprache Englisch an. Je nach verfügbaren Lehrkräften werden die Fächer Sport, Musik und Geographie (im Fächerverbund EWG - Erdkunde-Wirtschafts‐ kunde-Gemeinschaftskunde) bilingual Englisch unterrichtet. Die Schule pflegt ein besonderes Sprachenprofil. Kontakte mit englischsprachigen Menschen er‐ geben sich für Schülerinnen und Schüler in E-mail-Projekten und auf Klassen‐ fahrten in höheren Klassenstufen. Der Schulort, eine Kleinstadt, besitzt ein großes Industrie- und Gewerbege‐ biet. Viele Eltern der Schülerinnen und Schüler sind in Handwerks-, Industrie- und einfachen Dienstleistungsberufen tätig. Bei der Planung von Klassenfahrten ins Ausland u. ä. ist auf die Kosten zu achten. Fremdsprachenkontakterfahrung aus Urlaubsfahrten können nur bei einem Teil der Klasse vorausgesetzt werden. Für das zweizyklische Unterrichtsforschungsprojekt stellte mir die Schullei‐ tung je 16 Unterrichtsstunden zur Verfügung. Bei allen organisatorischen Fragen oder bei Fragen zu den Klassen waren Schulleitung und Lehrkräfte jederzeit hilfs‐ bereit. Die Einbindung der Lehrkräfte in die Beforschung der Klassen in den von 194 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="195"?> mir übernommenen Stunden erwies sich zumeist aus organisatorischen Gründen (viele wechselnde Lehrkräfte betroffen) als nicht realisierbar. 7.3.2 Die beiden untersuchten Klassen Für die vorliegende Untersuchung unterrichtete und untersuchte ich als forsch‐ ender Lehrer Aufgaben für die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen in zwei 9. Klassen. Die im ersten Forschungszyklus unterrichtete 9. Klasse (31 Schülerinnen und Schüler, eine Schülerin mit Migrationshintergrund) kannte ich seit deren 5. Schuljahr aus Vertretungsstunden, Projekttagen und Schul‐ praktika mit Studierenden, die ich betreute. Die Klasse hatte im 7. und 8. Schul‐ jahr bei einem Kollegen phasenweise bilingualen Erdkundeunterricht erhalten. Das Forschungsprojekt wurde in dieser Klasse Ende Klassenstufe 9 durchge‐ führt. Die Klasse galt als lebendig und begeisterungsfähig, aber auch als eher unruhig. Sie beteiligte sich engagiert und offen im Unterricht des Forschungs‐ projekts. Das Verhältnis zwischen den Lernenden und mir kann von der An‐ kündigung des Projekts bis hin zum Projektende als sehr gut beschrieben werden - die Schülerinnen und Schüler bekundeten mehrfach, dass sie gerne in dieser Form weiterarbeiten würden. Die im zweiten Forschungszyklus untersuchte 9. Klasse unterrichtete ich im Fach Erdkunde in deren 6. Klassenstufe über das komplette Schuljahr hinweg, in den beiden folgenden Jahren dann in einzelnen Vertretungsstunden oder an Projekttagen. Die Schülerinnen und Schüler waren mir, außer ein paar neu hin‐ zugekommenen, schon vor Untersuchungsbeginn gut bekannt. Die Klasse hatte in der 7. und der 8. Klasse phasenweise bilingualen Unterricht erhalten. Die Klasse galt als eher ruhig und fleißig, allerdings hatten einzelne in der 8. und 9. Klasse hinzugekommene Schüler (Umzug der Eltern, Versetzung vom Gymna‐ sium an die Realschule, Klassenwiederholer) die Klasse lebhafter gemacht. Von den ebenfalls 31 Schülerinnen und Schülern der Klasse hatten sechs Schüler einen Migrationshintergrund. Die Projektankündigung wurde von der Klasse zunächst positiv aufgenommen. Da die Projektdurchführung wegen der Betei‐ ligung der Co-Forscherinnen und aus schulorganisatorischen Gründen kompakt innerhalb von zwei Wochen durchgeführt werden musste, und die Schulleitung für das Projekt neben Erdkundestunden der Klasse auch auf Sport-, Technik-, Hauswirtschafts- und Freistunden zugriff, hatten die Schülerinnen und Schüler wegen des 16-stündigen Projekts je nach Fächerwahlkombination zwischen null und acht Stunden zusätzlichen Unterricht (durchschnittlich 4,2 Schulstunden). Es gab deshalb mehrere Situationen, insbesondere zu Unterrichtsstundenbe‐ ginn, in denen die Schülerinnen und Schüler ihren Unmut über diese Organi‐ 195 7.3 Unterrichts- und Forschungskontext <?page no="196"?> sation formulierten. Wenn die Lernenden sich jedoch dann auf die Aufgaben und Themen eingelassen hatten, arbeiteten sie interessiert mit. Ich erfuhr von den schulorganisatorischen Regelungen erst zu Projektbeginn durch die Schü‐ lerinnen und Schüler. Änderungen waren nicht mehr möglich. Vor Projektbeginn holte ich zu beiden Klassen bei deren Lehrkräften Erkun‐ digungen dazu ein, ob zu den Projektinhalten und zum Raum Südasien bereits Unterricht gehalten worden war. Für die Klasse des ersten Forschungszyklus wurde dies verneint. Aus der Klasse des zweiten Forschungszyklus hatten drei Schülerinnen (S43, S44, S47) im Religionsunterricht beim Thema ‚Weltreligionen im Überblick‘ eine Posterpräsentation zum Hinduismus erarbeitet und sechs weitere Lernende hatten diese Präsentation gesehen. Eine ausführliche Unter‐ richtseinheit zum Thema ‚Hinduismus‘ folgte im Fach Religion erst nach der Datenaufnahme für das hier vorgestellte Forschungsprojekts. In Absprache mit der Schulleitung wurde in beiden Klassen das Projekt auf einem Elternabend vorgestellt und das Einverständnis der Erziehungsberech‐ tigten für die Projektteilnahme der Schülerinnen und Schüler eingeholt. Den Eltern wurde zugesichert, dass in Publikationen zum Projekt den Schülerinnen und Schülern keine erhobenen Daten zugeordnet werden können, und dass Fotos und Filme vom Unterricht nur für die Datenauswertung und bei Präsen‐ tationen vor Fachpublikum verwendet werden dürfen. In beiden Klassen be‐ stand das Angebot an die Schülerinnen und Schüler, für die Unterrichtsstunden des Projekts am Unterricht der Parallelklasse teilzunehmen. Von dieser Mög‐ lichkeit hat niemand Gebrauch gemacht. Ferner hätte ich bei Bedarf die Alter‐ native gehabt, die jeweilige Parallelklasse als Untersuchungsklasse zu nehmen, wenn eine Vielzahl der Schülerinnen und Schüler das Projekt abgelehnt hätte. 7.4 Das Klassenforschungsprojekt im Überblick In diesem Kapitel stelle ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Un‐ terrichtszyklen vor. Änderungen in Projektverlauf werden mit den Erfahrungen aus dem ersten Unterrichtszyklus begründet. 7.4.1 Vergleich der Durchführungsbedingungen in Zyklus 1 und 2 Im Forschungsprojekt sollte die Eignung von Aufgaben für die Vermittlung in‐ terkultureller kommunikativen Kompetenzen erforscht werden. Die Variable ‚Aufgaben‘ sollte bei Bedarf für den zweiten Zyklus verändert, d. h. verbessert 196 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="197"?> werden. Andere Bedingungen, unter denen der zweite Zyklus unterrichtet wurde, sollten wegen der Vergleichbarkeit in etwa konstant gehalten werden. • Beide Zyklen wurden von mir als forschender Lehrer geplant und durch‐ geführt. • Beide Klassen waren mir schon zuvor über Jahre bekannt und recht ver‐ traut. In beiden hatte ich bereits unterrichtet, wenn auch in unterschied‐ lichem Umfang. • Beide Zyklen wurden in der Klassenstufe 9 der Realschule durchgeführt; al‐ lerdings nicht zum gleichen Zeitpunkt im Schuljahresverlauf. In der Klasse des ersten Zyklus wurde das Projekt gegen Ende des Schuljahres durchge‐ führt, in der Klasse des zweiten Zyklus am Anfang des Schuljahres. • Beide Klassen hatten in etwa ähnlichem Umfang bilingualen Unterricht erhalten. Die Lernenden waren es gewohnt, in dieser Unterrichtsform zu arbeiten. • Die beiden Forschungszyklen umfassten je acht Aufgaben. Die Aufgaben wurden meistens, aber nicht immer, in Doppelstunden unterrichtet. In der Regel wurde ca. 75 Minuten unterrichtet, und in den letzten 15 Minuten reflektierten die Schülerinnen und Schüler dann in einem Interview das Unterrichtsgeschehen. Mit den Erfahrungen aus dem ersten Zyklus wurde im zweiten Zyklus diese Phase als Reflexionsphase (Gruppendis‐ kussion / Gruppeninterview) stärker in den Unterricht integriert und auf alle Lernenden ausgeweitet. 7.4.2. Unterrichtsinhalte Beide Klassen arbeiteten zum Rahmenthema ‚Perspektiven auf eigen- und fremdkulturelle Praktiken‘. Als regionalen Schwerpunkt wählte ich Südasien/ Indien. Die Auswahl von kulturellen Praktiken und Kommunikationspartnern aus verschiedenen Regionen Indiens habe ich für das Unterrichtsforschungs‐ projekt als besonders geeignet angesehen, weil es für bilingualen Erdkundeun‐ terricht mit der Fremdsprache Englisch sprachlich stimmig und plausibel ist. Englisch ist Amtssprache und wichtige Verkehrssprache in Indien. Es konnten daher authentische englischsprachige Medien eingesetzt werden. Ferner standen mir über dienstliche und private Kontakte mehrere Möglichkeiten offen, die Klassen mit Personen aus Indien in Kontakt zu bringen. Die Vermittlung und Reflexion kultureller Praktiken spielt im Geographie‐ unterricht eine wichtige Rolle. Wenn Geographieunterricht das Handeln von Menschen in anderen Räumen thematisiert, ist es relevant, sich mit interkultu‐ rellem Lernen auseinanderzusetzen. Um die Reproduktion von pauschalisier‐ 197 7.4 Das Klassenforschungsprojekt im Überblick <?page no="198"?> enden Zuschreibungen zu vermeiden, sollten sich Lehrkräfte insbesondere mit dem zugrundeliegenden Kulturbegriff auseinandergesetzt haben (siehe S. 24). Für das Unterrichtsforschungsprojekt wurden Themen der Humangeographie ausgewählt. Themen der physischen Geographie mussten entfallen, da nur eine begrenzte Anzahl von Unterrichtsstunden zur Verfügung standen. Die Themen‐ bereiche ‚Schule‘, ‚Jugendliche‘ und ‚Arbeitsbedingungen‘ konnten mit kon‐ kreten Menschen aus Indien erarbeitet werden. Die Aufgaben der hervorgehobenen Unterrichts(doppel)stunden werden im Folgenden ausführlich dargestellt und analysiert. Für den Unterricht in den beiden Zyklen wurden folgende Themen geplant: erster Unterrichtszyklus zweiter Unterrichtszyklus 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads 3. Wedding Ads 3. How Sita and Deepak met -- 4. Comparing reasons for young people to work 4. Comparing reasons for young people to work 5. The dowry system 5. The dowry system -- 6. School education of three soft‐ ware developers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Designing schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university stu‐ dent from Manipur (India) about her life back home again b) Answering the software deve‐ loper’s question Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6. Tab. 1: Themen der durchgeführten Lernaufgaben mit Hervorhebung der ausgewerteten. 198 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="199"?> a) b) 7.4.3 Entwicklung der Stundenthemen vom ersten zum zweiten Zyklus In diesem Abschnitt wird beschrieben, welche Themen der voranstehenden Ta‐ belle (Tab. 1) in welcher Reihenfolge im ersten und zweiten Zyklus unterrichtet wurden. In die Auswertung zu Zusammenhängen zwischen Aufgabenstellung und interkultureller Kompetenzentwicklung gingen vornehmlich weiterentwi‐ ckelte Aufgaben des zweiten Unterrichtszyklus ein. Weitere einzelne Aufgaben wurden dann nicht ausgewertet, wenn die Daten mit recht hoher Wahrschein‐ lichkeit keine neuen Erkenntnisse versprachen (Aufgaben 2 & 5). Beide Unterrichtszyklen waren durch Stunden am Anfang und Ende des Projekts eingerahmt, in denen eine Studentin aus Manipur (Indien) in die Klasse kam und Schülerinnen und Schülern Gelegenheit bot, mit ihr über ihr Leben und kulturelle Praktiken zu sprechen. Im zweiten Zyklus er‐ hielten die Schülerinnen und Schüler noch vor dieser Gesprächssituation die Aufgabe, zu sammeln, welche Vorstellungen von Indien sie haben, und aus welchen Quellen ihre Bilder stammen. Die Aufgaben aus beiden Zyklen gingen in die Projektauswertung ein und lieferten wichtige Hinweise zur Kompetenzentwicklung der Lernenden innerhalb eines Forschungszyklus, aber auch zum Vergleich der Aufgaben zwischen den Zyklen zur Beurtei‐ lung der Optimierungen. Das Thema ‚cultural practices in everyday life‘ erarbeiteten sich die Schü‐ lerinnen und Schüler im ersten Zyklus in der sechsten Aufgabe. Im zweiten Zyklus wurde es bereits als zweites Thema unterrichtet, um Kompetenz‐ entwicklungen über den zweiten Zyklus hinweg bis zur neu erstellten Auf‐ gabe 7, die eine ähnliche Thematik bearbeitet, untersuchen zu können. Bei Aufgabe 2 geht es um Daseinsgrundfunktionen (sich versorgen, am Verkehr teilnehmen, arbeiten, sich erholen, …), also um Themen der Alltagskultur. Die Schülerinnen und Schüler präsentierten ihre eigenkulturelle Perspek‐ tive. Im weiteren Verlauf der Aufgabe verglichen sie diese mit einer Bild‐ auswahl zu fremdkulturellen Daseinsgrundfunktionen. In der siebten Auf‐ gabe entwarfen die deutschen Schülerinnen und Schüler Schulbuchseiten zu Deutschland und zu Indien für ein deutsch-indisches Schulbuch, in denen sich ihre Perspektiven auf alltagskulturelle Praktiken widerspiegeln. Die Aufgaben des zweiten Zyklus wurden für das vorliegende Unterrichts‐ forschungsprojekt ausgewertet. Die Ausweitung der Aufgabe insbesondere hinsichtlich des Aufgabenprodukts der Lernenden im zweiten Zyklus ver‐ sprach die interessanteren Ergebnisse. 199 7.4 Das Klassenforschungsprojekt im Überblick <?page no="200"?> c) d) e) f) g) Bei der zweiten Aufgabe des ersten Zyklus und der dritten Aufgabe des zweiten Zyklus erarbeiteten sich die Schülerinnen und Schüler Vorstel‐ lungen von Partnern und Partnerschaft anhand selbst mitgebrachter Hei‐ ratsannoncen (zumeist aus Zeitungen) und indischer Heiratsannoncen (wedding ads). Die Aufgaben gingen nicht in die Auswertung ein, da sie nicht ausreichend an der Erstellung eines Aufgabenprodukts orientiert waren und damit nur mäßigen Datenertrag lieferten. Bei der dritten Aufgabe des ersten Zyklus setzten sich die Schülerinnen und Schüler mit arranged marriages auseinander. Der zweite Unterrichtszyklus enthielt dieses Thema nicht mehr. Die Aufgabe hatte interkulturelles Lernen unterstützt. Insbesondere in der Aufgabenreflexion im Gruppenin‐ terview zeigten sich interkulturelle Kompetenzen. Eine weitere Optimie‐ rung erschien mir in Details zwar möglich, in Anbetracht der begrenzten Untersuchungszeit entschied ich jedoch, die Aufgabe zu Gunsten einer Aufgabe zu Softwareentwicklern aus Pune (Indien) zu streichen. Die Auf‐ gabe des ersten Zyklus wurde jedoch für das Projekt ausgewertet, da ich hier empirische Belege dafür fand, dass die zur Datenerhebung eingesetzten retrospektiven Gruppeninterviews als Reflexionen am Ende einer Aufgabe sehr wichtige Lernorte für den Erwerb interkultureller Kompetenzen sind. Diese Daten waren auch Auslöser dafür, dass alle Aufgaben des zweiten Zyklus eine Aufgabenreflexionsphase enthielten. Bei der vierten Aufgabe beider Zyklen beschäftigten sich die Lernenden mit eigenen Arbeitserfahrungen im Vergleich zu berichteten Arbeitsbedin‐ gungen in einem Fallbeispiel aus einer BBC-Reportage zu Kanchipuram in Indien. Die optimierte Aufgabe des zweiten Zyklus wurde in die Auswer‐ tung aufgenommen. Bei der fünften Aufgabe der beiden Zyklen setzten sich die Schülerinnen und Schüler beim Thema dowry system mit Kinderwünschen und Mitgift‐ gepflogenheiten in Deutschland und Indien sowie deren Auswirkungen auf Frauenrollen auseinander. In der Grundanlage ähnelt die Aufgabe der vorangegangenen zu den Arbeitsbedingungen (e). Kulturrelativismus wird reflektiert. Die Aufgabe wurde nicht ausgewertet, da sie nicht in allen Be‐ reichen den erarbeiteten Kriterien entsprach, und deswegen mit recht hoher Wahrscheinlichkeit keine neuen Einsichten zur Entwicklung von in‐ terkulturellen Lernaufgaben liefern würde. Bei der sechsten Aufgabe des zweiten Unterrichtszyklus beschäftigten sich die Schülerinnen und Schüler mit ihrer eigenen vergangenen und zukünf‐ tigen Schullaufbahn und den Schullaufbahnen von mehreren Softwareent‐ wicklern aus Pune in Indien. Als Arbeitsmaterial dienten eigens für diese 200 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="201"?> h) i) Aufgabe aufgenommene Interviews mit den Softwareentwicklern. Aus der Rückfrage eines der Softwareentwickler im Interview entstand eine weitere Aufgabe für die Schülerinnen und Schüler, die sie in der letzten Unter‐ richtsstunde bearbeiteten. Da die Aufgabe im zweiten Zyklus erstmals ver‐ wendet wurde, war die Erprobung einer optimierten Version dieser Auf‐ gabe nicht möglich. Die Aufgabe wurde ebenfalls ausgewertet. Bei der siebten Aufgabe des ersten Zyklus verglichen die Schülerinnen und Schüler die Darstellungen von Indien in deutschen Schulbüchern mit den Darstellungen von Deutschland in indischen Schulbüchern. Im zweiten Zyklus fand dieses Thema keine Berücksichtigung. Die Arbeit mit den Schulbüchern war eher analytisch geprägt, sie bot beispielsweise keine Möglichkeiten zur Identifikation mit Protagonisten u. ä. und entsprach damit nicht in allen Bereichen den erarbeiteten Kriterien. Sie wurde daher nicht ausgewertet. Bei der achten Aufgabe hatten die Klassen in beiden Zyklen Gelegenheit, nochmal mit der Gaststudentin aus Manipur über kulturelle Praktiken zu sprechen. Im zweiten Zyklus folgte zusätzlich noch eine Arbeitsphase, in der die Schülerinnen und Schüler Nachrichten an einen der interviewten Softwareentwickler nach Pune (Indien) schrieben. Diese Aufgabe hatte sich durch den Interviewverlauf mit den Softwareentwicklern ergeben, und war nicht von Beginn an eingeplant. Sie wurde ebenfalls ausgewertet. In den folgenden Aufgabenanalysen werden die Aufgaben im Prinzip in der oben genannten Reihenfolge dargestellt. Von diesem Grundsatz wird abgewi‐ chen, wenn Vergleiche ermöglicht werden sollen (z. B. Interviewverhalten der Lernenden zu Beginn und am Ende des Projekts; Interviewverhalten der Lern‐ enden im ersten Zyklus und im zweiten Zyklus im Vergleich), oder wenn Aufgaben in sehr engem inhaltlichen Bezug zueinander stehen bzw. in der ursprünglichen Aufgabenplanung als eine zusammenhängende Aufgabe vor‐ gesehen waren, die dann aber geteilt werden musste (Aufgabe 6 und Aufgabe 8b des zweiten Zyklus). 7.4.4. Übersicht zu den ausgewerteten Aufgaben und den Datenquellen In die Auswertung gingen die folgenden Aufgaben ein. Sie werden in der hier genannten Reihenfolge vorgestellt. Die Aufgabenanalysen wurden mit den hier zugeordneten Datenquellen vorgenommen. 201 7.4 Das Klassenforschungsprojekt im Überblick <?page no="202"?> Position Titel Datenquellen 1. Zyklus 1, Aufgaben 1 & 8 Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home • Videoaufnahme der Unterrichts‐ stunde (Übersicht) • Lernertexte (Notizen für Interview‐ fragen der Gruppenarbeitsphase) • Video-/ Audioaufnahme der Inter‐ viewfragen der Lernenden an die Gaststudentin aus Manipur (Indien) • Forschertagebuch 2. Zyklus 2, Aufgaben 1 & 8 Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home • Lernertexte (vorbereitende Hausauf‐ gabe) • Videoaufnahme d. Unterrichtsstunde (Übersicht) • Audioaufnahme Gruppenaushand‐ lung zur Vorbereitung der Interview‐ fragen • Lernertexte (Notizen für Interview‐ fragen der Gruppenarbeitsphase) • Video-/ Audioaufnahme der Inter‐ viewfragen der Lernenden an die Gaststudentin aus Manipur (Indien) • Audioaufnahme der Gruppeninter‐ views/ Aufgabenreflexion • Dokumentation der Co-Forscher‐ innen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen 3. Zyklus 1, Aufgabe 3 How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage • Videoaufnahme der Unterrichts‐ stunde (allgemein) • Audioaufnahme der Diskussion in der Klasse in Aufgabenschritt D • Audioaufnahmen der Gruppeninter‐ views/ Aufgabenreflexion • Forschertagebuch 4. Zyklus 2, Aufgabe 2 Cultural practices in everyday life • Videoaufnahme der Unterrichts‐ stunde (allgemein) • Audioaufnahmen Gruppenaushand‐ lungsprozesse • Lernertexte: Bildauswahl eigenkultu‐ reller Praktiken • Video-/ Audioaufnahme Präsentation der eigenkulturellen Bildauswahl • Video-/ Audioaufnahme Diskussion zu fremdkulturellen Abbildungen • Audioaufnahmen der Reflexions‐ phase in Gruppen 202 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="203"?> • Dokumentation der Co-Forscher‐ innen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen 5. Zyklus 2, Aufgabe 4 Comparing our jobs with Ashok’s job in Kanchi‐ puram • Videoaufnahme der Unterrichts‐ stunde (allgemein) • Audioaufnahmen Gruppenaushand‐ lungsprozesse • Lernertexte: Notizen für Rollenspiel • Video-/ Audioaufnahme des Rollen‐ spiels • Audioaufnahmen der Reflexions‐ phase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscher‐ innen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen 6. Zyklus 2, Aufgabe 6 School educa‐ tion of three software de‐ velopers from Pune in India • Videoaufnahme der Unterrichts‐ stunde (allgemein) • Video-/ Audioaufnahme Besprechung zu Aufgabenschritt C • Audioaufnahmen Gruppenaushand‐ lungsprozesse • Aufgabenprodukte: Bearbeitete Ar‐ beitsblätter • Audioaufnahmen der Reflexions‐ phase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscher‐ innen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen 7. Zyklus 2, Aufgabe 7 Cultural practices in everyday life - Designing schoolbook pages • Videoaufnahme Unterrichtsstunde (allgemein) • Audioaufnahmen Gruppenaushand‐ lungsprozesse • Lernertexte (Poster der Schüler‐ gruppen) • Video-/ Audioaufnahme Posterprä‐ sentationen • Audioaufnahmen der Reflexions‐ phase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscher‐ innen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen Tab. 2: Ausgewertete Lernaufgaben und verwendete Datenquellen. 203 7.4 Das Klassenforschungsprojekt im Überblick <?page no="204"?> Die Datendarstellung erfolgt integriert mit der Darstellung der Aufgabendurch‐ führung, d. h. die Daten werden immer im Rahmen des Aufgabenschrittes vor‐ gestellt, in welchem sie erhoben wurden. Alle Datenzitate sind mit Angabe der Schülerin bzw. des Schülers versehen (z. B. S53), sofern das Zitat zugeordnet werden konnte. Bei den 45 zitierten mehrzeiligen Dialog-Auszügen, die als Di‐ alogblöcke wiedergegeben werden, sind die exakten Fundstellen vermerkt (z. B. Z2 A2 Fo3 G8 Aushandlung, 01: 21-01: 43). Kurzzitate hingegen, die ich im Fließ‐ text integriert verwende, werden lediglich mit der Angabe der Schülerin bzw. des Schüler versehen. Die Datenquelle ergibt sich aus der Angabe des Aufga‐ benschritts und dem Kontext der Beschreibung der Aufgabendurchführung (z. B. „There are some things I don’t understand.“ S45 [Kontext: Audiobotschaft an die Softwareentwickler; Zyklus 2, Aufgabe 6, Aufgabenschritt D]). Eine aus‐ führliche Angabe hätte den Lesefluss gestört. 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung Im Folgenden werden die erprobten Aufgaben danach ausgewertet, was sich aufgrund von Entscheidungen und Handlungen der Lehrkraft in den Bereichen Aufgabenplanung und -prozess an sich entwickelnden Dimensionen von inter‐ kultureller Kompetenz bei den Lernenden beobachten lässt. Zu diesen in den Untersuchungsdaten nachgewiesenen interkulturellen Kompetenzen wird re‐ konstruiert, welche Zusammenhänge zwischen task und interkultureller Kom‐ petenzentwicklung bestehen. Diese Zusammenhänge werden Folgerungen ge‐ nannt und zu jeder Aufgabe aufgelistet. Im gesamten Untersuchungsprojekt wurde eine Aufgabenfolge von acht Aufgaben in zwei 9. Klassen erprobt (zwei Forschungszyklen à acht Aufgaben). Von diesen Aufgaben werden diejenigen vorgestellt, bei denen sich interkulturelle Kompetenzen zeigten, deren Entste‐ hung durch Analyse der Unterrichtsarrangements und des Unterrichtsprozesses gut nachvollzogen werden kann. Jede der acht Aufgaben ist in fünf Aufgaben‐ schritte (A bis E) gegliedert. Damit der Zusammenhang der Aufgabenfolge in‐ nerhalb einer Aufgabe erhalten bleibt, werden die Folgerungen in Reihenfolge der Aufgaben(-Schritte) dargestellt. Es konnten jeweils mehrere Folgerungen aus den Daten einer Aufgabe abgeleitet werden. Neben den Folgerungen zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen bei den Lernenden werden auch Folgerungen zu forschungsmethodischen Aspekten gesammelt. Im Anschluss an die Aufgabenanalysen, im Kapitel 8, werden die Folgerungen in thematische Felder gruppiert und zu wenigen, aber umfassenden Aussagen der Untersu‐ chung verdichtet. Der Vergleich mit berichteten Forschungsergebnissen aus der 204 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="205"?> 0. 1. 2. 3. Literatur zur Aufgabenforschung und zum interkulturellen Lernen erfolgt an dieser Stelle. Die Aufgaben wurden zumeist zweifach erprobt (vgl. Übersicht zu den For‐ schungszyklen S. 182). Wenn in der Aufgabenanalyse beide Aufgaben vorgestellt werden, dann werden sie direkt hintereinander dargestellt, damit die beobach‐ teten Wirkungszusammenhänge der ersten Aufgabenerprobung mit denen der zweiten verglichen werden können. Die Aufgabenanalysen werden mit Ausnahme der umrahmenden Aufgaben 1 und 8 wie folgt dargestellt: Titel der Aufgabe Tabellarische Übersicht der Aufgabenfolge In einer tabellarischen Übersicht der Aufgabenfolge wird diejenige Aufgabe hervorgehoben, die analysiert wird. Dadurch wird rasch der Gesamtzusam‐ menhang deutlich, in dem die Aufgabe steht. Darstellung der Aufgabe als Aufgabensequenz Die Aufgabe wird mittels einer fünfschrittigen Aufgabensequenz dargestellt (A bis E), die im Prinzip allen erprobten Aufgaben zu Grunde liegt (siehe S. 5), allerdings kommen aufgabenspezifische Abweichungen (z. B. Auslas‐ sungen, Doppelungen) vor. Um ein rasches Verständnis der Aufgabe zu er‐ möglichen, werden zu jedem der Aufgabenschritte die Ziele genannt, der Ablauf kurz beschrieben, zentrale Impulse wiedergegeben und die rele‐ vanten weiteren Merkmale gemäß des gewählten task frameworks (input, output, inhaltliche und sprachliche Anforderungen sowie Unterstützungen, Sozial- und Aktionsformen, Motivationsförderung) formuliert (siehe S. 7). Die Aufgabenmerkmale werden somit auf der Ebene der Aufgabenschritte dargestellt. Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Der Aufgabenprozess wird anhand der erhobenen Daten rekonstruiert. Diese Rekonstruktion folgt den fünf Aufgabenteilschritten (A bis E). Im Forschungsprozess wurden in den Daten zunächst enthaltene interkultu‐ relle Kompetenzen ausfindig gemacht (vgl. Byram 1997). Anschließend wurde unter Einbezug verschiedener Datenquellen und Perspektiven nach‐ vollzogen (siehe S. 9), welche Aufgabenspezifika zu Schüleraussagen führten, die auf interkulturelle Kompetenzen schließen lassen. Am Ende der Rekonstruktion eines Aufgabenschritts werden die Folgerungen formuliert. Dieser Rekonstruktion steht einleitend ein Abschnitt mit Angaben z. B. zu besonderen Kontextbedingungen, zu Unterschieden zwischen erster und zweiter Erprobung und ähnlichen aufgabenspezifischen verständnisför‐ 205 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="206"?> 4. 5. dernden Aspekten voran. In jedem Fall werden an dieser Stelle die Daten‐ erhebungsmethoden benannt und Triangulationen beschrieben. Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Bei jeder Aufgabenanalyse geht der Erkenntnisgewinn zu Wirkungsme‐ chanismen von Interventionen mit Vorschlägen zu Aufgabenoptimierungen einher, die weiter verstärkte Förderung interkultureller Kompetenzen er‐ warten lassen. Neben diesen Vorschlägen zur Optimierung der Aufgaben und zum Umgang der Lehrkraft mit der Aufgabe, werden in diesem Ab‐ schnitt auch Vorschläge zur Verbesserung der Beforschung der Aufgaben aufgeführt. Die Empfehlungen stellen Produkte der Aufgabenreflexion auf der Ebene der forschenden Lehrerkraft dar. Fazit zur Aufgabe Das Fazit verknüpft die voranstehenden Folgerungen einer Aufgabe zu einer bündigen Aussage. Es stellt Bezüge zu vorangegangen und folgenden Kapiteln her und dient auch der Darstellung von Vorüberlegungen und Hy‐ pothesen, die in weiteren Aufgabenanalysen untersucht werden sollten. 206 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="207"?> 7.5.1 Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home - Interkulturelle Kompetenzen in der direkten Begegnung erproben (Zyklus 1) erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 3: Position der Aufgaben 1 & 8 der ersten Aufgabensequenz. 7.5.1.1 Darstellung der Rahmen-Aufgaben 1 & 8 im ersten Forschungszyklus Ziele: Interkulturelle Kompetenzen praktisch erproben; angemessenes Ver‐ halten bei Erkundigungen zu fremdkulturellen Praktiken bei einer fremdkultu‐ rellen Person reflektieren. Rahmenbedingungen: Dauer je 45 Minuten; im Klassenzimmer. Besonderer Hinweis: Die Aufgaben 1 und 8 gleichen sich weitgehend und können zu einem Vergleich der Aufgabenprozesse (Wie reagieren die Lern‐ enden zu Beginn des Projekts, wie am Ende? ) herangezogen werden. Deshalb 207 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="208"?> werden sie hier gemeinsam dargestellt. Das bedeutet, dass sich die unten fol‐ gende Tabelle zu den Aufgabenschritten sowohl auf Aufgabe 1 (erste Unter‐ richtsstunde) als auch auf Aufgabe 8 (letzte Unterrichtsstunde) des ersten Un‐ terrichtszyklus bezieht. Während die Aufgaben 2 bis 7 der beiden Projektzyklen mittels einer 5-schrittigen Aufgabensequenz dargestellt werden, werden die Interviewauf‐ gaben 1 und 8 jeweils in zwei Schritten dargestellt. Denn wenn die Lern‐ enden Interviewfragen an einen fremdkulturellen Gast formulieren, integ‐ rieren sie die Unterrichtsschritte A-D zu eigenkulturellen Erfahrungen, Vermutungen zu fremdkulturellen Praktiken, neue Informationen zu fremd‐ kulturellen Praktiken und setzen sie zueinander in Beziehung. Die Lernen‐ denperspektiven, die in den Aufgaben zwei bis sieben einzeln in Aufgaben‐ schritten fokussiert werden, sind also auch in den Rahmenaufgaben 1 und 8 enthalten. In einem zweiten Schritt (E) wird dann die interkulturelle Kommu‐ nikation der Interviewsituation reflektiert. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgaben 1 und 8 des 1. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework A-D) In interkulturellen Kommunikationssituationen eigenkultu‐ relle Erfahrungen und Annahmen zu anderskulturellen Praktiken einsetzen, neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken integ‐ rieren und Perspektiven auf kulturelle Praktiken aushandeln; Zu den beiden hier gemeinsam darge‐ stellten Unterrichtsstunden, der ersten und letzten Stunde des ersten Zyklus des Unterrichtsprojekts (Auf‐ gabe 1 und Aufgabe 8), wurde eine Studentin aus Manipur (Indien) in den Unterricht eingeladen. Nach der Be‐ grüßung und einführenden Worten bittet die LK die SuS, sich bei dem in‐ dischen Gast zu ihrem Leben in Indien zu erkundigen. Die SuS erhalten zu‐ Ip: Beiträge der SuS, LK und des Gastes; Ai: Vorwissen; Themengebiete iden‐ tifizieren, die sich für eine Erfragung eignen; As: Fragen formulieren; Wortschatz für die zu erfragenden Themenge‐ biete aktivieren; auf Antworten ange‐ messen reagieren; 208 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="209"?> nächst keine Vorbereitungszeit, z. B. für die Formulierung von Fragen. LK: Would you like to ask Ms Tagore (Name geändert) some questions about her life in India? Die SuS stellen Fragen (Erste Frage‐ runde bei Aufgabe 1 und Aufgabe 8). Us: spontane sprachliche Hilfen durch die LK und den Gast (bridging and prompting); SA: Sitzkreis; Klassenunterricht; Mo: Ermunterung durch die Gaststu‐ dentin „What would you like to know? “; Direktkontakt mit native speaker; Möglichkeit echte Anliegen klären zu können; AP: Interviewfragen (mündlich). In der Annahme, weitere Fragen zu generieren und die Qualität und Quantität der Fragen der SuS zu un‐ terstützen, fordert die LK die SuS dazu auf, in Kleingruppenbzw. Partnerar‐ beit Fragen an den Gast vorzuber‐ eiten. In dieser Vorbereitungszeit können sich die SuS zu ihren Wis‐ sensbeständen austauschen und No‐ tizen für die folgende zweite Frage‐ runde machen. LK: Get together in pairs or small groups and prepare questions. After‐ wards you can interview our guest again. LK: Have you all finished your prepa‐ rations? Now you have a second chance to ask our guest. Die SuS stellen unter Zuhilfenahme ihrer Notizen ein zweites Mal Fragen an die Inderin (zweite Fragerunde bei Aufgabe 1 und Aufgabe 8). Ip: Gegenseitiges Input der Lern‐ enden bei Generierung von Fragen; Ai: Vorwissen; Themengebiete iden‐ tifizieren, die sich für eine Erfragung eignen; As: Fragen formulieren; Wortschatz für die zu erfragenden Themenge‐ biete aktivieren; auf Antworten ange‐ messen reagieren; Ui & Us: kommunikativer Austausch mit Mitschülern; SA: zunächst Partnerarbeit bzw. 3er-Gruppen; dann Sitzkreis, Klassen‐ unterricht; Mo: zunächst Arbeit in Kleingruppen, dann Direktkontakt mit native speaker; Möglichkeit echte Anliegen klären zu können; AP: Interviewfragen (mündlich und schriftlich). E) Lernende reflektieren ihre interkulturellen Lernprozesse Jeweils am Ende der beiden Unter‐ richtsstunden (Aufgabe 1 zu Beginn des ersten Zyklus, Aufgabe 8 am Ende des ersten Zyklus) reflektieren die LK und die SuS die beiden Interviewsitu‐ ationen im Klassenverband in deut‐ scher Sprache. Beispiele für Fragen/ Impulse: „Wie war es für Euch Frau Tagore zu inter‐ viewen? Warum war es …? “ Ihr wart bei der ersten Fragerunde sehr zurückhaltend. Bitte erklärt, weshalb. Ai: Reflexion zu Gründen für eigenes Sprachverhalten; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; Ui: Impulse der LK; SA: Sitzkreis, Klassenunterricht; Mo: Auseinandersetzung mit eigenen Vorstellungen und eigenem Ver‐ halten; AP: Stellungnahme zu Gründen für Sprachverhalten in interkultureller Kommunikationssituation. 209 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="210"?> Gab es Fragen, bei denen Ihr nicht so recht wusstet, ob Ihr das fragen dürft? Hättet Ihr mehr Vorwissen gebraucht, um gute Fragen stellen zu können? Gab es etwas, dass Ihr auf Englisch nicht fragen konntet, aber gerne auf Deutsch gefragt hättet? Tab. 4: Planung der Aufgaben 1 & 8 der ersten Aufgabensequenz. 7.5.1.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: Die Aufgaben 1 und 8 bilden sowohl im ersten wie im zweiten Forschungszyklus den Rahmen des interkulturellen Lernpro‐ jekts. In allen vier Stunden (Aufgaben 1 und 8 im ersten Zyklus; Aufgaben 1 und 8 im zweiten Zyklus; ausnahmsweise Einzelstunden statt Doppelstunden) in‐ terviewen die Lernenden zunächst ohne und dann mit Vorbereitungszeit in der Kleingruppe eine Gaststudentin aus Manipur (Indien). Die Schülerinnen und Schüler konnten ihr interkulturelles Gesprächsverhalten erproben und an‐ schließend reflektieren. Die Aufgabenkonstellation erlaubt Einblicke dazu, ob bzw. wie sich Frageninhalte und Frageverhalten der Lernenden von Beginn zum Ende der beiden Projektzyklen entwickeln. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (Übersicht) • Lernertexte (Notizen für Interviewfragen der Gruppenarbeitsphase) • Video-/ Audioaufnahme der Interviewfragen der Lernenden an die Gast‐ studentin aus Manipur (Indien) • Forschertagebuch Als Besonderheit zu den Lernertexten ist hier zu beachten, dass die Lernenden im ersten Forschungszyklus die Fragen anonym und in Kleingruppen notierten. Entsprechend können diese Beiträge nicht einzelnen Lernenden zugeordnet werden. A-D) Für das Interviewgespräch integrieren die Lernenden eigenkultu‐ relle Erfahrungen, Annahmen über anderskulturelle Praktiken, neuen Input zu anderskulturellen Praktiken und setzten diese Elemente zuei‐ nander in Beziehung 210 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="211"?> Unterrichtsverlauf Aufgabe 1 (erste Unterrichtsstunde) im ersten For‐ schungszyklus (45 Min.) Schülerinnen und Schüler, der indische Gast (Gaststudentin der Pädagogischen Hochschule Freiburg), eine weitere Studentin, die reguläre Erdkundelehrkraft und ich (Lehrkraft im Projekt) sitzen im Stuhlkreis. Nach einer freundlichen Vorstellung der Anwesenden teilte ich den Lernenden mit, dass sich unser Gast zu einem Interview zu ihrem Leben in Indien bereit erklärt hat. Sie könnten Fragen stellen, wenn sie welche hätten. Nach einer sehr zögerlichen Beteiligung (in 5 Minuten zwei Schülerfragen [S13 „How old are you? “ S3 „Do you speak German? “] und drei Fragen der normalen Erdkundelehrkraft, die die langen Stillphasen füllen wollte) erhielten die Lernenden den Auftrag, sich in Partner‐ arbeit Fragen zu notieren (Zeit: 8 Minuten), die dann in der Fortführung des Interviews (17 Minuten) verwendet wurden. Nach Beendigung des Gesprächs und Verabschiedung der Gaststudentin sowie der regulären Erdkundelehrkraft erfolgte eine kurze Reflexion zu den Gründen der Zurückhaltung der aller‐ meisten Lernenden in der ersten Gesprächsphase und der von einigen Lern‐ enden in der zweiten Gesprächsphase. Unterrichtsverlauf Aufgabe 8 im ersten Forschungszyklus (45 Min.) Der Unterrichtsverlauf in der letzten (achten) Stunde des ersten Unterrichts‐ zyklus glich weitgehend dem der ersten Stunde. Wegen einer Schulveranstal‐ tung fehlten vier Schüler. Ferner war die reguläre Erdkundelehrkraft nicht an‐ wesend. Die Inderin eröffnete die Gesprächsrunde mit der Aufforderung, ob die Lernenden nun, am Ende des Unterrichtsprojekts, noch Fragen hätten. Die Schülerinnen und Schüler stellten vier Fragen (zu den Themen: Religion, Bud‐ dhismus, Kastensystem, Mitgift) in 6 Minuten, allerdings entstanden ähnlich wie bei Aufgabe 1 längere Pausen und die Phase verlief schleppend. Die Lernenden erhielten deswegen Vorbereitungszeit zur Anfertigung von Notizen (7 Minuten) und anschließend begann die notizengestützte Gesprächsrunde (25 Minuten). Die Stunde endete mit einer kurzen Reflexion zu den gestellten Fragen. Lernende nutzen eigenkulturelle Erfahrungen sowie Vermutungen und Vorwissen über anderskulturelle Praktiken zur Formulierung von Fragen an die Gaststudentin (Aufgabenschritte A & B) In der Planung der ersten Aufgabe war ich davon ausgegangen, dass es für die Lernenden eine sehr hohe Anforderung sein würde, spontan mit der Gaststu‐ dentin auf Englisch zu kommunizieren. Ich nahm an, dass sie mit hoher Wahr‐ scheinlichkeit eine Gruppenarbeitsphase benötigen würden, um Fragen vor‐ zubereiten (zusätzlichen task support). Dennoch hielt ich es für angebracht, die Lernenden mit der Kommunikationssituation gleich zu konfrontieren, weil ich 211 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="212"?> mir davon versprach, dass die Aufgabe dadurch besonders klar und eindeutig ist. Die Zeit für die Gruppenarbeitsphase hatte ich eingeplant. Es bestätigte sich, dass sie gebraucht wurde. Bei der letzten (achten) Aufgabe hatte ich es für wahrscheinlich gehalten, dass die Lernenden wegen der nun stärkeren Vertrautheit a) mit den Inhalten und b) mit der Gaststudentin, die in mehreren Stunden des Unterrichtsprojekts in der Klasse war, ohne schriftliche Vorbereitung ein Interview führen können. Dazu waren die allermeisten Lernenden wider Erwarten nicht in der Lage. In der letzten Stunde waren die spontan gestellten Fragen zwar inhaltlich fundierter („I don’t know which religion you are.“ S5; „What’s your caste? “ S29), und die erste Phase (ohne schriftliche Vorbereitung) verlief nicht ganz so schleppend wie in der ersten Stunde, doch erst die Aufgabenmodifikation, zunächst in Kleingruppen Fragen zu besprechen und zu formulieren, ließ die Interviewauf‐ gabe gelingen. Somit wurde bei der ersten und der achten Aufgabe eine ge‐ sprächsvorbereitende Gruppenarbeitsphase als task support benötigt. Neben dem Faktor a) ‚zusätzliche Vorbereitungszeit‘, der für die Verbesserung aus‐ schlaggebend sein könnte, sind aus meiner Sicht zumindest zwei weitere Inter‐ pretationen plausibel: b) Bei der Vorbereitung in der Kleingruppe gleichen sich die Schwächen der Gruppenmitglieder gegenseitig aus, weil sich die Lernenden austauschen und gemeinsam Fragen formulieren. Lernende mit großem In‐ haltswissen und guten Ideen zu möglichen Fragen ergänzen sich sinnvoll mit Lernenden mit hohen Sprachkompetenzen. c) Ein großer Teil der Lernenden las später im Interviewgespräch entweder die vorformulierte Frage ab, oder verge‐ wisserte sich mit kurzem Blick auf die schriftliche Vorbereitung, ob die Formu‐ lierung sprachlich korrekt war. D.h. die Möglichkeit der schriftlichen Fixierung könnte auch für die deutlich erhöhte Bereitschaft zur Mitarbeit verantwortlich sein. Ich hatte erwartet, dass die Lernenden einzelne Stichworte notieren würden. Die Durchsicht der Notizen ergab aber, dass fast immer ganze Sätze fertig ausformuliert wurden. Die Lernenden hatten offensichtlich das Bedürfnis, unter Zuhilfenahme der notierten Formulierungen formal korrekte Fragen zu stellen. Es stellt sich die Frage, ob den Lernenden z. B. durch language support so viel Sicherheit gegeben werden kann, dass sie frei(er) kommunizieren können. Ferner ist zu bedenken, dass auf das freie Sprechen vor der Gruppe auch das Klassenklima einen großen Einfluss hat. Die sprachlichen Hemmungen zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde des Projekts können ferner zumindest teil‐ weise sicherlich auch mit der Situation erklärt werden, dass die Lernenden zur Aufgabe hatten, jemanden zu interviewen, den sie gerade erst kennengelernt hatten. 212 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="213"?> In jedem Fall ist festzuhalten, dass eine anspruchsvolle Aufgabe, wie hier die Interviewaufgabe, durch eine schriftliche Vorbereitung in der Kleingruppe stark unterstützt werden kann. Folgerung 01: Wenn Lernende zur Aufgabe haben, einen fremdkulturellen Gast zu interviewen, dann steigert es den Umfang und die Qualität ihrer Beiträge erheblich, wenn sie a) in Gruppen arbeiten dürfen, b) ihnen zusätz‐ liche Vorbereitungszeit zur Verfügung steht (task planning time) und c) sie die Möglichkeit haben, Notizen für ihren Redebeitrag zu machen. Lernende nutzen interkulturelle Wissenskompetenzen für die Inter‐ viewaufgabe - sie setzen die eigenkulturelle Perspektive in Beziehung zum Anderen (C & D) Im Vergleich der Frageninhalte der ersten mit der letzten Aufgabe des ersten Unterrichtszyklus spiegelt sich der inhaltliche Kompetenzzuwachs der Lerner wider. Die Lerner notierten in der gesprächsvorbereitenden Gruppenarbeitsphase bei der ersten Aufgabe 25 Fragen und bei letzten Aufgabe des ersten Zyklus 36 Fragen. Für Vergleichszwecke wurden alle Fragen in fünf Inhaltskategorien ein‐ geteilt. Die Kategorien wurden während der Aufgabenanalyse induktiv aus den Daten heraus entwickelt. 1. Kategorie: Keine bzw. wenig interkulturelle Aspekte in der Frage direkt er‐ kennbar Bei der ersten Aufgabe lassen sich hier acht der 25 Fragen einordnen. Die Lerner griffen auf ihr Repertoire an Standardfragen für Gleichaltrige zurück, ohne Herkunft und Status des Gastes zu beachten („How old are you? “; „How many brothers and sisters do you have? “). Dieser Fragentyp kam bei der ab‐ schließenden achten Aufgabe kaum noch vor (drei von 36 Fragen; z. B. „Do you want to have children? “). 2. Kategorie: Sachinformationen ohne Bezug zur interviewten Gaststudentin Zu dieser Kategorie notierten die Lernenden in der ersten Aufgabe fünf Fragen. Es wird beispielsweise danach gefragt, ob es in Indien viele Autos gibt oder ob es viele arme Menschen in Indien gibt („Are there many poor people in India? “). Bei der abschließenden achten Aufgabe kamen Fragen zu Informa‐ tionen über Indien, ohne einen Bezug zur Gesprächspartnerin herzustellen, kaum noch vor („What are important Indian sights? “) (zwei Fragen). 213 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="214"?> 3. Kategorie: Verknüpfung ‚Persönliches zur Gesprächspartnerin‘ mit ‚Infor‐ mationen‘ Von einer mittelstark genutzten Fragekategorie in der ersten Interviewauf‐ gabe (fünf Fragen; „Where did you live in India? “) stieg diese Fragengruppe zur mit Abstand am häufigsten erfragten Kategorie in der abschließenden achten Aufgabe auf (22 Fragen; „What did you learn about Germany in your school? “; „In India there isn’t snow. Was it impressing for you to see snow here? “). In den meisten Fällen erfolgten diese Fragen zu Themen, die die Lernenden in der Un‐ terrichtseinheit erarbeitet hatten. 4. Kategorie: Fragen, die sich auf das Leben der Gaststudentin in Deutschland beziehen Solcherlei Fragen nahmen ab. In der ersten Aufgabe waren das Fragen der Lernenden zu Vorlieben der Gaststudentin (vier Fragen; z. B. „What do you like in Germany? “; „Do you like the German food? “). In der letzten Stunde wird allerdings differenzierter gefragt (zwei Fragen; z. B. „What did you think about Germany before you came and what do you think now? “). 5. Kategorie: kulturelle Vergleiche Aufforderung zu Vergleichen kommen bei der letzten Aufgabe deutlich häu‐ figer vor als bei der ersten Aufgabe (erste Interviewaufgabe: zwei Fragen; „Is there something better in Germany than in India? “; achte Aufgabe: sieben Fragen; „What kind of living do you prefer: In Germany or India? “). Zum ersten Interview (Aufgabe eins) notierten die Lernenden durchschnittlich 3,6 Fragen pro Gruppe, zum zweiten Interview am Ende des ersten Zyklus durchschnittlich 4,6. Die auffälligste Entwicklung ist der Zunahme von Fragen der Schülerinnen und Schüler an die Gaststudentin, bei denen schülerseitig erworbene fremdkul‐ turelle Informationen mit der Bitte um eine Stellungnahme verknüpft wurden (3. Kategorie). Das Muster lautet in etwa ‚Ich kenne nun folgende Informationen, haben Sie das auch so erlebt? ‘. Durch die Wissenserweiterung in der Unter‐ richtseinheit erhielten die Lernenden eine Grundlage, solche Fragen zu stellen. Bei den meisten Fragen ist ein Bezug zu einem Thema des Unterrichtsprojekts zu erkennen. Unspezifische Fragen, wie sie zu Beginn des Projekts vorkamen (S13 „How old are you? “) waren nun möglicherweise überflüssig, da die Lern‐ enden Interessanteres zu fragen wussten. Fragen aus dieser Kategorie entfielen natürlich teilweise auch deshalb, weil manche bereits beantwortet waren. Auch reine Informationsfragen (2. Kategorie) und Fragen nach den Erfahrungen der Gaststudentin in Deutschland (4. Kategorie) wurden dadurch möglicherweise verdrängt. Die Zunahme von Fragen zu Vergleichen ist ebenfalls auffällig. Mög‐ 214 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="215"?> licherweise steht sie im Zusammenhang mit der erprobten Aufgabensequenz (A-E), bei der immer auch verschiedene Perspektiven gegenübergestellt wurden. Bei der Durchsicht der Fragen nach enthaltenen Wissensbeständen er‐ gaben sich für die Fragerunde zu Beginn der Unterrichtseinheit lediglich drei Wissensitems, die je einmal enthalten waren. Die Schülerinnen und Schüler fragten nach poor people, snakes und holy cow. Die allermeisten Fragen gaben keine Hinweise auf kulturspezifisches Vorwissen der Lernenden. Die Erkun‐ digungen der Lernenden in der letzten Aufgabe belegen in den notierten Fragen folgende Wissensbestände (großteils mehrfach genannt): Different re‐ ligions, Buddhism, Hinduism, holy cows, caste system, child labour, importance of school and university education, dowry system, abortion of female foetuses, treatment of girls, love marriage and arranged marriages, no snow. In den Fra‐ geninhalten spiegeln sich die unterrichteten Themen. Auch die Themen ‚Schoolbooks in India and Germany‘ und ‚Cultural practices in everyday life‘ zeigen sich in den Fragen („What did you learn about Germany …? “; „What’s the job of your parents? “ (2x); „What does the house of your parents look like? “), wenn auch nicht als Wissensbestände. Mit zunehmender inhaltlicher Kompetenz waren die Lerner in der Lage, in‐ terkulturell relevante Fragen zu stellen. Inhaltliches Wissen erwies sich als Hilfe, wenn nicht gar als Voraussetzung für den Erwerb von weiteren interkulturellen Kompetenzen in anderen Kompetenzbereichen (e.g. skills [to] discover and/ or interact; Byram 1997: 34). Lernerbeiträge wären sonst im Allgemeinen und an der Oberfläche verblieben. Inhaltliche Kompetenzen scheinen die Grundlage für Kompetenzerwerb in anderen Kompetenzbereichen zu bilden. Folgerung 02: Lernende können sich dann in der interkulturellen Kommu‐ nikation substantiell beteiligen, wenn sich der Austausch auf Domänen be‐ zieht, in denen sie schulisch oder außerschulisch erworbenes Wissen besitzen oder im Rahmen der Aufgabe erworben haben. Inhaltliches Wissen ist eine wichtige Voraussetzung, interkulturelle Kompetenzen in anderen Kompe‐ tenzbereichen zu erwerben. Lernende setzen die eigenkulturelle Perspektive in Beziehung zum An‐ deren - Unterschiede zwischen schriftlich und mündlich formulierten Interviewfragen (D) Als Datengrundlage für den Vergleich zwischen notierten und tatsächlich ge‐ stellten Fragen nutzte ich die Fragen der Schülerinnen und Schüler aus der letzten Interviewaufgabe (achte Stunde) des ersten Unterrichtszyklus. Diese 215 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="216"?> Daten sind für diesen Zweck bedeutend aussagekräftiger als die zur ersten Auf‐ gabe, da weit mehr interkulturelles Wissen in die Fragen integriert ist (s. o.). Die Lernenden sind mit dem Dilemma konfrontiert, inhaltlich interessante Fragen zu stellen, den Gast aus Manipur/ Indien dabei aber nicht zu verletzen, also z. B. keine kulturellen Tabus zu brechen. Vergleicht man den Umgang mit potentiell verletzenden Fragen in den no‐ tierten Fragen und den tatsächlich gestellten Fragen des zweiten Interview‐ gesprächs, so zeigt sich, dass in der schriftlichen Vorbereitung 18 Fragen no‐ tiert wurden, die die Inderin hätten negativ berühren können (z. B. „Is your family rich? “, „Did you work when you were young? “). Fragen wie beispiels‐ weise „What’s the job of your parents? “ wurden hier, wenn sie so direkt ge‐ stellt waren, auch einbezogen. Im Gespräch wurden sieben dieser 18 Fragen tatsächlich gestellt. Allerdings ist bei der Auswertung zu beachten, dass sich ein Teil der 18 notierten Fragen thematisch überschnitt, sodass einzelne Fragen vermutlich auch deswegen nicht gestellt wurden, weil das Thema schon erfragt war. Von den sieben heiklen Fragen, die tatsächlich auch ge‐ stellt wurden, waren vier durch Wortwahl und/ oder Intonation so arrangiert, dass sie bei unserem Gast aus Indien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als unangemessen aufgefasst wurden. Bei der Frage „Ähm, can I - can I ask what your parents work? “ (S3) formulierte der Schüler beispielsweise eine indi‐ rekte Frage und seine zögerliche Einleitung signalisierte der Gaststudentin, dass er sich bewusst ist, dass er eine sehr persönliche Frage stellt. Bei keiner der teils sehr persönlichen Fragen war eine einleitende Entschuldigung mit‐ tels ergänzender (halb-)Sätze formuliert (z.B.: ‚Is it Ok if I ask you about …? ‘, ‚I know this is very personal, but can I ask you …‘). Stattdessen wurden, wie im Beispiel oben, paraverbale Möglichkeiten genutzt (Pause, Dehnung, Dopp‐ lung, Betonung) und indirekte Fragen formuliert. Die verwendeten Strategien waren aus meiner Sicht grundsätzlich geeignet. Für den zweiten Unterrichts‐ zyklus plante ich allerdings als Unterstützung die Bereitstellung von lang‐ uage support für angemessene Frageformulierungen ein. Für die Erforschung interkultureller Kompetenzen deutet sich durch den Ver‐ gleich von notierten und tatsächlich in der face-to-face-Kommunikation ge‐ nutzten Fragen ein wichtiger zu beachtender Aspekt an: Kompetenzen des Kompetenzbereichs ‚skills [to] discover and/ or interact‘ (Byram 1997: 34) können nur begrenzt ohne einen fremdkulturellen Partner eingeübt werden und noch viel weniger isoliert geprüft werden (z. B. in einem Test oder in einem Rollen‐ spiel). Die von den Lernenden notierten Fragen sind interkulturell-kommuni‐ kativ heikler, als die tatsächlich in der mündlichen face-to-face Kommunikation verwendeten. Beispielsweise wurden notierte Fragen wie „Have your parents a 216 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="217"?> love marriage or an arranged marriage? “ oder „What dowry did your mother have to give to her husband? “ in der mündlichen Interaktion nicht verwendet. Aufgaben ohne mündliche face-to-face Kommunikation mit fremdkulturellem Partner leisten eine gute Vorbereitung der Lernenden auf eine Realsituation hinsichtlich des jeweils benötigten Wortschatzes und der Grammatik. Lern‐ chancen hinsichtlich der interkulturellen Sensibilität hingegen werden in be‐ sonderem Maße durch Aufgaben in mündlicher face-to-face Kommunikation mit einem fremdkulturellem Gegenüber eröffnet. Gegen Ende der Interviewaufgabe berichtete die Gaststudentin im Kontext der Frage „Which country do you like better: India or Germany? “ (S29) von ihren Sorgen über ihre Eltern in Manipur (Indien) wegen regionaler Unruhen. Die Lernenden fragten offensichtlich berührt vorsichtig nach „Are you afraid for your parents? “ (S3) und „Have you contact with your family? “ (S18). Das Ein‐ fühlungsvermögen, das die Lernenden hier zeigten, kann nur in einer echten Kommunikationssituation mit einem fremdkulturellen Gegenüber hervorge‐ rufen werden. In einer unterrichtlichen als-ob Kommunikationssituation können solche Kompetenzen nicht aufgezeigt werden. Ferner deutete sich hier an, dass ein Teil der Lernenden am Ende des Projekts in der Lage war, in einen interkulturellen Dialog einzutreten und nicht nur Einzelfragen abzuarbeiten. Folgerung 03: Wenn Aufgaben direkte mündliche face-to-face Kommuni‐ kation mit fremdkulturellen Personen beinhalten (‚real-life interaction‘), dann fördert dies die interkulturelle Interaktionskompetenz und interkultu‐ relle Sensibilität besser als Aufgaben, die diese direkte Kommunikation nicht beinhalten. ‚Als-ob‘-Aufgaben, also die Simulation von interkultureller Kom‐ munikation, sind ein mögliches, aber nicht hinreichendes Vor-Training, wie angemessen interkulturell kommuniziert werden sollte. Folgerung 04: Wenn Aufgaben Kommunikation in Echtkontakten vorsehen, dann werden die Lernenden gefördert, besonders sensibel zu kommuni‐ zieren. Der Großteil der Lernenden entwickelt unter der Bedingung des di‐ rekten Kontaktes besondere Empathie für die Wirkung der Kommunikation. Der direkte Kontakt filtert quasi unangemessene Aussagen und Fragen aus. Folgerung 05: Wenn bei Aufgaben die Kommunikationspartner miteinander vertraut sind, dann fördert dies die Intensität des Austauschs. Die Dialoge werden länger und intensiver. Interkulturelle Lernaufgaben sollten des‐ wegen längerfristige Projekte und längerfristigen Austausch vorsehen. 217 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="218"?> E) Die Lernenden reflektieren ihre Interviewfragen Am Ende der letzten Stunde des ersten Unterrichtszyklus, in der Reflexions‐ phase, fragte ich die Schülerinnen und Schüler, was sie eigentlich gerne gefragt hätten, sich dann aber doch nicht zu fragen getraut haben. Die Antworten ent‐ hielten Themen, die eindeutig als interkulturell heikel eingestuft wurden („Was sie persönlich machen würde, wenn sie jetzt in einer Kaste geboren wäre […] und dann diese Mitgift zahlen müsste […]“ S5), aber auch weniger eindeutige Themen, bei denen den Lernenden die Entscheidung schwer gefallen ist, zu fragen oder nicht („Ich habe auch alles gefragt, aber ich hatte Bedenken, so wenn’s um ihre Eltern zum Beispiel geht, was die Eltern arbeiten, oder wie die Eltern geheiratet haben, oder ob es eine arrangierte Hochzeit war“ S24). Die beiden Beispielzitate unterliegen dem gleichen Schema wie die Mehrzahl der gestellten Fragen: Die Lernenden haben in der Unterrichtseinheit Informationen erhalten. Diese Informationen waren so gestaltet, dass Indien als vielfältiger und heterogener Kulturraum erfahren wurde. Mittels Fragen versuchten die Lern‐ enden nun, die Gaststudentin im eröffneten Spektrum zu verorten. Dem Wis‐ sensinteresse der Lernenden stand die Frage nach dem angemessenen Frage‐ verhalten entgegen. Es sind existenzielle Fragen, die als heikel oder als nicht-erfragbar angesehen wurden: Armut und Reichtum, Verhalten in der Mit‐ gift-Problematik, Partnerwahl, Bildung und Verdienst der Eltern. Mittels der abschließenden Reflexionsaufgabe wurden die von den Lernenden getroffenen Entscheidungen zur Angemessenheit ihrer Fragen bewusst gemacht. Die Lern‐ enden konnten feststellen, dass ihre Klassenkameraden die Frage ‚Was darf man fragen? ‘ für sich unterschiedlich beantwortet hatten. Sie hatten die Lerngele‐ genheit, das eigene Kommunikationsverhalten zu hinterfragen. Folgerung 06: Wenn Aufgaben in einem der letzten Aufgabenschritte einer interkulturellen Kommunikationsaufgabe die Reflexion des interkulturellen Kommunikationsverhaltens vorsehen, dann können sich Lernende der An‐ gemessenheit ihrer Aussagen und Fragen bewusst werden. 7.5.1.3 Optimierungsvorschläge zu den Aufgaben 1 und 8 des ersten Forschungszyklus und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Stärkung der interkulturellen Wissenskompetenzen (vgl. Byram 1997) durch Vorwissensaktivierung mittels vorbereitender Hausaufgabe; 218 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="219"?> • Language support zur interkulturell-kommunikativ angemessenen For‐ mulierung von Fragen anbieten; • die Reflexionsphase (Aufgabenschritt E) möglichst als Gruppeninter‐ views mit je sechs bis acht Lernenden durchführen, damit viele Lernende zu Wort kommen; • in der Reflexionsphase (Aufgabenschritt E) verstärkt Impulse einsetzen, die auf Perspektivenreflexion abheben (z. B. Meinungswechsel ergründen); Optimierung der Datenerhebung • mehr Zeit für die Reflexionsphase (Interview, Aufgabenschritt E) ein‐ planen und dann offenere Frageimpulse setzen. 7.5.1.4 Fazit zu den Aufgaben 1 und 8 des ersten Forschungszyklus Am Ende des ersten Forschungszyklus, bei Aufgabe 8, erfragten die Lern‐ enden unter Zuhilfenahme ihres größeren Vorwissens mehr inhaltlich Rele‐ vantes als zu Beginn bei Aufgabe eins. Fragen zu inhaltlich bedeutsamen Themen erforderten von den Lernenden besondere Achtsamkeit hinsichtlich Formulierung und Pragmatik, boten aber mehr Potential für interkulturelles Lernen. Vergleicht man die von den Lernenden vorbereiteten mit den von den Lernern tatsächlich gestellten Fragen, dann fällt auf, dass die real-life-inter‐ action wie ein Filter für potenziell verletzende Fragen wirkt. In der konkreten mündlichen face-to-face Kommunikation wurde nur ein kleiner Teil der noti‐ erten potenziell verletzenden Fragen verwendet. Die meisten dieser wenigen tatsächlich verwendeten Fragen wurden insbesondere durch die Verwendung von paraverbalen Strategien und indirekten Fragen von den Lernenden dann so kommuniziert, dass sie nicht verletzend wirkten. Die abschließende Refle‐ xionsaufgabe eröffnete den Lernenden die Lerngelegenheit, sich darüber be‐ wusst zu werden, welche Fragen potenziell verletzend wirken können und welche eher nicht. Die Interview-Aufgabe diente dazu, den Schülerinnen und Schülern eine Erprobungs- und Reflexionsmöglichkeit zu praktischem inter‐ kulturellen Gesprächsverhalten zu bieten. Diese Funktionen hat sie erfüllt. Für den zweiten Zyklus sind als Optimierungen insbesondere eine Vorwissensak‐ tivierung zur Stärkung der inhaltlichen Kompetenzen, die Bereitstellung von Redehilfen und das Einplanen von mehr Zeit für Reflexionen vorgesehen. 219 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="220"?> 7.5.2 Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home - Interkulturelle Kompetenzen in der direkten Begegnung erproben (Zyklus 2) erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 5: Position der Aufgaben 1 & 8 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.2.1 Darstellung der Rahmen-Aufgaben 1 & 8 im zweiten Forschungszyklus Ziele: Interkulturelle Kompetenzen praktisch erproben; angemessenes Ver‐ halten bei Erkundigungen zu fremdkulturellen Praktiken bei einer fremdkultu‐ rellen Person reflektieren. Rahmenbedingungen: Dauer je 45 Minuten; im Klassenzimmer. Besonderer Hinweis: Die Aufgaben 1 und 8 gleichen sich weitgehend und können zu einem Vergleich der Aufgabenprozesse, darüber wie die Lernenden zu Beginn 220 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="221"?> und am Ende des Projekts reagieren, herangezogen werden. Deshalb werden sie hier gemeinsam dargestellt. Die Interviewaufgaben 1 und 8 weichen im Aufbau geringfügig von der fünf‐ schrittigen Aufgabensequenz ab, die den anderen Aufgaben (2 bis 7) zu Grunde gelegt wurde. Der Hauptgrund dafür liegt in der Eigenschaft einer Interview‐ aufgabe als real-life interaction. Lernende müssen hier Elemente interkulturellen Lernens integrieren, die bei anderen Aufgaben auch nacheinander erarbeitet werden können. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgaben 1 und 8 des 2. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hin‐ sichtlich anderskultureller Praktiken aus Noch vor der ersten Stunde des Pro‐ jekts erhalten die Lernenden den Auf‐ trag, als vorbereitende Hausaufgabe ihre Konnotationen zu Indien auf einem Arbeitsblatt zu notieren und die vermutete Herkunft dieses Wis‐ sens zu benennen. What comes to your mind when you think about India? Where do you have these ideas from? Im Unterricht, der ersten Stunde des Projekts überhaupt, sollten dann die Lernenden mittels snowballing-Me‐ thode ihre Ergebnisse zur vorberei‐ tenden Aufgabe abgleichen und eine gemeinsame Liste aushandeln. Compare the results of your homework. Where do your ideas about India come from? Is the source (Quelle) of your in‐ formation reliable (zuverlässig)? Dis‐ cuss and choose which of your ideas re‐ present India most appropriately. Ip: -- Ai: Aktivierung von Wissensbe‐ ständen; As: Wortschatz für Assoziationen und zur Aushandung von Inhalten; Us: Übertragbare Beispiele; SA: Einzelarbeit (vorbereitende HA); dann Gruppenarbeit (snowballing); Aushandlungsprozesse dazu, was die Lernenden über Indien wissen und woher sie es wissen; AP: schriftliche Nennung von Asso‐ ziationen und deren vermuteter Quelle. 221 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="222"?> Dieser Aufgabenschritt zum Vorwis‐ sensaustausch war nur für Aufgabe 1 geplant. Für die hier gleichzeitig dar‐ gestellte Aufgabe 8 des zweiten Zy‐ klus entfällt diese vorbereitende Hausaufgabe. A-D) In interkulturellen Kommunikationssituationen eigenkultu‐ relle Erfahrungen und Annahmen zu anderskulturellen Praktiken einsetzen, neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken integ‐ rieren und Perspektiven auf kulturelle Praktiken aushandeln Fragerunde 1: Zur ersten Stunde des Unterrichtsprojekts wurde eine Gast‐ studentin aus Indien in den Unterricht eingeladen. Nach Begrüßung und Vorstellung fordert die LK die SuS auf, sich bei dem Gast nach ihrem Leben in Indien zu erkundigen. Die SuS er‐ halten zunächst keine Vorbereitungs‐ zeit z. B. für die Formulierung von Fragen. LK: Would you like to ask Ms Tagore some questions about her life in India? Die SuS stellen Fragen. Ip: Sprache und Inhalte der Beiträge der anderen Lernenden und der Ant‐ worten des indischen Gastes; Ai: Vorwissen; geeignete Themenge‐ biete für das Interview identifizieren; As: Fragen formulieren; Wortschatz für die zu erfragenden Themenge‐ biete; Ui: SuS haben ihr Vorwissen bereits in der vorbereitenden HA aktiviert; Us: spontane sprachliche Hilfen durch die LK und die Inderin (bridging and prompting); SA: Sitzkreis; Klassenunterricht; Mo: Ermunterung durch die Gaststu‐ dentin „What would you like to know? “; Direktkontakt mit native speaker; Möglichkeit, echte Anliegen klären zu können; AP: Interviewfragen (mündlich). Fragerunde 2: In der Annahme, wei‐ tere Fragen zu generieren und die Qualität und Quantität der Fragen der SuS zu unterstützen, fordert die LK die SuS dazu auf, in Partnerarbeit Fragen an die Gaststudentin vorzubereiten. In dieser Vorbereitungszeit können sich die SuS zu ihren Wissensbe‐ ständen austauschen und Notizen für die folgende zweite Fragerunde ma‐ chen. LK: Get together in small groups and prepare questions. Afterwards you can interview our guest again. Anschließend stellen die SuS ein zweites Mal Fragen. Ip: Sprache und Inhalte der Beiträge der anderen Lernenden (auch im Gruppenaushandlungsprozess) und der Antworten des indischen Gastes; Ai: Vorwissen; Themengebiete iden‐ tifizieren, die sich für eine Erfragung eignen; As: Fragen formulieren; Wortschatz für die zu erfragenden Themenge‐ biete; Ui & Us: kommunikativer Austausch mit Mitschülern; SA: zunächst Gruppenarbeit mit Aus‐ handlungsprozessen; dann Sitzkreis, Klassenunterricht; 222 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="223"?> Mo: zunächst Arbeit in Kleingruppen; dann Direktkontakt mit native speaker; Möglichkeit, echte Anliegen klären zu können; AP: Interviewfragen (mündlich und schriftlich); E) Lernende reflektieren ihre interkulturellen Lernprozesse Jeweils am Ende der beiden Unter‐ richtsstunden reflektieren die LK und die SuS die beiden Interviewsituati‐ onen im Klassenverband. Beispiele für Fragen und Impulse: Wie war es für Euch, Frau Tagore zu interviewen? Ihr wart bei der ersten Fragerunde sehr zurückhaltend. Bitte erklärt, weshalb. Ai: Reflexion zu Gründen für eigenes Sprachverhalten; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; Ui: Impulse der LK; SA: Kleingruppe betreut von Forscher bzw. Co-Forscherinnen; Mo: Auseinandersetzung mit eigenen Vorstellungen und eigenem Ver‐ halten; AP: Stellungnahme zu Gründen für Sprachverhalten in interkultureller Kommunikationssituation. Tab. 6: Planung der Aufgaben 1 & 8 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.2.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: Die Interviewaufgaben erfüllten im zweiten Un‐ terrichtszyklus die gleiche Funktion wie im ersten, und nahmen im Unterrichts‐ zyklus die gleichen Positionen ein. Die Schülerinnen und Schüler erhielten eine Erprobungs- und Reflexionsmöglichkeit zu ihrem interkulturellen Gesprächs‐ verhalten, und es konnte ihre interkulturelle Kommunikationsfähigkeit unter‐ sucht werden. Ein Ergebnis der Durchsicht der beiden Interviewgespräche mit der indischen Studentin im ersten Forschungszyklus war, dass sich im ersten Gespräch zu Beginn des Unterrichtsprojektes nur sehr wenig kulturelles Vor‐ wissen in den Fragen der Lernenden zeigte, in dem späteren Gespräch (Aufgabe 8) dann deutlich mehr. Da die Wissensbestände aber eine große Rolle für das interkulturelle Lernen in der Interviewsituation spielten (bedeutsame Fragen konnten nur auf der Basis von vorhandenen Wissensbeständen gestellt werden), hatte ich für den zweiten Unterrichtszyklus beschlossen, noch vor dem Unter‐ richtsgespräch eine Aufgabe zur Erhebung und Bewusstmachung von Wissens‐ beständen und deren möglichen Quellen einzuschieben. Bei einem Treffen eine Woche vor Beginn des Unterrichtsprojekts erhielten die Schülerinnen und 223 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="224"?> Schüler die vorbereitende Aufgabe ‚What comes to your mind when you think about India? Where do these ideas come from? ‘ Das auszufüllende Arbeitsblatt wurde im Hefter abgeheftet, der zum Unterrichtsprojekt angelegt wurde. In der ersten Unterrichtsstunde des zweiten Projektzyklus sollten dann mittels snow‐ balling-Methode erst zwei Schüler, dann vier Schüler ihre Ergebnisse zur vor‐ bereitenden Aufgabe abgleichen und eine gemeinsame Liste aushandeln. Diese Aufgabe konnte (als einzige Aufgabe des Projekts) nicht durchgeführt werden. Wegen eines Verkehrsstaus kam das Forschendenteam verspätet in die Schule, und es verblieben nur 45 statt 90 Minuten Unterrichtszeit. In den verbleibenden 45 Minuten Unterricht interviewten die Lernenden die Gaststudentin aus Ma‐ nipur/ Indien. Die Wissensbestände der Lernenden aus der vorbereitenden Haus‐ aufgabe liegen als schriftliche Arbeitsprodukte der Lernenden vor. Ein weiterer Unterschied zum ersten Unterrichtszyklus war, dass für das erste Interviewgespräch mit der Gaststudentin Redehilfen (language support) in Form von möglichen Satzanfängen, durch die sich Fragen sensibel stellen lassen, als Poster an der Tafel zur Verfügung gestellt wurden (Would you please tell us …? Ms Tagore, may I ask you where / what / when / why / who / how …? u. ä.). Datenquellen: • Lernertexte (vorbereitende Hausaufgabe) • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (Übersicht) • Audioaufnahme Gruppenaushandlung zur Vorbereitung der Interview‐ fragen • Lernertexte (Notizen für Interviewfragen der Gruppenarbeitsphase) • Video-/ Audioaufnahme der Interviewfragen der Lernenden an die Gast‐ studentin aus Manipur/ Indien • Audioaufnahme der Gruppeninterviews/ Aufgabenreflexion • Dokumentation der Co-Forscherinnen von IKL-relevanten Lerneraussagen B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsicht‐ lich anderskultureller Praktiken aus Für die vorbereitende Hausaufgabe hatten 27 von 30 Schülerinnen und Schülern ihr Vorwissen zu Indien notiert. Am häufigsten wurden Armut (13), roter Punkt auf der Stirn (11), Essen/ Gewürze (11) und Bollywood/ Filme (11) mit Indien as‐ soziiert. Genannt wurden auch geschichtliche Aspekte (Kolonie, Ghandi) (7), Tiere (insbesondere Elefanten) (6), das Klima (hot) (6), Kinderarbeit (5), Buddha (3) und Religion (2), die Städte New Delhi (3) und Bombay (2), die große Bevöl‐ kerung (3), Saris (3), der Ganges (2), die dunkle Hautfarbe der Menschen (2), Traditionen (2), der Taj Mahal (2) und dass Kühe heilig sind (2). Ferner gab es noch 25 Einzelnennungen. Insgesamt wurden 121 Assoziationen genannt, bei 224 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="225"?> 98 davon wurde die vermutete Quelle angegeben. Die mit Abstand wichtigste Quelle der Schülerinnen und Schüler zu deren Assoziationen ist nach deren Angaben das Fernsehen (42 Nennungen). Mit weitem Abstand folgen die Schule (9), das Internet (9), Freunde/ Hörensagen (8), Fotos (ohne weitere Quellenan‐ gabe) (7), Bücher unspezifisch (6), Schulbücher (4), Zeitungen (3), Kinofilme (3), eigene Beobachtungen (3), Lexika (2), Zeitschriften (1) und Informationen von Eltern (1). Wenn Indien zuerst als ein durch Armut gekennzeichnetes Land gesehen wird, und wenn weitere oft genannte Assoziationen das Bindi (roter Punkt auf der Stirn), indisches Essen und Bollywood-Filme sind, dann lässt das eher auf einfache, stereotype Bilder schließen. Auch wenn Assoziationen immer nur verkürzte Darstellungen sind und den Lernenden keine problematisierenden und abwägenden längeren Ausführungen erlaubten, so bietet sich doch erst das an fünfter Stelle genannte Thema, Geschichte, für reflektierende und abwä‐ gende Positionen an. Wenige einzelne Aussagen wie „poor people are black“ oder „poor people“ in Kombination mit „very rich people“ lassen auf differenziertere Vorstellungen einzelner Lernenden schließen. In der befragten Klasse dominiert das Fernsehen unter den als Quellen be‐ nannten Medien. Da unter dem Sammelbegriff ‚Fernsehen‘ alle möglichen Arten von Fernsehbeiträgen fallen, wäre es hier interessant gewesen nachzufragen und damit auch bewusst zu machen, aus welcher Art von Sendungen das Wissen kommt. Das Internet wurde ebenfalls recht häufig als Informationsquelle ge‐ nannt. Es ist wahrscheinlich, dass einzelne Lernende in Abweichung von der (Haus-)Aufgabenstellung Informationen im Internet recherchiert hatten und deswegen die Nennungen erfolgten. Dass die Schule als Informationsquelle ge‐ nannt wird, liegt vermutlich daran, dass es in der Klasse zwei Schüler gibt, die die Klassenstufe neun wiederholten und dass im Religionsunterricht neun Ler‐ nende bei der Unterrichtseinheit ‚Weltreligionen im Überblick‘ auch Informa‐ tionen zum Hinduismus erhalten hatten. Zeitschriften und Eltern spielen als Quelle der Assoziation in dieser Klasse kaum eine Rolle. Durch die vorbereitende Hausaufgabe wurde deutlich mehr Vorwissen prä‐ sentiert als durch die reine Interviewaufgabe im ersten Unterrichtszyklus in der anderen Klasse. Dabei wurde dem klassischen Prinzip ‚Trennen von Schwierig‐ keiten‘ Rechnung getragen. Anstatt dass die Lernenden in der Interviewaufgabe integriert sprachliche, pragmatische und inhaltliche Herausforderungen bewäl‐ tigen mussten, konnten sie sich zunächst auf eine Schwierigkeit (task demand) - die inhaltlichen Anforderungen - konzentrieren. Die Effekte sind in mehrfacher Hinsicht positiv: Mehr Inhaltswissen wurde aktiviert, die Lernenden waren auf die Interviewaufgabe vorbereitet und die Interviewaufgabe wurde um die inhalt‐ 225 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="226"?> liche Dimension entlastet. Ansatzweise kann durch diese Hausaufgabe, die auch die Interviewaufgabe vorbereitete, eine Bewusstmachung der vorhandenen men‐ talen Bilder zu Indien und zu deren Quellen erfolgt sein. Eine vertiefte Bewusst‐ machung durch Vergleiche des Vorwissens und dessen Quellen im Unterricht und einer Aushandlung zu den Bildern von Indien in der Gruppe musste aus den ge‐ nannten Gründen entfallen, sollte aber als weitere Verbesserungsmöglichkeit vorgesehen werden. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass dieser Aufga‐ benschritt Erprobungscharakter hatte. Es können Stereotypen der Lernenden zu‐ tage kommen, die für die Lehrkraft eine wichtige Information sind, die aber auch nicht unkommentiert stehen bleiben können. Die Stereotypen sind im Projekt‐ verlauf aufzugreifen und deren Zustandekommen kritisch zu hinterfragen. Folgerung 07: Wenn Aufgaben vorsehen, dass das Vorwissen der Lernenden zum bearbeiteten Thema in einer vorbereitenden Hausaufgabe aktiviert wird, dann entlastet diese Hausaufgabe die interkulturelle Kommunikation um die inhaltliche Komponente. Inhaltliches Wissen steht für komplexe Kommuni‐ kationsaufgaben bereit. Die Lernenden können sich auf sprachliche Aspekte konzentrieren. Sie verfügen ferner über ausreichend viele Inhalte zur Kom‐ munikation. A-D) Für das Interviewgespräch integrierten die Lernenden eigenkultu‐ relle Erfahrungen, Annahmen über anderskulturelle Praktiken, neuen Input zu anderskulturellen Praktiken und setzten diese Elemente zuei‐ nander in Beziehung Bei beiden Interviewgesprächen des zweiten Unterrichtszyklus (Aufgabe 1 und Aufgabe 8a) mit der Gaststudentin aus Indien war die Gesprächsatmosphäre gut. In beiden Gesprächen forderte die Gaststudentin die Lernenden auf, Fragen zu stellen. Sie setzte sich mit allen Fragen intensiv auseinander, auch mit sprachlich schlechten oder inhaltlich oberflächlichen. Dadurch fühlten die Lernenden sich ernstgenommen. Wie im ersten Unterrichtszyklus kamen die ersten Fragen in beiden Gesprächsrunden recht zögerlich. Nachdem die Schülerinnen und Schüler drei Fragen gestellt hatten, unterbrach ich jeweils, wie vorgesehen, diese Unterrichtsphase und schickte die Lernenden in eine schriftliche Vorbereitung der Interviewfragen. Die wenigen zuvor ohne schriftliche Vorbereitung ge‐ stellten Fragen passen sprachlich und inhaltlich zu den jeweils in der Gruppen‐ arbeit notierten Fragen. Sie werden zusammen mit den notierten und tatsächlich gestellten Fragen in den folgenden Abschnitten besprochen. 226 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="227"?> Es kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass bei Aufgabe 1, zu Beginn des zweiten Unterrichtsprojekts, die inhaltliche Vorentlastung mittels vorwis‐ sensaktivierender Hausaufgabe nicht den Effekt hatte, dass die Lernenden deut‐ lich schneller bzw. mehr Fragen stellten, ohne sich in einem Gruppenaushand‐ lungsprozess mit schriftlicher Vorbereitung dazu abzustimmen. Der Befund deutet an, dass die inhaltliche Vorentlastung keine ausreichende Bedingung für ein rascheres Stellen von Fragen war. Aushandlungsprozesse bewirken offen‐ sichtlich etwas, das den Lernenden im Interviewgespräch sonst fehlt, auch wenn sie mit der Hausaufgabe inhaltlich vorbereitet sind. Aushandlungsprozesse Die Aushandlungsprozesse der Aufgaben 1 und 8 zur schriftlichen Vorbereitung von Fragen an den indischen Gast erfolgten in Vierer-Gruppen. Durch die eingesetzten Co-Forscherinnen konnten die Aushandlungsprozesse in vier der acht Gruppen als Audiodateien aufgezeichnet werden. In allen vier Gruppen fanden Aushandlungen auf mehreren Ebenen statt. Sprachliche Aushandlungen betrafen Grammatik (S35: „Heißt das how many inhabitants has oder have India? “), Wortschatz (S54: „Nee, des heißt nicht main city, wie heißt des? … capital, ja capital“) und Aussprache (siehe Dialog unten). Häufig ging das Notieren der Fragen auch mit inhaltlichen Aushand‐ lungsprozessen einher, die anderskulturelle Wissensaspekte betrafen (S60: „Wir können noch was über Religion fragen.“ S35: „Da gibt es Hinduismus und Bud‐ dhismus“). Im folgenden Beispiel aus der Aufgabe 1 im zweiten Zyklus erarbeiten die Lernenden eine Frage für das Interview und zeigen dabei Aushandlungen im Hin‐ blick auf Sprache (Wortschatz, Grammatik und Aussprache), Inhalt und Pragmatik. S? : Sie soll etwas auf Indisch sagen. [inhaltliche Aushandlung] S? : Please say something in Indish. [sprachliche Aushandlung: Übersetzung bzw. Pragmatik] S? : Gibt’s überhaupt die Sprache? [inhaltliche Aushandlung] S? : Natürlich. [inhaltliche Aushandlung] S? : Nein. [inhaltliche Aushandlung] S? : Ich weiß nicht. [inhaltliche Aushandlung] S? : Oder doch, ich glaub’ schon. [inhaltliche Aushandlung] S? : Can you say … [Satz nicht beendet] [sprachliche Aushandlung: Pragmatik] S? : Please say … [Satz nicht beendet] [sprachliche Aushandlung: Pragmatik] S? : Would you please tell us something in English? [sprachliche Aushand‐ lung: Pragmatik; Verwendung language support] S? : Nein, äh in Indish. [inhaltliche Aushandlung] S? : In Indish? Heißt das überhaupt Indish? [inhaltliche Aushandlung] S? : Wenn es das nicht gibt, dann … [Satz nicht beendet] [inhaltliche Aus‐ handlung] 227 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="228"?> S? : Natürlich gibt es das. [inhaltliche Aushandlung] S? : Can you tell us … [Satz nicht beendet] [sprachliche Aushandlung: Pragmatik] S? : something [sprachliche Aushandlung: Grammatik] S? : anything [sprachliche Aushandlung: Grammatik] S? : something [sprachliche Aushandlung: Grammatik] S? : Nein, anything [sprachliche Aushandlung: Grammatik] S? : Anysing heißt es bei Fragen [sprachliche Aushandlung: Grammatik] S? : ‚Sing! ‘ Das schreibt man mit TH in English [sprachliche Aushandlung: Aussprache] S? : Aber Du musst noch ‚please‘ hinten dran schreiben. [sprachliche Aus‐ handlung: Pragmatik] S? : English? [inhaltliche Aushandlung] S? : Äh, in Indish. [inhaltliche Aushandlung] S? : Wie schreibt man Indish [sprachliche Aushandlung: Lexik] S? : I N D [sprachliche Aushandlung: Lexik] S? : Schreibt man Indisch im Englischen nicht ohne das ‚C‘ [sprachliche Aus‐ handlung: Lexik] S? : S H [sprachliche Aushandlung: Lexik] S? : Indish [sprachliche Aushandlung: Lexik] S? : OK, can you tell us anything in Indish, please? [Pragmatik, Grammatik, Wortschatz] Datenquelle: Z2 A1 Fo4 G2 Gruppenaushandlung 14: 35-15: 50 (Die Stimmen können den Lernenden (S43, S54, S56, S57) nicht zugeordnet werden) In allen Gruppen wurden die Sprachen Englisch und Deutsch gemischt. Die Gesprächsorganisation fand fast immer auf Deutsch statt, da das Aufgabenpro‐ dukt allerdings auf Englisch abverlangt war, kamen die Schülerinnen und Schüler nicht umhin, auch viel in der Fremdsprache zu sprechen. Es ist anzunehmen, dass die Berücksichtigung von sprachlich-pragmatischen Aspekten, Aushandlungen zur Verwendung von Höflichkeitsformen, auch wegen des Hinweises auf die bereitgestellten Sprechhilfen (language support) stattgefunden haben („Can you say …“, „Would you please …“ u. ä.). Die Bereit‐ stellung von Sprechhilfen hat sich diesbezüglich bewährt. Inhaltlich-pragmati‐ sche Aushandlungen, also Aushandlungen dazu, ob man eine Frage stellen dürfe, oder ob sie inhaltlich eventuell nicht angemessen oder gar verletzend sei, kamen in keiner der vier beforschten Gruppen bei Aufgabe 1 vor. Für die Aufgabenop‐ timierung kann festgehalten werden, dass Aushandlungen zur inhaltlichen An‐ gemessenheit von Fragen durch gezielte Aufgabenformulierungen angeleitet werden sollten. Eine mögliche Aufgabe dazu könnte lauten „Nach dem ihr vier bis fünf Interviewfragen formuliert habt, diskutiert darüber, welche der Fragen 228 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="229"?> den Gast evtl. verletzen könnten und welche sicherlich nicht. Sortiert Eure Fragen in eine Reihenfolge von unproblematisch bis evtl. verletzend“. Folgerung 08: Wenn bei Aufgaben die Lernenden in Aushandlungsproz‐ essen Arbeitsprodukte gemeinsam erstellen, und diese Produkte zur Ein‐ schätzung der interkulturellen Kompetenzen der Lernenden verwendet werden sollen, dann ist es unerlässlich, dass zur Beurteilung nicht nur das Aufgabenprodukt, sondern auch der Entstehungsprozess einbezogen wird. Die Aushandlungsprozesse müssen beforscht werden. Dies kann mit Hilfe des Einsatzes von Co-Forschenden erfolgen. Folgerung 09: Aushandlungsprozesse zur Angemessenheit von Redebei‐ trägen in der interkulturellen Kommunikation (z. B. zu Interviewfragen) ent‐ stehen nicht bei allen Lernendengruppen automatisch. Sie sollten durch die Aufgabe angeregt werden. Wenn Aufgaben unterstützen sollen, dass die Lernenden in Aushandlungsprozessen diskutieren, welche Aussagen und Fragen in interkulturellen Kommunikationssituationen angemessen sind, dann kann dies durch eine ordering oder eine sorting task angeleitet werden. Frageninhalte bei der ersten Interviewaufgabe (Aufgabe 1) in den Zyklen 1 und 2 im Vergleich Mit dem Vergleich der Frageninhalte der jeweils ersten Aufgabe aus den beiden Zyklen und somit aus den beiden verschiedenen Klassen, möchte ich prüfen, ob die Aufgabenänderung ‚Vorwissensaktivierende Hausaufgabe‘ einen Effekt auf die nachfolgende Aufgabenbearbeitung hatte. Es versteht sich von selbst, dass es hier nur um Indizien für Effekte gehen kann und nicht um verallgemeinerbare Effekte. Für die erste Interviewaufgabe im zweiten Zyklus notierten die Gruppen ins‐ gesamt 50 Fragen in der vorwissensaktivierenden Hausaufgabe. Die mit weitem Abstand am häufigsten notierten Fragen (43) beziehen sich auf Sachinformati‐ onen (z. B. S33 „Why is the cow a holy animal for the Indians? “). In drei Fragen verknüpfen die Lernenden Privates mit Sachinformationen (z. B. S35 „Would you tell us something about your religion? “). In zwei Beiträgen stellen die Lernenden Fragen, die auf einen Vergleich von kulturellen Praktiken abzielen (z. B. S61 „Do they [the pupils] have the same subjects in India as in Germany? “). Beim Vergleich der Fragen zu den ersten Aufgaben des ersten Zyklus und dem hier dargestellten zweiten Zyklus, ist festzuhalten, dass die Schülergruppe des zweiten Zyklus in einem viel stärkeren Maße inhaltsorientierte Fragen stellte. Bei der ersten Interviewaufgabe im ersten Zyklus hatten die Lernenden lediglich 229 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="230"?> a) b) c) vier Fragen gestellt, in denen Vorwissen zum Ausdruck kam. Bei der ersten In‐ terviewaufgabe des zweiten Zyklus nutzten die Schülerinnen und Schüler bei weitem mehr Inhaltswissen. Sie sprachen die Themen Kleidung, Kinderarbeit, Essgewohnheiten, Reichtum und Armut, Behausung, Bevölkerungsgröße, Wäh‐ rung, Religion allgemein, Hinduismus, Arbeitswelt, Tiere, Sport, Geschichte, Filme, Klima, Sprache, Umwelt, Schule und Politik an, und sehr häufig wurden Vorwissen oder Hypothesen zu kulturellen Praktiken aus ihren Fragen er‐ kennbar. Bei Fragen wie „Ms Tagore could you please tell us why Indian people wear so long clothes even if it is so hot? “ (S45), „Is the Sari useful at other days or is it just for the wedding? “ (S32) oder „Are the Bollywood movies also famous in India? “ (S38) griffen die Lernenden auf Vorwissen zurück. Bei nahezu iden‐ tischem Arbeitsauftrag („We have a very special guest today - Ms Tagore. I think you can already guess where she comes from [wegen der Hausaufgabe]. She knows much more about India than I do. Would you like to ask her some ques‐ tions about her life or about living in India? “) sind in den beiden Unterrichts‐ zyklen zwei stark unterschiedliche Produkte entstanden. In der Rekonstruktion ergeben sich mehrere Gründe, die einzeln oder in Kombination miteinander dafür verantwortlich sein können. Die Klasse des zweiten Zyklus könnte ein größeres Vorwissen gezeigt haben, weil zwei Lernende das neunte Schuljahr wiederholten, drei Ler‐ nende zu Beginn des Schuljahres im Religionsunterricht im Rahmen der Unterrichtseinheit Weltreligionen eine Präsentation zum Hinduismus aus‐ arbeiteten (Erarbeitung in zwei Unterrichtsstunden) und sechs der Lern‐ enden diese Ausarbeitung anhörten (ca. 10-minütiger Schülervortrag). (Die ausführliche Erarbeitung der Unterrichtseinheit Hinduismus folgte im Fach Religion erst nach der Datenaufnahme des hier vorgestellten Forschungs‐ projekts.) Im zweiten Unterrichtszyklus ging der Interviewaufgabe die vorbereitende und vorwissensbewusstmachende Brainstorming-Hausaufgabe voraus. Die Klasse des zweiten Zyklus hatte sich also schon zuvor in der Hausaufgabe mit ihrem Vorwissen auseinandergesetzt. Ferner waren die Lernenden in der Zeit zwischen Hausaufgabenstellung und dem Interviewgespräch si‐ cherlich für Informationen zu Indien in besonderer Weise sensibel. Der dritte Grund könnten auch die zu Beginn der Interviewaufgabe münd‐ lich gestellten Interviewfragen der Lernenden sein, die evtl. als Beispiele für die anschließend schriftlich formulierten Fragen dienten. Bereits diese ersten jeweils drei mündlich spontan von den Schülerinnen und Schülern gestellten Fragen unterschieden sich stark von Zyklus 1 zu Zyklus 2. Im ersten Forschungszyklus fragten die Lernenden „How old are you? “, „When 230 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="231"?> did you leave India? “ und „Do you speak German? “. Im zweiten Zyklus hingegen fragten sie „Is it in India hot? “, „I want to know why the women have this point on the [forehead]? “ und „Why do the women wear such a long dress? Has it a meaning when it’s for example a red dress? “ Die drei Fragen des ersten Zyklus sind persönliche Fragen an den Gast aus Indien. Die Fragen des zweiten Zyklus beziehen sich auf Sachinhalte zu Indien, dabei wird Vorwissen zum Klima, zum Bindi und zum Sari offenkundig. Wenn anderen Lernenden diese ersten spontan gestellten Fragen als Bei‐ spielssätze dienten, dann kann dies bewirkt haben, dass die Lernenden ihre Fragen stärker inhaltlich orientiert formulierten. Wegen der Breite an aufgeführten Inhalten, die weit über den Hinduismus hin‐ ausgehen, und wegen der Vielzahl von Lernenden, die gehaltvolle Fragen for‐ mulierten, ist eher nicht davon auszugehen, dass der unter a) dargestellte Kon‐ takt von neun Lernenden mit dem Thema Hinduismus im Religionsunterricht ein hinreichender Grund für die starke Inhaltsorientierung der notierten Inter‐ viewfragen ist. Die unter b) aufgeführten Gründe und eventuell deren Verstär‐ kung (gemäß c)) sind aus meiner Sicht entscheidend. Es ist ferner möglich, dass manche Lernenden sich über das aufgetragene Brainstorming hinaus im In‐ ternet kundig gemacht hatten und auch deswegen im zweiten Zyklus mehr Wissen vorhanden war. Folgerung 10: Wenn die Lernenden zu Beginn einer Aufgabe eine vorwis‐ sensaktivierende Hausaufgabe bearbeiten, dann stehen ihnen bei den zent‐ ralen Aufgaben viele Inhalte zur Kommunikation zur Verfügung. Nutzung des language support Im Unterschied zum ersten Zyklus stand den Schülerinnen und Schülern des zweiten Zyklus language support zur Verfügung. Diese Satzanfänge zur höflichen Formulierung von Fragen waren während der Gruppenarbeitsphase bei der ersten Interviewaufgabe an die Wand projiziert. Eine Gruppe nutzte diese Hilfe sehr in‐ tensiv (z. B. S45 „Ms Tagore, could you please tell us something about the Indian indigenous, how they live? “), die anderen Gruppen kaum oder gar nicht. Sieben von 50 Fragen enthalten Formulierungen, die denen des language support entsprechen. Die anderen 43 Fragen wirken in der notierten Form direkt und unvermittelt (z. B. S61 „Do they wear school uniforms? “). Es stellte sich die Frage, warum die Rede‐ mittel von den meisten Gruppen so wenig genutzt wurden. Da die Gruppen wäh‐ rend der Gruppenarbeitsphase zumeist sehr intensiv und in das Thema vertieft ar‐ 231 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="232"?> beiteten, war eventuell eine Projektion der Redemittel an die Stirnseite des Klassenzimmers ‚zu weit von den Gruppen entfernt‘ und eine Liste mit Redemit‐ teln auf einem Arbeitsblatt auf dem Gruppentisch wäre besser angenommen worden. Vermutlich sollte die Verwendung der Redemittel in die Aufgabenformu‐ lierung einbezogen werden, am besten mittels einer zweistufigen Vorgehensweise. Z. B. Your working time is over now. Do not write more questions now, but check if all your questions are phrased politely. The language support might help you. Durch diese Zweistufigkeit können sich die Lernenden zunächst auf den Inhalt und dann auf die sprachlich-pragmatische Dimension der Aufgabe konzentrieren. Beispielsweise im Dialog „Can you say something in Indish“ (siehe S. 227) wechseln die Lernenden mehrfach zwischen inhaltlichen und sprachlich-pragmatischen Aushandlungen hin und her, ohne zuvor die Aushandlungen zum jeweiligen Aspekt abzuschließen - dies würde vermutlich teilweise vermieden werden. Folgerung 11: Wenn Lernende language support zugunsten einer angemes‐ senen interkulturellen Kommunikation zwar bedürfen, aber zu wenig nutzen, sollte er in einer separaten Phase fokussiert werden. Durch diese Zweistufigkeit werden die Schwierigkeiten nacheinander leichter bewältigt: Die Lernenden sollten zunächst mit den eigenen Sprachressourcen Fragen formulieren. In einem zweiten Aufgabenschritt erhalten die Lernenden dann language support zur höf‐ lichen Formulierung, mithilfe dessen sie ihre Sätze überarbeiten. Vergleich der Aufgaben 1 und 8 innerhalb zweiten Unterrichtszyklus Vergleich der notierten Fragen Im zweiten Interviewgespräch (Aufgabe 8) gegen Ende des zweiten Unterrichts‐ zyklus waren die Schülerinnen aufgefordert, mit einem Partner oder einer Part‐ nerin Fragen zu notieren. Dabei sollten sie nun zusätzlich unterscheiden, ob die notierte Frage auch tatsächlich gestellt werden kann, oder ob es eine Frage ist, die möglicherweise die Gesprächspartnerin aus Manipur in Indien verletzen könnte und deswegen aus inhaltlich-pragmatischen Gründen besser nicht ge‐ fragt wird. Redemittel wurden bei dieser Aufgabe nicht zur Verfügung gestellt. Die Schülerinnen und Schüler notierten 41 Fragen bei Aufgabe 8. Hinsichtlich der Inhalte ist als auffälligste Entwicklung die starke Zunahme von Fragen zu nennen, bei denen die Schülerinnen und Schüler Wissensinhalte mit einer per‐ sönlichen Frage verknüpfen - drei Fragen bei Aufgabe 1 und 15 Fragen bei Auf‐ gabe 8 (z. B. S53 „Do you know women who had an arranged marriage? “). Häufig ist dies auch mit der Bitte um eine Stellungnahme verbunden (z. B. S37 „What do you think about the dowry system? Is it a good tradition? “). Diese Feststellung 232 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="233"?> stützt Ergebnisse aus dem ersten Unterrichtszyklus, bei dem sich dieselbe Ent‐ wicklung zeigte: Am Ende des Projekts nahmen Fragen zu, die Wissensinhalte mit Persönlichem zum Gegenüber verknüpften. Die sorting task bei der Aufgabenbearbeitung in erfragbare und nicht-erfrag‐ bare Fragen zu unterscheiden erfüllte eine doppelte Funktion. Zum einen rief sie auf der Unterrichtsebene den Lernenden ins Bewusstsein, dass Fragen das Ge‐ genüber verletzen könnten. Zum anderen gab sie auf der Forschungsebene Ein‐ sichten in die bewussten Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler zur An‐ gemessenheit ihrer Fragen. Von 41 Fragen waren 9 Fragen als nicht erfragbar gekennzeichnet, bei einer Frage (S44 „Do you have a job in India? “) war sich die Schülerin unschlüssig, ob die Frage angemessen ist oder nicht. Aus meiner Sicht waren die Einschätzungen der Lernenden zu den als nicht-erfragbar markierten Fragen stimmig (z. B. S37 „Are you married? Whether yes, was it an arranged marriage? “). Fünf der neun Fragen, die als nicht-erfragbar gekennzeichnet waren, wurden von zwei Jungen wohl absichtlich provokant formuliert - vielleicht aber auch nur um zeigen, dass sie sich darüber bewusst sind, welche Fragen nicht an‐ gemessen sind (z. B. S34 „Mussten Sie jemals Kinderarbeit verrichten? “). Dies waren auch die einzigen Fragen, die auf Deutsch formuliert wurden. Unter den 32 von den Schülerinnen und Schülern als erfragbar eingestuften Fragen gibt es kaum Fragen, die aus Lehrkraftsicht als heikel einzustufen sind. Die kritischsten Fragen sind: „Are many young girls pregnant? “ (S54) und „What do you think about the dowry system? “ (S55). Die meisten Fragen sind eher harmlos, zeugen aber von Interesse (z. B. „How much rupees does a good meal cost? ” S42; „Are the Saris expensive? “ S46) oder deuten nur eine Nähe zu eventuell kritischen Themen an („Are there more rich people or more poor people? “ S46). Folgerung 12: Wenn Lernende Wissensinhalte zu fremdkulturellen Prak‐ tiken am Ende einer Aufgabensequenz vertieft durchdrungen haben, dann können sie diese Inhalte in interkulturellen Kommunikationssituationen an‐ wenden. Sie können die Inhalte beispielsweise mit persönlichen Fragen an den fremdkulturellen Partner verknüpfen. Folgerung 13: Wenn Lernende im Aushandlungsprozess mit ihren Grup‐ penpartnern unterscheiden sollen, welche Aussagen und Fragen für eine in‐ terkulturelle Kommunikationssituation geeignet sind und welche möglicher‐ weise verletzend (sorting), dann bietet dies den Schülerinnen und Schülern eine Lerngelegenheit für interkulturelle Sensibilität und für die Bewusst‐ werdung dieses Aspekts von Pragmatik. Am Ende des mehrstündigen Pro‐ jekts kommunizierten die Lernenden interkulturell sensibler. 233 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="234"?> Vergleich der mündlichen Fragen „Oh, there are many hands now! “ kommentierte unsere indische Gaststudentin die Motivation der Lernenden zum Stellen von Fragen nach der Gruppenar‐ beitsphase zum Notieren von Fragen beim ersten Interviewgespräch im zweiten Zyklus. Während der gesamten Interviewzeit gab es keinen Moment, in dem nicht mehrere Schüler oder Schülerinnen anzeigten, sich mit Fragen beteiligen zu wollen. Auch im zweiten Zyklus bestätigte das Schülerverhalten, dass eine eingeschobene schriftliche Vorbereitungsphase die Beteiligung der Schüle‐ rinnen und Schüler stark erhöhte. Bei der ersten Interviewaufgabe des zweiten Zyklus stellten die Lernenden 23 Fragen. Die Fragen entsprechen inhaltlich denen der schriftlichen Vorberei‐ tung. Bis auf wenige Ausnahmen wurden Inhaltsfragen zu Indien gestellt. Bei vier der 23 Fragen fällt auf, dass aus eher direkt formulierten Fragen der schrift‐ lichen Gruppenarbeitsphase beim tatsächlichen Gespräch mit der Inderin spontan indirekte und damit vorsichtigere Fragen formuliert wurden (z. B. S32 schriftlich: „What is the caste system? “ => mündlich: „Can you describe us the caste system? “; S36 schriftlich: „Is the Indian food hot and spicy? “ => mündlich: „Ms Tagore, could you please tell us, is the Indian food hot or spicy? “). Die Schülerinnen und Schüler verwendeten dabei teilweise Formulierungen des language support. In den schriftlichen Notizen hatten Schülerinnen und Schüler in zwei Gruppen das Thema Kinderarbeit als anzusprechen notiert. Im realen Interviewgespräch stellten die Lernenden keine Fragen zu der Thematik. Die Aufgabe mit realer Begegnungssituation kann in der Klasse den Effekt gehabt haben, dass die Lernenden eine vorsichtigere Kommunikation einübten. Beim zweiten Unterrichtsgespräch stellten die Lernenden insgesamt 12 Fragen, allerdings in deutlich weniger zur Verfügung stehender Zeit. Ferner entstanden um einzelne Fragen kleine Gespräche, in denen Frageninhalte aus‐ gehandelt wurden. S35: Do you have friends with arranged marriages? Ms Tagore: Yes, I do? S35: Like your friends this? [Er berichtigt seine Frage] If your friends like the arranged marriages? Ms Tagore: No, but there is so much respect for elders … [Die Inderin be‐ richtet zum kulturellen Kontext, dass Söhne in der Regel mit den Eltern zusammen wohnen.]. S54: Were there more arranged marriages fifty years ago than today? Datenquelle: Z2 A8a Unterrichtsvideo13, 36: 50-38: 15 234 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="235"?> Mit dem größeren Wissen konnten die Lernenden in Aufgabe 8 zum Ende des Projekts nicht nur einzelne Fragen stellen, sondern sich teilweise aktiv an Dis‐ kussionen zu kulturellen Vorstellungen beteiligen. In der konkreten Begegnungssituation waren alle Fragen so ausgewählt, dass der anderskulturelle Gesprächspartner nicht verletzt wurde, lediglich bei der Frage von S51 „How is it with rats in India? “ war die indische Gesprächspart‐ nerin zunächst irritiert, und die deutsche Schülerin erklärte dann den Hinter‐ grund ihrer Frage: Sie hatte im Fernsehen einen Film zu einem indischen Tempel gesehen, in dem Ratten mit Milch gefüttert wurden. Die Irritation der Gaststu‐ dentin zeigte den Lernenden, dass fremdkulturelle Praktiken heterogen sind. Folgerung 14: Wenn Aufgaben direkte Begegnungen mit fremdkulturellen Partnern vorsehen, dann fördert das die Lernenden darin, interkulturell an‐ gemessen und sensibel zu kommunizieren. Bei der face-to-face Kommunika‐ tion formulieren die Lernenden mündlich sensibler und interkulturell kom‐ petenter als in ihren schriftlichen Aufgabenprodukten. Sie wandeln schriftliche, eher direkte Fragen in höflichere indirekte mündliche Fragen um. Ferner wählen sie in der mündlichen Kommunikation insbesondere solche Fragen aus, bei denen sie sicher sein können, dass sie nicht unhöflich oder verletzend sind. Folgerung 15: Wenn eine Aufgabensequenz zu Beginn und am Ende die gleiche interkulturelle Kommunikationsaufgabe vorsieht, dann zeigen sich die Zuwächse an interkulturellen Kompetenzen (Wissen, Sprache, Prag‐ matik, Einstellungen) der Lernenden daran, dass sie sich in zunehmend kom‐ plexere interkulturelle Aushandlungsprozesse einlassen. Zyklus 2: Reflexion über interkulturell sensibles Frageverhalten Nach dem Interviewgespräch waren die Lernenden in Abwesenheit des indi‐ schen Gastes gemeinsam aufgefordert zu überlegen, was sie noch interessiert hätte, was sie dann aber nicht gefragt hatten. In der auf Deutsch geführten Dis‐ kussion nannten die Lernenden mehrere Beispiele. Das erste Beispiel (S37: „Are you married? If yes, was it an arranged marriage? “) wurde in der Besprechung und in der Abstimmung als zu persönlich angesehen und die überwiegende Mehrheit gab dem Schüler recht darin, die Frage so eingeschätzt zu haben. Im Interviewgespräch wurde eine sehr ähnliche Frage gestellt (S35: „Do you have friends with arranged marriages? “). Diese Frage empfanden die Lernenden als unproblematisch, weil sie aus ihrer Sicht nicht so persönlich war. Das Beispiel eines anderen Schülers, „ob sie Kinderarbeit verrichten musste“ (S31), wurde 235 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="236"?> von den Lernenden als unangemessenen abgelehnt. Das Beispiel einer Schülerin, „was sie über Abtreibung denkt“ (S44), wurde in der Klasse verschieden einge‐ schätzt. Etwa die Hälfte der Klasse meinte, dass das schon erfragt werden könnte, da die Frage nicht auf Persönliches abziele. Die Reflexion erfüllte im Unterrichtsforschungsprojekt einen doppelten Sinn. Einerseits erfolgte eine Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für angemessene (interkulturelle) Kommunikation. Den Lernenden wurde bewusst, dass es kulturelle Praktiken gibt, die man entweder gar nicht, oder nur mit besonderer Sensibilität und besonderer Vertrautheit ansprechen kann. Andererseits erlaubte die Aufgabe Einblicke in die Aushandlungspro‐ zesse zur Angemessenheit von Interviewfrageinhalten und in die Einschät‐ zungen der Lernenden zur Angemessenheit von Fragen. Die Schülerinnen und Schüler zeigten in der Reflexionsaufgabe eine bewusste und angemes‐ sene Haltung und nahmen insbesondere auch die Relevanz solcher Überle‐ gungen ernst. Die Reflexion konnte auch erfolgreich als Klassengespräch durchgeführt werden. Folgerung 16: Wenn Aufgaben zum Ziel haben, bei den Lernenden ein Be‐ wusstsein für interkulturelle Angemessenheit ihrer Kommunikation zu ent‐ wickeln, dann bietet sich neben sorting- und ordering-Aufgaben in Aushand‐ lungsprozessen auch eine geleitete Aufgabenreflexion im Anschluss an die Aufgabe an. Diese kann von der forschenden Lehrkraft oder von Hilfsper‐ sonen geleitet werden. Folgerung 17: Wenn Lernende interkulturelle Kompetenzen in der direkten Begegnung erproben, dann unterstützt dies die Entwicklung eines modernen Kulturbegriffes. Wenn Lernende über die Angemessenheit ihrer Fragen in der direkten interkulturellen Begegnung reflektieren, dann argumentieren sie damit, ob eine Frage ‚zu persönlich‘ oder ‚nicht zu persönlich‘ war. Sie haben also den konkreten individuellen Menschen vor Augen. Das entspricht einem modernen heterogenen Kulturbegriff. Sie argumentieren nicht damit, dass eine Frage ‚eine Inderin‘ verletzen würde. Letzteres entspräche einem traditionellen Kulturbegriff. Folgerung 18: Wenn Lernaufgaben eine Aufgabenreflexion zu einer inter‐ kulturellen Kommunikationssituation vorsehen, dann fördert das ein be‐ wusstes Nachdenken über angemessenes Verhalten. In der interkulturellen Kommunikationssituation zuvor hatten sich die Lernenden vermutlich zu‐ nächst einfach intuitiv verhalten. Erfolgt die Reflexion in der Großgruppe (Klasse), dann kommen zwar nur wenige Lernende zu Wort (die Kleingruppe würde hier mehr Raum für Schülerbeiträge bieten), aber alle Lernenden 236 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="237"?> werden dafür sensibilisiert, in der interkulturellen Kommunikation über an‐ gemessenes Verhalten nachzudenken. 7.5.2.3 Optimierungen und Optimierungsvorschläge zur Aufgabe Optimierungen von Zyklus 1 zu Zyklus 2: • Die schriftliche Vorbereitung von Interviewfragen erfolgte in Gruppen‐ arbeit (vier Lernende) statt in Partnerarbeit. Für die Aushandlungspro‐ zesse stand damit ein größerer Pool an Vorwissen und sprachlichen Kom‐ petenzen bereit. • In einer vorbereitenden Hausaufgabe notierten die Lernenden ihr Vor‐ wissen und dessen Quellen. Sie waren inhaltlich auf das Projekt vorbe‐ reitet. • Die Lernenden vergleichen zur vorbereitenden Hausaufgabe die notierten Inhalte und deren Quellen in Kleingruppen. Diese Aushandlungsprozesse waren für den zweiten Zyklus vorgesehen, mussten aber aus den o. g. Gründen (siehe S. 224) entfallen. Optimierungen nach Zyklus 2: • Die Lernenden sollten für die Phase der schriftlichen Vorbereitung von Interviewfragen in Kleingruppen die ergänzende Teil-Aufgabe erhalten, ihre Fragen zu sortieren von ‚unproblematisch‘ bis ‚evtl. verletzend‘ (or‐ dering task). Dies dürfte erwünschte Bewusstmachungs- und Aushand‐ lungsprozesse zur Folge haben. • Die Aufgabe könnte die Verwendung von language support (z. B. zur höf‐ lichen Formulierung von Fragen) durch die Aufgabenstellung ausdrück‐ lich einfordern. Eine zweistufige Aufgabenstellung (Probleme aufteilen) könnte die Lernenden dazu anleiten, die Aufgabe zunächst a) inhaltlich und dann b) sprachlich-pragmatische zu erarbeiten. • Für die mündliche Interviewsituation mit dem fremdkulturellen Gast könnte ein mehrperspektivisches Setting vorgeben werden. Z. B. ‚Ihr seid Reporter für a) eine Schülerzeitung (Gruppe 1) b) ein Reisemagazin (Gruppe 2) c) eine Zeitschrift einer Organisation für Frauenrechte (Gruppe 3).‘ An‐ schließend kann reflektiert werden, wie die von den Lernenden ange‐ nommene Perspektive die interkulturelle Kommunikationssituation be‐ einflusst. 237 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="238"?> 7.5.2.4 Fazit zur Aufgabe Die Beobachtungen aus dem zweiten Forschungszyklus bestätigten, dass zu‐ sätzliche Vorbereitungszeit in Kleingruppen mit der Möglichkeit Notizen zu machen, dazu führt, dass nahezu alle Lernenden sich an der mündlichen Inter‐ viewaufgabe mit dem fremdkulturellen Gast beteiligen. Die Menge an Beiträgen wurde im Vergleich zur gleichen Aufgabe ohne diese Vorbereitungszeit verviel‐ facht. Die vorbereitende Hausaufgabe (ein Brainstorming zum Vorwissen und dessen Quellen) unterstützte deutlich die Inhaltsorientierung bei der Interview‐ aufgabe. Durch diese Aufgabenvariation erhielten die Lernenden auch die Ge‐ legenheit sich zunächst inhaltlich-lexikalisch und dann erst sprachlich-prag‐ matisch auf die komplexe Interviewaufgabe vorzubereiten. Dies scheint dem Lernstand dieser 9. Klasse die angemessenere Vorgehensweise zu sein. Dank der vorbereitenden Hausaufgabe wurde bei weitem mehr Wissen in die Interview‐ aufgabe integriert und die Interviewfragen gewannen an Gehalt. In beiden For‐ schungszyklen, aber leichter erkennbar im zweiten Zyklus, haben die Lernenden i. d. R. erst bei der zweiten Interviewaufgabe (Aufgabe 8) Wissensinhalte mit persönlichen Fragen an die Interviewte verbunden. Dies lässt darauf schließen, dass erst, wenn Inhalte (knowledge) nicht nur oberflächlich bzw. vage bekannt sind (Kompetenzstand der Lernenden in Aufgabe 1), sondern nachdem sie tiefer durchdrungen wurden (bis Aufgabe 8), können sie von Lernenden in interkul‐ turellen Begegnungssituationen mit dem Gegenüber im Gespräch angewendet werden (relating & skills). Auch im zweiten Zyklus stimmten bei beiden Interviewaufgaben die tatsäch‐ lich mündlich an den anderskulturellen Gesprächspartner gestellten Fragen in‐ haltlich mit den schriftlich notierten weitgehend überein. Einzelne eher heikle Fragen wurden in der mündlichen Kommunikation weggelassen. Ebenso gab es mehrere Fragen, die schriftlich direkt formuliert waren, mündlich dann aber als indirekte vorsichtigere Frage formuliert wurden. Beides weist darauf hin, dass die Interviewaufgabe mit der direkten Begegnungssituation geeignet ist, Schü‐ lerinnen und Schüler interkulturell zu sensibilisieren und ihnen die Lerngele‐ genheit bietet, interkulturelle kommunikative Kompetenzen zu zeigen. Sowohl beim ersten als auch beim zweiten Interviewgespräch kommunizierten die Schülerinnen und Schüler vorsichtig und verletzten aus meiner Sicht nicht die indische Gesprächspartnerin. Die indische Gaststudentin bejahte meine Nach‐ frage, ob die Schülerfragen für sie in Ordnung gewesen wären. Sie freute sich über das Interesse der Lernenden. Sie beteiligte sich an beiden Forschungszyklen des Projekts unentgeltlich und freiwillig. Sie erhielt für ihre Teilnahme auch keinerlei Gratifikation im Sinne einer Seminarleistung (z. B. ECTS-Punkte). 238 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="239"?> Der language support wurde auch im zweiten Zyklus wenig genutzt. Wenn die Lehrkraft sicherstellen will, dass er tatsächlich genutzt wird, empfiehlt sich die Planung eines separaten Aufgabenschritts. Zu diesem Zweck beendet die Lehrkraft die inhaltlichen Aushandlungsprozesse zu den Frageformulierungen etwas vorzeitig und weist die Lernenden an, in einem letzten Aufgabenschritt zu prüfen, ob die Fragen höflich formuliert sind (Trennung der Arbeit am Inhalt von der Arbeit an der Form; Fokussierung der Aufmerksamkeit). Für die Diskussion zum Kulturbegriff ist besonders spannend, dass in den Reflexionen nach der zweiten Interviewaufgabe die Schülerinnen und Schüler in der Kategorie argumentierten, dass eine Frage zu persönlich oder nicht zu persönlich ist, um gestellt werden zu können. Keine/ r der Lernenden argumen‐ tierte mit der Kategorie der Passung für die andere Kultur oder gar der ‚indi‐ schen‘ Kultur. Die Lernenden haben also einerseits den realen Menschen vor Augen und keine abstrakte Kulturgruppe. Andererseits passen sie aber auch ihre interkulturelle Kommunikation dem fremdkulturellen Hintergrund des Kom‐ munikationspartners an und vermeiden beispielsweise vermutete kulturelle Tabus. Eine angemessene interkulturelle Kommunikation hat also beides im Blick: a) das Individuum, b) seine (vermuteten) kulturellen Kontexte. In der Kommunikation kann dann durch den Informationsaustausch die zunächst pau‐ schale Zuordnung des Gegenübers aufgebrochen werden und eine differenzier‐ tere Zuordnung erfolgen (im Beispiel: indische Gaststudentin aus Manipur; be‐ suchte Internate; studiert; lehnt arranged marriages ab, hat aber Freunde mit arranged marriages u.s.w.). Die Vermittlung interkultureller Kompetenzen gemäß eines modernen Kulturbegriffs, der von heterogenen und nicht von großen homogenen kulturellen Gruppen ausgeht, entspricht also auch dem von den Schülerinnen und Schülern in der konkreten Begegnungssituation ge‐ zeigten Verhalten. Aufgaben, die den realen konkreten Menschen einbinden, ermöglichen den Erwerb von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen gemäß eines aktuellen Kulturbegriffs. Allerdings muss hinsichtlich eines hete‐ rogenen Kulturbegriffs kritisch angemerkt werden, dass die Lernenden in dieser Aufgabe nur mit einer Perspektive auf fremdkulturelle Praktiken in Berührung kamen. Andere Menschen aus Indien oder aus Manipur oder gar aus dem Be‐ kanntenkreis der indischen Gaststudentin hätten möglicherweise z. B. traditio‐ nelle Bräuche weniger kritisch diskutiert. Im weiteren Projektverlauf, insbe‐ sondere bei der vierten Reflexionsaufgabe der zweiten Aufgabe im zweiten Unterrichtszyklus (siehe S. 275), zeigte sich, dass sich die Lernenden durchaus der Perspektivität der fremdkulturellen Repräsentanten bewusst waren. Bei Aufgabe 6 des zweiten Zyklus (siehe S. 9) kamen die Lernenden ebenfalls mit Personen aus Indien in Kontakt. Sie setzten sich mit den Perspektiven von drei 239 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="240"?> Softwareentwicklern aus Pune auseinander und sendeten ihnen Audiobot‐ schaften. Der Kontakt mit mehreren fremdkulturellen Personen führte dazu, dass die Lernenden mehr unterschiedliche Perspektiven auf fremdkulturelle Praktiken erfahren konnten. Hier muss die Lehrkraft für jede Aufgabe abzu‐ wägen, wie viel Perspektivenvielfalt aus praktischen und didaktischen Gründen den Lernenden angeboten werden kann. 240 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="241"?> 7.5.3 How Sita and Deepak met - Anderskulturelle Konzepte der Partnerwahl diskutieren erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 7: Position von Aufgabe 2 der ersten Aufgabensequenz. 7.5.3.1 Darstellung von Aufgabe drei im ersten Forschungszyklus Ziele: kulturelle Praktiken vergleichen und diskutieren; fremdkulturelle Prak‐ tiken als kulturell bedingt anerkennen. Rahmenbedingungen: Dauer 45 Minuten; im Klassenzimmer; reguläre Lehrkraft anwesend. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ 241 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="242"?> derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgabe 3 des 1. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Als vorbereitende Hausaufgabe zur Bewusstmachung eigenkultureller Praktiken bei der ‚Partnerfindung‘ werden die SuS gebeten, ihre Eltern (oder ältere Freunde/ Bekannte) zu be‐ fragen, wie sie sich kennengelernt haben. Die SuS tragen ihre Recher‐ chen zu Stundenbeginn auf Englisch vor. Die LK notiert die Ergebnisse stichwortartig an der Tafel. LK: How did your parents get to know each other? Ip: zu Hause: Die Eltern berichten den Lernenden; As: selbstständige Erarbeitung des benötigten Wortschatzes; Us: LK unterstützt die SuS bei Bedarf spontan bei der Präsentation der Hausaufgabe; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Lebensweltbezug des Themas; AP: Berichte zur Partnerfindung der Eltern. B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hin‐ sichtlich anderskultureller Praktiken aus Im nächsten Schritt werden die SuS darauf hingewiesen, dass die LK gleich einen Text dazu vorlesen wird, wie sich eine Inderin und ein Inder vor ihrer Heirat kennen gelernt haben. Die SuS werden gefragt, welche Ver‐ mutungen sie dazu haben. LK: We have got 100. % per cent love marriages in our group. In a minute I’m going to read out a text about how two young Indians got to know each other before they married. Can you already guess what happens in the story? Ip: Geäußerte Vermutungen der Mit‐ schülerinnen und Mitschüler; Ai: Vorwissen vermutlich vorhanden; vorangegangene Stunde streifte die Thematik; As: freien Beitrag in neuem Themen‐ feld leisten; Ui: Da die Lernenden die Lösung nicht wissen können, haben die sie Möglichkeit recht frei zu äußern, was sie vermuten. Us: LK unterstützt die SuS bei Bedarf spontan; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Lebensweltbezug des Themas; AP: Vermutungen der Lernenden zu fremdkulturellen Praktiken. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Vor dem Lesen des Textes erhalten die SuS Informationen zur indischen Au‐ torin Mala Pandurang, um ihnen die Ip: Text zu einer arranged marriage von Mala Pandurang (Pandurang 2001); 242 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="243"?> Einordnung der Perspektive des Textes zu ermöglichen. Dadurch wird der Text auch als authentischer Text erkennbar. Nach dem Lesen des Textes erhalten die SuS die für die Einschätzung des Einzel-Beispiels wichtigen Kontextinformationen, dass die meisten Eheschließungen in Indien in dieser oder ähnlicher Form erfolgen, dass es aber auch wachsende Unterschiede zwischen Stadt und Land hinsichtlich dieser kulturellen Praktik gibt. LK: How do you feel about these kinds of marriages? Any com‐ ments? Any questions? ; Most marriages in India are arranged marriages. Ai: Familienkonstellationen und Handlungsorte der dargestellten Ge‐ schichte überschauen; As: Umfang des Lesetextes (9 Mi‐ nuten), teilweise anspruchsvoller Wortschatz; Ui: topographische Karte zu Indien zur Veranschaulichung der Orte und Distanzen; Us: Vereinfachung des Textes durch Streichung einzelner Sätze (keine Umschreibung); spontane Erläute‐ rung zum Lesetext durch die Lehr‐ kraft; SA: Klassenunterricht; Mo: Lebensweltbezug des Themas; AP: SuS geben Textinhalte wieder (Reproduktion). D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Im Unterrichtsgespräch wird disku‐ tiert, ob und unter welchen Bedin‐ gungen die im Text geschilderten kulturellen Praktiken für die Lern‐ enden akzeptabel wären. LK: Would you accept your parents’ choice? Satzanfänge: I think the tradition of arranged mar‐ riages is good / bad / worth thinking about … because … If I lived in India, I would accept / would not accept … because … Ip: Stellungnahmen der Mitschüler‐ innen und Mitschüler; Ai: Perspektivenwechsel vornehmen; As: Meinung formulieren und be‐ gründen; Us & Ui: Satzanfänge als inhaltliche und sprachliche Unterstützung; zu‐ sätzliche Unterrichtszeit in Klein‐ gruppen zum Notizen machen vor der Diskussion; bevor Abbruch der Kom‐ munikation erfolgt: Möglichkeit des Ausweichens in die deutsche Sprache; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Lebensweltbezug des Themas; AP: Stellungnahme zur kulturellen Praktik arranged marriages aus fremd- und eigenkultureller Perspek‐ tive. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Im Anschluss an diese Einzelstunde wurden zwei Schülergruppen (à 4 Ler‐ nende; freiwillige Meldungen) auf Deutsch interviewt. Bspl. für Fragen im Interview: Würdet Ihr auch die Eltern den Partner aussuchen lassen? Ip: Stellungnahmen der Mitschüler‐ innen und Mitschüler; Ai: Perspektivenwechsel vornehmen; Auseinandersetzung mit Kulturrelati‐ vismus; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; 243 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="244"?> Sollten wir Menschen in Indien davon überzeugen, dass sie besser ihre Partner selbst aussuchen und nicht von den El‐ tern aussuchen lassen? SA/ Mo: intensive Diskussion in Kleingruppen; AP: Stellungnahme zur kulturellen Praktik arranged marriages aus fremd- und eigenkultureller Perspek‐ tive. Tab. 8: Planung von Aufgabe 2 der ersten Aufgabensequenz. 7.5.3.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: Als Grundidee präsentiert die Aufgabe den Schülerinnen und Schülern mit Hilfe eines positiven Beispiels eine fremdkul‐ turelle Praktik zur Lebenspartnerfindung und stellt ihnen damit eine denkbare und evtl. auch akzeptable Alternative zum aktuellen westlichen Konzept der love marriage vor. Die vorliegende Aufgabe zu arranged marriages wurde nur im ersten Unter‐ richtszyklus genutzt. Nach Durchsicht der Daten wurde die Aufgabe als im Prinzip geeignet angesehen um Schülerinnen und Schüler dazu anzuleiten, eigen- und fremdkulturelle Lebensweisen offen zu diskutieren. Im zweiten Zy‐ klus wurde die hier besprochene Aufgabe zur Akzeptanz einer fremdkulturellen Praktik durch eine Aufgabe zur Darstellung von Vielfalt fremdkultureller Prak‐ tiken hinsichtlich ‚Schule, Ausbildung und Beruf ‘ (Zyklus 2 Aufgabe 6) ersetzt, da zu diesen Themen ein facettenreicheres Bild als im ersten Zyklus vermittelt werden sollte. Eine zeitliche Ausweitung des Projekts war nicht möglich. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (allgemein) • Audioaufnahme der Diskussion in der Klasse in Aufgabenschritt D • Audioaufnahmen der Gruppeninterviews/ Aufgabenreflexion • Forschertagebuch A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Die Hausaufgabe, ihre Eltern zu deren Kennenlernen zu interviewen, war mo‐ tivierend. Nahezu alle Schülerinnen und Schüler hatten ihre Eltern dazu befragt, wie sie sich kennengelernt hatten, oder sie wussten bereits darüber Bescheid. Die Schülerinnen und Schüler berichteten darüber in der Fremdsprache teils freiwillig, teils nach Aufforderung, aber immer mit offensichtlichem Spaß. Fünf der sechs Lernenden trugen notgedrungen frei vor. Sie hatten keine Unterlagen dabei, weil die reguläre Lehrkraft vergessen hatte, die Lernenden zu infor‐ 244 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="245"?> mieren, dass an diesem Tag unser Unterrichtsprojekt stattfinden würde. Bei Be‐ darf erhielten die Lernenden spontane sprachliche Unterstützung (bridging, prompting). Bei den weiteren Aufgabenanalysen soll der sich hier andeutende Befund geprüft werden, dass Aufgabenschritt A (Bewusstmachung der eigen‐ kulturellen Praktiken; häufig mit vorbereitender Hausaufgabe) die Lernenden nicht nur inhaltlich und sprachlich auf die Aufgabe vorbereitet, sondern durch seinen Lebensweltbezug auch besonders motiviert. Folgerung 19: Wenn Aufgaben mit vorbereitenden Hausaufgaben einge‐ leitet werden, bei denen die Lernenden Informationen zu eigenkulturellen Praktiken erfragen oder sammeln, dann motiviert das die Lernenden in be‐ sonderer Weise zu Beiträgen über eigenkulturelle Praktiken. B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsicht‐ lich anderskultureller Praktiken aus Die Vermutungen der Lernenden bei Aufgabenschritt B zeigten, dass den Schü‐ lerinnen und Schülern Unterschiede, bezüglich der vorherrschenden kulturellen Praktiken der Partnerwahl in Indien und Deutschland bekannt waren. In der vorangegangenen Unterrichtsstunde (zweite Aufgabe im ersten Aufgaben‐ zyklus) konnte bei der Arbeit mit wedding ads (Heiratsannoncen) aus Indien von den Lernenden erfahren werden, dass häufig die Angehörigen Lebenspartner für ihre Töchter und Söhne suchen. Mit der vorliegenden Aufgabe 3 wurde an Inhalte der vorangegangenen Stunde angeknüpft, das Wissen der Schülerinnen und Schüler aktiviert; sie erhielten die Möglichkeit, es in der Klasse zu teilen, und die Lehrkraft bekam einen Einblick zu diesem Vorwissen. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Den sprachlich recht anspruchsvollen englischen Text der indischen Hoch‐ schuldozentin Mala Pandurang, How Sita met Deepak (Padurang 2001), hatte ich für die Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse leicht gekürzt, hatte es aber ver‐ mieden, ihn umzuschreiben. Ursprünglich war geplant, dass die Schülerinnen und Schüler den Text in ihrem individuellen Tempo sinnentnehmend lesen. Da ich in den vorangegangenen Projektstunden die Erfahrung gemacht hatte, dass die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse sehr unterschiedliche Lesekompe‐ tenzen besitzen, und da diese Stunde interkulturellen Kompetenzerwerb fokus‐ sierte und nicht Texterschließungskompetenzen, entschloss ich mich, den Text vorzutragen und schwierige Begriffe teils auf Nachfrage, teils Unklarheiten an‐ tizipierend, zu paraphrasieren (kein Deutsch; Dauer: 9 Minuten). Im Unter‐ 245 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="246"?> richtsvideo ist die durchgängig hohe Konzentration der Klasse festgehalten. Die den Unterricht filmende Co-Forscherin berichtete davon, dass Schülerin S24 (durchschnittliche Fremdsprachenkompetenzen) der verspätet eintreffenden Klassensprecherin in einem Nebengespräch eine korrekte Synopse der Hand‐ lung geben konnte (siehe Forschertagebuch Mueller). Mit dem Text von Mala Pandurang, einer zeitweise an einer Hochschule in Deutschland unterrich‐ tenden Dozentin aus Indien, die diesen Text für deutsche Schülerinnen und Schüler geschrieben hatte, konnte den Lernenden am zur Identifikation geeig‐ neten Fallbeispiel Orientierungswissen zu einer fremdkulturellen Praktik ver‐ mittelt werden. Die Schülerinnen und Schüler waren motiviert und konzentriert, trotz des erhöhten sprachlichen Anspruchs und einfacher Lehrstrategie. Folgerung 20: Wenn Aufgaben mit authentischen Texten arbeiten, die fremdkulturelles Orientierungswissen in einem Fallbeispiel vermitteln und den Lernenden geeignete Protagonisten zur Identifikation anbieten, dann motiviert das die Lernenden für die Thematik. Folgerung 21: Wenn der Einsatz von authentischen Texten in Klassen der Sekundarstufe 1 eine Vereinfachung des Originaltextes erfordert, dann muss die Lehrkraft die Veränderungen bewusst sehr behutsam vornehmen, um die fremdkulturelle Perspektive nicht zu verfälschen. Ein massiver Eingriff in den Text, wie z. B. durch Umschreibung, verbietet sich. Behutsame Kürzung des Textes und Erläuterung von schwierigem Wortschatz (mündlich oder schriftlich) haben sich bewährt. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Am Ende des Textes How Sita met Deepak rief eine Schülerin in die Stille hinein „a happy end“, und nach der Zustimmung zu urteilen, die sie erhielt, empfanden die anderen Schülerinnen und Schüler das ebenso. Der Großteil der Klasse em‐ pfand die beschriebene arranged marriage mit dem Ausgang, dass sich die beiden Protagonisten gefallen, also, dass die Partnerwahl der Eltern für ihre Kinder gelungen war, als positiv. Viele Lernenden werden sich mit den fremdkulturellen Protagonisten identifiziert haben und beurteilen den Ausgang der Geschichte in diesem Kontext. Ich stellte im direkten Anschluss die Frage: „Do you know anybody who had an arranged marriage? “ S18, die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund in der Klasse, antwortete zur Überraschung aller „My parents had an arranged marriage“. Auf Nachfragen von Mitschülern und mir erläuterte sie ausführlich, teils auf Englisch, teils auf Deutsch, wie ihre Eltern zusammen gekommen 246 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="247"?> waren. Die Mitschüler fragten ferner, wie die Schülerin S18 später ihren Partner kennen lernen würde, und sie berichtete davon, dass sie schon mit ihren Eltern abgesprochen hätte, dass sie sich ihren Partner selbst aussuchen dürfe. Sowohl die von Mala Pandurang geschilderte Partnerschaftsfindung, als auch der Be‐ richt von S18 zu ihren Eltern, sind Beispiele für arranged marriages, in denen den zukünftigen Ehepartnern auch die Möglichkeit eingeräumt wurde, den aus‐ gesuchten Partner abzulehnen, also gemäßigte Varianten fremdkultureller Prak‐ tiken zur Partnerwahl (zu unterscheiden von forced marriages). Die Kommuni‐ kation in der Klasse verließ damit die schulische als-ob-Ebene, da die Inhalte für die Lernenden persönlich relevant waren. Die Aufgabe stellte durch ihre positive Darstellung einer für die Mehrheit der Klassenmitglieder fremdkulturellen Praktik für die Schülerin mit Migrationshintergrund die Möglichkeit bereit, sich zu dieser Praktik zu bekennen und die Chance zu ergreifen, mit Mitschülern darüber ins Gespräch zu kommen. Alle Lernenden erhielten auf diese Weise einen besonderen persönlichen Bezug zu einer für die meisten fremdkulturellen Praktik. Werden kulturelle Praktiken, wie in diesem Unterrichtsforschungspro‐ jekt anhand individueller Schicksale vorgestellt (und nicht abstrakt beispiels‐ weise als Prozentsatz von ‚arranged marriages in Indien‘), kann bzw. muss die Lehrkraft die Wahl treffen, ob die fremdkulturelle Praktik positiv oder negativ konnotiert sein soll. Im Beispiel hätte statt eines happy ends auch eine Verhei‐ ratung unter Zwang stehen können. Beide Aufgabenvarianten wären unter Ver‐ weis auf Lebensbedingungen in Indien plausibel zu begründen. Auf den ersten Blick erscheint es für eine Lehrkraft vielleicht sogar verlockender, die Variante der Zwangsheirat zu wählen, weil sie mehr Aufmerksamkeit bei den Lernenden erregt bzw. an dieser Stelle Menschenrechte und Kulturrelativismus diskutiert werden können. Dadurch würde aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Chance vergeben, dass z. B. Lernende mit Migrationshintergrund sich zu Prak‐ tiken bekennen, die Lernenden ohne Migrationshintergrund eher fremd sind, und in den meisten Fällen auch von ihnen abgelehnt werden. Eine Aufgaben‐ folge sollte Aufgaben enthalten, in denen solche fremdkulturellen Praktiken positiv dargestellt sind. Dies kann den Austausch und die Integration innerhalb der Klasse fördern. Folgerung 22: Wenn Aufgaben positive Beispiele fremdkultureller Prak‐ tiken thematisieren, dann erhalten Lernende mit fremdkulturellem Hinter‐ grund die Chance, sich zu ihren Praktiken zu bekennen, und sind eher offen dafür, diese Praktiken in der Klasse zu besprechen. 247 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="248"?> Trotz des positiven Beispiels und trotz des Bekenntnis’ von S18 zur arranged marriage ihrer Eltern lehnten in der folgenden Diskussion - wie zu erwarten war - die Schülerinnen und Schüler diese kulturelle Praktik für ihr eigenes Leben ab. Der als language support fungierende und inhaltssteuernde Satzanfang ‚I think the tradition of arranged marriages in India is good / bad / interesting / worth thinking about …‘ führte zu ablehnenden Beiträgen wie „I think it’s not good to marry […], it’s the person’s own thing to choose a partner. Nobody wants to live together with someone … [Abbruch]“ (S5) oder bestenfalls zu neutralen bzw. schwer einzuordnenden wie „I think it’s interesting because it’s completely different“ (S10). Der zweite Impuls ‚If I was in Sita’s or Deepak’s situation, I would …‘ leitete nun einen Perspektivenwechsel ein. Nach wie vor lehnte ein Teil der Lernenden die fremdkulturelle Praktik ab. Lernende der ablehnenden Gruppe führten an, dass sie aus Prinzip selbst den Partner wählen wollten oder dass sie nach einem oder wenigen Treffen nicht sagen könnten, ob der Partner passe. Der Impuls führt aber auch dazu, dass ein Teil der Lernenden die fremdkulturelle Praktik als akzeptabel empfand. Schülerinnen meinten beispielsweise „I would marry because they like each other“ (S26) oder „I would make the best and marry“ (S29). An dieser Stelle habe ich versäumt nach dem Grund für die Meinungsänderung zu fragen. Im Idealfall hätten die Lernenden dann reflektiert, dass die erste Aus‐ sage aus der Außenperspektive erfolgte und die zweite aus der Innenperspek‐ tive. Sie hätten also über die Perspektivenabhängigkeit der Bewertung von kulturellen Praktiken reflektieren können. Für den interkulturellen Lernprozess könnte hierzu verallgemeinernd festgehalten werden, dass Situationen, in denen der Wechsel von der einen zur anderen Perspektive Meinungswechsel bei den Lernenden auslöst, die Möglichkeit zur Perspektivenreflexion bietet. Als Lehr‐ kraft gilt es, solche Lernchancen zu arrangieren, und dann die Lernenden zur Reflexion ihres Meinungswechsels anzuhalten. Folgerung 23: Wenn eine Aufgabe einen Perspektivenwechsel bei den Lern‐ enden auslöst und die Lernenden aufgrund des Perspektivenwechsels nun kulturelle Praktiken anders bewerten als zuvor, dann eröffnet dies die Mög‐ lichkeit, diese Meinungsänderung zu reflektieren. Die Lernenden können sich so der Perspektivenabhängigkeit der Bewertung von kulturellen Prak‐ tiken bewusst werden. 248 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="249"?> E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Bereits zu Stundenbeginn hatten sich zwei Gruppen à vier Freiwillige für Grup‐ peninterviews in der großen Pause bei mir und meiner Co-Forscherin (Kame‐ rafrau) gemeldet. Die Videoaufzeichnung des Stundenbeginns zeigt, dass sich in dieser Klasse Schülerinnen und Schüler bereitwillig für die Interviews meldeten, aber erst nachdem ich auf Nachfrage versicherte, dass die Interviews auf Deutsch geführt würden. Im Interview wurde die Diskussion zur arranged marriage (aus Aufgaben‐ schritt D) fortgeführt, um dann zu schauen, an welchen Stellen auch der inter‐ kulturelle Lernprozess reflektiert werden kann. In meiner Gruppe versuchte ich zunächst zu verstehen, warum die Lernenden aus der eigenkulturellen Pers‐ pektive heraus (ein moderner Kulturbegriff sei dabei zu Grunde gelegt) eine arranged marriage für sich ablehnen. Die Interviewten waren nicht dazu bereit, eine arranged marriage für sich zu akzeptieren, auch nicht mit allerlei Zuge‐ ständnissen (Eltern kennen den Geschmack der Tochter/ des Sohnes und be‐ rücksichtigen ihn; mehrere Vortreffen der zukünftigen Ehepartner; Möglichkeit der Ablehnung der Elternwahl). In der folgenden Argumentation des Schülers S9 wurde deutlich, wie das Selbstbild von männlichen Jugendlichen durch ei‐ genkulturelle Praktiken geprägt ist. S9: Hm, ja, ich weiß nicht. Ich würde es [die Eltern suchen die Partnerin aus und berücksichtigen dabei den Geschmack des Sohnes] auch dann nicht wollen, weil ich finde, man sollte die Frau schon selber ansprechen. Wenn die Eltern die Frau ansprechen, dann ist man irgendwie ein Weichei bei der Frau. Dann ist es irgendwie blöd. Bei der ersten Begegnung ist man auch mords schüchtern. […] Das ist ja auch für sein Ego wichtig, dass man sie selber angesprochen hat. Datenquelle: Z1 A3 Fo6 GI, 02: 48-03: 05 Lernende wie S9 können nur dann an ihrem eigenkulturellen Rollenverständnis und ihrem Selbstbild arbeiten, wenn sie (fremdkulturelle) Alternativen kennen. Die Beschäftigung mit fremdkulturellen Praktiken fördert die Auseinanderset‐ zung mit den eigenkulturellen Vorstellungen und Praktiken. Interkulturelles Lernen kann hier auch Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden bedeuten. S5, der in den Phasen zuvor schon viel beigetragen hatte, zeigte zunächst weniger Offenheit für fremdkultureller Praktiken als S9. Er konnte sie zumindest in diesem Moment nicht voll für die Menschen dort akzeptieren. Er schlug des‐ halb einen Kompromiss vor, von dem er ausgeht, dass anderskulturelle Part‐ nersuchende ihn der aktuellen dortigen kulturellen Praktik vorziehen: 249 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="250"?> S5: Ich denke auch, dass in Indien nicht unbedingt verheiratet werden sollte. Sondern vielleicht dann so, dass der Mann oder die Frau es sich selbst aussuchen und dann die Familie zum Rat dazu ziehen und nicht an‐ dersrum [dass die Familie aussucht]. Weil es ist ja auch eine Entschei‐ dung fürs Leben für diejenigen [Ehepartner]. Datenquelle: Z1 A3 Fo6 GI, 06: 03-06: 23 Um in der Gruppendiskussion die Grenze auszuloten, bis zu welchem Punkt meine Lernenden, insbesondere S5, fremdkulturelle Praktiken akzeptieren konnten, und wo ihre Offenheit endet, brachte ich den Vorschlag einer Intervention ein: Mueller: Sollten wir Menschen in Indien davon überzeugen, dass sie besser ihre Partner selbst aussuchen? S9: Kommt darauf an, wo man [die zu überzeugende Person] wohnt, ob man in Deutschland oder in Indien wohnt. Mueller: Du würdest sagen, wenn jemand in Indien wohnt, sollte man da gar nichts machen. S9: Ja, eben. S5: Ich denke, wenn jemand aus Indien hier wohnt, dann wird er nicht mit der Familie hier wohnen, von daher ist das sowieso kein Ding. Also selber schon was suchen, aber dort jetzt hingehen und sagen ‚Sucht Euch Eure Sachen [Partner] selber‘, ist meiner Meinung nach falsch, weil die so aufgewachsen sind. Die haben das ja so mitgekriegt. Das wär’ ja, wie man jemanden völlig aus der Bahn rauswirft. Das ist ja denen Ihr Ding jetzt im Prinzip, wie … [Ab‐ bruch] Datenquelle: Z1 A3 Fo6 GI, 07: 40-08: 34 S9 reagierte auf meine Frage hinsichtlich der ‚Missionierung‘ von Anderen mit einer Nachfrage zum kulturellen Umfeld der Betroffenen, zeigte also Bewusstsein für die Abhängigkeit kultureller Praktiken vom Umfeld als interkulturelle Kom‐ petenz. Meine Nachfrage ergab dann, dass der Schüler S9 es angemessen findet, wenn andere Gruppen in ihrem kulturellen Umfeld andere kulturelle Praktiken leben, er zeigte hier mehr Offenheit als S5 im Beitrag oben, als dieser einen Kom‐ promiss für die fremdkulturelle Praktik vorschlug („[…] der Mann oder die Frau [suchen] es sich selbst aus […] und [ziehen] dann die Familie zum Rat dazu […]). Es wäre interessant gewesen, wenn ich an dieser Stelle mit einer weiteren Nach‐ frage ausdifferenziert hätte, ob S9 es auch angemessen empfindet, wenn anders‐ kulturelle Praktiken auch in unserem kulturellen Umfeld gelebt werden. S5 schloss diesen Fall der fremdkulturellen Praxis in unserem kulturellen Umfeld mit dem rationalen Hinweis aus, dass die Vorbedingung ‚Eltern sind auch hier‘ (z. B. 250 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="251"?> von der Gaststudentin) nicht gegeben wäre. Für sich selbst sieht er nur die Vari‐ ante, dass er selbst seine Partnerin bestimmt („Also selber schon was suchen“), er fand es nun aber unangemessen, anderskulturellen Personen in ihrem kulturellen Umfeld ihre Praktiken auszureden. Hier distanziert er sich von seinem früheren Beitrag, wo er noch den Kompromiss vorschlug: Kinder suchen Lebenspartner aus, Eltern bestätigen die Auswahl. Als ich ihm seine neue Aussage spiegelte, bestätigte er und führte den Gedanken wie folgt weiter: S5: Ja, leben und leben lassen, so ungefähr. Man kann ihnen zeigen wie das hier läuft und so, aber die Entscheidung muss dann, wie bei eigentlich allem, die muss selber dann von ihnen getroffen werden. Und wenn je‐ mand das sein Leben lang so mitkriegt, dann liegt es nahe, dass er halt auch so beeinflusst ist, dass er eher zu dem [fremdkulturelle Praktiken] neigt. Es kann ja genauso gut sein, dass jetzt in einem Klassenzimmer in Indien genau das Gleiche über Deutschland diskutiert wird, ne? ! Datenquelle: Z1 A3 Fo6 GI, 08: 47-09: 21 Wie S9 zeigte S5 Bewusstsein für die Abhängigkeit der kulturellen Praktiken vom Umfeld. Als mögliche Intervention schlug er das ‚zeigen‘ alternativer Prak‐ tiken vor, stärkere Interventionen lehnte er nun aber ab. Seine letzte Aussage, dass sich indische Schülerinnen und Schüler möglicherweise mit kulturell ge‐ prägten Praktiken zur Partnerwahl in gleicher Weise auseinandersetzen wie wir, belegt, dass er den dortigen Lernenden Ebenbürtigkeit in ihrem Lernen zuge‐ steht. Sein Beitrag geht deutlich über einen Perspektivenwechsel hinaus. Er versetzt sich nicht nur in andere hinein (Perspektivenwechsel), sondern erläu‐ tert die Entstehung von Perspektivität („… sein Leben lang so mitkriegt“) und reflektiert interkulturelles Lernen indischer Schülerinnen und Schüler über Deutschland. S5 zeigt hier Bewusstsein über Perspektivität und Perspektiven‐ reflexion. Gegenüber einem eher empathischen und möglicherweise unreflek‐ tierten Perspektivenwechsel stellt ein Perspektivenbewusstsein eine eher rati‐ onale interkulturelle Kompetenz dar. Die Entwicklung der interkulturellen Kompetenzen von S5 während des Gruppeninterviews, gefördert durch die Re‐ flexionsimpulse des Interviewers, belegt ferner, dass die Interviews über Ihre Funktion der Datenerhebung hinaus ein Ort des interkulturellen Lernprozesses sind. Reflexionen zur Aufgabe und zu interkulturellen Kompetenzen sollten deshalb nicht nur eine kleine privilegierte Gruppe (wie hier im ersten Unter‐ richtszyklus) erfahren, sondern alle Lernenden. 251 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="252"?> Folgerung 24: Wenn in der Aufgabenforschung mit Gruppeninterviews die Aufgabendurchführung und die Entwicklung interkultureller Kompetenzen beforscht wird, dann dient das nicht nur der Datenerhebung, sondern ist gleichzeitig für die Lernenden eine wichtige Möglichkeit, sich ihrer inter‐ kulturellen Kompetenzen bewusst zu werden und sie im Gespräch weiter zu entwickeln. Die als Gruppeninterviews durchgeführten Aufgabenreflex‐ ionen sind somit ein zentraler Ort interkulturellen Lernens. In den vorlie‐ genden Daten zeigt sich die höchste Dichte von interkulturellen Kompe‐ tenzen der Lernenden in den Gruppeninterviews. Folgerung 25: Wenn Aufgaben vorsehen, dass sich Lernende mittels Inter‐ viewimpulsen in der Reflexionsphase in verschiedene Rollen und kulturelle Kontexte hineinversetzen und dabei die Grenzen und Bedingungen ihrer Of‐ fenheit für fremdkulturelle Praktiken ausloten, dann entsteht durch die her‐ vorgerufenen Reflexionen ein Bewusstsein für Perspektiven auf kulturelle Praktiken. 7.5.3.3 Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Die Aufgabe hat in der vorliegenden Form eher rationalen Charakter. Lernende überlegen, in welchen Situationen welche kulturellen Praktiken für sie akzeptabel sind. Alternativ könnte Phase D durch eine ergänzende Teilaufgabe wie Rollenspiel oder (Antwort-)Brief an eine Brieffreundin in Indien erweitert werden, um eine Auseinandersetzung mit der Thematik auf der affektiven Ebene zu stärken. Hierdurch entstünden auch Aufga‐ benprodukte, die als Forschungsdaten dienen könnten. Gesamtzeitbedarf inklusive Reflexionsphase (E) wären dann ca. 90 Minuten. Dieser Vor‐ schlag stellt eine Alternative dar. Wie oben beschrieben kann ein Unter‐ richtsarrangement, das die Thematik eher rational angeht, für bestimmte Lernertypen aber auch ein geeigneter Zugang sein. • Um eine kritische Reflexion der eigenkulturellen Praktiken zu stärken, könnte auch Wissen beispielsweise zu ‚Scheidungsraten in Deutschland‘ oder ‚Heiraten innerhalb sozialer Schichten in Deutschland‘ u. ä. disku‐ tiert werden. • Das Gruppeninterview, d. h. die Reflexionsphase sollte auf die ganze Klasse ausgeweitet, da zu dieser Phase wichtige interkulturelle Kompe‐ tenzen nachweisbar sind, deren Erwerb allen Klassenmitgliedern ermög‐ licht werden sollte. 252 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="253"?> • Im Gruppeninterview, d. h. in der Reflexionsphase, sollten verstärkt Im‐ pulse eingesetzt werden, die auf Perspektivenreflexion abheben (z. B. mit den Lernenden reflektieren, weshalb sie ihre Meinung geändert haben, nachdem sie eine andere Perspektive eingenommen hatten). Optimierung der Datenerhebung • Da die Tonqualität der Videoaufnahmen der beiden vorangegangen Auf‐ gabenerprobungen (Aufgabe 1 & 2 im ersten Unterrichtszyklus) schlecht war, wurde in dieser Unterrichtsstunde (Aufgabe 3 im ersten Unterrichts‐ zyklus) eine zusätzliche Audioaufnahme mit einem Diktiergerät gemacht. Die Tonqualität ist nur geringfügig besser als die der Videographie. Bei‐ träge von Lernenden, die vom Aufnahmegerät weiter entfernt sitzen, sind phasenweise immer noch unverständlich. Für den zweiten Unterrichts‐ zyklus wird eine flächendeckende Audioaufnahme mit mehreren Auf‐ nahmepositionen im Klassenzimmer vorgesehen. • In Phase D machten fast alle Lernenden davon Gebrauch, sich schriftlich auf einen Beitrag zur Diskussion vorzubereiten. Die Notiz sollte im Schü‐ lerheft erfolgen. Dies wurde allerdings nur von einem Teil der Lernenden beachtet. Die Daten sind unvollständig, das Meinungsbild der Klasse muss der Videoaufnahme des Unterrichts entnommen werden. Im zweiten Un‐ terrichtszyklus erhalten die Lernenden Hefter für die geordnete Samm‐ lung schriftlicher Beiträge zum Projekt. • Die reguläre Lehrkraft wurde darum gebeten, die Datenerhebung durch eine Unterrichtsbeobachtung, und somit um eine weitere Perspektive, zu ergänzen. Es wurde a) um ein allgemeines Feedback zur Stunde gebeten und b) ganz konkret darum, dass sie Situationen notiert, in denen die Lernenden ihre eigenkulturellen Vorstellungen in Frage stellen. Da die Lehrkraft diese Aufgabe nur teilweise erfüllte, wurden für den zweiten Unterrichtszyklus studentische Hilfskräfte zuvor geschult und dann für die Datenaufnahme im Unterricht und als Interviewerinnen eingesetzt. • Wenn die Interviewphase als Reflexionsphase für alle Lernenden in kleinen Gruppen genutzt werden soll, bedarf es Co-Forschender, die diese Gruppeninterviews durchführen. 7.5.3.4 Fazit zur Aufgabe Das Ziel der Aufgabe, die Lernenden für fremdkulturelle Praktiken zur Part‐ nerwahl zu sensibilisieren, konnte bei einem Teil der Lernenden erreicht werden, insbesondere bei denjenigen, die an den Gruppeninterviews teil‐ nahmen. Entscheidend war, ob es die Aufgabe erlaubte, die Lernenden fremd‐ 253 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="254"?> kulturelle Praktiken nicht nur aus der eigenkulturellen Perspektive reflektieren zu lassen, sondern auch aus einer fremdkulturellen Perspektive. In den Inter‐ views fanden sich Aussagen von Lernenden, die kulturell geprägte Perspektiven reflektierten und auch Aussagen, zu denen eine solche Reflexion durch geeig‐ nete Impulse hätte erfolgen können. Aus den Daten werden zwei Strategien zur Anleitung von Perspektivenreflexion erkennbar, die Lehrkräften für die Ver‐ mittlung dieser wichtigen interkulturellen Kompetenz empfohlen werden könnten. a) Nehmen Lernende aufgrund eines Perspektivenwechsels einen Mei‐ nungswechsel vor, dann führt die Ergründung dieses Meinungswechsels („Warum hast Du Deine Meinung zu … geändert? “) mit recht hoher Wahr‐ scheinlichkeit zu einer Reflexion von Perspektiven. b) Erleben Lernende eine fremdkulturelle Praktik (beispielsweise Partnerfindung) zunächst aus der ei‐ genen Perspektive, dann aus der fremden Perspektive und betrachten schließlich die eigenkulturelle Praktik aus der fremden Perspektive, dann kann dies bei geeigneter Aufgabe zu einer Reflexion über die Perspektiven führen (möglicher Impuls: „Was würden indische Schülerinnen und Schüler sagen, wenn sie in ihrem Unterricht diskutieren würden, wie wir hier unsere Partner kennen lernen? “). Dokumentierte Lernprozesse während der Gruppeninterviews lassen auf die besondere Wichtigkeit dieser Reflexionen für den interkulturellen Lernprozess schließen. Die Bedeutung ist m. E. so groß, dass das reflektierende Interview‐ gespräch nicht wie ursprünglich geplant nur der Datenerhebung dienen sollte, sondern als letzter Aufgabenschritt (E) mit der gesamten Klasse durchgeführt wird. Ferner deutete sich in dieser Aufgabe die sprachlich und inhaltlich vor‐ bereitende sowie motivationale Bedeutung des ersten Aufgabenschritts (A) (Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken) an. In den folgenden Aufga‐ benanalysen können die Bedeutungen der beiden Aufgabenschritte A und E weiter bedacht werden. 254 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="255"?> 7.5.4 Cultural practices in everyday life - Vielfalt von eigen- und anderskulturellen Praktiken hinsichtlich der Daseingrundfunktionen miteinander vergleichen erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 9: Position von Aufgabe 2 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.4.1 Darstellung von Aufgabe 2 im zweiten Forschungszyklus Ziele: kulturelle Praktiken vergleichen; intrakulturelle Heterogenität reflek‐ tieren; pauschalisierende Zuschreibungen reflektieren. Rahmenbedingungen: Dauer 90 Minuten; im Klassenzimmer. Besondere Hinweise: Daseinsgrundfunktion/ en (Cultural practices in everyday life) ist ein Fachbegriff in der deutschsprachigen Humangeographie, um grund‐ legende Handlungen, Bedürfnisse und Äußerungen der menschlichen Existenz zu beschreiben. Für den Unterricht wurden die zentralen Aspekte wohnen, ar‐ beiten, sich versorgen, Abfälle entsorgen, sich bilden, sich erholen und am Ver‐ 255 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="256"?> kehr teilnehmen ausgewählt. Die konkreten Handlungen, die Menschen aus‐ führen, unterliegen individuellen und kulturellen Einflüssen und können verglichen werden In der dargestellten Form wurde die Aufgabe nur im zweiten Forschungs‐ zyklus unterrichtet. Im ersten Zyklus gab es zwei Vorläufer-Aufgaben: Aufgabe 6 ‚Cultural practices in everyday life - comparing images‘ und Aufgabe 7 ‚Com‐ paring geography textbooks from India and Germany‘. Die Vorläuferaufgaben, auf die hier nicht vertiefend eingegangen werden kann, enthielten neben inter‐ kulturell-reflexiven vor allem einen hohen Anteil analytischer Teilaufgaben (z. B. Bildanalyse, Analyse des Bildes von Deutschland in indischen Schulbü‐ chern u. ä.). Für die spezifische Fragestellung meines Forschungsprojekts em‐ pfahl es sich, die interkulturell besonders lernwirksamen reflexiven Elemente für Aufgabe 2 des zweiten Forschungszyklus zu übernehmen. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgabe 2 des 2. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Die Lernenden stellen als vorberei‐ tende Hausaufgabe eine Auswahl von Abbildungen zusammen (sowohl di‐ gital sowie als Ausdrucke auf Papier), die sie als repräsentativ für die eigen‐ kulturelle Praktik hinsichtlich einer frei zu wählenden Daseinsgrundfunk‐ tion halten. LK: Take or collect photos of how people in Germany live/ work/ learn/ relax/ …. Bring your pictures on a USB-stick and as a print-out (8-12 pictures). Choose them carefully because later we want to use them to illustrate pages of a geo‐ graphy schoolbook about Germany. Ip: Recherche der Lernenden; As: Wortschatz für Bildbeschreibung; Ai: angemessene Auswahl treffen; Us: Lernende steuern selbst Bildaus‐ wahl und somit die zu versprachlich‐ enden Inhalte; ausreichend Zeit für Nutzung von Lexika; SA: EA oder GA; Mo: Lebensweltbezug des Themas; Wahlmöglichkeit zum Thema; AP: Auswahl an Bildern. 256 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="257"?> B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hin‐ sichtlich anderskultureller Praktiken aus Die LK zeigt das Video einer Ver‐ kehrskreuzung einer indischen Groß‐ stadt (Ahmadabad). Die 2-minütige Videosequenz dient als Impuls und Motivation. Vor dem Anschauen gibt es keine besondere Beobachtungsauf‐ gabe. Impuls der LK nach dem Anschauen der Videosequenz: Any comments? Die Lernenden äußern sich zur fremd‐ kulturellen Praktik Straßenverkehr. Ip: Videosequenz zu indischer Kreu‐ zung (www.youtube.com/ watch? v=R jrEQaG5jPM; letzter Zugriff 16.2.2017). Ai: sich auf einen Perspektiven‐ wechsel einlassen; As: freien Beitrag in neuem Themen‐ feld leisten; Ui: Unterstützung des Perspektiven‐ wechsels durch Bezug auf konkrete, bekannte fremdkulturelle Person; Us: LK unterstützt die SuS bei Bedarf spontan; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Andersartigkeit der dargestellten kulturellen Praktik; AP: Aussagen der Lerner zur Wir‐ kung des Videos auf sie selbst und auf die vermutete Wirkung des Videos auf unseren Gast aus Indien (Voran‐ gegangene Unterrichtsstunde). A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken (Nutzung der HA; s. o.) und D) handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Die Teilaufgabe dazu, was repräsen‐ tativ für die eigenkulturelle Praxis sein soll, ist in zwei Phasen gegliedert. Im ersten Schritt diskutieren die Lern‐ enden in Kleingruppen, welches der mitgebrachten Fotos zur ausge‐ wählten Daseinsgrundfunktion die eigenkulturelle Praxis am besten re‐ präsentiert. Im zweiten Schritt stellen die Gruppen ihre Auswahl vor und be‐ gründen gegenüber ihren Mitschü‐ lern ihre Auswahl. LK: Decide which picture of Germany you would show in a geography school book for pupils in India. Later you are going to present the picture and give reasons why you chose it. Would your grandmother choose the same picture? Ip: Bilder und Argumente der Mit‐ schüler; Ai: Bildauswahl treffen, Argumente überlegen; As: freie Interaktion/ Diskussion; Ui: im ersten Schritt: keine; im zweiten Schritt: Impulse der LK, die Diskussion/ Reflexion fördern; Us: language support (Satzanfänge) für Präsentation; spontane Hilfe durch LK während Präsentation; SA: Gruppenarbeit, Präsentation der Lernenden; Mo: Wahlmöglichkeiten; Lernende konnten Thema (eine Daseinsgrund‐ funktion) frei auswählen; Arbeit mit Bildmaterial statt mit Texten; AP: Bildauswahl und deren Begrün‐ dung. 257 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="258"?> C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Die Zuwendung zur fremdkulturellen Praxis beginnt mit einer kurzen Teil‐ aufgabe, durch die die Lernenden re‐ flektieren, weshalb auf Websites von deutschen Reisebüros sehr häufig Ab‐ bildungen der beiden fremdkultu‐ rellen Phänomene ‚Taj Mahal‘ und ‚Schlangenbeschwörer‘ genutzt werden, um Indien darzustellen. LK: These pictures are often used by travel agencies to represent India. What do you think about them? Ip: Bilder des Taj Mahal und von Schlangenbeschwörern aus Internet‐ seiten deutscher Reisebüros; Ai: Wirkmechanismen durch‐ schauen; As: freie Diskussion in englischer Sprache; Ui: Impulse der LK; Us: spontane Unterstützung; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Wiedererkennungseffekte zu den Bildern; Dekonstruktion der Bildaus‐ wahl; AP: Stellungnahme zur Auswahl der Bildmotive. C) Lernende integrieren weitere Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte und D) handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Die Lernenden wählen aus einer Prä‐ sentation von je 3-6 Bildern zu den Daseinsgrundfunktionen jeweils ein Bild aus, welches aus ihrer Sicht fremdkulturelle Praktiken am besten repräsentiert und begründen ihre Auswahl der kulturellen Repräsenta‐ tion. Ip: In Indien aufgenommene Fotos zu den Daseinsgrundfunktionen; Ai: Aushandlungsprozesse zur Bild‐ auswahl; As: freie Rede in englischer Sprache; SA: zunächst GA, dann Präsentati‐ onen im Plenum; Mo: Auseinandersetzung mit den Vorstellungen/ Perspektiven der Mit‐ schüler; AP: Bildauswahl vornehmen und mündlich vorgetragene Begründung für die Bildauswahl. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse In der Reflexionsphase nehmen die Lernenden insbesondere dazu Stel‐ lung, ob es ihnen schwer fiel, Bilder auszuwählen. Ferner sollen sie sich in die Perspektive unserer indischen Gaststudentin (Frau Tagore) ver‐ setzen und überlegen, ob sie für In‐ dien die gleichen Bilder ausgewählt hätte. Interviewfragen: Ip: Reflexionsimpulse, Aussagen der Mitschüler/ innen, die dann diskutiert werden; Ai: eigene Vorstellungen reflektieren; Perspektivenwechsel vornehmen; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; SA/ Mo: intensive Diskussion in Kleingruppen; AP: Stellungnahme der Lernenden. 258 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="259"?> Hattet Ihr Euch Indien so vorgestellt, bevor Ihr die Bilder gesehen habt? Wie fandet ihr es, Fotos zu Deutschland auszusuchen? Warum war es schwer/ leicht? Wie war es die Fotos für Indien auszu‐ suchen? Warum war es schwer/ leicht? Meint ihr Frau Tagore (indische Gast‐ studentin) hätte die gleichen Fotos als repräsentativ ausgesucht? Tab. 10: Planung von Aufgabe 2 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.4.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: In der hier vorgestellten zweiten Aufgabe des zweiten Forschungszyklus reflektieren die Lernenden kulturelle Repräsentati‐ onen. Während die beiden Vorläuferaufgaben im ersten Zyklus gegen Ende an‐ gesiedelt waren (Aufgaben 6 und 7), ist die Aufgabe im zweiten Zyklus weit nach vorne gerückt. Da gegen Ende des zweiten Zyklus eine teilweise ähnliche Auf‐ gabe angesiedelt ist (Schulbuchseitengestaltung), können interkulturelle Kom‐ petenzen im Projektverlauf verglichen werden. Im Idealfall werden Kompe‐ tenzentwicklungen sichtbar. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (allgemein) • Audioaufnahmen der Gruppenaushandlungsprozesse • Lernertexte: Bildauswahl eigenkultureller Praktiken • Video-/ Audioaufnahme Präsentation der eigenkulturellen Bildauswahl • Video-/ Audioaufnahme Diskussion zu fremdkulturellen Abbildungen • Audioaufnahmen der Reflexionsphase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscherinnen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Die Lernenden sollten in Gruppen als vorbereitende Hausaufgabe eine Auswahl von Abbildungen für ein zu erstellendes indisches Erdkundeschulbuch zusam‐ menstellen, die sie als repräsentativ für die eigenkulturelle Praktik hinsichtlich einer von ihnen frei zu wählenden Daseinsgrundfunktion ansehen. Sieben der acht Gruppen hatten für die vorbereitende Hausaufgabe eine Daseinsgrund‐ funktion gewählt und Bilder zur eigenkulturellen Situation dazu mitgebracht. 259 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="260"?> In manchen Gruppen hatten die Schülerinnen und Schüler nachmittags ge‐ meinsam Bilder zusammengestellt, in anderen Gruppen hatten Lernende unab‐ hängig voneinander Bilder mitgebracht. Die Motivation zur Bearbeitung der vorbereitenden Hausaufgabe war groß. Die Gruppen hatten die Themen ‚sich erholen‘ (3 Mal), ‚entsorgen‘, ‚Verkehr‘ (3 Mal) und ‚wohnen‘ (1 Mal) gewählt. Die ebenfalls zur Wahl angebotenen Themen ‚arbeiten‘, ‚sich versorgen‘ und ‚lernen‘ wurden nicht gewählt. Eine der Gruppen hatte die Aufgabe nicht richtig verstanden und Bilder zu Verkehrsmittel in Indien mitgebracht. Den Lernenden wurde die Auswahl des Themas überlassen. Dies hat sicherlich die Motivation erhöht (Stichwort ownership), und die Aufgabe wurde dem task-Kriterium ‚Wahlmöglichkeit‘ gerecht. Dadurch, dass mehrere Gruppen das gleiche Thema gewählt hatten, konnten die Aufgabenbearbeitungen verschiedener Gruppen zum gleichen Thema (‚sich erholen‘ und ‚Verkehr/ sich fortbewegen‘) verglichen werden. Da es in der Aufgabe eher darum geht, mit den Lernenden zu reflek‐ tieren, wie unsere Vorstellung davon entsteht, was eine Kultur repräsentiert, und weniger um inhaltliche Vollständigkeit, war es an dieser Stelle angemessen, den Lernenden Wahlmöglichkeiten zu lassen und zu akzeptieren, dass es hin‐ sichtlich der Auswahl der Daseinsgrundfunktionen Dopplungen und Auslas‐ sungen gab. Durch die unterschiedliche Bildauswahl ergaben sich in der Stunde Diskussionsanlässe. Wenn die Lernenden später in Aufgabe 7 dann tatsächlich eine Schulbuchseite mit Bildern und Texten erstellen, sollte ihnen aus for‐ schungsmethodischer Sicht an dieser Stelle keine erneute Wahlmöglichkeit des Themas zugestanden werden, um die Entwicklung interkultureller Kompe‐ tenzen im Projektverlauf besser zeigen zu können. Folgerung 26: Wenn die Lernenden bei einer Aufgabe (Aus-)Wahlmöglich‐ keiten haben (z. B. Thema einer kulturellen Praktik auswählen, zu der sie Informationen sammeln), dann erhöht das ihre Motivation für diese Aufgabe. Sie können Themen wählen, zu denen sie besonderen Bezug haben und er‐ werben ownership am Aufgabenprodukt. Folgerung 27: Wenn eine Aufgabe zum Ziel hat, den Lernenden bewusst zu machen, dass sie unterschiedliche Vorstellungen zu eigenkulturellen Prak‐ tiken haben, dann sollte die Auswahlmöglichkeit so eingeschränkt sein, dass es Gruppen geben muss, die zur gleichen Thematik arbeiten. Die Aufgaben‐ produkte von Gruppen, die zur gleichen Thematik gearbeitet haben, können dann verglichen werden. Folgerung 28: Wenn in einer Unterrichtssequenz die Perspektivenentwick‐ lung einer Gruppe zu einer kulturellen Praktik von einer Aufgabe zu Beginn der Sequenz mit einer Aufgabe am Ende verglichen werden soll, dann kann 260 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="261"?> zu Beginn eine (Aus-)Wahlmöglichkeit bestehen, die Aufgabe am Ende muss dann aber themengleich sein. D.h. die Auswahlmöglichkeit ist bei der Auf‐ gabe am Ende der Sequenz eingeschränkt. B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsicht‐ lich anderskultureller Praktiken aus Zu Beginn des Unterrichts erläuterte ich den Lernenden, dass es in dieser Un‐ terrichtsstunde darum geht zu überlegen, was als das Repräsentative einer Kultur angesehen werden kann und ob es dies überhaupt gibt. Als Unterrichts‐ einstieg zeigte ich den Lernenden ein Kurzvideo zu einer Straßenkreuzung in Ahmadabad (Indien). Im Kurzvideo wird ein aus westlicher Sicht kaum gere‐ geltes Verkehrsgeschehen gezeigt, das viele Schülerinnen und Schüler erhei‐ terte. Auf meine Frage, warum sie das Geschehen witzig fänden, antwortete S51 „There are no rules“. Meine Nachfrage, warum das witzig sei, erzeugte eine nachdenkliche Stimmung. Auf die Frage „Would our guest from India laugh about the video, too? “ antwortete S60 „No, she wouldn’t laugh about the video because it’s normal [for her]“. Das Video mit dem kaum regulierten Verkehr war vermutlich für die allermeisten Lernenden überraschend und bot sicherlich einen starken Kontrast zu den ihnen bekannten kulturellen Praktiken des Ver‐ haltens an einer Verkehrskreuzung. Mit der Aufforderung zum Perspektiven‐ wechsel, ob die Inderin das Verkehrsgeschehen auch lustig fände, und der Ver‐ neinung einer Mitschülerin dazu, hatten die Lernenden die Lerngelegenheit zu erfahren, dass Vorerfahrungen und Erwartungen die Interpretation einer Situ‐ ation prägen. Als Weiterentwicklung der Aufgabe (über den Perspektivenver‐ gleich hinaus) könnte eine Bewertung und Bewusstmachung der Perspektiven erfolgen (Who is right? Mrs Tagore who perhaps (! ) thinks that traffic at the cros‐ sing is a normal situation, or we, who find the situation strange). Den Lernenden könnte an dieser Stelle die Lernchance eröffnet werden, zu erkennen, dass die Beurteilung einer kulturellen Praktik davon abhängt, von welchem kulturellen Umfeld die Beurteilenden geprägt sind. Folgerung 29: Eine Aufgabe zu einem Perspektivenwechsel wird dann einem angemessenen modernen Kulturbegriff gerecht, wenn sie die Lern‐ enden dazu auffordert sich in eine konkrete bekannte fremdkulturelle Person (z. B. in einen fremdkulturellen Gast) zu versetzen und aus deren Perspektive eine fremdkulturelle Praktik zu beurteilen. Ungeeignet hingegen wäre die Aufforderung, sich ‚in einen Inder zu versetzen‘. 261 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="262"?> Folgerung 30: Wenn eine Aufgabe die Lernenden dazu auffordert zu be‐ werten, ob die fremd- oder eigenkulturelle Perspektive auf eine kulturelle Praktik die vermeintlich angemessene ist, erhalten die Lernenden die Gele‐ genheit, zu reflektieren, dass Bewertungen von der kulturellen Sozialisation der Bewertenden abhängen. Die Lernenden erwerben ein Bewusstsein für Perspektiven. A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken (Nutzung der HA; s. o.) und D) handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Im nächsten Aufgabenschritt verglichen die Lernenden die Fotos, die sie als eigenkulturelle Repräsentationen zu einer als Gruppe frei gewählten Daseins‐ grundfunktion mitgebracht hatten. Sie sollten Bilder aussuchen, die in einem zu erstellenden ‚Erdkundeschulbuch für indische Schülerinnen und Schüler‘ kul‐ turelle Praktiken in Deutschland vorstellen und die Auswahl begründen. Be‐ sonders interessant entwickelte sich im Laufe des Projekts in Gruppe 8 die Suche danach, was die eigene Kultur im Schulbuch repräsentieren sollte. Die Gruppe befasste sich mit der Daseinsgrundfunktion ‚sich fortbewegen/ Verkehr‘ und hatte Bilder von vielen verschiedenen Fortbewegungsmitteln mitgebracht (Mountainbike, Tourenrad, Motorroller, Motorrad, Skateboard, Kreuzfahrt‐ schiff, Reisebus, Passagierflugzeug, ICE, Regionalexpress, Sportwagen, Ober‐ klassewagen). Beim Aushandlungsprozess standen in der Gruppe das Bild des Oberklassewagens und das Bild des ICE in der engeren Auswahl. S38: Das Auto [Oberklassewagen]? Warum? S35: Das gefällt mir am besten. S39: So ein Auto wird auch oft genutzt! [ironisch] S38: [An S35] Und was bringt es [das Auto] im Schulbuch? S35: Ich weiß es nicht. Und was bringt das [zeigt auf Bild eines ICE] im Schul‐ buch? S38: Das hier bringt’s, weil es ist ein offizielles Verkehrs … [1 Wort unver‐ ständlich] [öffentliches Verkehrsmittel]. Das [Auto (Oberklassewagen)] gefällt dir zwar, aber es hat nicht jeder in Deutschland so ein Auto. Datenquelle: Z2 A2 Fo3 G8 Aushandlung, 01: 21 - 01: 43 Im Aushandlungsprozess entschieden sich die Lernenden für den ICE, weil er ein öffentliches Verkehrsmittel ist. Die Lernenden bemühten sich also um pas‐ sende kulturelle Repräsentativität; ein öffentliches Verkehrsmittel schien ihnen als Abbildung für indische Schüler passender zu sein als ein privates. Sie wählten 262 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="263"?> allerdings den ICE anstatt den ebenfalls mitgebrachten Regionalexpress aus. Diese Auswahl sollte uns im Projekt noch beschäftigen (siehe S. 366). Folgerung 31: Wenn Lernaufgaben ein setting anbieten, bei dem den Lern‐ enden die fremdkulturellen Adressaten ihres Aufgabenprodukts möglichst konkret benannt werden (z. B. Partnerklasse o. fremdkultureller Gast), dann erleichtert das den Lernenden, sich vorzustellen, wie das Aufgabenprodukt auf die Adressaten wirkt. Ein sich-in-Beziehung setzen mit den Anderen wird dadurch erleichtert. Bei der Vorstellung der bestgeeigneten Fotos für die eigenkulturelle Repräsentation im geplanten Schulbuch lassen sich die Aussagen der acht Gruppen in drei Katego‐ rien gliedern. Eine besonders auffällige Auswahl traf Gruppe 4. Zur Daseinsgrund‐ funktion ‚Verkehr‘ wählte sie das negativste ihrer mitgebrachten Fotos, einen Stau auf einer deutschen Autobahn. S31 präsentierte das Poster mit den Worten „Our title is: A normal day on a German highway. We chose this picture because it’s typical for German traffic“. Auf meine kritische Nachfrage „Is it THIS picture we should show the Indian pupils? “ antwortete S56, eine Schülerin aus dem Plenum, „No, because we don’t have traffic jams every day“. Beide Aussagen zeigen, dass sich die Lernenden um eine für die interkulturelle Kommunikation angemessene Darstellung bemühen. Gruppe 4, die das Bild auswählte, hat auf Probleme abge‐ hoben, die mit dem hohen Motorisierungsgrad unserer Gesellschaft einhergehen. Die Auswahl des eigenkulturellen Phänomens ‚Stau‘ würde ich als Versuch der Darstellung von kultureller Repräsentation zum Thema Verkehr ohne überheblich sein zu wollen interpretieren. Der dahinterstehende Gedanke könnte in etwa lauten: ‚Hier gibt es gut ausgebaute Straßen und viele Autos, das heißt aber nicht, dass man deswegen schnell vorankommt‘. Indischen Schülerinnen und Schülern wird hier keine Überlegenheit präsentiert. Die eigenkulturelle Praktik wird eher zu negativ dargestellt. Die Überlegung („every day“) von S56 weist darauf hin, dass sie den indischen Lernenden einen realitätsangemessenen Einblick in diesen Bereich der deutschen Alltagskultur anbieten möchte. In den Gruppen 2 und 5 hingegen gibt es bei den Begründungen für die Bild‐ auswahl Hinweise darauf, dass die Lernenden die andere Kultur nicht für gleich‐ rangig halten. Gruppe zwei hatte das Thema ‚entsorgen‘ gewählt und zeigte ein Foto eines deutschen Müllmanns im orangefarbenen Overall bei der Arbeit. S43 (mit S56; S54, S42) begründete die Auswahl mit den Worten „On this picture is a garbage car and there’s a man and he disposes the garbage.“ S56: „He wears orange“. Mueller: „Why do you want to show this picture to Indian pupils? “ S43: 263 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="264"?> „Because we think they don’t dispose the garbage“. Die Aufgabenstellung (‚Bilder für Schulbuchseite für indische Schülerinnen und Schüler‘) hatte zwar wie beabsichtigt bewirkt, dass meine Lernenden die indische Perspektive mitd‐ achten und aus ihrer Sicht für die indischen Lernenden interessante Bilder aus‐ gewählt hatten, doch die Antwort zeigte auch, dass sie Indien als rückständiges Land betrachteten (sie gingen davon aus, dass es in Indien keine geordnete Müllentsorgung gibt, was sicherlich teilweise auch berechtigt sein mag [vgl. Aufgabenoptimierung S. 258]), und sie zeigte vor allem, dass diese Gruppe sich in ihrer Bildauswahl nicht um eine Begegnung mit indischen Lernenden auf gleicher Ebene bemühte. Ähnliche Einstellungen zeigten sich in Gruppe 5. Die anderen fünf Gruppen hatten zur jeweiligen Daseinsgrundfunktion ge‐ zielt Bilder ausgewählt, die weit verbreitete eigenkulturelle Praktiken zeigen, die gleichzeitig auf indische Lernende mit recht hoher Wahrscheinlichkeit nicht überheblich wirkten, sondern eine Begegnung unter Gleichen ermöglichten. Dabei wurde die eigene Kultur nicht anhand eines negativen Beispiels vorge‐ stellt. Gruppe 3 (S55, S52, S58, S53) hatte zum Thema ‚sich erholen‘ gearbeitet und aus einer Vielzahl von Fotos zum Bereich Wellness und Urlaub ein Bild von einem Paar beim Picknick auf einer Wanderung ausgewählt. S52: We chose this picture for the school book, because it’s the typical way to relax for German people. Mueller: Can you describe the picture? S55: On the picture you can see two German people who make a little break in a valley on a sunny day. […] Mueller: Would your grandparents choose the same picture as typical? S52: Yes. Mueller: And would someone poor who hasn’t got a lot of money choose this picture? S55: Yes, everyone can go hiking. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 G3 Unterrichtsaudio, 40: 48-41: 50 Die Schülerinnen haben eine Repräsentation ausgewählt, die in ihrem eigen‐ kulturellen Umfeld viele Menschen ausüben und damit als repräsentativ für die Grunddaseinsfunktion ‚sich erholen‘ gelten kann und die vermutlich nicht über‐ heblich wirkt. Gruppe 7 zeigt zur gleichen Daseinsgrundfunktion zwei Personen vor dem Fernseher und argumentierte sehr ähnlich. Obwohl die Lernenden auch über spektakuläre Bilder zu ‚sich erholen‘ und Freizeitgestaltung (z. B. Strandurlaub 264 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="265"?> unter Palmen, teures Shopping, Vergnügungspark) verfügten, wählten sie ab‐ sichtlich die Aktivität aus, die nach ihrer Meinung am häufigsten vorkommt, also das alltäglich Repräsentative. Dadurch, dass die Gruppe bei der Präsentation auch Widerspruch erhielt (S37 „No, not everybody has a TV, and not everybody likes watching TV“), und ich die Situation dafür nutzen konnte, die kulturelle Praktik aus verschiedenen eigenkulturellen Perspektiven beleuchten zu lassen (Would your grandparents / parents / friends choose the same photo? ) ergab sich wieder‐ holt für alle Lernenden die Chance zu reflektieren, dass kulturelle Repräsentanz von der Perspektive abhängt, auch innerhalb des eigenkulturellen Umfelds. Auch in Gruppe 6 bemühten sich die Lernenden, das alltäglich-Repräsentative zu zeigen. Zum Thema housing präsentierten sie einen einfachen „living room with a sofa and a table in front“. Vermutlich hatten die Lernenden eine Innen‐ ansicht gewählt, da sie davon ausgingen, dass die Ausstattungsmerkmale kul‐ turübergreifend anzutreffen sind. Das Vorhandensein eines Wohnzimmers er‐ scheint ihnen selbstverständlich, denn sie formulieren für die fremdkulturellen Lernenden die Aufgabe „Compare the picture with your living room“. Dass dies wegen z. B. sozialer Unterschiede eventuell nicht der Fall ist, ziehen sie nicht in Erwägung. Der Beitrag ist auf Ebenbürtigkeit ausgerichtet. Aus ihrer Sicht zeigen die Lernenden etwas Unspektakuläres und erwarten vermutlich, dass die fremde Kultur über gleichartige kulturelle Praktiken verfügt. Gruppe 8 (S35, S60, S38, S39) hatte sich für das Thema ‚sich fortbewegen‘ entschieden und aus einer Vielzahl von Bildern das Bild eines ICE für das Schul‐ buch ausgewählt und präsentiert. S35: This is our means of traffic. S60: We choose the ICE because it’s typical for German means of traffic. Mueller: The others had a traffic jam on the highway. You have a train. Which one is typical? S35: This is for long ways, because you need not much money for this. Mueller: Hm, at least it’s fast. (kurze Pause) Do you all agree that this picture [ICE] is typical for traffic in Germany? S32: Not many people who take the train every day use the ICE. […] Mueller: You say most people take a normal train. Yes, but why can you find this picture in the magazines very often? S40: Because it’s beautifuler than the others. S36: You can travel with it very fast. Mueller: Maybe it’s special? S36: Ich kann es nur auf Deutsch. Der ist bekannt. Datenquelle: Z2 A2 Präsentation-G8 Unterrichtsvideo1, 51: 01-53: 05 265 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="266"?> Um die Klasse zur Reflexion über die Repräsentativität eines ICE-Bildes für ei‐ genkulturelle Praktiken zum Thema Verkehr zu bringen, musste ich recht stark in die Diskussion eingreifen („Do you all agree …“; „Yes, but why can you find this picture …“). Damit habe ich die Beiträge von S40 und S36 ermöglicht. Die Diskussion deutet an, dass die Schülerinnen und Schüler kritisch zu überlegen beginnen, dass häufig das ‚Exotische‘ und ‚Herausragende‘ als repräsentativ für eine Kultur genutzt wird (ICE: „beautifuler“, „very fast“), dass aber das Alltäg‐ liche („people who take the train every day“) eigentlich eine Kultur angemes‐ sener repräsentiert. Die Gruppe hatte mit dem ICE ein eher spektakuläres Ver‐ kehrsmittel ausgewählt. Unter den mitgebrachten Bildern wäre auch ein einfacher Regionalexpress enthalten gewesen, aber auch Spektakuläreres wie ein Sportwagen, ein Kreuzfahrtschiff und ein Flugzeug. In der Aufgabenrefle‐ xion am Ende der Stunde mit Co-Forscherin 1 weist Schüler S38 darauf hin, dass sie den ICE eigentlich nicht wegen seiner Außergewöhnlichkeit gewählt hätten. Sie hätten ihn gewählt, „Ja, weil die meisten Leute Zug …, allgemein den Zug benutzen“. Die Rekonstruktion der Aufgabenbearbeitung unter Einbezug der Informationen aus Gruppenarbeit (Aushandlungsprozess Bildauswahl) und Auf‐ gabenreflexion (Gruppeninterview) deutet an, dass die Lernenden im Prinzip die Einstellung hatten, eine Kulturobjektivation zu wählen, deren Nutzung für viele Menschen kulturelle Praktik ist. Sie waren allerdings noch nicht sensibel genug bei dieser Auswahl und wählten für diese interkulturelle Kommunika‐ tionssituation eine eher spektakuläre Repräsentation aus. Folgerung 32: Wenn Aufgaben Aushandlungsprozesse zur Auswahl kultur‐ eller Repräsentationen vorsehen, dann erhalten die Lernenden die Möglich‐ keit zu reflektieren, was eine Kultur angemessen repräsentiert. Folgerung 33: Lernende treten bei der Erstellung eines Aufgabenprodukts eher dann nicht überheblich auf (sie zeigen also das Normal-Alltägliche des eigenkulturellen Umfelds und nicht das Spektakuläre), wenn sie sich in die fremdkulturellen Adressaten gut hineinversetzen können (z. B. Erstellung einer Schulbuchseite für die Partnerklasse). Folgerung 34: Wenn Aufgaben die Lernenden dazu auffordern, zunächst Repräsentation für eigenkulturelle Praktiken zu suchen, dann können sie im nächsten Schritt beim Vergleich dieser Repräsentationen feststellen, dass es innerhalb ihrer eigenkulturellen Gruppe unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was ihr eigenkulturelles Umfeld repräsentiert. Ein zeitgemäßer, weil stärker am Individuum orientierter Kulturbegriff wird vermittelt. Folgerung 35: Wenn Lernende für die Repräsentation eigenkultureller Prak‐ tiken Spektakuläres nutzen (z. B. das Bild einer Villa für die Thematik 266 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="267"?> ‚Wohnen‘), dann bietet solche eine Situation die Chance zur Reflexion, ob eine besondere spektakuläre oder eine normal-alltägliche kulturelle Praktik eine Kultur angemessen repräsentiert. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Als Einstieg in die Aufgabenschritte zu fremdkulturellen Repräsentationen zeigte ich den Lernenden Bilder, die Reisebüros zur Werbung für Indienreisen nutzen, und stellte die Frage, warum beispielsweise die Motive ‚Taj Mahal‘ und ‚snake charmer‘ so häufig vorkommen. Mueller: Why is this a picture travel agencies use to represent India [gezeigt wird ein Schlangenbeschwörer]? S60: Because everyone has heard of it. Mueller: Why has everyone heard of snake charmers in India? S37: Perhaps in India they sit at every corner. S45: Only in India, never in Germany there are snake charmers. […] Mueller: Is this typical for India? S? : Yes S38: Maybe it’s a tradition in India. Mueller: Maybe they have this tradition for the tourists to earn some money. S44: Maybe it’s so like here the ICE. Datenquelle: Z2 A2 Klassenunterricht Unterrichtsvideo2, 05: 15-07: 22 Meine Erwartung an diesen Aufgabenschritt war, dass die Lernenden einen Transfer von unseren Überlegungen zu eigenkulturellen Repräsentationen auf die fremdkulturellen vollziehen, d. h. erkennen, dass hier im Beispiel der Wer‐ bung für Indienreisen mit Repräsentativität im Sinne des Besonderen und Spek‐ takulären gearbeitet wird. Während S37 und S38 in ihren Beiträgen laut über‐ legen, ob snake charmers ein Alltagsphänomen sind, verweist S45 darauf, dass hier etwas Besonderes dargestellt wird („Only in India“) und S44 sieht die Par‐ allele zum vorangegangenen Aufgabenschritt zu den eigenkulturellen Reprä‐ sentationen. Die Diskussion zum ICE hat sie offensichtlich genau verfolgt, und das Akronym steht für sie nun für eine eigenkulturelle Repräsentation, die das Spektakuläre zeigt und nicht das Alltägliche. 267 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="268"?> Folgerung 36: Wenn sich bei einer Aufgabe Aufgabenschritte mit Re‐ flexionen zu eigen- und fremdkulturellen Repräsentationen abwechseln, so ergeben sich für die Schülerinnen und Schüler Lernchancen, Erkenntnisse von den einen auf die anderen Kontexte (z. B. von eigenauf fremdkulturelle Kontexte) zu übertragen. C) Lernende integrieren weitere Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte und D) handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Die Präsentation von Fotos aus Indien zu verschiedenen Daseinsgrundfunkti‐ onen wurde mit einer Karte zur Reiseroute des Fotografen und mit wenigen Informationen zum Fotografen eingeleitet („A sixty year old French teacher who lives in Germany“). Dadurch erhielten die Lernenden einen Anhaltspunkt unter welcher Perspektive die Bilder aufgenommen wurden. Die Schülerinnen und Schüler hatten alle Fotos der Präsentation in Kleinformat (als reminder) auf einem Papierbogen vor sich liegen (siehe Anlage 2, Beispiel housing) und er‐ hielten den Auftrag zu vermerken, welche sie für besonders geeignet hielten, die indische Seite des geplanten deutsch-indischen Schulbuchs zu repräsen‐ tieren („Which pictures do you think represent India in a German-Indian school book best? “). Ich stellte den Schülerinnen und Schülern zunächst die Bilder an der Leinwand großformatig vor. Im Anschluss besprachen wir ihre Auswahl und die Begründungen dafür anhand der A3-Bogen. Zum Thema ‚wohnen‘ waren fünf Bilder angeboten, die Häuser unterschied‐ lichen sozialen Prestiges zeigten. Die Gruppen wählten für die Schulbuchseite zum Thema ‚wohnen‘ eine recht einfache, geräumige und von Bäumen einge‐ rahmte Hütte aus. Einfache oder moderne Stadthäuser wurden nicht gewählt, eine sehr armselige Hütte erhielt die zweitmeisten Stimmen. Ein ähnliches Wahlverhalten war bei dem Thema ‚arbeiten‘ festzustellen. Keine Gruppe wählte für diesen Bereich moderne Arbeit am Computer. Die meisten Stimmen erhielt ein Bild eines etwa 16-jährigen Schneiders an einer altmodischen Tret-Nähmaschine. Auf den zweiten Rang kam ein Bild von Frauen am Stra‐ ßenrand, die mit Hämmern aus Gesteinsbrocken Schotter herstellen. Zum Thema ‚sich versorgen‘ wählten die Gruppen ein (optisch sehr ansprechendes) Bild von Frauen in Saris mit bunten Wasserkrügen auf dem Kopf. Keine Gruppe wählte beispielsweise das Bild eines modernen indischen Schnellrestaurants. Zum Thema ‚Entsorgung ‘ war die Auswahl mit lediglich drei Bildern, die eher ein Image von Rückständigkeit vermitteln, zu stark eingeschränkt, um eine In‐ terpretation der Bildauswahl zu erlauben. Die Aufgabe sollte optimiert werden 268 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="269"?> (siehe S. 279). Zum Thema ‚sich bilden‘ wählten die Gruppen eine Abbildung, die indische Schülerinnen und Schüler in Gruppen sitzend unter einem Baum im Freien, vermutlich in einer Unterrichtspause, zeigt. Zum Thema ‚Verkehr‘ wählten die Gruppen mit gleich vielen Stimmen die Abbildung einer Kreuzung mit recht modernen Fahrzeugen und einem Ochsenkarren, mit dem ein etwa 10-Jähriger Zwiebeln transportiert. Es versteht sich von selbst, dass die Schülerinnen und Schüler die Bilder nicht nur nach inhaltlichen Kriterien ausgewählt haben, sondern dass die Auswahl auch durch ästhetische Aspekte beeinflusst war. Dennoch fällt auf, dass sie In‐ dien eher als rückständig und arm präsentieren wollten. Bilder von modernen Gebäuden, Berufen etc. werden von den Schülerinnen und Schülern als nicht repräsentativ angesehen. „Indien kennt man ja als armes Land, das [Bild] passt“ (S38 G8 Aushandlung). In Gruppe 5 finden die Schüler Bild 32, das Bild vom Jungen auf dem Ochsenkarren am geeignetsten: „It shows the poorness in India“ (S41 G5 Aushandlung). Die Aussage einer Schülerin hingegen, die das Bild von den Schülerinnen und Schülern im Freien unter einem großen Baum am geeig‐ netsten findet und auch in den vorangegangenen Aufgaben recht sensibel war, nutzt eine Formulierung die Bemühen um Ebenbürtigkeit zeigen kann. Sie meinte „In Germany the break is different“ (S44 G6 Aushandlung). Der Aufgabenschritt zu fremdkulturellen Repräsentationen ist aus forschungs‐ methodischer Sicht interessant, er lieferte Einblicke in die Einstellungen von vielen Schülerinnen und Schülern. Aus pädagogischer Sicht wird er mit der da‐ zugehörigen Reflexionsphase (nächster Aufgabenschritt) wertvoll, in der die Co -Forscherinnen und ich Schülergruppen dazu anhielten zu reflektieren, ob unser indischer Gast die gleiche Auswahl getroffen hätte. Die Lernenden überlegten also analog zum dritten Aufgabenschritt (siehe S. 262, [A] Eigenkulturelle Praktiken beschreiben und [D] sich auf eine Praktik als repräsentativ einigen (Aushand‐ lung)), welche weiteren Perspektiven es auf fremdkulturelle Praktiken gibt. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Die Reflexionsphase, die in Form eines Gruppeninterviews gestaltet war, wurde durch den folgenden Interviewleitfaden gesteuert. Den Interviewenden war be‐ wusst, dass sie bei Bedarf auf Schüleraussagen eingehen und den Leitfaden fle‐ xibel handhaben. Ferner war vorgesehen, Schüleraussagen und Schülerprodukte aus dem Stundenverlauf aufzugreifen und zu reflektieren. Hattet Ihr Euch Indien so vorgestellt, bevor Ihr die Bilder gesehen habt? Woher hattet Ihr die Bilder, die vorher in Eurem Kopf zu Indien waren? Wie fandet Ihr es Fotos zu Deutschland auszusuchen? Warum war es schwer / leicht? (Hinweis: auf Stereotypenbildung eingehen) Wie war es, die Fotos für Indien auszusuchen? Warum war es schwer/ leicht? 269 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="270"?> Meint ihr Frau Tagore hätte die gleichen Fotos als repräsentativ herausgesucht? Warum? Warum nicht? Bei der ersten Frage des Interviewleitfadens verglichen die Lernenden ihr altes Bild von Indien mit dem in der Aufgabe vermittelten. Fast immer berich‐ teten sie davon, dass sich ihr Bild verändert hat. Lernende, die ein von Bolly‐ wood-Filmen geprägtes Bild hatten, waren von den Bildern überrascht, die Armut zeigten. Lernende, die ein von Film-Reportagen zur Armut in Indien ge‐ prägtes Bild hatten, waren überrascht von Bildern zu modernen Gebäuden und zur Softwareindustrie. Die Lernenden waren von den Disparitäten überrascht. Co-Forsch. 3: Habt Ihr Euch Indien denn so vorgestellt? S35: Teilweise. Co-Forsch. 3: Teilweise? Wie denn teilweise? S35: Ja, nicht dass sie so arm sind und dass sie auch Computer und so High Tech haben. Co-Forsch. 3: Das war jetzt was Neues. [bestätigend] S60: Ja, ich hätte auch nicht gedacht, dass es in der Großstadt, also, dass es da wirklich so modern ist. Datenquelle: Z2 A2 Fo3 GI, 00: 05-00: 41 Co-Forsch. 2: Wir haben verschiedene Fotos zum Thema ‚Wohnen‘ gesehen. Wie war das? Habt ihr euch so das euch vorgestellt? S41: Diese neuen großen Dinger [verspiegelte Hochhäuser] nicht. Datenquelle: Z2 A2 Fo2 GI, 01: 02-01: 41 Einige Lernenden hatten eine verklärt-exotische Vorstellung von Indien. S36: Mich hat noch überrascht, also in Bollywood Filmen sind immer grüne Wiesen. Wir haben jetzt nicht eine grüne Wiese hier gesehen. Meistens in Bollywood Filmen sind immer grüne Wiesen und Blumen und so. Datenquelle: Z2 A2 Fo2 GI, 00: 50-01: 00 S37: Ja, also ich hätte es mir überhaupt ganz anders vorgestellt. Von den ganzen Bollywood Filmen und so. […] Das sah eigentlich voll schön aus und so, aber ich hätte mir jetzt nicht gedacht, dass es so arm ist. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 01: 40-01: 52 Einige waren von Bildern, die auch Armut vorstellten, überrascht. 270 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="271"?> Co-Forsch. 1: Hattet ihr euch Indien so vorgestellt, bevor ihr die Bilder ge‐ sehen habt? S39: Ich habe es mir nicht so arm vorgestellt. Co-Forsch. 1: Nein? S39: M-m [Verneinung]. Co-Forsch. 1: Sondern? S39: Halt normal. Co-Forsch. 1: So wie bei uns mehr? S39: Ja. Nicht so wie bei uns, ein bisschen ärmer, aber nicht so [be‐ tont] arm. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 01: 12-01: 34 Für die verklärt-exotischen Vorstellungen zu Indien benennen die Lernenden als Quellen von sich aus Bollywood Filme. Bilder von Armut hingegen würden Dokumentationen und Nachrichten vermitteln. Co-Forsch. 1: M-h [Bestätigung]. S40? S40: Ja, das war ja irgendwie klar, dass es arm ist. Also, wenn man jetzt so eine Serie oder Dokumentation anschaut, dann sieht man es eigentlich. Da merkt man es. Co-Forsch. 1: M-h [Bestätigung]. S34: Wenn man die Nachrichten anschaut, dann sieht man die Bilder, dass es so arm ist. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 01: 53-02: 12 Die Interviews legten offen, dass die Vorstellungen der Lernenden vor der Durch‐ führung der Aufgabensequenz eher undifferenziert waren. Positive moderne In‐ dienbilder (z. B. zum IT-Bereich) waren kaum anzutreffen. Mittels der Reflexions‐ aufgabe konnten sich die Lernenden über den durch die Aufgabensequenz geförderten Wandel ihrer Vorstellungen bewusst werden (S 35 „Ja, [ich hätte] nicht [gedacht], dass sie so arm sind und dass sie auch Computer und so High Tech haben“). Die Lernprozesse wurden vertieft. Die Lernenden konnten ferner erfahren, dass sie unterschiedliche Vorstellungen hatten und dass ihre jeweilige Vorstellungsausprägung auch von den rezipierten Medien abhängig war. Sie konnten damit auch erkennen, dass Indien ‚an sich‘ für sie nicht erfahrbar ist. Folgerung 37: Wenn Lernaufgaben die Lernenden dazu auffordern, ihre Vorstellungen und den Wandel ihrer Vorstellungen zu fremdkulturellen Praktiken zu reflektieren, dann können sich die Lernenden bewusst werden, 271 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="272"?> dass sie teilweise unterschiedliche Vorstellungen haben oder hatten, dass diese Unterschiede auch mit den rezipierten Quellen zu tun haben und dass es nicht eine allgemeingültige und zeitüberdauernde Vorstellung zu einer anderen Kultur gibt. Dies entspricht einem zeitgemäßen durch Vielfalt ge‐ prägten Kulturbegriff. Zur zweiten Frage des Interviewleitfadens ‚Wie fandet ihr es, Fotos zu Deutsch‐ land auszusuchen? Warum war es schwer / leicht? ‘, zeigt sich, dass diejenigen Lernenden diese Teilaufgabe als schwierig empfanden, die sich auf einen Pers‐ pektivenwechsel einließen, um die Aufgabe angemessen zu lösen. In der Refle‐ xion mit Co-Forscherin 3 meinten S51 und S60, dass ihnen die Auswahl eines Bildes schwer gefallen sei. Repräsentationen zu Deutschland zu reflektieren war für sie sehr ungewohnt (S 51 „Das ist so normal halt irgendwie.“) und sie be‐ schrieben es ferner als schwer, eine Außenperspektive auf Deutschland einzu‐ nehmen und dabei zu überlegen, was für jemanden aus Indien Deutschland re‐ präsentieren könnte (S60 „man weiß halt nicht, […] ob es dort auch so ist“). Die Aufgabe fiel den Schülerinnen folglich schwer, weil sie sich die Mühe gemacht hatten, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, ihnen aber Wissen zu kultu‐ rellen Praktiken der anderen fehlte, um eine angemessene Repräsentation ihres eigenkulturellen Umfelds zu wählen. Die Realisierung von ‚Begegnung unter gleichen‘, also nicht überheblich zu kommunizieren, setzt interkulturelle Wis‐ senskompetenzen voraus. Folgerung 38: Wenn Lernende mit fremdkulturellen Personen in angemes‐ sener Weise (insbesondere nicht überheblich) über kulturelle Praktiken kom‐ munizieren möchten, so setzt das Wissenskompetenzen zu fremdkulturellen Praktiken voraus. Bei einer eher oberflächlichen Aufgabenbearbeitung erschien den Lernenden dieser Aufgabenteil einfach. In der Reflexion mit Co-Forscherin 4 gaben S56 und S54 an, dass es leichter war zu Deutschland Bilder auszusuchen, weil sie glaubten, das eigene Land zu kennen und zu wissen „was normal ist“. Sie zogen weder in Betracht, dass ihre Vorstellung zu Deutschland von ihrer eigenen Per‐ spektive geprägt ist, noch zogen sie in Erwägung, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, um von außen ihre Repräsentationen zu Deutschland zu reflek‐ tieren. Unter den Bedingungen dieser Ausblendungen erschien ihnen die Auf‐ gabe einfach. Es scheint aber außer Frage zu stehen, dass die Lernenden bestrebt 272 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="273"?> sind, das Alltägliche vermitteln wollen, um den Kommunikationspartnern nicht überheblich zu begegnen. Co-For‐ scherin 4: Und dann im Vergleich dazu für Deutschland? Da solltet ihr ja auch Bilder suchen, wie war das da? S56: Einfacher, weil man Deutschland ja kennt. Hier so der Ver‐ kehr, die Müllentsorgung und so. S54: Ja, da weiß man ja auch was normal ist und was nicht so normal ist und so. Das wussten wir ja bei Indien überhaupt nicht. Datenquelle: Z2 A2 Fo4 GI, 01: 58-02: 16 Diese Reflexionsaufgabe stellte in Verbindung mit den Lernerfahrungen zuvor (Would your grandparents choose the same picture? ) eine Lerngelegenheit bereit, zu erfahren, dass kulturelle Praktiken auch innerhalb von Gruppen höchst un‐ terschiedlich ausgeprägt sein können, dass es stark von der Perspektive des Auswählenden abhängt, was jemand als repräsentativ für eine Kultur empfindet. Die Reflexionsaufgabe gab den Lernenden Gelegenheit, dies zu formulieren und sich damit am konkreten Beispiel ein zentrales Merkmal eines zeitgemäßen he‐ terogenen Kulturbegriffs zu erarbeiten. Co-Forsch. 1: Habt Ihr sonst noch eine Anmerkung? S37: Wenn wir jetzt für Deutschland typische Bilder suchen, so zum Beispiel für ‚entspannen‘. Ich meine für jeden ist etwas anderes typisch. Und nicht jeder macht dasselbe. Ich meine hier, sogar in dieser Runde machen wir bestimmt so ziemlich alle etwas Unterschiedliches und verstehen etwas anderes unter ‚relaxen‘. Co-Forsch. 1: Also haben wir auch ein Problem mit dem Begriff ‚typisch‘? S37: Eben, ‚typisch‘ ist ein, finde ich, ein großes Problem, also als Begriff. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 07: 13-07: 49 Ein zentrales Ziel der Aufgabensequenz, das kritische Hinterfragen dessen ‚was eine Kultur repräsentiert‘, kann als erfolgreich erreicht betrachtet werden. S55: […] Ich fand es ein bisschen schwer etwas typisch Deutsches zu finden. S52: M-h, das dann auch, also was typisches Deutsches, irgendetwas für Oma, Opa, für Jüngere, für Mittlere, also alles [alle Personen] an‐ spricht. 273 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="274"?> Mueller: M-h, ja. S58? S58: Ja, halt DAS rauszusuchen, was auch für viele zutrifft. Datenquelle: Z2 A2 Fo6 GI, 02: 35-02: 58 Folgerung 39: Wenn Lernende die Aufgabe erhalten, zunächst für eigen‐ kulturelle Praktiken Repräsentationen (z. B. Fotos) auszuwählen und dann zu reflektieren, ob innerhalb ihres eigenkulturellen Umfelds andere Personen (z. B. ihre Großeltern) die gleichen Repräsentationen gewählt hätten, dann können sie erfahren, dass es auch im eigenkulturellen Umfeld unterschied‐ liche Vorstellungen zu repräsentativen kulturellen Praktiken gibt. Die Reflexion zur dritten Frage des Interviewleitfadens (Wie war es, die Fotos für Indien auszusuchen? Warum war es schwer/ leicht? ) erbrachte ähnlich vielfältige Ergebnisse wie die zur zweiten. Lernende berichteten von Wissenslücken zur fremden Kultur, die die Auswahl einerseits erschwerten (S61: „Wir wussten ja jetzt nicht wie es jetzt so ist, und da hatten wir ja auch keine richtige Vorstel‐ lung“) aber andererseits auch erleichterten (S58: „Ich fand es jetzt nicht so schwer, weil man ja dann immer so spezielle Bilder auch in den Medien sieht und dann ist es - dann denkt man halt - das wären die typischen Bilder“). Im Zitat von S58 zeigt sich allerdings durch den Einschub „dann denkt man halt“, bei dem sich die Schülerin ihrer Perspektive bewusst wird, ein Bewusstsein dafür, dass ein undifferenziertes klischeehaftes Bild der anderen Kultur ihr ei‐ gentlich unangemessen erscheint. Ähnlich wie S58 berichtet S60 im folgenden Dialog, dass eine stereotypisierende Vereinfachung eine Kultur leichter wieder‐ erkennbar macht. Im Gegensatz zu S58 scheint ihr ein solches Vorgehen aber kein Unbehagen zu bereiten, sondern sie sieht darin ein Mittel zur vereinfach‐ enden Kennzeichnung. Die ihr widersprechenden Aussagen von S59 und S51 lassen differenziertere Vorstellungen zu Indien erkennen. Allerdings wurde im Interview nicht nachgefragt, ob diese Vorstellungen bereits vor der Aufgaben‐ bearbeitung bestanden oder erst erworben wurden. Co-Forsch. 3: Und warum war das jetzt leichter? S60: Vielleicht weil man nicht so viel über das Land weiß. Weil man dann so eher so sieht, was … [Abbruch]. Wenn man das Bild sehen würde, wüsste man gleich, dass es Indien ist und bei unserem [eigenkulturelles Bild: ‚Fernsehen schauen‘] viel‐ leicht halt nicht. Co-Forsch. 3: Okay. 274 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="275"?> S59: Ich fand es nicht so leicht, weil Indien ist ja zugleich sehr mo‐ dern, aber zugleich auch sehr arm und - keine Ahnung - un‐ terentwickelt. S51: Ja, da weiß man halt nicht, was man jetzt aussuchen soll, das von den Reichen oder eher das von den Armen. S60: Ja, aber ich denke, wenn man so Bilder von den Armen sieht, dann weiß jeder gleich, dass es aus Indien kommt, deswegen war halt, fand ich das einfacher. Datenquelle: Z2 A2 Fo3 GI, 02: 11-02: 46 Bei allen Lernenden, die so oder in ähnlicher Weise formulierten, konnte die Reflexionsaufgabe das Bewusstsein für den Zusammenhang von stereotypisier‐ ender Darstellung und dem Umfang an verfügbarem Wissen zu fremdkultu‐ rellen Praktiken fördern. Dadurch konnten die Lernenden den Wert von Wissen für interkulturelle Kommunikation erkennen. Es wird dadurch auch deutlich, dass Wissenskompetenzen keine einfach erfassbare Kompetenz sind, da bei der Bewertung der Wissenskompetenzen immer wieder die (oft auch fachlich) schwierige Entscheidung zu treffen ist, ob die Lernenden Stereotypen oder dif‐ ferenziertes Wissen darbieten. Folgerung 40: Wenn Lernende zur Reflexion darüber angehalten werden, ob es beispielsweise in einer Aushandlungsphase leicht oder schwer war, kulturelle Repräsentationen auszuwählen, dann ergeben sich Lernchancen zur Reflexion der Bedeutung von Wissenskompetenzen in der interkultu‐ rellen Kommunikation. Die vierte Frage des Interviewleitfadens ‚Meint ihr, Frau Tagore, die gestern bei uns war, hätte die gleichen Fotos als repräsentativ herausgesucht? ‘ forderte die Schülerinnen und Schüler zum Perspektivenwechsel auf. Sie brachte für alle Lernenden ins Bewusstsein, was einige schon bei den drei vorangegangenen Reflexionsaufgaben bedacht hatten: Verschiedene Menschen empfinden ver‐ schiedene Bilder als repräsentativ für eine Kultur. Die Reflexionsaufgabe führte zu Perspektivenwechseln mit intrakulturellen Vergleichen innerhalb der fremden Kultur. Co-Forsch. 3: Und meint ihr jemand aus Indien, der die Fotos gesehen hätte, hätte dieselben Fotos ausgesucht wie ihr? 275 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="276"?> S51: Es kommt darauf an, ob es jetzt jemand war, der mehr Geld hat, oder ob es eher einer war, der arm ist. Ich denke, das hätte dann jeder für seine eigene Gruppe ausgesucht. Datenquelle: Z2 A2 Fo3 GI, 03: 11-03: 27 Auch die ( Jungen-)Gruppe, die bislang zu eher stereotypisierenden Vorstel‐ lungen neigte und darauf bestand, Indien mit Armuts-Klischees zu repräsen‐ tieren, kommt an dieser Stelle nicht umhin, die Gültigkeit von intrakultureller Vielfalt anzuerkennen. Im Gruppeninterview waren zunächst alle der Ansicht, dass es einfach war, Bilder zu Indien auszuwählen. Die Gruppe hatte dafür Fotos ausgewählt, die Armut zeigen. Im folgenden Dialog, wenn die Co-Forscherin 2 dann fragt, ob Frau Tagore, die indische Gaststudentin, dieselben Bilder ausge‐ sucht hätte, verneinen die Schüler. Durch die Impulse der Co-Forscherin er‐ hielten die Lernenden die Gelegenheit zu verstehen, dass die Interpretation kul‐ tureller Praktiken von Perspektiven abhängig ist und dass die Praktiken vielfältig sind. Co-Forsch. 2: Glaubt ihr, dass jemand aus Indien, zum Beispiel Frau Tagore, die gestern bei uns war, dass sie die selben Bilder ausgesucht hätte, wie ihr jetzt? S32: Nicht unbedingt. S36: Nein. S41: Man weiß ja nicht, aus was für einem Stadtteil oder so sie kommt. Vielleicht ist es dann noch mal etwas anderes. Co-Forsch. 2: M-h [bestätigend]. Wieso denkst du, S32, dass sie vielleicht andere Bilder genommen hätte? S32: Hm, sie hat ja gesagt, dass sie aus, aus dieser Kaste da kommt und dass sie das dann vielleicht nicht so kennt. Co-Forsch. 2: M-h [bestätigend], also du meinst jetzt speziell diese Armen-Bilder, die die Armut zeigen, dass sie die vielleicht nicht so kennt? S32: Ja, das glaub ich nicht, dass sie das so kennt. Weil sie bei Ban‐ gladesch oder so gewohnt hat [gemeint ist Manipur]. Datenquelle: Z2 A2 Fo2 GI, 03: 27-04: 02 Die Reflexionsaufgabe brachte einzelne Lernende dazu nicht nur einen Pers‐ pektivenwechsel in die andere Kultur vornehmen, sondern auch, aus der fremden Perspektive auf die eigene zurückschauen. Die Lernenden werden fle‐ xibler kulturelle Praktiken aus verschiedenen Standpunkten zu betrachten. 276 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="277"?> Co-Forsch. 1: S39, meinst du, dass eine Inderin genau die gleichen Bilder ausgewählt hätte wie ihr, oder hätte sie vielleicht für typisch indisch eher etwas anderes rausgesucht? S39: Kommt darauf an, aus was für einem … (kurze Pause wegen Begriffsunsicherheit) Stadium sie kommt, ob sie reich ist, arm oder so. Co-Forsch. 1: M-h [bestätigend]. Also du denkst, man macht das meistens aus dem Blickwinkel, wie man selbst ein Land erfährt, also wie ihr jetzt vielleicht auch bei Deutschland die ausgewählt habt, mit denen … [Satz wird unterbrochen von S39] S39: Die würden bestimmt auch andere Bilder auswählen für Deutschland, wie wir. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 04: 14-04: 40 Anschließend beschreibt diese Gruppe sehr differenziert, dass die Perspektive einer Person auf eine Kultur von ihrem subkulturellen Umfeld bestimmt wird. Im Hinblick auf die Problematik der Auswahl von repräsentativen Bildern re‐ flektieren die Lernenden selbstkritisch die Begrenztheit ihrer Wissensbestände. Co-Forsch. 1: M-h, ok. Woran liegt das, dass man das so macht? Anders wählen [andere Bilder]? S37: Ja, weil man … Jeder hat so seine eigene Sichtweise von den ganzen Sachen. S34: Vom Umfeld. S37: Eben. Genau. Co-Forsch. 1: Ist Euch die Auswahl schwer gefallen? S31: Ja, weil jeder etwas anderes unter ‚typisch‘ versteht. Co-Forsch. 1: M-h [bestätigend]. S31: Weil der eine sagt DAS ist typisch für Deutschland oder DAS ist typisch für Indien, und der andere sagt wieder das ist ty‐ pisch für Deutschland und das ist typisch für Indien. Es kommt immer drauf an, wo er halt lebt, was er gemacht hat und so. Co-Forsch. 1: M-h [bestätigend] […] Wenn man jetzt ein Bild auswählt, denkt Ihr da könnte vielleicht ein Vorurteil entstehen zu einem Land [gemeint ist Indien]? S40: […] Es ist schwer, weil wir nicht viel über das Land wissen. S37: Eigentlich können wir ja nur so Vorurteile ziehen. Wir haben ja keine richtigen Schlüsse sondern nur Vermutungen. Wir waren ja nie selber da. Datenquelle: Z2 A2 Fo1 GI, 04: 40-05: 54 277 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="278"?> Zur Frage, wie eine Kultur repräsentiert werden kann, schlagen die Lernenden auf Nachfrage eine geeignete Lösung vor: Kulturen sind vielfältig, sie müssen mit mehreren Bildern dargestellt werden, damit sich deren Angehörige reprä‐ sentiert fühlen. Mueller: Wenn wir jetzt für ein Haus den Taj Mahal [ins Schulbuch] nehmen, dann wissen wir ja eigentlich nicht, wie Inder wohnen. Was gibt es da für eine Lösung? S52: Beides rein. […] S58: Dass man mehrere Bilder reinmacht. S52: Es kommt darauf an, wieviel Geld die Leute haben, dann ist das ja wieder anders. Wenn das [Schulbuch] jetzt Leute [indische Schü‐ lerinnen und Schüler] kriegen, die weniger Geld haben und durch Glück zur Schule gehen, dann denken die sonst ‚So sind wir aber gar nicht‘. Datenquelle: Z2 A2 Fo6 GI, 08: 30-09: 14 Folgerung 41: Wenn Lernende die Aufgabe erhalten, für anderskulturelle Praktiken Repräsentationen auszuwählen (z. B. in Form von Fotos) und dann zu reflektieren, ob ihnen bekannte fremdkulturelle Personen (z. B. ein fremd‐ kultureller Gast) die gleichen Repräsentationen gewählt hätten, dann können sich die Lernenden darüber bewusst werden, dass die Auswahl von kultu‐ rellen Repräsentationen vom Lebensumfeld der Person abhängt. Wird das mit mehreren Personen durchgeführt, wird die fremde Kultur als heterogen erkennbar und ein zeitgemäßer Kulturbegriff vermittelt. Folgerung 42: Wenn aufeinanderfolgende Aufgabenschritte einen mehrfa‐ chen Wechsel zwischen den thematisierten Kulturen enthalten, dann werden Lernende bei der Übertragung von Lernerfahrungen (z. B. zu subkultureller Vielfalt) aus eigen-intrakulturellen Vergleichen auf fremd-intrakulturelle Vergleiche (verschiedene fremdkulturelle Personen würden verschiedene Repräsentationen ihres kulturellen Umfelds wählen) unterstützt. Folgerung 43: Wenn Aufgaben vorsehen, dass kulturelle Repräsentati‐ onen aus verschiedenen intrakulturellen Perspektiven reflektiert werden (z. B. a: eigenkulturell: eigene Perspektive, Perspektive eigener Großel‐ tern; b: fremdkulturell: Perspektive Frau Tagore, Perspektive eines Slum‐ bewohners), können sich die Lernenden darüber bewusst werden, dass große kulturelle Gruppen oder vermeintliche Nationalkulturen nicht mit einer oder wenigen Repräsentationen von kulturellen Praktiken (z. B. in Form von Bildern) dargestellt werden können. Die Idee einer ‚National‐ 278 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="279"?> kultur‘ wird dekonstruiert. Die Lernenden können erkennen, dass Ver‐ treter gleicher kultureller Praktiken mal große und mal sehr kleine sich überlappende Gruppen sein können. 7.5.4.3 Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Die ertragreiche Diskussion, ob nun das alltäglich Meistbenutzte oder das besonders Herausragende (hier: Regionalexpress versus ICE) stellvertre‐ tend für eine kulturelle Praktik stehen sollte, konnte in der beschriebenen Aufgabenerprobung anhand eines Beispiels einer Gruppe von Lernenden durchgeführt werden. Für den Fall, dass sich aus den Arbeitsprodukten der Lernenden keine solche Gelegenheit ergibt, sollte für die Aufgabe zur Sicherheit ein solches vorbereitetes Beispiel (z. B. Villa versus Mehrfami‐ lienhaus) zur Verfügung stehen. • Trotz eines bewussten Umgangs mit einem zeitgemäßen Kulturbegriff ist es in der Unterrichtspraxis kaum zu vermeiden, dass in einzelnen Situationen Länder (hier: Indien und Deutschland) einander gegenübergestellt werden. Es ist zu überlegen, ob dies geschehen kann, ohne dass damit die Vorstellung eines veralteten Kulturbegriffs unterstützt wird. In der vorliegenden Auf‐ gabe ging es um die Auswahl von Bildern für ein deutsch-indisches Schul‐ buch. Deswegen ist es zwangsläufig so, dass die Maßstabsebene ‚Nation‘ in der Aufgabenbearbeitung eine Rolle spielt. Da in der Aufgabenbearbeitung deren kulturelle Heterogenität aufgezeigt wird, und damit eventuell vorhan‐ dene pauschalisierende Zuschreibungen dekonstruiert werden, sehe ich die Aufgabe als bewusstseinsfördernd an. Alternativ könnte man die Aufgabe so formulieren, dass es z. B. um die kulturellen Repräsentationen von Partner‐ gemeinden geht (z. B. Maßstabsebene ‚Region‘). In jedem Fall sollten die Auf‐ gaben den Aspekt ‚Heterogenität‘ fokussieren. • Für fast alle dargestellten Daseinsgrundfunktionen war es mir gelungen in Aufgabenschritt D anderskulturelle Heterogenität vorzustellen (z. B. Vielfalt zum Thema housing, Anlage 2). Nur bei dem Thema ‚Entsor‐ gung‘ standen mir keine Bilder zur Verfügung, die gelungene anderskul‐ turelle Praktiken zeigen. Statt diese Daseinsgrundfunktionen unausge‐ wogen darzustellen (wilde Müllkippe, Abfälle am Seeufer), sollte hier besser die Bildrecherche ausgeweitet oder die Thematik mit den Lern‐ enden in besonderer Weise reflektiert werden. Letzteres würde wegen des Zeitbedarfs eine andere Aufgabenplanung erforderlich machen. 279 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="280"?> • Die Aufgabe ist sehr komplex, inhaltsreich und eher zu lang für 90 Minuten Unterricht. Sie enthält sowohl Phasen zu eigenwie zu fremdkulturellen Re‐ präsentationen. Dies ermöglichte den Lernenden zwar einerseits den Transfer von Mechanismen. Andererseits ist es auch verwirrend. Die Auf‐ gabe könnte getrennt werden in eine Aufgabe, die die Heterogenität von Kulturen fokussiert, und eine zweite Aufgabe, die den Lernenden Lern‐ chancen für Transfers von kulturellen Mechanismen erlaubt. Diese Ände‐ rung würde allerdings einen erheblichen Umbau der Aufgabe erfordern. • Würde man die Aufgabe wie oben beschrieben umbauen, entstünden Freiräume, in denen zusätzlich zu den individuellen Perspektiven auch mit statistischen Daten zu den Daseinsgrundfunktionen gearbeitet werden könnte. Dies würde die interkulturellen Wissenskompetenzen stärken und die vorliegenden Aufgaben näher an den klassischen Geo‐ graphieunterricht heranführen. • In der Aufgabe sollte besser mit dem Begriff ‚repräsentativ‘ als mit ‚ty‐ pisch‘ gearbeitet werden. Die Lernenden beschäftigten sich damit, was eine Kultur repräsentiert (‚what represents a culture‘; ‚what stands for a culture‘). Solch eine Repräsentation konnte etwas Alltägliches (Regional‐ express-Zug) oder etwas Besonders (ICE-Zug) sein. Der Begriff ‚reprä‐ sentativ‘ deckt die beiden Bereiche besser ab, als der Begriff ‚typisch‘. Optimierung der Datenerhebung • Die Datenerhebung wurde von fünf Co-Forscherinnen unterstützt. Neben der Kamerafrau standen vier extra für diesen Zweck geschulte studenti‐ sche Hilfskräfte zur Verfügung. Eindeutig als positiv ist ihr Einsatz bei der Beforschung von Lernendengruppen bei Gruppenarbeiten zu beur‐ teilen (vier von acht Gruppen konnten beforscht werden). Hier konnten zusätzlich wichtige Daten erhoben werden (z. B. dass Gruppe 8 den ICE als Kulturrepräsentant im Hinblick darauf gewählt hatte, dass er ein öf‐ fentliches Verkehrsmittel ist und nicht in Hinblick auf seine internatio‐ nale Außergewöhnlichkeit). Für den Einsatz der Co-Forscherinnen bei der Reflexionsaufgabe am Ende der Unterrichtsstunde fällt das Urteil weniger eindeutig aus. Durch die Aufteilung der Klasse in Gruppen kamen zwar mehr Lernende zu Wort und die Reflexion war sicherlich intensiver als bei der Reflexion mit der gesamten Klasse in Zyklus eins. Allerdings gab es in den Gruppen viele Impulse und Gedanken, die es wert gewesen wären, mit allen Klassenmitgliedern zu teilen. Ferner kann eine Reflexi‐ onsphase in betreuten Kleingruppen nicht als Vorbild für den Unter‐ richtsalltag als Aufgabenformat stehen, da einer Lehrkraft nur selten 280 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="281"?> Co-Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Diesbezüglich sollten alltagstaug‐ liche Alternativen erprobt werden, beispielsweise Formen der Selbstre‐ flexion der Lernenden, die Einbeziehung von Praktikanten, Lehramtsan‐ wärtern und Formen des Team-teaching. Oder die Lehrkraft reflektiert mit der ganzen Klasse die Aufgabe. 7.5.4.4 Fazit zur Aufgabe Die vorliegende Auswahlaufgabe zu kulturellen Repräsentationen hinsichtlich der Daseinsgrundfunktionen hat im Wesentlichen zwei Ergebnisse erbracht. Auswahlaufgaben mit anschließender Reflexion, ob andere Personen im fremd- oder eigenkulturellen Umfeld die gleiche Wahl getroffen hätten, sind geeignet, den Lernenden bewusst zu machen, dass es auch innerhalb von vermeintlich homogenen Kulturen unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich dessen gibt, was eine Kultur repräsentiert. Die Lernenden entwickelten auf diese Weise eine Sensibilität für die Heterogenität von Kulturen. Für die Lernenden waren diese unterschiedlichen Perspektiven besonders dann leicht einsichtig, wenn sie den Perspektivenwechsel zu konkreten bekannten Personen durchführen sollten (z. B. ihren eigenen Großeltern oder Frau Tagore, der indischen Gaststudentin). Die Vermittlung eines modernen heterogen geprägten Kulturbegriffs wird durch diese Kombination ‚Auswahlaufgaben mit Perspektivenwechsel‘ und anschließ‐ ender Aufgabenreflexion gefördert. Reflexionen dazu, was denn nun repräsen‐ tativ für eine Kultur sei - das Spektakuläre oder das Alltägliche - fördern eben‐ falls einen an der Alltagskultur orientierten Kulturbegriff. 281 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="282"?> 7.5.5 Comparing our jobs with Ashok’s job in Kanchipuram - Eigen- und anderskulturelle Praktiken des Gelderwerbs von Jugendlichen vergleichen erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kanchipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an In‐ dian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 11: Position von Aufgabe 4 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.5.1 Darstellung von Aufgabe 4 im zweiten Forschungszyklus Ziele: kulturelle Praktiken vergleichen und reflektieren; fremdkulturelle Prota‐ gonisten als rational Handelnde in ihrem kulturellen Umfeld anerkennen; die Problematik Kulturrelativismus versus Menschenrechten diskutieren. Rahmenbedingungen: Dauer 90 Minuten; im Klassenzimmer. Besondere Hinweise: Die vorliegende Aufgabe zum Gelderwerb von Jugendlichen in eigen- und fremdkulturellen Kontexten bedient sich u. a. der Aktionsform Rollenspiel. Dabei treten die Lernenden nicht wie bei einigen anderen Aufgaben des Projekts mit indischen Partnern direkt oder indirekt in Kontakt, sondern 282 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="283"?> alle Aufgabenschritte sind Aushandlungsprozesse unter den Lernenden der Klasse, die phasenweise fremdkulturelle Rollen übernehmen. Mögliche fremd‐ kulturelle Praktiken werden mittels einer BBC-Reportage zur Seidenproduktion in Kanchipuram (Indien) vorgestellt. In dieser Aufgabensequenz weiche ich leicht vom bisherigen Schema ab. Da Aufgabenschritt D die beiden recht zeitaufwändigen Schritte „Aushandlungs‐ prozesse zu den Rollen in Gruppen“ und „Rollenspiel“ enthält, wird Aufgaben‐ schritt B „Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsicht‐ lich anderskultureller Praktiken aus“ gestrichen. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgabe 4 des 2. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Die Lernenden notieren als vorberei‐ tende Hausaufgabe ihre Erfahrungen zu den folgenden Fragen: What job(s) have you already done to earn (po‐ cket-)money? Where? How old were you when you started? How many hours per week? How many Euros per hour did you earn? Why did you do it? Did/ do you like the job? Im Unterricht tauschen sich die Lern‐ enden in Gruppen zu ihren Ergeb‐ nissen aus und bereiten sich darauf vor, über ihre Erfahrungen in der Klasse zu berichten. LK: Tell your group about your jobs. Be ready to present your homework in class. Mehrere Lernende präsentierten ihre kulturellen Praktiken hinsichtlich ju‐ gendlichen Gelderwerbs. Die LK fragt, ob die präsentierten Tätigkeiten legal Ip: Beiträge der Mitschülerinnen und Mitschüler zu deren Jobs; As: Wortschatz; Ai: Bewertung, ob ihre Jobs legal sind, Grundkenntnisse Arbeits‐ schutz-Recht; Ui: Strukturierung der Lernerbeiträge durch kleinschrittige Fragen; bei Be‐ darf Input zur Arbeitsschutz-Gesetz‐ gebung; Us: Wortschatzvorgaben aus den Fragen; SA: zuhause EA, im Unterricht GA und Unterrichtsgespräch; Mo: Schülerrelevanz und Lebenswelt‐ bezug des Themas; Interesse an den Erfahrungsberichten der Mitschüler; AP: Notizen zu eigenen Erfahrungen hinsichtlich Ferienjobs oder anderen Jobs; Präsentation der Erfahrungen hinsichtlich Jobs vor der Klasse. 283 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="284"?> sind. Bei Bedarf stellt sie die rechtliche Situation gemäß deutschem Jugendar‐ beitsschutzgesetz vor. LK: Are your jobs child labour? Are they allowed or forbidden? C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Die Informationen zu einer mögli‐ chen Ausprägung der fremdkultu‐ rellen Praktiken werden am Fallbei‐ spiel des 13-jährigen indischen Protagonisten Ashok Kumar aus Kan‐ chipuram gegeben. Zunächst erfolgt eine Verortung mit‐ tels Satellitenbildern aus Google Earth®: Kanchipuram wird herange‐ zoomt. Die Lernenden erhalten eine Tran‐ skription der Texte der Filmse‐ quenzen zum Mitlesen und schauen die Reportage zwei Mal an. Zwischen‐ durch haben sie die Gelegenheit, Fragen zu stellen. LK: You’ll see the video twice. You can either read along first and watch the pictures later or the other way round. Later we’ll compare the boy’s job in the film with your jobs. Ip: 8-minütiger Ausschnitt aus der BBC-Reportage India’s Silk Slaves (2007) von D. Grammaticas zu einem Fallbeispiel eines 13-jährigen bonded labourer; Ai: Auseinandersetzung mit den Le‐ bensbedingungen eines indischen Ju‐ gendlichen; As: Verstehen einer authentischen britischen Reportage, die auch Pas‐ sagen von recht schwer verständ‐ lichem indischen Englisch enthält; Ui: vorangegangene Diskussion zu den eigenkulturellen Praktiken; Ver‐ anschaulichung des Handlungsortes mittels Google Earth®: www.google.c om/ maps/ @12.8207274,79.7151645,258m/ data=! 3m1! 1e3 Us: Kürzung der Reportage; Film wird zwei Mal angeschaut; SuS erhalten transkribierten Text mit einzelnen Übersetzungen; Nachfragemöglich‐ keit für SuS zwischen den beiden Film-Präsentationen; Unterbrechung des Films für Erläuterung; SA: gemeinsames Anschauen des Vi‐ deos, Unterrichtsgespräch; Mo: hohe Konkretisierung und au‐ thentisches Anschauungsmaterial; jugendlicher Protagonist ermöglicht Identifikation; AP: Verständnisfragen zur Reportage. A) & C) Lernende vergleichen eigen- und anderskulturelle Praktiken Nach dem Anschauen des Filmes er‐ halten die Lernenden die Aufgabe, den Job von Ashok mit ihren Jobs zu vergleichen. Mögliche Vergleichs-Ka‐ Ip: Input durch Mitschüler zu deren Jobs und Input durch den Film zu den Arbeitsbedingen eines Fallbeispiels; 284 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="285"?> tegorien können sie aus den Fragen der Hausaufgabe (s. o.) beziehen. LK: Compare Ashok’s job with your jobs. What is the same? What is diffe‐ rent? Ai: Daten aus beiden Quellen für den Vergleich präsent haben; As: freie Interaktion/ Diskussion; Ui & Us: für die Lernenden einseh‐ bare Notizen zu den ‚Jobs’ der SuS; SA: Unterrichtsgespräch; Mo: Motivation aus den Inhalten he‐ raus: zu erwartender Kontrast zwi‐ schen den Jobs der SuS und Ashok’s Job; AP: vergleichende Aussagen. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Mittels eines Rollenspiels erarbeiten die Lernenden, dass es auch innerhalb der indischen Gesellschaft unter‐ schiedliche Perspektiven auf die in diesem Fall ausbeuterische Arbeit von Jugendlichen gibt. Die Lernenden er‐ arbeiten in acht Gruppen die Perspek‐ tiven von vier Figuren aus der BBC-Reportage. Danach wird das Rol‐ lenspiel durchgeführt. Should Ashok go on working in his job? Argue from the perspective of your role. Prepare your role in your group (G). G1 & G5 represent Ashok’s grandmo‐ ther. G2 & G6 represent Father Martin, a priest. G3 & G7 represent Ashok’s boss. G4 & G8 represent Ashok. Mr. Mueller represents the administ‐ rator. Take notes for the discussion. Nach dem Rollenspiel sehen die Lern‐ enden die letzte Szene der Reportage, die zeigt, welchen weiteren Verlauf Ashoks Leben nimmt. Ip: Vorgabe der Rollen und des set‐ tings; Ai: Wirkungsgefüge des dargestellten Falles verstehen und rollengerechte Argumente finden; As: Diskussion in englischer Sprache anhand von Notizen; Ui: Transkription des Textes der Re‐ portage (während der GA-Phase); Im‐ pulse der LK (während des Rollen‐ spiels); Us: Transkription des Textes der Re‐ portage (während GA); Satzanfänge für Argumentation als language sup‐ port; Notizen aus der GA-Phase und spontane Unterstützung durch die LK (im Rollenspiel); SA: zunächst GA, dann Rollenspiel; Mo: Interaktion; ganzheitliche, spie‐ lerische Lernerfahrung; AP: Stellungnahme der SuS im Rol‐ lenspiel aus der Perspektive ihrer Rolle heraus. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse In der Reflexionsphase nehmen die Lernenden insbesondere dazu Stel‐ lung, wie sie die Übernahme einer fremden Perspektive im Rollenspiel empfanden und wie sie zu bonded la‐ bour stehen. Ferner diskutieren sie, ob Ip: Reflexionsimpulse; Ai: eigene Vorstellungen reflektieren; Perspektivenwechsel vornehmen; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; 285 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="286"?> es weltweit gleiche Regeln geben sollte, oder ob es je nach Tradition und Bräuchen auch unterschiedliche Regeln geben kann. Einstieg: für Schüler, die gearbeitet haben: Wie viel Geld habt ihr dafür be‐ kommen? Was habt ihr mit dem Geld gemacht? Wenn ihr jetzt an das Rollenspiel denkt: Wie fandet ihr eure Rolle? Gab es Rollen, die ihr lieber gespielt hättet? Welche? Warum? Wenn du dich jetzt in Ashoks Rolle ver‐ setzt, was würdest Du an seiner Stelle machen? Aber: Warum setzen sich indische Kinder wie Ashok so selten zur Wehr? Wie ist eure eigene Meinung zur Kin‐ derarbeit? Was sollten Kinder tun dürfen? Was sollte verboten sein? Sollten die Regeln für Kinderarbeit auf der ganzen Welt gleich sein, oder sollte es für die verschiedenen Kulturen, Tra‐ ditionen und Bräuche verschiedene Re‐ geln geben? Hättest Du eine andere Meinung zu Kinderarbeit, wenn Du in Kanchi‐ puram in einer armen Familie aufge‐ wachsen wärst? Wie kommt es, dass Menschen in dieser Frage z.T. unterschiedliche Stand‐ punkte haben? Achtet Ihr beim Einkauf darauf, unter welchen Bedingungen Eure Kleidung hergestellt wurde? Ui: spontane Nachfragen und Impulse der Interviewenden; SA/ Mo: intensive Diskussion in Kleingruppen, evtl. Betroffenheit; AP: Stellungnahmen der Lernenden. Tab. 12: Planung von Aufgabe 4 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.5.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: In der hier vorgestellten vierten Aufgabe des zweiten Forschungszyklus vergleichen und reflektieren die Lernenden kultur‐ elle Praktiken zum Thema Arbeit von Jugendlichen. Im Vergleich zum ersten Zyklus hat diese Aufgabe selbst keine wesentlichen Änderungen erfahren. Al‐ lerdings wurde im zweiten Zyklus Aufgabe 6 zur ‚Ausbildung von Softwareent‐ wicklern aus Pune‘ neu hinzugenommen, die hinsichtlich Leben und Ausbildung 286 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="287"?> von Jugendlichen mehr fremdkulturelle Heterogenität in die Unterrichtseinheit einbringt. Zu den unwesentlichen Änderungen bei Aufgabe 4 gehörten, dass die Auseinandersetzung mit den eigenkulturellen Praktiken dank verbesserter Un‐ terrichtsorganisation in die vorbereitende Hausaufgabe verlagert werden konnte und dass die Schüleraussagen zu den eigenkulturellen Praktiken schrift‐ lich festgehalten wurden, um den später folgenden Vergleich mit fremdkultu‐ rellen Praktiken zu erleichtern. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (allgemein) • Audioaufnahmen der Gruppenaushandlungsprozesse • Lernertexte: Notizen für Rollenspiel • Video-/ Audioaufnahme des Rollenspiels • Audioaufnahmen der Reflexionsphase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscherinnen von IKL-relevanten Lerneraus‐ sagen A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Wie es schon bei anderen vorbereitenden Hausaufgaben zur eigenkulturellen Praxis während des ersten und zweiten Zyklus des Projekts zu beobachten war, erledigten die Lernenden diese Aufgaben zuverlässig und berichteten in der Klasse gerne über die eigenen Erfahrungen. Im Unterricht waren zwei ausführ‐ liche Beiträge vorgesehen, doch weitere Lernende wollten ebenfalls vortragen. Die zu dieser Aufgabe berichteten Arbeitserfahrungen der Neuntklässler be‐ schreiben Jobs als Babysitter, Zeitungsausträger, Hausmeistergehilfe, Gast‐ stätten-Bedienung, Erntehelfer u. ä. Der Unterrichtsmitschnitt zeigt die hohe Aufmerksamkeit der Lernenden, wenn ihre Klassenkameraden auf Englisch von ihren Arbeitserfahrungen berichteten. Offensichtlich war die Thematik für die Lernenden relevant und der persönliche Bezug wirkte motivationsfördernd. Während mein Impuls, ob die genannten Jobs legale Beschäftigungen seien, im ersten Forschungszyklus die Klasse etwas verunsicherte, und ich der Klasse die Arbeitsschutzbestimmungen für Deutschland in Kurzform als Kriterien zur Be‐ urteilung vorstellen musste, war die neunte Klasse des zweiten Forschungs‐ zyklus diesbezüglich aus dem Gemeinschaftskundeunterricht sehr gut infor‐ miert und konnte unter Berufung auf relevante Kriterien (Alter, Umfang der Arbeitszeit, Art der Arbeit) begründet darstellen, weshalb die Lernenden, die ihre Jobs vorgestellt hatten, gesetzeskonformen Tätigkeiten nachgingen. 287 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="288"?> 1 Grammaticas, Damian (2007): Our World - India's Silk Slaves. London: BBC. Die komplette Reportage bestehend aus drei Teilen: https: / / www.youtube.com/ watch? v=JPf_l6-zj-Y (letzter Zugriff: 31.03.2017) https: / / www.youtube.com/ watch? v=ptalL-EWnEQ (letzter Zugriff: 31.03.2017) https: / / www.youtube.com/ watch? v=H5jIasiA2uA (letzter Zugriff: 31.03.2017) Folgerung 44: Wenn Lernende zu Beginn einer Aufgabe den Auftrag er‐ halten, sich mit ihren eigenen eigenkulturellen Erfahrungen auseinander zu setzen, dann bewirkt dies eine besondere Motivation bei den Lernenden, sich engagiert zur Thematik in den Unterricht einzubringen. Solcherlei Hausauf‐ gaben werden motiviert erledigt. In der Kommunikationssituation mit den Mitschülerinnen und Mitschülern werden authentische Inhalte ausge‐ tauscht. Die Lernenden berichten über sich selbst und erfahren Relevantes und häufig auch Unbekanntes über die anderen. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Nach der Auseinandersetzung mit den eigenkulturellen Praktiken hinsichtlich der Arbeit von Jugendlichen hielt ich es für angemessen, im nächsten Schritt direkt die Informationen zu den fremdkulturellen Praktiken anzuschließen und nicht erst das Vorwissen meiner Lernenden zu den fremdkulturellen Praktiken auszuloten. Den Spannungsbogen zu erhalten, im vorgegebenen Zeitrahmen zu arbeiten und bei Bedarf auch die Zeit dafür zu haben, flexibel auf die Bedürfnisse der Lernenden einzugehen, erschienen mir besonders wichtig. Zur Verortung der Handlung der Reportage zoomte ich mittels Satellitenbildern aus Google-Earth langsam an die Stadt Kanchipuram in Südindien heran (Quelle: google.com). Dass die im Satellitenbild gezeigten Häuser denen im anschließend folgenden Film ähnlich sahen, erhöhte die Glaubwürdigkeit der Filmreportage zusätzlich. Die Lernenden wurden darauf hingewiesen, dass es in der Filmre‐ portage um einen Jugendlichen in Kanchipuram geht und dass wir seine Arbeit mit ihren Jobs anschließend vergleichen würden. Die BBC-Reportage „India’s Silk Slaves“ von Damian Grammaticas aus dem Jahr 2007 handelt von einem 13-jährigen bonded labourer, der in Kanchipuram, Südindien, in der Seidenstoffindustrie arbeitet 1 . Die gesamte Reportage dauert 21 Minuten. Davon wurden 8 Minuten im Unterricht gezeigt, in denen die zentralen Probleme und Aussagen des untersuchten Falles dargestellt sind. In der ersten gezeigten Szene erkundet der BBC-Reporter Damian Grammaticas das Nebenge‐ bäude eines Hauses, in dem an Webstühlen Seidenstoffe produziert werden. Einer der Arbeiter ist der Protagonist der Reportage, Ashok Kumar. Auf Nachfragen des 288 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="289"?> Reporters berichtet er von seiner Arbeit und seinem Leben. In der nächsten Szene befragt der Reporter Ashok’s Arbeitgeber zu dessen Arbeitsbedingungen. Der boss berichtet erstaunlich offen von Ashoks harten Arbeitsverpflichtungen und dessen Schuldknechtschaft (bonded labour). Diese Schuldknechtschaft ist dann auch das Hauptthema, wenn der Reporter Ashok nach Hause begleitet und dessen Groß‐ mutter zu ihren und Ashoks Lebensbedingungen befragt. In der letzten von mir zunächst gezeigten Szene konfrontiert der BBC-Reporter den lokalen Regierungs‐ beamten (collector) vor laufender Kamera mit seinen Recherchen und fordert ihn auf, Ashoks Arbeitgeber gemäß indischen Rechts juristisch zu belangen. Der col‐ lector gibt sich ahnungslos hinsichtlich solcher Praktiken und beschwichtigt. An dieser Stelle unterbrach ich die Reportage für die zentrale Aufgabe. Die Lern‐ enden sollten aus der Perspektive verschiedener Rollen über die Fortführung von Ashok’s Arbeitsverhältnis diskutieren und damit auch über den Fortgang der Re‐ portage spekulieren. Spekulationsaufgaben zu Filmen gelten als besonders moti‐ vierend, da sie auf den weiteren Handlungsverlauf neugierig machen. Sie greifen dafür den problemorientierten Ansatz auf, auf der Basis von ersten Informa‐ tionen Hypothesen zu bilden, die später verifiziert bzw. falsifiziert werden können (vgl. Schuler 2013). Willis und Willis sehen prediction tasks ebenfalls als „excellent preparation for content-based learning“ an (Willis, D. & Willis, J. 2007: 97). Nach Gruppenarbeit und Rollenspiel sahen die Lernenden dann gegen Ende des Unter‐ richts den Schlussteil der Reportage. Der Reporter Damian Grammaticas zwingt mittels öffentlicher Aufmerksamkeit durch die Kamera die örtlichen Behörden dazu, Ashok aus der Schuldknechtschaft zu befreien und seinen Arbeitgeber vor Gericht zu stellen. In den letzten Einstellungen wird Ashoks Leben ein Monat nach Ende der Reportage gezeigt. Er geht nun zur Schule. Die BBC-Reportage, die auch Passagen mit Indian-English enthält, erschien mir in ihrer Originalfassung als sprachlich sehr anspruchsvoll für Klassenstufe 9. Zur sprachlichen Unterstützung der Lernenden war die dann im Unterricht verwendete Fassung der Reportage nicht nur um mehr als die Hälfte gekürzt, sondern wir schauten den ersten Teil der Reportage auch zwei Mal an, der Re‐ portagen-Text lag den Lernenden schriftlich vor, im transkribierten Text waren 20 Begriffe übersetzt und ich unterbrach den Film an zwei Stellen zur Klärung von Begriffen. Die Lernenden bekundeten, dass die sprachlichen Schwierig‐ keiten unter diesen Bedingungen angemessen waren (vgl. Unterrichtsvideo Mi‐ nute 28: 55). Sie erhielten die Wahlmöglichkeit, beim ersten oder zweiten An‐ schauen des Films den transkribierten Filmtext mitzulesen. Fast alle Lernenden schauten zunächst den Film an und nutzen den Text erst gegen Ende des ersten Durchgangs oder im zweiten. Die Klasse war durchgehend konzentriert, es gab keine Seitengespräche. 289 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="290"?> Folgerung 45: Auch wenn das den Unterrichtsstunden zu Grunde liegende Artikulationsmodell insgesamt als geeignet für den Aufbau und die Gliede‐ rung von Aufgaben für das interkulturelle Lernen angesehen wird, empfiehlt sich für jede Stunde eine kritische Prüfung, ob der Einbezug aller Schritte den meisten Erfolg verspricht. Wenn beispielsweise die Beschäftigung mit den eigenkulturellen Praktiken wichtig und zeitintensiv ist, kann es schon in der Planung (task-as-workplan) empfehlenswert sein, im Gegenzug die Vorwissenserhebung zu fremden Kulturen zu streichen. Folgerung 46: Wenn in Aufgaben authentische Medien verwendet werden, die für die Fremdsprachenkompetenzen der Lernenden eigentlich zu an‐ spruchsvoll sind, dann ist die Lehrkraft aufgefordert, zum einen die Kom‐ plexität der verwendeten Medien zu verringern, ohne dass die Authentizität leidet, und zum anderen mit entsprechender Unterrichtsmethodik die sprach‐ lichen Defizite zu kompensieren. Bei dem Einsatz von Filmen wurden er‐ folgreich eingesetzt: Kürzen des Films, wiederholtes Anschauen der ausge‐ wählten Passagen, transkribierter Filmtext zum Mitlesen, Annotation/ Übersetzungen bei schwierigen Begriffen, Pausen für Fragen der Lernenden und Erläuterungen der Lehrkraft. A) & C) Lernende vergleichen eigen- und anderskulturelle Praktiken Nach dem Input (Video BBC-Reportage) sollten die Lernenden Stellung dazu nehmen, ob Ashoks Arbeitsverhältnis legal ist oder nicht. Die Lernenden be‐ gründeten anhand von fünf aus der Reportage entnommenen Argumenten, dass die Beschäftigung des Protagonisten Ashok illegal ist. Die im ersten Aufgaben‐ schritt anhand eines Kriterienrasters notierten eigenkulturellen Erfahrungen der Lernenden mit ihren Taschengeldjobs dienten nun für einen intensiven Ver‐ gleich mit Ashoks Arbeitsbedingungen (S44: „We make that freely and they not.“; S47: „He makes it for the family and we make it for us.“; S51: „In Germany you must be older for such a job.“). Mit spontanen Rechenexempeln („How long must Ashok work to buy S60’s saddle? “ [S60 berichtete zuvor, dass sie ihren Job ma‐ chen würde, um sich einen neuen Reitsattel zu kaufen]) veranschaulichte ich die Disparitäten. Es entstand ein intensives Unterrichtsgespräch. Mein Angebot, bei Bedarf in die deutsche Sprache zu wechseln, wurde nur in sehr wenigen Einzelfällen angenommen. Untersucht man den Unterrichtsmitschnitt auf Schü‐ leräußerungen, die auf interkulturelles Lernen schließen lassen, zeigen sich eine Reihe von Aussagen, die die kognitive Durchdringung der Reportage belegen (S32: „They need the money to survive“; S44: „He works every waking hour“; S56: „They have Schulden“; S47 „The grandmother did take him to the job“). 290 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="291"?> Hingegen affektive Elemente des interkulturellen Lernens und insbesondere attitudes (Byram 1997: 50) sind bei der Aufgabe des Vergleichens in den verbalen Äußerungen der Lernenden kaum nachzuweisen. Sie zeigen sich eher para- oder non-verbal, beispielsweise, wenn sich die Lernenden gegenseitig bedeutsam an‐ schauen, als allen klar wird, wie viele Jahre Ashok für den Reitsattel von S60 arbeiten müsste (vgl. Unterrichtsvideo 7, 47: 40). Folgerung 47: Wenn Aufgaben gemäß des vorgestellten Phasenmodells konzipiert sind [verkürzt: A) eigenkulturelle Praktiken (K1) bewusst machen; B) Vorwissen zu anderskulturellen Praktiken (K2) sammeln; C) Input zu K2; D) K1 und K2 vergleichen sowie Perspektiven aushandeln; E) Reflexion], dann zeigen sich in den Phasen A-C interkulturelle Kompetenzen zumeist als kognitive Operationen. Dies entspricht auch den Aufgabenstellungen, die den Lernenden kognitive und fertigkeitsbezogene Operationen abverlangen. Affektive und einstellungsbezogene Kompetenzen zeigen sich tendenziell eher in den letzten Phasen des Unterrichtsmodells, wenn Aushandlungspro‐ zesse stattfinden, mit Perspektiven operiert wird und die Aufgaben reflektiert werden. Selbstverständlich sind die ersten Phasen der Aufgaben unver‐ zichtbar. Sie schaffen die Grundlage für z. B. Empathie, Perspektivenbewusst‐ sein und Reflexion in den letzten Phasen der Aufgabenfolge. Folgerung 48: Wenn eine Aufgabe die Lernenden dazu auffordert, eigen- und fremdkulturelle Praktiken und Repräsentationen miteinander zu ver‐ gleichen, dann kann daraus eine produktive Spannung und Problemstellung entstehen, die die Lernenden dazu motiviert, sich mit unterschiedlichen kulturellen Praktiken intensiv auseinander zu setzen, sie aufeinander zu be‐ ziehen und persönlich Stellung zu nehmen. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Für das Rollenspiel wurde die Klasse in acht Gruppen eingeteilt, nachdem die Aufgabenstellung geklärt und Hinweise zum language support gegeben wurden. Jeweils zwei Gruppen erarbeiteten aus der Perspektive ihrer Rolle heraus Argu‐ mente dafür, ob Ashok in seinem problematischen Arbeitsverhältnis weiterar‐ beiten sollte oder nicht (Should Ashok go on working in his job? ). Die Lernenden übernahmen die Rollen von Ashok (Gruppe 4 & Gruppe 8), Ashoks Großmutter (G1 & G5), dem Priester Father Martin (G2 & G6) und Ashoks Arbeitgeber (G3 & G7). Ich übernahm die Rolle des collectors (local administrator) und damit später auch die Moderation des Rollenspiels. Die Lernenden erhielten für die Ausarbei‐ 291 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="292"?> tung der Argumente ca. 10 Minuten Zeit. Das Unterrichtsvideo belegt die durchweg konzentrierte Arbeitsatmosphäre während der Gruppenarbeitsphase. Vier der acht Gruppen konnten durch Co-Forscherinnen bei ihren Aushand‐ lungsprozessen beforscht werden. Gruppe 5, eine reine Jungengruppe, die sich bislang eher distanziert und abgeklärt gab, erfasste die Aufgabe schnell („Du musst Dich jetzt in die Lage der Großmutter versetzen“). Sie hatten zunächst Probleme, sich auf die Perspektive einzulassen, nahmen sie dann aber an. S32 und S41 zeigten bei ihren Überlegungen zur Perspektive der Großmutter inter‐ kulturelle Kompetenzen, die aus meiner Sicht deutlich über ein kognitives Ver‐ gleichen des vorangegangenen Aufgabenschritts hinausgehen: S32: Ja, aber eigentlich sollte sie [die Großmutter] eine andere Lösung finden [als dass Ashok arbeiten muss]. S41: Was für eine Lösung? Anstatt arbeiten gehen? Sag mir eine! S32: Vielleicht [sollte] nicht der Junge arbeiten gehen? S41: Die Oma ist vielleicht schon so alt, dass sie nicht mal mehr laufen kann! S32: Ja, aber überleg’ doch mal. Wenn er Schule macht und wenn er eine Aus‐ bildung hat, kann er später viel mehr Geld bringen. Wenn er keine hat, was macht er dann? S41: Die brauchen aber JETZT [betont] das Geld, nicht später! S32: Stimmt auch wieder. Aus ihrer [Großmutters] Sicht ist es [dass Ashok arbeitet] wahrscheinlich richtig, aber … S41: Haja [S41 sieht sich bestätigt] S32: Von außen gesehen ist es halt … [Abbruch] S41: Der Father Martin, der findet das wahrscheinlich auch blöd. […] [Die Gruppe klärt organisatorische Aspekte für die Erstellung des Pro‐ dukts] S32: Ich glaube, sie denkt auch nicht, dass das okay ist, aber sie hat keine Wahl. Sie braucht das Geld. S41: Ja, stimmt. Datenquelle: Z2 A4 Fo2 Aushandlung, 01: 37-04: 15 Gruppe 5 war sich einig darüber, dass die Ausbeutung von Ashok eigentlich nicht hinnehmbar ist. Der Dialog oben zeigt ihre Überlegungen zu möglichen Handlungsoptionen. Während S32 dafür argumentierte, dass auch die grand‐ mother arbeiten gehen könnte, entgegnet S41, dass Ashok eigentlich keine andere Wahl hat, als zu arbeiten. Besonders spannend sind hier die Aussagen von S32. Auf der kognitiven Ebene durchschaut er die Problematik, der Fort‐ schreibung der Armut durch fehlende Bildung. Diesbezüglich hatten wir im Unterricht bis dahin nur angesprochen, dass Ashok nicht zur Schule gehen 292 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="293"?> kann und noch nicht die Konsequenzen diskutiert. Dann nimmt er die Pers‐ pektive der grandmother ein, um festzustellen, dass die Handlungsweisen von Ashok und seiner Großmutter aus ihrer Perspektive Sinn ergeben („Aus ihrer Sicht …“) und erkennt sie damit als rational Handelnde in ihrem kulturellen Umfeld an. Und schon bei seiner nächsten Aussage wechselt er in eine west‐ liche Perspektive („von außen gesehen“), um festzustellen, dass sich aus west‐ licher Sicht die Sache anders darstellt. Er führt den Satz nicht ganz zu Ende, es ist aber davon auszugehen, dass er mit einer negativen Einschätzung enden würde. Auch deswegen, weil S41 die negative (westliche) Einschätzung auf‐ greift und eine Perspektive im Reportagenkontext dafür findet: „Der Father Martin, der findet das wahrscheinlich auch blöd“. Die letzte Aussage von S32 weist auf besonderes Empathievermögen hin: Er spürt die Dilemmasituation der Großmutter nach. Dabei formuliert er vorsichtig und stellt der Aussage seine Perspektive voran („Ich glaube, sie denkt auch nicht, dass das okay ist, aber sie hat keine Wahl …“). Aus meiner Sicht hat die Gruppe das Potential dieser Lernaufgabe sehr gut genutzt, um sich unterschiedlicher Perspektiven bewusst zu werden und die Dilemmata zu ergründen. Als Aufgabenprodukt für das Rollenspiel formulierten sie zu ihrer Rolle (grandmother) „I think, it’s not OK [that Ashok must work], but we need the money to pay the debts back. So we have no choice, because I’m too old for work“ und stellten ihre Position so auch im Rollenspiel vor (s. u.). Wie teilweise auch in den anderen Gruppen ist dieses Ergebnis sehr kurz formuliert. Einem kurzen Fazit kann allerdings ein komplexer Aushandlungsprozess vorangegangen sein. Wie schon zum Aushandlungsprozess „Can you say something in Indish“ darge‐ stellt (siehe S. 227), erfolgte die inhaltliche Aushandlung bei Gruppenarbeiten in den neunten Realschulklassen zunächst auf Deutsch. Die Vorgaben zum Aufgabenprodukt erforderten dann aber die Nutzung von Englisch. Folgerung 49: Wenn Aufgaben a) fremdkulturelle Praktiken unter hoher Konkretisierung vorstellen (z. B. Filmreportage), b) die Lernenden zumindest eine andere Perspektive auf die fremdkulturellen Praktiken einnehmen müssen (Imagine you are …) und c) durch kontroverse Aushandlungsprozesse eine Auseinandersetzung mit den Verhaltensoptionen von den vorgestellten Personen einfordern (z. B. Gruppenarbeit zu einer Rolle im Rollenspiel), dann kann dies die Entwicklung eines Perspektivenbewusstseins der Lernenden fördern. Folgerung 50: Fremdkulturelle Personen werden von den Lernenden als in ihren kulturellen Kontexten rational Handelnde verstanden, wenn die Auf‐ gaben so gestaltet sind, dass diese kulturellen Kontexte umfassend dargestellt 293 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="294"?> werden, die Lernenden Handlungsoptionen aus den Perspektiven dieser Per‐ sonen abwägen sollen und dabei insbesondere erkennbar wird, in welchen Dilemmata und Rollenzwängen die fremdkulturellen Protagonisten stehen. Die anderen drei beforschten Lernendengruppen (es wurden vier von acht be‐ forscht) deckten die drei weiteren Rollen ab: Father Martin (priest), Ashok’s boss und die grandmother of Ashok. Die Analyse der Aushandlungsprozesse ergab interessante Gemeinsamkeiten. In allen vier beforschten Gruppen wurde zu‐ nächst die grobe inhaltliche Ausrichtung des Standpunkts auf Deutsch ausge‐ handelt. Erst danach erfolgte die Formulierung des Aufgabenprodukts für das Rollenspiel in englischer Sprache. In allen Gruppen waren das keine abge‐ schlossenen aufeinanderfolgenden Prozesse, sondern inhaltliche Aushand‐ lungen und sprachliche Erarbeitung wechselten einander ab (siehe S. 227). Bei‐ spielsweise die Gruppe, die die Rolle von Father Martin vertrat, formulierte zunächst „We are against that Ashok works“. Dann beschrieb eine Schülerin das Dilemma von Ashok und meinte „Aber die brauchen das Geld ja auch“, wor‐ aufhin die Gruppe das Aufgabenprodukt ergänzte. Es hieß nun „We are against that Ashok works, but his family needs the money“ und implizierte, dass Ashok weiter in seinem ausbeuterischen Arbeitsverhältnis bleiben solle. Dies erschien den Lernenden andererseits aber zu hart Ashok gegenüber, und auf der Suche nach Alternativen meinte eine Schülerin „Warum geht die Oma nicht arbeiten? “, woraufhin das das Arbeitsprodukt um den Satz ergänzt wurde „The grandma should work, too“. Als weiteren Kompromiss diskutierte die Gruppe dann noch den Umfang der Arbeitszeit, und eine Schülerin meinte: „Er sollte vielleicht we‐ niger arbeiten“. Auch dies mündete in das Aufgabenprodukt ein, welches in seiner vierten Fassung dann lautete „We are against that Ashok works, but his family needs the money. The grandma should work, too. If he works, he should only work four days a week.“ Der Aushandlungsprozess war ein inhalt‐ lich-sprachliches Wechselspiel. Die sprachlichen Aushandlungen dienten dazu, die auf Deutsch formulierten inhaltlichen Aussagen möglichst treffend wieder‐ zugeben. Dabei wurden die passenden Ausdrücke gesucht (Semantik) und For‐ mulierungen überarbeitet (Grammatik und Pragmatik). Folgerung 51: Wenn eine Aufgabe Aushandlungsprozesse zu einem Stand‐ punkt und die Formulierung dieses Standpunkts in der Fremdsprache fordert, dann nutzen Lernende der Sekundarstufe 1 zumeist Deutsch für die inhalt‐ liche Aushandlung. Die Fremdsprache wird für die Formulierung des Auf‐ gabenprodukts genutzt. Die Aushandlungsprozesse zur Sprache laufen zu 294 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="295"?> großen Teilen in der Fremdsprache ab. Enthält ein Aufgabenprodukt also eine fremdsprachliche Komponente (z. B. Bildauswahl auf Englisch begründen), dann erfolgen die Gruppenaushandlungsprozesse zumindest teilweise in der Fremdsprache. Bei komplexen Aufgaben (z. B. Argumentation in Dilemma‐ situation) sind diese Aushandlungsprozesse keine einfachen Abfolgen im Sinne von ‚erst wird der Inhalt auf Deutsch ausgehandelt und dann das Pro‐ dukt auf Englisch formuliert‘, sondern ein vielschichtiges inhaltlich-sprach‐ liches Wechselspiel, das die Diskussion um Form und Inhalt integriert. Alle Gruppen sind von Ashoks Schicksal emotional berührt (Schülerin aus Gruppe Father Martin: „Ich finde das blöd, dass er die Schule sausen lassen muss, wegen dem [Geld verdienen]“), und sie sind sich des Dilemmas von Ashoks Situation bewusst. Das Hineinversetzen in die Situation des Protagonisten funk‐ tioniert unter den gegebenen Bedingungen (hoher Konkretisierungsgrad, hohes Identifikationspotenzial durch sympathischen Protagonisten in ähnlichem Alter wie die Lerner) so gut, dass es teilweise die Einfindung in die anderen Rollen überlagert. Die Gruppe zu Ashok’s boss beispielsweise, die gemäß ihrer Rolle eigentlich hätte überlegen sollen, wie sie Ashok im ausbeuterischen Arbeits‐ verhältnis hält, fand sich erst bei Minute 07: 30 (von knapp 11 Minuten) ihrer Gruppenarbeit in ihre eigentliche Rolle ein. Zuvor suchte die Gruppe nach Al‐ ternativen für Ashok, formulierte das Dilemma von Schulbesuch versus Geld verdienen, überlegte, ob der Boss mehr Geld bezahlen sollte, sondierte Kom‐ promisse mit Schule am Vormittag und Arbeit am Nachmittag, diskutierte, dass auch in Indien Kinderarbeit eigentlich verboten ist und dass in Indien ein Sozi‐ alamt für solche Fälle eingeführt werden sollte. Die Lernenden identifizierten sich so stark mit den Problemen des 13-jährigen Protagonisten Ashok, dass ihnen die Übernahme einer anderen fremdkulturellen Rolle, der Rolle des An‐ tagonisten - Ashok’s boss, sehr schwer fiel. Offensichtlich machte die Gruppe zunächst nicht das, was die Aufgabe von ihr verlangte, die task-as-workplan erfuhr zunächst eine learner redefinition of task (Breen 1985). Wie wirkte sich dies auf das interkulturelle Lernen der Gruppe aus und welche Konsequenzen für die Aufgabenstellung müssen gezogen werden? Betrachtet man die im Aus‐ handlungsprozess sich zeigenden interkulturellen Kompetenzen VOR der Ein‐ nahme der Rolle von Ashok’s boss, also die eigentlich nicht vorgesehenen Aus‐ handlungsprozesse bis Minute 07: 30 der Gruppenarbeit, dann zeigte sich auf der kognitiven Ebene, dass die Gruppe die Dilemmasituation voll erfasst hat („Der kann gar nicht zur Schule, wenn er nicht arbeitet“ [03: 08]), die Lernenden kennen die gesetzlichen Regelungen („Das ist Kinderarbeit, das ist verboten“ [05: 00]) und schätzen die Durchsetzung des Rechts sehr realistisch ein („Die 295 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="296"?> [Bosse] zahlen doch Schmiergeld an die Polizei“ [06: 49]). Auf der affektiven Ebene wird die Betroffenheit der Lernenden besonders deutlich an dem Aus‐ spruch „Das ist echt/ total/ voll/ sehr schwierig/ schwer“ [03: 01, 03: 23, 03: 45, 04: 01, 04: 52, 05: 18, 06: 02, 07: 33, 08: 29], der in leicht unterschiedlichen Varianten im Dialog insgesamt neun Mal erscheint und die Betroffenheit der Lernenden wi‐ derspiegelt. Die Gruppe denkt darüber nach, wie mit Ashoks Dilemma in ihrem eigenkulturellen Umfeld umgegangen würde und transferiert dann eine solche Lösung auf den fremdkulturellen Kontext („Die sollten etwas wie ein Sozialamt aufmachen“ [06: 20]). Gleichzeitig bleiben die Lernenden aber realistisch (Ent‐ gegnung: „Ja, aber wenn sie kein Geld haben“ [06: 23]). Aus meiner Sicht haben die Lernenden gerade wegen ihrer Abweichung aus ihrer Rollenperspektive in‐ terkulturelle Kompetenzen vertieft erworben. Es war offensichtlich eine Fehl‐ einschätzung von mir, den Lernenden eine hohes Maß an Identifikations- und Empathiemöglichkeiten mit dem Protagonisten zu bieten, dann aber zu ver‐ langen, dass die Lernenden sich nicht mit dem Protagonisten identifizieren, sondern mit dem Antagonisten. Aus Gründen der Dramaturgie des folgenden Rollenspiels ist es plausibel, die Rollenverteilungen in der erprobten Form zu belassen (näheres im folgenden Aufgabenschritt), die Lehrkraft hat aber auch zu akzeptieren, dass die Lernenden recht lange brauchen, sich in die Rolle eines Gegenspielers des Protagonisten einzufinden. Folgerung 52: Wenn Medien durch hohe Konkretisierung besonders gute Identifikationsmöglichkeiten und damit auch eine starke Betroffenheit der Lernenden erzeugen, dann kann die Identifikation mit dem fremdkulturellen Protagonisten die Aufgabenstellung der Rollenübernahme eines fremdkul‐ turellen Antagonisten überlagern. Hinsichtlich des Erwerbs von interkultu‐ rellen Kompetenzen ergeben sich dadurch keine Nachteile. Die Gruppen er‐ halten durch ihre vertiefte Auseinandersetzung mit der fremdkulturellen Dilemmasituation aus der Sicht von zwei fremdkulturellen Perspektiven be‐ sondere Lernchancen für den Erwerb interkultureller Kompetenzen. Folgerung 53: Wenn bei der Beforschung von Aufgaben Aussagen zu den interkulturellen Kompetenzen der Lernenden gemacht werden sollen, dann ist es erforderlich, dass die Aushandlungsprozesse beforscht werden. Zumindest vier Aspekte sind dabei relevant: a) Homogenität versus Heterogenität: Re‐ präsentiert das Aufgabenendprodukt die Sichtweise aller Gruppenmitglieder oder nur die des durchsetzungsfähigeren Teils? b) Entwicklung versus Statik: Repräsentiert das Gruppenendprodukt eine Perspektive, die in der Gruppe schon früh einvernehmlich gefunden wurde, oder entwickelte sich diese Per‐ spektive im Laufe der Diskussion? c) Annäherungen der Perspektiven oder 296 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="297"?> nicht? Wenn es unterschiedliche Perspektiven gab, näherten sich diese im Laufe des Aushandlungsprozesses einander an, oder blieben die Differenzen bestehen? d) Komplexität oder Simplizität bei einfachen Produkten: Steht hinter einem kurz vorgestellten Aufgabenprodukt eine komplexe Diskussion, die viele Facetten der Thematik beleuchtete, oder entstand das Produkt aus einer wenig elaborierten Diskussion? Diese vier Aspekte sind wesentlich für die Interpretation des Aufgabenprodukts und die Erhebung der interkultu‐ rellen Kompetenzen der Lernenden. Entsprechend ist die Datenerhebung zu den Aushandlungsprozessen bedeutsam. Wenn einer Lehrkraft im Alltag keine Co-Forschenden für die Datenerhebung zur Verfügung stehen, dann könnte erprobt werden, ob Lernende mit Hilfe von Evaluationsbögen die Entwicklung ihrer Diskussion selbst dokumentieren können. Folgerung 54: Wenn Aushandlungsprozesse beforscht werden, dann er‐ öffnen sich besondere Möglichkeiten für die Lehrkraft, ihre Lernenden in‐ tensiv kennen zu lernen. Während bei Schülermeldungen oder -präsentati‐ onen eher ein fertiges Denkprodukt vorgestellt wird, kann in Aushandlungen der Denkprozess weitaus besser nachvollzogen werden. Es wird sichtbar, wer die reflektierten Lernenden sind, wer den Diskussionsprozess trägt, wer Vor‐ wissen in Diskussionen einbringen kann, wer welche Überzeugungen hat und wie stark Überzeugungen in der Entwicklung begriffen sind. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie Lehrkräfte ohne Co-Forschende die be‐ schriebenen Einblicke erhalten können. Evtl. sind auch hier Evaluations‐ bögen zu den Aushandlungsprozessen eine Alternative. Im Rollenspiel setzten sich die Lernenden mit der Problemstellung auseinander, ob Ashok Kumar, ein 13-jähriger bonded labourer in seinem ausbeuterischen Arbeitsverhältnis weiterarbeiten sollte oder nicht. Das setting des Rollenspiels war eine Diskussion in der Verwaltung von Kanchipuram beim local administ‐ rator (meine Rolle, Moderation) mit den beteiligten Akteuren Ashok, Father Martin, der grandmother und dem boss, die durch je zwei Lernendengruppen repräsentiert wurden. Im Rollenspiel führten wir das Geschehen der Reportage fort, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Ashok vorstellte. In der von mir angeleiteten Diskussion zur Fragestellung, ob Ashok in seinem Arbeitsver‐ hältnis bleiben sollte, waren die ersten Impulse so gesetzt, dass die Lernenden ihre in der Gruppe vorbereiteten Beiträge vorstellen konnten. Um die Diskus‐ sion im weiteren Verlauf zu pointieren, konfrontierte ich die Gruppen damit, dass der BBC-Reporter Ashoks Arbeitsverhältnis zur Anzeige bringen und dass er die Arbeitsverhältnisse in Kanchipuram weltweit publik machen wolle - beide Punkte entsprechen auch dem tatsächlichen Geschehen im weiteren Ver‐ 297 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="298"?> lauf der BBC Reportage. Die Lernenden saßen im Klassenzimmer in einem großen Kreis gruppenweise beieinander. Aus den Gruppen trugen mal eine, mal zwei Personen zur Diskussion bei. In der Vorplanung zu den Rollen und Positionen war ich davon ausgegangen, dass die Gruppenrollen Ashok und Father Martin vermutlich dafür plädieren würden, Ashoks Arbeitsverhältnis zu beenden. Die Gruppen grandmother und boss hingegen würden eher für eine Weiterbeschäftigung plädieren, so meine Annahme. Die Aufgabe war so arrangiert, dass die Situation und auch die vier gewählten Gruppenrollen viel Dilemma-Potential enthielten. Die sehr eindeu‐ tige Position des BBC-Reporters gegen eine Weiterbeschäftigung Ashoks em‐ pfand ich für eine Rolle in unserer Simulation als zu wenig herausfordernd. Nach meiner Eröffnung der Diskussion „Welcome to the local administration of Kanchipuram. Today we are discussing the case of Ashok Kumar ….“ forderte ich die Gruppen auf zur Fortsetzung bzw. Beendigung des Arbeitsverhältnisses Stellung zu nehmen. Die Gruppen trugen ihre vorbereiteten Stellungnahmen vor, die jeweils drei bis vier Sätze umfassten. Das für mich überraschendste Er‐ gebnis war, dass alle Gruppen sich dafür aussprachen, dass Ashok weiterar‐ beiten sollte bzw. will. Für Gruppe 8 mit der Rolle von Ashok meinte beispiels‐ weise S35 „I should go on working because my grandma has debts which we must pay back. Also we need the money for that we can live. My grandma is too old for working. So I have to work“. Es herrschte über alle Gruppen hinweg Konsens, dass die Situation so nicht gut sei, dass Ashok aber keine andere Mög‐ lichkeit habe als weiterzuarbeiten. ‚Radikale‘ Lösungen wie beispielsweise, dass Ashok abhaut oder dass es ein ordentliches Gerichtsverfahren gibt, in dem Ashok eine Kompensation für seine jahrelang Arbeit erhält, kamen den Lern‐ enden nicht in den Sinn. Die Gruppen, die Ashok von der Arbeit entlasten wollten, schlugen kleine Verbesserungen vor wie beispielsweise „But we think that the grandma should work, too“ (S43 als Father Martin). Die Gruppen, die eine Weiterarbeit verteidigten, fanden Rechtfertigungen für die illegale Be‐ schäftigung. Es kamen Argumente wie „We have no choice, because I’m too old to work“ (Gruppe grandmother) oder „Every child goes to work for his family“ (Gruppe boss). In nahezu allen Statements der Gruppen waren Aussagen ent‐ halten, die das Bewusstsein der Lernenden für das Dilemma widerspiegelten. Diese Statements zeigen auch, dass die Aufgabe dazu anregte, sich mit dem für und wider von Kinderarbeit und Schuldknechtschaft in der vorgestellten Di‐ lemmasituation intensiv auseinanderzusetzen. Die Gruppen verbalisierten das Dilemma in Sätzen wie „I think I must go on working, because my family needs the money. If I stop working, we get more poor and get nothing to eat“ (S37 als Ashok) oder „I know that it is illegal. But they must do it. They are poor“ (Gruppe 298 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="299"?> Father Martin) oder „I think it’s not OK, but we need the money to pay the debts back“ (S32 als grandmother). Besonders differenzierte Aussagen wie beispielsweise zum Teufelskreis von fehlender schulischer Bildung und sich reproduzierender Armut, wie ich sie weiter oben zu den deutschsprachigen Anteilen der Aushandlungsprozesse für das Rollenspiel belegt habe, fehlten im Rollenspiel. Da die Lernenden diese Ver‐ bindung in der Vorbereitung offensichtlich sahen, lag es vermutlich an der ein‐ geschränkten fremdsprachlichen Kompetenz, diese Zusammenhänge auch im Rollenspiel darzustellen. Die sprachliche Qualität der vorbereiteten Gruppen‐ statements ist in Ordnung, wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt. Im freien Teil des Rollenspiels fehlt den Lernenden dann aber teilweise Vokabular, und sie wechseln ins Deutsche („Yes, maybe you can tell him [the boss] that he can pay him a little more [money] if he can. Or dass er nicht so lange arbeitet“ S37), Aussagen klingen unidiomatisch „It’s not good, but if it must be [Gemeint: Wenn es sein muss]. They can’t live without the work“ (S47), Aussagen sind sehr kurz und einfach gehalten „He hasn’t a chance“ (S44) und Aussagen sind un‐ präzise „The police can go there. They can rescue them from the boss. But the families are very poor [gemeint war: Die Polizei sollte besser nicht eingreifen, da sonst die Verdienstquelle fehlt]“ (S32]). Folgerung 55: Wenn Aufgaben vorsehen, dass authentische fremdkulturelle Protagonisten, deren Rolle die Lernenden später im Rollenspiel in Dilemma‐ situationen vertreten, in der Komplexität ihrer Lebensbezüge vorgestellt werden, dann fördert dies Aushandlungsprozesse, in denen Lernende Hand‐ lungsoptionen aus der fremdkulturellen Perspektive abwägen müssen. Per‐ spektivenwechsel und Empathie können dabei beobachtet werden. Folgerung 56: Wenn sich Lernende trotz fremdsprachlicher Defizite bei Dis‐ kussionen spontan inhaltlich beteiligen können sollen, dann ist es wichtig, dass die Aufgabe es ermöglicht, bei Bedarf auch in die deutsche Sprache aus‐ zuweichen. Noch besser ist es, wenn ein fehlertolerantes Klassenklima vor‐ handen ist, das es den Lernenden erlaubt, wichtige inhaltliche Beiträge auch in defizitärem Englisch darzubieten. Wenn eine Aufgabe vorsieht, ein Arbeits‐ produkt in der Fremdsprache zu erstellen, dann enthalten die Gruppenarbeit‐ sprozesse neben vorangehenden inhaltlichen zumeist deutschen Phasen auch fremdsprachliche Phasen. Die fremdsprachliche Qualität solchermaßen vor‐ bereiteter Produkte ist höher als spontane Diskussionsbeiträge. Folgerung 57: Wenn eine Aufgabe von den Lernenden fordert, ein gemein‐ sames Produkt zu erstellen und dafür in Aushandlungsprozesse zu treten, dann werden Forschende und Lehrkräfte beim Einschätzen der Lern‐ 299 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="300"?> enden-Kompetenzen zum Aufgabenprodukt durch die Beforschung der Aus‐ handlungsprozesse stark unterstützt bzw. Einschätzungen werden überhaupt erst ermöglicht. Schüleräußerungen der Aushandlungsprozesse verweisen auf das Zustandekommen des Aufgabenprodukts. Beweggründe für inter‐ kulturell relevante Aussagen werden nachvollziehbar. Nach dem Rollenspiel zeigte ich den Lernenden die letzte Szene der Reportage, die zeigt, welchen weiteren Verlauf Ashoks Leben nimmt. Die Lernenden konnten feststellen, dass die in der Reportage berichteten Aktionen des Repor‐ ters deutlich progressiver waren, als ihre eigenen Lösungsvorschläge. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Die Aufgabenreflexion in Form von Gruppeninterviews fand am Ende der Dop‐ pelstunde statt. Die Klasse war in fünf Gruppen eingeteilt. Von drei Interviews liegen Audioaufnahmen und Transkriptionen vor, von einem eine Zusammen‐ fassung der Aussagen durch eine Co-Forscherin. Die Interviews dauerten acht bis zehn Minuten. Sie gingen damit teilweise etwas über das eigentliche Ende der Unterrichtsstunde hinaus. Der Interviewleitfaden umfasste nach einem Ein‐ stieg acht Fragen. Zusammenfassend kann für diese Reflexion festgestellt werden, dass in den Interviews die Interpretationen zu der Aushandlungsphase des Rollenspiels im Sinne einer ‚ergebnisbestätigenden Triangulation‘ in großen Teilen gestützt wurden. Im Vergleich zu anderen Aufgaben zeigten sich in dieser Reflexion trotz sehr vieler interkulturell bedeutsamer Schüleraussagen nur an relativ wenigen Stellen neue Kompetenzen der Lernenden (s. u.). Bei den an‐ deren Aufgaben des Projekts war die Reflexionsphase hinsichtlich des interkul‐ turellen Lernens stärker herausragend. Der Unterschied zu den anderen Auf‐ gaben des Projekts begründet sich meiner Ansicht nach damit, dass bei der vorliegenden Aufgabe die Konfrontation meiner Lernenden mit einer konkreten und emotional berührenden Dilemmasituation schon in der Aushandlungsphase zu besonders aktiver Kommunikation über interkulturell bedeutsame Themen führte (Teufelskreis der Armut, Rolle des Staates in der Armutsbekämpfung, Kinderrechte u. ä.) und somit auch zur Offenlegung interkultureller Kompe‐ tenzen. Die beiden neuen Aspekte (eigenes Kaufverhalten und Umgang mit Kulturrelativismus) werden unten besprochen. Die Beobachtungen zur Refle‐ xionsphase lassen sich somit in bestätigende und neue interkulturell bedeut‐ same Beobachtungen gliedern. Es bestätigte sich die Beobachtung, dass es die meisten Lernenden auf der kognitiv-instrumentellen Ebene einfach fanden, ihre Rolle zu übernehmen, „weil die Situation relativ eindeutig war“ (S60 aus der Gruppe boss) und weil 300 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="301"?> „man […] ja auch noch Videos gesehen [hat], da kann man es sich natürlich ein bisschen besser bildlich vorstellen“ (S51 aus der Gruppe Father Martin). Davon völlig unabhängig verlief allerdings die Identifikation auf der affektiv-einstel‐ lungsbezogenen Ebene. Die Lernenden waren - wie zu erwarten war - alle der Meinung, dass sich ihre eigene Meinung am besten in einer Rolle widerspiegelt, die Ashok vor Ausbeutung schützt, und lehnen die ausbeutenden Rollen ab („So einen Typen [wie den boss] kann man nicht verteidigen“ S32). Im Interview bestätigten sich die Probleme aus der Aushandlungsphase von Teilen der Gruppe Ashok’s boss sich in ihre Rolle einzufinden, da sie mit Ashoks Dilemmata haderten. Bei dieser Rolle war die Diskrepanz zwischen Schülereinstellungen und Rollenverhalten am größten. S59 meinte „Das [Einfinden in die Rolle] war schwierig, weil auf der einen Seite sollte er [Ashok] halt zur Schule gehen, aber auf der anderen Seite sollte er auch arbeiten, weil er sollte ja für seine Familie halt [Geld verdienen]“. S59 konnte die Aufgabe, sich in Ashoks Boss zu ver‐ setzen, nicht gut erfüllen, da sie sich nicht über ihre Wertvorstellung universell gültiger Menschenrechte hinwegsetzen konnte. Die Triangulation der Gruppeninterviews mit den zuvor erhobenen Daten bestätigte ferner den Befund, dass in allen Gruppen ein Bewusstsein für die Dilemmata vorhanden war. Als die Co-Forscherin 3 fragte, ob die Lernenden an Ashoks Stelle arbeiten wollen würden, antwortete S60 „Nein, nicht wollen, aber müssen, weil sonst kann man die Schulden nicht abbezahlen und auch nicht leben.“ Den Vorschlag, ein Mindestalter für Kinderarbeit einzuführen, verwerfen S59 und S60 mit den Hinweisen, dass es das schon gäbe und dass „dann […] manche Familien nichts mehr zu essen haben“. Ganz ähnlich die Situation in der Gruppe der Co-Forscherin zwei, wo S33 auf die Frage, ob Ashok weiter arbeiten solle, antwortete „Ja, einerseits schon arbeiten, sonst kriegen sie ja nichts zu essen und so. Aber andererseits kann er ja auch selber keine Familie kriegen, wenn er den ganzen Tag arbeitet“. Als ich in meiner Interviewgruppe nachhakte, warum die Rolle der Großmutter schwieriger als die des Boss sei, antwortete S58, dass „die Oma […] das Geld [braucht], aber die will ja eigentlich auch, dass der Junge nicht arbeiten gehen muss“. Jede dieser Aussagen zeigt, dass die Lern‐ enden auf der kognitiven Ebene die Rollenzwänge verstanden haben. Die In‐ tensität der Diskussionen lässt auch auf eine emotionale Betroffenheit der Lern‐ enden schließen. Zum Aufgabenschritt des Vergleichs von fremd- und eigenkulturellen Prak‐ tiken hatte ich berichtet, dass affektive Aspekte des interkulturellen Lernens nur schwer zu belegen sind und sich eher non- oder paraverbal ausdrücken. Meine Beobachtung und Interpretation zu den im Unterrichtsvideo festgehaltenen be‐ deutungsvollen Blicken, die sich die Lernenden zuwarfen, wenn sie Ashoks 301 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="302"?> Verdienst mit dem von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern verglichen (s. o.), wird im Gruppeninterview bestätigt. Auf die offene Frage, was es zur Stunde noch zu sagen gibt, antwortete S51, dass sie es schockierend fand, dass ein Ju‐ gendlicher wie Ashok für seine Arbeit einen so minimalen Lohn erhält. Es bestätigte sich ferner, dass sich die Lernenden in allen interviewten Gruppen damit auseinandersetzten, wie in ihrem eigenkulturellen Umfeld mit Ashoks Situation umgegangen würde. S59 stellte fest, dass es hier „Arbeitslo‐ sengeld [gibt], das es da halt nicht gibt“. S37 konstatierte, dass „[w]enn das Land nicht so etwas wie Hartz IV anbietet, man ja keine Wahl [hat] als arbeiten zu gehen. Man braucht ja das Geld um zu überleben“. S55 befand zu Ashoks Situ‐ ation, dass „der Staat etwas tun sollte gegen die Armut“. Und S41 und S33 ver‐ wiesen darauf, dass so eine Situation wie die von Ashok hierzulande aufgrund der Fürsorge des Staates und der Schulpflicht nicht möglich sei. Die Aussagen zeigen, dass die Lernenden die fremdkulturellen Praktiken unter Bedingungen des eigenkulturellen Kontexts prüften, sie wägten also Perspektiven ab. Für den neu hinzugekommenen Auftrag, dass die Lernenden dazu Stellung beziehen sollten, ob sie weiterhin Waren kaufen würden, die durch Kinderarbeit entstanden sind, ergibt sich ein unterschiedliches Bild in der Klasse. Es zeigte sich auch die Bedeutung der Reflexion als eigenständige Unterrichtsphase, in der neue interkulturelle Kompetenzen erworben werden, in diesem Fall die Ein‐ sicht in Verknüpfung kultureller Praktiken in einer globalisierten Welt. Die Gruppe um S32, die sich bei anderen Aufgaben eher distanziert verhalten hat und bei dieser Aufgabe jedoch im Aushandlungsprozess bereits besonderes Per‐ spektivenbewusstsein zeigte (s. o.), sagte nahezu geschlossen aus, keine Waren kaufen zu wollen, die durch Kinderarbeit entstanden sind. Die Gruppe kommt rasch darauf, dass die Kennzeichnung von Waren ein entscheidender Punkt ist. Die Lernenden zeigten neben kognitiven vor allem auch einstellungsbezogene interkulturelle Kompetenzen und verkünden Handlungsabsichten. Co-Forscherin 2: Wieso bist du dir da [dass Du vielleicht nicht doch Waren aus der Kinderarbeit kaufst] nicht sicher S33? S33: Weiß nicht. Wenn man da immer eingekauft hat. Man wusste ja nichts davon. Wenn man weiter nichts [von der Kinderar‐ beit] wüsste, würde man ja genauso [weiter] einkaufen. S32: Aber wenn du es weißt! S42: Ja eben, das ist ja etwas anderes. Co-Forscherin 2: Okay, also schwierige Frage eher? S42: Also ich würde es auf keinen Fall unterstützen, wenn ich wüsste, dass es von Kindern [ist]. S41: Nein, ich auch nicht. 302 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="303"?> Co-Forscherin 2: Auch wenn du dafür mehr bezahlen müsstest? S42: Ja. Auch dann. Datenquelle: Z2 A4 Fo2 GI, 09: 56-10: 19 In der Gruppe von Co-Forscherin 3 weist S59 auf den Effekt von Kinderarbeit in anderen Ländern für die Preisgestaltung bei uns hin. S60 reflektiert den Effekt von Nachfrage auf die Produktion von Waren, die durch Kinderarbeit ent‐ standen sind, um ihren Klassenkameraden S35 von dessen gleichgültiger Hal‐ tung abzubringen. Co-Forscherin 3: Meint ihr, wir haben da etwas davon, von der Kinderarbeit, in Deutschland? S59: Ja. Co-Forscherin 3: Ja? S59: Ja, die Kleidung und alles ist halt relativ billig, was in Asien hergestellt wurde. Im Gegensatz zu Deutschland, wenn da ir‐ gendetwas hergestellt ist, dann ist es immer teurer. Weil da die Löhne … (2-3 Worte unverständlich wg. Pausengong). Co-Forscherin 3: Also wenn ihr jetzt wisst, das etwas hergestellt wurde mit Kinderarbeit, [ …] wenn da jetzt Kinderarbeit mit im Spiel wäre, glaubt ihr, dass ihr dann da nicht mehr so viel ein‐ kaufen würdet? S60: Schon, ja. S35: Wenn’s schön ist? Co-Forscherin 3: Wenn’s schön ist? S35: Mhm [ Ja]. Das geht einem ja nix an. S60: Nein, ich würde [solche Waren] nicht kaufen, weil wenn man es dann kauft, dann wird die Nachfrage ja immer größer und so. Und wenn es jetzt weniger [Menschen] kaufen würden, dann würde es auch automatischer we‐ niger gemacht [werden]. Co-Forscherin 3: Mhm [bestätigend]. S60: Und so und ja, ich hätte da auch kein so gutes Gefühl da. Datenquelle: Z2 A4 Fo3 GI, 05: 20-06: 17 In diesen Aussagen zeigen S59 und S60 interkulturelle Kompetenzen in kogni‐ tiven und fertigkeitsbezogenen Bereichen. S59 kann die Auswirkungen kultur‐ eller Praktiken von der einen auf die andere Kultur erläutern. Und S60 legt die grundlegenden Handelsmechanismen dar, um sie als Argument zu verwenden. Ferner zeigt S60 einstellungsbezogene Kompetenzen, und eine glaubwürdige Bekenntnis zu Handlungsabsichten. Für den Fortgang des Dialogs erschütterte 303 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="304"?> sie die Haltung von S35 und bringt die anderen Gruppenmitglieder dazu, sich ihrer Meinung anzuschließen. Der zweite Aspekt, der im Gruppeninterview im Vergleich zum Rollenspiel neu thematisiert wurde, war die Frage, ob überall auf der Welt die gleichen Rechte gelten sollten. Es geht also um Kulturrelativismus und die universelle Gültigkeit von (Menschen-)Rechten. Die Gruppe der Co-Forscherin 2 bean‐ twortete die Frage ganz eindeutig (s. u.). Im weiteren Dialog nutzten die Lern‐ enden das neu erworbene Wissen zu den gesetzlichen Regelungen in Indien und argumentieren, dass auch dort viele Menschen gegen Kinderarbeit wären. Co-Forscherin 2: Und glaubt ihr, dass die Regeln für Kinderarbeit auf der ganzen Welt gleich sein sollten, oder sollte es in verschie‐ denen Kulturen, wo es unterschiedliche Traditionen und Bräuche gibt, unterschiedliche Regeln geben? S32: Das sollte gleich sein. Alle: Ja [alle stimmen zu] Datenquelle: Z2 A4 Fo2 GI, 07: 20-07: 35 Spannend ist dann die Frage, wo die Grenze zwischen Freiheit zu einer kultu‐ rellen Praktik und kulturübergreifenden verbindlichen Regelungen verlaufen sollte. Meine Interviewgruppe machte für sich diese Grenze an Beispielen aus unserem Projekt fest. Kinderarbeit wie in Ashoks Beispiel sei nicht hinnehmbar. Kulturelle Besonderheiten wie arrangierte Ehen (nicht Zwangsehen) hingegen schon. Die Grenze verliefe da, wo Menschenrechte verletzt werden. Mueller: Du sagst es ist normal [dass Kinder für wenig Geld arbeiten], aber hier ist es nicht normal, dass Du für 22 Cent am Tag arbeitest. S55: Ja klar, aber dort für die Kinder ist es normal. Weil es dort alle machen und das Geld brauchen. Für die ist es halt selbstverständ‐ lich. Mueller: Aber wie entscheiden wir jetzt, was richtig ist? S55: Ja, dass sie NICHT [betont] arbeiten, aber … Mueller: Dürfen wir das entscheiden? […] Sollen wir uns einmischen? S58: Hm… [unschlüssig] Mueller: Der BBC-Reporter hat sich eingemischt, ja? S58: Ja, eigentlich schon. Also, es ist ja gegen die Menschenrechte. Mueller: M-h [bestätigend]. S55: Es ist ja nicht so wie jetzt bei der Hochzeit. Da finde ich, dass man sich nicht einmischen sollte. Aber hier bei so was schon. Mueller: M-h, […] Das heißt, wann wäre für euch die Grenze zum Einmi‐ schen gegeben? 304 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="305"?> S55: Wenn Menschenrechte … [Schülerin sucht nach Wort] Mueller: verletzt sind sozusagen? S55: Ja. Datenquelle: Z2 A4 Fo6 GI, 04: 14-05: 27 Die Lernenden zeigen in der Diskussion interkulturelle Wissenskompetenzen und besitzen ferner die Fertigkeit, diese argumentativ einzusetzen. Wie Byram (1997: 44) gelangen sie zu dem Schluss, dass die Achtung der Menschenrechte die Grenze für Kulturrelativismus sein sollte. Folgerung 58: Eine Aufgabe kann die Diskussion zum Kulturrelativismus und der allgemeinen Gültigkeit von Menschenrechten auslösen, wenn un‐ terschiedliche kulturelle Praktiken verglichen werden, die auch Menschen‐ rechte tangieren, und die Lernenden dazu Stellung nehmen sollen, welche Praktiken angemessen sind. Folgerung 59: Wenn Aufgaben wie im vorliegenden Projekt eine Reflexi‐ onsphase vorsehen, dann zeigt sich dort die größte Dichte interkultureller Kompetenzen. Das ist insofern auch plausibel, da die Interviewenden mittels Impulsen des Interviewleitfadens gezielt interkulturelle Lerngelegenheiten ansprechen. Die Reflexionsphase ist für die Datenerhebung von besonderer Bedeutung. Folgerung 60: Wenn sich interkulturelle Kompetenzen der Lernenden in einer vorangehenden Phase vor der Reflexionsphase zeigen (also in den Phasen A-D), ermöglichen die in der Reflexionsphase nachgewiesenen in‐ terkulturellen Kompetenzen häufig, die vorangegangenen Befunde zu bestä‐ tigen oder zu erweitern (Triangulation). Die Befunde sind selten genau gleich oder gänzlich anders, sondern bestehen sehr häufig aus einem gleichen in‐ terpretationsbestätigenden und einem leicht andersartigen interpretations‐ erweiternden Anteil. Folgerung 61: Die Phase B des Unterrichtsmodells (‚Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus‘) sollte nur dann eingesetzt werden, wenn ausreichend Zeit für Kom‐ mentierung und Diskussion ist. Während ich aus den Erfahrungen des Un‐ terrichtsprojekts die anderen Phasen für unverzichtbar halte, kann die Phase B auch optional eingesetzt werden. Ein Verzicht auf diese Phase ist insbe‐ sondere bei Themen zu prüfen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Stereo‐ typen und Halbwahrheiten zu Tage treten lassen, die nicht unkommentiert stehen bleiben können. Eine Alternative zu einer ausführlichen Thematisie‐ 305 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="306"?> rung oder zu einem Verzicht auf die Phase könnte eine private Notiz der Lernenden zu ihren fremdkulturellen Vorannahmen sein, die sie am Ende der Aufgabe auf Stimmigkeit prüfen können. Folgerung 62: Reflexionsphase (E) ist bei geeigneten Impulsen eine voll‐ wertige Phase des interkulturellen Lernens und nicht nur eine Möglichkeit der Datenerhebung. Geeignete Impulse können die Lernenden zu Re‐ flexionen veranlassen, die sie in keiner der zuvor durchlaufenen Phase (A-D) getätigt haben. Sie kommen zu neuen Einsichten und erwerben dabei weitere interkulturelle Kompetenzen. Folgerung 63: Wenn Aufgaben Stereotypisierung vermeiden wollen, dann bieten sich als Grundprinzip zumindest zwei Wege an. a) Die Aufgabenin‐ halte können fremdkulturelle Heterogenität vorstellen und den Lernenden damit vermitteln, dass es nicht ein allgemeingültiges Bild vom Fremden gibt. b) Die Aufgabeninhalte können Praktiken aus dem eigenkulturellen Kontext vorstellen, die ähnliche Problematiken aufweisen wie die fremdkulturellen. Folgerung 64: Wenn bei Aufgaben die Werthaltungen einer im Perspekti‐ venwechsel anzunehmenden Rolle für die Lernenden aus moralischen Gründen nicht akzeptabel sind, dann ist ein Perspektivenwechsel erschwert oder gestört. Dem Kompetenzbereich ‚Werthaltungen‘ kommt hier eine be‐ sondere Rolle zu. 7.5.5.3 Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Das Rollenspiel könnte dahingehend verbessert werden, dass alle Argu‐ mentationspositionen sicher besetzt sind, damit eine kontroverse Dis‐ kussion entstehen kann. Um in jedem Fall eine Position zu haben, die eindeutig für die Beendigung Ashoks Arbeitsverhältnis eintritt, sollte das Rollenspiel um die Rolle ‚Reporter D. Grammaticas‘ ergänzt werden. Für weniger geeignet halte ich die Alternative, den Lernenden die Ausrich‐ tung ihrer Rolle (pro oder contra) vorzugeben, da dies die Gruppenaus‐ handlungsprozessen zur inhaltlichen Ausgestaltung der Rolle ein‐ schränken würde. • Ashok Kumar, der jugendliche bonded labourer, ist der in der Unterrichts‐ einheit am ausführlichsten behandelte indische Jugendliche. Es besteht deshalb die Gefahr, dass bei meinen Lernenden sich das Bild dieses Jungen als repräsentativ für indische Jugendliche festsetzt, obwohl er nur für einen Teil der Jugendlichen steht. Um diese Einseitigkeit zu vermeiden, 306 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="307"?> hatte ich darauf hingewiesen, dass der überwiegende Teil der indischen Kinder zur Schule geht. Wir hatten mehrfach Bilder von Schülerinnen in Schuluniform angeschaut und besprochen. Bei dem Aufgabenprodukt ‚Poster‘ waren indische Schülerinnen und Schüler Adressaten und Schü‐ lerinnen und Schüler waren auch abgebildet. Um noch sicherer eine Un‐ ausgewogenheit zu vermeiden, sollte aber außer dem Alltag von Ashok auch der Schulalltag eines besser gestellten indischen Jugendlichen ge‐ zeigt werden. Eine Sichtung der Materiallage dazu ergab allerdings, dass kein vergleichbares Material wie die BBC-Reportage zu Ashok Kumar zur Verfügung stand. Textmaterial wäre selbst zu erstellen oder zu adaptieren gewesen. Im Internet verfügbare Filme wie beispielsweise „Education in India - BBC“ (www.youtube.com/ watch? v=aKspt58JbsM; letzter Zugriff 16.2.2017) oder „Free Schools India School Day Video Nov 2013“ (www.y outube.com/ watch? v=o2GRT2a14Js; letzter Zugriff 16.2.2017), sind erst nach meiner Projektdurchführung entstanden und außerdem nur stark eingeschränkt brauchbar. Sie erfüllen nicht das Kriterium, einen kon‐ kreten Protagonisten in der Komplexität seiner kulturellen Lebensbezüge vorzustellen. Die sicherlich beste Lösung wäre ein intensiver persönlicher Austausch mit Schülerinnen und Schülern einer Partnerklasse. • Alternativ hatte ich für den zweiten Zyklus des Projekts die zusätzliche Aufgabe ‚School education of three software developers from Pune in India‘ entwickelt und eingesetzt, bei der die Lernenden im Vergleich zur vor‐ liegenden Aufgabe ganz andere fremdkulturelle Praktiken zu Kindheit und Jugend kennenlernen konnten und somit fremdkulturelle Heteroge‐ nität erfuhren. Diese Aufgabe wird in der nächsten Aufgabenbeschrei‐ bung (Kap. 7.5.6) diskutiert. • Eine weitere Möglichkeit zur Vermeidung von Stigmatisierungen wäre gewesen, die vorliegende Aufgabe um eine Phase zu erweitern, in der Lernenden ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in ihren eigenkulturellen Kontexten kennen lernen und reflektieren (vgl. Leiharbeit, Scheinselb‐ ständigkeit u. ä.). • Die Frage, ob ein Gruppeninterview die geeignetste Aktionsform zur Durchführung einer Aufgabenreflexion ist, ist noch offen. Diesbezüglich wäre abzuklären, welche anderen Methoden besonders gut die Aufga‐ benreflexion fördern und ob diese Zugänge so wie das Gruppeninterview gleichzeitig auch als Datenerhebungsmethoden genutzt werden können. Im zweiten Zyklus des vorgestellten Unterrichtsforschungsprojekts ver‐ lief die Arbeit mit den Gruppeninterviews als Datenerhebungs- und Auf‐ gabenreflexionsmethode sehr erfolgreich. Allerdings standen dabei vier 307 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="308"?> Co-Forscherinnen zur Verfügung - eine leider nicht auf den alltäglichen Unterricht übertragbare Situation. Optimierung der Datenerhebung • Die Datenerfassung der Gruppenaushandlungsprozesse und Aufgaben‐ reflexionen in der Gruppe sind eine zentrale Quelle für die Erhebung der interkulturellen Kompetenzen der Lernenden. Um mehrere Gruppen pa‐ rallel zu beforschen ist es fast unumgänglich, dass mehrere Forschende bei der Datenerhebung beteiligt sind. 7.5.5.4 Fazit zur Aufgabe Die Aufgabe hat ihr zentrales Ziel erreicht: Die Lernenden erlebten fremdkultu‐ relle Personen in der Komplexität ihrer kulturellen Lebensbezüge so, dass sie sie als rational handelnd wahrnahmen, obwohl ihnen deren kulturelle Praktiken möglicherweise (zunächst) befremdlich erschienen. Die Lernenden vollzogen auf der kognitiven Ebene nach, in welchen Handlungszwängen der Protagonist steht. Sie wechselten aber auch in seine Perspektive und erlebten sich in seiner Rolle im Dilemma zwischen Loyalität zur Familie, ungesunden Arbeitsbedingungen und Perspektivlosigkeit aufgrund fehlender Bildung. Mit einem weiteren Perspekti‐ venwechsel, einem Wechsel in die ebenfalls fremdkulturelle Rolle des Antago‐ nisten (demjenigen der den Protagonisten ausbeutet) taten sich die Lernenden teilweise sehr schwer, insbesondere diejenigen, deren Überzeugung durch eine klare Position gegen die Verletzung von Menschenrechten gekennzeichnet war. Dieses Phänomen trat in beiden Forschungszyklen auf. Für die Lernenden war diese Rollenkonstellation sicherlich sehr herausfordernd. Wichtig ist nun, was die Lehrkraft aus der Erkenntnis macht, dass die Lernenden Schwierigkeiten hatten in diese fremdkulturelle Rolle zu wechseln. Es verbietet sich ganz offensichtlich eine negative Bewertung der interkulturellen Fertigkeits-Kompetenzen der be‐ troffenen Lernenden, sie gehörten zu den moralisch gefestigtesten und reflektier‐ testen Personen in den Klassen. Für Kompetenzmodelle des interkulturellen Lernens bestätigte sich, dass werthaltungsbezogenen Kompetenzen (attitudes in Byram 1997: 34) eine besonders wichtige Rolle zukommt und die Teilkompe‐ tenzen knowlegde, attitudes und skills in der schulischen Praxis nicht isoliert son‐ dern immer als zusammengehörig anzusehen sind. Beispielsweise werden bei einer Aufgabe zum Perspektivenwechsel nicht nur Fertigkeiten (skills) vermit‐ telt, sondern von übergeordneter Bedeutung ist, welche Werthaltungen mit einer Rolle verknüpft sind, zu denen sich die Lernenden positionieren. Für die Lehr‐ kraft ist immer kritisch zu hinterfragen, welche Werthaltungen eine Perspektive verkörpert, in die sich die Lernenden einfinden sollen. 308 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="309"?> Dass die Lernenden für die Situation von Ashok im Rollenspiel keine befrie‐ digende Lösung fanden, entspricht der realen Situation, da es keine einfachen Lösungen für solche komplexen Probleme gibt. Hätten die Lernenden im Rol‐ lenspiel aus der Ferne eine Lösung für Ashoks existenzielle Probleme in Kan‐ chipuram (Indien) gefunden, dann wäre das eine ungemessene Simplifikation der Problematik der bonded labourer gewesen. 309 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="310"?> 7.5.6 School education of three software developers from Pune in India - Vielfalt anderskultureller Praktiken hinsichtlich Schule und Ausbildung erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software de‐ velopers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - Desig‐ ning schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s qu‐ estion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 13: Position von Aufgabe 6 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.6.1 Darstellung von Aufgabe 6 im zweiten Forschungszyklus Ziele: Informationen zu fremdkulturellen Praktiken mit eigenem Vorwissen ver‐ gleichen; Heterogenität fremdkultureller Praktiken reflektieren; interkulturell kompetent kommunizieren. Rahmenbedingungen: im Klassenzimmer; geplante Dauer 90 Minuten; wegen einer Nachfrage der kontaktierten Softwareentwickler an die Lernenden wurden allerdings 30 Minuten mehr Zeit benötigt, die dann zwei Tage später separat unterrichtet wurden. 310 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="311"?> Besondere Hinweise: Die vorliegende Aufgabe vermittelt den Lernenden, dass für große Teile der indischen Bevölkerung Schule, Bildung und Berufskarriere nicht nur ein hohes ideelles Gut sind, sondern tatsächlich auch angestrebt und erreicht werden. Wie in den Optimierungen zu Aufgabe 4 (Schuldknechtschaft eines Jugendlichen) beschrieben, sollten im zweiten Forschungszyklus den kultu‐ rellen Praktiken des jugendlichen Seidenwebers Ashok Kumar aus Kanchi‐ puram weitere kulturelle Praktiken zur Seite gestellt werden, die Schule und Bildung zeigen und somit meinen Lernenden ein variantenreiches Bild vermit‐ teln. Deswegen entschloss ich mich im zweiten Zyklus, die hier beschriebene Aufgabe 6 neu und ergänzend einzusetzen. Die Lernenden setzen sich mit ihren bisherigen Vorstellungen von fremdkulturellen Praktiken Jugendlicher ausein‐ ander, sie erweitern ihr Wissen zu fremdkulturellen Praktiken, und sie erproben sich in der Formulierung von Botschaften an die Softwareentwickler aus Pune (Indien), die sie in den Aufgabenmaterialien kennengelernt haben. Für die Dar‐ stellung von kultureller Vielfalt zu den Aspekten ‚Schule‘, ‚Jugendliche‘ und ‚Arbeitsbedingungen‘ hielt ich die Thematik ‚Schulische Bildungskarrieren‘ für besonders geeignet. Allerdings konnte ich zunächst keine Medien finden, die den Anforderungen entsprachen und sich passend in die Unterrichtseinheit eingefügt hätten. Mittels eines Bekannten kam ich dann mit drei Softwareent‐ wicklern aus Pune (Indien) in Kontakt, die bereit waren, via Skype Interviews mit meinen Lernenden zu ihrem Beruf, ihrer Ausbildung und ihrer Schullauf‐ bahn zu führen. Eine vorangestellte Erprobung der Interviews zeigte allerdings, dass die mindere Audioqualität in Kombination mit dem Indian-English der In‐ terviewpartner und dem leichten zeitlichen Versatz der Redebeiträge nicht für die Hör- und Sprechgewohnheiten meiner Lernendengruppe geeignet war. Ich entschloss mich deshalb, die Softwareentwickler selbst zu interviewen und die Interviews dann als Arbeitsmaterial zu verwenden. Für den Unterricht schnitt ich aus den drei ca. 7-minütigen Interviews je 1-2 Minuten Videomaterial heraus, mit dem die Lernenden die Softwareentwickler kennen lernen konnten, und die die Authentizität der Informationen belegten. Aus den restlichen Informationen stellte ich ein Arbeitsblatt zusammen (siehe Anlage 4). Meine Interviewfragen und die Aussagen der Softwareentwickler sind transkribiert. Den Abschluss des Arbeitsblattes bilden zwei besondere Texte. Auf eine nachträglich von mir ge‐ sendete E-Mail-Anfrage zählte einer der Softwareentwickler auf, was aus seiner Sicht meine Lernenden über Indien wissen sollten. Es kommt dabei zum Aus‐ druck, dass er sehr stolz auf Indien ist. Zum anderen hatte ich bei einem der Softwareentwickler in einem der Interviews am Ende nachgefragt, ob er eine Frage an meine Lernenden hat. Daraufhin stellte er meinen Lernenden die Frage, welches Image Indien bei meinen Lernenden hätte. Zu dieser Frage verfassten 311 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="312"?> die Lernenden abschließend als Aufgabe Audio-Botschaften, die wir dann zu den Interviewpartnern sendeten. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). Aufgabe 6 des 2. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Die Lernenden notieren als vorberei‐ tende Hausaufgabe ihre Erfahrungen und Pläne zu den folgenden Fragen: Which schools have you attended? Which job would you like to do as an adult? What are your plans for future schools and your professional training (Berufsausbildung)? Where will you complete your work experience (Be‐ triebspraktikum) next week? What do you think will you do there? Die Lernenden tauschen sich in Klein‐ gruppen über die Fragen aus und no‐ tieren ihre Angaben in einer Tabelle auf Overhead-Folie. Ip: Wissensinput zu den Praktiken der Mitschülerinnen und Mitschülern in der Gruppe; As: Wortschatz zu den Themenfel‐ dern Schule, Ausbildung und Beruf; Ai: evtl. mit Unschlüssigkeit hinsicht‐ lich Berufswahl umgehen; Ui: Strukturierung der Schülerbei‐ träge durch die Fragen; Us: Wortschatzvorgaben aus den Fragen; Lexika; SA: Zuhause EA, im Unterricht GA; Mo: Schülerrelevanz und Lebenswelt‐ bezug des Themas; Interesse an den Erfahrungen und Plänen der Mit‐ schüler; AP: Notizen zu eigenen Erfahrungen und Planungen hinsichtlich Schule, Ausbildung und Beruf. B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hin‐ sichtlich anderskultureller Praktiken aus Die Lernenden beenden ihren Aus‐ tausch zu den eigenkulturellen Prak‐ tiken, bleiben aber in Gruppen sitzen. Die LK zeigt ihnen das Bild eines Mannes, der konzentriert zu arbeiten scheint. Mittels Bildbearbeitung wurden die Hände und das Arbeits‐ gerät sowie der Bildhintergrund weg‐ Ip: bearbeitetes Foto und Erläuterung zur Aufgabe; As: Wortschatz zu den Themenfel‐ dern Schule, Ausbildung und Beruf; Ai: Vorwissen zu Berufen und Bil‐ dung in Indien; 312 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="313"?> geschnitten. Die Lernenden werden dazu aufgefordert Vermutungen dazu anzustellen, welcher Tätigkeit der Mann nachgeht und welche Schulbil‐ dung er genossen hat. Here you can see the picture of a man at his job. He lives in Pune in India. You cannot see what he is doing in the pic‐ ture. Have a guess and write about his career in the last column of your table on your transparency. Die Gruppen handeln ihre Vermu‐ tungen aus und notieren sie. Die Gruppen stellen ihre Vermutungen im Unterrichtsgespräch vor. Dann wird das Bilderrätsel aufgelöst: Der Mann arbeitet an einem Rechner in einem modernen Büro einer Soft‐ wareentwicklungsfirma. Us: Lexika in der GA; bridging and prompting im Lehrer-Schüler-Ge‐ spräch; SA: Aushandlung in GA; Ergebni‐ spräsentation im Unterrichtsge‐ spräch; Mo: Rätselcharakter der Aufgabe; AP: Notizen zum Beruf und zur ver‐ muteten Schulbildung des Fotogra‐ fierten. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Die Lernenden erhalten Informa‐ tionen über fremdkulturelle Prak‐ tiken zu Ausbildungsvorausset‐ zungen und Arbeitsbedingungen am Beispiel von drei Softwareentwick‐ lern einer kleineren Softwarefirma aus Pune (Indien). Zur Einführung zeige ich den Lernenden zu jedem der Softwarenentwickler einen Auszug der videographierten Interviews, die ich geführt hatte. Anschließend er‐ halten die Lernenden ein Textblatt mit Interviewfragen und Antworten, die ich aus den drei Interviews zusam‐ mengestellt habe. Die Lernenden er‐ halten den Auftrag, im Text bekannte und unbekannte Informationen zu markieren und zu den bekannten Informationen deren Quelle zu be‐ nennen. Underline in red the things that you al‐ ready know or which you expected to be like this [„So wie erwartet“]. Underline in blue the things that are new to you or that you had not expected to be this way. For the red parts: Note with a pencil Ip: drei 1-2-minütige Interviewse‐ quenzen auf Video, Textblatt mit meinen Interviewfragen und den Ant‐ worten der Softwareentwickler; Ai: Zuordnung von Informationen in bekannt und erwartet versus unbe‐ kannt bzw. unerwartet; zugeben können, was unerwartet war und wie das auf den Lernenden wirkt; As: Verstehen von authentischen In‐ terviews mit speakers of Indian-Eng‐ lish; Wortschatz zum Themenfeld Bil‐ dung und Ausbildung; Ui: Strukturierung der Informationen durch die Aufgabenstellung; Us: starke Kürzung der Videos auf das Notwendigste, um einen Eindruck von den Interviewten zu erhalten; schriftliche Darbietung der größten Teile der Interviews; Einfügung ein‐ zelner weniger Übersetzungen in den verschriftlichten Interviewteilen (siehe Anlage 4); SA: Aufgabenbearbeitung in EA; Auf‐ gabenbesprechung im Unterrichtsge‐ spräch; 313 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="314"?> where you have learned about this (e.g. in class; in the newspaper; know it from TV News; …). (A few personal sentences cannot be underlined at all) Anschließend werden die Ergebnisse besprochen und diskutiert: What do you think about it? Mo: hohe Konkretisierung &und Au‐ thentizität; Begegnung zwar medial und zeitversetzt, aber bezogen auf die Lernergruppe; AP: Redebeiträge der Lernenden dazu, welche Aussagen sie erwartet hatten und welche nicht. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Einer der drei Softwareentwickler richtete im Interview die folgende Frage an meine Lernenden, die ich ihnen in Form des Interviewvideos vorstellte „What is the kind of image India has? Because I think there are a lot of misconceptions about India. People say that we are snake charmers and those kinds of things. Now actually those conceptions are changing“. Die Lernenden arbeiten in Gruppen ihre Antworten dazu aus und präsentieren sie dann vor der Klasse. Die Präsen‐ tationen werden aufgenommen und als Feedback zu den drei Softwareent‐ wicklern gesendet. Try to find an answer for Mr. [Soft‐ ware-Entwickler 1]’s question. We will record your answers (MP3) and send it to Mr [Software-Entwickler 1]. Individual work for 8 minutes; Then you compare your answers in your group and you can change them if you want to. What ideas do you associate with India at the moment? Where does your image come from? Has a part of the image changed during the project or in one of the lessons? Why? Why not? Language Support (Choose the ex‐ pressions that you need or use others.) • Hello Mr. [Software-Entwickler 1]. I’m … / My name is … • Thank you for your interview. You asked us about our image of India. • I think India is ……… Ip: Inhalte der Frage des Softwareent‐ wicklers 1; Aussagen der Mitschüler‐ innen und Mitschüler während der GA; Ai: relevante Inhalte zu beschreiben und gleichzeitig interkulturell sen‐ sibel genug sein, den Anderen nicht zu verletzen; As: Wortschatz aus allen Themenbe‐ reichen des Projekts; Redewen‐ dungen, mit denen höflich die ei‐ genen Ansichten dargestellt werden können; Ui: Rückgriff auf Mitschriebe zu den Unterrichtsstunden des Projekts war möglich; Us: language support für Redewen‐ dungen; SA: Gruppenarbeit; Mo: authentische Aufgabe mit au‐ dience; relevante Aufgabe, da Ler‐ nende vom fremdkulturellen Partner um ihre Meinung gefragt werden; AP: Stellungnahme der Lernenden gegenüber dem indischen Kommuni‐ kationspartner zu ihrem Indienbild. 314 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="315"?> • I like … / I’m fascinated by … / It’s great that …. • I don’t like …. / I was shocked about … / I cannot understand why … • There are some things I don’t un‐ derstand. Why ……. ? • What I know about India is mostly from …(e.g. TV), but also from … • In your interviews I heard for the first time that ……. • Yesterday/ last Thursday I was sur‐ prised to hear ….. • When I think about my parents and friends I would say India is perhaps seen like this. People think that India ….. People like / don’t like …. • I hope this was interesting for you. • Greetings from Germany / Good-bye / Best wishes from Ger‐ many. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Die Lernenden reflektieren insbeson‐ dere, welche Wirkungen die für manche unerwarteten Informationen hatten, dass die indischen Software‐ entwickler eine besonders gute schu‐ lische Bildung und berufliche Ausbil‐ dung genossen haben, sowie dass indische Softwareentwickler welt‐ weit gefragte Fachleute sind. Ein zweiter Schwerpunkt des Interviews war die Reflexion der Problematik, wie man bei interkulturellen Kon‐ takten Kritik äußert, ohne den An‐ deren zu verletzen. Welche Informationen waren für Euch unerwartet? Wie findet Ihr es, dass wir bei den in‐ dischen Softwareentwicklern nach‐ fragen, was wir in der Ausbildung von Softwareentwicklern besser machen können? Hat für Euch Bildung den gleichen Stel‐ lenwert wie für die interviewten Soft‐ wareentwickler? Ip: Reflexionsimpulse; Ai: eigene Vorstellungen reflektieren; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; SA/ Mo: intensive Diskussion in Kleingruppen; AP: Stellungnahme der Lernenden. 315 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="316"?> Könntet ihr euch vorstellen für ein paar Jahre oder eventuell auch für immer in einem anderen Land zu arbeiten? Wie war es für Euch, Herrn [Software‐ entwickler 1] über Euer Bild von Indien zu berichten? Was muss man bei so einer Mitteilung beachten im Vergleich zu unseren Ge‐ sprächen im Klassenzimmer? Tab. 14: Planung von Aufgabe 6 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.6.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: In der hier vorgestellten sechsten Aufgabe des zweiten Forschungszyklus reflektieren die Lernenden ihre Konzepte hinsicht‐ lich fremdkultureller Praktiken von Ausbildung und Arbeitswelt und dem damit verbundenen Selbstverständnis von fremdkulturellen Partnern. Die vorliegende Aufgabe 6 ist die einzige neu hinzugekommene Aufgabe des zweiten Zyklus. Sie ist also nicht zuvor erprobt worden. Während bei allen anderen Aufgaben des zweiten Zyklus die Aufgabenplanungen (task-as-workplan) mit den Aufgaben‐ durchführen (task-in-process) weitgehend übereinstimmten, ergaben sich für die vorliegende Aufgaben mehrere Abweichungen. Sie werden in der folgenden abschnittsweisen Darstellung diskutiert. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (allgemein) • Video-/ Audioaufnahme Besprechung zu Aufgabenschritt C • Audioaufnahmen der Gruppenaushandlungsprozesse • Aufgabenprodukte: Bearbeitete Arbeitsblätter • Audioaufnahmen der Reflexionsphase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscherinnen von IKL-relevanten Lerneraussagen A) Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken Nach kurzer Begrüßung und organisatorischen Hinweisen wurden die Lern‐ enden gebeten, sich gruppenweise über ihre Schulkarrieren, ihre Betriebsprak‐ tika (die in der Folgewoche beginnen sollten) sowie ihre Ausbildungs- und Be‐ rufspläne auszutauschen. Diese Aspekte hatten die Lernenden als Hausaufgabe vorbereitet. Die Ergebnisse hielten sie, wie von der Aufgabenstellung verlangt, stichpunktartig in einer Tabelle fest. Für diese Gruppenarbeit waren 5-8 Minuten Arbeitszeit vorgesehen. Inklusive Aufgabenerläuterung dauerte die Phase etwas 316 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="317"?> mehr als 12 Minuten. Das Unterrichtsvideo zeigt eine recht konzentrierte Arbeit in den Gruppen. Die Lernenden waren offensichtlich daran interessiert, Neues über ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zu erfahren. Insofern ist auch davon auszugehen, dass Wissenskompetenzen über eigenkulturelle Praktiken zu mög‐ lichen Bildungs- und Berufskarrieren vertieft wurden. Dass sich die Lernenden mit ihren eigenkulturellen Praktiken auseinandersetzten, war eine gute Vorbe‐ reitung für die weiteren Inhalte der Unterrichtsstunde. Doch es stellt sich die Frage, ob der gleiche Erfolg nicht auch ökonomischer hätte erreicht werden können. Die Sozialform Gruppenarbeit kann in einer Unterrichtsstunde nicht beliebig oft Anwendung finden. Da später in zwei weiteren Unterrichtsphasen Gruppenarbeit vorgesehen war, hätte im Aufgabenschritt A auch im Lehrer-Schüler-Dialog gearbeitet werden können. Folgende Aspekte sollten für den nächsten Einsatz der Aufgabe verbessert werden: a) Die stichwortartige Verschriftlichung der Beiträge der einzelnen Gruppenmitglieder sollte sicher‐ stellen, dass jedes Gruppenmitglied zum Austausch beiträgt. In den Gruppen erwies sie sich dann aber als Bremsschuh, die Lernenden mussten warten, bis der Gruppenprotokollant notiert hatte. Das bremste die Dynamik der Ge‐ spräche. Da die Verschriftlichung später keine Verwendung fand, sollte sie ent‐ fallen. b) In den Gruppen fanden nur wenige Aushandlungen statt. Die Grup‐ penmitglieder berichteten zu ihren Erfahrungen und Plänen, doch mündete dies nur selten in Diskussionen. Die Aufgabe hätte stattdessen vorsehen sollen, dass die Lernenden mit ihren vorbereitenden Hausaufgaben zusammenkommen und nun Aushandlungen vornehmen, die Diskussionen und Bewertungen der vor‐ gestellten eigenkulturellen Praktiken enthalten. Beispielsweise hätte es darum gehen können, wie die Lernenden dazu stehen, dass Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg bereits nach dem vierten Schuljahr in Haupt- und Re‐ alschule bzw. Gemeinschaftsschule sowie Gymnasium aufgeteilt werden. Ler‐ nende wie S45, die für sich in die Tabelle eingetragen hat, dass sie die sechsjäh‐ rige Grundschule in Berlin besucht hat, hätten dabei alternative Perspektiven einbringen können. c) Solcherlei Aushandlungen bedürfen aber viel Zeit, und gerade in der ersten Phase der Unterrichtsstunde ist eine Diskussion und Re‐ flexion rein aus den eigenkulturellen Erfahrungen heraus - ohne einen fremd‐ kulturellen Vergleich ziehen zu können - weniger effektiv hinsichtlich des in‐ terkulturellen Lernens als in einer späteren Unterrichtsphase und auch aus unterrichtsdramaturgischen Gründen vermutlich verfrüht. Deswegen komme ich im Nachhinein zu dem Schluss, dass ein gut geführtes Unterrichtsgespräch mit der Präsentation der Schul- und Ausbildungskarrieren sowie Berufswün‐ schen von einzelnen Lernenden hier die bessere Wahl gewesen wäre. Diese Al‐ ternative hatte sich bereits in mehreren anderen Unterrichtsstunden des Pro‐ 317 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="318"?> jekts bewährt (vgl. die Unterrichtsstunden zu How Sita and Deepak met und Comparing our jobs with Ashok’s job in Kanchipuram). Folgerung 65: Die Sozialform Gruppenarbeit fördert interkulturelle Kom‐ petenzen in den Kompetenzbereichen Bewertung und attitudes insbesondere dann, wenn sie die Aktionsform ‚Aushandlungsprozesse‘ nutzt. Aufgaben, die den Lernenden keine Aushandlungen abverlangen, können auch mit an‐ deren (zeitökonomischeren) Sozialformen bearbeitet werden. Folgerung 66: Das Unterrichtsgespräch ist bei interkulturellen Lernauf‐ gaben eine geeignete Sozialform für die Einstiegsphase. Wenn die Einstiegs‐ phase in Form eines Unterrichtsgesprächs gestaltet wird, kann die Lehrkraft Vorerfahrungen der gesamten Klasse vereinen und steuernd in das Gespräch eingreifen, um zu fokussieren oder thematisch auszuweiten. B) Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsicht‐ lich anderskultureller Praktiken aus Für den nächsten Aufgabenschritt verblieben die Lernenden in ihren Arbeits‐ gruppen. Ihre Aufmerksamkeit wurde allerdings auf die gemeinsame Betrach‐ tung eines projizierten Fotos gelenkt. Das Foto zeigte die obere Körperhälfte eines Mannes mittleren Alters mit dunklem Teint in kariertem Hemd (siehe Anlage 3). Hinweise auf die Tätigkeit des Mannes wurden mit digitaler Bildbearbeitung ent‐ fernt. Die Lernenden erhielten nun den Auftrag, darüber zu spekulieren, welcher beruflichen Tätigkeit der Mann nachgeht und welche schulische Bildung er ge‐ nossen hat. Das Foto zeigte einen der drei Softwareentwickler, deren Interviews uns in der nächsten Aufgabenphase als Input zu den fremdkulturellen Praktiken dienten. Die Lernenden berieten sich in den Kleingruppen zu möglichen Berufen und Schullaufbahnen. Anschließend wurden die Vorschläge der Gruppen im Un‐ terrichtsgespräch besprochen. Die Lernenden schlugen als Berufe barber, hairdr‐ esser, farmer, makes carpets, Schneider und Bauarbeiter vor. Als vermutete Schul‐ laufbahn wurden genannt: „four years of primary school“, „no school and no professional training“, „He broke school at twelve“ und „only primary school“. Keine Gruppe zog in Betracht, dass der Mann einen akademischen Abschluss haben könnte. Alle Gruppen wiesen dem Mann Tätigkeiten zu, die als einfache Berufe anzusehen sind. In keiner der vier Gruppen wird eine höhere Bildung oder eine anspruchsvolle berufliche Tätigkeit diskutiert. Entsprechend überrascht waren die Lernenden dann, als ich ihnen das un‐ bearbeitete Foto mit Büro und Rechnern zeigte (siehe Anlage 3). Nach einigen weiteren Bildern zum modernen 12-Personen-Büro einer kleinen Firma in Pune 318 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="319"?> (Indien), die Software programmiert, kündigte ich an, dass wir im nächsten Un‐ terrichtsschritt Interviews mit dreien der gezeigten Softwareentwickler hören und sehen würden. Meine ursprüngliche Intention mit diesem Aufgabenschritt war, eine Span‐ nung zu erzeugen, die zu besonderem Interesse für die folgende Erarbeitungs‐ phase führen sollte. Ich hatte richtig vorhergesehen, dass die Lernenden nach dem Input zu Ashok (bonded labourer) in Aufgabe 4 dazu neigen würden, dem gezeigten Mann einen einfachen Beruf zuzuschreiben. Der Gegensatz zwischen der Schülererwartung (einfacher Arbeiter) und der Realität (hochqualifizierter Softwareentwickler) sollte nun die Problemstellung einleiten (‚Welche schuli‐ sche Bildung und berufliche Ausbildung haben die interviewten Softwareent‐ wickler? ‘), die in der Folge bearbeitet werden sollte. Ich hatte erwartet, dass die Lernenden bei der Auflösung des Foto-Rätsels nun mit besonderem Interesse wegen der unerwarteten Wendung reagiert hätten. Es war aber eher so, dass sie tendenziell etwas verärgert schienen und mein Aufgabendesign eher als beab‐ sichtigte Täuschung ansahen. Eine durch einen kognitiven Konflikt geprägte Problemstellungsphase ist in der Regel besonders motivierend (vgl. beispiels‐ weise Problemstellung bei Aufgabe 4: Meine Lernenden verdienen mit ihren Taschengeldjobs bedeutend mehr als der bonded-labourer Ashok, der die ganze Woche arbeitet). Dennoch darf nicht, wie mir in Aufgabe 6 geschehen, der emo‐ tionale Aspekt im Umgang mit Lernerbeiträgen außer Acht gelassen werden. Während eine Vorwissensaktivierung normalerweise auf eine (Teil-)Bestäti‐ gung des Lernenden-Wissens abzielt, ergab sich hier kein bestätigender, d. h. auch rückversichernder und damit auch unterstützender Effekt für die Lern‐ enden. Sie wurden verunsichert. Vermutlich fühlten sie sich teilweise sogar hintergangen oder vorgeführt. Ein Indiz für diesen Schluss ist für mich auch der Umstand, dass sich die Lernenden, wie es zu sehen sein wird, in der (Klein‐ gruppen-)Reflexionsphase am Ende der Unterrichts-(doppel-)stunde schwer tun zu reflektieren, weshalb sie falsche Einschätzungen zum Beruf abgegeben hatten. Erst in einer zweiten Reflexion (im Klassengespräch) am folgenden Tag, berichteten die Lernenden von ihrer Überraschung dazu, dass der gezeigte Mann in der Softwareindustrie arbeitet. Alternativ würde ich in einer überarbeiteten Fassung des Unterrichtsprojekts stärker mit dem Vorwissen der Lernenden ar‐ beiten. Beispielsweise war mehreren Lernenden bekannt, dass Indien in der IT-Branche eine wichtige Rolle spielt. Eine Vorwissensaktivierung, die traditio‐ nelle und moderne Berufe einbezieht, hätte die Lernenden in ihrem Vorwissen bestätigt und unterstützt. In der Erarbeitung kann dann dennoch der Frage nachgegangen werden, wie es zu den offensichtlichen Disparitäten hinsichtlich schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung bei den fremdkulturellen Prak‐ 319 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="320"?> tiken kommt. Die Interesse-erzeugende Spannung entsteht dann nicht aus dem Gegensatz ‚Lerner-Vermutung zum Bild versus Realität‘ sondern aus den ‚Un‐ terschieden hinsichtlich Zugängen zur Bildung‘. Folgerung 67: Wenn zu Beginn der Aufgabe mit dem Vorwissen der Lern‐ enden zu eigen- oder fremdkulturellen Praktiken gearbeitet wird, sollte die Lehrkraft beachten, dass Lernende sich nicht bloßgestellt oder getäuscht fühlen, wenn sie in ihren Beiträgen fehlerhafte bzw. ergänzungsbedürftige Wissensbestände zeigen. Die Bedeutung des Lehrer-Schüler-Bezugs ist ein hohes und schützenswertes Gut. Folgerung 68: Wenn die Lehrkraft das Vorwissen der Lernenden zu anders‐ kulturellen Praktiken aktiviert (Aufgabenschritt B ‚Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus‘), dann sollte dies unter umsichtiger Vorplanung und sensibler Durch‐ führung geschehen. Die Lehrkraft sollte möglicherweise sich aufzeigenden Stereotypen in Frage stellen, ohne belehrend und bloßstellend zu agieren. C) Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte Zu Beginn der Input-Phase erläuterte ich den Lernenden die Entstehung der Interviews mit den Softwareentwicklern. Wie geplant stellte ich zunächst die drei interviewten Softwareentwickler mittels 1-2-minütigen Interviews vor. Die Lernenden verfolgten die Interviews sehr konzentriert. Ihren Reaktionen, Schmunzeln und Lachen an den richtigen Stellen, entnahm ich, dass sie die aus‐ gewählten Interviewpassagen gut verstanden hatten. Ein wiederholtes An‐ schauen konnte entfallen. Anschließend erhielten die Lernenden ein Textblatt, welches meine Interviewfragen und die dazugehörigen Antworten der drei In‐ terviewten wiedergab. Es ging um die Meinungen und berichteten Praktiken der Interviewten zu den Themenfeldern 1. school, education, university, 2. importance of religion, 3. working abroad, 4. role of women und 5. software development in Germany. Die Lernenden erhielten nun den Auftrag, in Einzelarbeit in den Texten zu markieren, welche der von den Software-Entwicklern präsentierten Informationen für sie neu waren und welche sie schon kannten. Zu den bereits bekannten Informationen sollten die Lernenden, wenn möglich, die Quellen be‐ nennen. Von 25 Lernenden konnte das bearbeitete Arbeitsblatt für die Aufga‐ benanalyse ausgewertet werden. Zu den Informationen der Software-Ent‐ wickler vermerkten die Lernenden, dass Ihnen bislang unbekannt war, dass in Indien ab dem Alter von 14 Jahren Schulgeld zu bezahlen ist (16 von 25), dass 320 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="321"?> es dort Kindergärten gibt (14) und dass Akademiker eine komplexe Bildungs‐ karriere durchlaufen (12). Ferner waren für die Lernenden die Aussagen der Software-Entwickler neu, dass viele gut ausgebildete Inder phasenweise im Ausland arbeiten (9), dass Frauen eine zunehmend wichtigere Rolle in der Soft‐ ware-Industrie und in anderen Industrien spielen (8) und dass Indien das Land mit der größten Anzahl an Ingenieuren und Promovierten ist (5). Es zeigte sich, dass ein Großteil der als unbekannt eingeschätzten Informationen in den Be‐ reich von Schule und Beruf fällt. Als bekannte Aspekte markierten die Lernenden in den Interviews hingegen, dass Indien ein religiös geprägtes Land sei (17). Als bekannt vermerkt wurden ebenfalls historische Aspekte des Landes (7) und der Wandel der Frauenrolle (7). Bei allen drei Themen verwiesen die Lernenden auf Schule und Fernsehrepor‐ tagen als die Quelle ihres Wissens. Möglicherweise bilden sich in den Antworten der Jugendlichen auch Themen des Religionsunterrichts ab. Bislang scheint im Religionsunterricht allerdings die schwindende Bedeutung von Religionen in den Städten und unter Akademikern nicht thematisiert zu werden. Die sich wandelnde Rolle der Frau fand bei meinen Lernenden eine recht starke Beach‐ tung. Es gab sowohl Lernende für die diese Informationen neu waren, als auch welche, die sie schon kannten. Das Unterrichtsvideo dokumentiert für die nachfolgende Ergebnisbespre‐ chung vierzehn Schülermeldungen, die sich passend in die oben dargestellte Gesamtschau einfügen. S47 meinte beispielsweise, dass es ihr bekannt gewesen sei, dass Indien ein religiös geprägtes Land ist. Allerdings wäre es für sie neu gewesen, dass gebildete Menschen wie Softwareentwickler nicht religiös seien. S46 war verwundert, dass zwei der drei Interviewten noch nicht verheiratet waren. Sie hatte erwartet, dass alle verheiratet sind. S34 meldete sich dazu, dass er nicht erwartet hätte, dass die Softwareentwickler meinen „I’m not a religious person, I’m too much a logical person, to be a religious person“. S31 hatte er‐ wartet, dass die Studiengebühren niedriger sind, und S44 war offensichtlich von der Komplexität des indischen Bildungssystems überrascht. Die meisten Mel‐ dungen verweisen auf ein eher traditionelles Indien-Bild der Lernenden. Nur vier der vierzehn Meldungen enthalten Hinweise auf ein modernes Bild von Indien. Diese Lernenden gaben als bekannt an: Kindergärten, moderne Frauen‐ rolle, phasenweise berufliche Tätigkeit im Ausland, Schulgebühren. Ursprüng‐ lich war als nächste Phase geplant, dass die Lernenden in Gruppen zur Frage eines der Interviewten Softwareentwickler schriftlich Stellung nehmen: „What is the kind of image that India has? “ Diese Textproduktion wurde aus Zeit‐ gründen in leicht abgewandelter Form erst in einer Folgestunde durchgeführt 321 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="322"?> (s. u.). In der Stunde selbst schlossen sich die Gruppeninterviews mit der Auf‐ gabenreflexion an. Die Aussagen und Aufgabenbearbeitungen meiner Lernenden waren für mich hilfreich, um einen Eindruck ihres Bildes zu den angesprochenen fremdkultu‐ rellen Praktiken zu gewinnen. Ferner war die Aufgabe dazu geeignet, Wissen zu Indien aus der Perspektive dreier Softwareentwickler zu vermitteln. Ge‐ messen an dem, was für die Lernenden alles neu gewesen war, hatten die Lern‐ enden viele Lernchancen, ihre interkulturellen Wissenskompetenzen zu erwei‐ tern. Dabei setzten sie sich nicht mit vermeintlich objektivem Faktenwissen auseinander, wie es häufig in Autorentexten von Schulbüchern enthalten ist, sondern erhielten im Sinne eines modernen Kulturbegriffs Einblicke dazu, wie konkrete und authentische fremdkulturelle Partner sich und ihre kulturellen Praktiken sehen (hier z. B. Stolz auf Errungenschaften, Ablehnung religiöser Traditionen). Der Aufgabenschritt und die gesamte Aufgabe waren an kogni‐ tiver Wissensvermittlung orientiert. Wenn neben dem Wissenszuwachs weitere interkulturelle Kompetenzen vermittelt wurden, dann nahmen sie von den kog‐ nitiven Auseinandersetzungen ihren Ausgang (Abgleich von alten Vorstel‐ lungen mit neuen Informationen). Im Nachhinein würde ich es als kritisch ein‐ schätzen, dass der Aufgabenschritt keine Aushandlungsprozesse zu kulturellen Praktiken enthielt. Die Lernenden hätten beispielsweise eine Gruppenarbeit zur Bewertung von neuen Informationen bearbeiten können. Damit fehlte den Lernenden eine Lern- oder Anwendungschance für ihre interkulturellen Kom‐ petenzen. Für die Beforschung des Projekts fehlte dadurch auch eine Möglich‐ keit des einfachen Nachweises von interkulturellen Kompetenzen. Gedachtes kann kaum beforscht werden, es bedarf der Vorgabe, dass die Lernenden sich austauschen müssen. Folgerung 69: Wenn Aufgaben beim Wissensinput (Aufgabenschritt C) von Lernenden verlangen, dass sie unterscheiden sollen, welche Informationen neu für sie sind und welche bekannt, und die Quellen der bereits bekannten Informationen angeben, dann können sich die Lernenden ihrer Wissensbe‐ stände und derer Quellen bewusst werden. Folgerung 70: Wenn fremdkulturelle Personen Wissen zu ihren Praktiken vermitteln und Lernende den Input mit anderen Quellen vergleichen, er‐ fahren Lernende, dass Informationen immer perspektivengebunden sind. Die scheinbare Objektivität von Schulbuchtexten, Aussagen der Lehrkraft, schü‐ lerrecherchierten Informationen und der Informationen von fremdkultu‐ rellen Personen wird dekonstruiert. Bedeutung kann nun unter Berücksich‐ tigung von Perspektive interpretiert und ausgehandelt werden. 322 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="323"?> Folgerung 71: Wenn die Integration von neuem Wissensinput in die beste‐ henden Konzepte von Lernenden gefördert und erforscht werden soll, dann sollten Aufgaben Wissensinput mit Aushandlungsprozessen zur Bewertung der neu vermittelten fremdkulturellen Praktiken kombinieren. Ohne Aus‐ handlungsprozesse wird die Chance zur vertieften Auseinandersetzung mit den Praktiken sowie zur Beforschung der interkulturellen Kompetenzent‐ wicklung vergeben. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Für die Aufgabenreflexion musste der Leitfragenkatalog um die letzten Fragen gekürzt werden, da sie sich auf den letzten Aufgabenschritt bezogen, der aus Zeitgründen verschoben wurde. Davon abgesehen konnte die Reflexionsphase wie geplant durchgeführt werden. Die Reflexionen begannen damit, die Lern‐ enden zu fragen, welche Informationen neu für sie gewesen waren. Mit diesem Abgleich des alten Bildes mit den neuen Informationen erhielten die Lernenden die Gelegenheit, sich ihrer fremdkulturellen Repräsentationen in der Gruppe bewusst zu werden und die neuen Informationen zu integrieren. In allen inter‐ viewten Gruppen fanden sich mehrere Beispiele dafür, dass die Lernenden viele neue Informationen erhalten hatten. Die Interviews bestätigten die Interpreta‐ tionen zu den Bearbeitungen des Textblattes und den Meldungen der Lernenden in der Klasse. Beispielsweise berichteten die Lernenden auch hier davon, dass sie zuvor kaum Vorstellungen zum Bildungswesen in Indien hatten. Co-Forscherin 4: Welche Informationen waren denn für euch heute uner‐ wartet? Womit hattet ihr nicht gerechnet? S47: Dass soviel über die Schulen kommt [dass die Software‐ entwickler so viel über die Schule berichten]. Die [Infor‐ mation], dass die das alles zahlen müssen und so. Co-Forscherin 4: Dass die das zahlen müssen? Was hattest du gedacht, wie Schule abläuft? Oder was hattet ihr alle gedacht? S61: Ich hatte überhaupt keine Ahnung davon. (lacht) S47: Ja. Co-Forscherin 4: Hattest du nicht gesagt, dass du dachtest, dass es gar keine Schule gibt in Indien? S44: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass ich überhaupt keine Ahnung von der Schule überhaupt habe in Indien. Co-Forscherin 4: Aha. S44: Also ich wusste bloß, dass sie hingehen, aber Konkretes wusste ich da, oder weiß ich da nichts. Co-Forscherin 4: M-h [bestätigend]. Und dann wisst ihr jetzt mehr? 323 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="324"?> S44: Ja. Co-Forscherin 4: S61, was sagst du dazu? S61: Also ich habe auch nicht so viel gewusst. Ich habe nur ge‐ wusst, dass es auch etwas kostet. Damit die Schule…ja, mehr hab ich eigentlich nicht gewusst. […] Co-Forscherin 4: Was hattet ihr erwartet, wie die Schule ist? Also ihr habt noch nichts gewusst, aber was hättet ihr, wenn ihr etwas hättet sagen müssen dazu, was hättet ihr gesagt? Ist das so ähnlich aufgebaut wie in Deutschland? S44: Dass die halt nur, wenn sie klein sind, in die Schule gehen und dann halt, ähm … [Abbruch] S47: Arbeiten oder halt arbeiten müssen. S44: Dass die halt eben bis zu einem gewissen Alter, bis sie 12 sind oder so [zur Schule gehen], und danach Arbeiten gehen oder so. Datenquelle: Z2 A6 Fo4 GI, 00: 07-01: 27 Hier im Interview sind die Gedanken der Lernenden deutlich besser nachvoll‐ ziehbar als in den vorangegangenen Aufgabenschritten. Durch diese Triangu‐ lation konnte beispielsweise das Missverständnis aufgeklärt werden, dass wir nach dem Anschauen des Unterrichtsvideos zunächst dachten, S44 glaubte, es gäbe überhaupt keine Schulen bzw. keine Schulpflicht in Indien, dabei hatte die Schülerin ausdrücken wollen, sie wisse nichts über das Schulwesen in Indien („Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass ich überhaupt keine Ahnung von der Schule überhaupt habe in Indien“). Während in den vorange‐ gangenen Aufgabenschritten fast nur erfasst wurde, ob den Lernenden ein Wis‐ sensitem bekannt war oder nicht, konnte im Interview differenziert auf die bis‐ herigen Vorstellungen eingegangen werden (Co-Forscherin 4: „Was hattet ihr erwartet, wie die Schule ist? […]“ S44: „Dass die halt nur, wenn sie klein sind, in die Schule gehen […]“). Die Kenntnis des Vorwissens der Lernenden erleich‐ tert der Lehrkraft die Aufgabenplanung. Ferner kann der Lernprozess in das Bewusstsein der Lernenden gerückt werden (Co-Forscherin 4: „Mhm. Und dann wisst ihr jetzt mehr? “ S44: „Ja“). Die Lernenden können sich nicht nur darüber bewusst werden, dass ihre bisherigen Informationen möglicherweise unstimmig oder unvollständig waren, sondern sie können dieses ‚in-Frage-stellen‘ auch auf ihren fremdkulturellen Wissensbestand generell übertragen und die Zuverläs‐ sigkeit ihrer Wissensbestände kritisch hinterfragen. Reflexionen zu den Quellen der Wissensbestände (vgl. vorhergehenden Aufgabenschritt) können diese Selbstkritikfähigkeit in Richtung Quellenkritikfähigkeit erweitern. 324 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="325"?> Folgerung 72: Wenn Aufgaben beforscht werden, dann sind Interviews ein wichtiges Glied der Verstehensprozesse und der Datentriangulation. In Grup‐ penaushandlungen oder im Klassengespräch können häufig interkulturelle Kompetenzen nachgewiesen werden. Um diese Kompetenzen zu ergründen und ein vertieftes Verständnis ihrer Entstehung und Ausprägung zu erhalten, bedarf es sehr oft der Gruppeninterviews der Reflexionsphase. Diese Trian‐ gulation reduziert auch Fehlinterpretationen. Folgerung 73: Wenn Aufgaben Lernende erfahren lassen, dass ihr Wissen zu fremdkulturellen Praktiken nicht mit berichtetem Wissen aus anderen Quellen übereinstimmt, dann können Reflexionen zu den Differenzen zu einem kritischen Bewusstsein für die eigenen Wissensbestände führen. Die Lernenden erkennen, dass die eigenen Konzepte vom Fremden keine absolute Gültigkeit beanspruchen können und ein vorsichtiger Umgang mit den Wis‐ sensbeständen angemessen ist. Im nächsten Schritt setzten sich die Lernenden damit auseinander, dass die in‐ dische Softwareindustrie weltweit eine besondere Rolle einnimmt, und sie über‐ legten, wie sie selbst dazu stehen, z. B. bei den interviewten Softwareentwicklern nachzufragen, wie man die Ausbildung von Softwareentwicklern hier verbes‐ sern kann. Die Lernenden kannten aus den Interviews die Aussagen der Soft‐ wareentwickler auf meine Frage nach den Gründen für die besondere Rolle der indischen Softwareindustrie: „In India technical education is very important“ (Softwaredeveloper 1); „India’s government invested a lot in the IT sector. The government saw very early how important the IT industry is.“ (Softwaredevel‐ oper 2) und „Everybody studies English in India. Everything in the software area is in English. This could be the reason. Your pupils should learn English.“ (Soft‐ waredeveloper 3). Co-Forscherin 2: Wie findet ihr das, dass man dazu [Verbesserung der Aus‐ bildung für Softwareentwickler] nachfragt in Indien? S32: Hm. Eigentlich unlogisch. Weil, verbessern kann man ei‐ gentlich nichts [in Deutschland], man bräuchte eigentlich nur einfach mehr Leute, die es machen. Co-Forscherin 2: Also du findest es nicht nötig, dass man in Indien nach‐ fragt? S32: Nein. Co-Forscherin 2: Okay. S42, wie findest du das? S42: Das sehe ich auch so. 325 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="326"?> Co-Forscherin 2: Also du hältst es auch nicht für nötig, dass man in Indien sich erkundigt. Jetzt ist es aber ja trotzdem so, dass Indien eben einfach besser ist, in dem Bereich. S42: Ja, wir sind auch gut. Die sind einfach besser, aber … [kurze Pause] das ist doch nicht schlimm. Co-Forscherin 2: Okay. Und wie seht ihr jetzt die Zukunft von Indien im Vergleich zu Deutschland? S41: Auf jeden Fall macht Indien immer mehr [Computer-]Pro‐ gramme. Jedenfalls als Deutschland, glaube ich. Datenquelle: Z2 A6 Fo2 GI, 03: 22-04: 09 S32, der bei anderen Aufgaben ein besonderes Bewusstsein für andere Perspek‐ tiven gezeigt hatte (vgl. Aufgabe 4, S. ), kann sich an dieser Stelle und im weiteren Interviewverlauf nicht auf die Perspektive einlassen, bei indischen Softwareent‐ wicklern um Rat zu bitten, wie man die Ausbildung für Softwareentwickler in Deutschland verbessern könnte. Zunächst wirkt es so, als hätte S42 die gleiche Meinung wie S32. Doch als die Co-Forscherin nachfragt, zeigt es sich, dass S42 eine Bitte um Rat nur deswegen für unnötig hält, da er der indischen Softwa‐ reindustrie ihre besondere Rolle voll zugestehen kann. Auch S41 scheint die besondere Rolle der indischen Software-Branche akzeptieren zu können. S32 hatte durch die Aufgabenreflexion die Gelegenheit, sich damit auseinanderzu‐ setzen, dass es neben seiner eigenen Position auch Lernende gibt, denen es leichter fällt, fremdkulturellen Praktiken eine besondere Rolle zugestehen zu können. Folgerung 74: Wenn in Aufgaben auf die Anerkennung der Lernenden für besondere anderskulturelle Leistungen abgehoben wird, dann können Ler‐ nende, die diese Leistungen eigentlich nicht anerkennen wollen, feststellen, dass es auch Lernende gibt, die offen für solche Sichtweisen sind. Ihre selbst‐ zentrierte Perspektive wird relativiert. Die Thematik Bildung spielte in der vorliegenden Aufgabe eine besonders wich‐ tige Rolle und sollte deswegen auch in den Gruppeninterviews fokussiert werden. Die Impulsfrage aus dem Leitfadeninterview dazu lautete „Hat für Euch Bildung den gleichen Stellenwert wie für die interviewten Softwareentwickler? “ Die Auseinandersetzung mit dieser Frage führte zu einem besonderen Maße an Selbstreflexion. Die Lernenden setzten sich ernsthaft mit ihrer Einstellung zu Schule und Bildung auseinander. Die Beschäftigung mit fremdkulturellen Prak‐ tiken bewirkte Reflexionen zu den eigenkulturellen Praktiken der Lernenden. 326 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="327"?> Co-Forscherin 1: Hat Bildung für euch den gleichen Stellenwert wie für die interviewten Softwareentwickler? S37: Bestimmt nicht. S40: M-m [Nein]. Co-Forscherin 1: Alex? S40: Ich glaub’s nicht. Co-Forscherin 1: Wieso nicht? S40: Ja, weil, bei uns ist ja alles umsonst, so gesehen. Die müssen ja zahlen. Und dadurch, glaube ich, die verhalten sich nicht so im Unterricht. Ich glaube die sitzen ruhig da, nicht so wie wir. Alle: [lachen/ schmunzeln] Co-Forscherin 1: Und was können die Gründe dafür sein, abgesehen davon, dass sie vielleicht für den Unterricht zahlen? S34: Die sind froh, dass sie lernen dürfen. S37: M-h [ Ja]. S40: Ja. Co-Forscherin 1: Und wieso seid ihr nicht froh? S34: Weil bei uns ist es selbstverständlich. S37: Weil bei uns ist es Standard, das ist sozusagen Zwang. Co-Forscherin 1: Ja, aber es ist ja trotzdem für eure Zukunft! Ihr macht ja … [Abbruch]. Ihr beeinflusst das ja auch. S37: Ja, schon klar, aber wir sehen das halt mit anderen Augen wie die. […] Co-Forscherin 1: S38? S38: Ja, ich glaube, wir sind alle froh, dass wir lernen dürfen. Nur [lacht], wir wollen es halt nicht zugeben. Co-Forscherin 1: [lacht] Ja, das kann auch sein, ja klar. S38: Es ist aber so. Es ist echt so. Datenquelle: Z2 A6 Fo1 GI, 05: 19-06: 17 Die Lernenden reflektierten Gründe dafür, dass die kulturelle Praktik ‚Schulbe‐ such‘ in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedliche Wertschätzung bei den Praktizierenden erfährt. Durch den interkulturellen Vergleich und Überle‐ gungen dazu, warum die Praktik Schulbesuch unterschiedlich konnotiert ist, be‐ schäftigten sich die Lernenden intensiv mit ihren eigenkulturellen Konzepten. Durch die Kontrastierung wurden die Unterschiede besonders gut erkennbar und die Lernenden nutzten die Lerngelegenheit, sich mit ihrer teils gespielten ge‐ ringen Wertschätzung für Schule auseinanderzusetzen. S37 artikuliert dabei auch Perspektivenbewusstsein „[…] wir sehen das halt mit anderen Augen wie die“. In 327 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="328"?> mehreren Beiträgen schwingt bereits eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung zu Schulbesuch mit (S40: „Ich glaube die sitzen ruhig da, nicht so wie [wir]“). Aber erst am Ende des vorgestellten Ausschnitts bringt S38, der in der Gruppe hoch angesehen ist, den Mut auf, entgegen der eigenkultu‐ rellen Gepflogenheiten seiner peer group darzulegen, dass er und die anderen froh sind, zur Schule gehen zu dürfen. Diese Aussage bleibt auch im weiteren Inter‐ viewverlauf unwidersprochen. Die Wendung verlief offensichtlich so uner‐ wartet, dass die Interviewerin die Aussage zunächst für eine ironische Bemer‐ kung hielt und lachte. Sie erkannte zunächst nicht, dass S38 sich von seiner üblichen Schülerrolle gelöst hatte, und brachte ihn durch das nicht-Ernstnehmen seiner Aussage dazu, sie zu wiederholen und ihre Ernsthaftigkeit zu unterstrei‐ chen. Über diesen Rollenwandel hinaus reflektierte S38 den Mechanismus der Darstellung der eigenkulturellen Praktik („wir wollen es halt nicht zugeben“). Die in der Aufgabe angelegten Möglichkeiten der Selbstreflexion wurden genutzt. Ferner bot die Aufgabe die von S38 genutzte Möglichkeit, sich zu seinen wahren Überzeugungen zu bekennen, da er in einer ernsthaften Reflexion für voll und erwachsen angenommen wurde und es dann als unpassend empfand, die sonst vorgetragene jugendlich-coole Ablehnung von Schule beizubehalten. Folgerung 75: Wenn eine Aufgabe die Lernenden dazu auffordert, fremd- und eigenkulturelle Praktiken zu vergleichen und dabei ihre Wertschät‐ zungen für diese Praktiken vergleichend zu reflektieren, dann erhalten die Lernenden die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Sie können ihre eigenkultu‐ rellen (und möglicherweise vorgeschützten) Wertschätzungen reflektieren und unter der Bedingung von Ernsthaftigkeit und Vertrautheit im Interview‐ gespräche gegebenenfalls auch korrigieren. Folgerung 76: Wenn die Interviewten in Gruppeninterviews ernsthaft und als vollwertige Personen angesprochen werden, dann erhalten sie die Lern‐ chance bei Reflexion der Inhalte als ernsthafte Partner im Diskurs zu inter‐ agieren. Lernende können die sonst üblichen Rollenmuster verlassen und sich zu ihren wahren Überzeugungen bekennen. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse ein zweites Mal Im Nachhinein, bei genauer Auswertung, erwiesen sich die Interviewdaten aus der Reflexionsphase im direkten Anschluss an die Aufgabenbearbeitung als sehr brauchbar (s. o.). Während der Projektdurchführung, wo fast täglich die nächste Aufgabe zum Unterrichten anstand, und ich nur wenig Zeit für eine genaue Durchsicht der neuen Daten hatte, war hingegen mein erster Eindruck gewesen, 328 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="329"?> dass die Gruppeninterviews wenig zielführend verlaufen seien. Am Folgetag, an dem die Lernenden dann die Aufgabe zu den Schulbuchseiten (Postern) bear‐ beiteten, startete ich deswegen den Unterricht mit einer zweiten Reflexions‐ phase zur Aufgabe mit den Softwareentwicklern vom Vortag in Form eines Un‐ terrichtsgesprächs mit der ganzen Klasse. Bei der vorliegenden Aufgabe zu den Softwareentwicklern wich ich am stärksten von der ursprünglichen Aufgaben‐ planung ab. Die zweite Reflexion war ursprünglich nicht geplant, ferner fand die Produktionsphase für das Aufgabenprodukt - eine Nachricht an den Soft‐ wareentwickler 1 zu formulieren - nachträglich statt, da sie zeitlich in der Un‐ terrichtsdoppelstunde nicht mehr zu realisieren war. Die Auswertung dieser zweiten Reflexionsphase erweiterte einerseits meine Einblicke in die Wirkung der Aufgabe. Andererseits ermöglichte sie einen ersten Vergleich dazu, ob die Reflexionen in Gruppeninterviews durch Reflexionen im Unterrichtsgespräch mit der ganzen Klasse ersetzt werden können, da in der täglichen Unterrichtspraxis eine Lehrkraft nicht auf mehrere Co-Forscher zu‐ rückgreifen kann. Schon während des ersten Projektzyklus in der anderen 9. Klasse war klar geworden, dass die Reflexionsphase in Form von Gruppenin‐ terviews der wichtigste Aufgabenschritt hinsichtlich des Nachweises interkul‐ tureller Kompetenzen ist. Sie ist aber nicht nur forschungsmethodisch be‐ deutsam, sondern auch aus pädagogischer Sicht wichtiges Element des Aufgabenverlaufs. Deswegen muss die Reflexionsphase ein Angebot an alle Lernenden einer Klasse sein und nicht nur an beforschte Teilgruppen. Die Durchführung der Reflexionsphase im Klassen-Unterrichtsgespräch gab mir die Gelegenheit zu erproben, wie eine Reflexion durchgeführt werden kann, wenn nicht mehrere Co-Forscherinnen für Interviews in Kleingruppen zur Verfügung stehen. Es geht also auch darum zu prüfen, ob eine Reflexion in Form eines Unterrichtsgesprächs eine brauchbare Alternative für den Unterrichtsalltag ist. Die Reflexion als Unterrichtsgespräch mit der ganzen Klasse zu Beginn des Unterrichts am Folgetag dauerte knapp 10 Minuten. Wir reflektierten, warum in den Medien zu Indien häufig ‚Armut‘ dargestellt wird, und warum nicht po‐ sitive Dinge, wie beispielsweise, dass Indien die größte Demokratie der Welt ist, oder die besondere Rolle Indiens in der Softwareentwicklung. Es gab insgesamt 20 Meldungen; 12 verschiedene Lernende kamen zu Wort. Im Vergleich dazu dauerten die Reflexionen als Gruppeninterviews (ca. 6 Lernende pro Gruppe) etwa genauso lang, es gab auch etwa gleich viele Meldungen pro Gruppenin‐ terview, allerdings kamen bei den Gruppeninterviews immer alle Lernenden einer Gruppe zu Wort. Durch die Aufteilung der Klasse in zumeist fünf Inter‐ viewgruppen verfünffachte sich die zur Verfügung stehende Redezeit und ent‐ sprechend auch die Anzahl der Meldungen. 329 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="330"?> Die Reflexion als Unterrichtsgespräch könnte wie die Gruppeninterviews am Ende einer Unterrichtsstunde stattfinden, oder wie hier erprobt am Folgetag. Mein Eindruck war, dass die Inhalte den Lernenden auch am Folgetag voll prä‐ sent waren. Je nach Aufgabe (beispielsweise bei emotional berührenden) kann es auch von Vorteil sein, wenn die Reflexion mit etwas zeitlicher Distanz erfolgt. Eine Reflexion am Folgetag erhielte ferner die Funktion eines wiederholenden Einstiegs. Bei aufeinander aufbauenden Aufgaben kann diese Vorgehensweise von Vorteil sein. In den Audioaufnahmen der Reflexionen als Gruppeninterviews gab es meh‐ rere Gesprächssituationen, bei denen ich dachte, dass solche Aussagen eine be‐ sondere Vertrautheit in der Gruppe voraussetzen. Beispielsweise die S. 305 zi‐ tierte Aussage von S38, dass die Lernenden froh sind lernen zu dürfen, es aber nicht zugeben wollten, hätte der Schüler vermutlich nicht vor der ganzen Klasse gemacht. Natürlich ist Vertrautheit im Klassenverband in hohem Maße von den individuellen Lehrer- und Schülerpersönlichkeiten abhängig. Es ist in der Ten‐ denz aber sicherlich gerechtfertigt zu sagen, dass in der Kleingruppe diese Ver‐ trautheit leichter herzustellen ist. Folgerung 77: Eine Aufgabenreflexion in der folgenden Unterrichtsstunde als wiederholender Einstieg kann sich anbieten, wenn eine starke emotionale Involviertheit der Lernenden eine Aufgabenreflexion am Tag der Aufgaben‐ bearbeitung behindert hätte. Folgerung 78: Wenn in der Reflexionsphase möglichst viele Lernende zu Wort kommen sollen, dann sollte die Reflexionsphase in der Sozialform Gruppenarbeit / Gruppeninterview mit zusätzlichen Lehrkräften bzw. For‐ schenden durchgeführt werden. Bei einer Reflexionsphase im Unterrichts‐ gespräch mit der ganzen Klasse können nicht alle Lernenden zu Wort kommen. Folgerung 79: Wenn die Reflexionsphase einer Aufgabe in Kleingruppen erfolgt, dann ist die Vertrautheit in der Kleingruppe größer als bei Re‐ flexionen in Form eines Klassenunterrichtsgesprächs. Die Interviewenden finden leichter Zugang auch zu zurückhaltenden Lernenden. Bei einer Re‐ flexion im Unterrichtsgespräch mit der ganzen Klasse hingegen kann die Lehrkraft nicht immer sicher einschätzen, ob sich die eher zurückhaltenden Lernenden zumindest geistig an Reflexionen beteiligen. Folgerung 80: Wenn Aufgaben in einem vorangegangenen Forschungs‐ zyklus bereits erprobt und optimiert wurden, dann sind die Abweichungen der task-in-process von der task-as-workplan in der weiteren Erprobung ge‐ ringer, als wenn die Aufgabe erstmals unterrichtet wird. Dies lässt den 330 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="331"?> Schluss zu, dass zumindest im Allgemeinen Erfahrungen mit Aufgaben von einer Klasse auf eine andere Klasse mit ähnlichen Kontextbedingungen über‐ tragen werden können. In inhaltlicher Hinsicht bestätigte die zweite Reflexion im Unterrichtsgespräch die Ergebnisse der ersten Reflexion in Kleingruppen und weitete die Erkennt‐ nisse hinsichtlich Medienkritik aus. Mueller: Wer von Euch hat gewusst, dass Indien eine viel größere Software Industrie hat als Deutschland? Wer hat gewusst, dass sie weltweit mit führend sind? Bitte melden. [einzelne Meldungen] Mueller: Du [S44] hast das schon mal gehört? S44: Ja, so ungefähr … [2-3 weitere unverständliche Worte]. Mueller: Und für wen war das überraschend? [mehrere Meldungen] Mueller: S51. S51: Indien stellt man sich als armes Land vor. Man denkt gar nicht daran, dass sie so viel Software- und Computerindustrie haben könnten. Man sieht es auch nicht so oft, wenn man mal Nach‐ richten über Indien hört oder so. […] [Reflexion der Gründe für die Fehleinschätzungen zum gezeigten Foto eines Softwareentwicklers, der ohne Rechner etc. gezeigt wurde.] Mueller: Warum wird zum Beispiel Armut in Indien häufiger dargestellt als die Software-Industrie, oder zum Beispiel dass Indien die größte Demokratie ist? S32: Weil das interessanter ist, als wie groß die IT-Industrie von Indien ist. S59: Vielleicht weil es auch mehr arme Menschen gibt als … [2-3 weitere unverständliche Worte]. S31: Weil es vielleicht keiner wissen will, wenn sie in so einem Artikel etwas lesen wie über die IT-Branche in Indien. Mueller: Woran kann das liegen, dass das nicht so interessant ist? S44: Die Sachen über Indien in der Zeitung, die sind einem eher ferner [fremd? ]. Wenn man so einen Artikel liest, dann ist das interes‐ santer, als wenn man so was liest, was man schon lange kennt. S51: Bei uns ist es [technischer Fortschritt, IT-Branche] eher normal. So richtig arme Leute gibt es bei uns ja gar nicht. […] Oder auch die Naturkatastrophen, das haben wir in Deutschland ja gar nicht, oder kaum. Datenquelle: Z2 A6 Fo6 Folgetag Reflexion2 Unterrichtsvideo11, 04: 18-09: 13 331 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="332"?> Das zentrale Thema der Reflexion in Form eines Unterrichtsgesprächs am Folgetag ist die Bedeutung der Medien für das Bild der Lernenden von Indien. S51, die den größten Anteil an dieser Diskussion hat, verweist schon in ihrem ersten Redebei‐ trag auf die Rolle der Medien („Man sieht es [Software-Industrie] auch nicht so oft, wenn man mal Nachrichten über Indien hört“), ohne dass ich in der Frage speziell darauf abgehoben hatte. Die Lernenden reflektierten dann, warum zu Indien häufig Armut gezeigt wird („Weil das interessanter ist“; „Weil es vielleicht keiner wissen will, wenn sie in so einem Artikel etwas lesen wie über die IT-Branche in Indien“). S44 und S51 stellen dann Überlegungen dazu an, welche Inhalte die Medienrezi‐ pienten besonders interessieren. Sie argumentieren, dass das für uns Übliche und Bekannte keinen besonderen Reiz hat, dass hingegen Nachrichten, die das für uns Unübliche und Exotische beinhalten, z. B. Nachrichten zu Armut und Naturkatst‐ rophen, für uns interessanter sind, weil so etwas „gibt es bei uns ja gar nicht“ und „das haben wir in Deutschland ja gar nicht, oder kaum“. In dieser zweiten Reflexion konnte die Rolle der Medien bei der Entstehung des Indien-Bildes der Lernenden reflektiert werden. Die gesamte Klasse verfolgte die Diskussion, und alle Lern‐ enden hatten die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Folgerung 81: Wenn Lernende die Herkunft ihrer Vorstellungen zu fremd‐ kulturellen Praktiken reflektieren, dann können sie erkennen, dass ihre Vor‐ stellungen durch Medien geprägt sind. Ferner kann reflektiert werden, welche fremdkulturellen Praktiken Medien bevorzugt transportieren und Rezipienten bevorzugt konsumieren. Beim Vergleich dieser transportierten Bilder mit der fremdkulturellen Alltagswelt kann ein medienkritisches Be‐ wusstsein entstehen. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus Die Unterrichtsphase der Produkterstellung - ein Feedback an den Software‐ entwickler 1 zu dessen Frage zum Image von Indien in Deutschland - konnte nicht wie geplant in der Unterrichtsdoppelstunde realisiert werden. Dieser Auf‐ gabenschritt wurde erst zwei Tage später im Anschluss an das zweite Interview der Klasse mit Frau Tagore, der indischen Gaststudentin, nachgeholt. Es war die letzte unterrichtete (Teil-)Aufgabe des Projekts. Die Aufgabe ‚School education of three software developers from Pune in India‘ wurde also an drei Tagen unter‐ richtet. Zunächst die eigentliche Aufgabe mit Reflexion in Kleingruppen an einem Tag. Am Folgetag wiederholte bzw. erweiterte ich die Reflexionsphase in Form eines Unterrichtsgesprächs mit der ganzen Klasse. Und einen weiteren Tag 332 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="333"?> später formulierten die Lernenden eine Botschaft auf die Frage, die der Soft‐ wareentwickler ihnen gestellt hatte. Um letztere Aufgabe geht es im Folgenden. Zu Beginn der Unterrichtsstunde zeigte ich den Lernenden erstmals den kurzen Ausschnitt aus der Videobotschaft, in der der indische Softwareent‐ wickler 1 meine Lernenden nach ihrem Image zu Indien fragt (Interviewer Mu‐ eller: „Have you got a question for my pupils? “, Interviewter Softwareentwickler 1: „What is the kind of image that India has? Because I think that there are a lot of misconceptions about India. […] People say that we are snake charmers and those kinds of [things? ]. Now actually those conceptions are changing“). Da die Tonqualität der Aufnahme minderwertig ist und der Softwareentwickler 1 Eng‐ lisch mit indischem Akzent spricht, lag den Lernenden gleichzeitig eine Tran‐ skription des Dialogs vor. Wir hörten uns diesen wenige Sekunden langen Ab‐ schnitt mehrmals an. Auf das Zeigen der Videobotschaft wollte ich trotz der geschilderten technischen Mängel nicht verzichten, da das Video die Authenti‐ zität der Aufgabe belegt und den Lernenden den Adressaten ihrer Antworten vor Augen führt. Anschließend erläuterte ich die Aufgabe gemäß des ausge‐ teilten Arbeitsblattes (Try to find an answer for Mr. [Softwareentwickler 1]’s qu‐ estion: What do you think about India at the moment? Where does the image come from? Has a part of the image changed during the project? Why? Why not? ) und erklärte die Verwendung des language support (Here is some language help. But please remember, you don’t have to use these sentences. You can use others. [Sätze des language support: siehe task-as-workplan, S. 292]). Ich ging davon aus, dass die Aufgabe von allen Lernenden verstanden worden war. Im Unterrichtsvideo ist allerdings festgehalten, dass ich in der fünften Minute der Bearbeitungszeit von S41, einem eher schwachen Schüler, gebeten wurde, noch Mal zu erklären, was zu tun sei. Dabei stellte sich heraus, dass er das englische Wort ‚image‘, das wir auch mit dem deutschen Fremdwort ‚Image‘ übersetzt hatten, nicht ver‐ standen hatte. Die Lernenden formulierten in Einzelarbeit in etwa acht Minuten eine Antwort an Herrn [Softwareentwickler 1]. Sie arbeiteten, so der Eindruck, größtenteils motiviert und zügig. Ausgelegte Wörterbücher (Deutsch-Englisch, Englisch-Deutsch) wurden verwendet. An die Einzelarbeitsphase schloss sich eine 3-minütige Phase an, in der sich die Lernenden mit ihren Gruppenpartnern kurz zu ihren Botschaften austauschten (Then you compare your answers in your group and you can change them if you want to). Eine spezifischere Aufgabenfor‐ mulierung zur Gruppenarbeit erfolgte nicht. Die Lernenden besprachen sich in ruhiger Atmosphäre mit ihren Nachbarn. Im Video hat es den Anschein, als ob diese Besprechungen wenig intensiv und nicht eng entlang den Texten erfolgen würden. Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den Texten der Mitschü‐ lerinnen und Mitschüler wären folgende drei Aspekte förderlich gewesen: a) 333 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="334"?> Statt in Kleingruppen arbeiten die Lernenden in Partnerarbeit. Dadurch muss sich jede Schülerin und jeder Schüler nur mit einem fremden Text auseinan‐ dersetzen. b) Die Arbeitsanweisung sollte präzisiert werden. Sie könnte bei‐ spielsweise lauten ‚Lies die Textbotschaft Deines Partners durch, versetze ich in die Position den Empfängers in Indien und überlege, welche Sätze Dich freuen würden und welche Dich verletzen würden‘. c) Für dieses Feedback durch den Partner müsste ein Zeitbedarf von ca. 15 Minuten eingeplant werden. Folgerung 82: Wenn Aufgaben ein individuelles Aufgabenprodukt ver‐ langen, dann regt dies weniger stark zu Aushandlungsprozessen an, als wenn Aufgaben ein gemeinsames Produkt verlangen. Zur Anregung von Aushand‐ lungsprozessen ist es von Vorteil, wenn sich die beteiligten Lernenden auf ein einziges gemeinsames Arbeitsprodukt einigen müssen, weil sie dann nicht umhin kommen, Argumente auszutauschen. Interkulturelle Kompe‐ tenzen werden erkennbar. Acht Lernende trugen ihre Beiträge im Klassenplenum vor. Wir nahmen diese Beiträge als Audiobotschaften für die Softwareentwickler auf. Da dies die letzte Unterrichtsstunde des Projekts war, gaben die Lernenden ihre Projekt-Hefter an diesem Tag ab. In zehn Heftern waren bei der Abgabe die Aufzeichnungen zur Botschaft an Herrn [Softwareentwickler 1] nicht enthalten, es sind also Daten verloren gegangen. Auf meine Nachfrage am folgenden Tag reichten zwei Schü‐ lerinnen ihre Aufgabenprodukte nach. Von den 30 Lernenden liegen also 22 englischsprachige Arbeitsprodukte in der Ursprungsfassung vor. Die anderen acht Lernenden gaben an, das Aufgabenprodukt nicht oder nicht mehr zu haben. Es ist nicht vollständig nachvollziehbar, ob diese Lernenden schon im Unterricht keinen Text produzierten, ob sie den Text absichtlich nicht eingeheftet hatten oder ob sie ihn verloren hatten. In Einzelfällen kann der Datenausfall nachvoll‐ zogen werden. Beispielsweise bei S32, der keinen Text abgegeben hatte, ist im Unterrichtsvideo zu beobachten, dass er zunächst schrieb und dass er dann eine Frage zu seinem Text hatte, zu der ich ihm eine Auskunft gab. Etwas später, in der siebten Minute der Bearbeitungszeit, holt er sich ein ausliegendes Lexikon. Es ist also davon auszugehen, dass er einen Text auf Englisch geschrieben hatte. Vermutlich hatte er sich dann später dazu entschieden, seinen Text nicht in den Ordner einzuheften. Die acht Lernenden, von denen kein Text vorlag, erhielten am folgenden Tag in der großen Pause den Auftrag, ihre Botschaft nochmals zu schreiben. Die Lernenden waren wenig motiviert, als Kompromiss war es ihnen gestattet auf Deutsch zu schreiben. Sie erhielten die gleiche auf Englisch for‐ 334 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="335"?> mulierte Aufgabe wie für die Erstellung ihrer englischsprachigen Erstfassung. Eine nochmalige besondere Einführung in die Aufgabe gab es nicht (z. B. setting nochmals klären, Adressaten zeigen). Diese acht deutschsprachigen Zweitfas‐ sungen der Aufgabenprodukte unterscheiden sich hinsichtlich interkultu‐ rell-kompetenter Ausdrucksweise deutlich von den englischsprachigen Erstfas‐ sungen der Mitschüler. Im Nachhinein hat der eigentlich ärgerliche Verlust von Daten dazu geführt, dass die Textproduktionsaufgabe unter abgewandelten Be‐ dingungen von einigen Lernenden wiederholt wurde und ein Vergleich mit den Aufgabenprodukten der Mitschüler vorgenommen werden kann. Die Anders‐ artigkeit dieser Arbeitsprodukte kann teilweise mit dem veränderten setting erklärt werden. Exemplarisch möchte ich den Text von S32 vorstellen, inter‐ pretieren und Konsequenzen für die Aufgabenerstellung ableiten. Alle Lern‐ enden-Botschaften an die Software-Entwickler wurden gemeinsamen mit den vier Co-Forscherinnen interpretiert, deren Anregungen und Perspektiven sind in meine Interpretationen einbezogen. „Hallo Mr [Softwareentwickler 1] Mein Name ist [S32]. Ich glaube, dass mein Bild von Indien sich nicht verändert hat. Es ist mir nur nicht klar, warum für die Partnersuche in Indien die Kaste so wichtig ist. Weil man meiner Meinung nur aus Liebe heiraten sollte.“ Datenquelle: Z2 A8b Produkt Audiobotschaft, von S32 nachträglich erstellt Die Botschaft von S32 enthält eine knappe Begrüßung, in der er durch seine na‐ mentliche Vorstellung Bezug zum Adressaten herstellt. Die englischsprachigen Begrüßungen seiner Mitschüler sind in der Regel länger (siehe weitere Beispiele unten), enthalten zusätzlich beispielsweise einen Dank für die Videobotschaft von Herrn [Softwareentwickler 1] und nehmen Bezug auf dessen Frage. Eine Verab‐ schiedung fehlt bei S32 vollständig. Bei den 22 englischsprachigen Ausführungen kam dies fast nicht vor. Während die Lernenden für die englische Ursprungsfas‐ sung auf den language support zurückgriffen und sich insbesondere bei den recht stark standardisierten Begrüßungs- und Verabschiedungs-Textteilen bedienten, fehlte S32 offensichtlich die Motivation, sich angemessen zu verabschieden. S32 und den anderen sieben Zweitschrift-Erstellern wird klar gewesen sein, dass ihr deutschsprachiges Aufgabenprodukt keine Verwendung als Feedback an die in‐ dischen Softwareentwickler finden wird. Entsprechend ist ihre Motivation für einen angemessenen interkulturellen Ausdruck geringer einzuschätzen als bei den Mitschülern, deren englischsprachige Texte teilweise tatsächlich zu den Softwa‐ reentwicklern gesendet wurden. Der Text von S32 ist sehr kurz. Er spricht nur eine kulturelle Praktik an; die englischsprachigen Erstfassungen enthalten zu‐ 335 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="336"?> meist drei Themen. S32 war einer der besten Schüler in Erdkunde mit einem be‐ sonders guten Allgemeinwissen, ihm fiel es allerdings schwer, einmal bezogene Positionen zu revidieren. Dies kommt vermutlich in der Aussage zum Ausdruck, dass sich sein „Bild von Indien […] nicht verändert hat“, wobei er seine Aussage aber gleich im nächsten Satz einschränkt. Bei der Auswahl der angesprochenen kulturellen Praktik ‚Partnersuche‘ ist S32 wohl eher einem echten persönlichen Interesse gefolgt, als einer Reflexion dazu, welche Themen für die interkulturelle Kommunikation in dieser Situation geeignet sind. Seine Frage nach der Bedeu‐ tung des Kastenwesens für die Partnersuche formuliert er zwar nicht ange‐ messen als Bitte um Informationen, er gesteht hier aber immerhin eine Un‐ kenntnis ein und ist damit auch offen für neue Informationen. Seine eigenkulturelle Position hat er als seine Meinung gekennzeichnet, und nicht etwa pauschalisiert. Während er im Perspektivenvergleich zunächst die anderskultu‐ relle Perspektive als vermeintlich national-kulturelle Praktik beschreibt („Part‐ nersuche in Indien“), zielt seine eigenkulturelle Perspektive auf eine indivi‐ dual-kulturelle Praktik ab („meiner Meinung nach“). Insgesamt macht der Text den Eindruck, als ob S32 diese Extraaufgabe hatte schnell hinter sich bringen wollen. Der Text ist eher für den Zweck der schnellen Erledigung geschrieben als tatsächlich an den Softwareentwickler. Ähnliches gilt für die anderen sieben deutschsprachigen Zweitfassungen. Folgerung 83: Wenn Lernende bei der schriftlichen Sprachproduktion durch language support (z. B. in Form von möglichen Satzanfängen) unterstützt werden, dann wird dadurch nicht nur die sprachliche Gestaltung der Schü‐ lertexte gefördert. Der language support unterstützt darüber hinaus auch die Strukturierung der Beiträge und ihre Eignung für die interkulturelle Kom‐ munikation durch angemessene Ausdrucksweisen, z. B. für Begrüßungen und Verabschiedungen. Folgerung 84: Wenn Lernende bei der schriftlichen Sprachproduktion die Fremdsprache und nicht Deutsch verwenden, dann sind die Texte interkul‐ turell angemessener, weil eine tatsächliche oder potentielle Nutzung der Texte für die interkulturelle Kommunikation auch im Bewusstsein der Lern‐ enden näher liegt. Wenn die Lernenden wissen, dass ihre Texte für die in‐ terkulturelle Kommunikation verwendet werden oder werden können, be‐ mühen sie sich in besonderer Weise um angemessene interkulturelle Kommunikation. Folgerung 85: Wenn die Lehrkraft vor einer schriftlichen Sprachproduktion in der interkulturellen Kommunikation ein authentisches Kommunika‐ tions-Setting schafft, fördert dies die Erstellung interkulturell angemessener 336 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="337"?> Lernertexte. Lernende bemühen sich insbesondere dann um interkulturell angemessene Texte, wenn sie die Adressaten ihrer Texte möglichst gut kennen (lernen) und der Kommunikationsanlass plausibel ist. Fast alle 22 englischsprachigen Ursprungsfassungen der Botschaften verfügen über einen geeigneten Beginn (z. B. S57: „Hello Mr. [Softwareentwickler 1]. My name is [S57]. Thank you for your interview. You asked us about the image of India. …“) und über ein geeignetes Ende („I hope this was interesting for you. Best wishes, [Name von S57]“), die häufig aus dem language support zusam‐ mengestellt wurden. Hinsichtlich Bezugnahme zum Adressaten und der An‐ sprache von kulturellen Praktiken können die Botschaften dahingehend beur‐ teilt werden, ob sie verletzend auf den Adressaten wirken können, oder ob sie für einen interkulturellen Austausch förderlich sind. Von den 22 vorliegenden englischsprachigen Ursprungsfassungen der Texte würde ich 16 als geeignet für die interkulturelle Kommunikation einstufen, während die anderen sechs Texte eher ungeeignet sind. Wenn sich Botschaften als (aus meiner Sicht) nicht geeignet erwiesen, dann lag es in erster Linie daran, dass die Lernenden in ihren Texten überproportional stark fremdkulturelle Praktiken kritisierten, ohne in der Botschaft in ähnlichem Maße positive Aspekte zu erwähnen oder ihre Kritik in anderer Weise abzumil‐ dern. Die Lernenden kritisierten Kinderarbeit (13 Mal), das dowry system (8), ar‐ ranged marriages (2) und ganz allgemein die Armut (5). Bei acht weiteren Erwäh‐ nungen von Armut wurde sie als Gegensatzpaar zu „rich“ genannt (S50: „[…] the poor side and the rich side“) und wurde von mir nicht als starke Kritik gewertet. Als positive Aspekte wurden die Softwareentwicklung (5), Schönheit des Landes (4), Vielseitigkeit des Landes (4), Saris (3), Kultur (2), Universitäten (1), Städte (1), Freundlichkeit der Leute (1) und das Essen (1) genannt. Fünf inhaltliche Aussagen konnten nicht zugeordnet werden, drei davon zum Verkehr („interesting“). Die sechs für die interkulturelle Kommunikation eher ungeeigneten Texte nennen 14 kulturelle Praktiken, die negativ konnotiert sind, und 4 positiv konnotierte. Die 16 für die interkulturelle Kommunikation eher geeigneten Texte nennen 15 kulturelle Praktiken, die negativ konnotiert sind und 18 positiv konnotierte. Bei der Aufgabe zu den Softwareentwicklern hatte ich bewusst versucht, den Lernenden ein besonders positives Beispiel fremdkultureller Praktiken zu zeigen. Die Nennung der indischen Softwareindustrie als häufigstes Beispiel positiv konnotierter fremdkultureller Praktiken belegt die Bedeutung dieser erst im zweiten Zyklus eingeführten Aufgabe. Allerdings ist hier, wie bei allen Aus‐ sagen in den Lernertexten, zwischen Überzeugung der Lernenden und Aussage der Lernenden in der interkulturellen Kommunikationssituation zu unter‐ 337 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="338"?> scheiden. Möglicherweise wurde auf die Softwareindustrie auch nur Bezug ge‐ nommen, um in der interkulturellen Kommunikation mit den Softwareentwick‐ lern einen positiven Aspekt anführen zu können. In letzterem Fall könnte dann aber ausgesagt werden, dass die Lernenden sich um eine gelingende interkul‐ turelle Kommunikation bemühten. Folgerung 86: Lehrkräfte haben durch ihre Inhaltsauswahl großen Einfluss auf das Bild der Lernenden von der fremden Kultur. Die Inhaltsauswahl der Lehrkräfte wirkt sich auf die Darstellung der fremden Kultur in schriftlichen Produktionsaufgaben der Lernenden aus. Lehrkräfte tragen durch ihre In‐ haltsauswahl Verantwortung für das Bild der Lernenden von der fremden Kultur. Folgerung 87: Wenn Lernende sich bei interkulturellen Kommunikations‐ aufgaben positiv zu fremdkulturellen Praktiken äußern, dann ist es für die Lehrkraft zunächst oft nicht möglich zu unterscheiden, ob die Lernenden wirklich diese positiven Einstellungen haben, oder ob das nur vorgegeben ist, um den fremdkulturellen Kommunikationspartner positiv zu stimmen. Wenn die Einstellungen tiefer beforscht werden sollen, bedarf es weiterer Datenquellen. Lernerstrategien bei der Erstellung von Texten für anderskulturelle Partner Welche Techniken nutzten die Lernenden, um ihre Botschaften an den Soft‐ wareentwickler interkulturell angemessen zu gestalten? Die Vermeidung der Nennung kultureller Praktiken, die negativ konnotiert sind, ist sicherlich die einfachste Möglichkeit, den interkulturellen Kommunikationspartner beim Feedback zum Image von Indien nicht zu verletzen. Diese Strategie wurde in Kombination mit anderen Strategien von sehr vielen Lernenden benutzt. Wenn diese Strategie wie im folgenden Beispiel vorrangig benutzt wurde, dann ent‐ standen sehr kurze Texte. Hello Mr. [Name von Softwaredeveloper 1]. I’m [S61]. Thank you for your Interview. You asked us about the image of India. I think India is very differently to the other lands. I was surprised about the traffic in India. Best wishes from Germany! ! ! Datenquelle: Z2 A8b Produkt Audiobotschaft S61 338 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="339"?> In der folgenden Aufgabenreflexion fragte Co-Forscherin 3, ob den Lernenden die Aufgabe, das Feedback an Softwareentwickler 1 zu schreiben, leicht oder schwer gefallen sei. S61 antwortete „Ich denke mal, es war eher schwierig. Man will irgendwie die Wahrheit sagen, aber man will sie auch nicht kränken“. Ihre Aussage deutet an, dass ihr Text nicht etwa kurz und inhaltlich wenig ertrag‐ reich ist, weil sie beispielsweise wenig motiviert gewesen war, sondern sie hat es absichtlich vermieden, kritische Themen anzusprechen. An dieser Stelle hätte ohne eine Datentriangulation durch das Gruppeninterview (= Aufgabenrefle‐ xion) eine Fehlinterpretation ihrer Aufgabenbearbeitung erfolgen können. Folgerung 88: Wenn bei der Beforschung von Aufgaben Interpretationen zum Aufgabenprodukt mit Lerneraussagen der Aufgabenreflexion triangu‐ liert werden, dann unterstützt das Forschende nachzuvollziehen, welche Ge‐ danken sich die Lernenden zur interkulturellen Angemessenheit ihrer Texte (Aufgabenprodukt) gemacht haben, und schützt sie vor Fehlinterpretationen. Kommunikationsstrategien für das Ansprechen kritischer Aspekte an‐ zusprechen ohne zu verletzen Aus meiner Sicht hatten die Lernenden eine besondere Qualität interkultureller Kommunikationskompetenz erreicht, wenn es ihnen gelang, bei ihrer Botschaft an Softwareentwickler 1 zum Image von Indien fremdkulturelle Praktiken zu erwähnen, die sie kritisch sehen, ohne dass ihre Formulierungen interkulturell verletzend wirkten. Sie verwendeten dafür unterschiedliche Strategien: • Sie erwähnten die Quelle ihrer Informationen zur anderskulturellen Praktik (S53: „I think we have the misconceptions from the TV, because they always show the poor people“), oder sie wiesen ihrer Aussage eine Perspektive zu (S34: „I think the image of India is not so good, because the most people in Germany think that all people in India are very poor“; S44 „Of course we know some parts of India are rich, but we always see the poor side of life. The most people think India is a poor land“), oder sie kombinierten beides (S55 „A lot of people think that India is a poor land and just has child labour, snake charmers and arranged marriages. But these misconceptions come very much from TV and from the magazines“). Beide Vorgehensweisen schufen Distanz zwischen meinen Lernenden als Autoren der Botschaften und der Kritik an der fremdkulturellen Praktik. Die Lernenden traten dann nicht als Kritiker an fremdkulturellen Prak‐ tiken, sondern als Berichterstatter über die Rezeption fremdkultureller Praktiken auf. Die Aufgabenstellung und der language support unter‐ 339 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="340"?> stützten die Lernenden in der Wahl dieser beiden Strategien (Zweiter Teil der Aufgabenstellung: Where does the image come from? Language support neunter Satzanfang: […] People like … / don’t like …). Zehn Lernende nutzten die Strategie, die Quelle ihrer Informationen zu benennen, und drei Lernende stellten die Informationen unter Benennung einer Per‐ spektive dar. Folgerung 89: Wenn zu Aufgaben language support bereitgestellt wird, dann haben diese Formulierungshilfen nicht nur eine sprachliche sondern auch eine inhaltlich-pragmatische Funktion. Language support strukturiert die Texte der Lernenden und liefert Ideen für Strategien, wie beispielsweise kritische Inhalte interkulturell angemessen formuliert werden können (z. B. Quelle benennen, Perspektive benennen). • Eine weitere Möglichkeit Kritik zu erwähnen, ohne verletzend zu wirken, sahen die Lernenden darin, die Entwicklung und damit die Vorläufigkeit ihrer Kenntnisse zu beschreiben. Auch durch den dritten Teilbereich der Aufgabenstellung angeregt (Has a part of the image changed during the project or in one of the lessons? ) nutzten insgesamt fünf Lernende diese Strategie. In den Texten berichtet ein Lerner von der Verschlechterung seines Bildes zu Indien; vier Lernende berichten davon, ihr Vorwissen aus den Medien hätte zunächst ein negatives Bild von Indien gezeichnet, dass sie dann aber durch das Projekt stärker auch die positiven Seiten ken‐ nengelernt hätten (S51: „Before our English project, I thought India is a very poor country. But now I know that there are many rich people in India“). Es sei hier nochmals angemerkt, dass es hier in erster Linie nicht um die inhaltliche Korrektheit der Schüleraussage geht, sondern um die Strategie der Lernenden, interkulturell angemessen zu kommunizieren. Die Abschwächung negativ konnotierter kultureller Praktiken durch die Darstellung von Entwicklung funktioniert über zwei Mechanismen. Zum einen können die Lernenden ehemalige negativere Images darstellen und sie nun als vergangen kennzeichnen - das Negative kann so benannt werden, ohne dass es als noch gültig anzusehen ist. Zum anderen wird durch die Betonung der Entwicklung jedes Wissen als vorläufiges Wissen gekennzeichnet und verliert somit seinen absoluten Geltungsanspruch. • Die Lernenden verwendeten ferner die Strategie, den Anspruch der ab‐ soluten Gültigkeit ihrer Aussagen dadurch zu reduzieren, indem sie ihre Kritik unter Herausstellung der persönlichen Perspektive formulierten. Lernende führten beispielsweise aus „I think everybody should have the 340 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="341"?> right to choose their own husband or wife“ (S57). Diese Strategie wurde vergleichsweise selten verwendet. Ihre Nutzung könnte gefördert werden, wenn die Aufgabenstellung die Lernenden ausdrücklich dazu auffordert sie ihre persönliche Perspektive auf die betroffene fremdkul‐ turelle Praktik darzustellen. • Lernende formulierten Kritik an fremdkulturellen Praktiken in Form von Fragen („Is it true that young children must work hard? “ S45), bzw. stellten die Begrenztheit ihrer Einsichten in die fremdkulturellen Zusammen‐ hänge dar („I can understand why there is [has developed] a dowry system, but I can’t understand why they don’t abolish it.“ S58; „There are some things I don’t understand.“ S45). Sie stellten die Unsicherheiten zu ihrem Wissen über fremdkulturelle Praktiken dar und baten den Soft‐ wareentwickler direkt oder indirekt um Auskunft. Die anderskulturellen Kommunikationspartner, von denen die Lernenden wussten, dass sie Praktiken wie Kinderarbeit ebenfalls ablehnen, konnten sich dadurch als kompetente Auskunftsinstanz fühlen und nicht als pauschal Kritisierte einer vermeintlich einheitlichen indischen Kultur. • Aussagen und Wortwahl aus der Frage von Softwareentwickler 1 („[…] I think there are a lot of misconceptions about India. […] Now actually these conceptions are changing“) wurden von den Lernenden aufge‐ griffen („Maybe we have the misconceptions from the TV“ S52; „I think that the conceptions are changing, too.“ S34). Die Lernenden schufen da‐ durch sprachliche und inhaltliche Nähe zum Kommunikationspartner. • Eine weitere Strategie war der Einsatz von Lob, bevor dann auch kritische kulturelle Praktiken angesprochen wurden („I think India is a wonderful land with many cultures and religions, so I’m fascinated of India“ S31; „I think Indian people are very nice and I like them“ S40; „I like India, be‐ cause it’s big and beautiful“ S45; „I think India can be really nice, when you make holidays there. But I must say I was a little bit shocked about the child labour […]“ S55). Die Aussagen klingen teilweise künstlich. In jedem Fall ist aber spürbar, dass die Lernenden dem Softwareentwickler gegenüber ihre Wertschätzung ausdrücken wollten. Folgerung 90: Wenn Aufgaben die Lernenden darin unterstützen sollen, auch kritisch interkulturelle Praktiken anzusprechen ohne den anderskultu‐ rellen Kommunikationspartner zu verletzen, so kann dies durch sprach‐ lich-inhaltlichen support unterstützt werden. Im Projekt verwendeten die Lernenden die folgenden Strategien, die anderen Lernenden an die Hand ge‐ geben werden könnten: a) Die Lernenden nennen Quellen der Herkunft und 341 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="342"?> Perspektiven ihrer Bilder und kennzeichnen so, dass sie nicht ihre eigene Meinung darstellen. b) Sie kommunizieren, dass sich ihre Bilder entwickeln und nur vorläufigen Charakter haben. Damit reduzieren sie den Geltungs‐ anspruch ihrer Bilder. c) Sie reduzieren den Geltungsanspruch ihrer Aus‐ sagen ferner durch die Kennzeichnung ihrer Bilder als private Meinung. d) Sie wenden sich bevorzugt auch mit ihren Fragen und Unsicherheiten zu den betroffenen fremdkulturellen Praktiken an die fremdkulturellen Partner. e) Sie schaffen sprachliche und inhaltliche Nähe zum Kommunikationspartner dadurch, dass sie Redewendungen von fremdkulturellen Partnern aufgreifen. f) Sie äußern sich zunächst positiv zu fremdkulturellen Praktiken, bevor sie dann auch kritische Aspekte ansprechen. Wie bereits erwähnt, nahmen wir acht der Lernertexte als Audio-Datei auf. Da‐ raus wählte ich vier Beiträge aus, die wir an die Softwareentwickler in Indien sendeten. Hier als Beispiel der gesendete Beitrag von S60: >Hello Mr. [Nachname von Softwareentwickler 1], My name is [Vorname von S60]. Thank you very much for your interview. You asked us about the image of India. Before our English project I thought India is a poor country. But now we looked at other people like you, I have another image. Now I know that India has poor people but also rich. I was surprised to hear that there are so big rich cities. I hope this was interesting for you. Best wishes from Germany. [Vorname von S60] Datenquelle: Z2 A8b Produkt Audiobotschaft S60 Wenige Tage später und somit nach Projektende erhielt die Klasse von den Soft‐ wareentwicklern per E-mail einen Gruß zu Diwali (indisches Lichterfest) und einen Dank für ihr Feedback. Der Umgang der drei Softwareentwickler mit der recht vorsichtigen Kritik meiner Lernenden an fremdkulturellen Praktiken war interessant („It is hard for us also to ignore the gut wrenching poverty that is there in India, we really pray to god and hope that things change here“). In der Klasse konnte die Antwortbotschaft zwar noch den Lernenden gezeigt werden, eine Diskussion der Nachricht unserer Kommunikationspartner war im Rahmen des Projekts nicht mehr möglich. 342 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="343"?> E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse III Da die Produkterstellung (Botschaften an Softwareentwickler 1 schreiben und aufnehmen) zwei Tage später als die vorangegangenen Aufgabenschritte (u. a. Informationen über die drei interviewten Softwareentwickler erarbeiten) er‐ folgte, bedurfte es für die Reflexion der Produkterstellung einer zweiten Inter‐ viewphase. Sie war der letzte Aufgabenteilschritt des gesamten Projektes und wurde wie üblich ca. 10 Minuten vor Unterrichtsende eingeleitet. Eine zentrale Fragestellung der Reflexion war, ob die Lernenden die Botschaft, die sie an Soft‐ wareentwickler 1 geschrieben hatten, genauso formuliert haben, wie sie einen fiktiven Brief formuliert hätten, der im Klassenzimmer verblieben wäre. Es geht also um die Wirkung der Authentizität von Kommunikation auf die Lernertexte. Die Interviews begannen mit einer offenen Einstiegsfrage zur Textprodukti‐ onsaufgabe. Der folgende Interviewauszug zeigt, dass der Aspekt der Authen‐ tizität für diese Aufgabe eine zentrale Rolle spielt. Co-Forscherin 3: Wie war jetzt zum Schluss das mit dem Herrn [Software‐ entwickler 1], wie war das für euch? S60: Ich fand es gut. S51: Ja. Co-Forscherin 3: Ja? Warum gut? S60: Dass er auch …. Er hat zwar für uns das Interview so ge‐ macht, aber wenn wir ihm jetzt nichts zurückgeben würden, ich weiß nicht, vielleicht würde er dann irgendwie komisch über uns denken oder so. Also ich fand es gut, dass wir das gemacht haben. Datenquelle: Z2 A8b Fo3, GI 02: 27-02: 51 S60, die sich auch für eine Audioaufnahme gemeldet hatte, war es offensichtlich wichtig, dass Herr [Softwareentwickler 1] einen guten Eindruck von uns hat. Sie hätte es nicht angemessen gefunden, wenn er uns ein Interview gibt, wir aber nichts an ihn zurückgegeben hätten. Sie deutet damit eine Gleichwertigkeit der Kommunikationspartner an. Die Aussage offenbart auch einen Einblick in ihre Einstellungen. Sie findet die Aufgabe gut, weil sie ihr die Möglichkeit gibt, dem Anderen etwas zurück zu geben. Die Aufgabe erlaubte ihr, Herrn [Soft‐ wareentwickler 1] ihre Wertschätzung zu zeigen und zu vermeiden, dass Herr [Softwareentwickler 1] denkt, sie und die Klasse wären überheblich. Aus meiner Sicht können diese interkulturellen Kompetenzen nicht mit einer ‚als-ob‘-Text‐ produktionsaufgabe gefördert werden, sondern nur mit einer authentischen, die tatsächlich der interkulturellen Kommunikation dient. S60 spricht nicht nur über Ebenbürtigkeit, sondern sie handelt auch danach und heißt diese Handlung 343 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="344"?> gut. Handlungskompetenz in interkultureller Kommunikationssituation ist damit belegt. Folgerung 91: Wenn Aufgaben Reflexionen zu bereits durchgeführten au‐ thentischen Kommunikationsaufgaben vorsehen, dann können Forschende Einblicke in Einstellungen der Lernenden und in deren Beziehungen zu ihren fremdkulturellen Partnern erhalten. Wenn die Lernenden dabei über bereits vollzogene Handlungen berichten (z. B. Textbotschaft schreiben), dann werden Handlungskompetenzen nachweisbar. Interviewdaten aus meiner Interviewgruppe zeigen, dass der indirekte Kontakt mit den Software-Entwicklern der Textproduktionsaufgabe zwar Authentizi‐ tätscharakter gibt, doch die Lernenden scheinen Authentizität in Abstufungen zu erleben. In der Reflexion zu Beweggründen der Lernenden für mehr oder weniger vorsichtige Formulierung ihrer Kritik in interkulturellen Kommunika‐ tionssituationen berichtet S45 davon, dass sie sich bei der Textproduktionsauf‐ gabe in der medial vermittelten Kommunikation mit dem Softwareentwickler 1 nicht so stark mit Kritik zurückgehalten hat wie im direkten Kontakt mit Frau Tagore, der Gaststudentin. Mueller: [Vorname von S45], was hast Du an ihn geschrieben? Was ist für Dich der Unterschied, wenn Du für das Klassenzimmer schreibst, wo wir sozusagen unter uns sind, im Vergleich zu dem, wenn Du an ihn schreibst? S45: Ich habe schon geschrieben ‚I was shocked‘ so, also nicht nur ‚a little bit‘ [wie S55, s. o. S. 318]. Also, er [Softwareentwickler 1] soll dann schon [nach-]denken. Also, ja, ich kenne ihn nicht. Also bei der Miss Tagore war das jetzt so anders, weil sie ja jetzt vor einem steht. Aber er kennt mich nicht. Er hat mich noch nie gesehen. Und da [wenn er hier gewesen wäre] hätte ich mich schon zurückge‐ nommen, so aber habe ich halt gesagt, was ich so denke oder so. Mueller: M-h [bestätigend]. Und wäre es ein Unterschied gewesen zu dem, was du im Klassenzimmer zu mir gesagt oder geschrieben hättest? S45: Ja, schon. Ja. Datenquelle: Z2 A8b Fo6 GI, 05: 21-06: 08 Meine Interviewfrage hatte eigentlich nur den Unterschied zwischen klassen‐ interner Textproduktion und Textproduktion für echte fremdkulturelle Kom‐ munikationspartner im Fokus. Die Aussagen der anderen drei interviewten Schülerinnen bewegten sich im Rahmen meiner Vorannahmen. S45 ergänzte 344 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="345"?> hier meine zu enge Vorannahme um den wichtigen Aspekt unterschiedlicher Stufen von Authentizität in der interkulturellen Kommunikation, indem sie einen Unterschied machte zwischen direkter authentischer Kommunikation (mit Frau Tagore) und medial vermittelter authentischer Kommunikation (mit Softwareentwickler 1). Folgerung 92: Wenn Lernende in authentischen interkulturellen Kommu‐ nikationsaufgaben mit echten Partnern kommunizieren, dann fördert dies die Angemessenheit von Formulierungen in der interkulturellen Kommuni‐ kation. Die Lernenden prüfen ihre Kommunikationsbeiträge deutlich kriti‐ scher auf Angemessenheit als in einer gleichartigen Aufgabe ohne echten Kommunikationspartner. Folgerung 93: Je authentischer eine interkulturelle Kommunikationsauf‐ gabe ist, desto interkulturell angemessener agieren die Lernenden. Lernende erleben Authentizität in unterschiedlichen Abstufungen. Die subjektiv er‐ lebte Verbundenheit mit dem Kommunikationspartner beeinflusst, wie stark die Lernenden ihre Texte auf interkulturelle Angemessenheit prüfen. Je di‐ rekter der Kontakt, desto stärker achten die Lernenden auf Angemessenheit ihrer Texte. In dem vorliegenden Forschungsprojekt konnten drei Abstu‐ fungen belegt werden: Texte für den klasseninternen Gebrauch, Texte für die medial vermittelte interkulturelle Kommunikation und Texte für die direkte interkulturelle face-to-face-Kommunikation. Folgerung 94: Bei der Beforschung von Aufgaben in Interviews sollten of‐ fene Fragen verwendet werden. Dies erlaubt den Lernenden Antworten zu geben, die auch über die mögliche Breite von Antworten gemäß den Voran‐ nahmen der Forschenden hinausgehen. Wenn Fragen solche unerwarteten Antworten nicht zulassen, dann können Informationen zur Wirkung der Aufgabe verschenkt werden. Die Co-Forscherinnen nutzten das letzte Gruppeninterview z.T. auch für eine zusammenfassende Einschätzung der Lernenden zur Wirkung des Unterrichts‐ projekts auf ihre fremdkulturellen Konzepte. Die eigentlich sehr engagierte In‐ terviewgruppe von Co-Forscherin 3 wies im folgenden Dialog allerdings zu‐ nächst auf die Demotivation durch die Nutzung von Freistunden für das Projekt hin. Ähnliche und ausführlichere Gespräche zu dieser Problematik fanden sich im Projektverlauf insgesamt acht Mal. Zu den Projektinhalten berichteten die Lernenden dann von ihrem Wissenszuwachs, sie reflektierten die Begrenztheit 345 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="346"?> und die Veränderungen ihrer fremdkulturellen Vorstellungen, sie verwiesen auf überwundene Stereotypen, und ihre kulturelle Offenheit wird offensichtlich. Co-Forscherin 3: Und wie hat euch jetzt das Projekt an sich gefallen? Fandet ihr das war eine gute Sache? S60: Ja, also das Projekt an sich fand ich schon gut, nur das mit den Stunden fand ich ein bisschen doof. S51: Ganz deiner Meinung. S60: Also wie das jetzt so aufgeteilt war. Also so, wenn wir ei‐ gentlich frei hatten oder so mussten wir kommen. Aber sonst fand ich das Projekt gut. S51: Ja, es war interessant zu hören, weil man hat wirklich nur die schlechte Seite von Indien so immer gehört und jetzt auch mal zu sehen, was da wirklich ist. Co-Forscherin 3: Mhm [bestätigend]. Was hättet ihr am Anfang [des Pro‐ jekts] dem Mr [Nachname von Softwareentwickler 1] er‐ zählt? Wie war da euer Bild von Indien? S60: Hm, armes Land und … S51: Da hat man noch nicht wirklich etwas gehabt, ein Bild, finde ich. S60: Ja, also, dass es halt voll arm ist und so. S51: Halt nur die schlechten Seiten. S59: Dass es Umweltkatastrophen gibt. S60: Ich wusste gar nicht, dass es so große Städte gibt. S51: Ja, irgendwie, dass es viele Weiden gibt. [schwer verständlich, gleichzeitige Kommentare] S60: Ich hab immer gedacht, das ist alles nur so Land [ländlich] und so. S50: Ja, ich habe gedacht, dass das alles so Häuser sind, die kurz vor dem Zerfallen sind oder so. S60: Ja, habe ich auch gedacht. Co-Forscherin 3: Also euer Bild wäre negativer gewesen? Alle: Ja S50: Viel negativer. S51: Ich meine, man hört ja immer nur negatives. Datenquelle: Z2 A8b Fo3 GI, 04: 11-05: 19 Folgerung 95: Wenn die Durchführung eines Unterrichtsforschungspro‐ jekts eine deutliche Mehrbelastung für die Lernenden bedeutet, dann besteht die Gefahr, dass dies Auswirkungen auf die Motivation für die Aufgaben‐ durchführung hat, der Auseinandersetzung mit Inhalten im Wege steht und 346 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="347"?> Daten verfälscht werden. Insbesondere der zeitliche Mehraufwand der Lern‐ enden muss beachtet werden. Im vorliegenden Projekt lag er bei durch‐ schnittlich 4,2 zusätzlichen Schulstunden. Folgerung 96: Wenn die Reflexionsphase einer Aufgabe die Belastungen (z. B. zeitlich) der Lernenden durch das Unterrichtsforschungsprojekt the‐ matisiert, dann können sich die Lernenden bewusst werden, in wie weit or‐ ganisatorische Aspekte des Forschungsprojekts ihre Motivation für die Auf‐ gaben beeinflussen und können unterscheiden, ob die verwendeten Lernaufgaben oder die Begleitumstände für die Unterrichtsforschung moti‐ vierend oder demotivierend waren. Im voranstehenden Interview fragte Co-Forscherin 3 gemäß Interviewleitfaden auch nach dem Bild von Indien. In der Reflexion, die alte Stereotypen mit dem neuen Bild vergleicht, halte ich die Verwendung dieses Kulturbegriffs für an‐ gemessen und auch für nur schwer zu ersetzen. Da die Lernenden in ihren Bot‐ schaften an den Softwareentwickler 1 bereits den Variantenreichtum ihres neuen Bildes von Indien beschrieben hatten („I’m fascinated by the difference between rich and poor people“ S51), ist auch nicht davon auszugehen, dass ein altes negativ geprägtes Stereotyp einfach durch ein neues eher positiv geprägtes ersetzt wurde. Co-Forscherin 1 fragte in ihrer Gruppe in ähnlicher Weise zum Image von Indien. Spannend ist nun, dass S37 ihre Frage zunächst missverstand. Co-Forscherin 1: Und denkst Du negativ über Indien? S40: Zum Teil. Co-Forscherin 1: Wie ist es bei Euch? S37: Ja, er [Softwareentwickler 1] hat es ja gut. Er studiert und so. Äh [kurze Pause], nee, nicht studieren, er arbeitet ja als … Co-Forscherin 1: Studiert hat er auch. S37: Eben, er hat ja studiert und arbeitet da bei so einer Soft‐ ware-Firma. Also der hat es schon gut. Also über ihn schlecht denken - nein. Co-Forscherin 1: Nein, ich meine jetzt über Indien an sich. S37: Ah, über Indien an sich. Ja, doch, doch, da denke ich schon, denke ich, schlechter darüber. Eben, aber da habe ich halt versucht, dass es nicht so rüber kommt [in der Botschaft an den Softwareentwickler 1]. Datenquelle: Z2 A8b Fo1 GI, 02: 38-03: 14 347 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="348"?> Die hier reflektierte Textproduktionsaufgabe zum Image von Indien stammt aus dem Interview mit Softwareentwickler 1. Die Aufgabe war die echte Frage des Softwareentwicklers zum Bild meiner Lernenden von Indien. Ich habe mir mehr‐ fach die Frage gestellt, ob ich diese Aufgabe, die einen veralteten Kulturbegriff (‚Bild von Indien‘) nutzt, einsetzen soll. Aus Gründen der Authentizität in der interkulturellen Kommunikation habe ich mich dann dafür entschieden. Um zu vermeiden, dass die Lernenden kurze, pauschale und stereotype Antworten schreiben, habe ich die Aufgabenstellung erweitert (drei Teilaufgaben plus lang‐ uage support; siehe Aufgabenstellung in der task-as-workplan [tabellarische Dar‐ stellung S. 292]). Interessant ist nun, dass S37 im vorgestellten Interview automa‐ tisch seine Kenntnisse zu einer konkreten individuellen Person als Zugang für seine Überlegungen zum Bild von der anderen Kultur nutzte. Damit offenbarte er, dass ihm der Zugriff auf einen modernen individuell geprägten Kulturbegriff näher lag, als der in der Frage verwendete veraltete. Auf die Frage zu seinem Bild von „Indien an sich“, berichtete er davon, dass Indien bei ihm ein schlechteres Image hat als das konkrete Beispiel der kulturellen Praktiken des Softwareent‐ wicklers, dass er aber in der interkulturellen Kommunikation ein beschönigtes Bild von Indien beschrieb, um nicht zu verletzen. Er berichtete also davon, dass er seine Aussage zu Gunsten einer gelingenden interkulturellen Kommunikation anpasste. Wie bei Folgerung 91 (S. 320) zeigen sich hier interkulturelle Hand‐ lungskompetenzen. Erwähnenswert ist sicherlich auch, dass der S37 in diesem Abschnitt zunächst einen moderneren Kulturbegriff nutzt, als die Interviewerin. Folgerung 97: Wenn Lernende im Rahmen einer Aufgabe konkrete fremdkul‐ turelle Individuen kennenlernen, dann eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, bei Fragen zu ihrem Image von der fremden Kultur nicht auf einen traditionellen und häufig stereotypen Kulturbegriff zurückzugreifen, sondern auf Praktiken und Perspektiven der bekannten fremdkulturellen Person. Dies unterstützt die Nut‐ zung eines zeitgemäßen, weil durch Individuen geprägten Kulturbegriffs. 7.5.6.3 Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Für die gesamte Aufgabe war ursprünglich der Zeitbedarf von einer Dop‐ pelstunde angesetzt. In der Erprobung wurden dann ca. 30 Minuten zu‐ sätzliche Unterrichtszeit benötigt. Die Gruppenarbeit zu Beginn der Un‐ terrichtsstunde brauchte deutlich mehr Zeit als ein Lehrer- 348 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="349"?> Schüler-Gespräch mit gleichem Inhalt. Da die Gruppenarbeit keine Aus‐ handlungen beinhaltete, wäre mit einem Unterrichtsgespräch die Zeit ef‐ fektiver genutzt worden. Weitere Zeiteinsparungen sind durch mehrere kleinere Änderungen und Kürzungen möglich (weniger Interviewpas‐ sagen für das Arbeitsblatt auswählen u. ä.). • Beim Aufgabenschritt B) ‚Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus‘ hatten die Lern‐ enden zur Aufgabe, den Beruf eines Mannes zu erraten, den ich ihnen auf einem stark dekontextualisierten Foto gezeigt hatte. Ich nahm bewusst in Kauf, dass die meisten Lernenden hier scheitern würden, um ihre falschen Vermutungen mit der Realität kontrastieren und Interesse für die Aufga‐ beninhalte erzeugen zu können. Sicherlich fühlten sich einige Lernenden durch diese Vorgehensweise getäuscht. Um eine gute Lehrer-Schüler-Be‐ ziehung nicht zu gefährden, würde ich die Vorwissensaktivierung zu‐ künftig anders gestalten. Es könnten beispielsweise nach dem Vorwissen zu Berufen und Ausbildung in Indien allgemein oder speziell zur Softwa‐ reindustrie gefragt werden. • Der Austausch der Lernenden untereinander über ihre Botschaften an die Softwareentwickler sollte verbessert werden. Die Lernenden sollten im Unterricht mit nur einem Partner arbeiten. Die Aushandlungsprozesse sollten durch eine präzisierte Arbeitsanweisung unterstützt werden (z. B. Lies die Textbotschaft Deines Partners durch, versetze Dich in die Position des Empfängers in Indien und überlege, welche Sätze Dich freuen würden und welche Dich verletzen würden.) • Die Auswertung der Botschaften der Lernenden an die Softwareent‐ wickler belegte eine Reihe verwendeter Strategien, um Kritik an fremd‐ kulturellen Praktiken zu äußern. Teilweise wurden diese durch die Auf‐ gabenstellung unterstützt, teilweise nutzte ein Teil der Lernenden diese Strategien, ohne darauf hingewiesen zu werden. Damit alle Lernenden die Chance haben, interkulturell möglichst gelingend zu kommunizieren, sollten die unten folgenden Strategien in der Aufgabenstellung zur Aus‐ wahl gestellt werden. Man könnte auch zunächst die Lernenden mit ihren eigenen Ressourcen arbeiten lassen und dann für einen Überarbeitungs‐ schritt die Strategien anbieten (2-schrittiges Vorgehen): • Lernende machen den anderskulturellen Partnern gegenüber die Quellen ihrer Kenntnisse deutlich. • Sie stellen dar, dass es unterschiedliche Perspektiven ihres eigenkultu‐ rellen Umfelds auf anderskulturelle Praktiken gibt. 349 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="350"?> • Sie legen dar, wie sich ihre Sichtweisen auf anderskulturelle Praktiken entwickelt haben. • Sie formulieren, dass es sich (nur) um ihre individuelle Perspektive auf die kulturelle Praktik handelt, die keinen Anspruch auf absolute Geltung hat. • Sie wenden sich auch mit ihren Fragen und Unsicherheiten zu anders‐ kulturellen Praktiken an die anderskulturellen Partner. • Sie greifen in ihren Texten Redewendungen von anderskulturellen Part‐ nern auf und stellen dadurch sprachliche und inhaltliche Nähe her. • Sie äußern sich zunächst positiv zu anderskulturellen Praktiken, bevor sie Kritik üben. Optimierung der Datenerhebung • Die Lernenden formulierten in Einzelarbeit Botschaften an den Software‐ entwickler 1 als Antwort auf dessen Frage zum Image von Indien. Wie oben dargestellt lieferten die Texte wichtige Einsichten zu interkultu‐ rellen Kompetenzen der Lernenden, allerdings sind diese Texte teilweise schwer zu interpretieren und die in Einzelfällen vorhandene Möglichkeit der Triangulation erleichterte die Interpretation deutlich (vergleiche Text von S61 S. 315). Wären die Antworten an Softwareentwickler 1 in Partner- oder Gruppenarbeit formuliert worden, dann hätten die Aushandlungs‐ prozesse der Lernenden beforscht werden können. Es ist anzunehmen, dass wie bei anderen Aufgaben auch (vgl. Postererstellung zu Daseins‐ grundfunktionen) die Interpretation der Texte dann deutlich einfacher gewesen wäre, da die Lernenden in den Aushandlungsprozessen ihre Formulierungsvorschläge zumeist begründen. Ferner hätte dieser Aus‐ handlungsprozess Lerngelegenheiten für interkulturelle Kompetenzen geboten, da Diskussionen zur Formulierung der Botschaft zu einem Aus‐ tausch von Meinungen und Perspektiven geführt hätte. Die Optimierung ‚Botschaften an den Softwareentwickler 1 als Partner- oder Gruppenar‐ beit formulieren‘ hätte sowohl die interkulturelle Lernaufgabe verbessert als auch die Dateninterpretation erleichtert. • Von den Lernertexten, die die Lernenden an Softwareentwickler 1 formu‐ liert hatten, sind mehrere verloren gegangen, bzw. von den Lernenden ab‐ sichtlich nicht eingereicht worden. Ein Einsammeln der Schülertexte am Ende der Unterrichtsstunde (statt die Texte in die Mappe einheften zu lassen) hätte sicherlich den Datenausfall verringert. Aus forschungsethischer Sicht könnte man allerdings auch argumentieren, dass den Lernenden die Ent‐ scheidung über die Verwendung der Texte zugestanden werden sollte. Dies sollte dann aber ein transparenter und reflektierter Prozess sein. 350 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="351"?> 7.5.6.4 Fazit zur Aufgabe Die Aufgabe hatte zum Ziel, den Lernenden Wissenskompetenzen zu fremdkul‐ turellen Praktiken zu vermitteln und ihnen praktische interkulturelle Kommuni‐ kation zu ermöglichen. Dazu lernten sie hochqualifizierte Softwareentwickler aus Pune (Indien) in Videobotschaften kennen, erfuhren deren Ansichten insbeson‐ dere zu Bildung, Berufen, Religion sowie zur Frauenrolle und formulierten eine Antwort auf deren Frage nach ihrem Image von Indien. Fast alle Lernenden waren von der hohen Berufsqualifikation unserer Kommunikationspartner aus Pune überrascht. Schulischer Werdegang, Studium und Ausbildung der Softwareent‐ wickler entsprachen nicht den Erwartungen der Lernenden. Die Aufgabe ermög‐ lichte es, stereotype Vorstellungen in Frage zu stellen sowie ein heterogenes und angemessenes Bild fremdkultureller Praktiken zu entwickeln. Hinsichtlich ge‐ lingender interkultureller Kommunikation zeigten die Lernertexte, dass ein mög‐ lichst enger persönlicher Kontakt der Lernenden mit den Kommunikationspart‐ nern von besonderer Bedeutung ist. Je enger die Lernenden im Kontakt standen, desto stärker bemühten sie sich darum, den fremdkulturellen Partner nicht zu verletzen. Es zeigte sich damit auch, dass interkulturelle Kommunikationskom‐ petenzen nur begrenzt in Simulationen innerhalb des Klassenzimmers vermittelt werden können. Die vorliegende Aufgabe war die einzige Aufgabe des zweiten Forschungszyklus, die zuvor nicht erprobt wurde. Die Abweichungen der task-in-process von der task-asworkplan waren hier am größten. 351 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="352"?> 7.5.7 Cultural practices in everyday life - Designing schoolbook pages for a school class in Pune (India) - Kulturelle Praktiken als repräsentativ für ein Schulbuch auswählen erste Aufgabensequenz zweite Aufgabensequenz 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home 1. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home -- 2. Cultural practices in everyday life 2. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. Wedding Ads - What’s important for you when you look for a partner? 3. How Sita and Deepak met - discussing the case of an arranged marriage -- 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 4. Comparing our jobs with Ashok’s job in Kan‐ chipuram 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? 5. The dowry system: Would you like to have a boy or a girl? -- 6. School education of three software develo‐ pers from Pune in India 6. Cultural practices in everyday life 7. Cultural practices in everyday life - De‐ signing schoolbook pages 7. Discussing the portrayal of Germany in an Indian Geography textbook -- 8. Talking to a university student from Manipur (India) about her life back home again 8. a) Talking to a university student from Ma‐ nipur (India) about her life back home again b) Answering the software developer’s ques‐ tion (Aufgabe 8 b) entstand aus Aufgabe 6.) Tab. 15: Position von Aufgabe 7 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.7.1 Darstellung von Aufgabe 7 im zweiten Forschungszyklus Ziele: Repräsentationen zur Darstellung von fremd- und eigenkulturellen Prak‐ tiken vergleichen und bewerten; Auswahl von Zuschreibungen reflektieren. Rahmenbedingungen: Dauer 90 Minuten; im Klassenzimmer. Besondere Hinweise: Im zweiten Forschungszyklus steht die vorliegende Aufgabe 7 in engem Zusammenhang mit Aufgabe 2. In Aufgabe 2, zu Beginn der Aufga‐ bensequenz, setzten sich die Lernenden damit auseinander, was Kulturen re‐ präsentiert bzw. wie Kulturen repräsentiert werden können. In den Aufgaben 3 bis 6 setzten sich die so sensibilisierten Lernenden mit verschiedenen kulturellen 352 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="353"?> Praktiken auseinander. In der vorliegenden Aufgabe 7 nun gestalteten die Lern‐ enden Schulbuchseiten (als Poster, da diese besser in der Klasse präsentiert werden können) für ein englischsprachiges deutsch-indisches Erdkundeschul‐ buch. Aus den Aushandlungsprozessen meiner Lernenden zu den dafür auszu‐ wählenden kulturellen Repräsentationen soll dabei auf den interkulturell-kom‐ munikativen Kompetenzstand der Lernenden rückgeschlossen werden. Entsprechend ist die Aufgabe 7 stark produktorientiert und fokussiert die Auf‐ gabenschritte D (Lernende arbeiten mit Perspektiven auf kulturelle Praktiken) und E (Lernende reflektieren ihre Lernprozesse). Die drei vorangegangenen Schritte A bis C sind in Aufgabe 2 erfolgt bzw. auch in den Aufgaben 3 bis 6 (besonders zu Schritt C). Für Aufgabe 7 war der Austausch von Schülerarbeitsprodukten und gegen‐ seitiges Feedback mit einer Schule in Pune (Indien) vorgesehen. Im Gegensatz zu den Aufgaben 1, 6 und 8 bei denen erfolgreich Direktkontakte mit einer in‐ dischen Studentin und indischen Softwareentwicklern genutzt werden konnten, kam bei dieser Aufgabe letztlich kein direkter Kontakt meiner Lernenden zu‐ stande. Mein über Bekannte geknüpfter Kontakt zu einer Lehrerin in Pune brach vorzeitig ab. Meine Lernenden erarbeiteten zwar ihre Schulbuchseiten unter der Prämisse der tatsächlichen Verwendung für das gemeinsame Schulbuch. Sie er‐ hielten zu ihren Arbeiten aber nicht wie vorgesehen ein Feedback von indischen Schülerinnen und Schülern. Da, wie dargestellt, die vorliegende Aufgabe 7 in besonderer Weise Aufga‐ benteilschritte und Kompetenzen aus anderen Aufgaben integriert, ist es von großem Interesse, zu dieser Aufgabe besonders feinteilig die Kompetenzent‐ wicklung der Lernenden nachzuvollziehen. Um die Bedeutung der Datentrian‐ gulation zu zeigen, wurden in der Darstellung dieser Aufgabe die Datenquellen in besonderer Weise hervorgehoben. Task-as-workplan - die geplante Aufgabe Abkürzungen in der Tabelle: Input für die Lernenden (Ip), Anforderungen in‐ haltlich (Ai), Anforderungen sprachlich (As), Unterstützung inhaltlich (Ui), Un‐ terstützung sprachlich (Us), Sozial- und Aktionsformen (SA), Motivationsför‐ derung (Mo); Aufgabenprodukt (AP); Lehrkraft (LK); Schülerinnen und Schüler (SuS); Hausaufgabe (HA) (vgl. task framework S. ). 353 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="354"?> Aufgabe 7 des 2. Zyklus Beschreibung der Aufgabenteil‐ schritte Hinweise zum task framework D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus: Postererstellung Die Lernenden erstellen in Gruppen ein Poster, das in verkleinerter Form ihr Beitrag zu einem indisch-deut‐ schen Geographie-Schulbuch sein soll. Im ersten Schritt werden die Lern‐ enden gebeten, Kriterien zu nennen, anhand derer die Poster später beur‐ teilt werden. Diese Kriterien werden um weitere Vorgaben ergänzt (s. u.). Anschließend beginnt die ca. 30-mi‐ nütige Gruppenarbeit. Design a poster (= schoolbook page) for the pupils in Pune about your topic: • Choose a title • Choose media (photos, maps, dia‐ grams, …). • Give each medium a subtitle. With the subtitle you can clarify what e.g. the picture represents. • Write your own text (no copies! ) about the topic on the poster. Every group member has to agree with the text. Make changes if neces‐ sary. • You can note down tasks for the pupils, it’s for a school book. In the presentation you explain why you chose these media (e.g. photos). Remember to make sensitive choices that do not hurt anyone’s feelings! Ip: Ergänzung der Kriterien für die Postererstellung; Ai: vorweg reflektieren, anhand wel‐ cher Kriterien später beurteilt werden kann; in Aushandlungsprozessen be‐ gründet kulturelle Repräsentationen auswählen; Ui: Klarheit über Anforderungs-Kri‐ terien; Bereitstellung von Abbil‐ dungen, die die SuS aus der Unter‐ richtseinheit bereits kennen; As: Erstellung englischsprachiger Postertexte; Us: Arbeit in Gruppen; Lexika ver‐ fügbar; SA: Erarbeitung der Kriterien im Plenum; Postererstellung als GA; Mo: Eigenaktivität; ownership bzgl. Poster; Auseinandersetzung mit den Vorstellungen/ Perspektiven der Mit‐ schüler; AP: Kriterien für die Postererstellung; Poster (Schulbuchseiten); D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus: Prä‐ sentation und Diskussion der Aufgabenprodukte Die Lernenden präsentieren und dis‐ kutieren im Plenum ihre Gestaltung einer Schulbuchseite (als Poster). Ip: Poster der anderen Arbeits‐ gruppen; Ai: kritische Reflexion der Eignung der Posterinhalte; Ui: Impulse und Fragen der LK; 354 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="355"?> As: freie Präsentation in englischer Sprache; Us: eigenes Poster als Leitmedium, welches die Präsentationen struktu‐ riert und gliedert; SA: Präsentationen und Diskussion im Plenum; Mo: Auseinandersetzung mit den Vorstellungen/ Perspektiven der Mit‐ schüler; durch Mitschülerinnen und Mitschüler gestaltete Medien; AP: Präsentationen der Vortra‐ genden. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse In der Reflexionsphase, die gleich‐ zeitig als Gruppeninterview der For‐ schung dient, begründen die Lern‐ enden insbesondere ihre Medienauswahl. Gruppen, die im Plenum aus Zeitgründen keine Mög‐ lichkeit zur Präsentation hatten, kommen hier zum Zuge. Leitfragen/ Impulse: Kriterien für die Medienauswahl; Un‐ terschiede der Medienauswahl zwi‐ schen den Gruppen; Poster zu Deutschland: Wird das Be‐ sondere und Ungewöhnliche herausge‐ stellt oder das Alltägliche und Verbrei‐ tete? Poster zu anderskulturellen Prak‐ tiken: Reflexion des Umgangs mit ne‐ gativen Aspekten (Kinderarbeit u. ä.); könnten sich die Schülerinnen und Schüler aus Pune durch das Poster ver‐ letzt fühlen? Alternativen? Vergleich: Wird bei den Postern zu den fremdkulturellen Praktiken stärker das Negative herausgestellt als bei den ei‐ genkulturellen? Falls ja, weshalb könnte das so sein? Wie möchte man sich selbst darstellen? Was sollen die Schülerinnen und Schüler in Pune zu hiesigen kulturellen Praktiken lernen? Ist das Dargestellte repräsentativ? Fehlen noch Themen? Ip: Reflexionsimpulse; Ai: eigene Vorstellungen reflektieren; Abstand zum eigenen Produkt ge‐ winnen; Ui: Impulse und Fragen der Intervie‐ wenden; As: gering; Interviewgespräch auf Deutsch; SA/ Mo: Diskussion in Kleingruppen; AP: Stellungnahmen der Lernenden. 355 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="356"?> Würdet ihr dieselben oder andere Themen wählen, wenn ihr eine Schul‐ buchseite für Schülerinnen und Schüler aus einem anderen Land z. B. die USA machen würdet? Begründet! Tab. 16: Planung von Aufgabe 7 der zweiten Aufgabensequenz. 7.5.7.2 Task-in-process - Rekonstruktion des Aufgabenprozesses Hintergrundinformationen: In der hier vorgestellten siebten Aufgabe des zweiten Forschungszyklus erarbeiteten die Lernenden in Gruppen kulturelle Repräsentationen für die Gestaltung eines Schulbuchs. Die Aufgabe steht in engem Zusammenhang mit Aufgabe 2 des zweiten Forschungszyklus, aber auch mit allen anderen in dieser Klasse zuvor bearbeiteten Aufgaben. Es ist davon auszugehen, dass sich in der Aufgabenbearbeitung Kompetenzen zeigen, die im Laufe der Bearbeitung der anderen Aufgaben erworben wurden. Datenquellen: • Videoaufnahme der Unterrichtsstunde (allgemein) • Audioaufnahmen der Gruppenaushandlungsprozesse • Lernertexte (Poster der Schülergruppen) • Video-/ Audioaufnahme Posterpräsentationen • Audioaufnahmen der Reflexionsphase in Gruppen • Dokumentation der Co-Forscherinnen von IKL-relevanten Lerneraussagen D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus: Poste‐ rerstellung Die Aufgabe zur Erstellung einer Schulbuchseite (in Form eines Posters) für ein indisch-deutsches Schulbuch begann mit einem Klassengespräch dazu, was bei der Gestaltung von Schulbuchseiten/ Postern zu beachten ist, es wurden also Qua‐ litätskriterien zusammengestellt (What should such a poster look like? ). Die Lern‐ enden nannten dazu vier Kriterien, die sich allesamt auf Formalia bezogen („clearly structured“, „write big enough“, „good texts“, „photos must be relevant for the topic“). Spezifisch interkulturell-kommunikative Gestaltungskriterien (z. B. beachten, einseitig negative Darstellungen zu vermeiden o. ä.) wurden von den Lernenden nicht genannt. Die von den Lernenden gesammelten Kriterien wurden ergänzt bzw. präzisiert. Mittels Nachfragen, Paraphrasen und Übersetzungen wurde sichergestellt, dass alle Lernenden die Aufgabe verstanden hatten. 356 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="357"?> Bereits mehrere Tage zuvor hatten die Lernenden als Vorbereitung für die Aufgabe den Auftrag erhalten, dass immer zwei der acht Gruppen das gleiche Thema auswählen (zumeist eine Daseinsgrundfunktion, siehe S. 255) und Fotos, Diagramme, Karten und Illustrationen zu ihrem Thema mitbringen. Jeweils eine Gruppe gestaltete ein Poster (bzw. eine Posterhälfte) zum gewählten Thema zu den anderskulturellen Praktiken, und die andere zu den eigenkulturellen. Zur Illustration der fremdkulturellen Praktiken stellte ich auch Ausdrucke der in Aufgabe 2 diskutierten Fotos zur Verfügung. Die Bilder deckten ein weites Aus‐ prägungsspektrum zur jeweiligen Daseinsgrundfunktion ab, beispielsweise standen zum Thema ‚Wohnen‘ Bilder von Slumbehausungen bis hin zu mo‐ dernen Hochhäusern zur Verfügung. Mit der freien Themenwahl in der hier besprochenen Aufgabe 7 wollte ich dem task-Kriterium ‚Wahlmöglichkeit‘ ge‐ recht werden, doch in Kombination mit der Paarung von themengleichen Gruppen ergab es sich nun, dass nur eine der acht Gruppen (Gruppe 8) das gleiche Thema in Aufgabe 7 wählte, das sie auch in Aufgabe 2 bearbeitet hatte. Entsprechend ist nur bei Gruppe 8 zum Thema „Traffic in Germany“ genau nachzuvollziehen, wie sich die Vorstellungen der Lernenden zum gewählten Thema im Laufe des Unterrichtsprojekts entwickelten. Für die anderen Gruppen können allgemeine themenunabhängige Entwicklungen nachvollzogen und deren interkulturelle Kompetenzen aufgezeigt werden. Die Gruppenarbeit an den Postern dauerte 35 Minuten. Die Gruppen arbei‐ teten konzentriert. Zwei Poster („Jobs and Works in India and Germany“) waren als großes Doppelposter konzipiert und wurden in einer Großgruppe (8 Ler‐ nende) erstellt. Die anderen Poster wurden in kleineren Arbeitsgruppen (3-4 Lernende) erarbeitet. Die vier Gruppen, die Themen zu Deutschland bearbei‐ teten, hatten recht viele Materialien mitgebracht, und es schien ihnen leichter zu fallen, englische Texte zu ihrem Thema zu formulieren. Von den acht Postern stelle ich exemplarisch die Auswertungen zu den Po‐ stern „Indish Children“ und „Traffic in Germany“ vor. Zu diesen Postern ist durch Mithilfe von Co-Forscherinnen die Produkterstellung, -präsentation und Reflexion besonders gut dokumentiert. D) Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus: Prä‐ sentation und Diskussion der Aufgabenprodukte In ca. 20 Minuten konnten das Doppelposter und zwei weitere Poster präsentiert werden. Sie wurden jeweils von der gesamten Arbeitsgruppe vorgestellt. Nach jeder Präsentation folgt eine kurze Diskussionsrunde, in der zunächst die zuhör‐ enden Lernenden Fragen stellen konnten. Anschließend stellte ich ergänzende Fragen. Hinsichtlich der Repräsentationen zu fremdkulturellen Praktiken wollte ich insbesondere herausfinden, wie meine Lernenden mit Themen umgingen, die 357 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="358"?> sie als problematische kulturelle Aspekte wahrgenommen hatten. Bei den ge‐ wählten Themen (2 x Kinder und Bildung, 1 x Arbeit und Berufe und 1 x Verkehr und Verkehrsmittel) war dies insbesondere der Umgang mit Kinderarbeit. Hin‐ sichtlich der Repräsentationen zu Deutschland war mein Hauptinteresse zu er‐ fahren, ob die Poster Indizien dafür liefern würden, dass meine Lernenden den anderskulturellen Lernenden in angemessener Weise begegnen wollten. E) Lernende reflektieren ihre Lernprozesse Für die Reflexion war die Klasse in Gruppen aufgeteilt. Die Fragen und Impulse bezogen sich auf die jeweiligen konkreten Posterinhalte (Interviewleitfaden siehe Tabelle oben, S. 330). Dadurch konnten auch Gruppen, die aus Zeitgründen nicht präsentieren konnten, zu den Intentionen ihrer Darstellungen befragt werden. Posterauswertungen unter Einbezug der Präsentationen und Re‐ flexionen (D-E) Um die Bedeutung von Triangulation für die Unterrichtsforschung im vorlie‐ genden Projekt hervorzuheben, sind für die beiden folgenden Interpretationen die genutzten Datenquellen jeweils kursiv wiedergegeben. 1. Aufgabenprodukt Poster 2. Audioaufnahmen von Gruppenaushandlungsprozessen 3. Produktpräsentation und Klassen-Diskussion 4. Gruppeninterview und Reflexion 5. Unterrichtsgespräch 1. Poster „Indish Children“ Gruppe 2 (S56, S42, S54) - Posterauswer‐ tungen mit besonderer Herausstellung der Datentriangulation Tenor der Interpretation: Die Lernenden thematisierten Kinderarbeit und ver‐ suchten dabei Verletzungen zu vermeiden. Beschreibung des Arbeitsprodukts (1: Aufgabenprodukt Poster): Die Gruppe zwei (S56, S42, S54) erstellte ein DIN A2 Poster im Querformat (siehe Anlage 5). Der Titel „Indish Children“ dient als Überschrift. Der zentrale Text wird von fünf Bildern und einer Tabelle eingerahmt. Alle Bilder zeigen freudige oder lachende Kinder. Drei der Bilder sind mit einer Beschriftung versehen („kids in school uniforms“, „little kids doing yoga“, „little indian girl“). Das eine der beiden un‐ beschrifteten Bilder zeigt nochmals Schüler in Schuluniform. Das andere zeigt einen lächelnden Jungen, der vermutlich in einer Fahrradwerkstatt ein Rad ein‐ speicht. Von den fünf Fotos haben die Lernenden drei selbst mitgebracht. Das Foto des arbeitenden Jungen und das Foto von den „kids in school uniform“ wurden von der zur Verfügung gestellten Auswahl genommen. Zur Auswahl 358 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="359"?> wäre beispielsweise auch ein Foto eines etwa 10-jährigen indischen Jungen ge‐ standen, der Müll sammelt. Dieses wurde nicht für das Poster ausgewählt. Die auf dem Poster gezeigte Tabelle stellt vergleichend Daten zur Gesamtbevölke‐ rung, Kindersterblichkeit, Alphabetisierungsrate und Geburtenrate von Indien und Deutschland vor. Die Daten stammen aus einem Erdkundeschulbuch. Der im Posterzentrum formulierte Text lautet: „Some kids in india work for their family. The kids earn a bit of money for food and drink. Sometimes the work is very hard. They must work 12 hours a day. Often they can’t go to school. The kids in the school wear school uni‐ forms. The older kids wear another than the younger. In some schools the kids do Yoga in their sport lesson.“ Datenquelle: Z2 A7 G2 Produkt Poster (siehe Anlage 5) Interpretation des Posters unter Einbezug der weiteren Datenquellen: Durch die freudigen Kinder wirkt die Grundstimmung des Posters auf den ersten Blick sehr positiv - Indien wird auf den Bildern als ein Land mit zufriedenen und freudigen Kindern vorgestellt. Die Eltern der Kinder scheinen sich um die Kinder zu kümmern, denn die Kinder sind ordentlich gekleidet und sehr gepflegt. Selbst der bei der Arbeit in der Fahrradwerkstatt fotografierte Junge wirkt ordentlich, und er lacht. Die kulturellen Kontexte, in denen die Kinder in den Bildern stehen, wirken positiv: Kindergarten, Schule, Sport und evtl. ein Fest. Einzig der Junge in der Fahrradwerkstatt könnte dem problematischen Kontext Kinderarbeit zu‐ geordnet werden. Allerdings ist das Foto wenig eindeutig, der Junge könnte auch seinem Vater in der Werkstatt helfen. In der Tendenz wirken die auf den Fotos dargestellten Kontexte so, dass Indien als ein Land gezeigt wird, in dem Kinder die Schule besuchen und Freizeitaktivitäten nachgehen können. Wenn Kinder arbeiten, dann sind sie dabei zufrieden - welcher Junge repariert nicht auch gerne Fahrräder? (1: Aufgabenprodukt Poster). Die in der Tabelle dargestellten Daten sind sachlicher und insbesondere hin‐ sichtlich der Kindersterblichkeitsraten und Alphabetisierungsraten deutlich kri‐ tischer. Allerdings erscheint die Kritik versteckt. Auf den ersten Blick fallen die positiven Fotos des Posters ins Auge, die Tabellendaten wirken erst nach einem Einlesen (1: Aufgabenprodukt Poster). Auf keinem anderen Poster der Klasse wird Kinderarbeit so direkt angespro‐ chen wie in dem vorliegenden Postertext. Die ersten fünf der insgesamt acht Sätze beziehen sich auf Kinderarbeit. Die drei letzten Sätze verbalisieren ledig‐ lich Bildinhalte, sie enthalten keine neuen Informationen. Die Beschreibung der Kinderarbeit enthält Relativierungen („Some kids …“; „Sometimes …“; „Often …“) und Begründungen („… for their family“; „… earn a bit of money for food and 359 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="360"?> drink“). Der Text enthält kein Werturteil zur Kinderarbeit (1: Aufgabenprodukt Poster). Sowohl in der Diskussion nach der Posterpräsentation als auch in der Reflexion wurde die Gruppe auf das Foto zu Kinderarbeit mit dem jungen Fahr‐ radmechaniker angesprochen. Die Gruppe (S56, S42, S54) wies ausdrücklich da‐ rauf hin, dass sie genau dieses Foto gewählt hatten, da der Junge freundlich lächelt. Sie hatten das Foto auch wegen seiner Uneindeutigkeit gewählt (S56: „Das [Foto mit dem jungen Fahrradmechaniker] muss ja keine Kinderarbeit sein“ (3: Posterpräsentation). In der Aufgabenreflexion am Ende der Unterrichts‐ stunde sagte S56 fast wörtlich das gleiche „Es sieht so aus, als wenn es auch freiwillig sein könnte. Es muss ja nicht direkt Kinderarbeit sein.“ (4: Reflexion mit Co-Forscherin 5 [Kamerafrau]). Die Gruppe hatte auch alternative Fotos von Kindern als Teppichknüpfern und Müllsammler zur Verfügung. Sie hat aber of‐ fensichtlich bewusst das harmloseste und das am wenigsten eindeutige ausge‐ wählt (4: Gruppenreflexion mit Co-Forscherin 5 [Kamerafrau]): S54: Also ich fände es auch einfacher, Bilder für deutsche Kinder zu suchen, weil man weiß nicht, wenn sie die Bilder sehen, die wir jetzt für sie ausgesucht haben, man weiß ja nicht ob, das sie dann persönlich verletzt oder so irgendwie. Co-Forscherin 5: M-h. [bestätigend] Was hattest Du für ein Thema? S54: Indische Kinder. Also da war es auch ein bisschen schwerer die Bilder auszusuchen. Co-Forscherin 5: Gab es ein Bild, von dem Du dachtest, das hättest Du gerne genommen, wo Du Dich dann aber nicht getraut hast, weil Du dachtest, vielleicht verletzte ich damit Gefühle? S54: Ja, das mit dem Jungen, der den Teppich macht. S56: Ja, wir hatten ja noch so eins mit so einem Sack [gemeint das Kind, das Müll sammelt]. S54: Das fand ich ein bisschen arg. Co-Forscherin 5: Was war das für ein Bild? S56: Da war ein Junge darauf, der so einen Sack getragen hat mit Plastikflaschen [Müllsammler]. Datenquelle: Z2 A7 Fo5 GI, 03: 01-03: 50 Während der Diskussion nach der Präsentation in der Klasse gab es aber auch Widerspruch. S38 lehnte es ab, dass überhaupt ein Bild zur Kinderarbeit gezeigt wird. („One of them [der Fotos] is not so good for Indian people and that is because it shows this negative aspect. I wouldn’t show this [photo] with the child labour“ (3: Klassen-Diskussion nach Präsentation). In den anderen Gruppen bewirkte die Diskussion nach der Posterpräsentation ein Nachdenken über die Darstellung von Kinderarbeit, das auch neue Aspekte 360 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="361"?> in die Debatte einbrachte, vor allem aber viel Empathie und Perspektiven‐ wechsel bewirkte rief. In der Gruppenreflexion meinte S34: „Ich finde, man sollte über Kinderarbeit berichten, weil ich glaube, die indischen Kinder finden Kin‐ derarbeit auch nicht gut“ (4: Gruppenreflexion mit Co-Forscherin 1). In der Grup‐ penreflexion mit Co-Forscherin 3 hingegen war S35 gegen eine Darstellung auf dem Poster. Er argumentiert, dass „man nicht noch in der Wunde drin rumsto‐ chern“ sollte. S51 meinte dazu, dass sicherlich „jedes Kind dort anders emp‐ findet“ abhängig davon, was es „für Erfahrungen gemacht“ hat (4: Gruppenre‐ flexion mit Co-Forscherin 3). Sie sagt aus, dass es für die Frage der Darstellung von Kinderarbeit kein abschließendes Urteil geben kann und hat erkannt, dass es verschiedene fremdkulturelle Perspektiven auf eine Praktik gibt und dass die Bewertung dieser Praktik durch Erfahrungen und kulturelle Sozialisation ge‐ prägt sind. In der Gruppenreflexion mit Co-Forscherin 4 machen die Lernenden deutlich, dass sie mit ihren Darstellungen nicht wollen, „dass sie [indische Ju‐ gendliche] gekränkt sind“ und „dass sie es nicht in den falschen Hals kriegen [sollen]“ (4: Gruppenreflexion mit Co-Forscherin 4). S54, die das Bild mit dem jungen Fahrradmechaniker mit ausgesucht hatte, sieht offenbar ihre Auswahl selbst auch kritisch, und ist von der Auswahl nicht restlos überzeugt, bzw. be‐ schreibt das Vornehmen einer Auswahl als Schwierigkeit. Sie meinte: „Man weiß ja nicht, wenn sie [indischen Jugendlichen] die Bilder sehen, die wir jetzt für sie ausgesucht haben, ob sie dann persönlich verletzt sind“ (4: Reflexion mit Co-For‐ scherin 5 [Kamerafrau]). Bei einer ganzen Reihe von Aussagen der Lernenden ist interkulturelle Sensibilität im Umgang mit der Darstellung der Praktik ‚Kinderarbeit‘ offen‐ sichtlich. Obwohl sich die Gruppe von S56, S42 und S54 im Aushandlungs‐ prozess bei der Postererstellung ablehnend zur Kinderarbeit äußerte, gestal‐ tete sie ein Poster, das Kinderarbeit im Bild nur vage und uneindeutig zeigt und im Text nicht vorschnell verurteilt. Pauschalisierungen werden ver‐ mieden und Begründungen aus der Innenperspektive für die eigentlich abge‐ lehnte kulturelle Praktik angeführt. Inhaltlich haben die Lernenden offen‐ sichtlich in der Stunde zu ‚child labour‘ gelernt, dass auch problematische kulturelle Praktiken differenziert, d. h. aus verschiedenen Perspektiven be‐ trachtet werden müssen. Von ihnen eigentlich abgelehnte kulturelle Prak‐ tiken können in fremdkulturellen Kontexten unter bestimmten Bedingungen und aus der Perspektive anderskultureller Personen durchaus plausibel sein. Interkulturell-kommunikativ führen diese Einsichten zu einem Bemühen um nicht-verletzende Kommunikation. 361 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="362"?> Folgerung 98: Wenn Aufgaben Lernende dazu anhalten, sich problemati‐ sche kulturelle Praktiken (z. B. Kinderarbeit in Aufgabe 4) in differenzierter multiperspektivischer Weise zu erarbeiten, dann trägt das dazu bei, dass in der interkulturellen Kommunikation solcher Themen auch die fremdkultu‐ relle Innenperspektive einbezogen wird. Folgerung 99: Wenn Lernende am Ende einer Aufgabensequenz ein Aufga‐ benprodukt erstellen, das Inhalte aus mehreren Aufgaben integriert, dann lassen sich im Aufgabenprodukt auch Kompetenzen nachweisen, die an frü‐ herer Stelle des Projektverlaufs gefördert wurden. Folgerung 100: Wenn in einer Aufgabe ein fremdsprachiges Arbeitsprodukt erstellt wird, das in der interkulturellen Kommunikation mit echten anders‐ kulturellen Partnern genutzt werden soll, so sind die Lernenden in der Regel besonders darum bemüht, problematische fremdkulturelle Praktiken (z. B. Kinderarbeit) in einer gemäßigten und annehmbaren Form darzustellen. Folgerung 101: Für eine gelingende Interpretation eines Arbeitsprodukts der Lernenden (z. B. Poster) sollten weitere Datenquellen (z. B. Beforschung Aushandlungsprozesse, Gruppeninterviews) einbezogen werden. Triangula‐ tion kann prüfen, ob die Interpretation eines Produkts zu den Intentionen der Lernenden bei dessen Erstellung passt (z. B. ob eine bestimmte Bildaus‐ wahl oder eine Textformulierung absichtsvoll vorgenommen wurde). 2. Poster „Traffic in Germany“ von Gruppe 8 (S38, S39, S60, S35) - Pos‐ terauswertungen mit besonderer Herausstellung der Kompetenzent‐ wicklung Tenor der Interpretation: Die Lernenden wählen Verkehrsmittel in Deutschland so aus, dass sie nicht überheblich erscheinen. Beschreibung des Arbeitsprodukts (1: Aufgabenprodukt Poster): Die Gruppe 8 (S38, S39, S60, S35) erstellte ein DIN A2 Poster im Hochformat (siehe Anlage 6). Der Titel „Traffic in Germany“ dient als Überschrift. Die Posterinhalte sind in fünf Themen gegliedert, von denen vier illustriert sind (Motorroller, Regional‐ express, Kinder mit Fahrrädern, Deutschlandkarte mit Autobahnen). Das Thema Verkehrsregeln ist nicht illustriert. Nahezu das gesamte Poster, auch die Abbil‐ dungen, sind in schwarz-weiß gehalten. Lediglich für die Unterstreichungen der Überschriften und für die Schriftfarbe des Abschnitts zu Verkehrsregeln wurde die Farbe Rot gewählt. Unter der jeweiligen Themenüberschrift werden in Form einer Aufzählung je zwei bis drei Informationen zu jedem Themen vorgestellt: 362 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="363"?> Scooter • you must be 15 years old to drive a scooter • it costs 2000€ (100 000 Rupees) • you need a drivers-licence train • many people use it for travelling and going to work • you must buy a ticket • In Germany the rules for traffic are very important! • drive at the right side! • We think there are over 70 different traffic signs! bike • all people are allowed to drive a bike • it’s good for fitness German Highway • you can drive into many European Countries like: Netherland, Belgium, France, Switzerland, Austria, …….. Datenquelle: Z2 A7 G8 Produkt Poster (siehe Anlage 6) Die besonders große Abbildung des Motorrollers an prominenter Stelle links oben fällt dem Betrachter als erstes ins Auge, dann die Abbildungen des Zuges und der Fahrräder. Alle Postertexte sind in der gleichen Handschrift ge‐ schrieben. Diese ist lesbar, sie ist jedoch nicht besonders klar. Die Fahrrad fahr‐ enden Jugendlichen - vielleicht unternehmen sie eine Radtour - sehen zufrieden aus. Den anderen Abbildungen kann keine besondere Stimmung zugeordnet werden. Alle Abbildungen wurden von den Lernenden mitgebracht (vorberei‐ tende Hausaufgabe). Aus ihrer Gruppenarbeit zur zweiten Aufgabe hatten die Lernenden der Gruppe 8 auch Abbildungen von anderen großteils prestige‐ trächtigen Verkehrsmitteln zur Verfügung (ICE, Flugzeug, Kreuzfahrtschiff, Greyhound-Bus, schnelles Motorrad, Sportwagen, Luxuswagen), diese wurden bei der Postererstellung nicht verwendet. Interpretation des Posters unter Einbezug der weiteren Datenquellen: Hin‐ sichtlich einer Darstellung zu „Traffic in Germany“ ist die Auswahl der darge‐ stellten Verkehrsmittel wohl die größte Auffälligkeit der Posterdarstellung (1: Aufgabenprodukt Poster). Für die Auswahl eines Motorrollers, eines Regional‐ expresses und von Radfahrern zur kulturellen Repräsentation gegenüber indi‐ 363 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="364"?> schen Lernenden kommen vermutlich drei Motive kombiniert und unterschied‐ lich gewichtet (je nach Interpretation) in Betracht: a) Meine Lernenden zeigen den indischen Jugendlichen die Verkehrsmittel, die für sie (die deutschen Schüler) persönlich relevant sind. Die Lernenden sind ca. 15 Jahre alt. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler der Klasse kommen mit dem Fahrrad zur Schule. Keiner der Lernenden fuhr zu diesem Zeitpunkt einen Roller, es ist aber davon auszugehen, dass viele gerne einen gefahren hätten. Die Auswahl des Regionalexpress fügt sich ebenfalls in das Bild. Auch wenn die Fahrten zur Schule eher mit dem Schulbus erfolgen, so nutzen die Schülerinnen und Schüler Regionalzüge zur Fahrt z. B. nach Freiburg, der nächstgelegenen Großstadt. In den Texten finden sich für das Motiv ‚persönliche Relevanz der Verkehrsmittel‘ jedoch recht wenige Hinweise. Am ehesten ist noch die Erläu‐ terung „You must be 15 years old to drive a scooter“ so zu interpretieren. Nimmt man das Motiv ‚persönliche Relevanz‘ als Grund für die Auswahl und Darstel‐ lung an, dann steht dahinter ein differenzierter moderner Kulturbegriff, der vom Individuum ausgeht - ‚was repräsentiert mich und meine Freunde‘ statt ‚was repräsentiert meine (National-)Kultur‘. b) Meine Lernenden passen die Darstellungen zu ‚ihren‘ Verkehrsmitteln an die vermuteten Interessen und Informationsbedürfnisse der indischen Jugend‐ lichen an. Sie berücksichtigen bei der Auswahl, was aus ihrer Sicht für gleich‐ altrige indische Jugendliche interessant und relevant ist und woran diese, aus‐ gehend von dem eingeschränkten Wissen meiner Jugendlichen zur Lebenswelt der indischen Jugendlichen, anknüpfen können. Sie gehen davon aus (und haben das während des Unterrichtsprojekts auch so dargestellt bekommen), dass Fahr‐ räder, Motorroller und Züge auch im Leben der indischen Jugendlichen relevant sind, und dass sie einen guten Anknüpfungspunkt (relating) zur Kommunikation bieten. Zum Roller, aber auch zu den anderen Verkehrsmitteln, geben sie dann die wichtigsten Infos, die die indischen Jugendlichen in Deutschland gebrauchen könnten: Welches Alter bzw. welche Fahrerlaubnis wird benötigt? Was kostet das Verkehrsmittel? Braucht man einen Fahrschein? Sie versetzen sich in die Perspektive der Anderen, um dann zu entscheiden, welche Informationen rele‐ vant sind. Wenn Sie den Preis des Rollers auch in Rupien notieren, zeigt das Empathie - sie möchten die Informationen leicht zugänglich machen. Wenn sie zum deutschen Autobahn-Netz ausführen, welche Nachbarländer so erreicht werden können, versetzen sie sich in die Perspektive indischer Jugendlicher, die die nationale Aufsplitterung in Europa sicherlich unübersichtlich finden. Die Darstellung, dass in Deutschland rechts gefahren wird, ist ebenfalls ein Beispiel für die gelungene Suche der Lernenden nach relevanten Informationen. Im Un‐ terricht hatten wir an keiner Stelle erwähnt, dass in Indien links gefahren wird. 364 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="365"?> c) Als weiteres Motiv hinter der Darstellungsform könnte das Bemühen stehen, nicht überheblich erscheinen zu wollen. Mein wichtigstes Argument hierfür stelle ich gleich unten bei meiner Interpretation der triangulierten Daten zur interkulturellen Kompetenzentwicklung ‚Vom ICE zum Regionalexpress‘ vor. Weitere Argumente sind die Auswahl der eher bescheidenen Verkehrsmittel Fahrrad, Motorroller und Bahn. Auf dem Poster wird kein Auto gezeigt, weder ein deutscher Luxusklasse-Wagen noch ein Mittelklasse-Modell, obwohl das Auto den Verkehr in Deutschland sicherlich stärker geprägt hat als jedes der vorgestellten Verkehrsmittel und obwohl die Lernenden Bilder von Autos im Rahmen der vorbereitenden Hausaufgabe mitgebracht hatten. Auch zur Auto‐ bahn wird nicht erwähnt, dass hier z. B. weltweit am schnellsten auf öffentlichen Straßen gefahren werden kann, sondern die Eingliederung des deutschen Stra‐ ßennetzes in das seiner Nachbarländer wird herausgestellt. Wenn die Lerner‐ gruppe zu dem altmodisch-eckigen Regionalexpress schreibt „many people use it for travelling and going to work“, dann ist das sicherlich weniger einer un‐ scharfen Wahrnehmung der hiesigen kulturellen Gepflogenheiten geschuldet als dem Umstand, den indischen Jugendlichen nicht überheblich begegnen zu wollen. In der Aufgabenreflexion formulierten die Lernenden diese Intention. Schüler S38 gab an, dass er die Darstellung von alltäglichen kulturellen Prak‐ tiken besser findet als die von Außergewöhnlichem. Er begründet das damit, dass es in Indien nicht so viele „Besonderheiten“ gäbe (4: Reflexion in Gruppen‐ interview). Positiv ist daran, dass er den Anderen gegenüber nicht überheblich erscheinen will. Er ist dabei allerdings auch in einer beschränkten Perspektive gefangen, wenn er meint, dass es in Indien nur wenig Außergewöhnliches gäbe. Falls seine Aussage lediglich auf Verkehrsmittel bezogen war, dann ist sie mög‐ licherweise etwas plausibler. Schüler S39 begründet die Auswahl von Alltäg‐ lichem damit, dass sie den indischen Lernenden die häufig genutzten kulturellen Praktiken vorstellen wollten (4: Reflexion in Gruppeninterview). Aus dieser Aus‐ sage kann das Bemühen herausgelesen werden, die vermuteten Informations‐ bedürfnisse der indischen Jugendlichen zufrieden zu stellen (vgl. Abschnitt b oben). Ferner zeigt S39 mit seiner Begründung, dass die Gruppe eine bewusste Entscheidung für die Präsentation des Alltäglichen getroffen hat. Co-Forscherin 1: Gibt es einen Grund, warum Ihr Euch rein für alltägliche Sachen entschieden habt? Also, dass Ihr jetzt zum Beispiel keinen ICE darauf habt? S38: Ja wir … [kurze Pause]. Keine Ahnung. Wir haben einfach - alltäglich, ist besser. Oder da gibt’s nicht so viele Beson‐ derheiten. 365 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="366"?> S39: Damit sie sehen, was immer genutzt wird, weil den ICE nutzt ja nicht jeder. Datenquelle: Z2 A7 Fo1 GI, 03: 25-03: 49 Rekonstruktion der interkulturellen Kompetenzentwicklung bei Gruppe 8 ‚Vom ICE zum Regionalexpress‘. Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Aufgaben An dieser Stelle möchte ich aufgabenübergreifend die interkulturelle Kompe‐ tenzentwicklung der Lernenden der Gruppe 8 von Aufgabe 2 zu Aufgabe 7 im zweiten Forschungszyklus nachvollziehen. Gruppe 8 war, wie bereits erwähnt, die einzige Gruppe, die bei Aufgabe 2 und Aufgabe 7 die gleiche Daseinsgrund‐ funktion (Verkehr) gewählt hatte, und deren Entwicklung bei der Auswahl von kulturellen Repräsentationen deswegen fast über das gesamte Projekt hinweg nachgezeichnet werden konnte. Bei Gruppe 8 war auffällig, dass die Lernenden in Aufgabe 2 zunächst einen ICE als für Deutschland repräsentatives Verkehrs‐ mittel wählte (1: Aufgabenprodukt Bildauswahl), in der siebten Aufgabe eine Woche später dann aber mit einem Regionalexpress Verkehr in Deutschland gegenüber indischen Jugendlichen repräsentierte (1: Aufgabenprodukt Poster). In der folgenden Rekonstruktion soll unter Zuhilfenahme verschiedener Da‐ tengruppen nachvollzogen werden, wie dieser Sinneswandel zu Stande kam, und wie, so meine ich, sich interkulturelles Lernen zeigte. Zur längsschnittar‐ tigen Kompetenzentwicklungsrekonstruktion bei Gruppe 8 greife ich an dieser Stelle in Einzelfällen auch auf Daten und Interpretationen zurück, die in der querschnittsartigen Darstellung zu den unterschiedlichen Gruppenergebnissen bei den Aufgaben 2 und 7 bereits dargestellten wurden. An dieser Stelle sollen sie zur aufgabenübergreifenden Datenanalyse integriert betrachtet werden. Überblick: Die folgenden sechs Aufgabenschritte erachte ich für das Nachvollziehen der interkulturellen Kompetenzentwicklung in Gruppe 8 als relevant: 1. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt A ‚Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken‘: Gruppe 8 wählt einen ICE als eigenkulturell repräsentativ aus. 2. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt A ‚Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken‘: Die Klasse diskutiert die Auswahl des ICE als eigenkulturelle Re‐ präsentation kritisch. 3. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt C ‚Lernende integrieren neue Informa‐ tionen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte‘: Die Lern‐ enden nennen das Alltägliche und Häufige einerseits sowie das Besondere und Außergewöhnliche andererseits als Auswahlkriterien für Repräsentationen. 366 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="367"?> 4. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt E: ‚Lernende reflektieren ihre interkul‐ turellen Lernprozesse‘: Die Lernenden werden sich der unterschiedlichen Deu‐ tungen der Begriffe ‚typisch/ repräsentativ‘ bewusst. 5. Schritt: Aufgabe 7, Aufgabenschritt D ‚Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus‘: Gruppe 8 wählt Alltägliches zur Darstellung der ei‐ genkulturellen Repräsentationen. 6. Schritt: Aufgabe 7, Aufgabenschritt E ‚Lernende reflektieren ihre interkultu‐ rellen Lernprozesse - Reflexion der Posterinhalte‘: Gruppe 8 begründet die Wahl des Alltäglichen. 1. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt A ‚Lernende beschreiben eigen‐ kulturelle Praktiken‘: Gruppe 8 wählt einen ICE als eigenkulturell re‐ präsentativ aus. Wie bereits für Aufgabe 2 dargestellt, wählten die Lernenden zunächst eine Da‐ seinsgrundfunktion aus, die sie im deutsch-indischen Schulbuch darstellen wollten. Für diese Darstellung brachten die Lernenden dann als vorbereitende Hausaufgabe Bilder mit, aus denen sie dasjenige auswählten, das aus ihrer Sicht am besten als eigenkulturell repräsentativ gelten kann. Gruppe 8 wählte die Daseinsgrundfunktion Verkehr und brachte Bilder von hiesigen Verkehrsmit‐ teln mit (Mountainbike, Motorroller, Motorrad, Auto Oberklasse, Skateboard, Kreuzfahrtschiff, Passagierflugzeug, ICE, Regionalexpress, Sportwagen). Nach einer Diskussion in der Gruppe wählten die Lernenden die Abbildung eines ICE als eigenkulturell repräsentativ (1: Aufgabenprodukt Bildauswahl in Aufgabe 2). In meiner ersten spontanen Interpretation während des Unterrichts empfand ich die Wahl als interkulturell wenig sensibel, da die Abbildung Überlegenheit westlicher Technologie ausdrücken kann. Allerdings ergab die Auswertung des Mitschnitt des Aushandlungsprozesses, dass die Gruppe den ICE gewählt hatte, weil er im Gegensatz zur zuvor vorgeschlagenen Oberklasse-Limousine ein öf‐ fentliches Verkehrsmittel ist (vgl. Aufgabe zwei, S. ) (2: Audioaufnahme Aus‐ handlungsprozess in Aufgabe 2). Bei der Auswahl hatte die Gruppe allerdings nicht reflektiert, dass die Wahl des modernen Zuges überheblich wirken kann. Folgerung 102: Wenn die Beforschung von Aufgaben durch Co-For‐ schende unterstützt wird (z. B. Beforschung der Gruppenaushandlungen und der Reflexionen), dann trägt dies wesentlich zu einem vertieften Ver‐ ständnis der Aufgabenprodukte bei. Als wichtigste Datengruppen haben sich in der vorliegenden Untersuchung für die Unterrichtsforschung er‐ wiesen: Aufgabenprodukte, Aushandlungsprozesse bei der Erstellung des 367 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="368"?> Aufgabenprodukts, Reflexionen (Gruppeninterviews) zum Aufgabenpro‐ dukt und zum Aufgabenprozess. Folgerung 103: Werden Aufgaben mit Daten zu Aufgabenprodukten, Aus‐ handlungsprozessen und Reflexionen beforscht, dann ergeben sich in der Regel keine Widersprüche von gleichrangig wichtigen Datengruppen, son‐ dern die Datengruppen ergänzen sich gegenseitig zu Gunsten eines umfas‐ senderen Verständnisses der Aufgabenprozesse. Die in der Literatur disku‐ tierte Theorie, dass Triangulation zurückzuweisen sei, da jeder Datengruppe ihre eigenständige Perspektive zu belassen sei, kann aus den Erfahrungen in diesem Forschungsprojekt nicht bestätigt werden. Die Triangulation erwies sich als unabdingbar für den Nachvollzug der interkulturellen Lernprozesse. 2. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt A ‚Lernende beschreiben eigen‐ kulturelle Praktiken‘: Die Klasse diskutiert die Auswahl des ICE als ei‐ genkulturelle Repräsentation kritisch. Wie ebenfalls bereits dargestellt (siehe S. 265) stellte Gruppe 8 ihren ICE der Klasse als eigenkulturell repräsentativ vor (1: Aufgabenprodukt Bildauswahl in Aufgabe 2). Gruppe 4 hatte zuvor ihr Bild eines Staus auf der Autobahn präsen‐ tiert (siehe S. 263) (Datenquelle 1: Aufgabenprodukt Bildauswahl in Aufgabe 2). In der Diskussion zur Präsentation von Gruppe 8 forderte ich die Klasse dazu auf, darüber nachzudenken, welches der beiden Bilder ihre Vorstellung von Verkehr bei uns besser repräsentiert. Aus dieser Aufforderung entspann sich eine Diskussion, ob etwas repräsentativ sei, wenn es besonders und herausra‐ gend wäre, oder wenn es von vielen Leuten genutzt würde (vgl. Dialog S. ) (3: Klassen-Diskussion nach Präsentation in Aufgabe 2). Folgerung 104: Wenn Auswahlaufgaben in unterschiedlichen Lernenden‐ gruppen zu unterschiedlichen Auswahlprodukten führen, dann kann mit den Lernenden vergleichend reflektiert werden, welche Kriterien sie bei der Pro‐ duktauswahl zu Grunde gelegt haben, und es bietet sich die Lernchance, Auswahlkriterien für kulturelle Repräsentationen zu diskutieren. Durch die Erfahrung, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, können Lernende die eigene Perspektive relativieren. 3. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt C ‚Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte‘: Lernende nennen das Alltägliche und Häufige einerseits 368 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="369"?> sowie das Besondere und Außergewöhnliche andererseits als Auswahl‐ kriterien für Repräsentationen. Wie auch bei anderen Aufgaben des Projekts sollten die Lernenden kulturelle Repräsentationen für sowohl die eigenkulturelle als auch für die fremdkulturelle Perspektive, reflektieren (hier: „Was repräsentiert Kulturen? “). Auf einen visu‐ ellen Impuls und meine Frage, warum snake charmers so häufig in Reisepro‐ spekten für Indienreise gezeigt werden, gaben die Lernenden drei Antworten, die unterschiedlichen Interpretationen von Repräsentativität zugeordnet werden können und die auf die Diskussion um den ICE als eigenkulturell re‐ präsentativ zurückverweisen (5: Unterrichtsgespräch in Aufgabe 2). Wenn S60 aussagt (1) „Because everyone has heard of it“ steht hinter dieser Aussage ver‐ mutlich das Konzept einer kulturellen Praktik, die deswegen bekannt ist, weil snake charmers besonders außergewöhnlich sind. Die Aussage von S37 hingegen (2) „Perhaps in India they sit at every corner“ verweist auf ein Konzept von Repräsentativität, dass diejenige Praktik eine Kultur repräsentiert, die besonders weit verbreitet ist. S37 ist sich hier aber zu Recht unsicher, ob das zutrifft („Per‐ haps …“). Als weiteren Aspekt bringen die Lernenden ein, dass die Reisebro‐ schüren-Darstellungen zu Indien für deutsche Urlauber mit dem Effekt kultur‐ eller Unterschiede arbeiten, d. h. dass die Abbildungen von snake charmers in Reisebroschüren Verwendung finden, weil sie für westliche Touristen so exo‐ tisch sind (3) (S45: „Only in India, never in Germany there are snake charmers“), es wird also wieder auf das Außergewöhnliche abgehoben. Die abschließende Aussage von S44: „Maybe it’s [snake charmers als kulturelle Repräsentation] so like here the ICE“ kann nicht nur dahingehend interpretiert werden, dass auch aus ihrer Sicht das exotisch-besondere für Werbung genutzt wird, sondern sie leistet ferner den Transfer von der Reflexion zur ‚eigenkulturellen Repräsenta‐ tivität‘ auf ‚fremdkulturelle Repräsentativität‘. Mit dem Beitrag von S44 wurde der ICE in der Klasse zum Symbol für die Darstellung einer Kultur mittels des Besonderen. Es ist recht wahrscheinlich, dass Gruppe 8 nach dem Unterrichts‐ gespräch zu ihrer Auswahl des ICE nun an dieser Stelle den zweiten wichtigen Impuls dazu erhielt, Verkehr in Deutschland gegenüber indischen Lernern nicht mehr mit einem ICE darzustellen. Folgerung 105: Wenn Aufgaben Lernende in einander folgenden Aufga‐ benschritten dazu anhalten, zunächst zu reflektieren, welche eigenkultu‐ rellen Praktiken repräsentativ sind, und dann zu reflektieren, welche fremd‐ kulturellen, dann übertragen sie Erkenntnisse von der einen Teilaufgabe auf die andere. 369 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="370"?> a) b) c) d) 4. Schritt: Aufgabe 2, Aufgabenschritt E ‚Lernende reflektieren ihre in‐ terkulturellen Lernprozesse‘: Lernende ergründen Bedeutungen. Aufgabe 2 endete mit einer Aufgaben-Reflexion. Um alle Lernenden bei den Aufgabenreflexionen zu erfassen, wurden je zwei Gruppen von einer Co-For‐ scherin gemeinsam interviewt, in diesem Fall die Gruppen 4 und 8. In der In‐ terviewgruppe (Doppelgruppe 4 und 8) zeigte sich nun schon in der Reflexion am Ende von Aufgabe 2 ein besonderes und kritisches Bewusstsein für die Pro‐ blematik, welche kulturellen Praktiken oder Kulturobjektivationen eine Kultur repräsentieren. In den Interviewdaten zeigte sich, dass die Lernenden vier Faktoren bei der Auswahl einer repräsentativen kulturellen Praktik für wesent‐ lich halten (4: Gruppeninterview und Reflexion in Aufgabe 2). Was eine Person als repräsentativ für eine Kultur empfindet hängt aus Sicht der Lernenden von ihrer ‚groß‘-kulturellen Zugehörigkeit ab (S39: „Die [indische Schülerinnen und Schüler] würden bestimmt auch andere Bilder auswählen für Deutschland, wie wir“ [siehe S. 277]). Ferner ist der sozio-ökonomische Status einer Person relevant (S39: „Kommt darauf an, aus was für einem … (kurze Pause wegen Begriffsunsi‐ cherheit) Stadium sie kommt, ob sie reich ist, arm oder so“ [siehe S. 277]). Darüber hinaus werden Entscheidungen dazu, was als repräsentativ emp‐ funden wird vom subkulturellen Umfeld der Person mitbestimmt (S31: „Es kommt immer drauf an, wo er halt lebt, was er gemacht hat und so“ [siehe S. 277, 277]; S34: „Vom Umfeld [hängt es ab]“ [siehe S. 277]). Letztlich ist eine Entscheidung aber immer auch besonders stark von indi‐ viduellen Vorlieben geprägt. Auch Mitglieder einer Subkultur können dazu unterschiedliche Vorstellungen haben (S37: „Ja, weil man … Jeder hat so seine eigene Sichtweise von den ganzen Sachen“ [siehe S. 277]; S31: „Ja, weil jeder etwas anderes unter ‚typisch‘ versteht“ [siehe S. 277]). Datenquellen für a) bis d): Z2 A2 Fo1 GI, 04: 14 - 05: 54 (Reflexion Doppelgruppe 4 & 8) Die durchgeführte interkulturelle Lernaufgabe eröffnete den Lernenden die Möglichkeit, einen differenzierten Kulturbegriff zu erwerben, der nicht oder zumindest nicht übermäßig stark durch großkulturelle Gruppen geprägt ist. Die Zitate der Lernenden enthalten aber auch die Aussage, dass trotz aller Indivi‐ dualität und Prägung durch Subkulturen Menschen auch von großkulturellen Gemeinschaften wie sozio-ökonomischen Schichtzugehörigkeiten und Natio‐ nalkulturen (wegen deren politischen und rechtlichen Bestimmungen) mitge‐ prägt sind. Die Lernenden zeigen hier eine realistische Einschätzung der En‐ kulturationsprozesse. Hinsichtlich der Auswahlaufgabe hatten die Mitglieder 370 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="371"?> von Gruppe 8 in dieser Aufgabenreflexion die Lernchance, ein kritisches Be‐ wusstsein für die Auswahl von kulturellen Repräsentationen zu erwerben. Dies konnte sich auch auf die Auswahl von Verkehrsmitteln auswirken, mit denen sie die eigenkulturellen Praktiken in Aufgabe 7 später darstellten. Folgerung 106: Wenn in der Reflexionsphase interkulturelle Lernerfah‐ rungen der Lernenden diskutiert werden, dann erhalten die Lernenden die Lernchance, ihre eher intuitiven Zugänge dazu, was eine Kultur repräsen‐ tiert, kritisch und systematisch zu reflektieren. Durch den Vergleich von Perspektiven kann die Unterschiedlichkeit und die Perspektivenabhängig‐ keit von kulturellen Repräsentationen bewusst gemacht werden. Aus diesen Gründen kommt der Reflexionsphase eine besondere Bedeutung bei der Ent‐ wicklung interkultureller Kompetenzen zu. Nach Abschluss von Aufgabe 2 (hier: Schritte 1 bis 4) bearbeiteten die Lernenden im Laufe einer Woche die Aufgaben 3 bis 6 in je einer Doppelstunde. Die fol‐ genden Analyseschritte 5 und 6 beziehen sich auf Aufgabe 7, einer Doppelstunde gegen Ende des Unterrichtsprojekts. 5. Schritt: Aufgabe 7, Aufgabenschritt D ‚Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus‘: Gruppe 8 wählt Alltägliches zur Darstel‐ lung der eigenkulturellen Repräsentationen. Wie bereits in der ausführlichen Posteranalyse dargestellt (siehe S. 362), zeigen die Lernenden der Gruppe 8 auf ihrem Poster, das als Vorlage für die Gestaltung einer Schulbuchseite in einem indisch-deutschen Schulbuch die Daseinsgrund‐ funktion ‚Verkehr‘ für Deutschland repräsentieren soll, statt des zuvor in Auf‐ gabe 2 gewählten ICE einen Motorroller, mehrere Fahrradfahrer, einen Regio‐ nalexpress und eine Karte des deutschen Autobahnnetzes (1: Aufgabenprodukt Poster in Aufgabe 7). Der Auswahlkontext (Erdkundeschulbuch) und die Adres‐ satengruppe ( Jugendliche in Indien) für die kulturellen Repräsentationen sind in beiden Aufgaben (in Aufgaben 2 und 7) die Gleichen geblieben. Gruppe 8 arbeitete beide Male zur Daseinsgrundfunktion Verkehr. Die in Aufgabe 2 mit den Lernenden mehrfach diskutierte Frage „Was ist typisch bzw. repräsentativ? Das Außergewöhnliche und Besondere oder das Alltägliche und Häufige? “ kann mit den in Gruppe 8 gewählten Repräsentationen in Verbindung gebracht werden. Der von Gruppe 8 in Aufgabe 2 gewählte ICE (1: Aufgabenprodukt Bild‐ auswahl in Aufgabe 2) wurde eigentlich von den Lernenden gewählt, weil er ein öffentliches Verkehrsmittel ist (4: Aufgabenreflexion zu Aufgabe 2). Bei dieser Auswahl hatten die Lernenden allerdings noch nicht ausreichend die Wirkung 371 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="372"?> ihrer Auswahl berücksichtigt. Die Auswahl (das eigenkulturelle Umfeld mit einem technischen Highlight zu repräsentieren) kann auf anderskulturelle Partner überheblich wirken. Dass diese Auswahl bei Aufgabe 2 zunächst unbe‐ wusst geschah, zeigte sich bei den Analysen des Aushandlungsprozesses zur Bildauswahl und der Aufgabenreflexion (4: Aufgabenreflexion zu Aufgabe 2). Die Lernenden diskutierten, ob sie eine Oberklassenlimousine oder den ICE nehmen sollten. Sie entschieden sich für den ICE, weil er „ein öffentliches Verkehrs‐ mittel“ sei, ohne zu reflektieren, dass beide in die Auswahl genommenen Ver‐ kehrsmittel das Außergewöhnliche repräsentieren. Die Auswahl des Motorrol‐ lers, mehrerer Fahrradfahrer und eines Regionalexpress hingegen in Aufgabe 7, am Ende des Projekts, interpretiere ich als das Bemühen der Lernenden, ihr eigenkulturelles Umfeld mit alltäglichen und häufig anzutreffenden Kulturob‐ jektivationen zur repräsentieren (1: Aufgabenprodukt Poster in Aufgabe 7, siehe Anlage 6). Die Lernenden der Gruppe 8 zeigten damit nicht nur die Einstellung, nicht überheblich auftreten zu wollen, sondern sie erwarben in den dargestellten Reflexionen auch die Kompetenz die Auswahl adequat vorzunehmen. Folgerung 107: Wenn Lernende einmal zu Beginn und einmal gegen Ende eines interkulturellen Lernprojekts Aufgaben bearbeiten, die in zentralen Punkten identisch sind (z. B. gleicher Kontext, gleiche Kommunikations‐ partner), dann können Aufgabenprodukte der Lernenden dazu genutzt werden, die interkulturelle Kompetenzentwicklung der Lernenden zu be‐ legen und nachzuvollziehen. 6. Schritt: Aufgabe 7, Aufgabenschritt E ‚Lernende reflektieren ihre in‐ terkulturellen Lernprozesse‘ - Reflexion der Posterinhalte: Gruppe 8 begründet die Wahl des Alltäglichen. Als Abschluss von Aufgabe 7 reflektierte Gruppe 8 ihre Postergestaltung mit Co-Forscherin 1. Auf die Frage, ob sie eher das Alltägliche oder eher das Be‐ sondere auf ihren Postern dargestellt hätten, antworteten die Lernenden um‐ gehend und eindeutig, dass sie das Alltägliche auf dem Poster zeigen würden. Ferner zeigte sich in der Reflexion zur Gestaltung des Posters, dass die Auswahl, das Alltägliche darzustellen, bewusst vorgenommen wurde. Schüler S39 be‐ gründete die Auswahl von alltäglichen kulturellen Praktiken damit, dass die indischen Jugendlichen sehen sollen, „was immer genutzt wird, weil den ICE nutzt ja nicht jeder“ (4: Gruppeninterview und Reflexion zu Aufgabe 7, siehe S. 365). Die Lernenden der Gruppe 8 bemühten sich in meiner Interpretation darum, den indischen Jugendlichen angemessen zu begegnen. Es war ihnen ein 372 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="373"?> Anliegen, den indischen Jugendlichen zu zeigen, welche Verkehrsmittel in ihrem eigenkulturellen Umfeld am häufigsten verwendet werden, und nicht etwa solche, die besonders modern oder schick sind. Sie zeigten also Alltägliches. Und selbst dabei wählten sie bescheidene Darstellungen. Sie zeigten einen älteren Regionalexpress, Fahrräder und einen Motorroller - alles Verkehrsmittel, die die Lernenden im Projekt als häufig verwendete Verkehrsmittel in Indien kennen‐ gelernt haben. Das wohl wichtigste Verkehrsmittel in Deutschland, das Auto, wurde von den Lernenden nicht als angemessen für Ihre Posterdarstellung aus‐ gewählt, sie hatten mehrere Bilder zur Verfügung gehabt. Diese Wahl hätte möglicherweise zu sehr Unterschiede zwischen meinen Lernenden und den Ad‐ ressaten der Darstellung betont. Ferner haben sich die Lernenden wohl in die andere Perspektive begeben und überlegt, welche Informationen für die indi‐ schen Jugendlichen interessant sind. Auf dem Poster geben sie beispielsweise den Preis eines Motorrollers in Rupien an und dass in Deutschland auf der rechten Straßenseite gefahren wird (1: Aufgabenprodukt Poster in Aufgabe 7). Folgerung 108: Wenn der Prozess der Kompetenzentwicklung nachge‐ zeichnet werden soll, ist dafür eine engmaschige Datenerhebung und die Nutzung unterschiedlicher Datenquellen erforderlich. Da die Lernenden in der Unterrichtspraxis während des Kompetenzentwicklungsprozesses un‐ terschiedliche Aufgabentypen bearbeiten, ergibt sich für die Forschung der Bedarf, mehrere aufgaben- und situationsangemessene Unterrichtsfor‐ schungsmethoden (Interpretation von Aufgabenprodukten, Aushandlungs‐ prozessen bei Produkterstellung, Aufgabenreflexionen u. ä.) zu nutzen. Die Nutzung von nur einem oder wenigen Datenzugängen zur Interpretation von Kompetenzentwicklung wird der Komplexität von Lernaufgaben in der Un‐ terrichtspraxis nicht gerecht. 7.5.7.3 Optimierungsvorschläge zur Aufgabe und zur Datenerhebung Optimierung der Aufgabe • Aufgaben rund um das Thema kooperative Schulbuchgestaltung mit fremdkulturellen Lehrkräften und Lernenden haben das Potential, ein ei‐ genständiges komplexes interkulturelles Lernprojekt darzustellen. Bei recht weitreichenden Änderungen am vorliegenden Unterrichtsprojekt könnte eine „Gemeinsame Erarbeitung eines Geographieschulbuchs“ die Rahmenaufgabe darstellen. Die Rahmenaufgabe würde dem Projekt mehr Geschlossenheit verleihen. Ein Großteil der Themen und Aufgaben des 373 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="374"?> Projekts könnten in die Rahmenaufgabe integriert werden (weitere Aus‐ führungen dazu: siehe unten „Fazit zur Aufgabe“). • Für die Aufgabe müssen belastbare Kooperationen mit Lehrkräften ge‐ schlossen werden. Wenn, wie bei der vorliegenden Aufgabe geschehen, eine Kooperation nicht zu Stande kommt, dann sollten weitere Partner zur Verfügung stehen. Insbesondere wenn die ‚Gemeinsame Erarbeitung eines Geographieschulbuchs‘ die Rahmenaufgabe darstellt, wäre es un‐ abdingbar, dass eine zuverlässige Kooperation besteht. Optimierung der Datenerhebung • Um bei mehreren Gruppen die interkulturellen Kompetenzentwick‐ lungen von Aufgabe 2 zu Aufgabe 7 nachvollziehen zu können, sollte den Lernenden nur bei Aufgabe 2 die Möglichkeit der freien Wahl der Da‐ seinsgrundfunktion für die Präsentation eigenkultureller Praktiken ge‐ währt werden. Bei Aufgabe 7 sollten die Lernenden dann die gleiche Da‐ seinsgrundfunktion wie in Aufgabe 2 bearbeiten. Dadurch könnten wie am Beispiel von Gruppe 8 vorgestellt, bei mehreren Gruppen die Ent‐ wicklungen der interkulturellen Kompetenzen mit verschiedenen Auf‐ gaben und der jeweiligen Datenerhebung belegt werden. 7.5.7.4 Fazit zur Aufgabe Die vorliegende Aufgabe forderte von meinen Lernenden den Entwurf von Schulbuchseiten für ihren Teil eines gemeinsam mit indischen Lernenden ge‐ stalteten Erdkundebuchs. Da bei dieser Aufgabe der Kontakt mit der Lehrkraft in Pune (Indien) vorzeitig abbrach, erhielten meine Lernenden zu ihren Arbeiten nicht, wie vorgesehen, ein Feedback von indischen Schülerinnen und Schülern. Von den acht Gruppen erarbeiteten vier Gruppen eigenkulturelle und vier Gruppen fremdkulturellen Praktiken zu einer frei gewählten Daseinsgrund‐ funktion. Von den vier Gruppen, die sich mit eigenkulturellen Praktiken be‐ schäftigten, bearbeitete nur eine (Gruppe 8) die gleiche Daseinsgrundfunktion, für die sie bereits in Aufgabe 2 Bilder herausgesucht hatte. Bei dieser Gruppe ist die interkulturelle Kompetenzentwicklung hinsichtlich der Aufgabe, mit wel‐ chen Repräsentationen die Lernenden die eigenkulturellen Praktiken darstellen, besonders gut belegbar. Sie wurde über das gesamte Projekt hinweg in sechs Schritten mit den jeweils dazugehörigen Datenquellen nachgezeichnet. Für die Interpretation der Aufgabenprodukte Schulbuchseiten (in Form von Postern) kann festgehalten werden, dass eine Auswertung, bei der keine weiteren Daten zur Verfügung stünden, mit großen Unsicherheiten behaftet wäre. Für eine valide Interpretation werden neben dem Aufgabenprodukt Poster auch Daten zu 374 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="375"?> den Aushandlungsprozessen bei der Produktentstehung und Daten zur Reflexion des Produkts benötigt. Eine Datentriangulation scheint mir aufgrund der im Pro‐ jekt gemachten Erfahrungen in der Aufgabenforschung unumgänglich. Alle Gruppen waren bemüht, Aufgabenprodukte zu erstellen, die die fremd‐ kulturellen Partner nicht verletzen. Vermutlich wurde dieser Aspekt durch den authentischen Charakter der Aufgabe unterstützt, auch wenn er letztlich nicht voll eingelöst werden konnte. Für den Fall, dass eine sichere Kooperation mit einer fremdkulturellen Lehrkraft und deren Klasse gegeben ist, ließe sich das Aufgabenformat ‚Erstellung einer gemeinsamen Erdkundeschulbuchseite‘ in vielfältiger Hinsicht ausbauen und könnte dann ein eigenständiges Projekt dar‐ stellen. Neben dem Austausch zu jeweils eigenkulturellen Praktiken und der vorsichtigen Annäherung an die Darstellung fremdkultureller Praktiken könnten auch die jeweiligen Präsentationen von fremdkulturellen Praktiken in offiziellen Schulbüchern kritisch diskutiert werden. Ferner wäre die Diskussion globaler Phänomene (Klimaerwärmung, weltweite Produktionsketten, Ressour‐ cenreichweite u. ä.) aus den verschiedenen Perspektiven sicherlich relevant, insbesondere wenn sie in eine Darstellung des Phänomens im gemeinsamen Schulbuch münden soll. Es wären spannende interkulturelle Aushandlungspro‐ zesse zu erwarten. 375 7.5 Aufgabenbeschreibung und Aufgabendurchführung <?page no="376"?> 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts Die Dateninterpretation zum beschriebenen Unterrichtsforschungsprojekt er‐ folgte in drei Schritten: Im ersten Schritt haben vier Co-Forscherinnen und ich das Datenmaterial ge‐ sichtet und darin Äußerungen codiert, die auf interkulturelle Kompetenzen ver‐ weisen. Einen Teil der Daten (ca. 15. %) haben wir zunächst individuell interpre‐ tiert und dann unsere Interpretationen in Diskussionen miteinander verglichen (Triangulation der Interpretationen, Forschertriangulation). Um möglichst gleich‐ lautend zu codieren hatten wir sehr viel Zeit in das Training für das einheitliche Codieren investiert. „[D]as Ziel [ist dann], dass mehrere Inhaltsanalytiker min‐ destens an Materialausschnitten nachweislich zu ähnlichen Ergebnissen kommen“ (Mayring 2005: 471). Ferner standen mir für weitere ca. 60. % der Daten Codierungen von zumeist einer Co-Forscherin als Vergleich zu meinen Interpre‐ tationen zur Verfügung. Unsere Codierungen waren eine große Hilfe, um in den Daten zu markieren, in welchen Situationen sich vermehrt interkulturelle Kom‐ petenzen zeigten und welcher Art sie waren (beispielsweise Wissenskompe‐ tenzen oder Fertigkeiten). Die Codierungen erlaubten allerdings nur sehr be‐ grenzt Aussagen darüber, wie die Lernprozesse abliefen, da sie in erster Linie Ergebnisse abbilden. Ursprünglich sollten die Codierungen einer Qualitativen In‐ haltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring 2005) dienen. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht beendet. Es zeigte sich, dass mit der Qualitativen Inhaltsanalyse zwar das Kompetenzmodell der intercultural communicative competences (Byram 1997), das dieser Untersuchung zu Grunde liegt, deduktiv validiert und induktiv ausdif‐ ferenziert werden kann. Aber für das zentrale Ziel der vorliegenden Studie - zu ergründen, wie Aufgabenformate das interkulturelle Lernen beeinflussen - er‐ wies sich die Qualitative Inhaltsanalyse als wenig geeignet, da sie eher Effekte zählt als Verstehensprozesse zur Kompetenzentwicklung zu unterstützen. Aller‐ dings war die Markierung der Situationen, an denen sich interkulturelle Kompe‐ tenzen zeigten, eine wertvolle Vorarbeit für den folgenden Arbeitsschritt. Im zweiten Schritt der Datenauswertung versuchte ich aus den Daten heraus zu ergründen, welche Merkmale meiner interkulturellen Lernaufgaben zu den Kompetenzen führten, die sich im ersten Auswertungsschritt gezeigt hatten. Für diesen Zweck wurden alle Datengruppen vergleichend ausgewertet, die zu einer Aufgabe erhoben worden waren (und im ersten Auswertungsschritt noch iso‐ liert betrachtet wurden). So wurden beispielsweise zu den Gruppen jeweils die Daten zum Aufgabenprodukt ‚Poster‘ mit den Daten aus dem Aushandlungs‐ prozess der Postererstellung und den Reflexionen der Gruppe über die Wirkung des Posters trianguliert. Diese Triangulationen unterstützten stark mein Ver‐ 376 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="377"?> ständnis von der Wirkung der Aufgaben. Teilweise konnten die Kompetenzent‐ wicklungsprozesse der Lernenden erst durch die sich gegenseitig ergänzenden Datengruppen nachvollzogen werden. Der zweite Auswertungsschritt führte zu insgesamt 108 Interpretationen, die ich wegen ihres Kausalbezugs zur Aufgabe ‚Folgerungen‘ nenne und immer gleich im Anschluss an die Datengrundlage eines Aufgabenschritts anführe. Dadurch können Leserinnen und Leser unmit‐ telbar nachvollziehen, wie diese Folgerungen zustande kommen. Diese Vorge‐ hensweise führt allerdings dazu, dass die Folgerungen im zweiten Auswer‐ tungsschritt thematisch nicht sortiert sind, da zu einer Aufgabe beispielsweise Schlüsse zu Sozialformen genauso enthalten sein können wie zur Bedeutung von Wissenskompetenzen. Ferner tauchten, wie zu erwarten war, in unter‐ schiedlichen Aufgaben Folgerungen mit ähnlich lautenden Aussagen auf. Zur Systematisierung und zur weiteren Verdichtung der Untersuchungser‐ gebnisse erfolgte im dritten Auswertungsschritt eine thematische Gruppierung der Folgerungen in Themenfelder. Im vorliegenden Kapitel 7.6 werden also alle Folgerungen zu einem Themenfeld (z. B. zu ‚Authentizität‘) zu einer umfas‐ senden Aussage meines Unterrichtsforschungsprojektes zu diesem Thema zu‐ sammengefasst. An dieser Stelle erfolgt auch ein Abgleich mit anderen For‐ schungsergebnissen bzw. den Diskursen in der Literatur. Die Entstehung meiner Aussagen bleibt insofern nachvollziehbar, als dass ich auf die Herkunft der ein‐ zelnen nummerierten Folgerungen verweise. Dabei wurden die Aussagen in zwei Großgruppen eingeteilt. Zunächst stelle ich Aussagen zu Themenfeldern vor, welche die Unterrichtsforschung betreffen (Kap. 7.6.1), im zweiten Schritt solche, die die Wirksamkeit von Aufgabenmerkmalen beschreiben (Kap. 7.6.2). Einige Folgerungen lassen sich mehreren Themenfeldern zuordnen. Auch wenn in diesem Kapitel die Ausführungen zu vielen Themenfeldern recht umfassend sind, erhebt die Darstellung der Ergebnisse nicht den An‐ spruch, auf alle wichtigen Fragen der Bereiche bilingualer Unterricht, interkul‐ tureller Kompetenzerwerb und aufgabenorientiertes Lernen einzugehen. Der Umfang der Ausführungen richtet sich jeweils nach den Inhalten, die ich aus den Daten empirisch als Folgerungen zum jeweiligen Themenfeld ableiten konnte. Ich vermeide dabei weitgehend, allgemeine Eindrücke darzustellen. Das bedeutet, dass in den folgenden Zusammenfassungen zu wichtigen Teilaspekten der Themen bilingualer Unterricht, interkultureller Kompetenzerwerb und auf‐ gabenorientiertes Lernen keine Aussagen erfolgen, wenn in den Daten dafür keine Belege dazu enthalten waren. Ferner ist zu beachten, dass die 108 aus den Daten abgeleiteten Folgerungen meine subjektive Auswahl an Berichtens‐ wertem unter der gegeben Fragestellung darstellen. 377 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="378"?> Mein Unterrichtsforschungsprojekt hatte zum Ziel, Aufgaben für den interkul‐ turellen Kompetenzerwerb zu entwickeln. Ich gehe davon aus, dass die Aufgaben dann Gelegenheiten für den interkulturellen Kompetenzerwerb bereitgestellt haben, wenn ich in den Daten von einer oder mehreren Gruppen interkulturelle Kompe‐ tenzen (vgl. Byram 1997) nachweisen konnte, die mit den Intentionen der Auf‐ gaben in Bezug stehen. Der Prozess, wie es zu diesem Kompetenzerwerb kam, stand dann im Mittelpunkt meiner Untersuchung. Die Lernaufgaben waren für die beiden untersuchten Klassen kontextspezifisch konzipiert. Entsprechend gehe ich davon aus, dass sich zwar viele Grundprinzipien meiner Aufgabendesigns auf vergleich‐ bare Kontexte übertragen lassen (z. B. werden Lernende immer auch von unter‐ schiedlichen eigenkulturellen Praktiken berichten und Heterogenität kann so be‐ wusst gemacht werden), dass sich aber eine direkte 1: 1-Übertragung auf andere Kontexte verbietet, „even if the particulars of a study do not generalize, the main ideas and the process observed might“ (Dörnyei 2007: 59). Um die Adaption der Aufgaben für andere aber ähnliche Zusammenhänge zu unterstützen, stelle ich die Kontexte meiner Untersuchungsgruppen ausführlich dar (Kap 7.3). Auch wenn ich im Folgenden meine Ergebnisse teilweise generalisierend beschreibe, ist damit eine eingeschränkte Übertragbarkeit unter der Bedingung von Adaption auf vergleich‐ bare Kontexte gemeint. 7.6.1 Einsichten zum forschungsmethodischen Vorgehen 7.6.1.1 Mehrbelastung der Lernenden durch Forschung Beginnen möchte ich meine Ausführungen zu den Ergebnissen hinsichtlich for‐ schungsmethodischer Aspekte mit dem Hinweis, dass jede Unterrichtsfor‐ schung das Geschehen im Klassenzimmer beeinflusst. Bei allen forschungsme‐ thodischen Entscheidungen sollte deshalb bedacht werden, Störungen soweit möglich zu minimieren. Wenn das Unterrichtsgeschehen zu stark durch die Be‐ forschung beeinträchtigt ist, dann untersuchen Forschende nicht mehr das, was sie zu untersuchen vorgeben (möglichst ‚regulären‘ Unterricht), sondern eine Ausnahmesituation. Es würde also die interne Validität leiden; die Daten wären nicht mehr gültig für das, was sie zu erfassen vorgeben. Dörnyei diskutierte diese Aspekte unter dem Stichwort „Obtrusive researcher effects“ (vgl. Dörnyei 2007: 190). Im vorliegenden Forschungsprojekt hatten sich zwei Arten von Stö‐ rungen ergeben. Die eine Störung wurde durch die Datenerhebung im Klassenzimmer verur‐ sacht. Im Klassenzimmer waren im zweiten Unterrichtszyklus im Vergleich zum normalen Unterricht fünf zusätzliche Forschende, eine Kamera und neun Mik‐ rofone präsent. Aus Vergleichserfahrungen mit dieser und anderen Klassen im 378 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="379"?> nicht-beforschten Klassenzimmer hatte ich allerdings den Eindruck, dass diese Art von Störungen eher gering waren. Die Lernenden schienen sich recht rasch an die Situation zu gewöhnen und der Unterricht verlief nahezu wie sonst auch. Die zweite Störung betraf die Terminierung der Unterrichtsstunden für das Forschungsprojekt. Aus organisatorischen Gründen war es im zweiten For‐ schungszyklus erforderlich, die acht Doppelstunden Unterricht in zwei Unter‐ richtswochen durchzuführen. Wegen dafür notwendigen Stundenplanände‐ rungen ergaben sich durchschnittlich 4,2 Stunden zusätzliche Unterrichtszeit für die Lernenden, was bei manchen Unzufriedenheit hervorrief. Die am we‐ nigsten betroffenen Lernenden hatten keinen zusätzlichen Unterricht, die am stärksten betroffenen hatten bis zu acht Unterrichtsstunden zusätzlich in den beiden Wochen. Auch für die Validität der Daten war es wichtig, dass dieser Unmut aufgefangen werden konnte (z. B. konnte bewirkt werden, dass im Ge‐ genzug für alle Lernende zwei Nachmittagsstunden gestrichen wurden). In den Reflexionsphasen wurde mit den Lernenden auch die zeitliche Mehrbelastung thematisiert. Allwright und Hanks fordern dazu auf, bei Unterrichtsforschungs‐ projekten mit der Energie von Lernenden und Lehrkräften nachhaltig umzu‐ gehen, damit Forschung für die Beteiligten eine wiederkehrende und kontinu‐ ierliche Aktivität sein kann (vgl. Allwright & Hanks 2009: 167). Nachfolgend die nummerierten Folgerungen, die zu den genannten Aussagen geführt haben (die Folgerungen sind hier thematisch gruppiert und nicht in der Reihenfolge ihres Auftretens): Folgerung 95: Wenn die Durchführung eines Unterrichtsforschungsprojekts eine deut‐ liche Mehrbelastung für die Lernenden bedeutet, dann besteht die Gefahr, dass dies Auswirkungen auf die Motivation für die Aufgabendurchführung hat, der Auseinan‐ dersetzung mit Inhalten im Wege steht und Daten verfälscht werden. Insbesondere der zeitliche Mehraufwand der Lernenden muss beachtet werden. Im vorliegenden Projekt lag er bei durchschnittlich 4,2 zusätzlichen Schulstunden (siehe S. 346). Folgerung 96: Wenn die Reflexionsphase einer Aufgabe die Belastungen (z. B. zeitlich) der Lernenden durch das Unterrichtsforschungsprojekt thematisiert, dann können sich die Lernenden bewusst werden, in wie weit organisatorische Aspekte des For‐ schungsprojekts ihre Motivation für die Aufgaben beeinflussen und können unter‐ scheiden, ob die verwendeten Lernaufgaben oder die Begleitumstände für die Unter‐ richtsforschung motivierend oder demotivierend waren (siehe S. 347). 7.6.1.2 Triangulation Die meisten der zum Bereich Forschung zugehörigen Folgerungen (9 Stück) be‐ ziehen sich auf das Themenfeld Triangulation. In meinem Forschungsprojekt er‐ wies sich die Triangulation von Daten als unverzichtbar, um interkulturelle Lern‐ 379 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="380"?> prozesse nachvollziehen zu können. Die in der Literatur diskutierte Theorie, dass Triangulation nicht zur Validierung von Daten beitrage, da jede Datengruppe ihre eigenständige Perspektive und Wahrheit beanspruche (vgl. Blaikie 1991: 124), kann in dieser radikalen Form aus meiner praktischen Forschung nicht bestätigt werden. In meiner Arbeit ergaben sich keine Widersprüche von gleichrangigen Datengruppen, sondern die Datengruppen ergänzten sich gegenseitig zu Gunsten eines umfassenderen Verständnisses der Lernprozesse. Der Erkenntnisgewinn bei Triangulationen verlief zumeist so, dass es aus den unterschiedlichen Daten‐ gruppen zum einen etwa gleichlautende Aussagen gab, die die bisherigen Inter‐ pretationen bestätigten, und zum anderen neue ergänzende Informationen, die die Interpretationen erweiterten. In meiner Unterrichtsforschung haben sich die triangulierten Datengruppen a) Aufgabenprodukte, b) Aushandlungsprozesse (Audioaufnahmen) und c) Reflexionen (= Gruppeninterviews) als besonders er‐ tragreich für den Nachweis und die Entwicklung interkultureller Kompetenzen erwiesen. Insbesondere für Interpretationen zum Zustandekommen der Aufga‐ benprodukte erwiesen sich Triangulationen mit den Daten der Aushandlungs‐ prozesse (‚Was haben die Lernenden diskutiert, als sie das Produkt erstellt haben? ‘) und der retrospektiven Gruppeninterviews (‚Welche Intentionen hatten die Lernenden bei der Erstellung des Produkts? Wie schätzen sie im Nachhinein die Wirkung ihres Produkts ein? ‘ u. ä.) als verständniserweiternd und bewahrten mich mehrfach vor Fehlinterpretationen. Wenn Lernende sich beispielsweise in einem Aufgabenprodukt, das den fremdkulturellen Partnern gesendet wurde, po‐ sitiv über fremdkulturelle Praktiken äußerten, dann war es für mich als forsch‐ ender Lehrer bei der Interpretation des Aufgabenprodukts oft nicht möglich zu unterscheiden, ob die Lernenden wirklich diese positiven Einstellungen hatten, oder ob sie diese nur vorgaben, um die fremdkulturellen Kommunikations‐ partner positiv zu stimmen. Erst ein Abgleich mit den Daten aus den Aushand‐ lungsprozessen und der Reflexion konnte solche Fälle klären. Es hat sich be‐ währt, interkulturelle Kompetenzen, die sich bei den Aufgabenschritten A-D zeigten, in der Reflexion (Aufgabenschritt E) zu ergründen. Situationsangemes‐ senes Forschen bedeutet in der Unterrichtsforschung, sich auf die Beforschung unterschiedlicher Aufgabentypen und Unterrichtsphasen einzulassen und in Kombination (= Triangulation) zu einem Gesamtbild des (interkulturellen) Lernens zu verbinden. Die Nutzung von nur einem oder von wenigen Datenzu‐ gängen würde der Komplexität von Unterricht nicht gerecht werden. In der Fach‐ literatur würde man dieses Vorgehen in erster Linie der Datentriangulation zu‐ ordnen. Da dabei jedoch auch Forschende und Datenerhebungsmethoden variiert wurden, sind auch Forschertriangulation und Methodentriangulation betroffen. 380 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="381"?> Triangulation ist in der Unterrichtsforschung als durchgängiges Prinzip in allen Phasen des Projekts zu betrachten (vgl. Freeman 1998: 98). Folgerung 08: Wenn bei Aufgaben die Lernenden in Aushandlungsprozessen Arbeits‐ produkte gemeinsam erstellen, und diese Produkte zur Einschätzung der interkultu‐ rellen Kompetenzen der Lernenden verwendet werden sollen, dann ist es unerlässlich, dass zur Beurteilung nicht nur das Aufgabenprodukt, sondern auch der Entstehungs‐ prozess einbezogen wird. Die Aushandlungsprozesse müssen beforscht werden. Dies kann mit Hilfe des Einsatzes von Co-Forschenden erfolgen (siehe S. 229). Folgerung 60: Wenn sich interkulturelle Kompetenzen der Lernenden in einer vorangeh‐ enden Phase vor der Reflexionsphase zeigen (also in den Phasen A-D), ermöglichen die in der Reflexionsphase nachgewiesenen interkulturellen Kompetenzen häufig, die vorangegangenen Befunde zu bestätigen oder zu erweitern (Triangulation). Die Be‐ funde sind selten genau gleich oder gänzlich anders, sondern bestehen sehr häufig aus einem gleichen interpretationsbestätigenden und einem leicht andersartigen interpre‐ tationserweiternden Anteil (siehe S. 305). Folgerung 72: Wenn Aufgaben beforscht werden, dann sind Interviews ein wichtiges Glied der Verstehensprozesse und der Datentriangulation. In Gruppenaushand‐ lungen oder im Klassengespräch können häufig interkulturelle Kompetenzen nach‐ gewiesen werden. Um diese Kompetenzen zu ergründen und ein vertieftes Ver‐ ständnis ihrer Entstehung und Ausprägung zu erhalten, bedarf es sehr oft der Gruppeninterviews der Reflexionsphase. Diese Triangulation reduziert auch Fehl‐ interpretationen (siehe S. 325). Folgerung 102: Wenn die Beforschung von Aufgaben durch Co-Forschende unterstützt wird (z. B. Beforschung der Gruppenaushandlungen und der Reflexionen), dann trägt dies wesentlich zu einem vertieften Verständnis der Aufgabenprodukte bei. Als wich‐ tigste Datengruppen haben sich in der vorliegenden Untersuchung für die Unter‐ richtsforschung erwiesen: a) Aufgabenprodukte, b) Aushandlungsprozesse bei der Er‐ stellung des Aufgabenprodukts (Audioaufnahmen), c) Reflexionen (Gruppeninterviews) zum Aufgabenprodukt und zum Aufgabenprozess (siehe S. 367). Folgerung 108: Wenn der Prozess der Kompetenzentwicklung nachgezeichnet werden soll, ist dafür eine engmaschige Datenerhebung und die Nutzung unterschiedlichen Datenquellen erforderlich. Da in der Unterrichtspraxis die Lernenden während des Kompetenzentwicklungsprozesses unterschiedliche Aufgabentypen bearbeiten, er‐ gibt sich für die Forschung der Bedarf zur Nutzung mehrerer verschiedener aufgaben- und situationsangemessener Unterrichtsforschungsmethoden (Interpretation von Aufgabenprodukten, Aushandlungsprozessen bei Produkterstellung, Aufgabenreflex‐ ionen u. ä.). Die Nutzung von nur einem oder wenigen Datenzugängen zur Interpre‐ tation von Kompetenzentwicklung wird der Komplexität von Lernaufgaben in der Unterrichtspraxis nicht gerecht (siehe S. 373). 381 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="382"?> Folgerung 87: Wenn Lernende sich bei interkulturellen Kommunikationsaufgaben positiv zu fremdkulturellen Praktiken äußern, dann ist es für die Lehrkraft zu‐ nächst oft nicht möglich zu unterscheiden, ob die Lernenden wirklich diese posi‐ tiven Einstellungen haben, oder ob das nur vorgegeben ist, um den fremdkultu‐ rellen Kommunikationspartner positiv zu stimmen. Wenn die Einstellungen tiefer beforscht werden sollen, bedarf es weiterer Datenquellen (siehe S. 338) Folgerung 88: Wenn bei der Beforschung von Aufgaben Interpretationen zum Auf‐ gabenprodukt mit Lerneraussagen der Aufgabenreflexion trianguliert werden, dann unterstützt das Forschende nachzuvollziehen, welche Gedanken sich die Lernenden zur interkulturellen Angemessenheit ihrer Texte (Aufgabenprodukt) gemacht haben, und schützt sie vor Fehlinterpretationen (siehe S. 339). Folgerung 103: Werden Aufgaben mit Daten zu Aufgabenprodukten, Aushandlungs‐ prozessen und Reflexionen beforscht, dann ergeben sich in der Regel keine Wider‐ sprüche von gleichrangig wichtigen Datengruppen, sondern die Datengruppen er‐ gänzen sich gegenseitig zu Gunsten eines umfassenderen Verständnisses der Aufgabenprozesse. Die in der Literatur diskutierte Theorie, dass Triangulation zu‐ rückzuweisen sei, da jeder Datengruppe ihre eigenständige Perspektive zu belassen sei, kann aus den Erfahrungen in diesem Forschungsprojekt nicht bestätigt werden. Die Triangulation erwies sich als unabdingbar für den Nachvollzug der interkultu‐ rellen Lernprozesse (siehe S. 368). Folgerung 101: Für eine gelingende Interpretation eines Arbeitsprodukts der Lernenden (z. B. Poster) sollten weitere Datenquellen (z. B. Beforschung Aushandlungsprozesse, Gruppeninterviews) einbezogen werden. Triangulation kann prüfen, ob die Interpre‐ tation eines Produkts zu den Intentionen der Lernenden bei dessen Erstellung passt (z. B. ob eine bestimmte Bildauswahl oder eine Textformulierung absichtsvoll vorge‐ nommen wurde) (siehe S. 362). 7.6.1.3. Aushandlungsprozesse Bei dem Themenfeld Aushandlungsprozesse geht es an dieser Stelle um die Be‐ deutung des diskursiven Aushandelns der Lernenden zum Arbeitsprodukt für die Beforschung von Aufgaben. Die Bedeutung der Aushandlungsprozesse für die Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen wird in Kapitel 7.6.2.1 (S. 401) dargestellt. In erster Linie erleichtert die Beforschung der Aushandlungsprozesse den Forschenden das Verständnis für das Zustandekommen des Aufgabenprodukts (vgl. Triangulation). Für die Beforschung von Aushandlungsprozessen hatte ich in meiner Unterrichtsforschung im zweiten Unterrichtszyklus vier Co-For‐ schende eingesetzt. Jede zweite Schülerarbeitsgruppe konnte so beforscht werden. Ohne Co-Forschende ist die Erhebung von Daten zu den Aushand‐ 382 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="383"?> a) b) c) d) lungsprozessen deutlich erschwert. Eventuell könnten die Lernenden mit Selbst‐ evaluationsbögen beforscht werden, oder sie könnten gebeten werden, ihre Dis‐ kussionen als Audio-Datei aufzunehmen. Dies wäre zu erproben. Im Laufe des Projekts ergaben sich die folgenden vier Kategorien von Fragen, zu der die Beforschung der Aushandlungsprozesse Antworten geben soll, damit die Kompetenzentwicklungen der Lernenden-Gruppen nachvoll‐ zogen werden können: Homogenität versus Heterogenität: Repräsentiert das Aufgabenprodukt die Sichtweise aller Gruppenmitglieder oder nur die des durchsetzungsfähi‐ geren Teils? Entwicklung versus Statik: Repräsentiert das Gruppenendprodukt eine Per‐ spektive, die in der Gruppe schon früh einvernehmlich gefunden wurde, oder entwickelte sich diese Perspektive im Laufe der Diskussion? Annäherungen der Perspektiven oder nicht? Wenn es unterschiedliche Per‐ spektiven gab, näherten sich diese im Laufe des Aushandlungsprozesses einander an, oder blieben die Differenzen bestehen? Komplexität oder Simplizität bei einfachen Produkten: Steht hinter einem kurz vorgestellten Aufgabenprodukt eine komplexe Diskussion, die viele Facetten der Thematik beleuchtete oder entstand das Produkt aus einer wenig elaborierten Diskussion? Wenn die Integration von neuem Wissensinput in die bestehenden Konzepte von Lernenden erforscht werden soll, dann sollen Aufgaben nach Möglichkeit Wissensinput mit Aushandlungsprozessen zur Bewertung der neu vermittelten fremdkulturellen Praktiken kombinieren. Ohne die Beforschung der Aushand‐ lungsprozesse wird die Chance zu einem Verständnis für die Auseinanderset‐ zung der Lernenden mit den neuen Praktiken und somit der interkulturellen Kompetenzentwicklung vergeben. In meinem Projekt war ich überrascht davon, welche Einsichten mir die Daten der Aushandlungsprozesse im zweiten Forschungszyklus zu den Lernenden er‐ möglicht haben. Ich dachte, die Klasse recht gut zu kennen. Es gab aber auch für mich als forschender Lehrer viele neue Informationen insbesondere dazu, wer die reflektierten Lernenden sind, wer die Diskussionsprozesse vorantreibt, wer Vorwissen in Diskussionen einbringen kann, wer welche Überzeugungen hat, und wie stark Überzeugungen in der Entwicklung begriffen sind. Folgerung 08: Wenn bei Aufgaben die Lernenden in Aushandlungsprozessen Arbeits‐ produkte gemeinsam erstellen, und diese Produkte zur Einschätzung der interkultu‐ rellen Kompetenzen der Lernenden verwendet werden sollen, dann ist es unerlässlich, dass zur Beurteilung nicht nur das Aufgabenprodukt, sondern auch der Entstehungs‐ 383 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="384"?> prozess einbezogen wird. Die Aushandlungsprozesse müssen beforscht werden. Dies kann mit Hilfe des Einsatzes von Co-Forschenden erfolgen (siehe S. 229). Folgerung 53: Wenn bei der Beforschung von Aufgaben Aussagen zu den interkultu‐ rellen Kompetenzen der Lernenden gemacht werden sollen, dann ist es erforderlich, dass die Aushandlungsprozesse beforscht werden. Zumindest vier Aspekte sind dabei relevant: a) Homogenität versus Heterogenität: Repräsentiert das Aufgabenendpro‐ dukt die Sichtweise aller Gruppenmitglieder oder nur die des durchsetzungsfähigeren Teils? b) Entwicklung versus Statik: Repräsentiert das Gruppenendprodukt eine Per‐ spektive, die in der Gruppe schon früh einvernehmlich gefunden wurde, oder entwi‐ ckelte sich diese Perspektive im Laufe der Diskussion? c) Annäherungen der Per‐ spektiven oder nicht? Wenn es unterschiedliche Perspektiven gab, näherten sich diese im Laufe des Aushandlungsprozesses einander an, oder blieben die Differenzen be‐ stehen? d) Komplexität oder Simplizität bei einfachen Produkten: Steht hinter einem kurz vorgestellten Aufgabenprodukt eine komplexe Diskussion, die viele Facetten der Thematik beleuchtete, oder entstand das Produkt aus einer wenig elaborierten Dis‐ kussion? Diese vier Aspekte sind wesentlich für die Interpretation des Aufgabenpro‐ dukts und die Erhebung der interkulturellen Kompetenzen der Lernenden. Entspre‐ chend ist die Datenerhebung zu den Aushandlungsprozessen bedeutsam. Wenn einer Lehrkraft im Alltag keine Co-Forschenden für die Datenerhebung zur Verfügung stehen, dann könnte erprobt werden, ob Lernende mit Hilfe von Evaluationsbögen die Entwicklung ihrer Diskussion selbst dokumentieren können (siehe S. 296). Folgerung 54: Wenn Aushandlungsprozesse beforscht werden, dann eröffnen sich be‐ sondere Möglichkeiten für die Lehrkraft, ihre Lernenden intensiv kennen zu lernen. Während bei Schülermeldungen oder -präsentationen eher ein fertiges Produkt vor‐ gestellt wird, kann in Aushandlungen der Denkprozess weitaus besser nachvollzogen werden. Es wird sichtbar, wer die reflektierten Lernenden sind, wer den Diskussions‐ prozess trägt, wer Vorwissen in Diskussionen einbringen kann, wer welche Überzeu‐ gungen hat und wie stark Überzeugungen in der Entwicklung begriffen sind. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie Lehrkräfte ohne Co-Forschende die beschriebenen Einblicke erhalten können. Evtl. sind auch hier Evaluationsbögen zu den Aushand‐ lungsprozessen eine Alternative (siehe S. 297). Folgerung 57: Wenn eine Aufgabe von den Lernenden fordert, ein gemeinsames Produkt zu erstellen und dafür in Aushandlungsprozesse zu treten, dann werden Forschende und Lehrkräfte beim Einschätzen der Lernenden-Kompetenzen zum Aufgabenprodukt durch die Beforschung der Aushandlungsprozesse stark unterstützt bzw. Einschät‐ zungen werden überhaupt erst ermöglicht. Schüleräußerungen der Aushandlungspro‐ zesse verweisen auf das Zustandekommen des Aufgabenprodukts. Beweggründe für interkulturell relevante Aussagen werden nachvollziehbar (siehe S. 299). 384 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="385"?> Folgerung 71: Wenn die Integration von neuem Wissensinput in die bestehenden Kon‐ zepte von Lernenden gefördert und erforscht werden soll, dann sollten Aufgaben Wissensinput mit Aushandlungsprozessen zur Bewertung der neu vermittelten fremdkulturellen Praktiken kombinieren. Ohne Aushandlungsprozesse wird die Chance zur vertieften Auseinandersetzung mit den Praktiken sowie zur Beforschung der interkulturellen Kompetenzentwicklung vergeben (siehe S. 323). 7.6.1.4 Lernende als gleichwertige Partner im Forschungsprozess Die Co-Forschenden und ich sprachen die Lernenden im Forschungsprozess als vollwertige Partner ernsthaft an. Insbesondere in den Reflexionsphasen (Grup‐ peninterviews) wurde es offensichtlich, dass wir echtes Interesse an ihren Mei‐ nungen hatten. Die Lernenden reagierten darauf mit sachlichen und ernsthaften Auseinandersetzungen zu den Themen. In einigen Fällen war deutlich, dass die Lernenden die üblicherweise vorgetragenen Teenager-Rollenmuster verließen und uns mit ‚erwachsenem‘ Reflexionsverhalten begegneten. Folgerung 76: Wenn die Interviewten in Gruppeninterviews ernsthaft und als vollwer‐ tige Personen angesprochen werden, dann erhalten sie die Lernchance bei Reflexion der Inhalte als ernsthafte Partner im Diskurs zu interagieren. Lernende können die sonst üblichen Rollenmuster verlassen und sich zu ihren wahren Überzeugungen be‐ kennen (siehe S. 328). 7.6.1.5. Interkulturelle Kompetenzentwicklung belegen In meinem Unterrichtsforschungsprojekt gelang es an sehr vielen Stellen, bei den Lernenden interkulturelle Kompetenzen als Momentaufnahme nachzu‐ weisen. In einer Reihe von Fällen gelang es darüber hinaus, Kompetenzent‐ wicklungen zu belegen. Kompetenzentwicklungen konnten zum einen sichtbar werden in Forschungssituationen, in denen Lernende in Reflexionen retros‐ pektiv berichteten, dass sie vorher beispielsweise der einen Meinung waren, jetzt aber anderer Meinung sind. Zum anderen ermöglichte die durchgängige Beforschung der Aufgabensequenz (Unterrichtseinheit) nachzuzeichnen, welche interkulturellen Kompetenzen die Lernenden zu verschiedenen Zeit‐ punkten des Projekts besaßen. Solche Nachweise gelangen dann besonders gut, wenn es zu Beginn und gegen Ende des Projektes Aufgaben gab, die in zentralen Punkten identisch waren (z. B. einen fremdkulturellen Gast interviewen) und Unterschiede bei den Aussagen und Produkten der Lernenden in erster Linie auf deren Kompetenzentwicklung zurückgeführt werden konnten. Bei Aufgaben, bei denen Lernende zu kulturellen Praktiken arbeiten, sollte den Lernenden vorgegeben sein, zu Beginn und am Ende des Projekts zum gleichen Thema zu arbeiten (z. B. Gruppe 8, Aufgaben 2 & 7: beide Male zur Daseinsgrundfunktion 385 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="386"?> ‚Verkehr‘). Für die Aufgabenstellung bedeutet dies, dass den Lernenden zu Be‐ ginn des Projektes Wahlfreiheit hinsichtlich des Themas gegeben werden kann, dass die Lernenden aber am Ende des Projekts das gleiche Thema nochmals bearbeiten. In solchen Fällen konnte beim Vergleich der Arbeitsprodukte unter Einbezug von Aushandlungsprozessen und Gruppeninterviews die interkultu‐ relle Kompetenzentwicklung der Lernenden nachgezeichnet werden. Die Ar‐ beitsprodukte und Reflexionen der Lernenden am Ende des Projekts verwiesen in meinem Forschungsprojekt fast immer auf frühere Stellen im Projektverlauf, wo Kompetenzentwicklungen mit Aufgaben gefördert wurden. Folgerung 107: Wenn Lernende einmal zu Beginn und einmal gegen Ende eines inter‐ kulturellen Lernprojekts Aufgaben erhalten, die in zentralen Punkten identisch sind (z. B. gleicher Kontext, gleiche Kommunikationspartner), dann können Aufgabenpro‐ dukte der Lernenden dazu genutzt werden, die interkulturelle Kompetenzentwicklung der Lernenden zu belegen und nachzuvollziehen (siehe S. ). Folgerung 28: Wenn in einer Unterrichtssequenz die Perspektivenentwicklung einer Gruppe zu einer kulturellen Praktik von einer Aufgabe zu Beginn der Sequenz mit einer Aufgabe am Ende verglichen werden soll, dann kann zu Beginn eine (Aus-)Wahlmöglichkeit bestehen, die Aufgabe am Ende muss dann aber themen‐ gleich sein. D.h. die Auswahlmöglichkeit ist bei der Aufgabe am Ende der Sequenz eingeschränkt (siehe S. 260). Folgerung 99: Wenn Lernende am Ende einer Aufgabensequenz ein Aufgabenprodukt erstellen, das Inhalte aus mehreren Aufgaben integriert, dann lassen sich im Aufga‐ benprodukt auch Kompetenzen nachweisen, die an früherer Stelle des Projektverlaufs gefördert wurden (siehe S. 362). 7.6.1.6. Retrospektive Gruppeninterviews (Reflexionsphase) Im ersten Forschungszyklus nahmen am Ende jeder Aufgabendurchführung je‐ weils fünf bis sechs freiwillige Schülerinnen und Schüler an den retrospektiven Gruppeninterviews teil. Nachdem ich den besonderen Wert dieser Gruppenin‐ terviews als Reflexionen erkannt hatte (siehe S. 388), weitete ich sie auf die gesamte Klasse aus. Im zweiten Forschungszyklus konnte durch die Zusam‐ menarbeit mit vier Co-Forschenden allen Lernenden der Klasse in fünf Gruppen zu je ca. sechs Lernenden eine Aufgabenreflexion in Form eines Gruppeninter‐ views nach jeder Aufgabe ermöglicht werden. Besonders interessant waren dabei Reflexionen zu bereits durchgeführten Kommunikationsaufgaben mit fremdkulturellen Partnern. Hier zeigte sich: Forschende können Einblicke in die Einstellungen der Lernenden und in ihre Beziehungen zu den Partnern erhalten. Da die Lernenden dabei auch über bereits vollzogene Handlungen berichteten (z. B. Textbotschaft schreiben), wurden Handlungskompetenzen nachweisbar. 386 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="387"?> Für die Reflexion und die Beforschung in den Gruppeninterviews ist es wichtig, dass offene Fragen verwendet werden. Sie erlauben es, den Lernenden Ant‐ worten zu geben, die auch über die mögliche Breite von Antworten gemäß den Vorannahmen der Forschenden hinausgehen. Wenn Fragen solche unerwar‐ teten Antworten nicht zugelassen hätten, dann wären in meinem Projekt wich‐ tige und überraschende Informationen zur Wirkung der Aufgaben unentdeckt geblieben. „[S]ometimes we need open-ended items for the simple reason that we do not know the range of possible answers“ (Dörnyei 2007: 107). Folgerung 91: Wenn Aufgaben Reflexionen zu bereits durchgeführten Kommunikati‐ onsaufgaben vorsehen, dann können Forschende Einblicke in Einstellungen der Lern‐ enden und in deren Beziehungen zu ihren fremdkulturellen Partnern erhalten. Wenn die Lernenden dabei über bereits vollzogene Handlungen berichten (z. B. Textbot‐ schaft schreiben), dann werden Handlungskompetenzen nachweisbar (siehe S. 344). Folgerung 94: Bei der Beforschung von Aufgaben in Interviews sollten offene Fragen verwendet werden. Dies erlaubt den Lernenden Antworten zu geben, die auch über die mögliche Breite von Antworten gemäß den Vorannahmen der Forschenden hin‐ ausgehen. Wenn Fragen solche unerwarteten Antworten nicht zulassen, dann können Informationen zur Wirkung der Aufgabe verschenkt werden (siehe S. 345). 7.6.2. Inhaltliche Erkenntnisse zum interkulturellen Kompetenzerwerb 7.6.2.1. Unterrichtsphasenmodell Eines der zentralen Anliegen meines Forschungsprojekts war zu prüfen, ob sich das bei der Planung der interkulturellen Lernaufgaben zu Grunde gelegte Un‐ terrichtsphasenmodell bei der Erprobung der Aufgaben bewährt. Ähnliche Mo‐ delle finden sich bei Caspari (2001: 174-179) (siehe S. 62); es wurde für die Literatur-Arbeit im Fremdsprachenunterricht konzipiert und in dem Positions‐ papier „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ der KMK (Kultus‐ ministerkonferenz 1996) (siehe S. 21, S. 57). Die Aufgabenerprobung und Da‐ tenerhebung führte ich in meinem Forschungsprojekt zum bilingualen Geographieunterricht unter Nutzung des Unterrichtsphasenmodells ab 2007 durch. Das Modell stellte ich dann auf mehreren Tagungen vor (u. a. DGFF Leipzig 2009) und publizierte es erstmals 2011 (Müller & Müller-Hartmann 2011: 32). Bei Müller-Hartmann und Schocker-v. Ditfurth wird dann dasselbe Modell für die Vermittlung von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht vorgeschlagen (2011: 186). In der unterrichtlichen Er‐ probung kamen im Modell zunächst vier Phasen zum Einsatz. Es sah vor A) den Lernenden eigenkulturelle Praktiken bewusst zu machen; B) Vorwissen zu an‐ 387 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="388"?> derskulturellen Praktiken zu sammeln; C) Informationen zu anderskulturellen Praktiken zur Verfügung zu stellen sowie D) eigen- und anderskulturelle Prak‐ tiken zu vergleichen und in Aushandlungsprozessen Perspektiven zu koordi‐ nieren. Nach jeder Aufgabendurchführung wurden dann Lernende in Gruppen‐ interviews zur Aufgabe und zu Veränderungen ihrer Vorstellungen über die behandelten Themen befragt. Bei der Datenauswertung im ersten Forschungs‐ zyklus fiel auf, dass viele interkulturelle Lern- und insbesondere Bewusstma‐ chungsprozesse erst in den Gruppeninterviews erfolgten. Um diese angeleitete Aufgabenreflexion in das Modell aufzunehmen, wurde es um die fünfte Phase E) Aufgabenreflexion ergänzt. Burwitz-Melzer berichtet im Rahmen ihrer Un‐ terrichtsforschung von den gleichen Erfahrungen (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 146, 157, 501-502). Für meine Planungsarbeiten war das Modell eine geeignete Strukturierungs‐ hilfe, um wichtige Aspekte des interkulturellen Kompetenzerwerbs im Blick zu behalten. Dabei habe ich das Unterrichtsphasenmodell zwar als Leitlinie ge‐ nutzt, im Bedarfsfall aber flexibel gehandhabt. Je nach Aufgabe und Inhalt habe ich Phasen verkürzt, gestrichen oder mehrfach eingesetzt. Im Folgenden gehe ich bei der Darstellung der Ergebnisse zum Unterrichtsphasenmodell zunächst auf Folgerungen zum Modell ein, die phasenübergreifend relevant sind. An‐ schließend stelle ich meine Ergebnisse zum Unterrichtsmodell Phase für Phase (A bis E) vor. Abb. 5: Unterrichtsphasenmodell für interkulturelle Lernaufgaben (eigene Darstellung). Interkulturelle Kompetenzen im erprobten Unterrichtsphasenmodell In seinem Modell der intercultural communicative competences ordnet Byram interkulturelle Kompetenzen zunächst den drei Basis-Kompetenzbereichen 388 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="389"?> knowledge, attitudes, skills zu (Byram 1997: 34-38), die er dann bei weiterer Aus‐ differenzierung um die critical cultural awareness ergänzt (Byram 1997: 53 f.). In der Fachdidaktik Geographie entspricht dies den Kompetenzbereichen Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen bzw. den kognitiven, instrumentellen und af‐ fektiven Lernzielen (Haubrich 2006: 18). Sowohl Byram in seinem Modell von 1997 als auch die Geographiedidaktik heute differenzieren die Kompetenzbe‐ reiche weiter aus (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geographie 2014: 9). Dadurch erhalten Fachspezifika stärkere Beachtung, wie beispielsweise die des Kompe‐ tenzbereichs Raumorientierung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geographie 2014: 16-18). Ein weniger spezifisches Modell kann allerdings bei Arbeiten leichter eingesetzt werden, die wie das vorliegende Projekt fächerübergreifend angelegt sind. Interkulturelle Kompetenzbereiche, egal in welcher Ausdifferenzierung, sind nie getrennt zu verstehen. Sie wirken immer gemeinsam und bedingen sich wechselseitig (vgl. Byram 1997: 73 Abb. 3.1). Im erprobten Unterrichtsphasen‐ modell fokussieren die Phasen A bis C den Kompetenzbereich knowledge. Skills und teilweise auch attitudes wurden insbesondere im Aufgabenschritt D geför‐ dert und sichtbar. Im Aufgabenschritt E, der Reflexionsphase, konnte neben den bereits genannten Kompetenzbereichen auch Bewusstseinsbildung (critical cul‐ tural awareness) gefördert werden, und wenn Lernende über eigenes Verhalten berichteten, wurde auch Handlungskompetenz sichtbar (vgl. Deutsche Gesell‐ schaft für Geographie 2014: 25-28). Die grundlegende Bedeutung von Wissenskompetenzen für die interkultu‐ relle Kommunikation, welche in den Unterrichtsschritten A-C im Fokus standen, konnte im Projekt mehrfach belegt werden. Lernende konnten sich dann in der interkulturellen Kommunikation substantiell beteiligen, wenn sich der Aus‐ tausch auf Domänen bezog, in denen sie schulisch oder außerschulisch erwor‐ benes Wissen besaßen oder im Rahmen der Aufgabe erworben hatten. Wenn Lernende mit fremdkulturellen Personen in angemessener Weise über kulturelle Praktiken kommunizieren möchten, so setzt das fundierte Wissenskompetenzen zu fremdkulturellen Praktiken voraus (vgl. Hallet 2006: 75). Inhaltliches Wissen war eine wichtige Voraussetzung dafür, interkulturelle Kompetenzen in anderen Kompetenzbereichen zu erwerben. Diese Wissensbestände der Lernenden konnten auch als vorbereitende Hausaufgabe erworben oder aktiviert werden. Dies entlastete den Unterricht. Es standen den Lernenden dann bei Aushand‐ lungen u. ä. viele Inhalte zur Kommunikation zur Verfügung. Wenn in den beiden ersten Phasen der Aufgabe (A und B) mit dem Vorwissen der Lernenden zu eigen- oder fremdkulturellen Praktiken gearbeitet wird, sollte die Lehrkraft beachten, dass sich Lernende, die in ihren Beiträgen fragliche bzw. ergänzungs‐ 389 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="390"?> bedürftige Wissensbestände zeigen, nicht bloßgestellt oder getäuscht fühlen. Ein gutes Klassenklima und ein vertrauensvolles Lehrer-Schüler-Verhältnis sind für das interkulturelle Lernen von hoher Bedeutung, da die Arbeit an fremd- und eigenkulturellen Perspektiven Offenheit voraussetzt (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 515). Wenn Lernende in einer Reflexion die Bedeutung von Wissenskompe‐ tenzen fokussieren sollen, dann können sie die Aufgabe erhalten zu reflektieren, ob und warum es leicht oder schwer war, in einer Aushandlungsphase kulturelle Repräsentationen auszuwählen. Sie werden dann rasch auf die Bedeutung von Wissen für die interkulturelle Kommunikation zu sprechen kommen. Einstellungsbezogene Kompetenzen (attitudes) zeigten sich tendenziell eher in den letzten Phasen des Unterrichtsmodells (D und E), wenn Aushandlungs‐ prozesse stattfanden, mit Perspektiven operiert und die Aufgaben reflektiert wurden. Die kognitiv orientierten ersten drei Unterrichtsphasen schufen die Grundlage z. B. für Empathie, Perspektivenbewusstsein und Selbstreflexionen in den beiden letzten Phasen der Aufgabensequenz. Zu Beginn und am Ende des Projekts war es möglich, den Lernenden die gleiche Kommunikationsaufgabe zu stellen (fremdkulturellen Gast inter‐ viewen). Am Ende des Projekts zeigten die Lernenden mehr Wissenskompe‐ tenzen, sie ließen sich tendenziell auf komplexere Dialoge ein und kommuni‐ zierten interkulturell angemessener. Ein Zuwachs an interkulturellen Kompetenzen zeigte sich in allen Kompetenzbereichen. Hinsichtlich der Gesamtdauer eines interkulturellen Unterrichtsprojekts sollte die Lehrkraft vorzugsweise mittel- oder längerfristige interkulturelle Pro‐ jekte mit den Lernenden durchführen. Die zunehmende Vertrautheit mit den Partnern förderte die Intensität des Austauschs. In meinem Projekt wurden die Dialoge ausführlicher und befassten sich (zumeist in angemessener Weise) auch mit heiklen Themen. Ferner können komplexe Themeneinheiten durchgeführt werden und eine Aneinanderreihung von miteinander unverbundenen Auf‐ gaben wird vermieden (vgl. Christ 2006: 49). Folgerung 05: Wenn bei Aufgaben die Kommunikationspartner miteinander vertraut sind, dann fördert dies die Intensität des Austauschs. Die Dialoge werden länger und intensiver. Interkulturelle Lernaufgaben sollten deswegen längerfristige Projekte und längerfristigen Austausch vorsehen (siehe S. 217). Folgerung 15: Wenn eine Aufgabensequenz zu Beginn und am Ende die gleiche inter‐ kulturelle Kommunikationsaufgabe vorsieht, dann zeigen sich die Zuwächse an in‐ terkulturellen Kompetenzen (Wissen, Sprache, Pragmatik, Einstellungen) der Lern‐ enden daran, dass sie sich in zunehmend komplexere interkulturelle Aushandlungsprozesse einlassen (siehe S. 235). 390 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="391"?> Folgerung 02: Lernende können sich dann in der interkulturellen Kommunikation sub‐ stantiell beteiligen, wenn sich der Austausch auf Domänen bezieht, in denen sie schu‐ lisch oder außerschulisch erworbenes Wissen besitzen oder im Rahmen der Aufgabe erworben haben. Inhaltliches Wissen ist eine wichtige Voraussetzung, interkulturelle Kompetenzen in anderen Kompetenzbereichen zu erwerben (siehe S. 215). Folgerung 07: Wenn Aufgaben vorsehen, dass das Vorwissen der Lernenden zum bear‐ beiteten Thema in einer vorbereitenden Hausaufgabe aktiviert wird, dann entlastet diese Hausaufgabe die interkulturelle Kommunikation um die inhaltliche Kompo‐ nente. Inhaltliches Wissen steht für komplexe Kommunikationsaufgaben bereit. Die Lernenden können sich auf sprachliche Aspekte konzentrieren. Sie verfügen ferner über ausreichend viele Inhalte zur Kommunikation (siehe S. 226). Folgerung 10: Wenn die Lernenden zu Beginn einer Aufgabe eine vorwissensaktivie‐ rende Hausaufgabe bearbeiten, dann stehen den Lernenden bei den zentralen Aufgaben viele Inhalte zur Kommunikation zur Verfügung (siehe S. 231). Folgerung 38: Wenn Lernende mit fremdkulturellen Personen in angemessener Weise (insbesondere nicht überheblich) über kulturelle Praktiken kommunizieren möchten, so setzt das Wissenskompetenzen zu fremdkulturellen Praktiken voraus (siehe S. 272). Folgerung 40: Wenn Lernende zur Reflexion darüber angehalten werden, ob es bei‐ spielsweise in einer Aushandlungsphase leicht oder schwer war, kulturelle Repräsen‐ tationen auszuwählen, dann ergeben sich Lernchancen zur Reflexion der Bedeutung von Wissenskompetenzen in der interkulturellen Kommunikation (siehe S. 275). Folgerung 47: Wenn Aufgaben gemäß des vorgestellten Phasenmodells konzipiert sind [verkürzt: A) eigenkulturelle Praktiken (K1) bewusst machen; B) Vorwissen zu an‐ derskulturellen Praktiken (K2) sammeln; C) Input zu K2; D) K1 und K2 vergleichen sowie Perspektiven aushandeln; E) Reflexion], dann zeigen sich in den Phasen A-C interkulturelle Kompetenzen zumeist als kognitive Operationen. Dies entspricht auch den Aufgabenstellungen, die den Lernenden kognitive und fertigkeitsbezogene Ope‐ rationen abverlangen. Affektive und einstellungsbezogene Kompetenzen zeigen sich tendenziell eher in den letzten Phasen des Unterrichtsmodells, wenn Aushandlungs‐ prozesse stattfinden, mit Perspektiven operiert wird und die Aufgaben reflektiert werden. Selbstverständlich sind die ersten Phasen der Aufgaben unverzichtbar. Sie schaffen die Grundlage für z. B. Empathie, Perspektivenbewusstsein und Reflexion in den letzten Phasen der Aufgabenfolge (siehe S. 291). Folgerung 67: Wenn zu Beginn der Aufgabe mit dem Vorwissen der Lernenden zu eigen- oder fremdkulturellen Praktiken gearbeitet wird, sollte die Lehrkraft beachten, dass Lernende sich nicht bloßgestellt oder getäuscht fühlen, wenn sie in ihren Beiträgen fehlerhafte bzw. ergänzungsbedürftige Wissensbestände zeigen. Die Bedeutung des Lehrer-Schüler-Bezugs ist ein hohes und schützenswertes Gut (siehe S. 320). 391 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="392"?> Lernende beschreiben eigenkulturelle Praktiken (Aufgabenschritt A): Motivation durch Lebensweltbezug Eines der zentralen Ergebnisse meines Forschungsprojektes ist, dass es für die Auseinandersetzung der Lernenden mit anderskulturellen Praktiken wichtig ist, zu Beginn einer interkulturellen Lernaufgabe zunächst die eigenkulturellen Prak‐ tiken zu beschreiben und sie sich dabei zu vergegenwärtigen, bevor die Lern‐ enden sich in den folgenden Phasen dann den anderskulturellen Praktiken sowie Vergleichen und Aushandlungen zuwenden. Die Lernenden setzen sich dadurch aktiv mit dem Lerngegenstand auseinander (vgl. Nunan 2004: 36 f.) und die Auf‐ gabe ist an die Lebenswirklichkeit der Lernenden angebunden (vgl. Müller-Hart‐ mann & Schocker-v. Ditfurth 2006: 2). Die Vergegenwärtigung der eigenkultu‐ rellen Praktiken konnte auch in vorbereitende Hausaufgaben ausgelagert werden (z. B. ‚How did your parents get to know each other? ‘ oder ‚What kind of jobs do you do to earn some money? ‘). Die Lernenden bearbeiteten solche Hausaufgaben zu‐ verlässig und auch Lernende mit schwachen Fremdsprachenkompetenzen waren durch die Aufgabe motiviert, der Klasse zu berichten. Ein positiver Nebeneffekt war, dass die Lernenden anhand eigener und bekannter Inhalte ihre vorhandenen Sprachressourcen aktivierten und sich damit auch (fremd-)sprachlich auf das Thema vorbereiteten. Im Unterricht hörten die Schülerinnen und Schüler inter‐ essiert einander zu, nahmen Anteil und konnten auch Tage später noch die be‐ richteten kulturellen Praktiken als Vergleichssituationen für ihre Argumentati‐ onen nutzen. Lernende mit Migrationshintergrund konnten als weitere Vergleichsebene ihre eigenkulturellen Praktiken einbringen, und die Schülerinnen und Schüler lernten sich untereinander besser kennen. Vermutlich sind es die Authentizität der Inhalte, der persönliche Bezug zum Berichteten und zum Berichtenden sowie der Lebensweltbezug, die die Lernenden zu besonderer Mitarbeit motivierten und eine geeignete Ausgangsbasis für die weitere Kompetenzentwicklung schufen, denn: „Gute Lernaufgaben orientieren sich an lebensweltlichen Frage‐ stellungen, knüpfen an die lebensweltlichen Diskurse der Kinder an, sind damit kontextualisiert (focus on meaning)“ (Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2008; vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2013: 38 f.). Burwitz-Melzer kommt in ihrer Untersuchung zum interkulturellen Lernen mit englischspra‐ chiger Literatur ebenfalls zu dem Ergebnis, dass „beim interkulturellen Lern‐ prozess die Lebenswelt einen nicht unbedeutenden Stellenwert einnimmt“ (Bur‐ witz-Melzer 2003: 506). Folgerung 19: Wenn Aufgaben mit vorbereitenden Hausaufgaben eingeleitet werden, bei denen die Lernenden Informationen zu eigenkulturellen Praktiken erfragen oder 392 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="393"?> sammeln, dann motiviert das die Lernenden in besonderer Weise zu Beiträgen über eigenkulturelle Praktiken (siehe S. 245). Folgerung 22: Wenn Aufgaben positive Beispiele fremdkultureller Praktiken themati‐ sieren, dann erhalten Lernende mit fremdkulturellem Hintergrund die Chance, sich zu ihren Praktiken zu bekennen, und sind eher offen dafür, diese Praktiken in der Klasse zu besprechen (siehe S. 247). Folgerung 44: Wenn Lernende zu Beginn einer Aufgabe den Auftrag erhalten, sich mit ihren eigenen eigenkulturellen Erfahrungen auseinander zu setzen, dann bewirkt dies eine besondere Motivation bei den Lernenden, sich engagiert zur Thematik in den Unterricht einzubringen. Solcherlei Hausaufgaben werden motiviert erledigt. In der Kommunikationssituation mit den Mitschülerinnen und Mitschülern werden authen‐ tische Inhalte ausgetauscht. Die Lernenden berichten über sich selbst und erfahren Relevantes und häufig auch Unbekanntes über die anderen (siehe S. 288). Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus (Aufgabenschritt B): Ein sensibler Umgang mit Wissenslücken und Stereotypen ist erforderlich Zu Aufgabenschritt B, der Aktivierung des Vorwissens der Lernenden zu an‐ deren Kulturen, weisen die hier dargestellten Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass Lehrkräfte hier besonders umsichtig agieren sollten, da die Wahr‐ scheinlichkeit recht hoch ist, dass die Lernenden immer wieder auch Stereo‐ typen präsentieren. Durch die Vorwissensaktivierung können die Lernenden zum einen untereinander ihr Vorwissen austauschen und dabei möglicherweise erkennen, an welchen Stellen ihnen entsprechendes Wissen fehlt. Zum anderen erhält die Lehrkraft Einblicke in die Wissensstände und Einstellungen ihrer Lernenden, um entsprechend die Aufgabe anzupassen. Wenn sich die Lehrkraft für den Einsatz des Aufgabenschritts B entscheidet, dann sollte sie ausreichend Zeit für die Kommentierung und Diskussion der Schülerbeiträge eingeplant haben sowie flexibel Informationen anbieten können bzw. für die folgende Auf‐ gabenphase eingeplant haben. Sie sollte möglicherweise vorgetragene Stereo‐ typen in Frage stellen (z. B. als vorläufige Vermutungen benennen), ohne beleh‐ rend und bloßstellend zu agieren. Dies erfordert einen sehr sensiblen Umgang mit den Lernenden (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2011: 141). An dieser Stelle decken sich meine Erfahrungen mit denen von Burwitz-Melzer, die notiert, dass sich die Lehrkraft „in solchen Fällen relativierend verhalten [muss]“ (Burwitz-Melzer 2003: 514). Aufgabenschritt B kann nach Auswertung der Daten als eine optionale Unterrichtsphase angesehen werden, die bei Bedarf mit besonderer Umsicht eingesetzt werden kann. Wenn der Aufgabenschritt eingesetzt wird, dann würde ich ihn als kurze Bestandsaufnahme zum Lerner‐ 393 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="394"?> wissen für die folgende Phase mit dem Input zu anderskulturellen Praktiken (Aufgabenschritt C) sehen. Als Alternative zur gemeinsamen Besprechung des anderskulturellen Vorwissens könnte mit (älteren Lernenden) erprobt werden, dass die Lernenden für sich eine Notiz zu ihren Vorstellungen zu den betreff‐ enden anderskulturellen Praktiken schreiben. Diese Notiz könnte dann ein wichtiger Punkt bei der Reflexion in Aufgabenschritt E sein, weil die Lernenden dann sehr konkret vor sich sehen, welches die Ausgangspunkte ihres interkul‐ turellen Lernprozesses waren. Wenn meine Lernenden Unterschiede zwischen ihrem Vorwissen und den Informationen aus anderen Quellen wahrnahmen, dann konnten Reflexionen zu den Differenzen zu einem kritischen Bewusstsein für die eigenen Wissensbestände führen. Die Lernenden konnten exemplarisch erkennen, dass die eigenen Konzepte von vermuteten anderskulturellen Prak‐ tiken keine absolute Gültigkeit beanspruchen können und ein vorsichtiger Um‐ gang mit Vorannahmen angemessen ist. Folgerung 45: Auch wenn das den Unterrichtsstunden zu Grunde liegende Artikulati‐ onsmodell insgesamt als geeignet für den Aufbau und die Gliederung von Aufgaben für das interkulturelle Lernen angesehen wird, empfiehlt sich für jede Stunde eine kritische Prüfung, ob der Einbezug aller Schritte den meisten Erfolg verspricht. Wenn beispielsweise die Beschäftigung mit den eigenkulturellen Praktiken wichtig und zeitintensiv ist, kann es schon in der Planung (task-as-workplan) empfehlenswert sein, im Gegenzug die Vorwissenserhebung zu fremden Kulturen zu streichen (siehe S. 290). Folgerung 61: Die Phase B des Unterrichtsmodells (‚Lernende tauschen sich zu Vor‐ wissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus‘) sollte nur dann eingesetzt werden, wenn ausreichend Zeit für Kommentierung und Diskussion ist. Während ich aus den Erfahrungen des Unterrichtsprojekts die anderen Phasen für unverzichtbar halte, kann die Phase B auch optional eingesetzt werden. Ein Verzicht auf diese Phase ist insbesondere bei Themen zu prüfen, die mit hoher Wahrschein‐ lichkeit Stereotypen und Halbwahrheiten zu Tage treten lassen, die nicht unkom‐ mentiert stehen bleiben können. Eine Alternative zu einer ausführlichen Thematisie‐ rung oder zu einem Verzicht auf die Phase könnte eine private Notiz der Lernenden zu ihren fremdkulturellen Vorannahmen sein, die sie am Ende der Aufgabe auf Stim‐ migkeit prüfen können (siehe S. 305). Folgerung 68: Wenn die Lehrkraft das Vorwissen der Lernenden zu anderskulturellen Praktiken aktiviert (Aufgabenschritt B ‚Lernende tauschen sich zu Vorwissen oder zu Vermutungen hinsichtlich anderskultureller Praktiken aus‘), dann sollte dies unter umsichtiger Vorplanung und sensibler Durchführung geschehen. Die Lehrkraft sollte möglicherweise sich aufzeigende Stereotypen in Frage stellen, ohne belehrend und bloßstellend zu agieren (siehe S. 320). 394 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="395"?> Folgerung 69: Wenn Aufgaben beim Wissensinput (Aufgabenschritt C) von Lernenden verlangen, dass sie unterscheiden sollen, welche Informationen neu für sie sind und welche bekannt, und die Quellen der bereits bekannten Informationen angeben, dann können sich die Lernenden ihrer Wissensbestände und derer Quellen bewusst werden (siehe S. 322). Folgerung 73: Wenn Aufgaben Lernende erfahren lassen, dass ihr Wissen zu fremdkul‐ turellen Praktiken nicht mit berichtetem Wissen aus anderen Quellen übereinstimmt, dann können Reflexionen zu den Differenzen zu einem kritischen Bewusstsein für die eigenen Wissensbestände führen. Die Lernenden erkennen, dass die eigenen Konzepte vom Fremden keine absolute Gültigkeit beanspruchen können und ein vorsichtiger Umgang mit den Wissensbeständen angemessen ist (siehe S. 325). Lernende integrieren neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken in ihre bestehenden Konzepte (Aufgabenschritt C): Medien und Authentizität Nachdem in den Aufgabenschritten A und B mit dem Vorwissen der Lernenden gearbeitet wurde, erhielten sie im Aufgabenschritt C Wissensinput zu anders‐ kulturellen Praktiken. Im bilingualen Unterricht mit dem Fokus auf interkultu‐ rellem Lernen bietet es sich an, im Aufgabenschritt C, wenn die Lernenden neue Informationen zu anderskulturellen Praktiken erarbeiten, in erster Linie au‐ thentische Medien anderer Kulturen zu nutzen, mit denen sie anderskulturelle Perspektiven kennenlernen können und dazu befähigt werden, an realen ge‐ sellschaftlichen Diskursen teilzuhaben (vgl. Hallet 2006: 76). Wenn, wie in meinem Projekt, diese Medien für Menschen gemacht sind, deren Muttersprache für meine Lernenden die Fremdsprache ist, ergibt sich häufig das Problem, dass die verwendete Sprache recht anspruchsvoll ist (language demands). Dieses Pro‐ blem der Diskrepanz zwischen sprachlichem und inhaltlichem Anspruch ist bei jüngeren Lernenden besonders groß (vgl. Müller 2004: 9), es war aber auch in meinen beiden 9. Klassen vorhanden, obwohl sie in der 7. und 8. Klasse bilin‐ gualen Geographieunterricht erhielten. Es ging also darum, einen language sup‐ port bereitzustellen, der die Komplexität der verwendeten Medien verringerte, ohne dass deren Authentizität litt. Wenn eine Lehrkraft Lesetexte vereinfacht, muss sie Veränderungen bewusst sehr behutsam vornehmen, um die fremdkul‐ turelle(n) Perspektive(n) nicht zu verfälschen. Massive Eingriffe in die Texte, wie z. B. durch Umschreibung, verbieten sich. Behutsame Kürzung der Texte, gekonnte Vorträge von Lesetexten durch die Lehrkraft und Erläuterungen zu schwierigem Wortschatz (Annotationen) haben sich im Projekt bewährt. Meine Erfahrung, dass für das Textverständnis im Unterricht die Interaktion der Lehr‐ kraft mit den Lernenden zentral ist, steht in Einklang mit den Untersuchungen 395 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="396"?> von van Avermat u. a., die feststellen, dass bei anspruchsvollen Texten das Ver‐ ständnis der Lernenden am besten durch die Unterstützung der Lehrkraft (im Vergleich zu Einzelarbeit oder Partnerarbeit) gefördert wird (vgl. van Avermat u. a. 2006: 190). Annotationen, die den Haupttext unverändert belassen, jedoch schwierige Begriffe erläutern, geben Hilfestellungen, ohne dem Haupttext seinen authentischen Charakter zu nehmen. Für die Nutzung von authentischen Filmen haben sich in meinem Projekt folgende Hilfestellungen bewährt: Kürzen des Films auf vorzugsweise 5-10 Minuten; wiederholtes Anschauen der ausge‐ wählten Passagen; transkribierter Filmtext zum Mitlesen; Annotation/ Überset‐ zungen bei schwierigen Begriffen im Transkriptionstext; nach anspruchsvollen Passagen Pausen für Fragen der Lernenden und Erläuterungen der Lehrkraft. Die Arbeit mit authentischen Texten motivierte meine Lernenden insbesondere dann zur Mitarbeit, wenn fremdkulturelle Praktiken an Fallbeispielen mit Pro‐ tagonisten vermittelt werden, mit denen sich die Lernenden gut identifizieren konnten (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 494). Wenn meine Lernenden die Gelegenheit hatten, Input zu kulturellen Prak‐ tiken aus verschiedenen Medien miteinander zu vergleichen, konnten sie er‐ fahren, dass Informationen immer perspektivengebunden sind. Die scheinbare Objektivität von z. B. Schulbuchtexten, Aussagen der Lehrkraft, Zeitschrifte‐ nartikeln oder Informationen von fremdkulturellen Personen wurde dekonst‐ ruiert. Bedeutung konnte unter der Berücksichtigung von Perspektiven inter‐ pretiert und ausgehandelt werden. Die Entwicklung eines medienkritischen Bewusstseins konnte ferner unterstützt werden, wenn die Lernenden die Her‐ kunft ihrer Vorstellungen zu fremdkulturellen Praktiken reflektierten und er‐ kannten, dass und in welcher Weise ihre Vorstellungen z. B. durch Medien ge‐ prägt sind. Ferner konnte reflektiert werden, welche fremdkulturellen Praktiken Medien bevorzugt transportieren und Rezipienten bevorzugt konsumieren. Beim Vergleich dieser transportierten Bilder mit der fremdkulturellen Alltags‐ welt konnte ein medienkritisches und selbstkritisches Bewusstsein gefördert werden. Durch diese Vorgehensweisen wurden Kompetenzen gefördert, die Byram für die Entwicklung einer critical cultural awareness einfordert (vgl. Byram 1997: 63 f.). Folgerung 20: Wenn Aufgaben mit authentischen Texten arbeiten, die fremdkulturelles Orientierungswissen in einem Fallbeispiel vermitteln und den Lernenden geeignete Protagonisten zur Identifikation anbieten, dann motiviert das die Lernenden für die Thematik (siehe S. 246). Folgerung 21: Wenn der Einsatz von authentischen Texten in Klassen der Sekundarstufe 1 eine Vereinfachung des Originaltextes erfordert, dann muss die Lehrkraft die Ver‐ änderungen bewusst sehr behutsam vornehmen, um die fremdkulturelle Perspektive 396 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="397"?> nicht zu verfälschen. Ein massiver Eingriff in den Text, wie z. B. durch Umschreibung, verbietet sich. Behutsame Kürzung des Textes, Vortrag durch die Lehrkraft und Er‐ läuterung von schwierigem Wortschatz (mündlich oder schriftlich) haben sich be‐ währt (siehe S. 246). Folgerung 46: Wenn in Aufgaben authentische Medien verwendet werden, die für die Fremdsprachenkompetenzen der Lernenden eigentlich zu anspruchsvoll sind, dann ist die Lehrkraft aufgefordert, zum einen die Komplexität der verwendeten Medien zu verringern, ohne dass die Authentizität leidet, und zum anderen mit entsprechender Unterrichtsmethodik die sprachlichen Defizite zu kompensieren. Bei dem Einsatz von Filmen wurden erfolgreich eingesetzt: Kürzen des Films, wiederholtes Anschauen der ausgewählten Passagen, transkribierter Filmtext zum Mitlesen, Annotation/ Überset‐ zungen bei schwierigen Begriffen, Pausen für Fragen der Lernenden und Erläute‐ rungen der Lehrkraft (siehe S. 290). Folgerung 70: Wenn fremdkulturelle Personen Wissen zu ihren Praktiken vermitteln und Lernende den Input mit anderen Quellen vergleichen, erfahren Lernende, dass Informationen immer perspektivengebunden sind. Die scheinbare Objektivität von Schulbuchtexten, Aussagen der Lehrkraft, schülerrecherchierten Informationen und der Informationen von fremdkulturellen Personen wird dekonstruiert. Bedeutung kann nun unter Berücksichtigung von Perspektive interpretiert und ausgehandelt werden (siehe S. 322). Folgerung 81: Wenn Lernende die Herkunft ihrer Vorstellungen zu fremdkulturellen Praktiken reflektieren, dann können sie erkennen, dass ihre Vorstellungen durch Me‐ dien geprägt sind. Ferner kann reflektiert werden, welche fremdkulturellen Praktiken Medien bevorzugt transportieren und Rezipienten bevorzugt konsumieren. Beim Ver‐ gleich dieser transportierten Bilder mit der fremdkulturellen Alltagswelt kann ein medienkritisches Bewusstsein entstehen (siehe S. 332). Lernende handeln Perspektiven auf kulturelle Praktiken aus (Aufgabenschritt D): Support, Aushandlungsprozesse, Vergleichen und Perspektivenbewusstsein Language demands, sprachlicher und inhaltlicher Support, Mutterspra‐ chengebrauch Nachdem im vorangehenden Abschnitt language demands und language support hinsichtlich der receptive skills im Kontext der Medien zu Aufgabenschritt C dargestellt wurden (z. B. Texte behutsam kürzen etc.), geht es in diesem Ab‐ schnitt um die Unterstützung der productive skills der Lernenden bei der Erstel‐ lung von Texten in Aufgabenschritt D. Es werden Ergebnisse dazu vorgestellt, wie Lernende mit defizitärem Englisch unterstützt werden konnten, für inter‐ kulturelle Kommunikationssituationen akzeptable Texte zu erstellen. 397 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="398"?> Bei Aufgaben, die vorsahen, dass die Lernenden (Klasse 9, Realschule) bei Aushandlungsprozessen in Gruppenarbeiten fremdsprachige Arbeitsprodukte erstellen, nahmen die Lernenden die inhaltliche Aushandlungen zumeist auf Deutsch vor. Die sprachlichen Aushandlungen zur konkreten Formulierung des (englischsprachigen) Arbeitsprodukts wurden in der Fremdsprache geführt. Bei komplexen Aufgaben (z. B. Argumentationen in Dilemmasituationen) sind diese Aushandlungsprozesse keine einfachen Abfolgen im Sinne von ‚erst wird der Inhalt auf Deutsch ausgehandelt und dann das Produkt auf Englisch formuliert‘, sondern ein vielschichtiges inhaltlich-sprachliches Wechselspiel, das die Aus‐ handlungen um Form und Inhalt integriert. Bei Gruppenarbeiten wurde in meinem Forschungsprojekt der bereitgestellte language support (z. B. Satzanfänge) unterschiedlich stark genutzt. Es gab auch Gruppen, die eigentlich Bedarf an sprachlicher Unterstützung gehabt hätten, die ihn aber nicht nutzten. Um sicherzustellen, dass der language support verwendet wird, könnte die Aufgabenbearbeitung in zwei Phasen aufgeteilt werden. Im ersten Schritt nutzen die Lernenden ihre eigenen Sprachressourcen, um die ausgehandelten Inhalte auszudrücken. Auf ein verabredetes Zeichen hin wird dann die inhaltliche Arbeit unterbrochen und die Lernenden verwenden den language support, um ihre Arbeitsprodukte soweit wie möglich sprachlich kor‐ rekt und pragmatisch-interkulturell angemessen selbständig zu überarbeiten. Der language support unterstützte die Gruppen, die ihn verwendeten, nicht nur in sprachlicher Hinsicht. Geeigneter language support strukturiert die Lern‐ ertexte auch inhaltlich, hilft den Lernenden, angemessen höflich zu kommuni‐ zieren, und liefert in inhaltlich-pragmatischer Hinsicht Ideen, wie z. B. inter‐ kulturell heikle Themen kommuniziert werden können. Inhaltlich-pragmatischer support für die interkulturelle Kommunikation un‐ terstützt die Lernenden darin, gegenüber fremdkulturellen Partnern Praktiken anzusprechen, die sie problematisch finden, dabei aber nicht wissen, wie sie ihre Darstellung in Worte kleiden können. Zu diesem Punkt konnten im Laufe des Projekts sechs Strategien zur Kommunikation ‚heikler‘ Themen bei den Lern‐ enden beobachtet werden, von denen drei durch den language support gefördert wurden. Die sechs Strategien können anderen Klassen als inhaltlicher support zur Verfügung gestellt werden: a) Die Lernenden nannten Quellen der Herkunft und Perspektiven ihrer Bilder und kennzeichneten sie so, dass sie nicht (nur) ihre eigene Meinung darstellen. b) Sie kommunizierten, dass sich ihre Bilder entwickeln und diese nur vorläufigen Charakter haben. Damit reduzierten sie den Geltungsanspruch ihrer Bilder. c) Sie reduzierten den Geltungsanspruch ihrer Aussagen ferner durch die Kennzeichnung ihrer Bilder als private Mei‐ nung. d) Sie wendeten sich bevorzugt auch mit ihren Fragen und Unsicherheiten 398 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="399"?> zu den betroffenen anderskulturellen Praktiken an die anderskulturellen Partner. e) Sie schufen sprachliche und inhaltliche Nähe zum Kommunikations‐ partner dadurch, dass sie Redewendungen von anderskulturellen Partnern auf‐ griffen. f) Sie äußerten sich zunächst positiv zu anderskulturellen Praktiken, bevor sie dann auch kritische Aspekte ansprachen. Sollen sich Lernende trotz fremdsprachlicher Defizite bei Diskussionen spontan inhaltlich beteiligen können, dann ist es wichtig, dass die Aufgabe es ermöglicht, bei Bedarf auch auf die deutsche Sprache auszuweichen (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2011: 141). Noch besser ist es, wenn ein fehlertolerantes Klassenklima vorhanden ist, das es den Lernenden erlaubt, wichtige inhaltliche Beiträge auch in defizitärem Englisch darzubieten; der „pri‐ mary focus on meaning“ ist ein zentrales Merkmal von tasks (vgl. Ellis 2003: 9). In meiner Untersuchung verwendeten die Lernenden beide Strategien. In Deutschland bietet der bilinguale Unterricht im Vergleich zum traditionellen Fremdsprachenunterricht einen geschützten Fremdsprachen-Erprobungsraum, da Lernerbeiträge nach der Qualität ihres Inhalts und nicht nach ihrer sprach‐ lichen Korrektheit beurteilt werden. Lernende „schätzen den bilingualen Un‐ terricht als sanktionsfreien Erprobungsraum für ihre Sprachkompetenz“ (Müller 2008: 37). Für den ‚normalen‘ Fremdsprachenunterricht könnten Überlegungen angestellt werden, wie solche Erprobungsräume geschaffen werden, die von den Lernenden auch tatsächlich als solche wahrgenommen werden. Folgerung 11: Wenn Lernende language support zugunsten einer angemessenen inter‐ kulturellen Kommunikation zwar bedürfen, aber zu wenig nutzen, sollte er in einer separaten Phase fokussiert werden. Durch diese Zweistufigkeit werden die Schwierig‐ keiten nacheinander leichter bewältigt: Die Lernenden sollten zunächst mit den ei‐ genen Sprachressourcen Fragen formulieren. In einem zweiten Aufgabenschritt er‐ halten die Lernenden dann language support zur höflichen Formulierung, mithilfe dessen sie ihre Sätze überarbeiten (siehe S. 232). Folgerung 51: Wenn eine Aufgabe Aushandlungsprozesse zu einem Standpunkt und die Formulierung dieses Standpunkts in der Fremdsprache fordert, dann nutzen Lernende der Sekundarstufe 1 zumeist Deutsch für die inhaltliche Aushandlung. Die Fremd‐ sprache wird für die Formulierung des Aufgabenprodukts genutzt. Die Aushand‐ lungsprozesse zur Sprache laufen zu großen Teilen in der Fremdsprache ab. Enthält ein Aufgabenprodukt also eine fremdsprachliche Komponente (z. B. Bildauswahl auf Englisch begründen), dann erfolgen die Gruppenaushandlungsprozesse zumindest teilweise in der Fremdsprache. Bei komplexen Aufgaben (z. B. Argumentation in Di‐ lemmasituationen) sind diese Aushandlungsprozesse keine einfachen Abfolgen im Sinne von ‚erst wird der Inhalt auf Deutsch ausgehandelt und dann das Produkt auf 399 7.6 Ergebnisse des Unterrichtsforschungsprojekts <?page no="400"?> Englisch formuliert‘, sondern ein vielschichtiges inhaltlich-sprachliches Wechselspiel, das die Diskussion um Form und Inhalt integriert (siehe S. 294). Folgerung 56: Wenn sich Lernende trotz fremdsprachlicher Defizite bei Diskussionen spontan inhaltlich beteiligen können sollen, dann ist es wichtig, dass die Aufgabe es ermöglicht, bei Bedarf auch in die deutsche Sprache auszuweichen. Noch besser ist es, wenn ein fehlertolerantes Klassenklima vorhanden ist, dass es den Lernenden er‐ laubt, wichtige inhaltliche Beiträge auch in defizitärem Englisch darzubieten. Wenn eine Aufgabe vorsieht, ein Arbeitsprodukt in der Fremdsprache zu erstellen, dann enthalten die Gruppenarbeitsprozesse neben vorangehenden inhaltlichen zumeist deutschen Phasen auch fremdsprachliche Phasen. Die fremdsprachliche Qualität sol‐ chermaßen vorbereiteter Produkte ist höher als spontane Diskussionsbeiträge (siehe S. 299). Folgerung 83: Wenn Lernende bei der schriftlichen Sprachproduktion durch language support (z. B. in Form von möglichen Satzanfängen) unterstützt werden, dann wird dadurch nicht nur die sprachliche Gestaltung der Schülertexte gefördert. Der language support unterstützt darüber hinaus auch die Strukturierung der Beiträge und ihre Eig‐ nung für die interkulturelle Kommunikation durch angemessene Ausdrucksweisen, z. B. für Begrüßungen und Verabschiedungen (siehe S. 336). Folgerung 89: Wenn zu Aufgaben language support bereitgestellt wird, dann haben diese Formulierungshilfen nicht nur eine sprachliche sondern auch eine inhalt‐ lich-pragmatische Funktion. Language support strukturiert die Texte der Lernenden und liefert Ideen für Strategien, wie beispielsweise kritische Inhalte interkulturell an‐ gemessen formuliert werden können (z. B. Quelle benennen, Perspektive benennen) (siehe S. 340). Folgerung 90: Wenn Aufgaben die Lernenden darin unterstützen sollen, auch kritisch interkulturelle Praktiken anzusprechen ohne den anderskulturellen Kommunikations‐ partner zu verletzen, so kann dies durch sprachlich-inhaltlichen support unterstützt werden. Im Projekt verwendeten die Lernenden die folgenden Strategien, die anderen Lernenden an die Hand gegeben werden könnten: a) Die Lernenden nennen Quellen der Herkunft und Perspektiven ihrer Bilder und kennzeichnen so, dass sie nicht ihre eigene Meinung darstellen. b) Sie kommunizieren, dass sich ihre Bilder entwickeln und nur vorläufigen Charakter haben. Damit reduzieren sie den Geltungsanspruch ihrer Bilder. c) Sie reduzieren den Geltungsanspruch ihrer Aussagen ferner durch die Kenn‐ zeichnung ihrer Bilder als private Meinung. d) Sie wenden sich bevorzugt auch mit ihren Fragen und Unsicherheiten zu den betroffenen fremdkulturellen Praktiken an die fremdkulturellen Partner. e) Sie schaffen sprachliche und inhaltliche Nähe zum Kom‐ munikationspartner dadurch, dass sie Redewendungen von fremdkulturellen Partnern aufgreifen. f) Sie äußern sich zunächst positiv zu fremdkulturellen Praktiken, bevor sie dann auch kritische Aspekte ansprechen (siehe S. 341). 400 7 Die Unterrichtsforschung <?page no="401"?> Aushandlungsprozesse Bei dem Thema Aushandlungsprozesse geht es an dieser Stelle um die Bedeu‐ tung des diskursiven Aushandelns der Lernenden zum Arbeitsprodukt für deren Entwicklung interkultureller Kompetenzen. Bei den weiter oben stehenden Aussagen zur Unterrichtsforschung stelle ich die Bedeutung der Beforschung der Aushandlungsprozesse für die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns in der Unterrichtsforschung vor (siehe S. 382). Als Grundkonstellation von Aushandlungsprozessen hat sich in meinem Pro‐ jekt bewährt, dass sich eine kleine Gruppe von Lernenden auf ein gemeinsames englischsprachiges Arbeitsprodukt (z. B. Formulierung einer E-Mail; Erstellung eines Posters) einigt (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2011: 181). Wenn die Lernenden stattdessen individuelle Arbeitsprodukte erstellten und ihre individuellen Produkte lediglich miteinander verglichen, dann verliefen die Aus‐ handlungsprozesse deutlich weniger intensiv. Aushandlungsprozesse bei inter‐ kulturellen Lernaufgaben zielen insbesondere darauf ab, die Lernenden disku‐ tieren zu lassen, welche Formulierungen und Repräsentationen in der interkulturellen Kommunikation angemessen sind. Besondere Lern-Impulse können dabei von ordering und sorting tasks (vgl. Willis, D. & Willis, J. 2007: 72) ausgehen. Wenn Lernende Formulierungen für die interkulturelle Kommunika‐ tion oder die Auswahl von kulturellen Repräsentationen in ‚angemessen‘ und ‚unangemessen‘ sortieren oder in einem ranking von ‚angemessen‘ nach ‚unan‐ gemessen‘ in eine Reihenfolge bringen, dann entstehen in den Gruppen Aus‐ handlungsprozesse zur Angemessenheit der Beiträge. Mit solchen Aufgabe wurde im Projekt interkulturelle Sensibilität gefördert, und es fand Bewusstseinsbildung statt. Insbesondere nach neuem Wissensinput zu kulturellen Praktiken konnte ich so auch nachvollziehen, wie die Lernenden den Input bewerteten und in ihre be‐ stehenden Konzepte integrierten. Die Aushandlungsprozesse in den verschie‐ denen Gruppen der Klassen führten zu unterschiedlicher Auswahl von als ange‐ messen betrachteten kulturellen Repräsentationen. Bei Produktpräsentation vor der Klasse konnte ich diese Unterschiede zum Anlass nehmen, mit den Lern‐ enden zu reflektieren, welche Kriterien sie ihrer Bewertung zu Grunde gelegt hatten. Auch an dieser Stelle fand Bewusstseinsbildung für Unterschiede bei der Kriterienwahl und von Perspektiven statt. Jeder Lernende konnte erfahren, dass seine Perspektive nur eine mögliche von vielen ist. Folgerung 09: Aushandlungsp