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Queer lesen

Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses

0923
2019
978-3-8233-9282-8
978-3-8233-8282-9
Gunter Narr Verlag 
Katja Kauer

Queer Reading ist eine Methode, die die Konstruktionen des Geschlechts und des Begehrens lesbar macht. Eine queere Lektüre öffnet etwa den Blick dafür, wie ,Heterosexualität' als postulierte soziale Norm in Texten stetig untergraben wird, und ermöglicht die Entdeckung homoerotischer oder homosexueller Subtexte. Ziel ist allerdings nicht, im Gegenzug andere Identitäten zur Norm zu erklären oder Autor*innen und Figuren Prädikate wie ,homosexuell' oder ,transsexuell' zuzuschreiben. Vielmehr legt Queer Reading ein ,anderes Begehren' offen, das nicht den Äußerungen der Figuren und unseren Erwartungen entspricht. Es erweitert so unseren Horizont und bedeutet damit eine Bereicherung jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Das Studienbuch verdeutlicht anhand von Lektüren ganz unterschiedlicher Prosa, wie ein Text queer gelesen werden kann, und will seine Leser*innen ermutigen, sich Leitlinien zu erarbeiten, mit denen sie Texte selbst queer lesen können. Das Buch leistet neben der Methodendiskussion auch einen Beitrag zur Erforschung kanonisierter Autor*innen und Werke aus neuer Perspektive.

<?page no="2"?> Queer lesen <?page no="3"?> LITERATURWISSENSCHAFT Zugänge - Reflexionen - Transfer <?page no="4"?> Katja Kauer Queer lesen Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Abdruck des Bildmaterials aus Mädchen in Uniform (1958) mit freundlicher Genehmigung von © CCC Filmkunst GmbH. Das Bildmaterial zu Mädchen in Uniform (1931) wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von © Beta Film GmbH. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de www.narr-literaturwissenschaft.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-0323 ISBN 978-3-8233-8282-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9282-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0149-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 5 Inhalt Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text . . . . . 35 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II Das Scheitern der Heteronormativität an der Widersprüchlichkeit der Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht (1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 III Queere Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Annette Kolb: Die Schaukel (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 VI Das lesbische Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 VI.1 Politische und erotische Bündnisse: Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 VII Homosoziales Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 VII.1 Between men . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 VII.2 Between women . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Eduard von Keyserling: Die Verlobung (1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 VIII Frauenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 <?page no="7"?> 6 Inhalt X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 X.2 Heterosexuelle Ehekämpfe, lesbische Verführung als neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) . . . . . . . . . 180 XI Queer - ein Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Laurie Penny: Unsagbare Dinge (2014/ 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Verwendete Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 <?page no="8"?> Vorwort Dieses Studienbuch entstand im Laufe meiner Lehrtätigkeit als Privatdozentin. Ich danke den Studierenden, die an den verschiedenen Universitäten meine Lehrveranstaltungen besucht haben und mich mit ihren Fragen und Impulsen dazu gebracht haben, meine queeren Lektüren niederzuschreiben. Einige der Kapitel ergaben sich aus Seminargesprächen und sind bereits in der Lehre erprobt. Der Hauptteil des Buches entstand während der Professurvertretung des Lehrstuhls für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im WS 16/ 17 und im Sommersemester 2017. Ich danke dem Deutschen Seminar für die angenehme und bereichernde Arbeitsatmosphäre, die es mir ermöglicht hat, den Text fertigzustellen. Der Dank gilt auch meinen beiden Hilfswissenschaftler*innen, Martin Sinn und Andreas Klemm, die Teile der Arbeit Korrektur gelesen haben. Einen herzlichen Dank möchte ich meinen Tübinger Studierenden, insbesondere Desirée Held, die mich bei der Korrektur des Dokuments kurz vor der Abgabe unterstützt hat, und Lukas Häberle, der mir ebenfalls hilfreich zur Seite stand, aussprechen. Ich bedanke mich auch für die Unterstützung durch den Narr Verlag und für die hilfreichen Hinweise der Lektorin Frau Dr. Valeska Lembke. <?page no="10"?> 9 Einleitung Daß die Körper beseelt sind: das ist das Geheimnis - Klaus Mann: Der fromme Tanz, 1926 1. Der Begriff Ist Queer das neue Gender? Diese Frage klingt nach einer Provokation. Doch scheint es durchaus Argumente für diese Hypothese zu geben. Tatsächlich weist die Entwicklung beider Forschungsrichtungen einige Parallelitäten auf - in Anbetracht ihrer universitären und gesellschaftlichen Aufnahme. Nachdem sich in den 1990er Jahren ‚Gender Studies‘ bzw. ‚Gendertheorie‘ 1 als Schlagwort zu entwickeln begann, Einzug hielt in Proseminare sowie Theorieüberblicksvorlesungen und dabei zunehmend die feministische Literaturwissenschaft ablöste, etablierte sich seit der Jahrtausendwende der Begriff ‚Queer Studies‘ als ähnlich schillerndes Schlagwort. Wird eine Erklärung darüber erbeten, was sich hinter der virulenten Bezeichnung verbirgt, folgen entweder meist ausweichende oder weitschweifige Erläuterungen. Der/ die Fragende trifft selten auf eine präzise Auskunft. Wer an einer neuen Hoffnung für eine politische Protestbewegung feilt oder das akademische Establishment angreifen will, wer einen Namen für persönliche Ausdrucksformen sucht, die nicht ins gängige Hetero-Schema passen, oder auch, wer einfach nur in sein will, kurz: wer auf der Suche nach etwas Neuem, Ungewöhnlichen ist, kommt an Queer schwer vorbei. 2 Das Faszinierende des Begriffs umschreiben die Herausgeber*innen und Übersetzer*innen einer 2001 erschienenen Einführung in die Queertheorie als „Hoffnung“, „Protestbewegung“ und „Suche nach etwas Neuem“. Dass eine solche Umschreibung aber auch Zweifel an der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit dieser Forschungsrichtung provozieren kann, liegt auf der Hand. Dem Begriff scheint ein gewisser Zeitgeist, etwas per se Modernes eingeschrieben zu sein. Queer zu denken, so impliziert das Zitat, war um 2000 en vogue. Der Begriff des Queeren vermag gegenwärtig bereits deutlich weniger Aufruhr zu entfachen als noch in seiner frühsten Jugend, den 1990er Jahren, denn jetzt konnotiert er nichts ganz Neues, völlig Ungewöhnliches mehr. Nur was genau verspricht er? Es ist festzustellen, dass es neben den Anhänger*innen dieser Art der Theoriebildung auch viele Wissenschaftler*innen gibt, die sie skeptisch betrachten. Dem Begriff des Queeren haftet etwas Ominöses an. Das ist auch nicht allzu verwunderlich, denn in das Wort schreibt 1 Die einfachen Anführungszeichen geben zu erkennen, dass ich mich mit dem Ausdruck auf der Ebene des Begriffs als semantische Einheit bewege, deren Bedeutungsinhalt sprachlich nicht eindeutig ist, sondern von den jeweiligen Diskursen abhängt, aus denen der Begriff hervorgeht bzw. in denen er von mir verwendet wird. Ohne Markierung ist die Begriffsverwendung kontextbezogen eindeutig. 2 Vorwort zur deutschen Ausgabe: Annamarie Jargose: Queer Theory. Eine Einführung. Hrsg. von Corinna Genschel-/ Caren Lay-/ Nancy Wagenknecht-/ Volker Woltersdorf. Berlin 2001, S. 7 - 12, S. 7 [Hervorhebung im Original]. <?page no="11"?> 10 Einleitung sich eine Geschichte der Homophobie ein. Die Ablehnung kann daher sowohl homophobe Gründe haben als auch nur eine kritische Skepsis gegenüber einer pejorativen Bezeichnung, die hier so vordergründig privilegiert wird, offenbaren. Das englische Wort ‚queer‘ nämlich bedeutet so viel wie ‚sonderbar‘, oder ‚verkehrt‘, es konnotiert ‚Eigenartigkeit‘. Diente die Bezeichnung eigentlich als abfälliger Ausdruck für schwule und lesbische Personen, so wurde der Begriff in den 1990er Jahren im politischen Kontext als Möglichkeit genutzt, den Außenseiterstatus in einer sexuell normierten Gesellschaft reflektiert und selbstbewusst zum Ausdruck zu bringen. Menschen, deren Sexualität und/ oder deren Gender in den dominanten Kategorien der Zweigeschlechterordnung (‚Mann‘, ‚Frau‘, ‚heterosexuell‘) nicht repräsentiert ist, eigneten sich das pejorative Wort an. Sie münzten es in eine positive Bezeichnung für eine Protestbewegung um. Das Wort löste Begriffe wie ‚Homosexualität‘ ab und dient seither gleichzeitig als Instrument einer Kritik an den Konzepten ‚homosexuell‘ und ‚heterosexuell‘. Queer Studies liefern für diesen Protest einen akademischen Überbau. Zeitgleich zu den queer-politischen Anfängen in den 1990er Jahren etablierte sich ‚queer‘ als Konzept für einen neuen kritischen Zugang zur herrschenden Sexualitätsnorm. Der Begriff wurde von der italienisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis (* 1938) im Jahre 1991 in den feministischen Diskurs gebracht. Im Umfeld von queer politics, aber auch in Abgrenzung davon sind im Verlauf der Neunzigerjahre weitere Initiativen und Bewegungen entstanden. Transsexuelle und Transgender-Menschen haben sich selbstständig in eigenen Gruppen organisiert […] Parallel zu diesen politischen Entwicklungen, teils als Reflex darauf, teils unabhängig davon, entstand queer im universitären Bereich der Gay and Lesbian Studies als Sammelbegriff für einen neuen kritisch theoretischen Zugang zum Feld nicht-normgerechter Sexualitäten. Teresa de Lauretis war die Erste, die 1991 queer in diesem Sinne anlässlich einer Schwerpunkt-Nummer der feministischen Zeitschrift differences verwendete, die sich mit lesbischen und schwulen Sexualitäten beschäftigte (de Lauretis 1991). 3 Queer Studies entstanden zwar im Kontext der Gay and Lesbian Studies, sind aber ideologisch davon zu trennen, denn sie zeigen ein kritisches Verhältnis zu jeglicher Art von Identitätskategorie. „Queer steht nicht für die schlichte Bindestrich-Zusammenführung von „schwul-lesbisch“, obwohl auch dies eine Dimension queerer Praxis darstellt […].“ 4 Allein, würde die Übersetzung ‚Studien der/ des Sonderbaren‘ die Forschungsrichtung erfolgreich legitimieren? Und wer wären diese Sonderlinge, eben doch nur all jene, die ‚verkehrt‘ sind, ‚verkehrt‘ aussehen oder ‚verkehrt‘ begehren bzw. „nicht ins gängige Hetero-Schema passen“? Um Legitimität im universitären Umfeld musste vor 20 Jahren auch noch die Genderforschung kämpfen. Heutzutage ist sie in das Lehrprogramm vieler Disziplinen integriert. Wenn wir die Parallele also zulassen, ist absehbar, dass im kommenden Jahrzehnt auch hinsichtlich der Queer- 3 Volker Woltersdorf alias Lore Logirrhöe: Queer Theory und Queer Politics. In: UTOPIE kreativ, H. 156 (Oktober 2003), S. 914 - 923, S. 916. Gemeint ist hier folgender Aufsatz: Teresa de Lauretis: Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities. In: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 3, 2 (1991), S. III- XVIII. 4 Lutz Hieber-/ Paula-Irene Villa: Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA. Bielefeld 2007, S. 8. <?page no="12"?> 11 1. Der Begriff forschung akademische Akzeptanz für die Relevanz dieser Forschung geschaffen sein könnte. Während jedoch in den letzten 20 Jahren zahlreiche literaturwissenschaftliche Einführungen in die Gendertheorie erschienen sind, hat es für Queer Studies im Kontext der Literaturwissenschaft noch keine vergleichbare Publikationsflut gegeben. Prägend für die studentische Auseinandersetzung mit den Gender Studies war der 1998 erschienene Band „Einführung in die feministische Literaturwissenschaft“ von Jutta Osinski, 5 der die Paradigmen einer genderorientierten Textanalyse vorstellte, die sich in den Jahren danach auch in der Praxis ausdifferenzierten. In gewisser Weise lassen sich Queer Studies auch als eine Ausdifferenzierung von Gender Studies verstehen. Besonders im Umgang mit literarischen Texten kann es einen queeren Blick immer nur dort geben, wo ein Verständnis von Gender herrscht, oder anders ausgedrückt, er setzt eine Kenntnis grundlegender Gendertheorie voraus. Nach der Definition von Annamarie Jargose ist eine Begriffsbestimmung von ‚queer‘ unmöglich, ja gerade die Unbestimmtheit des Begriffs sei für die Theorie wesentlich. 6 Diese Aussage einem Einführungsbuch voranzustellen, mag einige Leser*innen bereits jetzt abschrecken. Dass Begriffe niemals völlig eindeutig sein können, ist zwar eine sprachphilosophische Prämisse, um jedoch als Wissenschaftlerin mit einem Begriff erfolgreich arbeiten zu können, ist der Hinweis auf die Elastizität seines semantischen Gehaltes nicht ausreichend. Jargoses vage Definition wird uns allerdings bei aller Mühe um Präzision wieder einholen. Sie meint damit, dass ‚queer‘ eher als eine kritische Denkbewegung denn als ein festes Konzept zu verstehen ist. Diesen Befund müssen wir akzeptieren. Widersetzt sich dieser Befund der Aussicht, Queer Studies erfolgreich in die akademischen Disziplinen zu integrieren? Wenn wir den Begriff ‚queer‘ bibliographieren, bleiben wir nicht ohne Ergebnisse. Ja mehr noch, es gibt bereits Publikationen, die eine bildungswissenschaftliche Bestandsaufnahme des Forschungsfeldes darstellen. 7 Queertheoretische Forschung ist demnach kein Phantasma, sondern hat Eingang in akademische Praxis gefunden, aber aus dem Blickwinkel des Studierenden lässt sich diese Forschungsrichtung schwer systematisieren. Bezogen auf unseren spezifischen Gegenstand stellt sich die Frage: Wie können wir Texte queeren? 5 Vgl. Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin 1998. Zahlreiche weitere Texte sind erschienen, die in der aktuellen Genderdiskussion von Bedeutung sind. Ich kann hier nur eine kleine Auswahl nennen: Vera Nünning- / Ansgar Nünning [Hg.]: Erzähltextanalyse und Gender studies. Stuttgart 2004; Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008; Christina von Braun- / Inge Stephan [Hg.]: Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. 3., überarb. und erw. Aufl. Köln-/ Weimar-/ Wien 2013. In diesem Buch gibt es auch eine Auseinandersetzung mit Queer Studies von Sabine Hark (ebenda, S. 449 - 470), ebenso wie bei Sigrid Nieberle: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt 2013, S. 113 - 118. Der folgende Band sammelt Basistexte der Gendertheorie und ist daher auch als Einführungsbuch in Queer Studies durchaus gut geeignet: Franziska Bergmann-/ Franziska Schößler-/ Bettina Schreck [Hg.]: Gender studies. Bielefeld 2012. 6 „Allerdings muß sich seine Bedeutung nicht einfach nur festigen oder klarer herausbilden, denn gerade die Unbestimmtheit, die Elastizität ist ihm wesentlich.“ Annamarie Jargose: Queer Theory - Eine Einführung, S. 13. 7 Vgl. Elke Kleinau-/ Dirk Schulz-/ Susanne Völker [Hg.]: Gender in Bewegung. Aktuelle Spannungsfelder der Gender und Queer Studies. Bielefeld 2013. <?page no="13"?> 12 Einleitung An dieser Stelle soll versucht werden, die deutsche Forschungsdiskussion um Queer Studies in Hinsicht auf einen literaturwissenschaftlichen Anspruch, den wir mit ihnen stellen können, zu umreißen. Dieser Einblick in die Forschungsdiskussion kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ähnlich wie der Begriff selbst ist auch seine Diskussion elastisch. In diesem Studienbuch sollen Angebote gemacht werden, wie wir als Literaturwissenschaftler*innen mit queer praktisch etwas anfangen können. Die Frage, wie wir Texte queeren, soll in dieser Einführung daher nicht theoretisch beantwortet, sondern an Textbeispielen vorgeführt werden. Aus diesem Grunde entwickle ich auch die Forschungsdiskussion aus der Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin, die literarische Texte queer lesen möchte. In den Sozialwissenschaften haben die Queer Studies einen größeren Einfluss als in den Philologien. Es gibt ein Bewusstsein für das Theoriefeld des Queeren. Soziolog*innen wie Sabine Hark haben sich darum verdient gemacht, den Begriff im deutschen Kontext zu etablieren. 8 Eine sozialwissenschaftliche Einführung wurde von Nina Degele bereits 2008 vorgelegt. 9 Sie ist informativ, bietet für die Arbeit an literarischen Texten allerdings keine Perspektiven. Queer Studies stellen eine Analysemethode dar, die wir als eine transatlantische Disziplin verstehen müssen, das heißt die Ursprünge der Forschungsrichtung liegen im angloamerikanischen Bereich. Die Texte, die die Basis für diese Theorie schaffen, sind, bis auf wenige Ausnahmen, englischsprachig. Einige dieser Texte sind noch nicht aus dem Englischen übersetzt. Die Auseinandersetzung im deutschen Sprachraum beginnt daher meist mit einer Umschreibung von Konzepten, die Wissenschaftler*innen im angloamerikanischen Raum entwickelt haben. Es wäre unzulässig zu behaupten, dass soziologische Auseinandersetzungen mit der englischsprachigen Theoriewurzel nur im Wiederkäuen bestünden, doch oft vermittelt sich der Eindruck eines Mangels an Originalität. Jargoses Einführung ist eines der ersten deutschen Bücher, die den Begriff ‚queer‘ explizit im Titel verwenden. Auch hier handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Band kam bereits 1996 in der Originalsprache heraus, wurde daraufhin 2001 ins Deutsche übertragen und erschien 2017 in der 3. Auflage. Die Autorin ist Professorin in Neuseeland und eine anerkannte LGBT-Aktivistin. Queer Studies stammen zwar aus den Queer Politics, müssen jedoch nicht nur von Aktivist*innen dieser Szene betrieben werden. Es lässt sich allerdings auch für Deutschland konstatieren, dass queeres Denken im Kontext der LGBT-Bewegung aufkam und Wissenschaftler*innen, die sich dafür einsetzten, dieser Szene zugeordnet werden. 10 ‚LGBT‘ wird im politischen 8 Vgl. Sabine Hark: Queer Interventionen.- In: Feministische Studien 11/ 2 (1993), S. 103 - 109; Sabine Hark: Heteronormativität revisited. Komplexität und Grenzen einer Kategorie. Vortrag anlässlich des 1. LSBTI* Kongresses der Hirschfeld-Stiftung. www.zifg.tu-berlin.de/ menue/ team/ sabine_hark/ materialien_zum_download/ (letzter Zugriff 11.2.2019). 9 Vgl. Nina Degele: Gender/ Queer Studies: Eine Einführung. Paderborn 2008. 10 Dies bringt der Theorie oft den Vorwurf ein, Nischenphänomen für eine ‚bestimmte Gruppe‘ von Menschen zu sein, die aus ihrer Betroffenheit heraus agieren. Dieser Vorwurf ist unzutreffend. Er dient dazu, Unwissenschaftlichkeit zu unterstellen. Die Kritisierten wiederum vermuten, in den Vorwürfen würde sich eine latente Homophobie ausdrücken. Es fällt auf, dass es auf studentischer Ebene diese Vorwürfe nicht gibt. <?page no="14"?> 13 1. Der Begriff Kontext verwendet, um die monolithische Bezeichnung ‚homosexuell‘ abzulösen. Genau diese Entwicklung können wir in den letzten beiden Jahrzehnten feststellen. Unter LGBT verstehen wir lesbian (lesbische), gay (schwule), bisexuelle und Transgenderidentitäten. Es gibt in Deutschland auch die Abkürzung LSBTTIQ oder LSBTTIQPA+, die transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Identitäten mit benennen möchte und sogleich durch die absurde Länge der Buchstabenreihung das Konzept von Identitätslogik verwirft, indem sie queere Identitäten multipliziert. Die Theorie bietet eine Möglichkeit, sexuelle Orientierung und das Körpergeschlecht zu hinterfragen. Der Impuls, sich mit der Queertheorie auseinanderzusetzen, beruht bei vielen prominenten Vertreter*innen auf einem politischen Kampf um Akzeptanz für diverse sexuelle Identitäten. Insofern ist es kein Wunder, dass gerade die Gesellschaftswissenschaften Queertheorie erfolgreich in ihr Curriculum integriert zu haben scheinen. Queere Begriffskritik wurde aus einem gesellschaftskritischen Anspruch heraus geboren, Akzeptanz für Personen zu schaffen, die sich im Modell der Zweigeschlechtlichkeit nicht repräsentiert fühlen. Bedingung für die Auseinandersetzung mit dieser Theorie ist jedoch keineswegs eine Identifikation mit den in der Abkürzung benannten Identitäten. Warum auch? Da das Queere gerade den Reiz des Unbestimmten hat, darf sich jeder Mensch in diesem Konzept repräsentiert fühlen. Queer ist ein Begriff, mit dem sich „fächerübergreifend das Themenfeld Sexualität und Geschlechterverhältnisse theoretisch bearbeiten [lässt].“ 11 Er bezeichnet somit eine Denkbewegung, eine kritische Haltung zum vorherrschenden Geschlechtssystem. Diese Kritik setzt nicht voraus, dass der oder diejenige, welche/ r die Kritik übt, das vorherrschende System für sich persönlich als unerträglich begreift. Menschen, die glücklich heterosexuell leben, sind ebenso befähigt wie berechtigt, „das Themenfeld Sexualität und Geschlechterverhältnisse“ umfassend zu kritisieren. Die eigene Geschlechtsidentität bestmöglich und auffällig als queer lesbar zu machen, ist nicht Bedingung für die Auseinandersetzung. Queerforschung ist inklusiv, nicht exklusiv. Um queer zu denken, muss die Denkende in ihren persönlichen Ausdrucksformen nicht mit allen Vorstellungen von Geschlecht brechen, nach denen gelebt wird. Gebrochen werden muss jedoch mit dem Vorurteil, dass bestimmte geschlechtliche Identitäten und sexuelle Präferenzen auf fragloser Basis die Norm bilden und dass andere Vorstellungen, die dieser Normativität widersprechen, abgegrenzt oder gar für unnatürlich erklärt werden dürfen. Insofern wäre es falsch zu behaupten, dass der queer denkende Mensch nicht von den Grenzen, die unsere Geschlechtsnorm setzt, tangiert werden müsse oder gar dürfe, um Queer Studies betreiben zu können, denn diese Grenzen sind universell bedeutsam und gültig. Jedes Subjekt, egal wie es sich nennt und versteht, ist davon betroffen. Die Norm beherrscht uns alle, weshalb auch die Kritik dieser Norm jede Person etwas angeht. Die Geschlechternorm, die das sexuelle Begehren zwischen Mann und Frau privilegiert und sich dabei auf patriarchalisch generierte Vorstellungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ beruft, wird als ‚Heteronormativität‘ bezeichnet. Sie steht im Fokus der Kritik. Die Kritik der Heteronormativität ist ein philosophischer Anspruch, den wir als neukantianisch bezeichnen können. Sie fordert unsere Geschlechterlogik heraus und erforscht den Geltungs- 11 Vorwort zur deutschen Ausgabe: Annamarie Jargose: Queer Theory, S. 7 - 12, S. 7. <?page no="15"?> 14 Einleitung bereich von Theorien über ‚Geschlecht‘ und ‚Sexualität‘ kritisch. Bei der Queertheorie geht es darum, die verborgenen Kräfte und Vorstellungen zu hinterfragen, die Geschlechtsidentität bedingen. Geschlechtsidentität und sexuelles Begehren beruhen auf Denkmustern und Dynamiken, die keineswegs selbstgewählt sind, sondern in die wir uns, mehr oder minder erfolgreich, einfügen. Die Freiheit, auch die geschlechtliche Freiheit, eines Menschen kann nur darin bestehen, sich über die Bedingungen seiner Weltorientierung, und in diesem Fall seiner sexuellen Orientierung, klar zu werden. Das, was wir authentisch zu begehren glauben, ist eingebunden in eine Geschichte und zwar in eine, die Heterosexuelle seit Langem dazu ermächtigt, sich als ‚normaler‘ zu empfinden als Menschen, die andere Begehrensformen ausleben oder deren Geschlechtsidentität nicht eindeutig ist. Diese Privilegierung allerdings beruht auf einer Ausblendung der Vielgestaltigkeit des Geschlechtlichen und des Begehrens. Zu glauben, dass Toleranz und intellektuelle Offenheit uns davon abhalten, von dem heteronormativen System geprägt zu sein, wäre naiv. Die Denkräume, die Queertheorie öffnet, sind, wie bei jeder Kritik an bestehenden Mythen und Begriffen, zugleich vage und einladend. Vage ist Queertheorie insofern, als sie sich keiner festen Paradigmen bedienen kann, also das, was wir in den Texten suchen, nicht vorher schon offenkundig ist. Ausgeblendete Phänomene aber sichtbar zu machen und die prinzipielle Offenheit dieser Theorie, die sich für Jargose als so signifikant erweist, bilden zugleich den Reiz der Theorie. Für welchen Menschen könnte diese kritische Denkbewegung uninteressant sein und, was im Zusammenhang dieser Einführung ebenso bedeutend ist, für welchen Text kann die Hinterfragung der sexuellen Orientierung seiner Figuren nicht eine erhebliche Lektürehilfe eröffnen? Sicher ist, wie bei allen Theorien und Methoden, nicht jeder Text gleichermaßen dafür geeignet, ihn mit der Brille der Queer Studies zu untersuchen. Bestimmte Texte, in denen die Liebesbeziehungen oder die sexuellen Verwicklungen ihrer Figuren im Vordergrund stehen, bieten sich für queeres Denken gewiss besser an als Texte, in denen andere Inhalte dominieren. Es ist aber ein Kurzschluss zu glauben, dass die Texte, für die sich Queer Studies als Methode besonders eignen, immer von den offenkundig aus dem Heterosystem Ausgestoßenen handeln müssten. In einem Aufsatz über neue Entwicklungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft stellt Eveline Kilian Queer Studies zwar als Instrumentarium für diese Art von Texten vor, indem sie eine Transsexuellenautobiographie, einen Text einer Transgenderaktivistin und eine Textcollage, die für ein fluides Identitätskonzept plädiert, analysiert. Queer Studies an diesen Gegenständen anzuwenden ist sofort einleuchtend, so dass der Aufsatz gut lesbar und seine Argumentation schlüssig ist. Dass sich aber bestimmte Texte geradezu für eine queere Analyse anbieten, soll nicht heißen, dass der Erkenntnisgewinn, der durch Queer Studies erzielt werden kann, nur auf ein Textkorpus beschränkt bleiben darf. Für eine queere Analyse eines Textes muss nicht vorausgesetzt werden - was der zitierte Aufsatz auch gar nicht behauptet -, dass die Protagonist*innen bewusst den Versuch unternehmen, Geschlecht und Identität neu zu denken. 12 12 Vgl. Eveline Kilian: Gender Studies und Queer Studies: Neuere Entwicklungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt. Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Hrsg. von Ingrid Hotz-Davies-/ Schamma Schahadat. Bielefeld 2007, S. 79 - 98. <?page no="16"?> 15 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung Sie rechnet mit der Möglichkeit eines Textbegehrens, das sich in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren artikuliert. 13 Mir scheint aber das Vorurteil weit verbreitet zu sein, dass Texte queer zu lesen nur dann als sinnvoll erachtet wird, wenn sich in diesen Texten ein queeres Begehren deutlich artikuliert. Deshalb werde ich eine Breite von literarischen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts vorstellen, die nicht per se schon in einem paradigmatischen Zusammenhang mit queerer Identität stehen, denn in diesem Einführungsbuch soll queeres Denken sich als ein Lektüreschlüssel empfehlen, der keine marginalisierte Existenz verdient, der allerdings auch nicht andere Methoden zwangsläufig in die zweite Reihe zu verdrängen trachtet. Queeres Denken ist für Literaturwissenschaftler*innen deshalb so inspirierend, weil sich die meisten literarischen Figuren deutlich als Objekte von mythischen Geschlechtervorstellungen zu erkennen geben, die jedoch im Laufe der Erzählung immer wieder gebrochen und unterlaufen werden. Das Queere ist etwas, das sich permanent mitteilt, aber eben nur derjenigen Person sichtbar ist, die es sehen will/ kann. Die Voraussetzung für eine queere Lektüre besteht darin, die Systemblindheit abzulegen. In einer queeren Analyse eines Textes muss es nun darum gehen, die unterschwelligen, leisen Stimmen zum Sprechen zu bringen, die sich als Unterwanderung der Heteronormativität lesen lassen. Queer Studies bestehen auch für uns als Literaturwissenschaftler*innen in Heteronormativitätskritik. Ohne diesen Begriff sind wir kaum in der Lage, die Beziehungen in den Blick zu nehmen, die ausgeblendet werden. Haben wir mit ‚Heteronormativitätskritik‘ ein Konzept, das klarer denotiert ist als ‚queer‘? 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung Die Philosophin und Rhetorikprofessorin Judith Butler (* 1956) gilt als Begründerin der Queertheorie. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Begehrens ist ihre Publikation Gender Trouble 14 aus dem Jahr 1990. Sie erschien bereits 1991 unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter auf Deutsch. Butlers „Unbehagen“ wurde zum Kultbuch, das eine breite, meist auch sehr kritische Rezeption anstieß. Die Schrift erschien nun schon in der 19. Auflage. Es gibt zahlreiche Einführungen in ihr Werk und Judith Butler gilt auch in unserem Fach bereits als „Klassiker[in] der modernen Literaturtheorie.“ 15 20 Jahre nach Erscheinen der den Queerdiskurs begründenden Publikation wurde die Autorin in einer deutschen Philosophiezeitschrift im Rückblick auf die damals bahnbrechenden Thesen befragt. Ich zitiere eine lange Passage des Interviews, weil diese meines Erachtens in den Kern queeren Denkens einführt. 13 Andreas Kraß: Queer Studies - eine Einführung. In: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2003, S. 7 - 30, S. 22. 14 Vgl. Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York [u. a.] 1990, in dt. Auflage: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991. 15 Vgl. Andreas Blödorn: -Judith Butler. In: Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Hrsg. von Matías Martínez-/ Michael Scheffel. München 2010, S. 385 - 406. <?page no="17"?> 16 Einleitung Ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ handelt von der Frage, wie sexuelles Begehren und geschlechtliche Identität entstehen - eine Frage, die für Sie fundamental für das Verstehen von Kultur ist. Können Sie das erklären? Zunächst steht Kultur für mich immer im Plural. Wir müssen uns viele Kulturen denken. Doch in fast jedem kulturellen Kontext kommt die Frage auf, ob eine geschlechtliche Festlegung Vorbedingung für kulturelle Teilhabe ist. Muss jemand als Mädchen oder Junge etabliert sein, um in einer bestimmten Kultur verständlich oder erkennbar zu werden? Einige indianische Kulturen haben das Konzept eines dritten Geschlechts. Oder mancherorts bestehen Kategorien für hermaphroditische Menschen. Eine Frage, die mein Buch aufwarf, ist, ob wir im vorherrschenden Gesellschaftsmodell von jemandem eine lesbare geschlechtliche Identität verlangen, um sie oder ihn als Menschen anzuerkennen. Damit wird die Geschlechtsidentität zu einer kulturellen Voraussetzung für das Menschsein. Sie versuchen in Ihrem Buch zu zeigen, dass unsere geschlechtliche Identität als Mann oder Frau keineswegs natürlich ist. Wie ist das zu verstehen? Gibt es nicht ganz offensichtlich biologische Unterschiede? Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt. Zum Beispiel sagen Leute zu mir: „Frauen können Kinder gebären, Männer nicht - ist das kein Unterschied? Das leugnen Sie doch nicht! “ Die eigentliche Frage ist aber: Es gibt viele Frauen, die nicht gebären können oder nicht wollen - behaupten wir, sie seien keine Frauen? Wenn wir sagen, Frauen unterscheiden sich von Männern durch diese Fähigkeit, es sich aber herausstellt, dass diese Fähigkeit nicht wesentlich dafür ist, wer sie sind, dann befinden wir uns in einem kulturellen Akt: Wir setzen eine kulturelle Norm der Reproduktion zur Bestimmung eines biologischen Unterschieds fest. Es lässt sich nicht wirklich sagen, was in dieser Debatte biologisch ist und was kulturell. 16 Mit diesen Aussagen stehen wir im Zentrum der Heteronormativitätskritik. Denn wenn die Geschlechtsidentität in „kulturelle Deutungsmuster verstrickt“ ist, gilt das auch für das Begehren. Auch ihm ist im Sinne Butlers keine Natürlichkeit zuzuschreiben, denn diese Zuschreibungen unterstehen „einem kulturellen Akt“. 16 Heterosexualität ist ein Phantasiebild. Judith Butler im Gespräch. Die Adorno-Preisträgerin über Geschlecht, Begehren und die fundamentale Fragilität des Lebens. In: Philosophiemagazin 01 (2013). S. 64 - 69, S. 64. <?page no="18"?> 17 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung Heteronormativität ist ein zentraler Begriff der Queer Theory, mit dem Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht nur die auf Alltagswissen bezogene Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen, kritisiert wird, sondern auch die mit Zweigeschlechtlichkeit und (ehevertraglich geregelter) Heterosexualität einhergehenden Privilegierungen und Marginalisierungen. 17 Unter ‚Heteronormativität‘ versteht man die diskursive Abdrängung des same-sex-desire, also des gleichgeschlechtlichen Begehrens, als einer devianten, somit normwidrigen Erscheinung. Die Norm, dass Menschen das jeweils andere Geschlecht sexuell zu begehren haben, vermittelt zwar den Anschein der Natürlichkeit, in dem Sinne, dass Heterosexualität ‚naturgewollt‘ bzw. ‚naturentsprechend‘ sei, baut aber auf Prämissen auf, die kulturell vermittelt diesen Anschein des Natürlichen herbeiführen. So gilt es beispielsweise als natürliche Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt. Wie die Interviewaussage Butlers zeigt, herrscht bei Genderkonstruktivist*innen die Überzeugung vor, dass diese faktisch so evident scheinende Tatsache kulturell bedingt ist. In der englischen Sprache lässt sich das Geschlecht eines Menschen mit zwei unterschiedlichen Begriffen bezeichnen. ‚Sex‘ wird als das biologische Geschlecht verstanden, ‚Gender‘ als die sozial-geschlechtliche Rolle. Im Deutschen können wir diesen Unterschied nur als biologisches oder soziales Geschlecht benennen. Es wird im Allgemeinverständnis davon ausgegangen, dass ein biologisches Geschlecht eine soziale Rolle nach sich zieht. Die Rolle sei vielleicht partiell veränderbar, die ihr zugrundeliegende Natur nicht. Das allerdings wird aus konstruktivistischer und queerer Perspektive bestritten. In der Argumentation für einen ‚Wahrheitsanspruch der Natur‘ wird die Möglichkeit bereits ausgeblendet, dass Menschen intersexuell geboren werden oder in der Pubertät hermaphroditisch werden können, also sexuelle Merkmale des anderen Geschlechts ausbilden. Diese Menschen lassen sich bereits ‚biologisch‘ nicht eindeutig im System der Zweigeschlechtlichkeit verorten. Die als Wahrheit geltende Prämisse, man/ frau werde entweder als Frau oder als Mann geboren, blendet auch das Phänomen aus, dass einigen Menschen ein biologisches Geschlecht, in der Gendertheorie mit dem Begriff ‚Sex‘ bezeichnet, also die Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zwar attestiert wird, diese Personen sich aber in ihrem Rollenverhalten (Gender) entgegen der für sie gültigen 17 „Der Begriff Heteronormativität dient zur Analyse und Kritik der Verflechtung von Heterosexualität und Geschlechternormen, mit denen Macht-, Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse einhergehen […]. Der Neologismus ‚heteronormativity‘ (Warner, 1991, S. 14) tauchte erstmalig in Michael Warners Aufsatz ‚Introduction: Fear of a Queer Planet‘ auf […].-Ausgehend von dem Befund, dass die Sozialtheorie lange Zeit Sexualität als gesellschaftliche Institution ausgeblendet hat, schlägt Warner vor, Heterosexualität als eine grundlegende Kategorie sozialtheoretischer Analysen zu denken, um damit Kritik am Privileg einer heterosexuellen Kultur üben zu können […].“ Bettina Kleiner: Heteronormativität. In: Gender Glossar (2016). Verfügbar unter: https: / / gender-glossar.de/ glossar/ item/ 55-heteronormativitaet (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="19"?> 18 Einleitung Geschlechtsnorm verhalten. Dies kann so weit gehen, dass sie die an sie gestellte Rollenerwartung provokativ brechen, indem sie sich deutlich den Rollenerwartungen unterwerfen, die für das Geschlecht gelten, dem sie begrifflich nicht angehören. Wie Eveline Kilians Analysen darlegen, gibt es in der Literaturgeschichte Beispiele für diese Phänomene. Ob es dabei um Transsexualität geht, also das Bestreben unter Zuhilfenahme eines operativen Eingriffs und hormoneller Therapie eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen, um Travestie, also den Wunsch, sich nach Normen des anderen Geschlechts zu kleiden und zu stilisieren, oder ob wir weniger auffällige Erscheinungen wie betont burschikose Mädchen und feminin erscheinende Männer, die um 2000 sogar ein Männlichkeitsideal verkörperten, im Blick haben - dieses Wissen kann wenig daran ändern, dass wir an unseren medizinischen, juristischen, sozialen Vorstellungen von ‚naturgegebener‘ Zweigeschlechtlichkeit festhalten. Das tun wir, obwohl auch aus der Biologie Stimmen laut werden, die die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit kritisch erforschen und empirisch widerlegen. 18 Die Hinterfragung der Zweigeschlechtlichkeit und die Heteronormativitätskritik sind keine geisteswissenschaftlichen Blüten, die sich betont von den Naturwissenschaften abgrenzen. Doch weiterhin operiert unsere Vorstellung von Geschlechtern mit einer Kette von sozialen Erwartungen und biologistischen Vorurteilen. Judith Butler bezeichnet das kulturelle Geschlechterarrangement, das zwei Geschlechter als sich gegenseitig ausschließende Pole als Norm setzt, als ‚heterosexuelle Matrix‘. 19 Von einem biologisch als Mann geltenden Menschen erwarten wir, dass er sich männlich verhält - ein schweres Unterfangen, weil die Vorgaben darüber, was als ‚männlich‘ gilt, nicht eindeutig sind - und seiner Natur gemäß Frauen zu begehren hat. Für einen biologisch als Frau geltenden Menschen gilt im Umkehrschluss dasselbe. Eine Frau soll sich weiblich verhalten, was noch um Einiges schwieriger ist, weil die Rollenstereotype von Weiblichkeit noch kurzlebiger und kontextabhängiger als die von Männlichkeit sind, eingedenk der Tatsache, dass die feministischen Wellen ebenfalls deutlich dazu beigetragen haben, ‚Weiblichkeit‘ als Rollenvorgabe zu kritisieren. Nichtsdestotrotz gelten bestimmte Vorschriften für sie, nach denen reziprok von ihr erwartet wird, dass sie ihr Begehren auf einen Mann richtet. Eine Geschlechtsidentität setzt sich also aus den Kategorien ‚Sex‘ (biologisches Geschlecht), ‚Gender‘ (soziales Geschlecht, also geschlechtliches Rollenverhalten) und ‚Desire‘ (Begehren des anderen Geschlechts) zusammen. Diese Kategorien müssen kohärent sein, um eine mit der heterosexuellen Matrix in Einklang stehende Geschlechtsidentität zu bilden. Das heterosexuelle Begehren wird auch mit einem weiteren Totschlagargument verteidigt: Neben dem Verweis auf die Existenz von zwei Geschlechtern dient der Hinweis, dass sich die- 18 Vgl. dazu: Heinz-Jürgen Voss: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive. 3. Aufl. Bielefeld 2011. 19 „Die Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität (gender) als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet. Diese Differenzierung vollendet sich durch die Praktiken des heterosexuellen Begehrens. Der Akt, die beiden entgegengesetzten Momente zu differenzieren, führt dazu, daß sich jeder der Terme festigt bzw. jeweils eine innere Kohärenz von anatomischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren gewinnt.“ Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 46. <?page no="20"?> 19 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung se männlichen und weiblichen Wesen (man bedenke allerdings ‚nur‘ unter bestimmten Umständen) erfolgreich fortpflanzen können, als Fundament der Heteronormativität. Sexualität diene hauptsächlich der Fortpflanzung und mit diesem moralischen Diktum schreibt man den Geschlechtern ein ‚naturgewolltes‘ Begehren zu. Die kulturelle Norm der Reproduktion sorgt dafür, dass wir ein kinderloses heterosexuelles Paar für ‚natürlicher‘ halten als ein homosexuelles Paar, das Kinder hat, weil wir nämlich die Reproduktion, die nur heterosexuell erfolgen kann, als eigentliche Ursache der Paarbildung deklarieren, selbst dort, wo (heterosexuelle) Paare weder Kinder haben können noch wollen. Wenn wir gegen die (angebliche) Natur begehren, gilt dies vielleicht (zumindest in der säkularisierten Kultur, in der wir aufgewachsen sind) nicht mehr als Sünde, aber doch als ‚abnorm‘. Da sich die meisten Menschen tolerant wähnen, wird die Lebensform zwar akzeptiert, doch auch für so manchen Toleranten bleibt Homosexualität dem Wortsinn nach ‚abwegig‘. Die 2017 im Bundesrat verabschiedete ‚Ehe für alle‘ ist zwar ein Meilenstein für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen. Sie ändert jedoch nicht sofort unser Begriffssystem. Die Tatsache, dass Menschen, die das eigene Geschlecht begehren, keine prokreative Sexualität mit der begehrten Person leben können, also eine Sexualität, die primär dem Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft unterstellt ist, wurde in unserer Kultur als festes Zeichen dafür gedeutet, dass die Natur ‚wünscht‘, dass Männer eben nur Frauen begehren (natürlich die ‚richtigen‘, also gebärfähigen und -willigen) und andersherum. Diese Logik ist jedoch inkonsistent. Wenn die Natur so klug ermäße und einen Schöpfungswillen hätte, wie kann sie zeugungsunfähige Männer, unfruchtbare Frauen oder Menschen ohne Kinderwunsch hervorbringen? Wieso verlangt es Menschen auch unabhängig von einem Kinderwunsch nach Sexualität? Wären diese sexualfreudigen, aber kinderlosen Menschen nicht ebenso von Mangelhaftigkeit gekennzeichnet wie intersexuell geborene Menschen, was sie ähnlicher, wenn auch nicht gleich starker Diskriminierung aussetzen müsste? Ist es ein Verrat an der Natur, ein Kind mit einem anderen Menschen großzuziehen als mit dem Menschen, mit dem es gezeugt wurde? Sind alte Menschen, die keinen prokreativen Geschlechtsverkehr mehr haben können, in ihrer Sexualität auch naturwidrig? Halten wir es für legitim, wenn sie noch Begehren spüren oder äußern? Dürfen Menschen, die keine Kinder wollen, eigentlich jemanden ‚begehren‘? Im 19. Jahrhundert wäre die Frage in Bezug auf Frauen sofort verneint worden. Anständige weibliche Wesen hätten überhaupt kein sexuelles Begehren zu haben, allein ihr unumstrittenes Schicksal, von Gott oder Natur zur Mutterschaft berufen zu sein, zwänge sie, Sexualität über sich ergehen zu lassen. Eine aktiv begehrende Frau wäre im 19. Jahrhundert ebenso suspekt wie im 20. Jahrhundert eine Frau, die kein körperliches Begehren kennt. Sowohl die hier gestellten Fragen als auch die historischen Kontextualisierungen erweisen sich bereits als queere Intervention, weil sie an der Logik rütteln, dass Sexualität nur vom prokreativen Sexualakt und nur von der Zweigeschlechtlichkeit aus gedacht werden kann und dass rein lustbetonte Sexualität, sowohl heteroals auch homosexueller Art, eigentlich nur ein Derivat dessen sei, was Natur ‚ursprünglich‘ vorgibt. Bereits heterosexuelle kontrazeptive Sexualität gewinnt bei näherer Betrachtung nach dieser Logik den Anschein des Unnatürlichen. Faktisch betrachtet denken und begehren wir natürlich nicht so fortpflanzungsgerichtet, wie die an der Reproduktion orientierte Logik suggeriert, selbst wenn immer wieder popu- <?page no="21"?> 20 Einleitung lärwissenschaftliche Thesen aufkommen, in denen unsere Bindung an andere Menschen mit der Fortpflanzungsorientierung erklärt und durch recht absurd anmutende Annahmen belegt werden. Ich will für diesen Diskurs, der vor allem Frauen auf ihren Status, Kinder gebären zu können, vereidigt, ein Beispiel geben. Vor ca. 10 Jahren wurde im populärwissenschaftlichen Kontext breit diskutiert, wie sich die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel auf die weibliche Partnerwahl auswirke. Es wurde die These aufgestellt, dass die Zugabe von Hormonen die Frauen von ihrem eigentlichen ‚Beuteschema‘ ablenke. Statt maskuliner Männer, die sie natürlicherweise eigentlich begehren, würden sie sich für femininere Männer begeistern, da ihre Psyche hormonell verblendet sei. In der Diskussion dieses Themas wird fraglos Sex als Gender gelesen, das heißt die Definition dessen, was als maskuliner (begehrenswerter) Mann und was als femininer (vom Standpunkt des natürlichen Instinkts weniger begehrenswerter) Mann gilt, obliegt allein der äußerlichen Wahrnehmung. Den Frauen, die mit der Pille verhüten, werde durch ihren Körper eine Schwangerschaft vorgegaukelt. Das führe dazu, dass sie nun keine maskulinen Partner wählen, sondern ‚weiblichere‘, ‚verweichlichtere‘ Typen bevorzugen würden. Ihre Hormonverneblung brächte eine Frau dazu, im Hinblick auf den Wunsch, ihre Nachkommen mit einem verlässlichen Mann aufzuziehen, die Objekte ihrer sexuellen Wahl zu ändern. Abgesehen von der latenten Männerfeindlichkeit dieser These, die impliziert, dass die ‚richtigen Männer‘ allein für den Sexualakt, also als ‚Samenspender‘ für Frauen interessant seien, aber für das Leben danach die weniger männlichen Typen vorgezogen werden müssten, stützte sich das Argument der Dominanz des Gender im biologischen Diskurs um Sex auf Folgendes: Obwohl es sich eigentlich um eine biologisch begründete These handeln soll, die über ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ im Sinne von Sex reden möchte, wird doch beim Überdenken dieser Thesen klar, dass, wenn Frauen angeblich verfälscht begehren, sich dieses (falsche) Begehren bloß auf der Ebene von Gender zeigen kann. So heißt es etwa in der „Süddeutschen“: Unvernebelt, also ‚biologisch richtig‘, begehren Frauen Männer mit „ausgeprägten Gesichts- und Körperformen.“ In der Phase, in der die Pille eingenommen wird, „[s]tehen sie sonst eher auf ausgleichende, harmoniebedürftige Partner.“ Nur ohne Pille „schätzen sie […] aggressivere, konkurrierende Typen, die den Frauen selbst nicht ähnlich- sind.“ 20 In anderen Texten, die diese Studie referierten, wurden diese „Gesichts- und Körperformen“ als kantiges Kinn, die hormonvernebelt begehrten Männer als jene mit zarterem Aussehen benannt. Ganz bewusst habe ich ein seriöseres Medium als die Frauenzeitschrift zitiert, die mich als Erstes über die bahnbrechende Erkenntnis unterrichtete, denn auch ohne dass wir blumigere Erläuterungen über die intrinsisch begehrenswerte Männlichkeit brauchen, die eher einem Groschenroman denn einem Wissenschaftsreport entsprechen würden, sehen wir, dass das Sprechen über ‚rein biologische‘ Phänomene bereits im kulturellen Kontext verankert ist. Sowohl die Vorstellung, was ausgeprägt männliche „Gesichts- und Körperformen“ sind, die sich, wie wir wissen, durchaus nach Moden ändern können, als auch die Annahme, dass 20 Werner Bartens: Vernebelter Instinkt: Hormone beeinflussen bei Frauen Begehren und die Wahrnehmung von Männern. Suchen sich Frauen, die mit der Pille verhüten, die falschen Partner aus? Süddeutsche Zeitung, 8.10.2009. www.sueddeutsche.de/ leben/ pille-und-partnerwahl-vernebelterinstinkt-1.29489 (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="22"?> 21 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung Aggression und Konkurrenz urtypisch männlich sind, während Harmoniebedürftigkeit und Ausgeglichenheit bei Männern bereits als Degenerationserscheinung gelesen werden kann, verdeutlicht, dass der Begriff vom richtigen männlichen Partner ebenso kulturell geprägt ist, wie der Begriff des Begehrens heteronormativ gesetzt ist. Argumente, die das sexuelle Verhalten auf den Reproduktionswillen zurückführen, halten sich nicht so streng an die Biologie wie es scheinen mag. Die fragwürdigen Thesen artikulieren sich innerhalb der heterosexuellen Matrix. Mir geht es in diesem Beispiel darum, zu zeigen, dass wir tatsächlich auch im Alltag unsere Aussagen über die Biologie kulturell und damit auch heteronormativ verortet haben. Die Folie, vor der diese Thesen entstanden sind, ist, dass Frauen ‚richtige Männer‘ begehren, die ihnen „selbst nicht ähnlich-sind“; wenn das Begehren aber gestillt ist, weil der Körper sich nun hormonell im Zustand einer Schwangerschaft befindet, scheinen gerade diese begehrenswerten Männer nicht als die Väter zu taugen, die Frauen zum Lebenspartner wählen würden. So seien die armen, hormonell verhütenden Frauen in ihrem natürlichen Begehren gehemmt und entschieden sich gegen die Männer, denen das ‚Mannsein‘ auf den Leib geschrieben ist. Die Entscheidung, dass der richtige, also authentisch zu begehrende Mann über „ausgeprägte Gesichts- und Körperformen“ verfügen müsste, trifft aber nicht die Biologie, sondern die Kultur. In einem 2008 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Mann, was sind wir hart nimmt Franziska Bergmann einen im Sommer 2007 erschienenen FAZ-Artikel unter die Lupe. Der provokante Artikel Das arme Arschloch des Mannes von Baltazar Castor, der „mit althergebrachten Rollenbildern ab[rechnet]“ 21 , bringt die Autorin dazu, „das weitestgehend unhinterfragt existierende Tabu der sexuellen Penetration des heterosexuellen männlichen Körpers“ 22 als Ausdruck heteronormativer Kategorien aus kulturhistorischer Sicht zu überdenken. Sie bezieht sich dabei auf die in der Männlichkeitsforschung zu einem Primärtext gewordene zweibändige Publikation Klaus Theweleits 23 aus den 1970er Jahren, in der die Männlichkeitskonzeption eines gepanzerten, soldatischen Männerkörpers kritisch beleuchtet wird. Um in die heterosexuelle Matrix zu passen, untersteht der männliche Körper einer klaren Körpergrenze. 24 Diese Grenze ist durch ein „Penetrationsverbot“ geschützt, was der Autor des FAZ-Artikels als kulturelles Vorurteil kritisiert. Bergmann geht in ihrer Analyse aber so weit, das Penetrationsverbot nicht als Verblendung, sondern als fest verankerte Tatsache in unseren heteronormativen Vorstellungen männlicher Körperkonzepte zu erklären. Sowohl 21 Franziska Bergmann: „Mann, was sind wir hart! “ - Eine queer-feministische Analyse geschlechts-differenzierter Körpergrenzen. In: queere (t)ex(t)perimente. Hrsg. von ders. u. a. Freiburg 2008, S. 57 - 64, S. 57. 22 Ebenda, S. 59. 23 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt am Main 1977. 24 Die queertheoretische Kritik deckt sich mit Thesen der Gendertheorie. Der weibliche Körper gilt in der Moderne als fremdbestimmt, der männliche als ein geschlossenes System. „Während Frauen in erster Linie auf die Fähigkeit des Gebärenkönnens festgelegt werden und ihr Körper als Gefäß für das potentielle oder reale Kind entworfen wird, wird der Männerkörper zum geschlossenen und gedrillten Panzer.“ Martina Löw: Der Körperraum als soziale Konstruktion. In: Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag. Hrsg. von Margarete Hubrath. Köln u. a. 2001, S. 211 - 222, S. 216. <?page no="23"?> 22 Einleitung die Körperwahrnehmung als auch die sexuellen Praktiken werden im heteronormativen Denken begrenzt und normiert. Die Monita, die aus queerer Überlegung gegenüber den Alltagsweisheiten vorgebracht werden können, führen jedoch nicht dazu, den ‚Sinn‘ von Sexualität zu überdenken. Würde die Queertheorie anstelle der Prokreativität nun das Lustargument setzen, bliebe sie derselben Gesetzmäßigkeit verhaftet, die Sexualität mit einem natürlichen Sinn ausstattet. Ist aber nicht der ‚Sinn‘ unserer Sexualität schon längst kulturell überformt? Es geht darum, die Norm und ihre ‚Natürlichkeit‘ in Frage zu stellen, nicht darum, eine andere Norm des vielleicht besseren Begehrens, einer besseren Geschlechtsidentität (Sex), besseren Genders zu entwerfen, sondern zu zeigen, wie der uns so authentisch anmutende Bereich der Sexualität, wie auch unsere Körper (nicht bloß der Geist) und das dingliche Begehren dieser Körper, kulturellen Mechanismen unterliegen. Diese Mechanismen sind so wirkungsmächtig, dass sie den Blick auf eine darunter liegende Natur völlig verstellen. Kein/ e Queertheoretiker*in verleugnet Natur. Aus queertheoretischer Perspektive ist sie, wie das Ding an sich bei Kant, eben einfach nicht sichtbar, denn obwohl sich Heteronormativität auf Natur beruft, ist sie auf einen mächtigen argumentativen Unterbau angewiesen, der die Vorstellung von Natürlichkeit als das Wahrhaftige in Stand setzt. Dieser Unterbau kann in der Analyse von literarischen Texten immer wieder ins Wanken gebracht werden. Die Beschäftigung mit literarischen Texten kann einer queeren Kritik ebenso dienlich sein wie die Forschungen in empirischen Wissenschaften. Zu widersprüchlich sind die herrschenden Gendervorstellungen, als dass sie nicht permanent Uneindeutigkeiten hervorrufen würden. Interessanterweise bringen auch Texte das Phantasiebild der Heterosexualität ins Wanken, die diese eigentlich affirmieren. Die heterosexuelle Matrix entfaltet ihre Macht, indem sie die Annahme von der Existenz zweier Geschlechter mit der Fiktion verknüpft, dass sich Männer und Frauen nicht nur in ihrer körperlichen Erscheinung, sondern auch in ihrem Auftreten, quasi per Natur, unterscheiden würden. Es gehört schon zu den Grundannahmen des Egalitätsfeminismus, dass die sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau kulturell produziert worden sind. Wir manifestieren auf vielen sozialen, kulturellen und politischen Ebenen die Vorstellung von einer einander andersgearteten weiblichen und männlichen Physis/ Psyche. Es besticht durch eine sozusagen faktische Evidenz, dass Männer und Frauen sich unterscheiden, und es erscheint uns manchmal bequem und schmeichelhaft, diese Vorstellung selbstherrlich und blind zu bedienen. Dass diese Unterschiede jedoch als biologisch verankert betrachtet werden können, stellt Butler - und mit ihr die Queertheorie - in Frage. Sie lehnt es ab, die phänomenologische Gegensätzlichkeit der Geschlechter, also die sexuelle Differenz, in den biologischen Bereich zu verschieben. Queertheoretiker*innen sehen ‚Sex‘ und ‚Gender‘ nicht als etwas, das einfach so ist, sondern werten die Geschlechterdifferenz als (kulturell gewachsene), als gewordene Erscheinung. Ist das naiver Idealismus? Diese Frage stellten sich viele kritische Stimmen nach Erscheinen von Gender Trouble, und zwar nicht nur diejenigen, die einer konservativen Geisteshaltung zu verdächtigen sind. Mutet das, was Butler postuliert, nicht einfach viel zu kontra-intuitiv an, weil wir ja ständig die Geschlechterunterschiede vor Augen haben und nach ihnen leben <?page no="24"?> 23 2. Heteronormativitätskritik als queere Denkbewegung (müssen und wollen)? Ist es nicht so, dass wir bereits, wenn wir das stille Örtchen aufsuchen, mit unserer Geschlechterdifferenz konfrontiert werden? Ist das bestreitbar? Butlers Argumente postulieren keineswegs eine Nichtexistenz des Körperlichen, sondern sie verweisen darauf, dass wir die Geschlechterdifferenz nur kulturell vermittelt wahrnehmen können: 25 Die Radikalität dieser Position löste vor allem in der deutschen Butler-Rezeption eine vehemente Debatte aus, die sich auf den Status des Körpers in seiner unhintergehbaren Materialität konzentrierte. Dazu ist zu bemerken, dass Butlers Konstruktionsgedanke die Materialität des Körpers keineswegs leugnet, wie manchmal behauptet. Vielmehr geht es ihr darum zu zeigen, dass der dem Individuum vorgängige, auf Zweigeschlechtlichkeit basierende Geschlechterdiskurs als Regulativ fungiert, das nur solche Arten von Materialisierung hervortreten lassen kann, die innerhalb dieses Diskurses lesbar sind. 26 Das biologische Geschlecht ist kulturell determiniert, weil die Interpretation bestimmter Organe als primäre Geschlechtsorgane bereits eine kulturell vorgegebene Praxis ist. „Als Ort kultureller Interpretationen ist der Körper eine materielle Realität, die bereits in einem gesellschaftlichen Kontext lokalisiert und definiert ist.“ 27 Lehrt uns die Sorge um die hormonelle Verneblung nicht genau das, was Butler hier behauptet? Die Queertheorie fragt, wie diese Unterschiede als Vorspiegelungen einer unterstellten natürlichen Wahrheit von Geschlechterdifferenz kulturell hervorgebracht und vermittelt werden, und geht davon aus, dass der Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit nicht biologisch, sehr wohl aber begriffslogisch festzumachen sei. Demnach wäre es durchaus denkbar, dass es Gesellschaften geben könnte, die ihre Geschlechter in ein Dreier- oder Vierermodell einordnen und dass es ebenso viele Erscheinungen unserer Kultur gibt, die dem Zweigeschlechtermodell zuwiderlaufen, aber sprachlich missachtet, nicht ernst genommen und so in ein diffuses Außen abgedrängt werden. Auf analytischer Basis betrachtet ist die binäre Geschlechterdifferenz Ausdruck des binär geordneten Denksystems unserer Kultur. Das Denken in sich ausschließenden Gegensätzen (schwarz vs. weiß, hoch vs. tief oder eben männlich vs. weiblich) bestimmt die abendländische Denkstruktur. Diese Denkstruktur ist auch im Bereich des Sexuellen derart fundamental, dass sie die Aufteilung der Geschlechter in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ ebenso nachhaltig prägt. Doch gerade in diesem Bereich zeigt sich, dass die binären Begriffe ‚Mann‘/ ‚Frau‘ oft unzulänglich sind, weil sie einer Vielfalt des Geschlechtlichen kaum gerecht werden, ja dass auffallen muss, wie wir in einer Denkstruktur verharren, die kaum plausibel und empirisch widerlegt ist. 25 Deshalb wählte Judith Butler ganz gezielt auch als Replik auf die Fragen, die nach Gender trouble an sie gerichtet wurden, für die drauffolgende Veröffentlichung den Buchtitel Bodies that matter [Körper von Gewicht], um der Gewichtigkeit des Körpers Rechnung zu tragen und um mit dem Begriff ‚matter‘ den Begriff der Materie bewusst ins Spiel zu bringen, der den Vorwurf des naiven Idealismus aushebelt. Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Berlin 1995 [engl. Orig. Bodies that matter. On the discursive limits of ‚sex‘; 1993]. 26 Eveline Kilian: Gender Studies und Queer Studies, S. 83. 27 Judith Butler: Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault. In: Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik. Hrsg. von Gertrud Nunner-Winkler. Frankfurt am Main 1991, S. 56 - 76, S. 64. <?page no="25"?> 24 Einleitung Wie kann es sein, dass „die Wissenschaft“ als Begründungsinstanz mit der Unterstellung gerade heilsbringender Vergewisserung für die immer wieder perpetuierte „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität herhalten muss (und dies teilweise auch bereitwillig tut), während genau diese (Natur-, Sozial und Geistes-) „Wissenschaft“ regelmäßig und produktiv den Blick auf das „Geschlecht“ verkompliziert - sieben Jahrzehnte nach Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe und fünf Jahrzehnte nach Stonewall? 28 Die Frage spiegelt zwei Jahrzehnte nach Butlers Gender Trouble dasselbe ungläubige Erstaunen gegenüber dem Beharren auf einer „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität“ wider, die den genderkonstruktivistischen Thesen damals noch entgegengehalten wurde. Das Beharren auf „Zweigeschlechtlichkeit“ scheint auch aus studentischer Sicht überholt. Das zeigt mir meine bisherige Lehrerfahrung. Wenn Studierende ihr erstes Seminar zu Queer Studies belegen, ist es nicht selten so, dass zwanzig Jahre intellektueller Auseinandersetzung auf 14 mal 2 Semesterwochenstunden komprimiert werden müssen. Öffnet sich der Erkenntnisweg, wird plötzlich das, was erst so unplausibel erschien, offenkundig. Zu viele Texte widerlegen die Heteronormativität. Wenn es für einige Studierende erst einmal eine intellektuelle Hürde darstellen kann, die Zweigeschlechtlichkeit produktiv zu hinterfragen, mutet hingegen den Studierenden, die sich bereits länger mit Gender beschäftigt haben, das Phantasma einer sich stetig bewährenden Heterosexualität, die vorbildlich in einer „hierarchisch-sphärengetrennten Kleinfamilie“ gelebt wird, „empirisch unsinnig“ an. 29 Sie stimmen mühelos in den Ton der queer Denkenden ein. Um nicht gnadenlos betriebsblind mit Judith Butler als Gewährsfrau des Queeren zu operieren, schränke ich die Wiedergabe ihrer Thesen, die seit den 1990er Jahren in fast jedem Buch, das sich mit Gender auseinandersetzt, nachzulesen sind, auf die zentralen Aspekte ein. Ich möchte an dieser Stelle einen Text für das Selbststudium vorschlagen. Der Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault 30 eignet sich dafür gut. Während Gender Trouble ohne vorherige Kenntnis der Theorie auf Deutsch schwer zu rezipieren ist, ist dieser Aufsatz auch für Leser*innen ohne Vorkenntnisse als Einstieg zu empfehlen. Hier benennt Butler einige ihrer denkerischen Wurzeln, die auch immer in Einführungstexten zu Gender Studies referiert werden. Wie Simone de Beauvoir (1908 - 1986) 31 schon in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts darlegte, werde man nicht als Frau geboren, sondern durch systematische Erziehungsprozesse zu dem sozialen Wesen ‚Frau‘ gemacht. Diese Erkenntnis radikalisiert die Philosophin Butler mit ihrer Behauptung, dass die Projektion der sozialen Zuschreibungen (Gender) auf den Körper der Frau erst das natürliche Geschlecht (Sex) als eine wie auch immer geartete prädiskursive Figur erschaffen würde, die 28 Gero Bauer-/ Regina Ammicht Quinn-/ Ingrid Hotz-Davies: Einleitung. Geschlechter und Sexualitäten in Theorie und Empirie. In: Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Hrsg. von dens. Bielefeld 2018, S. 7 - 12, S. 7. 29 Ebenda. 30 Vgl. Judith Butler: Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault, S. 56 - 76. 31 Vgl. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Neuübersetzung aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Hamburg 1992. <?page no="26"?> 25 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft aber selbst jenseits der Gendervorstellung keine Essenz, ja keinen Raum hätte. Die Kultur macht eine Frau also nicht nur sozial, sondern auch biologisch zur Frau, denn ursprünglich für die Geschlechtszuschreibung einer Person sei Gender. Die sozial erworbene Rolle einer Person bestimmt deren Geschlecht (auch im Sinne von Sex), obwohl man es gemeinhin andersherum betrachtet. Besonders hervorzuheben ist in Butlers Theorie der Begriff der Performativität. Damit ist die darstellerische Realisierung der jeweiligen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau gemeint. Nicht die Natur verleihe demnach den Menschen ihr Geschlecht, sondern die zwanghafte und doch oftmals zum Scheitern verurteilte performance vermittelt die Identität eines Menschen. Sie lässt das Geschlecht erscheinen. Der Begriff stammt aus der Theatersprache. Es ist jedoch nicht so, dass eine einmalige Aufführung der Geschlechtsidentität genüge, um als Mann oder Frau ‚durchzugehen‘ (was im Englischen als passing bezeichnet wird), sondern dass Geschlecht ständig zur Vorstellung gebracht wird. Diese Vorstellung der sozial erworbenen Rolle geht Sex voraus. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung benennt Butler mit der rhetorischen Figur der Metalepsis. Dies ist für uns Literaturwissenschaftler*innen sehr spannend. Barbara Vinken fasst Butlers Thesen so zusammen: Die Metalepsis produziert als rhetorischen Effekt eine vorausliegende Ursache, als deren Wirkung sie sich darstellt. Metaleptisch produziert gender das Geschlecht (sex), als dessen Konsequenz es auftritt. Die Metalepsis funktioniert, um einen verwandten Effekt zu zitieren, wie Roland Barthes’ „effect de réel“; dessen „Realismus“ ist nichts der Abbildung Vorhergehendes, sondern ebenfalls erst Effekt der Darstellung, Effekt einer bestimmten Rhetorik. 32 Die Bezugnahme auf den Semiotiker Barthes zeigt, dass wir uns in einem genuin literaturwissenschaftlich zu erforschenden Bereich bewegen. Texte sind angereichert mit Vorstellungen von Geschlecht, die keine universelle Gültigkeit haben, die oft widersprüchlich sind sowie unbeständig und dennoch vermögen sie, das Geschlecht real werden zu lassen. Nur über die Wahrnehmung der sozialen Rolle, sei es in der sozialen Realität oder im literarischen Text, sprechen wir den Personen ein Geschlecht zu, welches wir jedoch als biologische Tatsache verstehen. Die Queerforschung in Deutschland entstand durch die Rezeption von Butlers Thesen und in dem Versuch, diese Thesen an geeigneten Gegenständen nachzuvollziehen. 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft Queerforschung besteht für Literaturwissenschaftler*innen unter anderem darin, die Performanz der Figuren zu prüfen und herauszufinden, inwieweit die Figuren auch eine andere als die rein heteronormative Auslegung zulassen. Sie rekurriert dabei nicht auf die Natur und auch nicht auf eine übergeordnete Wahrheit. Wir interessieren uns als Philolog*innen selbstverständlich nicht für die Biologie der literarischen Figuren, denn wie sähe ein Chromosom einer fiktionalen Gestalt auch aus? Wenn wir über Geschlecht reden, reden wir allemal über die geschlechtlichen Rollen. Wie bereits eingangs erwähnt, hat das breite Theoriegeflecht, das 32 Barbara Vinken: Der Stoff, aus dem die Körper sind. In: Neue Rundschau 104 (1993), H. 4: Den Körper neu denken. Gender studies, S. 9 - 22, S. 18 [Hervorhebung im Original]. <?page no="27"?> 26 Einleitung Queer Studies eröffnen, auch den Ruf obskur und unseriös zu sein. Daher haben wir in den Literaturwissenschaften keine Publikationsflut und es gibt in mancher Hinsicht eine gewisse Scheu vor queerem Denken. Wie sieht die Forschungsdiskussion in der deutschen Philologie aus? Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gehört die queere Textarbeit in den Theorierahmen des Poststrukturalismus, aus dem sich die entnaturalisierte Geschlechtertheorie der Rhetorikprofessorin Butler speist. 33 Poststrukturalistische Textarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass es ihr nicht darum geht, etwas wie die ‚Wahrheit‘ und die ‚Wesentlichkeit‘ der Dinge zu artikulieren, sondern gerade die Annahme, dass es etwas Letztgültiges überhaupt geben könne, zu kritisieren. Begriffe haben keine festen Bedeutungen, scheinbar feste Semantiken werden im Gebrauch ständig unterlaufen. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930 - 2004), der Begründer der wissenschaftlichen Methode ‚Dekonstruktion‘, hat dieses Scheitern eindeutiger Signifikation u. a. in seiner einflussreichen Schrift „Grammatologie“ 34 thematisiert, die 1983 erstmals auf Deutsch aufgelegt wurde. Neben ihm gilt der Diskurstheoretiker (bzw. der Begründer dieser wissenschaftlichen Methode) Michel Foucault (1926 - 1984), dessen Augenmerk darauf gerichtet ist, wie Wissen, das oft nur mangelhaft generiert ist, dennoch als ‚wahr‘ zu gelten vermag und Macht über die Subjekte ausübt, als ein wegweisender poststrukturalistischer Denker, auf dessen Prämissen Queertheorie aufbaut. Michel Foucault versteht auch ‚Sexualität‘ als ein kulturelles Konstrukt, das durch Diskurse hervorgebracht wird. Diskurse prägen das menschliche Verständnis von Realität über Gegenstände alle Art. Sie sind sprachlich, indem sie Definitionen liefern, operieren aber auch auf nicht sprachlicher Ebene. Foucaults Texte, so zum Beispiel Der Wille zum Wissen 35 , sind seit den 1980er Jahren im deutschen Sprachraum breit rezipiert und in vielen Auflagen publiziert worden. Sie haben in der Literaturwissenschaft einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Während in den 1990er Jahren poststrukturalistische Literaturwissenschaft als mondän galt, wird der Begriff heute nicht mehr als gängiges Schlagwort gebraucht. Es mag sogar rückständig klingen, sich als ‚Poststrukturalistin‘ zu bezeichnen. Der Poststrukturalismus lebt jedoch in vielen geisteswissenschaftlichen Methoden, so auch der Gender- und Queertheorie, weiter. Sein kritischer Anspruch ist nicht passé. Der Verzicht auf einen letztgültigen Wahrheitsanspruch und die Hinterfragung der Machtstrukturen sind für die queere Lektüre kennzeichnend. Die Wiener Literaturwissenschaftlerin Anna Babka, die auch Leiterin der Forschungsstelle „Queer-reading in den Philologien“ an der Wiener Universität ist, zeigt in ihrem Band Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie (mit Gerald Posselt) die Genese der Queertheorie im literaturwissenschaftlichen Bereich. 36 In einer älteren Publikation Queer Reading in den Philologien, herausgegeben mit Susanne Hochreiter, wird das Theoriekonzept durch einzelne Aufsätze erklärt. Dort werden aber auch Beispiele 33 Vgl. Gerhard Härle: Queer Studies. In: Metzler Lexikon Literatur. Hrsg. von Dieter Burdorf-/ Christoph Fasbender-/ Burkhard Moenninghoff. Stuttgart 2010, S. 624. 34 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main 1983. 35 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main 1983. 36 Vgl. Anna Babka-/ Gerald Posselt: Gender und Dekonstruktion. Wien 2016. <?page no="28"?> 27 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft für eine Umsetzung der Theorie geliefert. 37 In meiner Einführung verzichte ich darauf, die Genese der Queertheorie aus den poststrukturalistischen Theorien zu explizieren. Stattdessen werde ich versuchen, konkret an Texten zu arbeiten, was aber durchaus als ‚Dekonstruktion‘ und ‚Queer Reading‘ der Texte firmieren kann. Wo können wir eine theoretische Vorstellung von einem ‚Queer Reading‘ gewinnen, um zur Praxis vorzustoßen? Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf den 2003 erschienenen, bereits zitierten Einführungsband Queer denken von Andreas Kraß. 38 Der Autor zählt zu den prominenten Kritiker*innen der Heteronormativität im germanistischen Bereich. 39 In diesem Band sind viele grundlegende Texte für die literaturwissenschaftliche Arbeit zusammengestellt. Diese Publikation ermöglichte es den Germanistikstudierenden des neuen Jahrtausends, Queer Studies in ihrem Fach umzusetzen. Es empfiehlt sich jedoch, auch sein jüngeres Buch Ein Herz und eine Seele in die Hand zu nehmen, um die Heteronormativitätskritik durch eine Geschichte der Männerfreundschaft expliziert zu sehen. Kraß zeigt dort, dass sich das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität zwischen Männern im Laufe der Zeit nicht als homogen erweist. 40 Der Gegenstand der Untersuchung ist ein heterosexueller, nämlich die (homosoziale) Freundschaft unter heterosexuellen Männern, aber Kraß’ queerer Blick auf diese hochgelobte seelische Bindung unter Männern verdeutlicht, dass sie bestimmter diskursiver Strategien bedarf, die sexuelle Dimension zu leugnen oder fernzuhalten. Keine literaturwissenschaftliche Einführung in ein Queer Reading bietet eine simple Anleitung, deren Vorgaben eins zu eins nachgeahmt werden können, um zum gewünschten Erfolg zu führen. Dieser Umstand trifft natürlich auch auf andere Methoden zu, erweist sich für Queer Studies allerdings als sehr prägnant. Bei der Etablierung eines eigenen queeren Blickes, also der Anwendung der Theorie in der Praxis, erscheint er Studierenden meiner Erfahrung nach als besonders hohe Hürde. Ich gehe davon aus, dass die meisten Studierenden, die sich der Theorie öffnen, diese auch zu überblicken vermögen, sich jedoch nicht sofort zutrauen, selbst einen Text queer zu lesen. Um diese Fähigkeit auszubilden, müssen wir uns bewusst machen, dass in den Queer Studies zwar einerseits die Entnaturalisierung von Genderidentitäten als grundsätzliche Prämisse gilt, dass aber andererseits die theoretischen Texte, die sich 37 Vgl. Anna Babka-/ Susanne Hochreiter [Hg.]: Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Göttingen 2008. 38 Vgl. Andreas Kraß [Hg.]: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Frankfurt am Main 2003. Vgl. auch: Ders. [Hg.]: Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur Kritischen Heteronormativitätsforschung. Berlin 2009. 39 Vgl. Andreas Kraß: Queer lesen: Literaturgeschichte und Queer Theory. In: Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Hrsg. von Therese Frey Steffen- / Caroline Rosenthal- / Anke Väth. Würzburg 2004, S. 233 - 248; ders.: Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies). In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Hrsg. von Christiane Ackermann-/ Michael Egerding. Berlin- / Boston 2015, S. 317 - 348; ders.: Rolle rückwärts? Eine Kritik der Kritik der Kritischen Heteronormativitätsforschung (Queer Studies). In: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 172. Zit. 4. November 2017. www.lili.uni-siegen.de/ ausgaben/ 2013/ lili172. html? lang=de#krass (letzter Zugriff 11.2.2019). 40 Vgl. Andreas Kraß: Ein Herz und eine Seele. Eine Geschichte der Männerfreundschaft. Frankfurt am Main 2016. <?page no="29"?> 28 Einleitung damit beschäftigen, nicht unsere einzige Quelle und Inspiration darstellen. Bereits vor Butler (oder etwa zeitgleich) arbeiteten sich Philosoph*innen, Dichter*innen und Denker*innen an der Kategorie ‚Geschlecht‘ kritisch ab. Auch diese Forschung denaturalisiert die Heteronormativität, jedoch meist nicht auf sprachanalytischer Ebene, sondern durch historische Analysen. Die Arbeit einer queer denkenden, lesenden Literaturwissenschaftlerin besteht darin, eine Kontrastierung zur Norm in den Texten zu zeigen. Diese Arbeit beruht meines Erachtens auf zwei Wurzeln der Queer Studies. Zum einen verfügen wir über die theoretische Basis, die nicht nur, aber doch hauptsächlich, mit dem Namen Judith Butler verbunden ist und für die der 1991 eingeführte Begriff ‚queer‘ generaliter verwendet wird. Sie würde ich als die sprachkritische, sprachphilosophische (oder auch poststrukturalistische) Basis des Queeren bezeichnen, die im akademischen Rahmen zum „Sammelbegriff für einen neuen kritisch theoretischen Zugang“ 41 systematisiert wurde. Daneben gibt es aber auch eine phänomenologische Wurzel der Queer Studies, die von all jenen Wissenschaftler*innen gepflanzt wurde, die sich am Gegenstand der Literatur mit den vielschichtigen, nicht heteronormativen Erscheinungsformen von Geschlecht und Begehren befasst haben. Diese prä-butlerschen (und in gewisser Weise prä-queeren) Studien, die vor den 1990er Jahren entstanden, werden meist der akademischen Disziplin der Gay and Lesbian Studies zugerechnet, weil sie zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als es den „Sammelbegriff “ ‚queer‘ als akademisches Konzept noch nicht gab. Einige Texte dieser Couleur gelten dessen ungeachtet als Klassiker der Queer Studies. Ich werde dafür einige Beispiele liefern. Diese methodische Quellensituation wurde in der deutschen Philologie nie systematisch reflektiert. Einige Klassiker des queeren Denkens sind noch nicht oder nur teilweise ins Deutsche übersetzt. Der Essay Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz der Lyrikerin Adrienne Rich (1929 - 2012) allerdings kann auch im deutschsprachigen Raum auf eine über 40jährige Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Er entstand im lesbisch-feministischen Kontext der USA der späten 1970er Jahre. Das englischsprachige Original Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence 42 wurde 1980 verfasst und 1986 in Richs Buch Blood, Bread, and Poetry: Selected Prose, 199 - 19 veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung kam 1983 heraus. 43 In diesem Essay wird der Begriff der Zwangsheterosexualität (compulsory heterosexuality) etabliert. Damit entnaturalisierte Rich das Konzept der Heterosexualität. Der Aufsatz setzt sich zum Ziel, alle etablierten Begründungen für weibliche Homosexualität, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden haben, zurückzuweisen. Da sowohl für Männer als auch für Frauen die Mutter die erste emotionale und erotische Bindung darstelle, hinterfragt Rich die 41 Volker Woltersdorf alias Lore Logirrhöe: Queer Theory und Queer Politics, S. 916. 42 Der Text ist im englischen Original online zugänglich unter http: / / users.uoa.gr/ ~cdokou/ RichCompulsory Heterosexuality.pdf (letzter Zugriff 11.2.2019). 43 Vgl. Adrienne Rich: Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz. In: Macht und Sinnlichkeit. Hrsg. von Dagmar Schulz. Berlin 1983, S. 138 - 168. Ich zitiere den Aufsatz aus diesem Band, der 1993 in der 4. erw. Aufl. erschien. Einer breiteren akademischen Öffentlichkeit wurde der Aufsatz durch die Publikation bei Suhrkamp zugänglich. Vgl. Adrienne Rich: Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Hrsg. von Elisabeth List-/ Herlinde Studer. Frankfurt am Main 1989, S. 244 - 281. <?page no="30"?> 29 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft herkömmliche Psychoanalyse und argumentiert dafür, dass für Frauen die Wahl eines homosexuellen Objekts eine ganz ‚natürliche‘ sexuelle Orientierung wäre, weil sich Frauen anderen Frauen gegenüber seit der Kindheit in einem lesbischen Kontinuum bewegen. Über dieses Konzept wird im Laufe dieses Buches noch zu sprechen sein. Seine Pointe besteht darin, dass weibliche Homosexualität, falls sie von Frauen als sexuelle Präferenz gewählt würde, keinesfalls eine Diskontinuität in der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsidentität bedeute, da die Liebe zu einer anderen Frau eine Konstante in der weiblichen Sozialisation darstelle. Der lesbische Feminismus, in dem die Frauenliebe als Wahl und nicht als pathologisch bedingte Not gelebt wurde, ist durch Richs Essay inspiriert und beglaubigt worden. Der Essay hat auch 40 Jahre nach seiner Entstehung nichts an seiner inspirativen Kraft, Beziehungen unter Frauen neu zu denken, verloren. Die Thesen sind allerdings eng in einen bestimmten politisch-feministischen Kontext eingebunden und zeigen sich nicht mehr in jeder Hinsicht als zeitgemäß. So ist nicht auszuschließen, dass in der heutigen Gegenwart Väter für die Kinder eine ähnlich bedeutende Rolle einnehmen, die damals nur den Müttern zugebilligt wurde, was Zweifel an der These aufkommen lässt, dass ausschließlich die Mutter die erste erotische Bindung eines Mädchens darstellt. Dieses Studienbuch widmet Richs Essay ein eigenes Kapitel, in dem gezeigt wird, dass sich ihre Thesen für die literaturwissenschaftliche Arbeit weiterhin als durchaus fruchtbar erweisen. Die Philosophin Monique Wittig (1935 - 2003) denkt noch radikaler als Rich, indem sie die Verbindung zwischen ‚weiblichem Geschlecht‘ und ‚Heterosexualität‘ hinterfragt. Ihre These besteht darin, dass der Begriff ‚Frau‘ nur in einem patriarchalisch heterosexuellen System gesetzt ist, sodass Frauen, die diesem heterosexuellen Konzept widersprechen, indem sie Männer als erotische Wahl zurückweisen, auch aus dem Begriff fallen. Während Adrienne Rich […] zwar Heterosexualität, nicht aber Geschlecht, entnaturalisiert, geht Monique Wittig (1992) weiter und hinterfragt die Verbindung zwischen Geschlecht und Heterosexualität. Mit ihrem Zitat „lesbians are not women“ (Wittig, 1992, S. 32) führt sie die Subjektposition der Lesbe (lesbian) affirmativ als widerständige an. Lesben seien deshalb keine Frauen, weil ‚Frau‘ nur innerhalb des heterosexuellen Regimes Bedeutung habe […]. 44 Während Adrienne Richs Essay in diesem Studienbuch noch eine Rolle spielen wird, beziehe ich mich auf Monique Wittig nicht explizit. Judith Butler geht in dem von mir als Lektüreeinstieg vorgeschlagenen Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault auf diese Denkerin ein. Kleiner zitiert die französische Philosophin Wittig nach dem Band-The Straight Mind and Other Essays, der 1992 erschien. Der Text The Straight Mind selbst wurde jedoch bereits 1980 das erste Mal auf Englisch veröffentlicht. Eine weitere wichtige, auch in diesem Studienbuch prominent gemachte Klassikerin des queeren Denkens ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick (1950 - 2009). Übersetzungen ihrer Texte ins Deutsche sind noch nicht vollständig, im Sammelband von Andreas Kraß Queer Denken ist sie mit dem Aufsatz Epistemologie des Verstecks 44 Bettina Kleiner: Heteronormativität. In: Gender Glossar-/ Gender Glossary. <?page no="31"?> 30 Einleitung vertreten. 45 In ihrem Buch Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire (1985) 46 stellt Sedgwick dar, wie sehr die Kultur durch die homophobe Unterdrückung gleichgeschlechtlicher Beziehungen geformt ist. 47 Ihre Thesen, die in diesem Studienbuch fruchtbar gemacht werden, basieren auf der Analyse von Romanen des 19. Jahrhunderts und den in diesen Texten verhandelten Männerbeziehungen. Sedgwick hat den Begriff des homosozialen Begehrens in den Genderdiskurs eingeführt. Er ermöglicht es, die affektive und emotionale Seite gleichgeschlechtlicher Beziehungen von der sexuellen Seite zu unterscheiden, was für Männerbeziehungen eine große Rolle spielt. Das Patriarchat des 19. Jahrhunderts verurteilt nämlich Homosexualität unter Männern ebenso streng, wie es Homosozialität unter Männern fördert und privilegiert. Sedgwicks Analysen stellen männliche Homophobie und den männlichen Umgang damit in den Vordergrund, indem sie zeigen, wie die gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern vermieden und heterosexualisiert wird, obwohl zwischen Männern (between men) ein homosoziales Begehren besteht. Wie Sedgwick diese Strategie, Homosexualität über ein trianguläres Begehren zu vermeiden, theoretisiert, werde ich in einem späteren Kapitel zusammenfassen. Andreas Kraß geht in seinem bereits erwähnten Band über Männerfreundschaft historisch weiter zurück. Er dokumentiert, wie sich erst im Verlauf der letzten Jahrhunderte die Homophobie so etablieren konnte, dass Sedgwicks Differenzierung greift, die Kraß in seiner Untersuchung ebenfalls verwendet. 48 Die Literaturwissenschaftlerin Terry Castle (* 1953) fokussiert die historischen Erscheinungsformen weiblicher Homosexualität, die zwar tabuisiert und ausgeblendet werden, sich jedoch anders als die der Männer seit Jahrhunderten stetig artikulieren würden. 49 Ihre Analyse ist weder ins Deutsche übersetzt noch im germanistischen Bereich rezipiert worden. Es liegt uns jedoch eine deutsche Übersetzung historischer Analysen von Frauenbeziehungen aus dem anglistischen, amerikanistischen Bereich vor, die als reiche Quelle für die Entnaturalisierung der Heterosexualität und als ein Nachweis der historisch-kulturellen Dimension von ‚Geschlecht‘ in diesem Studienbuch Erwähnung finden muss. Lilian Fadermans (* 1940) Studie untersucht Frauenfreundschaften von der Renaissance bis zur Gegenwart (1981). Zwar kann auch in diesem Fall nicht von einer bereiten akademischen Rezeption die Rede sein, doch Kraß erwähnt diese Studie und nennt sein Buch über Männerfreundschaft ein Gegenstück dazu. 50 Der Ansatz von Castle und Faderman unterscheidet sich insofern, 45 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemologie des Verstecks. In: Queer Denken. Hrsg. von Andreas Kraß, S. 113 - 143. Weitere übersetzte Texte sind: Queere Performativität. Henry James’ The Art of the Novel. In: Outside. Die Politik queerer Räume. Hrsg. von Matthias Haase. Berlin 2005, S. 13 - 37 und: Das Tier in der Kammer. Henry James und das Schreiben homosexueller Angst. In: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Hrsg. von Barbara Vinken. Frankfurt am Main 1992, S. 247 - 278. 46 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985. 47 Auszugweise im Sammelband Gender studies. Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English literature and male homosocial desire. In: Gender studies, S. 275 - 293. 48 Vgl. Andreas Kraß: Ein Herz und eine Seele. Eine Geschichte der Männerfreundschaft, S. 63. 49 Vgl. Terry Castle: The apparational lesbian. Female homosexuality and modern culture. New York 1993. Castle stellt eine Replik auf Sedgwick dar, hat die germanistische Debatte aber bisher nicht beeinflusst. 50 Vgl. Andreas Kraß: Ein Herz und eine Seele. Eine Geschichte der Männerfreundschaft, S. 15. <?page no="32"?> 31 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft als Erstere den Standpunkt vertritt, dass Homosexualität unter Frauen als Schattenbild stetig diskursiviert wurde, während die etwas ältere Forschung von Faderman dafür argumentiert, dass Frauenbeziehungen vor dem Aufkommen der Sexualwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts gerade nicht als sexualisiert galten. Surpassing the love of men 51 wurde 1981 in den USA und ein Jahr später in England veröffentlicht. Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft zwischen Frauen von der Renaissance bis heute im Jahr 1990. 52 Faderman verwendet den Begriff des Queeren selbstverständlich nicht. Sie thematisiert in ihrem Buch auch nicht die Unterscheidung von Sex und Gender. Ihre historische Diskursanalyse hat aber den Effekt, das Konzept einer festen geschlechtlichen Identität zu entnaturalisieren. Somit erweist sich ihre Studie als eine phänomenologische Wurzel für das queere Denken. Faderman präsentiert anhand von Textmaterial, dass bis zur Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) romantische Freundschaften zwischen Frauen nicht nur gang und gäbe waren, sondern zu einem Ideal erhoben wurden. Diese romantischen Freundschaften drückten sich als dermaßen starke affektive Bindungen aus, dass Faderman der Überzeugung ist, dass sie von ihren Zeitgenoss*innen (im späten 20. Jahrhundert) eindeutig als ‚lesbisch‘ klassifiziert werden würden. Diese Klassifikation ist jedoch historisch viel jünger als die Liebe unter Frauen. Das aus der Sexualwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts stammende Konzept war im 20. Jahrhundert so popularisiert worden, dass es die Vorstellungen über Frauenliebe dominierte. Die Literaturwissenschaftlerin argumentiert dafür, dass dieselbe Art von Beziehung in früheren Jahrhunderten (dem 19. beispielsweise) als im höchsten Maße anerkannt und wünschenswert galt, im 20. Jahrhundert dann aber geächtet und gesellschaftlich abgedrängt wurde. Das habe nichts damit zu tun, dass sich die Art der Beziehung geändert hätte, sondern der Blick auf Frauen wäre für die neue Bewertung ausschlaggebend gewesen, da diese durch den männlichen Blick zunehmend sexualisiert worden waren. Weibliche Sexualität galt als bedrohlich und musste begrifflich vereinnahmt werden. Nicht die Frauenbeziehung selbst bzw. deren politische Brisanz gab den Anstoß für die beginnende Ächtung, sondern der gewandelte, von nun an sexualwissenschaftlich fundierte Blick auf diese Art der Beziehung. Während die Liebe unter Frauen davor, wie die bürgerliche Frau an sich, als entsexualisiert galt, ganz unabhängig davon, ob die romantischen Freundinnen miteinander schliefen oder nicht, ist die Frau des postfreudianischen Zeitalters sexualisiert und begehrlich, was, wie die Autorin überzeugend darstellt, sich als Männerphantasie des späten 19. Jahrhunderts erweist. Zeichen von sexueller Gier wurden auf die frauenliebende Frau in besonders starkem Maße projiziert. Die Vorstellung der von ihrem unnatürlichen, gewaltsamen ‚lesbischen‘ Begehren irregeleiteten Frau ist ein Mythos, den die Sexualwissenschaft und der Alltagsdiskurs aus der misogynen Literatur französischer Provenienz übernahmen. Das Konzept der Lesbierin entstand also im Geiste der aufkommenden Furcht vor weiblicher Emanzipation und war eher literarisch als empirisch belegt, führte jedoch dazu, dass affektive Bindungen zwischen Frauen suspekt 51 Vgl. Lilian Faderman: Surpassing the love of men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present. New York 1981. 52 Vgl. Lilian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft zwischen Frauen von der Renaissance bis heute. Zürich 1990. <?page no="33"?> 32 Einleitung wurden. Gewandelte Vorstellungen von Gender und neue kulturelle Konstellationen führen im Fin de Siècle zum Wandel der Bewertung von affektiven Frauenbeziehungen. Das, was vor dem Ende des 19. Jahrhunderts unsichtbar, ja unbekannt war, wurde durch die aufkeimende Sexualwissenschaft ans Licht gezerrt bzw. ‚erfunden‘ und die weiblich-weibliche Zuneigung, die ihre Karriere als sozial erwünschte romantische Freundschaft begann, wurde im 20. Jahrhundert zur Perversion, Krankheit oder Neurose erklärt. 53 Die Normierung innerhalb der heterosexuellen Matrix bedeutete von nun an für Frauen, jeglichen Verdacht zu vermeiden, dass die Freundin begehrt würde. Eine etwas populärwissenschaftlichere Untersuchung Karin Lützens (* 1952) aus dem skandinavischen Bereich, die in der Originalsprache fünf Jahre nach Fadermans Untersuchung (1986) entstand und zwei Jahre nach Fadermans Text, im Jahr 1992, unter dem Titel Frauen lieben Frauen auf Deutsch erschien, zeigt dieselbe Karriere der Frauenliebe mit etwas anderen Quellen. 54 Lützen spricht in diesem Buch von Zwangsheterosexualität, durch die die affektive Energie unter Frauen gehemmt wird, ohne sich in ihren Thesen allerdings explizit auf Adrienne Rich zu beziehen. Die moderne Gesellschaft wurde heterosexualisiert - um nicht zu sagen, zwangs-heterosexualisiert. Das zuerkannte Begehren mußte sich auf Männer richten, sonst galt es als Abweichung, und nachdem das abweichende Begehren das Licht der Welt erblickt hatte, wurde das Zusammensein von Frauen nicht nur als „Mangel an Besserem“ betrachtet […], sondern als Brutstätte schwüler Homosexualität. 55 Die zwangsheterosexualisierte Frau des 20. Jahrhunderts, der sowohl der Zwang zur Sexualität als auch der Zwang, das Begehren auf Männer zu richten, postfreudianisch aufgegeben wurde, konnte ihre Zuneigung zu Frauen gar nicht mehr als romantische Freundschaft leben. Sie musste sich entweder als ‚homosexuell‘ und damit als deviant begreifen, was ihrer Liebe einen pathologischen Zug verlieh, oder durfte andernfalls ihr Begehren zum eigenen Geschlecht nur als Spielart, singuläre Verfehlung bzw. Verirrung bewerten, die keine Identitätsspuren zu hinterlassen habe. Die Definition der weiblichen Homosexualität zerstörte den romantischen Freundschaftsdiskurs. Gleichgeschlechtliches Interesse wurde im 20. Jahrhundert suspekt und ließ Rückschlüsse auf die Person zu, die als fehlgeleitet, frigide oder männerfeindlich angesehen werden konnte. 56 Sowohl Faderman als auch Lützen sehen den lesbischen Feminismus als ein Konzept, das mit der patriarchalen Definition des lesbischen Begehrens bricht, indem es diese Liebe historisch an den Diskurs um die romantische Frauenfreundschaft bindet. Damit wird diese Liebe entpathologisiert und erhält eine positiv konnotierte Begriffsgeschichte, zumindest aus der Perspektive der Frauen liebenden Frau. Die Perspektive der Gesellschaft 53 Wir werden uns später noch damit auseinandersetzen, dass die Sexualwissenschaft auch Diskurse produzierte, die einen emanzipatorischen Ansatz vertraten. Die Essentialisierung der Homosexualität verhinderte aber, dass gleichgeschlechtliche Liebe jenseits des Konzepts der Homosexualität wahrgenommen oder akzeptiert werden konnte. 54 Vgl. Karin Lützen: Frauen lieben Frauen. Freundschaft und Begehren. München 1992. 55 Ebenda, S. 214 [Hervorhebung im Original]. 56 Vgl. ebenda, S. 226ff. <?page no="34"?> 33 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft auf Lesben und lesbische Feministinnen blieb natürlich erst mal die, die das 20. Jahrhundert beherrschte. Die kritischen Wissenschaftlerinnen argumentieren durch ihre historischen Analysen überzeugend dafür, dass Frauen immer auch stark für das eigene Geschlecht empfunden hätten, dass allerdings der Blick des Mannes bzw. der patriarchalischen Gesellschaft diese Empfindung in bestimmten historischen Phasen als asexuell und wünschenswert, in der jüngeren Geschichte dagegen als übersexualisiert und verachtenswert definiert hat. Es war für eine Frau nicht ungewöhnlich […] ihre romantische Freundschaft als Mittelpunkt ihres Lebens zu sehen. Erst als sich die gesellschaftliche Rolle der Frau zu verändern begann und das, was sie tat, ernster genommen werden mußte […] änderte sich die Meinung über die romantische Freundschaft. Liebe zwischen Frauen - Beziehungen also, die sich gefühlsmäßig in nichts von der romantischen Freundschaft unterschieden - wurden zu etwas Bösen und Krankhaften. […] Im verbildeten 20. Jahrhundert war es für eine Frau, die eine Frau liebte, schlichtweg unmöglich, diese Liebe als romantische Freundschaft zu sehen - außer es gelang ihr, sich der modernen Psychologie, der Literatur, den Zoten völlig zu verschließen. […] Das änderte sich mit dem Aufschwung der Neuen Frauenbewegung. Nachdem Feministinnen die patriarchalische Kultur kritisch hinterfragt hatten, begannen sie in den siebziger Jahren auch mit den Tabus bezüglich der Liebe zwischen Frauen aufzuräumen. 57 Der lesbische Feminismus knüpft ideologisch an die Tradition der romantischen Freundschaft an, indem er die Frauenliebe als selbstverständliche Konsequenz einer weiblichen Situation und der paternalistischen Machtverhältnisse begreift. Beide Texte zeigen sich natürlich selbst in einer historisch-politischen Dimension verankert. ‚Lesbischer Feminismus‘ gilt im neuen Jahrtausend als fast ebenso anachronistisch wie das Konzept der romantischen Freundschaft. Fadermans Text allerdings gipfelt in einem Plädoyer, das wir durchaus als queeres Denken charakterisieren können. Durch dieses Plädoyer offenbart sie, dass ihrem Text bereits ein queerer literaturwissenschaftlicher Blick innewohnt, der in dem kommenden Kapitel privilegiert wird. In einer idealen Welt gäbe es keinen lesbischen Feminismus, der Beziehungen zu Männern militant ausschließt. Selbstverständlich gäbe es auch keine romantischen Freundschaften - wie sie Frauen früher haben durften - Beziehungen, in denen die Frauen sich fast alles sein konnten, für ihren Lebensunterhalt aber einen Beschützer brauchten. […] Es gäbe auch keine Bemühungen, weiblichen Wesen die Idee aufzudrängen, daß sie, um normal zu sein, die frühe Liebe, die sie für ihre Mutter fühlten, zuerst auf den Vater und dann auf einen Vaterersatz übertragen müssen - auf einen Mann, der in allen Dingen mehr als sie ist: älter, besser ausgebildet, klüger und stärker. Frauen wie Männer würden ihre Liebesobjekte nicht auf der Basis sexueller Politik auswählen, sie würden nicht vor einer willkürlichen, heterosexuellen Ideologie kapitulieren oder sich ihr verweigern. Vielmehr würden sie die Wahl aufgrund der individuellen Bedürfnisse ihrer eigenen Persönlichkeit treffen, die sich im Idealzustand ungehindert und frei von den Stereotypen der Geschlechterrollen entwickeln konnte. Potentielle oder tatsächliche Bisexualität, die heute von lesbischen Feministinnen als Verrat 57 Lilian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer, S. 435f. [Hervorhebung im Original]. <?page no="35"?> 34 Einleitung und von den Heterosexuellen als Labilität gewertet wird, wäre sowohl emotional als auch statistisch gesehen normal. 58 Führen wir uns vor Augen, was in diesem vor 40 Jahren verfassten Text steht, so kann der Sinn einer queertheoretischen Analyse, die produktiv gegen die Allmacht der Heteronormativität arbeitet, wohl nicht sein, ein homosexuelles Begehren irgendwie aus der heterosexuellen Perspektive rechtfertigen zu wollen, sondern nur darin zu zeigen, dass sich gleichgeschlechtliche Attraktion in Texten ebenso laut und natürlich offenbart wie die heterosexuelle. Dieses Studienbuch versucht nicht, Queer Studies abstrakt als einen lohnenswerten Forschungsansatz darzustellen. Ich stelle in der Folge literarische Texte vor, die, mit einem queeren Blick betrachtet, anders zu uns sprechen und ohne ihn vielleicht manchmal gar nicht verständlich wären. Ich berücksichtige dabei sowohl die theoretischen Grundlagen des queeren Denkens als auch die hier genannten, im Kontext der Gay and Lesbian Studies entstandenen Arbeiten, die eine Inspirationsquelle für meine queeren Analysen darstellen. 58 Ebenda, S. 439. <?page no="36"?> 35 3. Queer Studies in der Literaturwissenschaft I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Eduard von Keyserling (1855-1918) ist ein prominenter Vertreter der Literatur des Fin de Siècle. Er galt zu seiner Zeit als Erfolgsautor, gehört jedoch heutzutage nicht so selbstverständlich zum Schulkanon wie sein um eine Generation älterer Kollege Theodor Fontane (1819-1898), mit dem er häufig verglichen wird. Keyserlings Werk „erfährt in regelmäßigen Abständen eine beachtliche Renaissance“ 1 , und zwar meist unter Zuhilfenahme derselben Stichwörter: Untergang des baltischen Adels, Ironie und Antiutopie. Den Forschungsstand zu dem Autor beschreibt Armin von Ungern-Sternberg als ein erhärtetes Bild von einem „feinsinnige[n], wenngleich etwas konservative[n]“ 2 Autor, das einer Revidierung harrt. Keyserling malt Stimmungsbilder dekadenten Lebens und unerfüllter Liebe. Die Texte erzählen von der sich im Niedergang befindenden Welt des baltischen Landadels, dessen Konventionen bereits um 1900 der Moderne nicht mehr standhalten können. Sie laden eine (post-)strukturalistisch geschulte Germanistin geradezu ein, sie genauer zu untersuchen. Sie zeigen eine starke Typisierung der Figuren und eine Gestaltung in binären Oppositionen, 3 die auf der Textebene immer wieder Brüche produzieren. Das betrifft, wie in der folgenden Lektüre zu zeigen sein wird, vor allem die Sexualität der Figuren, ohne dass diese Brüche vom Autor beabsichtigt zu sein scheinen. Keyserling steht eigentlich nicht im Verdacht, in seinen Texten die Heteronormativität bewusst zu unterwandern. Trotzdem bieten Keyserlings Texte sowohl für eine Genderanalyse als auch eine Queeranalyse einen dankbaren Gegenstand, auch wenn dieser Umstand in der bisherigen Forschung zu Keyserling keine dezidierte Beachtung fand. Sein Prosawerk ist bevölkert von zarten Femme-Fragile-Gestalten, mit Femme-Fatale-Figuren oder ‚weißen‘ (reinen) und ‚roten‘ (erotischen) Frauen, die in ihrer Typisierung wie ‚aus der Zeit gefallen‘ wirken, sowie mit Männern, die bemüht sind, ihre Männlichkeit gegen die Einbrüche des Weiblichen zu behaupten. Die Femme fatale und die Femme fragile sind die beiden für das Fin de siècle charakteristischen Imaginationen des Weiblichen, in denen sich vor allem sexuelle Wünsche und Ängste figurieren. Während die Femme fragile einen sublimierten Eros verkörpert, eine ideal überhöhte, verklärte, entkörperte Sexualität, stellt die Femme fatale eine übersteigerte, meist in ein exotisches Gewand gehüllte Form der Erotik vor, die dämonisiert wird. Diese beiden Bilder des Weiblichen sind Männerphantasien, die in einem misogynen Zug des Denkens fundiert sind. 4 1 Armin von Ungern-Sternberg: „Kunstwerdung eines feudalen Heimatmilieus“? Anmerkungen und Anregungen zum Verständnis von Eduard von Keyserling. In: Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf von Keyserling. Hrsg. von Michael Schwidtal-/ Jaan Undusk. Heidelberg 2007, S. 197 - 230, S. 197. 2 Ebenda. 3 Vgl. ebenda, S. 214f. 4 Carola Hilmes: Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings. In: Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann <?page no="37"?> 36 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text Es ist von erotischen Wünschen und Verwicklungen die Rede, von den Sehnsüchten nach Ausbruch aus der starren Welt und von den Gefahren, die die Übertretung von sittlichen Grenzen für die Figuren bedeutet. Über psychologisierende Einblenden lassen die Texte Figuren entstehen, die ihre Subjektivität in dem strengen Raster von Standes- und Geschlechternormen entwickelt haben und die in ihrem Aufbegehren eigentlich nur die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Flucht vor den Direktiven, denen sie sich innerhalb ihrer altadeligen Welt zu beugen haben, deutlich machen. Dass diese Normen in Bezug auf das geschlechtliche Verhalten binär gesetzt sind, also gemäß einer strikten Zweiteilung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ in den Texten etabliert werden, verwundert nicht. Sind die Frauenfiguren in der adligen Welt zurückgezogen, fragil, künstlerisch begabt, nur im bescheidenen Maß fertil, bestechen die kontrastierenden Männerfiguren durch Lebensechtheit, praktischen Sinn, erotische Kraft und Potenz. Die konkreten Figurationen sind zwar von Text zu Text verschieden, dass die männlichen und weiblichen Figuren als Gegensatzpaare auftreten, bleibt jedoch immer unverkennbar. Deutlich ist auch, dass Frauen als - einmal verehrte, einmal verachtete - Sexualobjekte dienen. Sie lösen das Begehren aus und die Männer leben es aus. Während nämlich in fast allen Texten Keyserlings den Männern aufgetragen ist, ihre als ‚natürlich‘ geltende Männlichkeit, sprich den Hang zur Promiskuität und ihren Freiheitsdrang, in den Nischen, die der adlige Kosmos zur Verfügung stellt, beispielsweise mit Hausmägden, Künstlerinnen oder gesellschaftlich verfemten Frauen auszuleben, ist für die weiblichen Figuren der Adelswelt diese Möglichkeit verschlossen und wird von ihnen auch nicht vermisst: Die weiblichen Figuren zeigen oft kein eigenes Begehren. Sie begnügen sich damit, den an sie gestellten häuslichen Anforderungen in feiner Garderobe, Handarbeiten verrichtend oder Romane verschlingend gerecht zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts galt der Sexualtrieb bereits als etwas Naturgegebenes. Aus diesem Grund erscheinen die allzu reinen ,weißen‘ Frauen zwar verehrungswürdig, doch degeneriert, der Autor, der sie erdacht hat, zeigt ihnen gegenüber oft Mitgefühl. Die Frauen wirken wie eingesperrt und scheinen den Schlüssel zu ihrer Befreiung entweder nicht zu finden oder in falsche Hände zu legen. Den adligen, meist ‚weißen‘ Frauen entspricht es in dieser streng geschlechtlich-dualen Welt, den rein privaten Raum zu besetzen, der von ihren Männern für die weiblichen Wesen reserviert wurde. Für ein Leben jenseits der häuslichen Grenze sind sie nicht geschaffen. Junge Frauen, die noch vor dem Eintritt in die Mutterschaft stehen, werden als Sehnsuchts- und Begehrensobjekte stilisiert und unterstehen einer sinnlichen Funktion, ältere Frauen agieren entweder altjüngferlich oder mütterlich, ihnen kommt vor allem die häusliche Funktion zu. Auch der Roman Wellen hält an diesem Schema fest. Mann und Frau sind gänzlich verschieden. Die Bedürfnisse der Geschlechter ergänzen sich nur schlecht, so dass in die heterosexuellen Beziehungen ein Scheitern eingeschrieben ist. Anlässlich einer Neuausgabe des 1911 erschienenen Romans Wellen entstanden Rezensionen, die eine schwärmerische Ode auf Eduard von Keyserling singen. Er wurde gar als „besser als Fontane! “ bezeichnet. 5 Die Rezension aus dem Jahr 2011 zeugt von einem neu erwachenden Graf von Keyserling. Hrsg. von Michael Schwidtal-/ Jaan Undusk. Heidelberg 2007, S. 269 - 284, S. 275. 5 Vgl. Michael Maar: Eduard von Keyserling „Wellen“. Der ist ja besser als Fontane! In: Die Zeit, 16.6.2011. www.zeit.de/ 2011/ 25/ L-B-Keyserling (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="38"?> 37 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Interesse an dem Autor. Dieses Interesse an Keyserling besteht bereits seit mehr als 20 Jahren, behauptet Jin Ho Jong in einer Arbeit zu Keyserling aus dem Jahr 2006: Die vielzitierte Äußerung Jens Malte Fischers von 1974, daß Keyserling „der wahrscheinlich unbekannteste große deutsche Erzähler“ des zwanzigsten Jahrhunderts sei, scheint nicht mehr haltbar zu sein. Denn die in den letzten zwanzig Jahren ständig gestiegene Anzahl neuer Ausgaben seiner literarischen Werke und wissenschaftlichen Arbeiten über ihn deutet darauf hin, daß Keyserling von den Lesern und der Wissenschaft neu entdeckt wird: In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen insgesamt elf neue Ausgaben und in den 90er Jahren siebzehn, während es in den 70er Jahren lediglich sechs neue Ausgaben gab. In diesem Zeitraum wurden auch deutlich mehr wissenschaftliche Arbeiten zu Keyserling veröffentlicht, so daß von einer Vergessenheit keine Rede mehr sein kann. 6 Die Neuausgabe und Rezension von 2011 sind Ausdruck eines schon vorher bestehenden Interesses an dem Autor Keyserling. Die Inhaltsangabe des Romans Wellen hält der Rezensent Michael Maar, den ich hier exemplarisch anführe, kurz: Die Handlung tut überhaupt nichts zur Sache, obwohl auch sie schön ausgedacht und nicht ganz ohne Überraschung ist. Die junge Frau mit den zu vollen Lippen hat ihren alten adligen Gatten verlassen und ist mit einem Maler Hans durchgebrannt. Das von der Gesellschaft geächtete Paar, das in einer Fischerhütte an der Ostsee lebt, weckt allerhand romantische und sinnliche Motionen aufseiten der zur Sommerfrische versammelten Familie der Generalin von Palikow. Vor allem die Männer, allesamt liiert, verfallen dem Reiz der durchgebrannten Gräfin, die zumindest einen von ihnen somnambul gewähren lässt. 7 Auf einem queeren Blick scheint das neu erwachte Interesse aber nicht zu beruhen. Selbst eine genderorientierte Analyse über die Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings, in der durchaus konstatiert wird, dass die Frauenfiguren brüchig sind, das heißt widersprüchlich erscheinen 8 , und dass sich in den heterosexuellen Beziehungen Ambivalenzen zeigen, die durch problematische Asymmetrien hervorgerufen sind, 9 verbindet diese Thesen nicht mit dem Wort queer. Was an Keyserling fasziniert, steht bisher keineswegs mit der Forschungsrichtung in Zusammenhang, die ebenso jung ist wie das seit den 80er Jahren gewachsene Interesse an dem baltischen Autor. Soll nun ein solcher Text wirklich zum Gegenstand einer queeren Lektüre gemacht werden, in dem eine durchgebrannte, sinnliche Gräfin körperliche Begierde in liierten, liebeskranken Männern weckt? Hat dieser Text, der von einer völlig heteronormativ verfassten Welt erzählt, ein queeres Potential? Ja, denn die schöne junge Frau ruft, folgen wir der kurzen Inhaltsangabe, auf Seiten der gesamten Familie „sinnliche Motionen“ wach. Wenn auch 6 Jin Ho Hong: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schloßgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006, S. 9. 7 Michael Maar: Eduard von Keyserling „Wellen“. Der ist ja besser als Fontane! 8 Vgl. Carola Hilmes: Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings, S. 273. 9 Vgl. ebenda, S. 276. <?page no="39"?> 38 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text „vor allem die Männer“, so heißt es in der Zusammenfassung des Rezensenten, der schönen jungen Frau verfallen, verspricht diese adverbiale Betonung doch auch, dass nicht nur Väter, Söhne und andere männliche Ostseebadbesucher, sondern auch die anwesenden Frauen ihre romantischen Wünsche auf die „zu vollen Lippen“ der hübschen Gräfin projizieren. Diese Inhaltsangabe vermag eine queere Lektüre zumindest sinnvoll erscheinen zu lassen. Tatsächlich werden wir, wenn wir uns dem Text nähern, sehen, dass sich besonders eine Frau von Doralice so fasziniert zeigt, dass wir ohne Weiteres von ‚Entflammtsein‘ und ‚Verliebtheit‘ sprechen können. Von dieser Frauenbeziehung schweigt die Rezension jedoch: Sie verhandelt unter Stichwörtern wie „Paarstudie“ die Beziehungen ‚heterosexueller‘ Paare in einer heteronormativ verfassten Welt und lässt keine queeren Inhalte des Romans vermuten. Eine andere aufschlussreiche Rezension zu Keyserling, die eigentlich für die Erzählung Schwüle Tage wirbt, sagt über Wellen: Es geht in-Wellen eben nicht wie bei-Effi Briest-darum, dass kunstvoll der Ausbruch aus einer einengenden adeligen Welt beschrieben wird. Nein, Keyserling hebt in dem Moment an, als die Gräfin Doralice, die mit dem jungen Maler Grill durchgebrannt war und nun an der Ostsee eine vermeintliche-Salz auf unserer Haut-Idylle lebt, von der Langeweile und der Konvention erfasst wird. Gräfin Doralice hatte das „Leben“ gesucht - und war zu Frau Grill geworden. […] Die Gräfin Doralice, die sich in ihrer Aussteigeridylle so eingesperrt fühlt wie in ihrer adeligen Heimat, beginnt ausgerechnet mit einem Grafen auf Sommerurlaub anzubändeln, der genau jenem Milieu entstammt, dem sie einst unbedingt entfliehen wollte. So wie hier endet bei Keyserling jeder Fluchtversuch in der Schleife, aus der es kein Entkommen gibt. 10 Da ich behaupte, dass Keyserlings Texte überaus geeignete Gegenstände für queere Analysen zu sein versprechen, lässt sich darüber sinnieren, ob die Inhaltszusammenfassung von Florian Illies dieses Versprechen negiert oder untermauert. Nichts deutet auf homoerotische Verwicklungen hin, doch werden wir sehen, dass die Beziehung zwischen Doralice und Lolo von zentraler Bedeutung für den Text ist und dass zumindest die Jüngere eine schicksalsträchtige Passion für die Ältere hegt: Die Rezensionen frappieren, weil sie etwas im Text Offensichtliches nicht in Worte fassen, nämlich ein ‚anderes Begehren‘ der in heterosexuellen Strukturen gefangenen weiblichen Figuren, die von Doralice ebenso auf- und angeregt werden wie die Männer. Dieses ‚andere Begehren‘ erklärt keine der Figuren zu Lesben, doch es führt dennoch dazu, dass sie dankbare Gegenstände für eine queere Analyse sind. Es ist ein Missverständnis, wenn wir glauben, dass queere Analysen besonders dort zielführend sind, wo die Gegenstände schon explizit homosexuell bzw. homoerotisch konnotiert sind. Die Klassiker der schwulen Literatur queer zu lesen ist, als würde man in Kuhmilch Milchpulver geben, um den Geschmackseindruck zu verstärken. Eine queere Lektüre vermag Inhalte, die gegen die Heteronormativität gerichtet sind, gerade in Texten aufzudecken, die einen heterosexuellen Kosmos illustrieren und als heterosexuelle Paarstudie gelten können. Dabei geht es nicht um eine Art psychoanalytischer Literaturwissenschaft, also um den Versuch, auf der Ebene 10 Florian Illies: Die Ironie der schwülen Tage: Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling. In: Die Zeit, 25.6.2009, www.zeit.de/ 2009/ 27/ L-Keyserling (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="40"?> 39 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) einer jeweils einzelnen Figur etwas Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben, das heißt es kann nicht darum gehen, eine der Figuren als ‚eigentlich‘ homosexuell outen zu wollen. Einen Text queer zu lesen, bringt ein kollektiv verdrängtes Textbegehren zum Vorschein. Folgen wir der empirischen Literaturwissenschaft, ist unverkennbar, dass ein Text und seine Figuren immer erst dadurch Sinn bekommen, dass jemand etwas mit ihnen macht, über sie redet oder sie erfindet, über sie nachdenkt oder sie träumt […]. Indem jemand mit Gegenständen wie Texten etwas tut, schafft er diese Gegenstände, nicht als „Ding an sich“, sondern als ein jeweils bestimmtes Etwas für jemanden. 11 Die Texte lassen sich auch aus einer queeren Perspektive „schaffen“, wodurch eine subversive Wirklichkeit generiert wird. Dazu bedarf es keines vermeintlichen Zaubertricks, sondern eines neuen Blickwinkels. Vergegenwärtigen wir uns, was Queer Reading überhaupt bedeutet. Geht es da nicht immer um Kategorien, die sexuelle Präferenzen bezeichnen, die wir ‚schwul‘, ‚lesbisch‘, ‚bisexuell‘ nennen, oder geht es nicht gar um Phänomene wie Geschlechterrollentausch? Ist ein queerer Text nicht angereichert mit seltsamen Gestalten - was dem englischen Wortsinn nach queer bedeutet -, die in ihrer geschlechtlichen Identität nicht festzulegen sind? Spricht ein queerer Text nicht, in leisen oder lauteren Tönen, von dem verworfenen, verleugneten Begehren? Während die ersten Fragen eher Vorurteile berühren, ist die letzte unbedingt zu bejahen. Werden Texte gegen den Strich, also queer gelesen, entdeckt man das verleugnete und unter Verschluss gehaltene Begehren als ein durch die Heteronormativität ausgeblendetes Phänomen, von dem die Texte ebenso eifrig erzählen wie von der Liebe zwischen Mann und Frau. Eine queere Lektüre richtet ihr Augenmerk gezielt auf das in der Rezeption bisher ausgeblendete Begehren. Damit ist nicht gesagt, dass alle Texte eine heteronormative Oberfläche und eine queer-subversive Tiefenebene hätten, wohl aber, dass wir in unseren Lektüren meist darauf konditioniert sind, heteronormative Wirklichkeit zu erschaffen, obwohl die Texte und ihre Figuren auch anders gelesen werden können. Unser historisch gewachsenes, prokreatives (fortpflanzungsorientiertes) Sexualverständnis ist durch Begriffspaare geprägt, wonach nur eine Begehrensform als natürlich und daher legitim eingestuft wird, nämlich die heterosexuelle. Diesem konsensorientierten Verständnis nach bedeutet ‚homosexuell sein‘ so etwas wie eine Markierung aufzuweisen. Der betroffene Mensch kann nichts dafür und muss anerkannt werden, seine Existenz ist in Naturgesetzen begründet, aber sie gilt dennoch als Abweichung. Der Status als Abweichung, selbst wenn er nicht abwertend gemeint ist, verhindert es, Heteronormativität zu überdenken. Ihr ist nicht durch homosexuelles Verhalten beizukommen. Sie wird durch die Abweichung nicht relativiert, da eben der Ausnahmestatus der homosexuellen Orientierung die Norm bestätigt statt infrage stellt. Solange die homosexuelle Liebe immer die ‚andere Art‘ zu lieben ist, bedarf jede Anerkennung einer strategischen Rechtfertigung. Queer referiert in der englischen Sprache in erster Instanz auf die Vorstellung von Falschheit, allerdings, worauf in der Einleitung hingewiesen wurde, in ironischer Weise. Was passiert 11 Helmut Hauptmeier-/ Siegfried J. Schmidt: Einführung in die empirische Literaturwissenschaft. Braunschweig-/ Wiesbaden 1985, S. 88. <?page no="41"?> 40 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text mit unserem Begriffssystem, wenn Figuren, die eindeutig als heterosexuell identifiziert sind, homosexuell begehren und sich dieses Begehren als völlig normal zu erkennen gibt? Eine queere Lektüre ist eine, die die Dichotomie heterovs. homosexuell, also die Setzung des Begehrens in ein Begriffspaar, dessen gegensätzliche Teile sich gegenseitig ausschließen, nicht akzeptiert. Eine queere Lektüre akzeptiert die Vorstellung nicht, dass die Heterosexualität die Homosexualität gelungen verdrängt, sprich, dass dort, wo von heterosexueller Liebe die Rede ist, das homosexuelle Moment nicht hörbar sein kann. Da sich die heteronormative Kodierung unserer Gesellschaft (als kultureller Imperativ) ihrer Wahrheit stets neu versichern muss, indem sie permanent eine Ontologie des Gegensatzes zwischen ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ betreibt, ist das, was sie verwirft, immer auch auf unbestimmte Weise in die Texte eingesenkt. Der literarische Text besteht nicht außerhalb gesellschaftlicher Konventionen und historisch gewachsener Räume. Konventionen, Werte, Alltagstheorien im allgemeinsten Sinne sind vielmehr die entschiedenen Faktoren für die Regelhaftigkeit der sprachlichen Praxis. Prädikate wie „literarisch“ müssen deshalb Kommunikaten zugesprochen werden und aus den Regeln und Konventionen, die in einer Gesellschaft jeweils gelten, erklärt und kritisiert werden. 12 Deshalb hat es weder mit einer psychischen Verfasstheit des Autors/ der Autorin zu tun noch mit der Beschaffenheit des Textes, dass das Queere in ihm für die meisten Leser*innen nicht augenfällig ist. Doch es ist vernehmbar, besonders in Texten wie denen Keyserlings, die so deutlich von dem unerfüllten Begehren ihrer Figuren erzählen und die die heterosexuellen Beziehungen, meist aus der Perspektive der Frauen, als nicht erfüllend und glücklos darstellen. In einem Queer Reading werden die vermeintlich weniger offensichtlichen, gegen die Heterosexualität gerichteten Sinnzusammenhänge herausgestellt. Dieses Lektüreverfahren wollen wir an Wellen erproben. Dass dieser Roman eine Auseinandersetzung mit der gleichgeschlechtlichen Liebe nicht vor sich herträgt, liegt daran, dass der Autor Keyserling keineswegs über homosexuelle Subjekte schreiben wollte. Nie käme jemand darauf ihn als ‚schwulen Autor‘ zu bezeichnen. Niemand erwartet von ihm ein Statement in diese Richtung. Keyserling skizziert in Wellen eine Welt voll Melancholie. Ist das auf das eigene Geschlecht gerichtete Begehren womöglich ein Bestandteil, wenn auch ein bisher überblendeter Teil, dieser Welt im oben beschriebenen Sinn? Ziehen wir ein literaturwissenschaftliches Lexikon zu Rate, sehen wir, dass Wellen nicht mit homosexuellen Inhalten in Verbindung gebracht wird. Der Versuch einer queeren Lektüre an diesem Roman ist also keineswegs kanonisch. Im Killy Literaturlexikon wird Wellen nur am Rande erwähnt, und zwar als ein Text, der, wie die meisten Texte des Autors, einen Ausbruchsversuch aus der adeligen Welt als zum Scheitern verurteilt darstellt. 13 Kindlers Literatur Lexikon widmet sich dem Roman ausführlicher: 12 Ebenda. 13 Vgl. Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin 2009. <?page no="42"?> 41 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Während eines Sommeraufenthalts in einem Fischerdorf werden die Generalin Palikow, die Familie des Barons von Buttlär mit den Backfischen Nini und Lolo, Lolos Verlobter Leutnant Hilmar, der bucklige Geheimrat Knospelius und der bürgerliche Maler Hans Grill mit seiner adligen Frau, Gräfin Doralice, wie zufällig zusammengeführt. Dieses letztgenannte Paar erschüttert die konventionelle Starrheit des baltischen Adelsbewusstseins. Die kühle, sensible Schönheit Doralice hat dem „lebensvollen“ Bürgerlichen zuliebe ihre standesgemäße Verbindung mit dem in entleerten Manierismen erstarrenden Gesandten Köhne-Jasky aufgegeben. Zunächst als Femme fatale von den Standesgenossen geschnitten und dämonisiert, zwingt sie diese durch Menschlichkeit und Charme zu persönlichem Kontakt. Die Baronessen Lolo und Nini verehren in ihr schwärmerisch die emanzipatorische Selbstbestimmung ihrer eigenen Zukunft, Lolos Verlobter dagegen erkennt in ihr eine Gleichgestimmtheit in Leidenschaft und Sensibilität: „Man denkt nur eins, man will nur eins, so stark, daß man sich wundert, daß das Ziel einem nicht entgegenkommt.“ Er verliebt sich; die „kleine Familienkolombine“ Lolo versucht den Selbstmord. 14 Auch dieser Inhaltsangabe ist keine Homoerotik zu entnehmen. Wir erfahren zwar, dass die jungen Baronessen Doralice verehren und dass die ältere von ihnen einen Selbstmordversuch unternimmt, der aber vermutlich der Abtrünnigkeit ihres Verlobten Leutnant Hilmar geschuldet ist. Dass homoerotisches Begehren in diesem Text, folgen wir allgemeinen oder auch literaturwissenschaftlich fundierten Zusammenfassungen und Inhaltsangaben, eine Rolle spielen könnte, wird nicht thematisiert, weil die meisten Lektüren den Regeln und Konventionen, die in unserer Gesellschaft gelten, folgen. Eine queere Lektüre vermag es, eine Bedeutungsebene herauszuarbeiten, die in gängigen Besprechungen ausgeblendet ist. Im Roman, der im Jahr 2004 für das Fernsehen verfilmt (Regie: Vivian Naefe) und 2012 auch für das Theater adaptiert wurde, wird uns mit Doralice eine Frau gezeigt, die versucht, ihren Lebenshunger zu stillen und nun mit einem erfolglosen Maler in einem Kurort an der Ostsee gestrandet ist. Hans Grill wurde von dem um viele Jahre älteren Gatten Graf von Köhne-Jasky beauftragt, seine schöne, junge Gattin Doralice zu porträtieren. Es scheint, als hätte sie sich naiv und kopflos von dem stürmischen Mann zum Ehebruch hinreißen lassen. Aus diesem Grund fühlt sie sich sozial an ihn gebunden, leidet aber unter den Konsequenzen des voreiligen Ehebruchs. Obwohl 100 Jahre nach der Erstausgabe der Austritt aus einer Ehe keineswegs ein starkes moralisches Tabu mehr darstellt, erscheinen Doralices Seelenqualen auch für heutige Leser*innen durchaus nicht antiquiert. Die Leidensgeschichte der Gräfin legt nahe, dass es einzelnen Individuen nicht möglich ist, Konventionen zu sprengen. Freiheitverheißende Grenzüberschreitungen sind verhängnisvolle Chimären in Keyserlings Text. Was auf den ersten Blick wie eine Art Bruch mit Geschlechterkonventionen aussieht, hält sein Versprechen nicht. Die Konvention holt die Gräfin ein. Der Roman erzählt, wie sehr Doralice unter dem Ehrverlust, der der Preis ihres leidenschaftlichen Bekenntnisses zu Grill war, leidet. Aus Grills Perspektive erscheint sie ‚degeneriert‘, weil sie sich heimlich in ihr adliges Nest zurücksehnt. Sein Blick auf sie entspricht einem seit dem 18. Jahrhundert bestehenden, fortschrittsoptimistischen bürgerlichen Diskurs, wonach adlige Privilegien 14 Vgl. Wellen. In: Kindlers Literatur Lexikon (KLL); Online-Datenbank-/ Hrsg. von Heinz L. Arnold. - Stand der 3., völlig neu bearb. Aufl. der Printausg. 2009. Stuttgart 2009. <?page no="43"?> 42 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text nur zu einer Lähmung und kulturellen Verkrümmung führen. Doralice wird dem Freigeist ihres neuen Mannes nicht gerecht und sehnt sich nach der Sicherheit ihres bisherigen Lebens zurück, was ein gängiger Topos von Ehebruchgeschichten bis in die literarische Gegenwart hinein und - wie im Killy zusammengefasst - ganz typisch für Keyserlings Werke ist. Das gesellschaftliche Außenseiterdasein ist ein zu schweres Los für eine sensible Frau wie Doralice. Sie ist schön, mysteriös, lebensfremd, verschlossen, fragil und blaublütig und verkörpert par exellence genau das Weiblichkeitsbild, das sie als Dame des Adels kennzeichnet. Sie changiert zwischen den Weiblichkeitsimagines der Femme fatale und Femme fragile. Aus Perspektive des Adels ist sie fatal, aus Perspektive des bürgerlichen Mannes fragil. Carola Hilmes argumentiert überzeugend, dass eine Frauenfigur wie Doralice mit den binär gesetzten Begriffen kaum zu fassen ist, weil die Grenzen zwischen Verführungspotential, das auf die Männer fatal wirkt, und fragiler Unschuld, die sich gegen Verführung behaupten muss, bei dieser Figur verschwimmen. Doralice ist eher dem mythischen Bild einer Wasserfrau entlehnt. Deutlicher als Femme fragile und Femme fatale, die immer wieder mit realen Frauen aus Geschichte und Gegenwart verwechselt werden, entstammen die Wasserfrauen einer meist freundlichen, im Grunde heilen Märchenwelt, deren patriarchalische Grundstruktur ebenso unbestritten ist, wie das ausdrücklich Unrealistische. Ihr entlehnt Eduard von Keyserling diejenigen Frauenfiguren, die nicht ausschließlich der weißen Schlosswelt zugehörig sind bzw. nicht in ihr verbleiben. Die Bezüge zu den legendären Meerjungfrauen erscheinen mir im Falle von Mareile [Mareile ist die Hauptfigur aus dem 1903 erschienenen Roman Beate und Mareile, Anmerkung KK] ebenso klar wie im Falle der Romanheldin von Wellen, wo das dazugehörige Element, die Macht des Meeres und der Einfluss von Wasser, Wind und Wellen auf die weitere Handlung schon im Titel vorgegeben wird. 15 Wasserfrauen sind Wesen, „die unter Umständen gefährlich werden können, von denen aber zuerst ein großes Glücksversprechen ausgeht.“ 16 In binärer Opposition ist Grill von herber Attraktivität, praktisch veranlagt, durchsichtig in seinen Handlungen und seinem Begehren, stark und eben. Er zeigt sich abgestoßen von dem adligen Habitus seiner Frau, was zu einer zunehmenden Entfremdung des Paares führt. Die unterschiedliche Sozialisation, die den Reiz dieser Liebe ausmachte, wird zur unüberwindlichen Grenze und zerstört die Harmonie des jungen Paares, das in dem Ostseebad für Aufsehen sorgt. Die Schönheit der „Wasserfrau“ Doralice und ihre Abtrünnigkeit ziehen die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich. Im unmittelbaren Umkreis verbringt die Familie der verwitweten Patriarchin Gräfin Palikow ihren Sommeraufenthalt. Sie besteht aus ihrer uncharismatischen Tochter, der Baronin von Buttlär, deren untreuem Gatten, Baron von Buttlär, den Kindern Wedig, Nini und Lolo. Zugehörig zum Kreis sind noch die altjüngferliche Gesellschafterin der Gräfin, Fräulein Bork, Lolos Verlobter, Leutnant Hilmar, sowie der nicht zur buttlärischen Familie gehörige körperlich versehrte Geheimrat Knospelius. Doralice zieht sie alle magisch an. Das Glücksversprechen, das sie verheißt, ist scheinbar geschlechtsneutral. Die Abtrünnige wird durch die Aufmerksamkeit der adligen 15 Carola Hilmes: Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings, S. 279. 16 Ebenda. <?page no="44"?> 43 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Gesellschaft, die jedoch von Baronin von Buttlär, die um die Integrität ihrer Familie fürchtet und von Eifersucht auf die schöne junge Frau geplagt ist, nicht gebilligt wird, mehr und mehr von der Sehnsucht nach Rückkehr in diese adlige Welt heimgesucht. Ihr ist bewusst, dass sie mit ihrer Sehnsucht nach den Menschen und Sitten ihres Geburtsstandes ihren Malergatten und die Idee einer konventionsüberschreitenden romantischen Liebe verletzt und dass eine Rückkehr in ihr altes Leben moralisch ausgeschlossen ist. Leutnant Hilmar, der wie der Baron von Buttlär und der Geheimrat für Doralice entflammt ist, macht ihr einen leidenschaftlichen Antrag, ihre Verbundenheit zu Grill aufzugeben und sich ihm anzuschließen, den Doralice, mehr gedankenlos als durchdacht, ablehnt. Wenn sie auch einmal die Konventionen, die für eine verheiratete Frau gelten, gebrochen hat, zeigt sich in ihrem gegenwärtigen Unwohlsein und ihrer erneuten Gefangenschaft, diesmal in der Beziehung zu Grill, dass es für sie keinen Ausbruch mehr geben soll. Fatalistisch hält sie an der Beziehung zu Grill fest. Dieses Festhalten an der einmal getroffenen Entscheidung entspricht wiederum dem Topos von Ehebruchsgeschichten des 19. Jahrhunderts. Die Ehebrecherin möchte vor sich und der Gesellschaft, trotz ihres Konventionsbruchs, nicht als flatterhaft erscheinen. Im Grunde genommen entspricht Doralice dem passiven, domestizierten Typus des Weiblichen, denn im Rahmen der Romanhandlung weiß sie ihre sexuellen Wünsche, einer Dame von Stand angemessen, anders als die männlichen Figuren durchaus zu zügeln. Natürlich fühlt sie sich zu Hilmar hingezogen, mehr als zu dem Mann, für den sie ihr bisheriges Leben aufgab, aber weder hat sie im Sinn noch fühlt sie sich berechtigt, der jungen Freundin und Bewunderin Lolo den Verlobten auszuspannen. Dass sie Grill einst gefolgt ist, scheint weniger Ausdruck ihres eigenen primären Begehrens gewesen zu sein, sondern ihre Passivität und Unentschlossenheit lässt vermuten, dass sie einfach nicht in der Lage war, der vehementen Werbung des potenten jungen Mannes, eines Gegenbildes des greisen Ehemanns, standzuhalten. Sie fiel ihrer Unentschlossenheit und Schicksalsergebenheit zum Opfer und musste deshalb dem folgen, der am rücksichtslosesten um sie warb. Erst Grill hat sie im sexuellen Sinn zur Frau gemacht und als eine solche wird sie mehr begehrt als dass sie selbst Begehren zeigt. Den Fehler, sich ihrer eigenen Geschlechtlichkeit (als sexuelles Objekt) auszuliefern, will sie keineswegs wieder begehen. Hilmar wirkt nicht so stark auf sie, dass diese Gefahr droht. Wünschen und Sehnsüchten traut Doralice nicht. Sie braucht feste Strukturen, die ihr Halt geben. Haltlosigkeit wird in Wellen auch als typische Qual des Weiblichseins dargestellt. Doralices Sehnsucht nach einer strukturverheißenden männlichen Hand baut auf der Prämisse auf, dass Frauen weder einen eigenen Lebensplan noch ein authentisches Begehren aufweisen. Sie sind Fähnchen im Wind. Ihre Schönheit macht sie angreifbar, unfrei, und was und wen sie wirklich lieben, bleibt rätselhaft. Diese mustergültige Entgegensetzung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, die in einer Vorstellung von Heterosexualität kulminiert, die völlig phallozentrisch definiert ist, das heißt allein Männern die Fähigkeit zukommen lässt, aktiv zu begehren, zu werben und die begehrte Frau zu erobern, wird an einer Stelle allerdings nachhaltig gebrochen. Doralices Erotik, die in gewisser Weise selbstbezogen und ohne authentische Lüste ist, erregt eben nicht nur die männliche Aufmerksamkeit. Spiegelt ihr jedoch eine andere Frau zurück, wie begehrenswert sie ist, droht der schönen, widerstandslos in den Grenzen ihres Geschlechts gefangenen Dora- <?page no="45"?> 44 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text lice keine Gefahr. Im Gegenteil: Sie kann sich für einen Augenblick von den Grenzen, die die Konventionen ihr setzen, befreien. Lolo, die Tochter der Buttlärs, fühlt sich zu der schönen Frau ebenso leidenschaftlich hingezogen wie die Männer um sie herum. Dies ist zunächst nicht weiter bemerkenswert; es gehört zum Topos der strengen Geschlechtersegregation, dass junge, gerade gesellschaftlich debütierende Mädchen für bereits verheiratete Frauen schwärmen. In Anna Karenina wird daraus sogar ein Lehrsatz abgeleitet. Kitty, die Frau, die Wronski zugunsten Annas aufgibt, ist eine glühende Verehrerin von Annas Reizen, eine Verehrung, die ins Gegenteil umschlägt, als sie in Anna eine Nebenbuhlerin erkennt. Anna war augenscheinlich entzückt von dem schönen jungen Mädchen, und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, dass sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind. 17 Auch die deutsche realistische Autorin Marie von Ebner-Eschenbach, die eher als moralinsauer gilt und wie Keyserling das Etikett ‚konservativ‘ trägt, hält das Modell der schwärmerischen Jugendliebe einer jungen Frau zu einer etwas älteren für einen Allgemeinplatz. In einem 1893 als Kleiner Roman veröffentlichten Text erzählt eine ehrenwerte, äußerst anerkannte Hofrätin von der Schwärmerei ihrer Jugendjahre, die sie als ein allgemein weibliches Phänomen ansieht: Haben Sie nicht auch einmal in frühen Mädchenjahren einen Fanatismus der Liebe und Bewunderung für eine etwas ältere Frau in sich genährt, die Ihnen der Inbegriff aller Herrlichkeit schien? Es kommt oft vor in den Ausläufern der Backfischzeit. Einen solchen Götzendienst trieb ich im Stillen mit der Gräfin. Ich hätte mich auf die Folter spannen lassen, um ein freundliches Wort von ihr zu verdienen […]. 18 Die männerdominierte Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn sich die noch nicht im Ehestand domestizierte jugendliche (A)Sexualität der Mädchen ‚Begehrensobjekte‘ innerhalb ihres eigenen homosozialen Raumes sucht. Das Patriarchat hat eine hohe Toleranzschwelle gegenüber dieser sich so harmlos ausnehmenden femininen Zärtlichkeit zueinander. Diese Allianzen, so erzählt es auch Effi Briest, 19 brechen mit dem Eintritt der jungen Frauen in die Ehe. In gewisser Weise ist diese homosoziale Idealisierung der Mädchen untereinander sogar ein Vehikel der patriarchalischen Sexualmoral, um die Jungfräulichkeit der Mädchen zu 17 Leo Tolstoi: Anna Karenina. Vollständige Ausgabe. Übersetzt von Hermann Röhl. Köln 2010, S. 20 [russ. Originalausg. Анна Каренина 1877/ 78, dt. Erstausgabe 1896]. 18 Marie von Ebner-Eschenbach: Kleine Romane. Nach dem Text der ersten Gesamtausgabe, Berlin 1893. Hrsg. von Johannes Klein. München 1958, S. 14. 19 Die vier jungen Mädchen Effie, Hulda, Bertha und Hertha fabulieren in dem 1896 veröffentlichten Roman Effi Briest über ihre Heiratsaussichten. Dabei werden erotische Vorstellungen von den sexuell noch unerweckten Mädchen eher auf eine Frau projiziert. „Sie ist doch eigentlich eine schöne Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger Leutnant wäre, so würd ich mich in die Mama verlieben.“ Theodor Fontane: Effi Briest. Stuttgart 2002, S. 11. <?page no="46"?> 45 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) bewahren, weil sie die Lüste der jungen Mädchen vom Einbruch des Männlichen reinhält. Wie von Lilian Faderman und Karin Lützen, auf die in der Einleitung referiert wird, dargestellt wurde, ist dieses Begehren völlig gefahrlos, solange Frauen als asexuell gelten. Was aber - ähnlich wie lesbische Pornographie, die allein für einen männlichen Konsumenten inszeniert wurde - als Stütze einer frauenfeindlichen Sexualmoral angesehen werden kann, hat doch das Potential der Brechung: Lolos Schwärmerei nämlich, die auf den ersten Blick für den Leser und die Leserin zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts Atypisches aufweist, ist nur scheinbar den gängigen Konventionen angepasst, in ihr scheint die Subversion der sexuellen Repression auf. Lolo hatte bereits das Vergnügen, die undurchsichtige, schlecht beleumundete Frau aus der Ferne zu beobachten, als sich beide, abseits von den anderen, beim Schwimmen auf einer Sandbank begegnen. Diese Begegnung sollten wir einem close reading unterziehen. Sie ist wie folgt beschrieben: „Wer geht denn dort ins Meer? “ fragte Wedig und zeigte zum Strande hinab. „Das“, sagte die Generalin, „muß die Köhne sein.“ […] „Reizend“, bemerkte Fräulein Bork, „marineblau und einen kleinen gelben Dreimaster, und wie die schwimmt! “ „Sehr schick“, brummte Wedig. Das jedoch erregte aufs neue Frau von Buttlärs Aufregung. „Schweig“, herrschte sie ihren Sohn an, sie stand auf, schwenkte ihr Tuch, rief wieder „Lolo, Lolo! Aber sie schwimmen ja aufeinander zu, auf der Sandbank müssen sie sich ja treffen. Ach Gott, armes Kind! “ „Na setz dich, Bella“, beruhigte die Generalin ihre Tochter, „jetzt ist es nicht zu ändern. Sie wird Lolo auch nicht gleich anstecken.“ […] „Die Dame ist doch zuerst da“, rief Wedig triumphierend. „Lolo scheint müde, sie schwimmt langsam“, bemerkte Fräulein Bork; „ah, ah, die Gräfin geht ihr entgegen, sie will ihr helfen.“ „Unerhört“, stöhnte Frau von Buttlär. „Jetzt reicht sie Lolo die Hand“, meldete Wedig, „ah, jetzt steht Lolo, die Dame legt ihr den Arm um die Taille, und Lolo stützt sich auf ihre Schulter.“ […] Lolo stand drüben auf der Sandbank, sie war bleich geworden und atmete schnell: „Oh, ich halte Sie schon“, sagte Doralice, „legen Sie den Arm auf meine Schulter, so wie man beim Tanzen den Arm auf die Schulter des Herrn legt - so. Es war doch ein wenig zu weit, Sie sind das nicht gewohnt.“ „Danke, gnädige Frau“, sagt Lolo und errötete, „jetzt ist mir besser, ich bin das Meer nicht gewohnt, und ich wollte dort immer im Blanken schwimmen, und das war ein wenig zu weit.“ […] Lolo antwortete nicht, sie dachte nur, würde sie doch noch sprechen. Nach der Anstrengung des Schwimmens kam ein köstliches Behagen über sie. Gern wollte sie lange noch so stehen in dem lauen Wasser, sich schwesterlich an diese schöne geheimnisvolle Frau lehnend, diese seltsam schimmernden Augen, diesen Mund mit den schmalen, zu roten Lippen ganz nahe haben. Doralice sprach jetzt von den gleichgültigen Dingen, von dem heißen Tage, und daß es am „Bullenkruge“ wenig Schatten gebe und vom Schwimmen, und Lolo hörte ihr zu wie etwas Erregendem, Verbotenem, dessen Schönheit sie, sie allein jetzt plötzlich erkannt hatte. <?page no="47"?> 46 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text „Jetzt, denke ich, schwimmen wir“, schlug Doralice vor, und sie warfen sich in das Wasser, schwammen dicht nebeneinander, wandten zuweilen die Gesichter einander zu, um sich anzulächeln. „Geht es? “ rief Doralice. „Wir sind gleich da.“ „Oh, es geht, es geht schön“, antwortete Lolo. Es war fast so bequem, als lägen sie beide auf einer grünen Atlascouchette und könnten sich unterhalten. Ja, das war es, sie wollte sich unterhalten. […] „Gnädige Frau, ich sehe sie jeden Abend von meinem Fenster aus im Mondschein spazierengehen.“ „So“, erwiderte Doralice und legte sich auf die Seite, um Lolo ansehen zu können, ihr Gesicht war über und über mit flimmernden Tropfen übersät, „das ist dann wohl Ihr Fenster oben im Giebel, in dem ich jeden Abend Licht sehe? “ „Ja“, rief Lolo begeistert zurück. Es freute sie, daß Doralice zu ihr raufgeschaut hatte. Nun waren sie angekommen und gingen ans Ufer. „Es ist hübsch“, meinte Doralice, „so zu zweien zu schwimmen“, und sie reichte Lolo die Hand. Lolo nahm diese kleine feuchte Hand, hielt sie einen Augenblick und führte sie dann schnell zu ihren Lippen. „Ich - ich danke Ihnen, gnädige Frau“, sagte sie leise. „Nicht doch“, wehrte Doralice, beugte sich vor und küßte Lolo auf den Mund. 20 Die Verfehlung wird durch den sorgenvollen Ausruf der Mutter schon vorweggenommen, bevor die beiden Frauen sich treffen. Die mütterliche Sorge: „sie müssen sich ja treffen. Ach Gott, armes Kind! “ erotisiert (oder dramatisiert zumindest) das Zusammentreffen der beiden Frauen, indem es diese Begegnung von vornherein tabuisiert und als eine Gefahr für die Jüngere dämonisiert. Der Ausstrahlung und Präsenz von Doralice wird eine sexuell aggressive Kraft zugesprochen, die zwar von der Großmutter abgeschwächt wird („Sie wird Lolo auch nicht gleich anstecken“), die sich aber bestätigt. Die Begegnung ist eben gerade nicht völlig asexuell. Doralice wird hier, wenn wir es geschlechtlich sehen wollen, zu einer männlichen, machtvollen Figur, der es gelingt, in Lolo (sowohl psychisch als auch physisch) zu dringen. Die Penetration, also die erotische Inbesitznahme, die Doralice an Lolo vollzieht, eingeleitet 20 Eduard von Keyserling: Wellen. In: Ausgewählte Werke. Zweiter Band. Hrsg. von Wulf Kirsten. Berlin 1998, S. 5 - 143, S. 37ff. Lolo (Kati Eyssen) und Doralice (Marie Bäumer) in der Romanverfilmung von Vivian Naefe (Regie), 2004. Foto: ZDF / Algimantas Babravicius. <?page no="48"?> 47 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) durch die männliche Rolle als Retter und Stütze im Akt des Andienens ihrer starken Schulter, ist noch in heterosexueller Symbolik gehalten. In einer heteronormativen Perspektive ist Begehren nur da erkennbar, wo ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als Gegensatzpaare aufeinandertreffen. Doralice nimmt in der Begegnung mit Lolo vorerst den männlichen Part wahr. So formuliert sie selbst: „legen Sie den Arm auf meine Schulter, so wie man beim Tanzen den Arm auf die Schulter des Herrn legt“. Sie erklärt sich mit dieser Aufforderung zu eben diesem verführenden Herrn. Zwei schöne junge Frauen spielen im Element des Wassers das Anbahnen einer heterosexuellen Beziehung nach. Sie entgleiten damit nicht nur dem mütterlichen Blick, sondern auch den ihnen zugestandenen Genderrollen. Für einen kurzen Moment schwimmen sie sich frei. Lolo, die errötet, sich dankbar erweist und durch die Anrede „gnädige Frau“ sich als die Schwächere und die Bewundernde stilisiert, präsentiert sich als weibliche Figur, die von Doralice ergriffen und erobert wird. Sie erkennt die männliche bzw. als männlich geltende Potenz ihres Gegenübers an, indem sie sich widerspruchslos führen lässt. In der strategischen Position eines „Herrn“ verführt Doralice Lolo allerdings auf unverkennbar weibliche Art. Während das männliche Geschlecht(steil) durch die Eindeutigkeit des Phallus im abendländischen Kulturkreis versinnbildlicht ist, wird das weibliche Geschlecht(steil) als diffuser und weniger eindeutig über die Lippen symbolisiert. In der binären Opposition zwischen Einheitlichkeit und diffuser, unfassbarer Geschlechtlichkeit gilt das männliche Geschlecht als dasjenige, das mit der Fähigkeit ausgestattet ist, vor- und einzudringen. Diese Logik wird durch die sich die männliche Rolle aneignende Doralice durchbrochen. Sie drückt Lolo ihre „zu roten“ Lippen in einem Kuss auf, der nicht nur eine erotische Konnotation trägt, sondern auch ein Symbol für den sexuellen Akt ist. Der Kuss wird dann demgemäß von der Mutter als unverzeihlicher moralischer Tabubruch gewertet. Der Mund bzw. die Lippen von Doralice bleiben von da an für Lolo unvergesslich. Als sie ihren Verlobten, der etwas später zu der Familie stößt, wiedersieht, schwärmt sie unverhohlen von der geheimnisvollen Frau. Als sie an den Fischerhäusern vorübergingen, begann auch Lolo von Doralice zu sprechen […]. „Ach, die durchgebrannte kleine Gräfin ist hier“, sagte Hilmar, „nun, es ist gut, daß sie dich gerettet hat, aber sag, warum sprichst du von ihr mit einer so gerührten Stimme, als sei sie etwas Heiliges? Durchgebrannte Gräfinnen sind doch wohl nichts besonders Heiliges.“ „Weil sie mich rührt“, entgegnete Lolo erregt. „Ich weiß selbst nicht warum. Vielleicht weil sie so schön ist und doch nicht gut ist. Vielleicht aber, wenn jemand so schön ist, muß man ihn lieben, aber sie tut etwas weh, diese Liebe. Ich glaube, wenn einer sich in die Gräfin verliebt, dann muß es schmerzen.“ „Nun, nun“, beruhigte Hilmar sie, „wird es denn so arg sein mit dieser Schönheit? “ […] „Das ist sie“, flüsterte Lolo. Ihnen entgegen kamen Hans und Doralice. Als sie aneinander vorübergingen, nickte Doralice lächelnd Lolo zu, die beiden Herren grüßten förmlich. „Nun? “, fragte Lolo, sobald sie vorüber waren. „Gewiß, allerdings“, sagte Hilmar, „ein schönes Kindergesicht mit einem merkwürdig schicksalsvollen Munde.“ <?page no="49"?> 48 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text Lolo schwieg eine Weile, dann wiederholte sie sinnend: „Ein schicksalsvoller Mund, das hast du gut gesagt, ich suche schon lange einen Ausdruck für diesen Mund.“ 21 Das gemeinsame Schwimmen wird von Lolo auch als ein Beieinanderliegen „auf einer grünen Atlascouchette“ imaginiert. Mit diesem Beieinandersein wird nicht nur die im Roman erzählte Ausgeschlossenheit Doralices aus der Welt des Adels in Frage gestellt; vielmehr handelt es sich um den Bruch mit der geschlechtlichen Rolle, weil Doralice als bisher stets passiv Begehrte und Bewunderte durch das aktive Bezeugen der Gunst für ihre kleine Verehrerin ausschert. Dass sie, ähnlich wie Lolo, eine Femme fragile ist und eben auch nur über die zarte, wenig exotische Schönheit eines Kindes verfügt, wird durch den Mund, der als „schicksalsvoll“ bezeichnet wird, symbolisch unterlaufen. So wenig das Attribut „schicksalsvoll“, das man eher zur Charakterisierung von Lebensberichten als zur Darstellung von körperlichen Merkmalen verwenden würde, angemessen erscheint, so deutlich queert dieses Attribut die gängige Vorstellung einer adligen Schönheit. Das adlige, weibliche Leben ist nicht schicksalsvoll, ereignisreich oder verhängnisvoll, sondern klar geordnet. Frauen haben kein Schicksal, ihr Schicksal ist ihr Mann. Sie sind keine aktiven Wesen. Doralice jedoch bekommt ein besonderes Schicksal zugesprochen, das an ihre geschlechtliche Ausstrahlung und in gewisser Weise auch an ein sexualisiertes Attribut, den Mund, gebunden ist; dadurch gelingt eine Übertretung der gewöhnlichen weiblichen Rolle. Während der Phallus per se als erlebnishungrig und schicksalsvoll vorgestellt werden kann, ist er doch ein Organ der Aktivität. Lippen sind in binärer Entgegensetzung passiv und schicksalsergeben konnotiert. Man kann in sie dringen, wobei sie der Penetration bloß ausgesetzt sind. Nicht so Doralices Lippen. Trotz ihres Kindergesichts verfügt sie über einen als männlich angesehenen Eroberungswillen und die Fähigkeit der Inbesitznahme. Und auf diese Weise ist Lolo von Doralices schicksalhaftem Mund, der ihr so unvermittelt nahe war, besetzt und erobert. Da Doralice auf ein weibliches, sie anhimmelndes Gegenüber trifft, das sich auf die Tatkraft der heroischen Retterin angewiesen zeigt, nimmt sie als die Ältere nun die ‚männliche‘ und damit aktive Position an und erwidert Lolos schüchterne Avancen. Die Queerness, die homoerotische Merkwürdigkeit der oben beschriebenen Kussszene durchbricht für einen kurzen Moment die allein heterosexuell ausgerichtete Begehrensökonomie des Erzählten, indem sie zwei Frauen aufeinandertreffen lässt, die ihre Passivität, die auf sie als weibliche und dazu noch kindlich-fragile Figuren appliziert ist, aufgeben. Auch die harmlose Lolo wird plötzlich zur ‚Wasserfrau‘. Die Szene kann zwar auch so gelesen werden, dass sie Doralices unwidersprochener Attraktivität Deutlichkeit verleiht, doch es bleibt etwas, was in der Logik der Heteronormativität nicht einsichtig ist, dass sich nämlich zwei Frauen emphatisch aufeinander beziehen. Die eindeutig als ‚männlich‘ zu lesende, aktive Position, die Doralice in der Rettungsszene einnimmt, wird ihr kurz darauf durch Lolo entzogen. Vom Moment ihrer erotischen Erweckung durch Doralice an zeigt sich Lolo als die Werbende, indem sie zum Beispiel der Verehrten um Mitternacht rote Rosen in ihr Zimmer streut. Wollen wir die Opposition ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ bemühen, ist Lolo nun der „Herr“, der seine Schulter anbietet. Doralice fällt in die weibliche Rolle der Umworbenen zurück und Lolo geriert sich als jugendlich stürmischer Galan. 21 Ebenda, S. 55f. <?page no="50"?> 49 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Als sie zu Hause in ihr Wohnzimmer traten, fanden sie, daß Agnes die Lampe nicht angezündet hatte. Das Zimmer war voller Mondschein, und ein starker, sehr süßer Duft schlug ihnen entgegen. Auf dem hellbeschienenen Fußboden aber lag es wie eine dunkelrote Lache. „Sieh doch, Rosen, lauter Rosen“, rief Doralice. Sie kniete vor den Rosen nieder, beugte sich ganz auf sie hinab, griff nach ihnen, hatte beide Arme voll von ihnen, drückte ihr Gesicht in sie hinein, als wolle sie sich in ihnen baden. An einem der Sträuße hing ein Papierstreifen, auf dem „Lolo“ stand. 22 Hans Grill fühlt sich von den Rosen, die mit ihrem prächtigen Stiel und ihrer roten Blüte phallisch konnotiert sind, bedroht: „Laß sie und ihre dicken Rosen, was sollen wir damit.“ 23 Selbst wenn wir die Rosen nicht als sexuelles Symbol lesen müssen, lässt die Reaktion Grills darauf schließen, dass er die Rosen einem potenten Nebenbuhler zuordnet und als Bedrohung wahrnimmt, obwohl er gesagt bekommt, dass „die kleine Lolo […] all die Rosen durch das Fenster geworfen [hat].“ 24 Die Prächtigkeit der Rosen symbolisiert eine verschwenderische Welt, in der Grill nicht mithalten kann. Sie verfehlen die positive Reaktion auf Seiten der Angebeteten auch nicht. In fast grotesker Weise versenkt sich Doralice in die Rosen und gibt sich ihnen bzw. den durch sie erweckten Gefühlen hin. Lolo ist in Doralice verliebt. Nach ihrer körperlichen Begegnung mit Doralice ist Lolo völlig von der schönen Frau ergriffen. Sie gesteht ihrer Schwester in der Nacht nach dem gemeinsamen Schwimmen mit Doralice: „Ja, sie war herrlich, aber das wußte ich, und daß ich sie werde lieben müssen, daß wußte ich auch, aber ich wußte nicht, daß sie etwas an sich hat, das einen weinen machen könnte.“ 25 Wirklich unübersehbar wird jedoch Lolos Hingabe an Doralice erst, als sich Hilmar in Doralice verliebt und permanent die Nähe der aus dem Adelskreis ausgeschlossenen Frau sucht. Hilmar wirbt ganz geradeheraus um die Gunst der „durchgebrannten kleinen Gräfin“ und hofft, an die Stelle von Hans Grill treten zu dürfen. Er ist bereit, für seine Verliebtheit die Verlobung mit Lolo zu lösen, ein Vorhaben, das für Lolo durchaus offenkundig wird. Obwohl „alle so schlecht von ihr sprechen, […] alle so gegen sie sind“, 26 wobei „alle“ die wohlerzogenen, unerotischen und von ihren Männern betrogenen Damen meint, die in der Erzählung allein von Lolos Mutter, Frau von Buttlär, repräsentiert werden, bleibt Lolo der Verehrten verbunden, obwohl sie die Ursache für die Distanz ist, die ihr Verlobter zu ihr aufbaut. Statt in Doralice eine Konkurrentin zu sehen, identifiziert sich die junge Frau mit dem (männlichen) Begehren ihres Verlobten. Als Hilmar sich von Gewissenbissen getrieben seiner jungen, als naiv eingestuften Braut erklären will, unterbricht sie ihn: „Nein, du kannst nichts dafür, wir können beide nichts dafür. Es gibt manches in der Welt, das stärker ist als wir beide. Ich habe das jetzt verstanden. Oh, ich hab jetzt sehr viel verstanden. Früher glaubte 22 Ebenda, S. 51. 23 Ebenda, S. 51f. 24 Ebenda, S. 51. 25 Ebenda, S. 41. 26 Ebenda. <?page no="51"?> 50 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text ich, sich lieben ist Hand in Hand sitzen und sich lange Briefe schreiben. Aber jetzt weiß ich, sich lieben ist eine furchtbar große Sache […].“ 27 Statt wie ihre Mutter, deren Ehemann natürlich auch ein Auge auf die schöne Gräfin geworfen hat, Doralice mit Eifersucht zu begegnen und sie zu schmähen, richtet Lolo ihre eigene emotionale Energie auf Doralice. Das pubertierende Mädchen agiert, anders als sich aus der heteronormativen Logik des sich überall manifestierenden weiblichen Kampfes um männliche Aufmerksamkeit schließen ließe, nicht als Schmäherin der schönen Frau. (Kitty, der Gegenfigur von Anna Karenina in Tolstois Roman, gelingt dies beispielsweise nicht. Als der ihr Versprochene für Anna entbrennt, gibt die junge Frau ihre Schwärmerei für Anna auf und zieht sich enttäuscht zurück.) Der altbekannte Diskurs um weibliche Rivalität, der gemeinhin auch Frauenfreundschaften strukturiert, wird in Keyserlings Text nicht aufgenommen. Als Lolo beobachtet, wie Hilmar Doralice eine erneute Liebeserklärung macht - „Sie sah Doralice im Sessel sitzen und Hilmar neben ihr knien, allein das erschütterte sie nicht stark, sie hatte das erwartet, auch das mußte so sein“ 28 - , entschließt sie sich zu einer Art Liebesopfer. Sie sucht den Wassertod, um Hilmar für seine Liebe zu Doralice freizugeben. Statt aber mit irgendeinem Groll gegen Doralice diese Entscheidung zu treffen, erscheint es eher so, als möchte sie damit weniger einen Vergeltungsschlag gegen den abtrünnigen Verlobten üben als ein Opfer für die schöne Gräfin bringen. Mit ihrem Suizid sanktioniert sie Hilmars Beziehung zu Doralice und gestattet ihm die Liebe zu der schönen Frau, die keine Kompromisse kennt. Lolo wird jedoch bei ihrem nächtlichen Selbstmordversuch von Fischern des Ortes gerettet und in Doralices nahe am Meer liegendes Häuschen gebracht. Doralice, die zwar Hilmars Werben erkannt und sicher auch genossen hat, ist dennoch entsetzt von der Konsequenz, die Lolo daraus zieht, und sorgt sich aufrichtig um die Freundin. Sie stellt sie zur Rede: „Wie - wie ist Ihnen jetzt? “ fragte Doralice. „Gut“, sagte Lolo mit einer Stimme, als antworte sie auf eine müßige, gleichgültige Frage. Aber Doralice beugte sich leidenschaftlich über sie, als wolle sie sie erwärmen und beschützen. „Wie konnten Sie das tun? “ flüsterte sie. Lolo zog ein wenig die Augenbrauen empor und sagte in demselben kühlen, überlegenen Tone: „Er kann nichts dafür. Das wußte ich, als ich Sie sah, er wird nicht anders können, und Sie - Sie können nichts dafür, daß Sie so schön sind.“ 29 Für Lolos Familie, vornehmlich die bodenständige Großmutter, sieht es so aus, als wäre Lolo aus Eifersucht ins Wasser gegangen. Die bekannten Diskurse um eine sich völlig vom Mann abhängig zeigende Frau, die der Schmähung wegen den Liebestod anstrebt, beanspruchen ihre Geltung. Dieser Deutung, wir bemerkten es in Kindlers Zusammenfassung, schließt sich die Literaturwissenschaft und -kritik an. Allerdings legt der Text auch eine andere Deutung nahe als die, den ersehnten Wassertod als einen Suizid aus Liebesschmerz einer von ihrem Verlobten verschmähten jungen Frau zu verstehen. Ist Lolos Liebesschmerz tatsächlich auf 27 Ebenda, S. 97. 28 Ebenda, S. 111. 29 Ebenda, S. 113. <?page no="52"?> 51 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) Hilmar gerichtet oder ist er nicht viel mehrdeutiger? Die intime Verbindung, die sich in der vertrauten Rede der beiden Rivalinnen kundtut und die allerdings nur in einer weniger kurzsichtigen Perspektive aufscheint als der, welche das weiblich-weibliche Begehren ausblendet, verdeutlicht, dass es Lolo bei ihrem Selbstmordversuch nicht um Hilmar geht. Doralice weiß sofort, dass dieser Liebestod ihr gegolten hätte. Wir haben es hier mit einer Begehrensbeziehung zwischen Frauen zu tun, und obwohl Lolo keineswegs so stürmisch und offen heraus um Doralice werben kann wie ein Mann, besticht ihr Gefühl für die erwachsene, schöne Frau durch emotionale Treue. Der schwermütige Akt des Suizidversuchs resultiert nicht aus der Zurückweisung durch Hilmar, sondern aus der Zärtlichkeit für Doralice, die unverkennbar, weil in der sozialen Realisation undenkbar, durch Melancholie gekennzeichnet ist. Um diese Bedeutungsebene jedoch herauszufiltern, bedarf es jenes queeren Blickes, der das eindeutig Scheinende gegen den heteronormativen Strich bürstet. Der queere Blick filtert nicht etwa etwas heraus, was sich hinter dem Offensichtlichen verbirgt, nein, der queere Blick lässt eine Sichtweise zu, die den Text ebenso plausibel dechiffriert, weil er das im Text erscheinende Begehren nicht nur als heterosexuell kodiert voraussetzt. Wie aber gelang es in bisherigen Interpretationen des Textes, diese naheliegende Lesart nicht zu entfalten? Lolos innige Hingabe an Doralice und ihre romantische Schwärmerei, die sich in ihrer Melancholie und Unerfüllbarkeit zu all den anderen erotischen Verwicklungen fügt, in die die Menschen um Doralice geraten, ist dadurch charakterisiert, dass es sich keineswegs um etwas immens Herausstechendes, den Plot Störendes handelt - deswegen wird der Text auch nicht als homoerotischer eingestuft -, sondern die weibliche Schwärmerei für Doralice ist etwas, das der Erzähllogik nach nur die erotische Kraft der von vielen Seiten Angebeteten herausstellt. Wie bereits betont ist das weiblich-weibliche Schwärmen in der homosozial organisierten Welt - als Paradebeispiel dafür gelten die Mädchenpensionate des 19. Jahrhunderts - keineswegs ungewöhnlich und passt zu einem Jahrhundertwenderoman, da adoleszente Mädchen wie Lolo und altjüngferliche Frauen wie Fräulein Bork, die auch für Doralice schwärmt, abgeschnitten von Männern leben und sich vorerst nur in homosozialen Kontexten verlieben können. Als der Roman jedoch entstand, gab es das Konzept der Homosexualität schon und wir können davon ausgehen, dass Keyserling den Diskurs kannte. Der Text, der eine Zuneigung zeigt, die über ‚Schwärmerei‘ hinausgeht, verweigert sich dennoch strikt dem Homosexualitätsdiskurs, denn seine Frauenfiguren sind nach Maßgabe der damals herrschenden medizinischen Vorstellung über Frauenliebe nicht homosexuell, obwohl offensichtlich ist, dass Lolo Doralice leidenschaftlich liebt und dass Doralice diese Liebe als angenehm empfindet. Wenn wir das, was Lolo empfindet, zur ‚Schwärmerei‘ erklären, kann dies als Stärkung der heteronormativen Ordnung verstanden werden, und zwar dann, wenn Doralice als eine Art Vorbild für Lolo aufgefasst wird, dem die Jüngere nachzueifern versucht. Genauso wird es in einem Standardwerk der Literaturwissenschaft gedeutet. Wir erinnern uns: „Die Baronessen Lolo und Nini verehren in ihr schwärmerisch die emanzipatorische Selbstbestimmung ihrer eigenen Zukunft […].“ 30 Ja mehr noch, es entspricht der gängigen patriarchalen Logik, jenes das Männliche substituierende Entflammt-Sein einer jüngeren Frau für eine etwas ältere nur als eine Ver- 30 Kindlers Literatur Lexikon (KLL), siehe Anm. 14. <?page no="53"?> 52 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text stellung und Einübung in ein später eintretendes ‚wirkliches‘ heterosexuelles Liebesverhältnis geltend zu machen, so als nähmen die beiden adoleszenten Frauen in ihrer Schwärmerei ihre heterosexuelle Zukunft (bzw. Erfolgsgeschichte, in der Doralice zum role model wird) vorweg. Diese das lesbische Potential negierende Deutung ist aber mitnichten schlagkräftig, da Lolo ja bereits verlobt ist, also debütiert und somit den rein homosozialen Raum schon verlassen hat. Männer und deren Küsse sind ihr nicht mehr fremd, die Schwärmerei für eine Frau ist hier nicht Substituent für die ‚wirkliche‘, noch ausstehende heterosexuelle Liebe. Lolos romantisches Verlangen nach der schönen Frau ist also keine Ersatzhandlung, denn es gibt ja schon einen Hilmar in ihrem Leben. Ihre Liebe ist auch nicht rein seelisch, es ist der Körper, der Mund Doralices, der Lolo anzieht. Die Deutung, dass es sich um eine Identifikation mit der Geliebten seitens des Mädchens handelt, wirkt etwas plausibler; Identifikation mit dem weiblichen Gegenüber gilt als ein Indikator des weiblich-weiblichen Begehrens. Nicht zuletzt wollte der lesbische Feminismus die Frauenliebe unter der Prämisse einer gegenseitigen Identifikation als Ausgestoßene aus dem Machtfeld des Patriarchats geltend machen. Allerdings konnte ja gezeigt werden, dass Lolo in ihren Gefühlen für Doralice sich weit mehr mit Hilmars sexuellen Wünschen identifiziert, als dass von einer Identifikation mit der zwar begehrten, aber doch als fremd und geheimnisvoll empfundenen Frau die Rede sein könne. Doralice, als die gesellschaftlich Ausgestoßene, stellt zwar eine interessante Reibungsfläche für das jungfräuliche, behütete Mädchen dar, bietet ihr aber wenig Spielraum für eine Identifikation. Selbst wenn die Schwärmerei Lolos nur als Ausdruck von Überspanntheit, ohne schweres Gewicht, gelesen werden sollte, ist ihr queeres Potential nicht abzusprechen, da es nicht nur die rein heterosexuelle Begehrensökonomie des Textes stört, sondern schrittgleich damit die Frauen aus den Fesseln einer rein passiven Rolle enthebt. Sowohl Doralice, die zwischen der Imagination einer begehrenswerten Femme fatale und einer sexuell bedrängten Femme fragile changiert, als auch Lolo, die noch jungfräuliche Femme fragile, werden in ihren Männerbeziehungen durch den männlichen Blick zu zerbrechlichen Objekten stilisiert sowie degradiert. Dabei sind sie keineswegs nur zart, sondern, folgen wir Carola Hilmes, Figurationen von Wasserfrauen, die auch dämonisch sein und die ihrer Definition gemäß von Männern nicht glücklich gemacht werden können. Die Frauen selbst werden im heterosexuellen Kontext als begehrenslos figuriert. Sie können Begehren beim Mann wecken, jedoch nicht in gleicher Weise für ihn empfinden. Das trifft auch auf Doralice zu, von der wir ahnen, dass ihr Ehebruch nicht Folge von Begehren, sondern von Langeweile und Wehrlosigkeit war. Die Frauen ‚geben sich hin‘ und ‚werden besessen‘, ‚der Mann nimmt sie‘ und ‚besitzt sie‘. In den weiblich-weiblichen Begehrensbeziehungen heben sich diese strikten Rollenzuweisungen auf, indem jede der beiden Frauen sowohl als aktiv werbend als auch als umworben verstanden werden kann. Schien anfänglich Doralice mit ihrem ungehörigen Kuss, der als Symbol der Eroberung des weiblichen Gegenübers, ja vielleicht sogar als ein Penetrationssymbol gelesen werden kann, die Fordernde zu sein, entwickelt kurz darauf Lolo Strategien, ihre Leidenschaft für Doralice, zum Beispiel durch die „dicken Rosen“, mitzuteilen. Letztendlich weisen beide Frauen die ihnen zugedachten Männer zurück. Lolo weist Hilmar zurück, dem sie sich durch Suizid entziehen will, und Doralice weist ihn verbal zurück, indem sie seinen Antrag ausschlägt. Aber auch Hans Grill, der zum Ende der Romanhandlung <?page no="54"?> 53 Eduard von Keyserling: Wellen (1911) verunglückt, vermag seine Rolle als Doralices junger Gatte schon lange nicht mehr erfolgreich auszufüllen. Während ihr ehemaliger greiser Ehemann, der ihr sogar die Rückkehr in die standesgemäße Beziehung angeboten hat, durch sein Alter weiterhin für Doralice unattraktiv bleibt, zeigt sich Hans Grill durch sein geschlechtliches Wesen, sein teilweise herrisches Gehabe, als nicht kompatibel mit Doralices Sehnsüchten. Diese werden sich auch nicht mit Hilmar oder gar mit dem verkrüppelten Geheimrat, der ihr ebenfalls seine Liebe gesteht, erfüllen. Der draufgängerische, promiskuitiv lebende Vater Lolos, der Doralice desgleichen zu verführen trachtet, ist Doralice nur widerlich und kommt als Liebhaber für sie überhaupt nicht in Frage. Doralice bleibt allein zurück, gefühlsmäßig isoliert. Dass das Eheleben von Lolo nur die Unerfülltheit der Mutter, die permanent von ihrem Mann betrogen wird, nachzubilden droht, wird schon dadurch deutlich, dass sich ihr zukünftiger Ehemann nicht einmal in der Verlobungszeit den erotischen Verlockungen einer anderen Frau entziehen konnte. Lolos Ehe wird in psychischer Isolation mit dem immer als fremd, aber stark empfundenen Mann enden. Frauen wie Doralice fühlen sich zunehmend durch das Begehren der Männer gedemütigt, nicht beglückt. „Menschenmänner“ enttäuschen naturgemäß die Meerjungfrau, weil sie ihr nicht gewachsen sind. 31 Lolos Schwärmerei aber belebt Doralice. Die Frauen schenken sich für einen Augenblick den Austritt aus einer Ordnung, die nicht zu ihren Gunsten eingerichtet ist. Lolo entgeht mit ihrer Hingabe an Doralice für einen kurzen Augenblick dem abgedroschenen, demütigenden Schicksal einer passiven Ehefrau, das Hilmar für sie bereithält. Wellen, in dem so mustergültig die männliche und die weibliche Welt, die männlichen und die weiblichen Rollenerwartungen und die männlichen und die weiblichen Sehnsüchte entgegengesetzt werden, wirkt zwar durchaus heteronormativ, da der Roman scheinbar nur von heterosexuellen Beziehungen erzählt, aber indem er sie erzählt, spricht er gleichzeitig von dem Scheitern eben dieser Beziehungen in emotionaler Hinsicht und der verkannten Liebe zweier Frauen. Mit Lolos Schwärmerei für Doralice unterwandert er das Gebot, dass eine augenfällige sexuelle Attraktion ausschließlich 31 Vgl. Carola Hilmes: Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings, S. 279. Lolo (Kati Eyssen, von hinten) bedankt sich bei der von ihr bewunderten Gräfin Doralice (Marie Bäumer) für ihre „Rettung“. Foto: ZDF / Algimantas Babravicius. <?page no="55"?> 54 I ‚Abweichendes‘ Begehren in ‚konservativen‘ Texten / queer desire - straight text vom anderen Geschlecht auszugehen habe. Die Unterwanderung dieses Gebots, welches sichtbar durch den ungehörigen Kuss verletzt wurde, ist milde, sie kann überlesen werden, aber sie ist Teil der „hetero-narrativen“ Struktur des literarischen Textes, der heterosexuelle Beziehungen (und deren Scheitern) um 1900 zur Sprache bringt. Welches Antlitz auch immer das körperliche Begehren einer Frau um 1900 zu haben hätte, ohne die seelische Verbundenheit, die sich zwischen Doralice und Lolo zeigt, ist es nicht denkbar und in diesem Sinn ist dieses Begehren innerhalb der heteronormativ ausgerichteten Struktur des Textes auch die einzige Leidenschaft, die nicht in die strenge Ökonomie weiblicher Sexualverleugnung gepresst ist. Keyserlings Werk ist berühmt dafür, über den adligen Kosmos ein „Gefühl des Zu-Ende-Gehens“ 32 zu legen. Insofern vermittelt der Text auch das Gefühl, dass die Frauen ihre Rolle als Objekte für Männer bald abzulegen trachten. Die weiblich-weibliche Erotik ist der einzig mögliche Austritt aus einer für Frauen völlig repressiv angelegten Sexualkultur und gleichzeitig die Bedingung für die Beständigkeit dieser Repression ihrer eigenen sexuellen Wünsche. Es steht in dieser Welt fest, dass Frauen keine allzu romantischen Wünsche auf ihren Mann projizieren sollen, der zu anderen Aufgaben berufen ist als der, seine Frau zu beglücken. Doralices und Lolos gegenseitige Geneigtheit ist die différance im Text, das Moment der Verschiebung und Bedeutungsstiftung. ‚Différance‘ ist ein Begriff aus der Dekonstruktion, also der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft, durch die Queer Studies inspiriert sind. Er stammt von Jacques Derrida und besagt, dass Bedeutung nie als etwas Festes gegeben ist, sondern sich der Sinn permanent verschiebt. Sinnverschiebungen sind keine Unfälle, sie stützen und realisieren den Text erst. Die Wortschöpfung ist nicht gleichbedeutend wie der bereits für den Strukturalismus sinnstiftenden Begriff ‚Differenz,‘ obwohl er in ihr anklingt, da sich im Französischen beide Begriffe nur in der Schrift unterscheiden. „Das Wort ist eine glückliche Wendung Derridas: unhörbar, wird die Differenz zwischen ‚différance‘ und ‚différence‘ nur schriftlich markiert“. 33 Ist die heterosexuelle Liebesgeschichte und das Scheitern oder Zu-Ende-Gehen der heterosexuellen Beziehungen der deutlich vernehmbare ‚Sinn‘ von Wellen, dann kann die beginnende, wenn auch nicht in eine Paarbeziehung mündende homoerotische Verbindung tatsächlich als ‚différance‘ benannt werden. Sie entsteht in Differenz (différence) zu den homosexuellen Beziehungen, ist aber auch in diesen Beziehungen enthalten, weil Lolo sich mit ihrem Verlobten gerade aufgrund ihrer eigenen Gefühle für Doralice identifizieren kann. Grills Ansprüche auf Doralice wiederum aktualisieren sich durch Lolos rote Rosen. Die heterosexuellen Beziehungen werden durch die homoerotische Beziehung belebt, herausgefordert, zum Scheitern verurteilt. Die queere Analyse kann auch ohne die Referenz auf dieses Zauberwort der Dekonstruktion vorgenommen werden, es erweist sich für die homoerotische Bedeutungsebene jedoch als treffende Bezeichnung. Die différance erst verleiht dem Roman die erotisierende Sinnebene und spricht für Doralices große Anziehungskraft. Indem dieser Jahrhundertwenderoman davon spricht, wie und warum die Männer ihr, der verfemten Gräfin, verfallen, erzählt er (eben auch) eine Geschichte der Begierde, die sich dem Männlichen völlig entzieht. 32 Armin von Ungern-Sternberg: „Kunstwerdung eines feudalen Heimatmilieus“? Anmerkungen und Anregungen zum Verständnis von Eduard von Keyserling, S. 205. 33 Die différance. In: Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida. Frankfurt am Main 1994 [Franz. Original 1991], S. 79 - 92, S. 79. <?page no="56"?> 55 Wellen II Das Scheitern der Heteronormativität an der Widersprüchlichkeit der Geschlechterrollen Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht (1876) In diesem kurzen Kapitel soll der Roman Wellen mit einer zeitgenössischen feministischen Kritik an den Geschlechtervorstellungen kontrastiert werden. Mag es auch verwundern, dass ein Text, der eigentlich heteronormativ organisiert ist und homosexuelles Begehren niemals beim Namen nennt, von diesem Begehren durchkreuzt werden kann, gehört diese Diskrepanz doch zu einer Grundannahme der Queer Studies. Wir können weder dem Autor noch den Figuren unterstellen, dass sie sich damals als queer verstanden hätten. Dass Geschlechterklischees in Keyserlings Roman bedient und gleichzeitig gebrochen werden, scheint jedoch etwas zu sein, das einem zeitgenössischen Geschlechterdiskurs entspricht. Texte sind in binären Oppositionen organisiert, auch wenn nicht jeder Text dies so deutlich offenbart wie Wellen. Hier haben wir räumliche Gegensätze wie den zwischen dem Meer als einem Ort der Gefahr und dem Land als sicherem Schoß. Auf der sozialen Ebene klafft ein Gegensatz zwischen der adligen Konventionsehe des promiskuitiven Barons mit der sexualitätsfeindlichen, kränklichen Mutter Lolos und der bürgerlich-monogamen, romantisch-generierten Ehe (ohne Trauschein) Doralices mit Grill. Ein zeitlicher Gegensatz ist der zwischen Tag und Nacht. Die Nacht ist der Zeitraum, in dem die meisten die Handlung vorantreibenden Entwicklungen entstehen und der Tag bietet die Momente, wo die Handlungsverläufe eher ruhen und reflektiert werden. Ein weiteres Gegensatzpaar, das sich auf der Ebene kultureller Imagines befindet, bilden die ‚weißen‘ und die ‚roten‘ Frauen, wobei Doralice als erotische Frau zu den ‚roten‘ gehört, das Mädchen, das für sie schwärmt, zu den ‚weißen’ zu rechnen ist. Die Geschlechterdifferenz zeigt sich in dem Roman auch in voller Deutlichkeit. Um sie symbolisch zu untermauern, sind den Konzepten ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ Merkmale, Räume und Stimmungen zugeordnet, die ebenfalls als einander ausschließende Gegensätze bestehen. Männer gelten nach den Vorstellungen aufklärerischer Geschlechtsdiskurse als rational, aktiv, stark und sind in den öffentlichen Räumen verortet. Frauen versteht man im Widerspiel dazu als emotional, passiv, schwach und der privaten Sphäre angehörig. Dieser seit dem 18. Jahrhundert als „Geschlechtscharaktere“ 34 bezeichneten binären Charakterzuschreibungen bedient sich auch Keyserling. Nicht nur die Figuren sind geschlechtlich markiert, auch das Raum- und Zeitkolorit kann einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden. In der romanhaft entwickelten Welt ließen sich ‚Meer‘ und ‚Nacht‘ als ‚männlich‘ bzw. ‚weiblich‘ verstehen. Im Fischerdorf, wo Wellen spielt, wird das Meer als Ort der Erwerbstätigkeit und Gefahr als ‚männlicher‘ Ort angesehen. Grill verliert auf See sein Leben. Die Männer ernähren dort ihre Familien und erleben auf den Booten ihre Abenteuer. Das Land, auf dem die Fischersfrauen ihrer Männer harren und das sicherer und ruhiger er- 34 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Eine Spieglung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Hrsg. von Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 363 - 393. <?page no="57"?> 56 II Das Scheitern der Heteronormativität an der Widersprüchlichkeit der Geschlechterrollen scheint, ist eher mit dem weiblichen Geschlecht verbunden. Allerdings geschehen in jedem Text im weiteren und engeren Sinn Übertretungen des Geschlechterarrangements. Auf diese ist zu achten, denn sie sind bedeutungsschwer. So wird in der Schwimmszene das Meer als symbolischer Ort von Lolo und Doralice besetzt, die bei ihrem Kennenlernen, wie gezeigt wurde, nicht permanent in der Rolle des schwachen und passiven Geschlechts verbleiben. In dieser Rettungsszene ist das Meer ein amouröser Ort, lustbringend und nur in Maßen gefahrenvoll, ein Hort „einer meist freundlichen, im Grunde heilen Märchenwelt“ 35 , dem Grill, als in diesem Element Fremder, allerdings zum Opfer fallen wird, während dem Mädchen Lolo, das im Meer den Tod sucht, im Wasser keine Lebensgefahr droht. Carola Hilmes hat Doralice auf die mythische Figur der Meerfrau zurückgeführt, was bedeutet, dass das Element des Wassers, zumindest wenn Doralice darin schwimmt oder damit in Verbindung steht, auf einmal weiblich konnotiert ist. Als Meerfrau übertritt Doralice ihre Rolle als Ehefrau bzw. in dieser Weiblichkeitsimagination zeigt sich ihre Unfähigkeit, die bürgerliche Rolle auszufüllen. Diese Übertretungen modellhafter Zuschreibung von Geschlecht, welche wir sowohl in der Literatur als auch in der sozialen Realität ständig beobachten können, weil sich die Geschlechter nicht in allen Kontexten gleich an die Rollenvorgaben halten können (oder gar halten sollen), werden in der Ideologie der heterosexuellen Matrix permanent ausgeblendet. Obwohl beide Geschlechter in Opposition zueinander gestellt sind, können die Eigenschaften, die man dem jeweiligen Geschlecht attestiert, von Kontext zu Kontext, von Moment zu Moment schwanken. Es entstehen Asymmetrien, die die Komplementarität von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ infrage stellen. Die Wasserfrau Doralice ist nicht kompatibel mit dem bürgerlichen, bodenständigen Grill. Die asexuelle ‚weiße‘ Baronin von Buttlär ist nicht kompatibel mit ihrem sexualfreudigen Gatten. Die ‚weiße‘, sehnsüchtig-romantische Lolo, die noch völlig lebensunerfahren ist, zeigt sich als nicht kompatibel mit dem drängenden, auf erotische Abenteuer versessenen Verlobten Hilmar, der sich eigentlich nach einer ‚roten‘ Frau sehnt. Damit wird die Fragilität der binären Geschlechteropposition nur allzu offensichtlich. Ein queertheoretischer Blick richtet sich genau auf diese Unstimmigkeiten im Geschlechterarrangement. Die literarische, aber auch die sexualwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gender ist immer von Unstimmigkeit bedroht. Sie wird von dem Autor Keyserling auch nicht umschifft, ganz im Gegenteil scheint ihn die Inkompatibilität der Geschlechter als erzählerisches Motiv zu reizen. Es gab um 1900 wohl keinen queeren, jedoch einen genderkritischen Diskurs, der die Heteronormativität angriff. Hedwig Dohm (1831 - 1919), eine bedeutende Kämpferin der ersten Welle der Frauenbewegung, mahnte schon 1876 dazu, die Fundiertheit von Rollenzuschreibungen zu überdenken, da diese sich permanent in Widersprüchen verfangen. Wenn wir uns die Urtheile und Aussprüche vergegenwärtigen, die von Dichtern und Prosaikern, von Narren und Weisen, von Dummköpfen und erhabenen Denkern, von den ältesten Zeiten bis zum heutigen Tage über Frauen gefällt worden sind und gefällt werden, so können wir uns eines tiefen 35 Carola Hilmes: Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings, S. 279. <?page no="58"?> 57 Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht (1876) Staunens nicht erwehren, eines Staunens über die unfaßlichen Widersprüche, die uns allerorten entgegentreten und verwirren. 36 Während etwa in misogynen Texten Ende des 19. Jahrhunderts von einer naturhaften sexuellen Ungezügeltheit des Weibes, das im bürgerlichen Kontext als begehrenslos stilisiert wurde, die Rede war, ist es heute eher gängiger Topos, die Promiskuität von Männern über den ‚naturbedingten‘ evolutionären Zwang, möglichst viel Erbmaterial zu verteilen, erklären zu wollen. Gegenwärtig wird Frauen, ebenfalls mit Rekurs auf Natur, eher eine sexuelle Beständigkeit (im Vergleich zum Mann) nachgesagt. Diese sexuelle Beständigkeit wurde ihnen jahrhundertelang abgesprochen, weil der Mangel an Rationalität Frauen als viel verführbarer und lustorientierter gelten ließ. Sexpositivistische Diskurse der dritten Welle der Frauenbewegung arbeiten sich an der bürgerlichen Vorstellung einer weniger lustorientierten Frau kritisch ab und verfangen sich in altbekannten Aporien, wenn sie Frauen wieder als hedonistische Evas kreieren wollen. Geschlechtliche Natur wird je nach Kontext neu ausgelegt. Die Widersprüche sind besonders markant, wenn sie nicht diachron, sondern synchron auftreten. Keyserlings Text, der bereits Diskursübergänge markiert, liefert uns gar zwei widersprüchliche Aussagen zur geschlechtlichen Natur des Mannes innerhalb desselben, eng gesetzten Zeitraumes. Während die adligen Männer sexuellen Abenteuern nachjagen, also sexuell ungezügelt agieren, wird mit Hans Grill ein bürgerlicher Mann in Szene gesetzt, der von sexueller Moral geprägt, sowohl emotional als auch körperlich auf seine gräfliche Gattin bezogen ist und durch seine Bodenständigkeit auch Doralice zur Monogamie anleitet, die mit Hinweis auf die Güte Grills das sexuelle Angebot Hilmars ausschlägt. Geschlechtliches Verhalten wird hier, wie beim bürgerlichen Trauerspiel, mit Stand verknüpft und somit (bei näherer Betrachtung) nicht nur auf Natur gegründet. Außerdem gelingt es dem Text, die Moralvorstellungen des Adels als ausgedient zu deklarieren. So wird die geschlechtliche Sozialisation Lolos bereits als unheilbringend und ihre Vereidigung auf ein Dasein als ‚weiße Frau‘ schon innerhalb des Textes als fragwürdig dargestellt. Der Zwang zur Sexualitätsverleugnung, dem die Frauen unterliegen, produziert Überspanntheit und Unerfülltheit. Literarische Texte vermitteln uns Gendervorstellungen in binärer Opposition; auf welche Geschlechterdiskurse sie sich aber beziehen, also welche Sichtweisen auf die ‚Natur‘ des Mannes und der Frau jeweils geteilt werden, oder ob gar widersprüchliche Diskurse bemüht werden, ist oft abhängig von Entstehungszeit und Kontext. Bei Keyserling sind die Rollenzuweisungen eng an die Rollenvorstellungen des baltischen Landadels gebunden, der um 1900 seine soziale und politische Bedeutung eingebüßt hat. Die landadligen Männer sind demnach meist naturbezogene, sexuelle, ja hemmungslose Subjekte, die Frauen, zumindest die adligen, eher passive Objekte, erstarrt in Konventionen. Ihre Moral bezieht sich auf eine untergegangene Welt und so werden in der Logik des Textes auch diese Figuren untergehen, wenn es ihnen nicht gelingt, der Zeit zu folgen. Hans Grill als ein bürgerliches Subjekt ist ein Mensch der neuen Zeit und zeigt sich zumindest in Hinsicht auf sein Sexualverhalten anderen Männlichkeitsvor- 36 Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen. Vollständige Neuausgabe mit einer Biografie der Autorin. Hrsg. von Karl-Maria Guth. Berlin 2015 [Erstausgabe 1876], S. 7. <?page no="59"?> 58 II Das Scheitern der Heteronormativität an der Widersprüchlichkeit der Geschlechterrollen stellungen verpflichtet. Er verkörpert das Männlichkeitsideal eines bürgerlich-treusorgenden Ehemanns, das er aber in Hinsicht auf seine ökonomische Potenz noch nicht voll zu erfüllen vermag. Er verliert seine Frau, zumindest emotional, an ihre alte Welt. Niemals sind die Rollenzuweisungen an die Geschlechter völlig widerspruchslos und eindeutig, mag der Rahmen des literarischen Textes noch so eng gefasst werden. Das erschien Hedwig Dohm bereits mehr als 100 Jahre vor der Zeit, in der wir von ‚Genderforschung‘ sprechen können, so ausgeprägt, dass sie anmahnte, ‚Natur‘ und ‚Sozialisation‘ nicht zusammenzudenken, und zu genderkritischer Reflexion anregte. Die Bilder des Weiblichen seien gar zu widersprüchlich, als dass sie Ausdruck einer ‚Natur‘ der Frau sein können: Das Weib ziehe den Mann in die niedere Sphäre des Lebens herab - heißt es hier - und dort: sie umschwebe mit poetischem Hauch den häuslichen Herd und den Gatten. […] wir haben in Erfahrung gebracht, daß, wo es sich um weibliche Eigenschaften handelt, die Männer ein unentwirrbares Knäul widerspruchsvoller Meinungen produzieren. 37 Die Widersprüchlichkeit in der Vorstellung von Geschlecht bereitet den Nährboden für eine Queeranalyse. Sie betrifft ‚Männlichkeit‘ ebenso wie ‚Weiblichkeit‘ und sie wird 100 Jahre später auch nicht mehr ausschließlich von männlicher Hand hervorgebracht. Unstimmigkeiten sind den Geschlechterrollen immanent. Heteronormativität beruht allerdings auf der Prämisse der ‚richtigen‘, also nicht queeren Männerbilder und ‚richtigen‘, nicht queeren Frauenbilder. Wie Judith Butler durch den Begriff der heterosexuellen Matrix zeigt, wird das ‚richtige‘, heterosexuelle Begehren als Konsequenz von Gender verstanden. Die Sozialisation (Gender) auf Basis der Biologie (Sex) verursacht dieser Matrix nach, dass sich Männer und Frauen emphatisch aufeinander beziehen, weil sie füreinander gemacht seien. Wenn aber Geschlechternormen in Texten als durchlässig erkannt werden, bedeutet das, dass die Männer- und Frauenbilder asymmetrisch figuriert sind und keineswegs kompatibel erscheinen. Welche Konsequenz hat dies für das ‚richtige‘ Begehren? Queer Studies sind bestrebt, die Heteronormativität, die auf zwei einander ausschließenden Gegensätzen (männlich vs. weiblich, heterovs. homosexuell) beruht, zu hinterfragen, die deshalb als soziale Norm gefordert wird, weil sie sich auf die Natur beruft. Jedoch auf eine Natur, auf die sie keinen Zugriff hat und die sich immer wieder unterschiedlich lesen lässt. Wir wissen in Wellen über die Natur von Lolo und Doralice wenig. Wir wissen, dass sie in Geschlechtsrollen sozialisiert sind, die Widersprüche produzieren. Doralice changiert ständig zwischen der ‚weißen Frau‘ oder Femme fragile, die sie als adlige Dame darstellt, und der ‚roten Frau‘ oder Femme fatale, als die sie als Ehebrecherin und nun in die Bürgerlichkeit übergegangene Frau stilisiert wird. Zwei unterschiedliche Diskurse über Weiblichkeit schreiben sich in die Figur Doralice ein. So erscheint Doralice nachgerade als mythische Figur einer Wasserfrau, die jenseits der sozialen Kategorien ihrer Umwelt zu stehen scheint. Ist sie nicht „Kaleidoskop, das je nachdem man es schüttelt, jede beliebige Charakternüance in Form und Farbe zu Tage fördert“? 38 Doralices changierender Charakter erklärt, warum 37 Ebenda, S. 7ff. 38 Ebenda, S. 5. <?page no="60"?> 59 Hedwig Dohm: Der Frauen Natur und Recht (1876) sie als heteronormative Figur nicht völlig aufgeht. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr die Werbung Lolos den beglückendsten Moment im Verlauf der gesamten Romanhandlung beschert. Wie viele bezaubernde weibliche Figuren ist auch Doralice eine queere Figur. Zeitgenössische Feministinnen hätten sie zwar nicht als queer bezeichnet, denn dieses Wort ist späteren Generationen vorbehalten, sondern in der Wortwahl Dohms als ein „Potpourri der allerentgegengesetztesten Eigenschaften“ 39 . Doralices Ambivalenz macht sie allerdings als literarische Figur so reizvoll. Uns ist es möglich, die Figur queer zu lesen, denn der Schritt ihr ein ‚entgegengesetztes‘, der Heteronormativität zuwiderlaufendes Begehren zu attestieren, ist bei einer derart ambivalenten Imagination des Weiblichen fast unvermeidbar. 39 Ebenda. <?page no="62"?> 61 III Queere Homosexualität Die sich Ende des 19. Jahrhunderts formierende Sexualwissenschaft stand so sehr im Bann der sich ausschließenden geschlechtlichen Gegensätze, dass diese Opposition auch auf ‚Homosexualität‘ und ‚Heterosexualität‘ übertragen wurde. Die Abweichung von der Normalität jedoch, die bei der Sexualwissenschaft das größte Interesse erweckte, war der Begriff „Homosexualität“, das direkte Gegenteil der Heterosexualität. Dieser Begriff wurde dahingehend definiert, daß der Geschlechtstrieb bei dieser Abweichung sich ausschließlich auf Personen des eigenen Geschlechts richtete - also konträr war. Die Einführung des Begriffs war ein wesentlicher Unterschied zu der früheren Ansicht, daß das Begehren rein zufällig aufflackerte: Meistens richtete sich das Begehren auf Personen des anderen Geschlechts, konnte aber auch dem eigenen Geschlecht gelten, wenn sich die Gelegenheit bot. Die Zufälligkeit des Begehrens wurde nun vollständig ausgerottet, es mußte entweder das eine oder das andere sein - entweder heterosexuell oder homosexuell. 1 Gleichgeschlechtliche Liebe war aus sexualmedizinischer Perspektive nicht einfach anders als Heterosexualität, sie wurde als etwas völlig Entgegengesetztes gedacht. Diese Denkfigur bewirkte, dass gleichgeschlechtliche Bindungen einer scharfen Überwachung unterstanden, damit kein Begehren „zufällig aufflackerte“. Eve Sedgwick, deren Thesen uns im Verlauf dieses Buches noch beschäftigen werden, sieht die Definition der Homosexualität gerade für Männer als sehr problematisch an. Sie war ein „äußerst potenter Ort der Machtausübung.“ 2 Der Diskurs kontrollierte den gesamten Bereich männlicher Bindungen und vielleicht gerade die Männer am wirkungsvollsten, die sich selbst gerade nicht als homosexuell, sondern als gegen das Homosexuelle definierten. 3 Doch die Binarität besteht nicht nur zwischen ‚Homosexualität‘ und ‚Heterosexualität‘, man verlagerte sie auch in die homosexuellen Beziehungen selbst. Das heteronormative Denken verspottet die gleichgeschlechtliche Liebe als dürftiges Abbild der heterosexuellen Sexualbeziehung und homosexuelle Menschen gelten in heterosexistischer Lesart als traurige Kopien ‚richtiger‘ Männer und Frauen. In einer lesbischen Beziehung, so nahm man an, fungiere eine Frau als ‚der Mann‘ und dieser Frau, die männlich wirke (butch), stellt man eine weiblichere Frau (femme) zur Seite. Homophob gedacht imitiert lesbische Liebe in dieser Rollenverteilung nur die Norm der ‚richtigen‘ heterosexuellen Beziehung. Die butch sei bloß eine dürftige Kopie des Mannes, die femme eine unzulängliche und unbefriedigte Frau, die ihre eigentliche Bestimmung verleugnet. Eine Lesbe ist eine Frau, die ihr sexuelles Begehren nicht auf Männer richtet. Aus androzentrischem Blickwinkel betrachtet, zeigte diese Wider- 1 Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 165. 2 Eve Kosofsky Sedgwick: Das Tier in der Kammer. Henry James und das Schreiben homosexueller Angst, S. 247 - 278, S. 250. 3 Ebenda [Hervorhebung im Original]. <?page no="63"?> 62 III Queere Homosexualität setzung gegen die vermeintlich weibliche Bestimmung, dass sie gar keine ‚richtige Frau‘ sei. Ihr wurden erhebliche physische und psychische Mängel nachgesagt. Im Gender sei die Abtrünnigkeit der Sexualität bereits gebrandmarkt. Die butch trage ihre fehlgeleitete Sexualität als unabwendbare Rolle vor sich her. Die Ausformung der Butch-Rolle ist geschichtlich bestimmt, und sie ist ein Beispiel für das dialektische Verhältnis zwischen Sanktion und Verinnerlichung. Das heißt, daß die Sexualwissenschaft die homosexuelle Frau zuerst als vermännlicht dargestellt hatte, und wenn die lebendige homosexuelle Frau diese Ansicht von der Wissenschaft übernahm, so war das von der Wissenschaft bereits sanktioniert - oder gesegnet und für gut befunden. Je mehr die Sexualwissenschaft ihr ihre eigene Homosexualität verständlich machen konnte, um so getreuer paßte sie sich dem Bild an, das die Wissenschaft sich von ihr gemacht hatte […]. Diese Wechselwirkung verstärkte also die Auffassung der homosexuellen Frau als maskulin, und zu diesem historischen Zeitpunkt war etwas anderes kaum möglich. 4 Das ‚falsche‘ Begehren sei Homosexuellen auf den Leib geschrieben. Schwul-Sein und Lesbisch-Sein ist dieser Vorstellung nach mitnichten nur eine sexuelle Praktik, eine Ausschweifung, sondern geht einher mit einer Identitätszuschreibung. Ein Homosexueller lebt nicht allein seine Sexualität andersherum, er ist andersherum. Ihm wird ein anderes geschlechtliches Auftreten nachgesagt, sein Gender ist in seiner Männlichkeit eingeschränkt, meist gilt er als ein weibischer Mann und diese weiblichen Anteile bedingen seine Homosexualität. Sie ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das den Menschen in seiner Gesamtheit definiert. Diesem Sexualitätsdiskurs entsprechende Texte mit homosexuellem, homoerotischem Inhalt operieren so, dass sie den/ die Homosexelle/ n als Person, die aus ihrem eigenen Geschlecht ausgestoßen ist, markieren. Der schwule Mann und die lesbische Frau unterscheiden sich von den ‚richtigen‘ Männern und Frauen. Homophobe, also der Homosexualität feindlich gegenüberstehende Texte verurteilen die Abweichung streng, es gibt aber auch homophile Bewegungen, die sich genau mit dieser Vorstellung von Devianz verstärken und um Verständnis für das Anderssein werben. Diese Original-vs.-Kopie-Variante lässt sich durch ein Queer Reading ebenso in Abrede stellen wie die Vorstellung von einer richtigen Frau und einem richtigen Mann. Queer Studies benutzen den Begriff queer durchaus ironisch. Queer zu sein bedeutet nicht, sich als ‚andersherum‘ definieren zu müssen, in dem Sinne, dass es ein ‚richtigherum‘ gäbe. Queere Identität sperrt sich vielmehr gegen die Vorstellung von binärer geschlechtlicher Identität in ihrer Gesamtheit. Die vermeintlich schlüssige Verkettung von biologischem und sozialem Geschlecht und Begehren (Sex - Gender - Desire) denkt geschlechtliche Identität nach dem Prinzip, dass Personen, die ihrem homosexuellen Begehren nachgehen, nicht nur verkehrt begehren, sondern auch als Personen dubios sind. Heterosexistische Diskurse, die auf die sich damals formierende Sexualwissenschaft zurückgehen, teilen die Überzeugung, dass ein Mann, der einen anderen Mann begehrt, in gewisser Hinsicht gar kein ‚richtiger Mann‘ sei. Er bewege sich, fühle sich, benähme sich anders. Da sein Begehren nicht stimmt, stimmt 4 Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 266. <?page no="64"?> 63 III Queere Homosexualität etwas mit seiner Männlichkeit nicht. Eine Analogie zwischen richtigem/ falschem Begehren und richtigem/ falschem Gender/ Sex basiert angeblich auf der Natur, doch das erweist sich in einer historischen Perspektive als Fehlschluss. Die Pathologisierung des-Homosexuellen war ein Kunstgriff, um eine ontologische Differenz zwischen ‚homo‘ und ‚hetero‘ zu festigen. Des ontologischen Andersseins war der homosexuell Begehrende allerdings nicht schon immer verdächtig. Diskursgeschichtlich betrachtet ist ‚Homosexualität‘ kein überzeitlich gültiges Phänomen, sondern der Begriff etablierte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts. Der medizinische Begriff wird dem Schweizer Arzt Karoly Maria Benkert zugeschrieben. Erst durch diesen Begriff wurde Homosexualität als „ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal“ 5 ausgeformt. Ab dem 20. Jahrhundert löste er andere Begriffe, die seit dem 19. Jahrhundert für das Phänomen ‚Homosexualität‘ bestanden, wie „Konträrsexuelle“ oder „Invertierte“ ab, die analytisch betrachtet dasselbe Konzept vertreten. Die Semantik dieser Wörter bestimmt homosexuelle Menschen als andersartige Wesen. Erstmals wird durch Sexualität Identität festgeschrieben. Durch das Konzept eines Konträrsexuellen/ Homosexuellen/ Invertierten ändert sich die Bewertung der gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlung von einem (sündigen, sträflichen, unerwünschten) Verhalten, das kontingent ist, zu etwas, das die Persönlichkeitsstruktur ausmacht. Der homosexuelle Akt ist einer Person nicht einfach schlechterdings möglich, sondern ihr von nun an wesensnotwendig. Die ersten, Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Emanzipationsbewegungen von Homosexuellen, die ihre Lebensart verteidigen wollten, machten sich die Argumentation über eine wesenshafte Andersartigkeit des Homosexuellen, seine Zuordnung zu einer Spezies, zunutze. Mit Rekurs auf die pathologische Begründung, dass ein/ e Homosexuelle/ r nichts für seine/ ihre sexuelle Vorliebe könne, da er/ sie so anders geboren worden sei, plädierten sie dafür, Homosexualität nicht unter Strafe zu stellen, sondern diese als bestimmten Menschen gemäß anzuerkennen. Im nächsten Kapitel werde ich für diesen Diskurs ein Beispiel besprechen, bei dem es als Befreiungsschlag für die homosexuelle Lebensform galt, sie als schicksalsbedingt und unabwendbar zu propagieren. Um homosexuelle Handlungen zu entkriminalisieren, insistierten die Fürsprecher*innen dieser Bewegung auf eine schwerwiegende Andersartigkeit des/ der Homosexuellen. Bis zur Entkriminalisierung der Homosexualität war es noch ein weiter Weg. Wir sind auch in der Gegenwart nicht weit davon entfernt, den Begriff von Homosexualität als Begriff für eine Spezies zu gebrauchen und Menschen grundsätzlich in die Kategorie ‚homosexuell‘ oder ‚heterosexuell‘ einteilen zu wollen. Wie sehr wir von diesem Denken geprägt sind, hängt von unserer Sozialisation und unseren Erfahrungen ab. Der Binarismus ist langlebig und der mit dem 1869 zum ersten Mal verwendeten Begriff einhergehende Diskurs prägt bestimmte Gruppen noch heute. In der Geschichte der westlichen Kultur haben sich verschiedene Diskurse über gleichgeschlechtliche Sexualität ausgeprägt, abgelöst und überlagert, die jeweils als Supplement der Heterosexualität zu dienen hatten: Päderastie als pädagogisches Konzept der Antike, Sodomie als religiöses Konzept des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Homosexualität als pathologisches Konzept des 19. Jahrhunderts. Alan Bray, der Foucaults Thesen für die Epoche der englischen Renaissance ausarbeitet, 5 Vgl. Andreas Kraß: Queer Studies - eine Einführung. In: Queer Denken. Hrsg. von Andreas Kraß. Frankfurt am Main 2003, S. 7 - 28, S. 14. <?page no="65"?> 64 III Queere Homosexualität betont mit Recht die Inadäquatheit der Applikation des Begriffes „Homosexualität“ auf vormoderne Verhältnisse. „Davon zu sprechen, daß ein Individuum in dieser Epoche entweder ‚homosexuell‘ gewesen sei oder nicht, ist ein Anachronismus, der in ruinöser Weise irreführt.“ 6 Es ist also wichtig festzuhalten, dass es für uns als Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen nur für einen relativ jungen und kurzen Abschnitt der Literaturgeschichte sinnvoll ist, einer Figur ‚Homosexualität‘ zuzuschreiben. Diese Tatsache bedeutet nicht, dass vor dem 19. Jahrhundert gleichgeschlechtliche Sexualität ein erwünschtes, toleriertes Verhalten gewesen sei. Wohl war es aber ein Verhalten, das als Verhalten kriminalisiert und verurteilt werden konnte, nicht jedoch den Menschen wesenshaft definierte. Mit der Aussage, ‚Homosexualität‘ sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, soll auch nicht gesagt werden, dass es die homosexuelle Praktik und Präferenz vorher in der Geschichte nicht gab bzw. sie nicht bekannt war. Sogenannter sodomitischer Verkehr galt durchaus auch vorher schon als unmoralisch und kriminell, jedoch waren alle anderen Handlungen, die von dem Gebot, dass Geschlechtsverkehr der Fortpflanzung dienen müsse, abwichen, gleichermaßen darunter gefasst. Alle von diesem Gebot abweichenden Praktiken galten als ‚Sünde‘. Es gab keine Sonderstellung der gleichgeschlechtlichen Perversion gegenüber anderen Perversionen. Der Maßstab der Bewertung dieser sexuellen Praktik als anrüchiges Sexualverhalten war ein anderer als der Maßstab der Medizin des 19. Jahrhunderts. Der Sodomie-Diskurs argumentierte moraltheologisch und juristisch, nicht medizinisch und sexualpolitisch. Während der Begriff ‚Sodomie‘ im deutschen Sprachraum heute Verkehr mit Tieren (Bestialität) bezeichnet, diente der Begriff im Mittelalter und im englischen Sprachraum bis heute zur Brandmarkung sexueller Handlungen, die von der Norm des heterosexuellen Vaginalverkehrs abweichen, insbesondere des hetero- und homosexuellen Anal- und Oralverkehrs. Der Fokus richtet sich allerdings in der Regel auf gleichgeschlechtliche Sexualität […]. 7 Zwar galt homosexuelles Verhalten auch vor der Pathologisierung des Homosexuellen als unrichtig, aber mit der Verurteilung des Sexualverhaltens einer bestimmten Person verknüpfte man noch nicht die grundsätzliche Aburteilung des Menschen. Allerdings konnte natürlich auch kein besonderer rechtlicher Schutzraum gewährt werden. In historischer Betrachtung ist nachzuvollziehen, dass man es als Emanzipation vom sodomitischen Diskurs ansah, nicht länger als freiwillig sündig, sondern als unfreiwillig anders geboren zu gelten, wenn auch eine queere Sichtweise diese feste Definition von Homosexualität als problematisch ansieht. Sodomitisches Verhalten ist eine Laune der Lust, homosexuelles Verhalten ist eine Laune der Natur und damit ein unabwendbares Schicksal. Welche Umstände sodomitisches Fehlverhalten auch befördert haben mögen, ein derartiger Sünder war nicht über eine biologische Disposition entschuldbar. Die sexuelle Vorliebe ließ keine Rückschlüsse auf die geschlechtliche Identität des Menschen zu, sondern verurteilte nur die fehlende moralische Integrität. Ein dem homosexuellen Analverkehr frönender Mann war ein sündiger Mensch und insofern nicht freizusprechen. Das Fehlverhalten konnte ihn sogar sein Leben kosten, doch die 6 Andreas Kraß: Queer Studies - eine Einführung, S. 22. 7 Ebenda, S. 11. <?page no="66"?> 65 Annette Kolb: Die Schaukel (1934) Männlichkeit dieses Menschen (seine Geschlechtsidentität) stand mit seiner Sündhaftigkeit nicht in gleichem Maße in Frage wie nach dem 19. Jahrhundert. Beispielhaft dafür sind pornographische Texte aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, so Venus im Kloster. In diesem Text sind die gleichgeschlechtlichen Handlungen eingebettet in ein pornographisches Raster sündhaften Klosterlebens. Die Nonnen sind unzüchtig par excellence, aber keine homosexuellen Subjekte. Obwohl der Ort der Handlungen gleichgeschlechtliche Sexualität in besonderer Weise fördert und diese häufig vorkommt, gesteht der Klappentext ihr in der „Mannigfaltigkeit“ der sexuellen Praktiken keinen besonderen Stellenwert zu. Das moderne Rezeptionszeugnis öffnet sich dem vormodernen Diskurs, da es von der Zuschreibung einer sexuellen Identität absieht: Die beiden Nonnen Agnès und Angélique haben den Weg und die Möglichkeit gefunden, ihr sonst so trostloses Dasein in ein angenehmes und vergnügtes Leben umzuwandeln. Die irdische Liebe in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit hält Einzug in das bisher so triste Kloster. Venus im Kloster hat vermutlich François Chavigny zum Autor. Das um 1682 erschienene Buch wird manchmal auch Jean Barrin (1640 - 1718) zugeschrieben. „Vénus dans le Cloitre ou La Religieuse en chemise Entretiens Curieux par L’Abbé du Prat“ wurde bereits 1689 in deutscher Sprache veröffentlicht. Es gehört zu den großen erotischen Werken der Weltliteratur. 8 Der im Klappentext der modernen deutschen Ausgabe verwendete Begriff „Mannigfaltigkeit“, also der Hinweis auf die Diversität des sexuellen Ausdrucks, ist nicht mit dem sich im 19. Jahrhundert formierenden Diskurs vereinbar, nach dem gleichgeschlechtliche Handlungen eine Identität formieren. Die Nonnen sind im Diskurs ihrer Zeit Sünderinnen, die allerlei Arten sexuellen Verkehrs in der geheimen Welt des Klosters für sich entdecken, gelten jedoch sie nicht als Lesben. Sie sind auf keine Praktik und keine Präferenz festgelegt. Der Geschlechtsverkehr, den sie heimlich mit einem Mann begehen, ist nicht mehr oder weniger sündenbeladen als der, den sie miteinander vollziehen. Ihre homosexuelle Unzucht beeinflusst nicht ihre Genderidentität und behindert auch nicht ihre äußerliche Attraktivität. Agnès und Angélique sind sexuell reizvoll für Menschen beiderlei Geschlechts. Die strenge heterosexuelle Matrix ist für diesen Text und diese schönen, weiblichen Sünderinnen noch nicht gültig. Agnès und Angélique unterscheiden sich nicht wesenhaft von anderen Frauen, die ihre Sexualität außerhalb der Klostermauern leben bzw. sie unterscheiden sich nur insofern, als diese pornographischen weiblichen Imagines keiner Sexualmoral gehorchen. Annette Kolb: Die Schaukel (1934) In dem autobiographisch ausgerichteten Roman Die Schaukel von Annette Kolb (1870 - 1967), der 1934 veröffentlicht wurde, aber um die Jahrhundertwende spielt, treffen wir auf eine Person namens Lhombre, deren homosexuelles Verhalten sittlich verurteilt wird, obwohl sich dieses Verhalten über den Rekurs auf die ‚andere Natur‘ hätte leicht plausibilisieren lassen. 8 Abbé du Prat: Venus im Kloster. Die berühmten erotischen Unterhaltungen des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Peter Schalk. München 1978. <?page no="67"?> 66 III Queere Homosexualität Bei dieser Figur bleibt unklar, ob sie hetero- oder homosexuell ist. Sowohl extraals auch intradiegetisch würde ein Rekurs auf Homosexualität keinen Anachronismus darstellen. Stattdessen bleibt Lhombres Wesen und seine Sexualmoral ominös und er verwirrt die Familie, bei der er häufig zu Gast ist. Obwohl wir in Andeutungen von gleichgeschlechtlicher Sexualität erfahren, scheint der Homosexualitätsdiskurs in dem Roman anders aufzutreten und sich ungenau darzustellen. Schauen wir uns die Figur näher an: Um die Teestunde nämlich erschien seit kurzem jeden zweiten oder dritten Tag Herr Francis Lhombre zu Besuch. Er fuhr mit immer neuen Musikalien an, transportierte mühelos die schwierigsten Lieder und transportierte Orchesterstücke für zwei Klaviere. Ihm zu Ehren war das kleine Instrument aus Hesperas Schlafboudoir dem Flügel zur Seite gerückt worden. Erst achtundzwanzig Jahre alt, wirkte Lhombre durch seine ungemeine Sicherheit reif und irgendwie robust. Von ziemlicher Höhe, die Schultern ein wenig fallend und nicht eben breit, aber äußerst geschmeidig, war seine Gestalt an sich nicht außerordentlich, wurde aber gehoben, nahm, da keinerlei Mißverhältnis bestand, an der wunderbaren Ebenmäßigkeit der Züge teil. Sie hatten die festliche Glätte, die Ruhe und die Meißelung einer Plastik: das Auge dunkel und großmächtig, die Pupille voll wie eine Riesenkirsche, nicht ohne gelegentliche Starrheit, ein leises Schielen sogar. Nominell war Herr Lhombre, der alle Prüfungen für eine diplomatische Laufbahn bestanden hatte, im Auftrag einer Pariser Zeitung gekommen, um Berichte heimzuschicken […]. Dem jungen Lhombre war also eine sehr ehrende Aufgabe zuteil geworden. Dennoch war sie nur ein Vorwand, und es winkten ganz andere Lorbeeren als die des simplen Journalisten. Sein Gönner, einer der mächtigsten Männer am Quai d’Orsay, wünschte seine politische Begabung auf die Probe zu stellen. Lhombre hatte sich auf einem Ozeandampfer mit einem dem Thron sehr nahestehenden preußischen Prinzen von besonderer Neigung angefreundet, der nach München gezogen war. Diese Beziehung sollte ausgestaltet und im Hinblick bester Informationen verwertet werden. Der Gesandte war angewiesen, ihn überall aufs beste einzuführen, ohne der Bindung einen offiziellen Anstrich zu verleihen. So kam es, daß Lhombre sehr bald in höfischen Kreisen weit öfter zu sehen war als in der Musikwelt, der angeblich sein einziges Interesse galt. Und wer hätte sich besser für die zugedachte Rolle eignen können? […] Im zweifachen Lichte zu gehen, eine Doppelexistenz zu führen, Vertrauen einzuflößen, selbst immer nur halb sich mitteilend, aber die eine Seite seines Wesens jeweils als dessen Gesamtheit ausgebend, die Tugend feiernd, während er dem Laster frönte, das war seine höchste Lust, eine Mischung von Wahrheit und Täuschung der Kern seiner Natur […] Dies bestrickende Lächeln spiegelte Güte, Esprit, Affekte, Gefühl. Und er gewährte dem Spiel. Voll geheimer Gier rief er das Feuer der Herzen auf, die ihm zuflogen, derweil er keines hatte, in deren Widerschein er in der eigenen tief bewußten Kälte schwelgte: Pyromane, Dämon, Narziß. Lhombre war kein Ungeheuer. Aber eine so leichtgläubige, so naive und dabei so wehrlose Familie wie die der Lautenschlags mußte den Sadismus in ihm reizen und ihn locken, sie zu verderben. […] <?page no="68"?> 67 Annette Kolb: Die Schaukel (1934) Der oberflächliche Beobachter hätte glauben können, daß er nur Frau Lautenschlags wegen kam, er widmete sich fast ausschließlich ihr, kaum, daß er je das Wort an Gervaise richtete. Dennoch ließ er durchblicken, daß sie der Magnet war, daß sie ihn anzog und entzückte. Und wohl hielt sie ihn so stark im Banne, daß er sie keinem anderen Manne gönnte. Aber Liebe? Es war nicht Liebe, was er bei aller Hingerissenheit für sie hegte. Er liebte nichts, und die Frau am allerwenigsten. Wußte Frau Lautenschlag von jener anderen Seite des Lebens, die noch verfemt im Dunkeln lagerte? Berühmte Autoren hatten sie noch nicht ans Tageslicht gezogen oder gar vertreten. Der Weltkrieg stand noch aus. Noch hätte keiner von der Gilde sich zu ihr bekannt. Vielmehr sah er sich, ständig bedroht, zu allerlei Verstellungskünsten genötigt, war völlig diffamiert, wenn er entdeckt wurde. Nichts an Lhombres Gebaren deutete auch nur von ferne darauf hin, daß er ihr angehörte. […] Mit Lautenschlags hatte er’s leicht. Wer von ihnen dachte an Derartiges? Mathias freilich, der ewig fürwitzige, der für Land und Volk der Griechen sehr eingenommene Mathias, hatte über Knabenliebe gelesen und fand sie sehr spannend und interessant. 9 Ist ‚der Homosexuelle‘ ein festes Konzept im Roman und hat die homosexuelle Figur eine klare Identität? Diskursgeschichtlich wäre genau dies zu erwarten. Doch wir müssen uns fragen, in welchem Sinn die Figur homosexuell erscheint. Offenkundig ist Lhombre im Roman kein Sympathieträger. Ihm wird allerdings auch kein medizinischer Begriff zugedacht, durch den sein merkwürdiges Verhalten gerechtfertigt wäre. Das, was wir als ‚homosexuell‘ an der Figur lesen, zeigt sich nur in Andeutungen. Diese Verschwiegenheit erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, da die Autorin Kolb in ihrem Leben selbst eher Frauen zugeneigt war und intime Beziehungen mit Männern ablehnte. Das Konzept der Homosexualität lag nicht derart im Dunkeln wie uns der Text glauben machen will. Selbst wenn der biographische Hinweis ein schwaches Argument ist, ist zu fragen: Warum wird um das Konzept in dem Roman ein Bogen gemacht? Spricht sich durch die Vermeidung des Begriffes eine latente Homophobie im Text aus oder ist sie anders begründet? Die Antipathie, die die gleichgeschlechtlich ausgerichtete Figur in der Rezeption evoziert, könnte auf einem Diskurs beruhen, der gerade nicht deckungsgleich mit dem zeitgenössischen Homosexualitätsdiskurs ist, wenn wir der Autorin nicht sofort Homophobie unterstellen wollen. Wie kann queeres Denken bei der Lektüre eines Textes, in dem Homosexualität vorkommt, dienlich sein? Lässt sich ein Tadel gegenüber der „Spezies der Homosexuellen“ von der Darstellung der fragwürdigen homosexuellen Figur Lhombre, die rein karriereorientiert ist und die Gunst eines höhergestellten Mannes auszunutzen weiß, unterscheiden? Dieser dämonische, intrigante ‚Homosexuelle‘, der heimlich mit dem Prinzen verkehrt, ist zwar keineswegs liebenswert, doch ist er auch keineswegs unmännlich. Seine Identität ist nicht in ein pathologisches Muster überführt, das bereits im Bewusstsein der Zeitgenossen war. Es mangelt nicht an einem Konzept, auch wenn Lautenschlags abgesprochen wird, über ein geeignetes Begriffsrepertoire zu verfügen, sondern es mangelt im Text an eindeutigen Hinweisen, die Lhombre in dieses Konzept überführen würden. Selbst wenn Lautenschlags die Begriffe ‚kontrasexuell‘, ‚invertiert‘ oder ‚homosexuell‘ in ihrem Allgemeinwissen zur Verfügung gehabt hätten, wäre es ihnen möglich gewesen, den Mann, der „an sich nicht 9 Annette Kolb: Die Schaukel. 25. Aufl. Fischer: Frankfurt am Main 1992 [Erstausgabe 1934], S. 115ff. <?page no="69"?> 68 III Queere Homosexualität außerordentlich“ ist, überhaupt darunter fassen zu können? Der Logik der heterosexuellen Matrix‚ dass homosexuelles Begehren (desire) gleichbedeutend damit ist, auf der Ebene von Gender/ Sex ‚andersartig‘ zu erscheinen, wird mit dieser Figur nicht entsprochen. Damit ist ihre Homosexualität auch nicht offenkundig. Die Familie, mag sie auch naiv sein, müsste das Anderssein erkennen, wenn es sich deutlich ausspräche. „Nichts an Lhombres Gebaren deutete auch nur von ferne darauf hin“, er genießt Anerkennung als Mann. Ist nicht anstatt der ‚Homosexualität‘ „eine Mischung von Wahrheit und Täuschung der Kern seiner Natur“? Im sozialen männlichen Verhalten von Lhombre ist kein Fehler auszumachen, er lebt seine Vorliebe im Verborgenen und zu seinem Gewinn und doch scheint es nicht so, dass er nicht auch erotisch aufgeschlossen gegenüber der schönen Gervaise wäre, dabei emotional allerdings verschlossen bleibt. Romantische Gefühle hegt er sowieso kaum, egal wem gegenüber, zumal der „Frau am allerwenigsten“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Kolb hier einen älteren Diskurs über homosexuelles Verhalten als den der Sexualwissenschaft um die Jahrhundertwende aufgreift. Sie stattet ihre Figur, die wohl die „Knabenliebe“ kennt und mit dem Prinzen pflegt, nicht mit fehlerhaftem Gender, sondern mit fehlerhafter Moral aus. Lhombre vermag sein Begehren (desire) strategisch zu lenken. Das Wort dafür ist Dekadenz. Es bezeichnet die Verkommenheit Lhombres am besten. Er ist sittlich nicht integer, doch für den Mangel an sittlicher Achtbarkeit steht weniger seine geheimgehaltene und zugleich instrumentalisierte Homosexualität, sondern seine Liebesunfähigkeit, sein Machtbewusstsein, seine Unaufrichtigkeit. Psychologisch wird der Frauenhass Lhombres aus der Enttäuschung über seine Mutter erklärt. Wenn überhaupt die Devianz der Figur als medizinisch verankert gelesen werden kann, dann nur in einem freudianischen Diskurs, demzufolge Homosexualität auf ein Kindheitstrauma zurückgeht. Es ließe sich argumentieren, dass die Zuschreibung der Homosexualität, die die Figur eher moralisch-pervers als kontrasexuell erscheinen lässt, bei Kolb als ein psychoanalytisch fundierter Homosexuellen-Diskurs auftritt. Die Mutter Lhombres sei eine Prostituierte gewesen, die durch eine kluge Heirat den Ausstieg aus der Prostitution gefunden habe. Eine zufällig zustandegekommene Entdeckung, die den Sohn erschüttert hat, treibt ihn nun zu seiner Frauenverachtung, die jedoch mehr als eine Liebesunfähigkeit denn als eine Unfähigkeit zum sexuellen Verkehr oder zur Begierde nach dem weiblichen Körper dargestellt ist. Insofern stößt auch die Psychologie bei diesem Mann an ihre Grenzen, denn die Frage bleibt, ob er ‚wirklich‘ homosexuell ist. Viel zu berechnend, um eine zärtliche Mutter zu sein, imponierte sie dem Sohne durch ihren Anstand und den Ernst ihrer Grundsätze. Und nun eine solche Entdeckung! Der Aufruhr in seinem Inneren kam einer kosmischen Umwälzung gleich […], so trat der stolze junge Lhombre als ein völlig anderer von jener Türe zurück, schon eins geworden mit der Lüge seines Lebens […]. So vollendete er seine Studien, blieb im Hause, ein Meister der Verstellungskunst, so lange er das Geld und die Konnexionen seines Vaters noch brauchte, den er einbegriff in seinen Haß dafür, daß er ihm eine solche Mutter beschert hatte. Und jede Frau sollte ihm die Schmach vergelten, die immer in ihm brannte. Ja, auch Gervaise, das schönste junge Mädchen der Stadt, das er geliebt <?page no="70"?> 69 Annette Kolb: Die Schaukel (1934) hätte, wäre sein Herz nicht verschüttet worden und diese Frau Lautenschlag, deren unverwüstliche Arglosigkeit und deren Träumerei nur Hohn in ihm entfesselten. 10 Dass er, in karrieristischem Eifer, homosexuelle Handlungen vollzieht, schließt in diesem Roman nicht aus, dass er sich nicht in die Schönheit Gervaise verliebt oder zumindest verguckt hätte. Wenn er sie sieht, flackert Begehren auf, auch wenn er Frauen verachtet, so findet er sie doch begehrenswert. Seine Persönlichkeit ist vielschichtiger als seine sexuelle Vorliebe. Er ist als Mensch nicht vollends nur durch seine homosexuellen Handlungen definiert, nur ist er zu verschlossen, selbstgefällig, als dass es ihm möglich wäre, der Liebe zu einer Frau im Herzen Raum zu geben. Im Hinblick auf Erotik und Gefühl entscheidet Lhombre strategisch. Gervaise steht im Banne seiner mächtigen Augen, der rätselhaften und verwirrenden Melancholie seines Lächelns. Er sieht sie erschaudern, und auch für ihn, er verkennt es nicht, wäre hier Vergessenheit, Friede, Aufschwung, Ekstase. Aber waren es nicht Dinge, die er negierte? […] Was aber ist heute mit ihm? […] Und seht ihn, wie er auf der Treppe innehält, dort, wo der Duft von Wein, Äpfeln, Koniferen aus dem Keller über die Stufen schlägt. ‚Ich liebe! ‘ denkt er, von einem wilden Jubel gepackt. Ja, an sein Herz will er sie reißen, die er keinem gönnt, die keinem anderen zu eigen werden darf als ihm alleine. Er sieht sie wieder, wie sie vor ihm erschauderte … Wie eine Flamme trägt er das Bild. Als ein gewandelter Mann durchschreitet er den Hof. Erst nach langer Pause geht das eiserne Tor […]. Muß sie sich nicht den Kopf zerbrechen, die schöne Gervaise. Wie käme sie darauf, gerade in dem Überschwang seines Gefühls die Ursache seines Fernbleibens zu vermuten. Er hat sich wieder gefaßt und ist mit dem preußischen Prinzen ins Gebirge gefahren. Oft drängen seine Gedanken zu ihr hin. Er ist noch jung, der Sohn der Cascadette. Auch daß er leidet, wollen wir ihm zugute halten. Aber es keimt doch schon in seinem unedlen Blute die volle Wertung für die Belange des Geldes. Gervaise, und wäre sie eine Göttin, ist eine klägliche Partie. Von allen Münchner Dächern pfeifen es die Spatzen. 11 Lhombre ist, wie wir hier sehen, nicht auf seine Homosexualität festgelegt. Macht ihn nicht gerade das so unsympathisch? Er ist nicht schicksalhaft an die „Knabenliebe“ gebunden, sondern entscheidet sich strategisch dazu, weil er „unedlen Blutes“ den Belangen des Geldes und des Erfolges mehr Raum gibt als denen des Herzens. Und darin liegt in erster Instanz sein moralischer Fehler. Nie wird er zurückkehren, nie wird Gervaise ihn wiedersehen. Sei es, daß er eines Tages annehmen zu dürfen glaubt, daß es still geworden ist um sie, sei es, daß der Gedanke an ihre möglichen Bewerber keinen Schrecken mehr für ihn hat, er läßt die Beziehung versanden, sein Gefühl erkaltet, er verstummt endlich ganz. 12 Wir lesen hier einen Text aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, also aus einer Zeit, als der pathologische Diskurs um Homosexualität den moraltheologischen längst abgelöst hat- 10 Ebenda, S. 123f. 11 Ebenda, S. 157f. 12 Ebenda, S. 160. <?page no="71"?> 70 III Queere Homosexualität te. Das Verständnis von Wahlfreiheit in Hinsicht auf die homosexuellen Handlungen war für den, der als ‚homosexuell‘ galt, diesem Diskurs nach obsolet geworden. Dieser Text gibt Zeugnis einer davon abweichenden Diskursübertretung. Es wird ein Mann vorgestellt, der seine Sexualität gezielt einsetzt, sie aber nicht über sein Wesen bestimmen lässt. Dass diese Diskursabweichung so prominent vertreten wird, hängt freilich auch damit zusammen, dass die Logik einer homosexuellen Identität nur vom medizinischen Standpunkt aus zwingend erscheint. Figuren in Romanen können diese Theorie nicht völlig kohärent erfüllt, denn das literarisch verbürgte Wissen lässt viel mehr Raum für Uneindeutigkeiten. Die Autorin Kolb mischt Vorstellungen über homosexuelles Verhalten und löst die starre Dichotomie zwischen ‚homosexuell‘ und ‚heterosexuell‘, gewollt oder ungewollt, durch die Figur Lhombres auf. Kolbs Roman folgt daher keiner Wesensbestimmung des Homosexuellen. Die Tatsache, dass ein junger Mann homosexuell agiert, dient in ihrem Roman dazu, seine moralische Zwielichtigkeit offenzulegen. Seine Männlichkeit (Gender) allerdings ist davon nicht berührt. Seine Männlichkeit und seine Menschlichkeit werden durch seine emotionale Kälte mehr in Frage gestellt als durch seine (Homo-)Sexualität, die vielleicht gar keine ist. Bei ihm ist die „Knabenliebe“ Ausdruck emotionaler Unreife. Die Figur ist damit nicht ausdrücklich als Spiegel von Homophobie gestaltet, denn die Frage, die sie aufwirft, ist, ob sie, zeitgenössisch betrachtet, überhaupt eine homosexuelle Figur ist. Auch in Mathias, der Figur, die Lhombre am besten durchschaut, finden wir eine Person, die aus dem zeitgenössisch gängigen Homosexualitätsdiskurs ausschert. Sie ist eine Frau, doch wird ihrem männlichen Vornamen manchmal ein männlicher, dann wieder ein weiblicher Artikel beigestellt (der Mathias, die Mathias). Diese Frauenfigur akzeptiert keine weibliche Genderidentität, ohne (aus androzentrischer Perspektive) dabei unweiblich oder gänzlich unattraktiv zu sein (das heißt sie ist keine butch), strebt dennoch nicht an, sich jemals als herkömmliche Ehegattin eines Mannes zu bewähren. Jetzt ging sie ja noch ins Institut, aber später würde sie der Welt schon zeigen, daß sie für kein ‚fades Aufblicken zum Manne, als wäre sie weniger als er‘ zu haben sei, sondern selber ihren Mann stellen, ja, und wie Sokrates und Alkibaides, die Männer lieben würde: dies war Päderastie. Was sonst? 13 Mathias möchte Männer nicht von einer unterlegenen Position aus lieben. Sie möchte sich gleichrangig mit ihnen fühlen. Sie lehnt allerdings das männliche Geschlecht nicht ab, sondern sie findet es durchaus begehrenswert. Ihre Übertretung der althergebrachten Frauenrolle, die schon durch den Namen, der geschlechtlich eher auf einen Mann weist, gestützt wird, mündet nicht zwangsläufig für sie in einer Absage an Männer, aber in einer Absage an ein „fades Aufblicken zum Manne“, das von den Frauen ihrer Zeit gefordert wird. Sie will gleichgeschlechtlich, im Sinne von Gleichrangigkeit unter den Geschlechtern, lieben, indem sie die Differenz zwischen den Geschlechtern egalitätsfeministisch negiert. Sie möchte nicht in der sexuellen Beziehung unterlegen sein. Mit Mathias wird eine wirklich queere Frauenfigur geboten, und zwar in einem Kontext, in dem Frauen als das schwächere Geschlecht definiert sind und „fades Aufblicken zum Manne“ zelebrieren müssen. Mathias verweigert 13 Ebenda, S. 118. <?page no="72"?> 71 Annette Kolb: Die Schaukel (1934) diese Festlegung auf Schwäche (und negiert damit zum Teil ihr Gender, denn sie will „selber ihren Mann stellen“), was für sie jedoch nicht die Abkehr von dem zweigeschlechtlichen Sexualleben impliziert. Aus einer Position der Stärke wäre für sie verbürgt, dass sie „die Männer lieben würde“. Ihr heterosexuelles Begehren solle sie nur nicht zum „Aufblicken“ verurteilen. Ist dieser Wunsch eine Übertretung der Genderrolle oder eine Übertretung der Heterosexualität („Päderastie. Was sonst? “)? Die Rolle der Frau erscheint der Intellektuellen, die „ins Institut“ geht, unzulänglich definiert, ‚Weiblichkeit‘ als soziale Vorstellung (Gender) ist ihr in der zeitgenössischen Lesart zu eng gefasst, das heißt aber nicht, dass sie ihren Wunsch nach sexuellen Kontakten mit Männern aufgeben will. Während in Bezug auf Lhombre die homosexuellen Handlungen über den Mutterhass vielleicht einem psychologischen, aber nicht den pathologischen Diskursen folgen (nach denen Lhombre ein ‚unvollständiger‘ Mann [Sex] wäre), wird bei der - aus der Perspektive ihrer Zeitgenoss*innen - sozialgeschlechtlich verwirrten Mathias kein pathologischer, sondern ein feministischer Rekurs genommen. Kolbs Text widersetzt sich der heterosexuellen Matrix. Beide andersartigen Figuren sind nicht stringent andersartig. Sie haben keine kohärente homo- oder heterosexuelle Identität. Uns mag es vielleicht weniger verwundern, dass eine Frau mit feministischen Ambitionen nicht sofort in ihrer weiblichen Attraktivität und in ihrer Sexualität verdächtig, im Sinne von sozial auffällig (suspicious) erscheint. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber ist der Wunsch nach Emanzipation keineswegs mit der weiblichen sozialen Rolle vereinbar. In dem Maße, in dem eine Frau ihre Rolle hinterfragt, macht sie sich damit auch als sexuelles Subjekt hinterfragbar. Kann eine Frau, die sich einem Mann nicht unterwerfen will, eine ‚richtige Frau‘, also damit heterosexuell sein? Mathias bejaht das zweigeschlechtliche Begehren für sich und erscheint so als Diskursbruch. Indem Kolb Mathias nicht zu einer homosexuellen Frau macht, untermauert sie ihr Emanzipationsstreben als nicht rein pathologisch wahnsinnigen Wunsch. Lhombre wird als unreifer, nicht liebenswerter Mensch dargestellt. Er ist aber vielmehr emotional verkrüppelt als homosexuell (im Sinne einer festen Identität). Das Identitätskonzept der Homosexualität wird durch beide Figuren in Frage gestellt. Sie sind bestenfalls queer, nicht homosexuell, aber da es dieses Wort damals nicht gab, müssen wir uns mit der Metapher begnügen, dass sie nicht „außerordentlich“ sind, dem Wortsinn nach nicht außerhalb der Ordnung stehen, sondern nur in „zweifachem Licht“ erscheinen. <?page no="74"?> 73 IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) In dem Roman Quell der Einsamkeit wird die Homosexualität der Hauptfigur Stephen dem zeitgenössischen Sexualitätsdiskurs gemäß gezeichnet. Stephen ist anders als die Figur der Mathias in Kolbs Die Schaukel nicht in einem zweifachen Licht dargestellt, sondern sie ist eindeutig als homosexuell erkennbar. Die Autorin Margaret Radclyffe Hall (1880 - 1943) beruft sich auf sexualwissenschaftliche Erkenntnisse, um im Text eine lesbische Frau zu figurieren. Dieser Sexualitätsdiskurs formiert sich, wie im vorherigen Kapitel dargelegt, indem er neue Begrifflichkeiten für gleichgeschlechtliche Sexualität schafft und in eine Identitätsbestimmung überführt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird sich die Sexualwissenschaft als Wissensform durchzusetzen beginnen. Die Sexualwissenschaft kategorisiert ‚Heterosexualität‘, die als soziale Norm etabliert wird, als natürliches Verhalten und die gleichgeschlechtliche Sexualität als deviantes (abweichendes) Verhalten. Der Begriff ‚Homosexualität‘ wurde zu einer medizinischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Kategorie für eine von der sozialen Norm abweichende Sexualität und Lebensweise. Diese Ansicht vertrat zum Beispiel Richard von Krafft-Ebing in dem 1886 veröffentlichten Buch Psychopathia Sexualis 1 , einem populärmedizinischen Werk, das auch im Bücherschrank des Vaters der Protagonistin Stephen in Quell der Einsamkeit vorzufinden ist. In diesem wissenschaftlichen Werk findet das einsame, maskulin wirkende Mädchen ihre Andersartigkeit sozusagen medizinisch gespiegelt. Das Buchwissen autorisiert sie, auf ihre Andersartigkeit zu bestehen. Der Diskurs geht ihrer Identität voraus. In Krafft-Ebings auflagestarkem Handbuch der Sexualwissenschaft wird Homosexualität als sexuelle, objektiv erklärbare Abweichung beschrieben. Der britische Sexualforscher Havelock Ellis, Schüler Krafft-Ebings, rückt Homosexualität, ‚sexuelle Inversion‘, zumal die weibliche, in die Nähe der Degeneration. Sie ist genetisch vorgegeben, wenn auch dort als ‚sexuelle Missbildung‘. Nicht alle Sexualtheoretiker benutzen den deutlich diffamierenden Begriff ‚Degeneration‘. Sigmund Freud distanziert sich ganz davon. Mit Freud jedoch beginnt schon ein Wandel des gerade neu entstandenen Homosexualitätsdiskurses, da er nicht die Annahme teilt, dass Homosexualität ausschließlich genetisch bedingt sei. Wenn sie jedoch als nicht genetisch bedingt gilt, wird sie auch behandelbar. Die Hauptfigur des Romans pocht jedoch darauf, dass sie ihrer lesbischen Identität nicht entrinnen kann. Sie beugt sich dem Diskurs, der sie als abweichend und genetisch mangelhaft verwirft, mit dem Ziel, eine feste Identität zu erhalten. Quell der Einsamkeit erschien 1928. Er war im vormodernen, viktorianischen Stil der englischen Romane geschrieben […]. Die Lebensgeschichte von Stephen Gordon verläuft etwa zeitgleich mit der Lebensgeschichte von Radclyffe Hall: Sie war 48 Jahre alt, als das Buch publiziert wurde, und bekanntlich sind der Roman und dessen legendäre Protagonistin, „die mythische, maskulin auftretende 1 Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis. Mit Beiträgen von G. Bataille, W. Brede, J. Kristeva, E. Lenk u. a. München 1984. <?page no="75"?> 74 IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz Lesbe“, wie sie genannt wurde, weitestgehend autobiographisch. Es ist ein präfeministischer Text, der seine Auffassung der Homosexualität aus der Sexualwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts von Krafft-Ebing und Havelock Ellis bezog, als eindringlicher Appell an gesellschaftliche Akzeptanz oder Toleranz gegenüber sexueller Abweichung intendiert war, der im Geist des christlichen Mitleids und des liberalen Humanismus verfaßt war und so auch im allgemeinen akzeptiert wurde. 2 Mit der Definition der Homosexualität als angeborene sexuelle Orientierung, als genetisch festgelegt, begann der Begriff seine Karriere. Halls Begrifflichkeit privilegiert das Wort ‚invertiert‘ als Synonym für ‚homosexuell‘. Es bedeutet so viel wie ‚umgekehrt‘. Der/ die Homosexuelle ist abnormal/ deviant im Vergleich zu anderen Männern bzw. Frauen und steht am gesellschaftlichen Rand. Während der/ die Homosexuelle ins Lager der Kranken und Entstellten, zumindest Abnormalen, gehörte, verkörperte der heterosexuelle Mensch die gesunde und prachtvolle Lebensform. Sexualforscher wie beispielsweise Magnus Hirschfeld, der als Mitbegründer der ersten Homosexuellenbewegung gilt und demgemäß vor dem Verdacht gefeit ist, Homosexualität degradieren zu wollen, bemühten sich im Sinne einer Bewusstseinsbildung um eine Objektivierung des Phänomens der Homosexualität. Aus einer heutigen Perspektive trägt dieser Objektivierungsversuch Züge einer Degradierung. Das ist jedoch eine ahistorische Bewertung, die vom Denken jener Zeit abstrahiert, denn auch in den homophilen Diskursen gelingt das Werben um Akzeptanz nur innerhalb des gängigen binären Rasters. Schon vor der vermehrten Verwendung des Begriffs der Homosexualität, der sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, gab es (homophile) Versuche, die gleichgeschlechtliche Liebe analytisch zu systematisieren. 1864 veröffentlicht Karl Heinrich Ulrichs die erste von insgesamt 12 Schriften mit dem Titel-„Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ 3 . Er stellte die Hypothese von der weiblichen Seele im männlichen Körper auf. Der Hintergrund der Theorien war prinzipiell derselbe, die Erklärungsversuche für Homosexualität differierten nur graduell. Bei Ulrichs und Hirschfeld hatten sie einen emanzipatorischen Anspruch. Die Theorien manifestieren die binäre Vorstellung und erklären Homosexualität als Abweichung von der Norm. Dies stützt freilich die Vorstellung, dass allein Heterosexualität normal sei und mehr noch, es begünstigt die Annahme, dass Homosexualität dem/ der gleichgeschlechtlich Liebenden auf den Leib geschrieben ist, was selbstverständlich aus queerer Perspektive zum Überdenken der Argumente anregt. Eine Hauptfigur, die diskursgetreu gestaltet ist, wird demgemäß durch all das charakterisiert, was sie bereits durch ihr Aussehen und Auftreten als ‚lesbisch‘ erscheinen lässt. Homosexualität äußert sich nicht nur im sexuellen Verhalten, sondern ist Zeichen eines devianten Subjektes. Quell der Einsamkeit war lange Zeit, besonders im englischen Sprachraum, bei der Thematisierung lesbischer Liebe diskursführend. Der Roman zeigt sich als ein Zeitzeugnis des zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängigen Sexualdiskurses, wird aber bis in die 1980er Jahre als 2 Teresa de Lauretis: Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann Frankfurt am Main 1999, S. 164. 3 Vgl. z. B. Karl Heinrich Ulrichs: -Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. Reprint der Originalausgabe 1864 - 1879. 4 Bände. Hrsg. von Hubert Kennedy. Hamburg 1994. <?page no="76"?> 75 Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) die „lesbische Bibel“ 4 bezeichnet und gilt als der „berühmteste, lesbische Roman“ des 20. Jahrhunderts. 5 Er operiert entlang der binären Opposition Mann vs. Frau und hetero vs. homo, indem Homosexuelle als eine Art Zwischenstufe oder als Gefangene im falschen Körper, die neben den normalen Geschlechtern im Schatten existierten, ins Licht gerückt werden. Wenn ein Buch wie das von Radclyffe Hall dem damals führenden Diskurs um Homosexualität entspricht, darf die Homosexualität der Figur nicht nur psychisch erkennbar (zum Beispiel als Wille, sich gegen die herrschenden Frauenvorstellungen zur Wehr zu setzen) oder auf der Ebene des Begehrens lesbar sein. Eine solche Figur muss auch auf physischer Ebene auf ihre Homosexualität vereidigt sein. So ist Stephen, die, weil die Eltern sehnlichst die Geburt eines Sohnes erhofften, einen männlichen Vornamen trägt, schon als sie das Licht der Welt erblickt ein körperlich abnormes Mädchen. Ihre körperliche Anomalie wird durch den Rufnamen nur unterstrichen. Am Tag ihrer Geburt nehmen erstaunte Blicke sie als „schmalhüftig, breitschultrig“ wahr. 6 Sie ist kein mädchenhaftes Baby, wie auch immer dies auszusehen hätte, und mit sieben Jahren gilt das Kind bereits als Ebenbild des Vaters, eine Ähnlichkeit, die sich vor allem auf die Übereinstimmung mit dem geschlechtlichen Auftreten des Vaters gründet. Stephen wird daher von ihrer schönen, sehr dem gängigen viktorianischen Zeitgeschmack entsprechenden Mutter verachtet. 7 Die Mutter findet ihre Tochter missgebildet. Wie wirkungsmächtig der damalige Diskurs war, zeigt die für uns heute geradezu lächerlich wirkende Sexualisierung des Babykörpers. Die wissenschaftliche Vorstellung über weibliche Homosexualität wurde durch den Roman wort- und bildreich popularisiert. Alle Eigenschaften und Attribute Stephens, sogar schon ihr Aussehen als Baby, weisen seit der Kindheit den Weg für ihre abnorme sexuelle Identität. Karin Lützen merkt an, dass die Popularisierung durch Hall die Stimmen „der Unterdrücker“ stark macht und für lesbische Frauen späterer Generationen ein eher abschreckendes Identifikationsideal bot. 8 Der Preis für eine lesbische Identität würde mit ihrer Problematisierung als abweichend hoch entgolten. Die Monita der Wissenschaftlerin gegenüber Halls Diskurstreue entsprechen einer queeren Perspektive, die Lützen selber nicht als ‚queer‘ bezeichnet hatte, da das Wort zum Zeitpunkt ihrer Äußerung noch nicht gebräuchlich war. Tatsächlich war ein derart der Heteronormativität verpflichteter Roman für eine sich als lesbisch identifizierende Leserin nicht unproblematisch. Die lesbische Existenz stellt sich im Roman als freudlose Identität dar. Stephen ist eine traurige, unerfüllte, homosexuelle Frau, die sich für andere aufopfert und sich larmoyant in ihr Schicksal fügt. Die Figuration des Lesbischen provoziert auch unsere queeren Interventionen. Wenn wir uns genauer anschauen, was der Roman als ‚homosexuell‘ deklariert, erkennen wir sofort die historische Gebundenheit des Textes. So beruht das herausgestellte Emanzipationsbedürfnis 4 Vgl. Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 263. Auch Lillian Faderman bezieht sich darauf, dass der Roman in lesbischen Kontexten als „Bibel“ bezeichnet wird. Vgl. Lillian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer, S. 339. 5 Vgl. ebenda, S. 335. 6 Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit. Roman. Deutsche Ausgabe. Hamburg 1967 [engl. Erstausgabe 1928], S. 11. 7 Vgl. ebenda, S. 14. 8 Vgl. Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 262. <?page no="77"?> 76 IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz der weiblichen Hauptfigur keineswegs auf einer rationalen Entscheidung oder einer universellen Kritik am Patriarchat, sondern ist bei Stephen eingebunden in die biologische Devianz. Emanzipationswille ist hier ein Synonym für die Verkehrtheit der Figur und Mangel an Weiblichkeit. Die zweite Welle der Frauenbewegung kann ein Lied davon singen, wie deutlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Wunsch nach Egalität bei einer Frau als Absage an die Heterosexualität gelesen wurde und oft dazu führte, emanzipationswilligen Frauen ihre Weiblichkeit abzusprechen. Bis in die 1970er Jahre waren heterosexuelle Beziehungen zwischen Mann und Frau, auch juristisch, durch eine Vormachtstellung des Mannes gegenüber der Frau definiert. Sich als Frau gleichwertig fühlen zu wollen, widersetzte sich der Logik dieses hierarchischen Sexualverhältnisses und erschien als Eingeständnis einer zumindest latenten homosexuellen Neigung. In den Erklärungsversuchen für das Phänomen der Homosexualität, auch in den homophilen Diskursen des 20. Jahrhunderts, wurde die Ablehnung der weiblichen Rolle (Gender) durchaus als eine Ablehnung der Weiblichkeit (im Sinne von Sex) gewertet. Bei einer Frau, die sich der weiblichen Rolle gegenüber ablehnend verhielt, vermutete man eine männliche Seele im weiblichen Körper bzw. einen nicht vollständig weiblich ausgebildeten Körper. Wünsche und Hoffnungen, die wir heute der sozialen Rolle von Frauen als nicht entgegengesetzt betrachten würden (Bildungs- und Freiheitsdrang), brachten eine Frau noch im 20. Jahrhundert in den Verruf einer Geschlechtsidentitätsverwirrung. (Gender-) Grenzgänge dieser Art ließen negative Rückschlüsse auf das biologische Geschlecht der Person zu. Sie galt als falsche, verkehrte Frau. Emanzipierte Frauen sind in den Texten nach der ersten Frauenbewegung selten schön (nach Maßgabe des Zeitgeschmackes). Ihre unweibliche Psyche ist sozusagen schon physisch vorgezeichnet. Meist sind sie körperlich schon auf die Rolle der alten Jungfer festgelegt (oder eben wie Stephen lesbisch) - ein Vorurteil, welches erst die dritte Welle der Frauenbewegung ausräumen konnte, das aber in frauenfeindlichen Kontexten gerne zitiert, wenn auch nicht mehr geglaubt wird. Die Klischierung der Hauptfigur zeigt damit ihre Provenienz. Gender, Sex und die sexuelle Präferenz bilden eine engmaschige Matrix. Wenn wir den Roman heute lesen, besteht ein queerer Anspruch gerade darin, diese klare Figurierung auf ihren Entstehungskontext zurückzuführen und uns zu fragen, ob auch Denkräume jenseits der Matrix geöffnet werden. Schon um die Jahrhundertwende bedienen sich Autoren der heterosexuellen Matrix, um eine kohärente lesbische Identität zu gestalten. Frank Wedekind verteidigt in seiner Vorrede zur dritten Auflage des Dramas Die Büchse der Pandora die Darstellung einer lesbischen Figur, der Gräfin Geschwitz, als für die Handlung zentral: Das furchtbare Verhängnis der Unnatürlichkeit, das auf diesem Menschenkind lastet, zum Gegenstand ernster dramatischer Gestaltung zu wählen, wurde in keinem der drei über das Stück gefällten Urteile für unzulässig erklärt. Tatsächlich stehen ja auch in der alten griechischen Tragödie die Hauptfiguren fast immer außerhalb der Natürlichkeit. 9 9 Frank Wedekind: Vorwort zur dritten Auflage 1906. In: Erdgeist. Die Büchse der Pandora. München 1980, S. 85 - 90, S. 86. <?page no="78"?> 77 Er hält nämlich die Geschwitz, nicht Lulu, für die Hauptfigur, für die eigentliche tragische Figur in seinem Drama. 10 Daher versucht er seine Hinwendung zu einer ‚Unperson‘ wie ihr zu legitimieren. Trotzdem hätte mich der Fluch der Unnatürlichkeit allein nicht dazu verlockt, ihn zum Gegenstand dramatischer Gestaltung zu wählen. Ich tat das vielmehr, weil ich dieses Verhängnis, wie es uns in unserer heutigen Kultur entgegentritt, tragisch noch nicht behandelt fand. Mich beseelte der Trieb, die gewaltige menschliche Tragik außergewöhnlich großer, völlig fruchtloser Seelenkämpfe dem Geschick der Lächerlichkeit zu entreißen und sie der Teilnahme und der Barmherzigkeit aller nicht von ihr Betroffenen näherzubringen. 11 1906 hat Wedekind diese Vorrede geschrieben. Es spricht Liberalität und Humanismus aus diesen Sätzen, die schon 20 Jahre vor Hall verfasst worden sind, um für Mitleid gegenüber diesen tragischen Seelen zu werben. Es geht mir nicht darum, Frank Wedekind in besonderer Weise zu rühmen. Er ist ein Kind seiner Zeit. Der humane Anspruch hat mitnichten zur Folge, die Heteronormativität in Frage zu stellen. Geschwitz ist vom „Fluch der Unnatürlichkeit“ betroffen. Sie ist eine verworfene Außenseiterin, der man ihre Tragik ansieht. Sie träumt von weiblicher Emanzipation, ist den Vorstellungen ihrer Zeit gemäß eigentlich lächerlich, wäre sie nicht eine tragische Homosexuelle. Ihre Identität ist nicht nur dadurch definiert, dass sie eine andere Frau, nämlich Lulu, liebt. Die Gräfin steht außerhalb der Weiblichkeit (Sex/ Gender). Bezeichnend dafür ist, dass die Homosexualität zu einem festen Charakterzug der Figur wird, obwohl sie niemals eine sexuelle Handlung vollzieht. Gräfin Geschwitz […] ist selbstständig und träumt davon, sich der Frauenbewegung anzuschließen. Ihre Liebe ist, wenn auch nicht selbstlos, so doch aufopfernd […]. Die einzige Intimität, die sie jemals mit Lulu erlebt, ist der Tausch der Unterwäsche. Sie ist die einzig romantische Person im ganzen Stück, wird deshalb am meisten getreten und betrogen, hat aber wohl als einzige eine wirkliche Leidenschaft, für die sie alles opfert. 12 Die Figurierung der ‚tragischen Lesbe‘ zeichnet sich dadurch aus, dass ihr ein befriedigendes Sexualleben versagt bleibt. Diese Entsagung adelt sie und bietet einen Kontrapunkt zu den mythischen Vorstellungen in französischen Romanen des späten 19. Jahrhunderts, nach welchen Lesben als völlig verderbt und sexualgesteuert galten. 13 Wedekind gelang es, mit der Gräfin eine tragische Figur zu gestalten, die nicht moralisch verdorben war, sondern nur vom Schicksal hart getroffen, außerhalb der ‚Normalität‘ zu stehen. Sie ist reinen Herzens und bereit, Liebe zu geben. Damit wird ein bereits überholtes weibliches Genderideal, das der 10 Die Rezeption hat dies kaum oder wenig beachtet, sondern diskutiert den Lulu-Stoff gemeinhin als Darstellung imaginierter Weiblichkeit, also der Abweichung zwischen Bildern und dem realen Präsenzmodus von Weiblichkeit. In dieser Auslegung ist Lulu eine tragische Figur, die immer nur als Projektion der sie Begehrenden agiert, real aber nicht existiert, wobei der Lustmord an ihr diese Existenzlosigkeit symbolisiert. 11 Ebenda. 12 Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 155. 13 Vgl. Lillian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer, S. 291 - 309. Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) <?page no="79"?> 78 asexuellen Treuherzigkeit, neu akzentuiert. Mit einer kritischen Genderbrille gelesen, wäre im Kontext bürgerlicher Weiblichkeitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts, zumindest von ihrer Psyche her, die Gräfin viel ‚weiblicher‘ als die sexualisierte Lulu. Wedekind markiert mit der Figur literarisch einen Diskursübergang, der sich der sexualwissenschaftlichen Erklärungen von Homosexualität bedient, um homosexuelle Menschen moralisch zu nobilitieren. Das Begehren einer homosexuellen Person war sowohl psychisch (also durch Ablehnung des weiblichen Rollenverhaltens) vorgegeben als auch auf den Leib dieser Person geschrieben, ohne dass die Person der Sexualität frönt. Im Gegenteil, sowohl die Gräfin als auch Stephen sind durch eine Sexualität definiert, die sie nie bzw. fast nie ausleben. Der Roman Halls galt als pornographisch und wurde zeitweise verboten. Selbstredend gibt es in dem rührseligen Werk nicht eine Szene, die dieses Verbot aus der heutigen Perspektive nachvollziehbar macht. Stephens Identität schien den Zeitgenoss*innen wohl so von ihrer Sexualität durchdrungen, dass die Figur allein durch ihre Charakterisierung den Verdacht der Pornographie auf sich zog. Halls Anspruch bei der strikten Charakterisierung bestand natürlich darin, Homosexualität als wesensbestimmend zu diskursivieren, um homosexuelle Akte aus dem juristisch-moralischen Zwangskorsett eines kriminellen Aktes purer Wollust zu befreien und als Erscheinung der Natur akzeptabel zu machen. Wenn auch Homosexualität weiterhin ein abweichendes Verhalten darstellte, so doch eines, das nicht der Herrschaft der Wollust unterstand. Stattdessen handele es sich um die Herrschaft eines invertierten männlichen bzw. weiblichen Geschlechtscharakters, der den jeweiligen Mann bzw. die jeweilige Frau zwänge, dasselbe Geschlecht zu begehren, im Falle von Stephen aber auch befähige, das Begehren nicht vollständig auszuleben und an Liebe zu koppeln. Das Changieren zwischen einer Übersexualisierung der homosexuellen Frau (durch die Rezeption) und dem eifrigen Bemühen, die Keuschheit, den Edelmut und die Sexualverleugnung Stephens (auf der Erzählebene) zu betonen, erzeugt meines Erachtens bereits ein queeres Spannungsfeld. Was ist an dieser homosexuellen Figur sexuell? Allein der Sinneseindruck, den sie hervorruft? Stephen muss von einer so starken sexuellen Aura begleitet sein, dass sie als faktisch asexuell lebende Frau dennoch als Imagination des Pornographischen taugt. Kann eine ‚Missgeburt‘ so viel sexuelle Spannung hervorrufen? Oder ist, auch wenn sich die Figur selbst verunglimpft und sogar ihre Mutter sie als Frau herabgesetzt, Stephen womöglich gar keine ‚Missgeburt‘, sondern eine wirkungsmächtige Imagination von begehrenswerter Weiblichkeit? Die Figur vermag Begehren hervorzurufen, zwar nicht gemäß dem viktorianischen Schönheitsideal, das wohlgemerkt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sowieso veraltet war, sondern gemäß einem androgyneren Ideal. Der Wirbel, den die angeblich so missgestaltete Figur Stephens entfacht, regt zum Nachdenken an. Ist der Versuch, Heteronormativität vehement durch die Darstellung eines nicht heteronormen Subjektes zu bewahrheiten, nicht genauso zum Scheitern verurteilt wie die Verteidigung der Heteronormativität durch die ‚Normalen‘? Die Logik des Verworfenseins lässt sich ebenso brechen wie die der herrschenden Normalität. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Roman queer zu lesen. Eine, für Queer Studies vielleicht bereits kanonisch zu nennende, ist Teresa de Lauretis’ Lesart aus dem Buch Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität (englische Ersterscheinung 1994). Ziel dieser Analyse war es, die Auffassung über weibliche Homosexualität, wie sie in den domi- IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz <?page no="80"?> 79 nierenden Sexualdiskursen (z. B. der Psychoanalyse) definiert ist, kritisch zu hinterfragen. Wie in der Einleitung erwähnt, war Teresa de Lauretis die Erste, die den Begriff queer benutzte, um Heteronormativität in Frage zu stellen. 14 Es ist daher klar, dass de Lauretis Halls diskursgetreuen Roman kritisch betrachten muss. Der Text erscheint nicht queer, denn er beurteilt das homosexuelle Begehren einer heterosexuellen Logik folgend. Stephens inständige Bitte um Akzeptanz ist getragen vom Bewusstsein, nicht der Norm zu entsprechen. Ihre Geschichte ist die eines beständigen Scheiterns. Mit einundzwanzig verliebt sie sich in die Lebedame-Angela Crossby. Während Stephen einer reichen englischen Oberschichtsfamilie entstammt, ist Angela Amerikanerin und passt, wie Stephen, nicht recht in das soziale Umfeld der Grafschaft. In dieser konservativen Gegend, in der Stephen sexuell (mit ihrem anderen Begehren) ausschert, ist auch Angela gesellschaftlich randständig (durch ihr neumodisches Gender). Stephen kann auf wenig Gegenliebe hoffen, obwohl Angela eine körperliche Nähe, die die Grenzen einer normalen Frauenfreundschaft überschreitet, zulässt. Die junge Stephen ist von Angela emotional ergriffen und wirbt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln um sie, ohne jedoch wirklich etwas zu fordern. Eine Analogie des Verhältnisses zwischen Angela und Stephen zu jener tragischen Konstellation zwischen der herzlosen Lulu und der gefühlsstarken Gräfin bei Wedekind drängt sich auf. Stephens Emotionen sind so stark, dass sie die Gefühle, die sie für die Angebetete hegt, als gleichwertig mit den Gefühlen erachtet, die ihr Vater für ihre Mutter hegte. Stephen reflektiert ihre Gefühle in der männlichen Position ihres Vaters, was erneut ihre ‚Verkehrtheit‘ unterstreicht. Sie liebt Angela wie es ein Mann täte, was faktisch nicht stimmt, da kein Mann Angela eine so große Leidenschaft entgegenbringt wie es Stephen zu tun vermag. Angela jedoch erwidert diese Liebe nicht, hält sich Stephen wie einen Lakaien, der ein Auto besitzt und auf Zuruf jederzeit bereit ist, die geliebte Freundin zu unterhalten und zu kutschieren. Sie ist für Angela nur ein probates Mittel gegen die Langeweile und ihre eigene gesellschaftliche Isolation. Als Stephen erfährt, dass Angela eine außereheliche Affäre mit einem Mann hat und dass sie selbst nur benutzt wird, kommt es zum Eklat. Angela offenbart ihre Charakterlosigkeit. Sie verrät Stephens Gefühle, um von ihrem Ehebruch abzulenken, und zeigt ihrem Mann einen Brief von Stephen, in dem die verkannte Liebhaberin über ihre Gefühle zu Angela spricht. Der gehörnte Ehemann ist angewidert von Stephen und demütigt sie. Stephen ist leidgeprüft, was ihre Liebesgefühle betrifft. Auch eine weitere Beziehung zu einer Frau scheitert. Während des Ersten Weltkrieges dient Stephen in einer Sanitätseinheit und lernt so Mary Llewellyn kennen, mit der sie nach Ende des Krieges in Paris zusammenlebt. Diese Beziehung scheint, was den Roman auch bei Erscheinen zu einem Skandalroman machte, von beiden Seiten vor allem emotional geprägt zu sein, allerdings gibt es einmal eine leichte Andeutung auf eine gemeinsam verbrachte Nacht zwischen den Frauen. Da jedoch Stephen um Mary fürchtet, die durch das Zusammenleben mit einer Frau in ein gesellschaftliches Abseits gedrängt ist, gibt sie sie an einen Mann frei. Dieser Mann ist Martin Hallam, der in ihrer Jugend auch um Stephen geworben hatte. Der damalige Antrag hatte die 18jährige 14 Vgl. Teresa de Lauretis: Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities. In: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 3, 2 (1991), S. III- XVIII. Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) <?page no="81"?> 80 Stephen, die sich nur freundschaftlich an Martin gebunden sah, mit innerer Abscheu erfüllt. Der einst abgewiesene Mann verliebt sich nun in Stephens jüngere Freundin Mary. Er kann den damals erlebten symbolischen Machtverlust, der ihn mit der herben Zurückweisung seiner phallischen Qualität ‚als Mann‘ traf, ausgleichen, indem er nun das abnorme weibliche Subjekt, das sexuell nichts von ihm wissen wollte, des einzigen Glückes beraubt. In dem Verlust von Mary gipfelt Stephens Tragik. Stephen bleibt mit ihrem gleichgeschlechtlichen Liebesanspruch als gescheitert zurück und ihre Liebe besteht in der Entsagung. Lässt sich die scheinbare Kohärenz der in jeder Hinsicht nur als Schattenexistenz möglichen lesbischen Existenzweise queeren, etwa indem wir nach den femininen und von Männern begehrten Frauen Angela und Mary fragen, die, anders als Stephen, nicht schon äußerlich ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht negieren und sich dennoch zum ‚Mannweib‘ Stephen hingezogen fühlen? Dieses Begehren basiert nicht auf einer invertierten Geschlechtsidentität. Wie kann man diese Begehrlichkeit in das binäre Konzept von genetisch bedingter Abnormität und Normgerichtetheit einfügen und wo platziert sich Martin, der als gesunder, normaler heterosexueller Mann für die maskuline Lesbe Stephen, die von Geburt an als andersartige Frau erkennbar war, entflammte? Wird dadurch die innere Logik zwischen sex/ gender/ desire nicht doch gebrochen? Wenn wir Quell der Einsamkeit queer lesen wollen, scheint der Ansatz doch eher bei den anderen Figuren des Textes zu liegen als bei Stephen. De Lauretis aber, auf die ich mich hier beziehe, queert bereits die invertierte Stephen. Sie empfindet einen Bruch mit der binären Logik bei folgender Szene. Ich zitiere den Text von Hall im Kontext von de Lauretis’ Thesen: Die betreffende Passage findet sich in der Schilderung von Stephens Liebesaffäre mit Angela Crossby. Stephen ist auf dem Höhepunkt ihrer ungestillten Leidenschaft für Angela, die, wie Stephen richtig vermutet, ein Verhältnis mit Roger hat, ihrem meistverabscheuten Rivalen. Das einzige, worin Stephen Roger überlegen ist, sind ihr sozialer Status und für Angela noch wichtiger, ihr Vermögen. […] Obwohl dieser „unwürdige“ Gedanke sie beunruhigt, versucht sie dennoch ihr Geld und ihren Status zu ihrem Vorteil einzusetzen. Um Angela zu beeindrucken, kauft sie ihr teure Geschenke und bestellt sich selbst ein „schickes rotes Auto“ sowie mehrere maßgeschneiderte Kostüme, Handschuhe, eine Krawattennadel, seidene Strümpfe, Toilettenwasser und nach Nelken duftende Seife. […] Doch „während der Heimfahrt nach Malvern sah sie schon wieder voller Verzweiflung zum Fenster des Zuges hinaus. Für Geld war das Eine nicht zu haben, was sie im Leben brauchte: Angelas Liebe.“ Daran schließt sich der folgende Abschnitt an, den ich „die Szene vor dem Spiegel“ nennen werde: „An diesem Abend blickte sie lange in den Spiegel. Da haßte sie ihren Körper mit den muskulösen Schultern, mit den kleinen festen Brüsten, mit den schmalen Hüften des Sportmenschen. Ihr ganzes Leben mußte sie diesen Körper herumschleppen wie eine ungeheuerliche Fessel, die ihrem Geiste aufgezwungen war. Dieser seltsam leidenschaftliche, unfruchtbare Leib mußte glühend lieben und durfte doch nie wieder geliebt werden von dem Geschöpf, das er anbetete. Verkrüppeln hätte sie ihn mögen, denn er weckte Grausamkeit in ihr; so war dieser Leib, so kraftvoll und sich selber genug, und dabei etwas so Armseliges, Unglückliches, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten, daß ihr Haß in Mitleid umschlug. Nun grämte sie sich über ihren Körper, berührte mit mitleidigen Fingern ihre Brüste, strich über ihre Schultern, ließ die Hände über ihre geraden Hüften gleiten - armer, einsamer IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz <?page no="82"?> 81 Leib! […] Doch sie liebte, und aus ihrer Liebe heraus tastete sie nach dem Gott, der sie geschaffen, sie und ihr schmerzbittres Lieben.“ 15 Theresa de Lauretis argumentiert in einer textnahen Leseweise dieser Passage dafür, dass Stephen zwar einerseits ihren Körper als missgebildet und als „ungeheuerliche Fessel“ verabscheut, aber andererseits in dieser Szene, durch die Zärtlichkeit, die der Körper dann doch in ihr wachruft, verdeutlicht, dass es für Frauen durchaus eine autonome, nicht-fortpflanzungsbezogene Sexualität geben könnte. Stephens Körper ist nicht feminin oder mütterlich, nicht narzißtisch gehegt, fruchtbar oder produktiv, andererseits aber auch nicht unfruchtbar (barren, wie es im Wortlaut heißt) oder verabscheuungswürdig […]. 16 Er weise, so Lauretis, eine „phallische Selbstgenügsamkeit“ auf, die den Verstümmelungswunsch in Stephen provoziert. Im Betasten erkenne der lesbische Körper seine eigene Kraft oder anders ausgedrückt: die Lesbe erkennt die Potenz ihres Leibes. Stephens Körper ist leidenschaftlich und voll Liebe, selbst aber könne er, in der Logik der Ordnung, die ihn ausschließt, kein Begehren wecken. Dieser Körper ist nicht vollständig männlich und komplementär zum Weiblichen. Stephen kann sich nicht gleich einem Mann das Objekt des Begehrens einverleiben. Dazu sei der muskulöse (und dem viktorianischen Schönheitsideal nach wenig feminin wirkende) Körper Stephens eben doch nicht männlich genug. Um allerdings begehrenswert zu sein, fehle es ihm, zumindest oberflächlich betrachtet, an Femininität. Stephen betrauert in der Spiegelszene genau diesen Mangel an Weiblichkeit. Stephen verfügt wie ein Mann über einen begehrenden Körper. Sie spürt, wenn sie sich ansieht, nicht den Wunsch von einem Mann beglückt zu werden, sondern sie möchte selbst beglücken. Als ‚weiblicher Körper‘ kann ihr Körper sowieso keine Liebe (beim Mann) wecken, weil er nicht einladend ist und kein Versprechen gibt, die Lust des Mannes zu stillen. Weibliche Sexualität wird psychoanalytisch als komplementär zu den physiologischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen des männlichen Individuums und doch als defizitär in Bezug auf sein Geschlechtsorgan und dessen symbolischen Vertreter, den Phallus [definiert]. Aus dieser Definition folgt der Ausschluß von Frauen nicht etwa aus der Sexualität (denn die Frau ist ganz im Gegenteil der Ort, die Verlockung des Sexuellen), sondern aus dem Feld des Begehrens. […] Die Beziehung zur Kastration [also der Nichtbesitz des Phallus; Anmerkung, K. K.] beim weiblichen Individuum erlaubt ihr nicht, in das Feld des Begehrens einzutreten, es sei denn als dessen (sein) Objekt. 17 Stephen jedoch hat einen Körper, der begehrt und sich selbst in der Spiegelszene als nicht defizitär, sondern als phallisch empfindet. Um es noch einmal mit anderen Worten auszudrücken: Für Lauretis zeigt sich die Queerness darin, dass ein weiblicher Körper, bzw. im dualistischen Verständnis dessen Geist, sich selbst vor dem Spiegel als Hort des Begehrens erkennt. Der 15 Teresa de Lauretis: Die andere Szene, S. 170f. 16 Ebenda, S. 173 [Hervorhebung im Original]. 17 Ebenda, S. 178 [Hervorhebung im Original]. Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) <?page no="83"?> 82 soziale Ausschluss dieser Körperlichkeit resultiert daraus, dass die Lesbe (körperlich und seelisch) selbst begehrt, ohne sich als defizitär und komplementär gegenüber dem Phallus zu verhalten. Ihre Körperlichkeit widersetzt sich dem Gebot, männliche sexuelle Aktivität herauszufordern und sich als Objekt für den Mann zu präsentieren. Ein weiblicher Körper, der, nicht eigentlich unfruchtbar, doch nicht gewillt ist, sich in den prokreativen Sexualprozess einzuspeisen, also fortpflanzungsorientierte Sexualität zu leben, stellt sich als ‚blinder Fleck‘ dar. Stephen geht in der Ordnung, die sie ausschließt, eben doch nicht völlig auf. Es droht auch die Gefahr, dass es Menschen geben könnte, die diesen Körper als begehrenswert empfinden, was die Sittenwächter ihrer Zeit auf den Plan rief. Diese Frau hat eine (vom Mann unabhängige, autonome) Sexualität, die eigentlich als unmöglich gilt, und so verweigert sie sich dem binären Begriffssystem durch die Logik des eigenen körperlichen Begehrens, das nicht auf den Phallus, sondern auf das Weibliche, gerichtet ist. Die begehrende (lesbische) Frau widersetzt sich dem Ausschluss des Weiblichen aus dem Feld des Begehrens, der an die Mangelerfahrung gebunden ist. Insofern ist sie phallisch und selbstgenügsam, weil sie an sich keinen Mangel (am Phallus) empfindet, sondern eher einen Mangel an Weiblichkeit. Ihr Verlangen strebt nach dem Weiblichen. Ihre Existenz ist aber weder symbolisch noch sozial anerkannt, was den Selbsthass der Protagonistin verursacht, welcher der eines leidenschaftlich liebenden und begehrenden weiblichen Menschen ist, der dafür angefeindet wird, dass er sich als nicht kastriert (also als nicht mangelhaft) empfindet und sich in eine Begehrensautonomie erhebt. Diese Interpretation baut auf Prämissen der Psychoanalyse auf, einer Theorie, deren Genderkonzept ‚Weiblichkeit‘ als defizitär gegenüber der ‚Männlichkeit‘ begreift. 18 Teresa de Lauretis möchte, indem sie Stephen näher betrachtet, aber zeigen, dass sich die „ideologischen Annahmen über gender“ 19 und sexuelle Identität, die um 1900 geprägt worden sind, als unzureichend erweisen, um heutzutage lesbische Sexualität zu erklären. 20 Androzentrismus und heteronormative Setzungen verhindern es, Stephens queere Identität vollständig in den Blick zu bekommen. Diese Thesen sind sehr vielschichtig und voraussetzungsreich, nicht zuletzt weil sie eine Kritik an der Psychoanalyse, mit der wir uns in diesem Studienbuch nicht umfassend beschäftigen, formulieren. Gleichzeitig sind sie sehr inspirierend. Halten wir so viel fest: Obwohl die Logik des Textes deutlich darauf gerichtet ist, die heteronormative Begehrensstruktur zu bestätigen, changiert Stephen zwischen Frausein (keinen Penis haben) und einem ‚verkehrten‘ Frausein. Ihre körperliche weibliche Existenz agiert sie nicht ‚folgerichtig‘ aus. Sie bricht mit der Logik der heterosexuellen Matrix bereits auf der Ebene der Körperlichkeit (Sex), denn sie müsste sich wünschen, einen Penis zu haben, statt ‚sich selber genug‘ zu sein. Sie erhebt zwar männliche Ansprüche (das Recht, eine Frau zu begehren), verfügt aber weder über einen biologisch männlichen Körper noch erstrebt sie ihn für sich. Das ist deshalb so interessant, weil der Text permanent Anstrengungen unternimmt, der heterosexuellen Matrix nicht zu widersprechen, indem er Stephen konsequent als ‚invertiert‘ definiert und ihr lesbisches Begehren als Folge ihrer Männlichkeit erklärt. 18 Vgl. ebenda, S. 178. 19 Ebenda [Hervorhebung im Original]. 20 Vgl. ebenda. IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz <?page no="84"?> 83 Doch Teresa de Lauretis macht auf Schwierigkeiten dieses Definitionsversuches aufmerksam. Stephens körperliche Existenz ist nicht völlig zu fassen. Ich möchte noch eine andere Brechung der binären Logik, die der Text oberflächlich durch die Anerkennung zeitgenössischer Sexualtheorien teilt, in den Blick nehmen. Der Text queert die Sexualtheorie auch dadurch, dass Stephen weibliches Begehren durchaus hervorrufen und in Stand setzen kann. Sie durchbricht mit ihrer leiblichen Existenz die Bedingungen, die zu dem Ausschluss einer selbstbestimmten, nicht fortpflanzungsorientierten weiblichen Sexualität führen. Aber auch die von ihr begehrten Frauen brechen diese Norm, wenn sie jemanden begehren, der nicht und schon gar nicht ‚vollständig männlich‘ ist. Angela Crossby, die erste große Liebe Stephens, scheint eine Frau zu sein, die, aus einem heteronormativen Blickwinkel betrachtet, durchaus als weibliche Figur bestehen kann. Angela war von einer erstaunlichen Blondheit; ihr Haar war weniger golden als silbern. Sie trug es kurzgeschnitten wie ein mittelalterlicher Page. Gerade und glatt fiel es herab und reichte bis zu den Ohrläppchen; das gab ihr in jener Zeit der ondulierten und toupierten Frisuren ein ungewöhnliches Aussehen. Ihre Haut war sehr weiß, und Stephen begriff, daß diese Frau nie viel Farbe haben würde. Auch ihr ziemlich großer Mund würde sich nicht stärker röten, sondern stets blaß und korallenfarben bleiben. Alles, was sie an Farbe besaß, schien sich in ihren Augen zu konzentrieren, die groß und von langen blonden Wimpern überschattet waren. Ihre Augen waren von geradezu unwahrscheinlichem Blau, das mit Purpur versetzt schien; ihr offener Ausdruck war der eines Kindes - sehr unschuldig, sehr zutraulich. Als Stephen diese Augen betrachtete, spürte sie, wie bei der Erinnerung an den Klatsch, der ihr über die Crossbys zugetragen worden war, Entrüstung in ihr aufstieg. Die Crossbys standen, wie sie wußte, in schlechtem Ruf. […] Von seiner Frau hieß es, sie habe in New York auf der Bühne gestanden, und ihr Vorleben sei daher recht zweifelhafter Natur. Genaueres wußte niemand von ihr, doch gab bereits ihre Haartracht Anlaß genug zu Verdächtigungen. Eine Amerikanerin, die Schauspielerin gewesen war! […] Während Stephen Angela betrachtete, kamen ihr diese Dinge ins Gedächtnis. Aber sie schienen plötzlich an Bedeutung zu verlieren, denn nun ruhten diese blauen Augen auf ihr […]. Dann dämmerte es ihr, daß diese Frau schön war - wie eine bizarre Blume, im Dunkeln erblüht, wie eine seltene, bleiche Blüte ohne Makel. 21 Angela weist nicht gerade einen bewunderungswürdigen Charakter auf. Ihre moralische Desorientiertheit ist mit der Lhombres (vgl. Kap. III) vergleichbar. Sie wird als negative Figur dargestellt, die Stephen für ihre Interessen einspannt, sie mit sexuellen Versprechungen bei der Stange hält, das heißt Stephens Verliebtheit bis zu einem gewissen Punkt Nahrung gibt, ohne sich ihr wirklich emotional oder sexuell zu öffnen. Stephen kann sich zwar nicht von ihr lösen, denn Angela bestärkt sie in ihrem Begehren, doch andererseits hat die geliebte Amerikanerin kein Interesse, die Hoffnungen, die sich Stephen auf sie macht, wirklich zu erfüllen. Denn Angela ist nicht homosexuell! Sie gehört den gängigen Sexualtheorien ihrer Zeit nach nicht zu dieser Spezies. Sie ist moralisch verroht, aber nicht pathologisch gekennzeichnet. Vielleicht mag man für sie den Begriff der Dekadenz bemühen. Angela ist als Femme fatale reizvoll für Männer und hat ihre Sexualität völlig auf dieses Geschlecht ausgerichtet. Neben 21 Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit, S. 157f. Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) <?page no="85"?> 84 der lukrativen Ehe hält sich die Lebedame auch einen Liebhaber. Sie gibt sich schwach und mädchenhaft, ist aber reflektiert genug, ihre Sexualität und sexuelle Ausstrahlung im Feld des Begehrens zu instrumentalisieren und sich als Projektionsfläche männlicher Wünsche anzubieten, hat daran aber auch Freude. Diese das Begehren anspornende Rolle spielt sie auch gekonnt vor Stephen und wird so zur Projektionsfläche für Stephens lesbische Wünsche. Als die beiden sich das erste Mal treffen, rettet Stephen Angelas Hund und nimmt so die männliche Bestimmung des Beschützers an. Aber stört es nicht das Bild, dass Angelas Anziehungskraft, die sie ohne Frage auch auf Männer hat, auf einem eher bizarren Charme beruht? Sie ist eine Art Halbweltdame, trägt eine hochmoderne, sehr androgyne Frisur, ist mehr mädchenhaft als klassisch feminin. Wie Stephen entspricht sie keineswegs dem viktorianisch-passiven weiblichen Schönheitsideal, sondern im Kontext dieser Schönheitsvorstellung betrachtet ist sie ‚vermännlicht‘, was der weiblichen Position als Objekt des Begehrens, die Angela einnimmt, in dem Roman durchaus nicht Abbruch tut. Doch bricht sie nicht auch mit klassischer Weiblichkeit, indem sie aktiv in das Feld des Begehrens eintritt? Der Liebhaber Roger, dem sie sexuell verfallen ist, kann ihr kein Prestige verschaffen. Er ist eine Gefahr für ihre soziale Existenz und trotzdem richtet sie ihre sexuellen Wünsche auf ihn, die dadurch als primär libidinöse Sehnsüchte erkennbar sind. Ihre sexuellen Ambitionen sind nicht gesellschaftlich kompatibel, da sie kein wirkliches Zusammenleben mit Roger erstrebt. Das, was der Text als ideale Weiblichkeit durch Lady Anna, Stephens Mutter, die schöne, sehr weibliche, mit runden Formen und aufwendiger Haarpracht dargestellte Mutter, der ihre seltsame Tochter zuwider ist, etabliert hat, wird durch die mondäne und moderne Angela und deren ungewöhnliches, eher androgynes Aussehen zum Einsturz gebracht. Dies geschieht, ohne dass Angela tatsächlich als Homosexuelle, also als Zwischenwesen, als männliche Seele im weiblichen Körper, dargestellt ist. Im Gegenteil: Angela ist eine begehrenswerte Femme fatale. Angela hat eine weibliche Seele und einen weiblichen Körper, nur ist ihre Weiblichkeit eine andere, ja eine erotisch herausfordernde. Sie entspricht phänomenologisch dem sich in den 20er Jahren etablierenden Rollenmodell der ‚neuen Frau‘. Körperlichkeit und Genderrolle, die auf der Oberflächenebene als Sache der Natur oder als gottgewollt verhandelt werden, werden durch Angelas so anders erscheinende Femininität (verglichen mit den Frauen der Grafschaft) zu einer kulturellen Angelegenheit. Angela (als amerikanische Frau der Bühne) ist anders weiblich als die konservativen Damen der Grafschaft, ja ihre Weiblichkeit räumt ihr sogar ein Begehren ein. Gleichzeitig gilt sie aber als nicht weniger (oder falsch) weiblich als die anderen weiblichen Figuren, ihre Weiblichkeit ist nur in einer anderen, nämlich der amerikanischen Bühnen- und Flapperkultur, postfreudianisch kodiert worden. Durch Angela wird der Begriff von Gender als ein sozialer offengelegt. Die weibliche Rolle ist nicht angeboren. Doch Angela bringt noch mehr Wirbel in die heterosexuelle Matrix. Sie wird als heterosexuelle Figur im Text darstellt, eine listige Frau, die egoistisch mit Stephens Begehren spielt und die Stephens Gefühle also gar nicht erwidern möchte. Das tut sie auch nicht. Emotional hat sie eine Grenze zwischen sich und Stephen errichtet. Angelas Verhalten zeigt, dass sie Stephen nicht liebt und auch, dass sie niemals das Wagnis eingehen würde, die gesellschaftliche Stellung, die sie durch die Heirat mit einem neureichen Mann erworben hat, durch eine lesbische Affäre zu gefährden. Aber ist Angelas sexuelles Begehren auch so konsequent auf den höhergestellten Mann IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz <?page no="86"?> 85 ausgerichtet wie ihre rationale Einstellung und ihr Gefühlshaushalt? Wohl kaum! Denn der Text erzählt von homosexuellen Wünschen, die eine heterosexuelle Frau der binären Logik nach nie empfinden könnte. Dass Angela Stephens Nähe sucht und ihre Leidenschaft für sie in Form einer passiven Hingabe unterstützt, hängt nämlich, neben all den materiellen Vorteilen, auch damit zusammen, dass sie durchaus Gefallen an der „kaum erträglichen Süße“ ihrer Zusammenkünfte findet. Zwar kann und will sie nicht in den Verdacht kommen, diese deviante, also abtrünnige Sexualität sei ihr zuzusprechen, und hält Stephen in gewissen Grenzen, jedoch ist ihre Beziehung zu Stephen durchaus sexuell konnotiert. Angela ist herzlos und ehrsüchtig, doch sie ist nicht gefeit vor Stephens Avancen. „Weißt du auch, was du da sagst? “ flüsterte Angela. Und Stephen gab zurück: „Ich weiß nur, daß ich dich liebe, und daß mir sonst nichts auf der Welt etwas bedeutet.“ War es der verwunschene Abend, den der Hauch eines wunderlichen, unirdischen Abenteuers mit kaum erträglicher Süße durchgeisterte? Angela trat einen Schritt näher zu Stephen hin, dann noch einen, bis sich ihre Hände berührten. Alles, was sie war, was sie gewesen war und vielleicht morgen schon wieder sein würde, zerfloß und verdichtete sich zu einem einzigen mächtigen Impuls, einer unentrinnbaren Sehnsucht, und diese Sehnsucht hieß Stephen. Die reine Kraft des blinden und bewußtlosen Willens machte Stephens Verlangen auch zu dem ihren, forderte Erfüllung. Dann nahm Stephen Angela in ihre Arme und küßte sie wie ein Liebhaber auf den Mund. 22 Damit schert Angelas Verlangen klar aus der klassischen Vorstellung der bereits auf den Leib geschriebenen Andersartigkeit aus. Das andere Begehren, das Angela für Stephen empfindet, ist ebenso Teil ihrer Identität wie ihre Promiskuität, ihre Erotik und ihre Rolle als Objekt männlicher Begierde. Dass sie keine Liebe zu Stephen entwickelt, basiert nicht auf der Abscheu vor Stephens Körperlichkeit und Stephens Wesen. Ihre unsentimentale Lebensweise kündet von einer neuen weiblichen Genderrolle. Angela mangelt es sowieso an der Fähigkeit, Menschen zu lieben. Sie liebt weder Stephen noch ihren Ehemann oder ihren Liebhaber, aber sie begehrt ihren Liebhaber und ihre Liebhaberin. Das Eingeständnis eines eigenen erotischen Verlangens zieht bei Angela auch das Eingeständnis des homosexuellen Verlangens nach sich. Angela ist nicht emotional an Stephen gebunden und sie ist mitnichten als eine Lesbe dargestellt, aber - das sagt uns der Text - sie ist sexuell nicht von Stephens Werbung abgestoßen, sie begehrt das missliche Geschöpf. Nicht leidenschaftlich und hingebungsvoll, dazu ist sie zu herzlos, als Mensch ist ihr Stephen unwichtig, aber es reizt sie, sich auf Stephen einzulassen, gerade weil sie ‚anders‘ ist. Als sexuelles Experimentierfeld ist Stephen für Angela reizvoll. Und für dieses tatsächlich queere Begehren hat der Text keinen Namen. Angela wird moralisch verworfen, weil sie mit Menschen und Gefühlen spielt, was der gängigen Sexualmoral nach weder Männern noch Frauen gestattet ist, doch in ihrem Begehren ist Angela aufrichtig. Sie begehrt gegen die Norm, gegen die Heteronormativität. Sie begehrt überhaupt und das, obwohl ihr als Frau - zumindest im Kontext der strengen viktorianischen Sexualmoral, von der ihre Umgebung noch geprägt ist - eigentlich gar kein Begehren zustünde. Damit erweist 22 Ebenda, S. 175. Margaret Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit (1928) <?page no="87"?> 86 sich Angela als Frau der neuen Zeit, was bei genauer Betrachtung heißt, dass ein Zugeständnis in Hinsicht auf weibliches Begehren auch ein Zugeständnis in Hinsicht auf lesbisches Begehren zu sein hat. Erlaubt man Frauen, sich sexuell auszudrücken, bleibt dieser Ausdruck nicht zwangsläufig auf den heterosexuellen Rahmen beschränkt. Der Text, der lesbisches Begehren auf das feste Fundament körperlicher Devianz stellt, um es moralisch zu verteidigen, entwirft mit Angela (und im Folgenden auch noch mit Mary) auch queere Subjekte, denen ihre abnorme Sexualität nicht auf den Leib geschrieben ist. Die feminine Angela schert (auch im Sinne von Teresa de Lauretis) aus der heteronormativen Begehrensökonomie aus. Sie akzeptiert den Ausschluss aus dem Feld des Begehrens nicht. IV Völlig ‚verkehrt herum‘ oder Die Melancholie der Devianz <?page no="88"?> 87 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) Obwohl Radclyffe Halls Quell der Einsamkeit diskursführend war, gab es nach dem Ersten Weltkrieg auch Versuche, lesbische Liebe unter Frauen darzustellen, die den sexualwissenschaftlichen Diskurs um 1900 nicht abbildeten. Ein außergewöhnlicher Text soll im Folgenden vorgestellt werden. In dem erst im Jahre 1977 mit einer Raubkopie im lesbischen Aktionszentrum Berlin wiederverlegten Frauenroman Der Skorpion wird eine lesbische Liebe auf eine dem vorherrschenden weiblichen Homosexualitätsdiskurs des 20. Jahrhunderts nicht entsprechende Art geschildert. In dem Maße, in dem Quell der Einsamkeit als literarischer Ausdruck des Sexualitätsdiskurses verstanden werden kann, ist Der Skorpion ein literarischer Gegenentwurf dazu. Der Roman, der 1919 erstmals veröffentlicht wurde, verweigert es konsequent, die gleichgeschlechtlich begehrenden Frauen durch abnorme Körperlichkeit (Sex) zu figurieren. Es handelt sich um einen sentimentalen Liebesroman, der, wenn er nicht brisante Themen (Homosexualität und einen daraus resultierenden Freitod) berühren würde, sogar seicht zu nennen wäre. Während Mette, die Protagonistin des Romans, im Laufe der Handlung einen Entwicklungs- und Reifeprozess durchmacht, ist Olga, die Frau, in die sich Mette unsterblich verliebt, eine eher klischierte Figur. Sie wird letztendlich auch aus Liebe Selbstmord begehen; nicht weil die geliebte Person die Gefühle nicht erwidert, sondern weil die gesellschaftlichen Bedingungen eine glückliche Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen verhindern. Die Autorin Anna Elisabet Weirauch (1887 - 1970) bindet den Roman geschickt an den romantischen Liebesdiskurs. Der Text referiert nicht nur indirekt auf das Modell der romantischen Liebe, sondern setzt auch Bezugspunkte zu historischen Figuren der Romantik wie Karoline von Günderrode (1780 - 1806), einer Frau, die letztlich auch an ihrem Liebesanspruch scheiterte, und Bettina von Brentano (1785 - 1859), die vor allem als Freundin der Günderrode thematisiert wird. Das Modell der romantischen Liebe verstehen wir gemeinhin als heterosexuell kodiert. In diesem Roman wird ‚romantische Liebe‘ aber ganz unverblümt als eine Liebe unter Frauen angesehen. ‚Romantische Liebe‘ wird durch den historischen Bezug konzeptionell an homosoziale und homoerotische Beziehungen gebunden, indem die seelische Verbundenheit der Romantikerinnen zueinander thematisiert wird. Der ‚Romantischen Liebe‘ wird eine weiblich-homosoziale Genese attestiert und dieses Ideal gilt im Roman als ein rein weibliches Konzept. Das sexuelle Begehren unter Frauen wird in dem Roman vom Konzept der romantischen Freundschaft aus gedacht. Gleichgeschlechtliche Liebe, die Sexualität impliziert, so mühelos an das Konzept romantischer Freundschaft zu knüpfen, gelingt der Autorin vermutlich deshalb, weil um die Jahrhundertwende noch ein Bewusstsein für die große Bedeutung von Frauenfreundschaften herrscht, die im 19. Jahrhundert als sozial erwünschte Beziehungsform galten. Weirauch modernisiert diese Liebe im Sinne Freuds, indem sie den Faktor der Sexualität diesen romantischen Beziehungen zuerkennt. Damit bricht sie mit dem modernen Sexualitätsdiskurs, denn die sexuelle Leidenschaft unter Frauen diskursiviert der Roman als etwas ebenso Selbstverständliches wie die homosoziale <?page no="89"?> 88 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben sentimentale Zuneigung. Allerdings ist der Roman nicht anachronistisch, er zeigt auch Bezüge zu der Sexualwissenschaft seiner Zeit, in der die abnormale Homosexualität ins Lichte der Wissenschaft gerückt wird. So wie in Quell der Einsamkeit Stephens Vater die zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen Abhandlungen in seiner Bibliothek verwahrt hat, ist auch die Bibliothek von Mettes Vater mit Bänden dieser Art ausgestattet. Die Erklärungsversuche für die Frauenliebe, die in diesen Abhandlungen gegeben werden, erscheinen Mette unzutreffend, weil sie die gleichgeschlechtliche Liebe auf eine Art problematisieren, die Mettes Selbstbild nicht entspricht. Die Widersetzung, die Anna Elisabet Weirauch dem zeitgenössischen Sexualdiskurs gegenüber wagt, ist nicht von naiver Natur. Während in anderen Büchern, die Homosexualität thematisieren, die Fachbegriffe nicht verwendet werden, spricht der Roman von ‚Konträr-Sexuellen‘. Dieser Begriff geht auf den Psychiater Carl Westphal (1833 - 1890) zurück und steht als Sammelbezeichnung auch für Phänomene wie Homosexualität und Transsexualität, die sich erst später ausdifferenzieren. Der Begriff wird aber von den Liebenden nicht als geeignetes Identitätskonzept für sich selbst akzeptiert. Der Widerspruch gegen die zeitgenössischen Erklärungsversuche der Homosexualität gründet nicht auf Unkenntnis der wissenschaftlichen Diskurse darüber. Die Autorin lässt ihre Figuren kritisch zu den Aussagen der Wissenschaft über Homosexualität Stellung nehmen. Es ist auffällig, dass die beiden weiblichen Hauptfiguren nicht im Geringsten als ‚invertiert‘/ ‚konträr sexuell‘ erscheinen. Die beiden sich liebenden Frauen sind äußerlich betrachtet (auf der Ebene von Gender) keineswegs deviant. Es gibt zu dem Skorpion wenig Forschungsliteratur. Doch auch schon bevor queere Diskurse en vogue waren, stach den Forscherinnen ins Auge, dass die Frauen liebenden Frauen dieses Romans feminine Erscheinungen sind und ihr homosexuelles Begehren „weniger angeboren als ein Begleitumstand anderer Aspekte der Persönlichkeit und Erfahrung“ 1 zu sein schien. Der Roman entstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg und folgte dem literarischen Debüt von Anna Elisabet Weirauch. Bis zum Ausbruch des Krieges hatte die Autorin erfolgreich als Schauspielerin gearbeitet. Dem ersten Band des Skorpions folgten 1930 und 1931 noch ein zweiter und dritter Band. Das lässt auf den Erfolg des Textes schließen. Inwieweit dem Roman autobiographische Einflüsse nachzuweisen sind, lässt sich nicht so eindeutig wie bei Radclyffe Hall belegen. Weirauch lebte jahrzehntelang mit ihrer Freundin Helena Geisenhainer zusammen und war niemals mit einem Mann verheiratet. Die Autorin entsprach (so wie ihre Hauptfiguren) keineswegs dem klischierten Bild einer maskulinen Lesbe, sondern galt, patriarchaler Vorstellung nach, als anziehend. Gleiches trifft auf Mette und Olga, die gleichgeschlechtlich agierenden Figuren des Romans, zu. Hervorzuheben an diesen Frauen ist nicht nur, dass sie weiblich erscheinen. Vor allem für Olga lässt sich sagen, dass sie über eine omnipotente erotische Ausstrahlung verfügt. Mette, die Jüngere der beiden Freundinnen, wird mehrfach als hübsch, Olga, die etwas Reifere, als schön beschrieben. Diese Schönheit (beider Frauen) widersetzt sich nicht den zeitgenössischen Geboten an Weiblichkeit. Es ist dabei nicht nur die physische Ausstattung, die sie weiblich erscheinen lässt, auch die gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit (zum Beispiel in der Art sich zu kleiden und 1 Claudia Schoppmann: Der Skorpion. Frauenliebe in der Weimarer Republik. Hamburg 1991, S. 12. <?page no="90"?> 89 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) geschmackliche Vorlieben auszubilden) werden bedient. Das markiert einen Unterschied zu Stephen, die in gewöhnlichen Frauenkleidern karnevalesk aussah. Olgas weiblicher Kleidungsstil hingegen ist vorteil- und vorbildhaft. Das wird bei der ersten Begegnung der beiden Frauen bereits deutlich. Die junge Mette ist bei Freundinnen zu Besuch. Die intelligente Frau langweilt sich. Ihre sogenannten Freundinnen und deren Lektüren interessieren sie nicht. Die Öde des Teenagernachmittags endet unerwartet, da Olga, die Cousine der Gefährtinnen, ins Zimmer kommt: Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen, die Fensterflügel bewegten sich knarrend, die Gardine fiel schwer wie ein Sack runter, eine neue dunklere Wolke schob sich vor die Sonne - aber dies alles bemerkte Mette Rudloff nicht - denn sie hatte vollauf zu tun, Olga Radó zu betrachten, und konnte ihre Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von ihr abwenden - für lange Zeit nicht. Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war schön […]. Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was Mette gefiel, ohne daß sie sagen konnte, warum. Man konnte es mit den Worten „geschmackvoll“ oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun. Mette empfand dunkel: So möchte ich angezogen gehen. 2 Olga ist derart beeindruckend und modern, dass wir der Figur eine Rebellion gegen die vor dem Krieg herrschenden weiblichen Gendervorstellungen attestieren können. Ihr Auftreten kündigt bereits 1919 das Genderideal der neuen Frau an. So wird Olgas Gesicht als „kühn geschnitten“, das Haar „schlicht, dunkel und reich“ und ihre Statur als „schlank“ beschrieben. All das, so auch ihre tiefe, weiche Stimme, sind Schönheitsattribute der neuen Frau. 3 Diese Attribute behindern nicht die erotische Ausstrahlung der jungen Dame, sondern manifestieren sie. Während die Frauen der Müttergeneration, wenn sie als schön galten, als aufwendig frisiert, vollbusig und eher mit runden Formen wie Lady Anna, die Mutter von Stephen, beschrieben waren, ist die Schönheit der neuen Frau auf mehr Aktionismus und Bewegungsfreiheit ausgerichtet. Gleichzeitig ist die so erscheinende Frau mit aktiver Sexualität assoziiert. Das Genderideal der neuen Frau lässt sich vom männlichen Ideal durchaus unterscheiden, so dass die feminine Ausstrahlung der beiden Frauen geschlechtsbinär gestaltet ist. Dieses Frauenbild vereidigt jedoch Damen des bürgerlichen Standes nicht mehr auf reine Passivität. Mette und Olga sind begehrende, bildungshungrige, vielleicht könnte man sagen mondäne Wesen. Begehrlichkeit und Bildungshunger sind zwei Charaktereigenschaften, die vor dem Ersten Weltkrieg durchaus Zweifel an der ‚natürlichen‘ Weiblichkeit dieser Frauen geweckt hätten. Nun allerdings deuten diese Eigenschaften nur auf eine Genderrevolution, nicht auf sexuelle Devianz. Würden die Frauen nicht so deutlich ein neues, vom 19. Jahrhundert abgewandtes Weiblichkeitsbild illustrieren, ließe sich ihre sehr schnell gefasste emotionale Zuneigung als sentimentale Frauenfreundschaft lesen. Dass dieser Text nicht auf eine vergleichbare Abwehr stieß wie der Roman Quell der Einsamkeit, über den ein Gerichtsstreit wegen Obszönität 2 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion. Das berühmte Lesben-Kultbuch der 20er Jahre. Berlin 1993 [Erstausgabe 1919], S. 31f. 3 Vgl. ebenda. <?page no="91"?> 90 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben entbrannte, hängt gewiss damit zusammen, dass Mette und Olga nicht aus der weiblichen Gendernorm ausscheren und mit ihrer Liebe eine aus dem 19. Jahrhundert bekannte Beziehungsform zitieren. Es war in diesem Studienbuch bereits von der großen Toleranz die Rede, die auch noch um 1900 für die Liebe unter Frauen bestand (vgl. Kap. I). In einer stark in männliche und weibliche Sphären getrennten Welt gilt es als Binsenweisheit, dass strikte Sphärentrennung homosoziale Beziehungen beförderte. Diese Beziehungen stellen nach androzentrischer Vorstellung allerdings keine Konkurrenz für die heterosexuelle Liebe dar. Die männliche (sexuelle) Herrschaft über den weiblichen Körper schien von derartigen Sentimentalitäten nicht angreifbar zu sein. Bis zur Durchsetzung der Sexualwissenschaft waren starke Emotionen von Frauen untereinander unverdächtig. Erst als der Verdacht, dass eine Frau eine andere Frau begehrlich (im physischen Sinn) betrachten könnte, begrifflich zu fassen war, verloren Frauenfreundschaften und weibliche Schwärmereien ihre Unschuld. Die sexualwissenschaftliche Erklärung für das gleichgeschlechtliche Interesse war der Hinweis darauf, dass eine solch anstößige Frau ‚invertiert‘, verdreht, eigentlich psychisch ein Mann sein musste. Interessanterweise überschreitet der Roman die beiden damals bekannten Diskurse um weiblich-weibliche Zuneigung. Weder der ältere noch der jüngere wird akzeptiert. Sie werden zwar zitiert, dennoch sind Mette und Olga nicht diesen Diskursen gemäß figuriert. Im Skorpion ist die Liebe der Frauen deutlich sexualisiert, das heißt dass sich der präsexualwissenschaftliche Begriff der Schwärmerei und romantischen Freundschaft, auf den als Konzept referiert wird, als unvollständig erweist, um die Liebe zwischen Olga und Mette zu fassen. Der zeitgenössische Homosexualitätsdiskurs, der durchaus bekannt und der medial im Bücherschrank des Vaters repräsentiert ist, wird verworfen, denn keine der beiden Hauptfiguren ist auf der Genderebene als ‚invertiert‘ bzw. ‚konträr sexuell‘ erkennbar. Mette und Olga stoßen niemanden äußerlich ab. Das mag ein Grund sein, warum diese beiden Freundinnen toleriert worden sind, obwohl, anders als in Quell der Einsamkeit, die Sexualität der Frauen offen thematisiert wird. Ihr gleichgeschlechtliches Begehren agieren sie aus, ohne den performativen Rahmen der Vorstellungen von weiblichem Gender zu sprengen, was aber ganz deutlich die heterosexuelle Matrix herausfordert. Der im 19. Jahrhundert entstandene Begriff von Homosexuellen operiert damit, dass den davon betroffenen Menschen das Begehren auf den Leib geschrieben wurde. Bei Homosexuellen zeige auch das Verhalten Züge der anderen Geschlechtsrolle. Im Skorpion ist das Gegenteil der Fall. Abgesehen davon, dass die Protagonistinnen nicht nur hübsch, sondern äußerst reizvoll sind, zeigen sie sich feminin in Auftreten und Gebaren. Sie lieben sich ‚weiblich‘, sprechen durch Blumen und Lyrik miteinander, vergleichen sich mit den Romantikerinnen und kosten das, was auch heute noch gemeinhin als feminine Vorlieben (bestimmte Formen von Zärtlichkeit, Freude an Poesie und aufwendiger Ästhetik) gilt, miteinander aus. Keine der beiden übernimmt die männliche Rolle oder wird von der anderen als konträres Gegenüber begehrt. Sie lieben und begehren sich ‚als Frauen‘. In ihrem Liebesspiel wirken sie mädchenhaft und versponnen. Mag man vermuten, dass Olga durch ihren Altersvorsprung von zehn Jahren und die damit einhergehende größere Lebenserfahrung, die auch bereits vorangehende Erfahrungen mit der Frauenliebe einschließt, kurzzeitig als Führende, als ‚männlichere‘ oder zumindest emotional abgeklärtere Figur der Verbindung erscheinen könnte, wird dies doch dadurch negiert, dass die jüngere Mette eine <?page no="92"?> 91 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) größere finanzielle Potenz und mehr Tatkraft aufweist. Sie wirbt um die Angebetete, so dass letztendlich sie als die Verführerin auftritt; allerdings als eine durch Olgas omnipotenten Charme schon längst selbst verführte Verführerin. Die lesbische Beziehung der beiden Frauen ist derart radikal, weil es sich um eine emotionsbetonte physische und psychische Verbindung handelt. Jede der beiden Frauen begehrt, liebt und leidet für die jeweils andere, ohne dass sich eine von ihnen auf eine männliche Rolle festlegen ließe. Da wo eine invertierte Frau wie Stephen (aus Quell der Einsamkeit) ihr weibliches Gegenüber vor allem körperlich begehrte, über seelische Differenzen hinweg, stehen Mette und Olga in einem körperlich-seelischen Gleichklang. Gleichwohl bleibt die Zuneigung der beiden nicht auf Sentimentalität beschränkt. Es wird sogar beschrieben, wie die beiden Frauen das erste Mal miteinander schlafen. Diese Beschreibung ist in doppelter Hinsicht einzigartig. Nicht nur die Tatsache, dass der Sexualverkehr zweier Frauen erzählt wird, ist eindrücklich, sondern auch die Art, wie diese Beschreibung einen eigenen Maßstab körperlicher Liebe entwirft. Diese Beschreibung signifiziert erotischen Reiz, Lust, Erfüllung (einen Orgasmus) genauso wie Liebe, Vertrautheit, Verbundenheit und das romantische Konzept der Verschmelzung. Sie entwirft geradezu eine romantische Klaviatur von Frauenliebe als Gleichklang der Seelen und der Körper. Das Queere dieser Textpassage begründet sich darin, dass alle Schönheiten der körperlichen Liebe genossen werden können in völliger Ermangelung des Phallus, den es auch an keiner Stelle zu ersetzen gilt. Diese Frauenliebe steht jenseits der phallologozentrischen Ordnung. Heterosexualität wird nicht im Bett imitiert und dennoch lässt der homosexuelle Geschlechtsverkehr der beiden jungen Frauen nichts missen, was als Signifikat der sexuellen Vereinigung zwischen Mann und Frau gilt (außer der Zeugung von Nachkommenschaft). Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass diese Liebesszene um 1919 bereits eigene, moderne Signifikate erschafft. Diese Darstellung orientiert sich ganz klar an der Akzeptanz weiblicher Lust durch die sexualwissenschaftlichen Diskurse, die die bürgerlichen Moralvorstellungen der weiblichen Sexualverleugnung für gefährlich halten. Keuschheit, Tugend, schlicht Sexualverleugnung waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Gebot des bürgerlichen Weiblichkeitsideals. Die Töchter im bürgerlichen Trauerspiel sind eifrige Verfechterinnen dieser Sexualverleugnung. Lessings weibliche Hauptfigur in Emilia Galotti (1772) begrüßt ihren Tod, bittet sogar darum, um nicht vom vorgezeichneten Pfad der Tugend abkommen zu können und in Ungnade zu fallen. Diese Figur weiß um ihre Sexualität, aber sie weiß auch, dass sie sie um jeden Preis unterdrücken muss. Durch das Aufkommen der Sexualwissenschaft und der Psychoanalyse wird nun Sexualität als etwas verstanden, das auch von Frauen nicht einfach unterdrückt werden kann. Zwar gehört es seit der romantischen Liebe zum Ideal, dass sie sich auf eine Emotion gründet, nur wird eine rein sentimentale Beziehung nicht mehr als souveräner Ausdruck von Liebe betrachtet. Eine Liebesbeziehung ist ohne sexuelles Begehren und sexuelle Erfüllung nicht mehr denkbar. Im Skorpion wird die Sentimentalität nicht über die Lust gestellt, was erneut den Wandel der Gendervorstellung von der sexuell rein passiven zur aktiven, erotischen Frau unterstreicht. Wenn der Roman auch sexualwissenschaftliche Vorstellungen über die Bedeutung der Sexualität aufnimmt, ist die Definition lesbischer Sexualität weitestgehend unabhängig von diesem Diskurs. Bei der Beschreibung des Geschlechtsverkehrs wird gerade die Ähnlichkeit <?page no="93"?> 92 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben der körperlichen Ausstattung als Prämisse der Verschmelzung/ Verschlingung vorausgesetzt, die dem Sexualakt ihren Zauber verleiht. Diese Prämisse widersetzt sich der Heteronormativität vollständig, denn dieser Gedanke bricht mit der komplementär-heterosexuellen Idee des Geschlechtsverkehrs. Die Gleichartigkeit der Körper befördert in diesem Roman die Liebe, psychisch und physisch. ‚Lust‘ wird als ein Signifikat des Sexualaktes betont, und zwar die pure (also keinem Zeugungszweck unterstellte) Lust. Dieses Signifikat wird als wesentlich für den romantischen Liebesakt angeführt. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität bricht nicht nur mit der Heteronormativität, sondern auch den binären Oppositionen zwischen starker körperlicher Erregung („das rasche und raschere Atmen“) und emotionaler Ergriffenheit (rauschender „Herzschlag“), Wildheit („bäumten sich gegeneinander“) und Sanftheit („lagen aneinandergeschmiegt“), Animalität („wilde Tiere“) und Unschuld („müde gespielte Kinder“). Eine phallologozentrische Auslegung der zitierten Liebesszene ist nicht möglich. Weder der Phallus (als materielles Symbol gelungener Sexualität) noch der Logos sich ausschließender Gegensätze (als Idee gelungener Sexualität) spielen in der körperlichen Liebe der jungen Frauen eine Rolle. Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich nur immer durstiger eins am anderen. Sie gingen durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie saßen auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider glitten von ihnen nieder, achtlos, blieben auf der Erde liegen. Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der Kühle. Sie spürten es kaum, so brannte das Blut in ihren Leibern. Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander übergehen, verschmelzen, eins werden. Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich ineinander, wie Bäume des Urwalds unlöslich sich ineinander verschlingen. Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik hörte eines des anderen Herzschlag und das rasche und raschere Atmen. Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde Tiere, wenn sie an Käfiggittern rütteln. Sie gruben einander die Nägel in die Glätte der Haut und schlugen einander die Zähne in die geschwellten Muskeln. Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte Kinder, und ihre Lippen berührten des anderen Lider und Wangen so sanft, so leise, wie Schmetterlingsflügel schwankende Blüten. 4 Wenn ich den ersten Band des Skorpion hier gerne als einen Klassiker des Queeren darstellen möchte, dann deshalb, weil der Roman die heterosexuelle Matrix empfindlich stört. Für den zweiten und dritten Teil des Romans ist dies nicht mehr so ausschlaggebend (weshalb meine Untersuchungen dem ersten Band gelten). Die Autorin macht sich überhaupt keine Mühe, die homosexuelle Präferenz der beiden Frauen mit irgendetwas erklären zu wollen. Ihr Begehren gilt in dem Text als so authentisch wie ihre Schönheit und ihre Intelligenz. Es handelt sich um keinen Geburtsfehler, aber auch um nichts, das irgendwie erworben worden ist und daher behandelt werden sollte. Das gleichgeschlechtliche Begehren, das beide Frauen für sich als einzig glückverheißende Präferenz erkennen, ist nicht an eine Genderverwirrung gebunden. Die Frauen leben ihr Genderideal in der Auffassung der Zeit mustergültig aus und entwickeln sich ‚als Frauen‘ miteinander. Es scheint, als würde diese weibliche Art sich zu lieben konsequent ihrem femininen Gender entsprechen. Pointiert ließe sich sagen, dass 4 Ebenda, S. 165. <?page no="94"?> 93 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) im Roman die homosexuelle Präferenz ein weibliches Geschlechtswesen, das sich im Erbe der Romantik verwurzelt sieht, geradezu vervollkommnen würde. Es wird eine Überlegenheit dieser emotional-seelischen Bindung gegenüber anderen Lebensformen behauptet. Der Roman zeigt kein anderes glückliches Paar. Niemand steht sich so nahe wie Mette und Olga. Der Text ist - plakativ gesprochen - geradezu homosexistisch gegenüber anderen Lebens- und Liebesformen. Doch wahrscheinlich ist der Begriff Homosexismus zu weit gefasst. Nicht Homosexualität an sich steht über Heterosexualität. Nur die Liebe unter Frauen verdient das Wort ‚Liebe‘ aus Mettes Sicht. Die sexuellen Betätigungen zwischen den Geschlechtern und auch fast alles, was als ‚konträr sexuell‘ oder ‚phallisch‘ gilt, erscheinen im Kontext dieses Romans nicht von Liebe geprägt zu sein. ‚Liebe‘ beschreibt die Verbindung zweier weiblicher Menschen, die sich in Bildung, Herkunft, Geschmack, Weltanschauung, in ihrem Gender verbunden sind. Wenn wir den Roman als eine Verteidigung homosexueller Liebe lesen wollen, dann müssen wir dessen gewahr sein, dass nur ein sehr enges Konzept von ‚Homosexualität‘ hier behandelt wird. Nicht nur deshalb erfährt die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Beurteilung von Homosexualität von Mettes Seite nur Verachtung. Als Mette diese sexualwissenschaftlichen Texte über das Leben „Konträr-Sexualer“ liest, überkommt sie Ekel und die Einsicht, dass sie und ihre Liebe in diesen Erklärungen keinesfalls gespiegelt werden. Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit zu Zeit Bücher, Hefte, Broschüren, scheinbar ganz verständigen Inhalts - Romane, medizinische Werke, angestrichene Tageszeitungen -, aber alle behandelten dasselbe Thema. Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von Gräfinnen, die sich in Männerkleidung in Kaschemmen herumtrieben, bis sie in irgendeinen Hinterhalt gelockt und gräßlich ermordet wurden. Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen Clubs wo Hunderte von Weibern sich als Männer anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt, mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen und nackten gepuderten Armen und Schultern herumliefen. […] Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer, die vermuten ließen, daß Tausende von Menschen alle miteinander eine große Gemeinde bildeten, die durch nichts verbrüdert wurde, durch keine gemeinsamen Interessen, keine Gleichheit in Bildung, der Familie, des Geschmacks, der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch nichts als den Trieb zur gleichen Ausschweifung. Da war die Biographie eines großen Mannes, der elend ermordet war durch einen erpresserischen Kellner, mit dem er in intimer Beziehung gestanden - den er geliebt hatte! Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in diesen Zusammenhang nur dachte. Manchmal war ihr, als müsste sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr wurde übel, wenn sie die Bücher nur anrührte. 5 Es sei noch einmal zusammengefasst: Mette und Olga können sich in den wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Beschreibungen nicht wiedererkennen. Ganz konservativ definieren sie ihre Liebe als ‚rein‘ gegenüber den als ‚dekadent‘ beschriebenen Ausschweifungen. Die Frauen lieben sich ‚als Frauen‘. Durch die Rückbindung an die Romantikerinnen wird der Begriff der Liebe mit einer weiblichen und homosozialen Genese ausgestattet, so dass sich in einem weiblichen Verhältnis nach Auffassung der beiden Protagonistinnen die romantische 5 Ebenda, S. 206f. <?page no="95"?> 94 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben Liebe am besten erfüllt. Sie beziehen sich auf den Diskurs um romantische Freundschaft, fügen diesem aber die Sexualität hinzu, die in diesem Diskurs ausgeblendet war. Eine genderverwirrte, invertierte oder konträr sexuelle Person wie Stephen hätte ihre Liebe nicht in dem Maße gewinnen können, weil sie sich weder mit ihrem weiblichen Körper noch mit ihrer weiblichen Sozialisation identifiziert. Trotz dieses ausgestellten Selbstbewusstseins gegenüber der eigenen Identität endet der Roman mit Olgas Selbstmord. Da diese weiß, welche Sanktionen eine öffentlich gelebte Frauenliebe nach sich zöge, versucht sie die geliebte Mette zu schützen, indem sie sie nach einem kurzen romantischen Glück zurückstößt. Die Verlassende kann den Verlust der Liebe jedoch nicht kompensieren, ebenso wenig wie die verletzte Mette, die sich zwar trotzig in eine Verlobung mit einem Mann stürzt, im vollen Bewusstsein darüber, dass diese nur eine Ersatzhandlung darstellt für das, was sie mit Olga hatte. Dann begeht Olga Selbstmord, Mette wählt die Isolation. Die lesbische Liebe trägt jedoch trotz des tragischen Endes einen Triumph davon, weil sie sich nicht von der gesellschaftlichen Enge hat einschüchtern lassen und, was noch bemerkenswerter ist und den Roman zu einem Klassiker der Queeren Lektüren macht, weil in dem Text zeitgenössische Diskurse um Homosexualität zurückgewiesen werden. Neben der Engstirnigkeit der Gesellschaft wird auch die Engstirnigkeit der Medizin angeprangert. Der Roman widersetzt sich männlichen (medizinischen) Definitionen um weibliche Homosexualität. Er queert das, was diskursiv durch Männer vorgegeben ist und kann daher durchaus als Beispiel für eine weibliche Ästhetik gelten. Das Einzige, womit die beiden Frauen die klassische Frauenrolle torpedieren, ist ihre Intelligenz. Sie trägt Zeichen des Aufbruchs und gestattet ihnen, die gesellschaftlichen Vorstellungen von Sexualität zu hinterfragen. Nur ihre latente Rebellion gegen den Sexualitätsdiskurs unterscheidet sie im Rollenverhalten von den anderen Frauen ihrer Umgebung. Sie ermöglicht es ihnen aber auch, die Liebe als weiblich-weibliche Liebe zu erfassen, zu deuten und sie romantisch aufzuwerten. Die Liebenden halten durchaus an der klassischen Frauenrolle fest (das heißt sie negieren ‚Weiblichkeit‘ nicht), die durch Liebe, Fürsorge und Aufopferung definiert ist. Sie erweitern nur die Definition der weiblichen Rolle und heben sie von dem ab, was von männlicher Seite vorgegeben ist. In der Sprache von Theoriekonzepten, die nach der zweiten Welle der Frauenbewegung aufkamen, ließe sich das als Verdoppelung der schreibenden Frau beschreiben. Dem herrschenden Frauenbild wird keine deutliche Absage erteilt, es werden jedoch die Grenzen dieses Bildes ausgelotet und erweitert. Ich möchte an dieser Stelle auf den Diskurs um weibliche Ästhetik nicht eingehen. Nur so viel sei festzuhalten: In diesem Roman bringt ein immanent weiblicher Blick auf eine genuin weibliche Erfahrung ein männliches Theoriegebäude, das heißt einen Sexualitätsdiskurs, der von Männern generiert wurde, ins Wanken. Als die Rezeption durch die Neuauflage des Romans wieder befruchtet wurde, standen die Leserinnen allerdings vor Definitionsschwierigkeiten. Einerseits sollte der Roman als lesbischer Roman nobilitiert werden, andererseits verweigert er eine kohärente lesbische Identität. Claudia Schoppmann listet in ihrer Analyse Eigenschaften dieses Textes auf. Es scheint für die Wissenschaftlerin schwer zu benennen, was den Roman zum „Lesbenroman“ macht. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, wird die Definition von lesbischer Liebe im Roman auf- <?page no="96"?> 95 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion (1919) fälligerweise ex negativo herauskristallisiert. Schoppmann verdeutlicht, was in dem Roman Homosexualität nicht ist. Ich nenne einige von Schoppmanns Analyseergebnissen. Die Frauen und Männer haben keine Krankheit oder körperliche „Anomalie“, die sich auf Homosexualität zurückführen ließe. […] Obwohl der Roman in bürgerlichen Kreisen spielt, wird Homosexualität nicht als bourgeoise oder adlige „Dekadenzerscheinung“ geschildert […]. […] Homosexualität ist kein erworbenes und damit „selbstverschuldetes“ Laster, entstanden aus Luxus und/ oder Langeweile, aus „Übersättigung“. […] Bei Mette und den anderen Lesben handelt es sich nicht um „verkappte“ Männer, sondern um „richtige“ Frauen. E. Weirauch tritt dem Klischee von der homosexuellen Frau als „Mannweib“ - „mit Baß und Schnurrbart und dicken Zigaretten“ […] entgegen. 6 Der Roman konnte in den 1970er Jahren Erfolg verbuchen, weil er die Frage nach der Ursache von Homosexualität überhaupt nicht aufwirft, etwas, das im Emanzipationsprozess der Lesben und des lesbischen Feminismus als Fortschritt gewertet wurde. Dass sowohl Mette als auch Olga dem Bild der neuen Frau entsprechen und damit gewisse traditionalistische Klischees von Weiblichkeit nicht erfüllen, entsprach ebenfalls der lesbisch-feministischen Bewusstseinsbildung vor ein paar Jahrzehnten. Trotzdem sind aus queerer Sicht diese Befunde nicht völlig zufriedenstellend, weil sie auch dazu führen könnten, vielleicht sogar der Begriff ‚Lesbenbuch‘ und ‚Homosexualitätsroman‘ zu hinterfragen. Den Skorpion als Lesbenroman zu definieren ist deshalb so schwer, weil der Roman gekonnt jede Art von Definition zurückweist. Im Grunde weist er die Definition der sexuellen Identität überhaupt zurück, zumindest einer sexuellen Identität, die Weiblichkeit mit heterosexuellem Begehren in Verbindung bringt und homosexuelles Begehren mit Unweiblichkeit und Devianz. Olga ist für Mette nicht durch eine andere Frau ersetzbar. Die junge Frau ist nicht durch ihre Homosexualität, sondern durch ihre Liebe zu Olga definiert. Der Roman beschreibt weniger die Eigenheiten einer lesbischen Liebe allgemein als die ganz spezifische Besonderheit der Liebe zwischen Mette und Olga. Mir erscheint es daher nicht verwunderlich, dass bei der Definition des Lesbenromans keine eindeutigen positiven Definitionsmerkmale herausgefiltert werden konnten. Der Begriff der Lesbe ist, gerechtfertigt oder nicht, mit bestimmten Vorstellungen verbunden, die die Ebene von Gender betreffen. Mette und Olga leben vom Standpunkt des 2nd wave Feminismus, der Anspruch auf Egalität zwischen Männern und Frauen stellt, eigentlich eine restaurative Genderrolle. Zwar sieht Schoppmann das anders, weil sie den Frauentyp der neuen Frau als „Gegenteil des traditionell weiblichen“ 7 Typus anschaut. Diese Deutung wird aber nicht durch den Text unterstützt, sondern von dem Wunsch der Wissenschaftlerin genährt, die Frauen als lesbisch zu lesen. Im Grunde genommen ist aber auch die neue, nicht 6 Claudia Schoppmann: Der Skorpion. Frauenliebe in der Weimarer Republik, S. 47ff. 7 Ebenda, S. 49. <?page no="97"?> 96 V Der Triumph des Queeren - ‚weiblich‘ lieben völlig passive, erotische, bildungshungrige Frau eine zeitgenössische Gendernorm und als eine solche immer auch restriktiv. Mette und Olga stehen ausdrücklich nicht außerhalb der Normen des weiblichen Geschlechtes und sie engagieren sich auch nicht für den Feminismus, was gemeinhin als Zeichen von Devianz gewertet wurde. Die Protagonistinnen sind mit ihrem „Geschlechtscharakter“ (vgl. Kap. IV) völlig ausgesöhnt. In dem Roman ist keine Melancholie der Verwerfung zu spüren, obwohl das tragische Ende natürlich der Emanzipationsbestrebung lesbischer Liebe das Wort redet. Würden wir aber versuchen, Mettes und Olgas (lesbische) Liebe positiv (also nicht ex negativo) zu beschreiben, müssten wir festhalten, dass die konsequente Annahme der weiblichen Geschlechtsrolle hier zu dem dargestellten homoerotischen und -sexuellen Begehren führt. Wenn es eine Erklärung für die Liebe zwischen den beiden Frauen geben soll (deren es nicht notwendigerweise bedarf), liegt sie in der Geschlechterrollenannahme, nicht in der Geschlechterrollenverweigerung. Ihre ‚Weiblichkeit‘, verstanden als Geschlechtscharakter, durch den sich bestimmter Geschmack, bestimmte Vorlieben zeigen, bedingt die homosexuelle Orientierung der beiden Frauen. Sie fühlen sich nur voneinander erkannt. Es entsteht in dem Roman ein Kontinuum zwischen Weiblichsein, sich weiblich zu verhalten und weiblich zu lieben, wobei konsequenterweise die ‚weibliche Liebe‘ sich auf eine Frau richtet. Die Entwicklung, die Mette nimmt, ist mitnichten nur die Entwicklung hin zu einem Coming-out, es ist die Entwicklung vom Mädchen zur Frau, die durch die Liebe zu einer Frau begleitet, ja unterstützt und in Gang gesetzt wird. Indem sie ihr weibliches Gender (versinnbildlicht nicht nur durch die eigene aufblühende Schönheit und Körperlichkeit, sondern durch einen Sinn für Poesie und Mystik) entwickelt hat, bildete sie auch schrittgleich ihre Gefühle zu der anderen Frau aus. So künden auch die letzten Zeilen dieses Buches nicht von Mettes sexueller Entwicklung (zur Lesbe), sondern ihrer charakterlichen Entwicklung (zur selbstbewussten Frau). Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge anfangen mit mir zu reden. Das sind die Glückskinder in den Märchen oder die Weisen in den Sagen […]. Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die ganze Welt war so entsetzlich stumm. Und nun höre ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen. Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und Stolz das einen erfüllt. Siehst du, Peterchen - das ist auch etwas, was ich von Olga habe. […] „Ja“, sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine Kraft - fast mit Neid. Sie hat dir unendlich viel gegeben [ ]“. […] „Oh“, sagte Mette, „mehr als das: Damit allein ist es nicht getan. Weißt du nicht, was die kleine Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die Zunge herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt tausendfache Schmerzen litt, was nur eine große Liebe geben konnte? Mir hat es Olga gegeben. Mir hat Olga alles gegeben, was man braucht, um allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft mit unzerstörbarer Ruhe entgegenzugehen […]! “ 8 8 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion, S. 239f. <?page no="98"?> 97 VI Das lesbische Kontinuum Die Liebe, die in Der Skorpion zwischen Olga und Mette besteht, basiert auf einem lesbischen Kontinuum. Sie ist nicht deutlich getrennt von anderen Formen der Zuneigung unter Frauen. Der in der Einleitung erwähnte Begriff stammt aus dem lesbisch-feministischen Kontext. Was genau bedeutet ‚lesbisches Kontinuum‘? Der Begriff dient als eine Beschreibungsform, um die emotionale Verbundenheit zwischen Frauen auszudrücken, die mehrere Formen bzw. Abstufungen von Liebe umfasst. Zwar beinhaltet der Begriff auch die erotische Anziehung zwischen Frauen, jedoch lassen sich unter ‚lesbisches Kontinuum‘, anders als unter den Begriff ‚lesbische Liebe‘, auch andere Formen des liebevollen Austausches unter Frauen fassen. Das Kontinuum nivelliert die Grenze zwischen homosexueller und homosozialer Zuneigung. Die Gefühle, die eine Frau für eine andere Frau hegt, müssen diesem Konzept nach nicht ausschließlich sexueller Natur sein, wenn sie es aber sind, heißt das, dass sich die sexuelle Zuneigung nicht als etwas zeigt, das von den anderen Gefühlen von Zuneigung abgekoppelt ist. Die weiblich-weibliche Sexualität besteht in einem Kontinuum, das heißt sie erwächst aus anderen Formen von Verbundenheit. Während homosoziale Bindungen unter Männern nicht fließend in männliche Homosexualität übergehen können, scheinen diese Bereiche bei Frauen weniger dichotom entgegengesetzt zu sein. Sich homosozial zu Frauen hingezogen zu fühlen, schließt eine homoerotische Zuneigung nicht in dem Maße aus, wie es bei männlichen homosozialen Verbindungen der Fall zu sein scheint, die jegliche Homoerotik bewusst ausklammern. Die Literaturwissenschaftlerin Eve Sedgwick sieht das Patriarchat als eine gesellschaftliche Form an, die zwar einerseits durch enge homosoziale Beziehungen zwischen Männern definiert ist, das heißt dadurch, dass Männer gegenseitig ihre Interessen unterstützen, die jedoch andererseits verbietet, dass die homosozialen Beziehungen in homoerotischen Beziehungen münden. ‚Homosoziale Bindung‘ ist bei Männern begrifflich scharf getrennt von ‚gleichgeschlechtlicher erotischer Anziehung‘ und ‚homosexueller Liebe‘. Die Männerherrschaft setzt auf Homosozialität, bekämpft jedoch Homosexualität. Deshalb spricht man gemeinhin auch nicht von etwas wie einem ‚schwulen Kontinuum‘. Männliche Homosozialität und männliche Homophobie kennzeichnen auch gegenwärtig noch strukturell die patriarchalen Männerbeziehungen. Das bedeutet freilich nicht, dass das Konzept eines schwulen Kontinuums zukünftig nicht denkbar wäre. In diesem Buch wird dieses Konzept jedoch keine Rolle spielen. Unter den Bedingungen des Patriachats ist für Frauen die Grenze zwischen ‚Homosozialität‘ und ‚Homosexualität‘ weniger strikt gezogen, weshalb laut Sedgwick männliche und weibliche Homosexualität unterschiedlich betrachtet und bewertet werden müssen. Die diakritische Opposition von „homosozial“ und „homosexuell“ scheint zum Beispiel für Frauen in unserer Gesellschaft viel weniger scharf und dichotom zu sein als für Männer. In der gegenwärtigen Phase verbindet ein lesbares Kontinuum von Zielen, Gefühlen und Wertschätzung lesbische Liebe mit anderen Formen von Zuwendung unter Frauen: die Bindung zwischen Mutter und Tochter, zwischen Schwestern, die Freundschaft zwischen Frauen, „Netzwerke“ und die tatkräftigen An- <?page no="99"?> 98 VI Das lesbische Kontinuum strengungen des Feminismus. Dieses Kontinuum ist von tiefgehenden Brüchen durchzogen - von starker Homophobie, von Konflikten in Bezug auf Race und Klasse. Seine Lesbarkeit scheint jedoch heute eine Sache des gesunden Menschenverstands zu sein. Mag die Politik auch noch so reaktionär, mögen die Gefühle auch noch so widersprüchlich sein, so scheint es doch heute offensichtlich sinnvoll zu formulieren, wenn Frauen, die Frauen lieben, wenn Frauen, die unterrichten, studieren, ernähren, stillen, schreiben, demonstrieren, wählen, Jobs vergeben oder anderweitig die Interessen anderer Frauen fördern, dass sie ähnlichen und eng verwandten Aktivitäten nachgehen. Deswegen muss das Adjektiv „homosozial“ in Bezug auf Frauenfreundschaften nicht bewusst gegen „homosexuell“ gesetzt werden […]. 1 Der Gedanke Sedgwicks ist, dass die emotionale Verbundenheit unter Frauen viel weiter gefasst werden sollte als es sich durch einen Begriff, der eine rein sexuelle Beziehung denotiert, sagen ließe. Frauen sind in ihren sozialen Aktivitäten immer schon mit anderen Frauen verbunden und aus dieser Verbindung kann auch sexuelle Liebe erwachsen. Dies baut auf einer These von Adrienne Rich auf, die in ihrem berühmten Aufsatz Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz 2 dafür argumentiert, dass sich Frauen quasi ontologisch mit anderen Frauen verbunden fühlen. Allerdings werde diese homosoziale Bezogenheit aufeinander, die sich zu einer (sexuellen) Liebe entwickeln kann, durch die Zwangsheterosexualität verschleiert. Die Männerherrschaft habe laut Rich zum Ziel, die positive Energie, die unter Frauen von jeher bestünde, auf Männer umzulenken. Durch ihre sexuelle Ausrichtung auf Männer seien Frauen kontrollierbar, so dass die Heterosexualität einer der wichtigsten Stützpfeiler patriarchalischer Herrschaft darstelle. Eine lesbische Präferenz ergibt sich viel selbstverständlicher, als es durch die Zwangsheterosexualität den Anschein haben mag, aus der weiblichen Identität einer Frau. Adrienne Rich weist damit Anfang der 1980er Jahre die zu diesem Zeitpunkt seit 100 Jahren bestehende sexualwissenschaftliche Erklärung für lesbische Liebe zurück. Gleichgeschlechtliche Liebe entstünde ihrer Meinung nach nicht aus einer Abwehrhaltung gegenüber der eigenen Weiblichkeit. Sie stelle nicht zwangsläufig einen Bruch mit weiblicher Sozialisation dar, sondern könne auch als eine Folge davon begriffen werden. Der lesbische Feminismus setzt genau dort an, indem er Frauen ermutigt, die politische und soziale Verbundenheit, die Frauen z. B. in ihrem Kampf um Gleichberechtigung haben, auch als Liebe und Partnerschaft zu leben. Dieser These, dass es eine wie auch immer geartete ‚natürliche‘ emotionale Energie unter Frauen gäbe, liegen wiederum Gedanken der Soziologin und Psychoanalytikerin Nancy Chodorow (* 1944) zu Grunde, die sie in The Reproduction of Mothering: Psychoanalysis and the Sociology of Gender Ende der 1970er Jahre ausführte. Chodorow argumentiert, dass Frauen meist durch ihre Mütter in ihre soziale Geschlechterrolle eingeführt werden. Ihre weibliche Identität beruhe in einem hohen Maße darauf, dass sie sich als Mädchen mit ihrer Mutter identifizieren und deren Rolle annehmen. Aus psychoanalytischer Sicht ist das Zur-Frau-Wer- 1 Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English literature and male homosocial desire. In: Gender studies. Hrsg. von Franziska Bergmann-/ Franziska Schößler-/ Bettina Schreck. Bielefeld 2012, S. 275-293, S. 277. 2 Vgl. Adrienne Rich: Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz. In: Macht und Sinnlichkeit. Hrsg. von Dagmar Schulz. Frankfurt am Main 1986, S. 138 - 168. <?page no="100"?> 99 VI Das lesbische Kontinuum den eines Mädchens durch die Verbundenheit mit der Mutter geprägt. Sie sei das Vorbild und die erste Liebe des Mädchens. Es komme nicht zur Ablösung von dem mütterlichen Wesen, das das Mädchen erzogen habe. Die männliche Sozialisation, die Mannwerdung, hingegen sei durch die Ablösung von der Mutter gekennzeichnet. Diese Unterschiede in der Sozialisation führen zu erheblichen Differenzen im Bindungsverhalten zwischen Frauen und Männern. Frauen nämlich blieben ein Leben lang mit ihren Müttern identifiziert, was die Grundlage des lesbischen Kontinuums darstellt. Eine Frau erlebe sich primär als ein Selbst in Beziehung mit einer anderen Frau, was entsprechende Beziehungswünsche und -fähigkeiten bedingt, während ein Mann (hier bezieht sich Chodorow auf Freud) ein vom anderen geschiedenes Selbst entwickeln müsse.-In einem noch später queer zu lesenden Text, der Kleinstadtnovelle von Ronald M. Schernikau (vgl. Kap. IX), werden wir die Bindungsunfähigkeit als Merkmal männlicher heterosexueller Identität auf literarischer Ebene direkt diskutiert finden. Die mütterlichen Figuren provozieren der psychoanalytischen These zufolge bei Männern das Bedürfnis nach Abgrenzung. Alles, was emotional besetzt ist, widerstrebt männlicher Identität. Dass ‚Männlichkeit‘ sich durch Bindungsunwilligkeit und Abgrenzung realisiert, hält die Soziologin Eva Illouz für ein Phänomen, das sich unter den kapitalistischen Bedingungen der Spätmoderne sogar noch verstärkt habe. 3 Die homosozialen Beziehungen unter Männern sind politisch und gesellschaftlich bedeutend, sie beruhen aber nicht auf emotionaler oder erotischer Bindung. Im Gegenteil, so argumentiert Sedgwick: Eine Vielzahl der aktuelleren und nützlichen Studien über patriarchale Strukturen weist darauf hin, dass „obligatory heterosexuality“ fundamental in männlich dominierte Verwandtschaftsverhältnisse integriert ist, und dass Homophobie eine notwendige Folge von patriarchalen Institutionen wie die Ehe ist. 4 Für Frauen scheint durch die geschlechtliche Sozialisation ihre Bindungswilligkeit und -fähigkeit bedingt zu sein. Da nicht mehr zwangsläufig nur die Mütter die Erziehungsaufgaben in den Familien erfüllen, sollte die These Chodorows in ihrer historischen Abhängigkeit gelesen werden. Sie ist unter verschiedenen Gesichtspunkten schon vielfach kritisiert und revidiert worden, doch für den Zusammenhang meiner Argumentation ist dessen ungeachtet augenfällig, wie die Psychoanalytikerin mit ihren Ausführungen die literatur- und kulturwissenschaftliche Vorstellung eines lesbischen Kontinuums befruchtet hat. 5 Diese Theorie beinhaltet im Kern die Überlegung, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation auf andere Frauen bezogen und ihnen verbunden sind. Nicht nur Bindungswilligkeit kennzeichnet das weibliche Wesen, 3 Illouz beschäftigt sich in ihrer Forschung mit ‚heterosexueller Liebe‘, die jedoch durch den Kapitalismus und seine gerade für männliche Identität so signifikanten Versprechungen von ‚Freiheit‘ stark bedroht und zu einer negativen Beziehungsform geworden ist. Vgl. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Frankfurt am Main 2011; und Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Frankfurt am Main 2018. 4 Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men, S. 277 [Hervorhebung im Original]. 5 Vgl. Nancy Chorodow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley u. a. 1978. [Auf Deutsch: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und die Soziologie der Geschlechter. München 1985.] <?page no="101"?> 100 VI Das lesbische Kontinuum sondern eine Frau zeichnet sich auch gerade durch die Fähigkeit zur emotionalen Bindung an eine andere Frau aus. Über den Spiegel einer anderen Frau erwächst das weibliche Selbst, das in mehr oder minder großem Ausmaß seine Verbundenheit zu anderen Frauen behält und auslebt. Der Skorpion, unser vorangehendes Romanbeispiel (vgl. Kap. V), ist mit dieser Theorie weitaus besser zu erfassen als mit anderen Vorstellungen von weiblicher Homosexualität, in denen lesbische Sexualität als Negation der Weiblichkeit gedacht ist. Bezieht man sich auf das Konzept des lesbischen Kontinuums, ist kein Widerspruch darin erkennbar, dass die beiden Protagonistinnen sich einerseits mit ihrer weiblichen Genderrolle und andererseits liebend mit einer anderen Frau identifizieren. Zusammengefasst lässt sich Folgendes festhalten: Weibliches homosoziales, homoerotisches und homosexuelles Begehren stehen Richs Auffassung nach in einem Kontinuum. Die Interessen von Frauen zu fördern, sich schwesterlich zu unterstützen, ist bei der Vorstellung eines Kontinuums nicht deutlich von dem Wunsch sexueller Nähe abgegrenzt. Im Falle männlicher Homosozialität besteht dieses Kontinuum nicht oder wird gar ausdrücklich negiert: Homosoziale männliche Gruppen, es ließe sich an Fußballvereine oder die Armee denken, sind zwar homosozial organisiert, aber Homosexualität wird dort tabuisiert. 6 Das politische und soziale Interesse von Männern als Mann zu unterstützen wird nicht mit Sexualität, sexuellen Wünschen und Handlungen und vor allem nicht mit romantischer Emotion in Verbindung gebracht, Homoerotik wird in männlich homosozialen Gemeinschaften nicht expliziert. Allerdings ist das Kontinuum nicht überall ersichtlich oder wird gar überall selbstverständlich gelebt. Obwohl, so Rich, sich Frauen selbstsicher in diesem Kontinuum bewegen können, ist es durch die Homophobie und die erlernte Ausrichtung des Mädchens auf ein männliches Gegenüber überlagert und wird nicht auf einer bewussten Ebene erlebt. Frauen stehen nicht selten in Konkurrenz zueinander. Diese Aussage gilt als ein allbekanntes und leider auch altbewährtes patriarchalisches Vorurteil. Literarische Texte werden von weiblichen Figuren bevölkert, die eher miteinander konkurrieren als sich zu stützen oder die im Handlungsverlauf das Kontinuum aufkündigen. Der Austritt aus dem lesbischen Kontinuum vollzieht sich meist, wenn ein Mann zwischen zwei Frauen tritt, wie im Beispiel von Anna Karenina (vgl. Kap. I). Die Zuneigung einer Frau zu einer anderen (nämlich Kittys zu Anna) wird durch das Auftreten des Mannes erheblich gestört. In diesem Beispiel entwickeln sich zwei homosozial und emotional aufeinander bezogene Frauen, wobei Kitty einst fast eine Art Verliebtheit zu Anna empfand, eindeutig zu Konkurrentinnen (um einen Mann). Die emotionale Zuneigung zueinander wird um eines Mannes willen aufgekündigt. Weder Anna noch Kitty halten an 6 Vgl. dazu die entstandene Diskussion nach dem Coming-out eines Mitglieds der Fußballnationalmannschaft. „Niemand mag zu seiner Homosexualität stehen. Homosexualität und Fußball, das ist auch im dritten Jahrtausend ein Kräfteparallelogramm aus politisch korrekten Sonntagsbotschaften und Versteckspiel. Kein Spieler, Trainer oder Manager, der noch alle Sinne beisammen hat, wird einen auch nur ansatzweise schwulenfeindlichen Satz formulieren. Aber genauso mag auch niemand offen zu seiner Homosexualität stehen.“ Sven Goldmann: Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. Als Avantgardist gegen Homophobie. In: Tagesspiegel, 01.05.2015. https: / / www.tagesspiegel.de/ gesellschaft/ queerspiegel/ ex-nationalspieler-thomas-hitzlsperger-als-avantgardist-gegen-homophobie/ 11669726.html (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="102"?> 101 VI.1 Politische und erotische Bündnisse: Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe (2014) einem lesbischen Kontinuum fest. Sie unterwerfen sich den Regeln des Patriarchats, das zwei schöne Frauen, um die derselbe Mann nacheinander wirbt, zu sexuellen Rivalinnen erklärt. Allerdings gab es in Kittys Leben den Moment, in dem sie sich selbstverständlich in diesem Kontinuum bewegte. Als sie Anna traf, entbrannte sie sofort für diese Frau und erklärte sie zu einer Art Vorbild. Sie empfand die schöne, etwas ältere Anna bei der ersten Begegnung als Spiegelfigur und fühlte sich ihr wortlos nah. Wäre ein Moment feministischen Bewusstseins in der jungen Frau und hätte sie die Fähigkeit, das Patriarchat und seine oft fatalen Regeln zu hinterfragen, so hätte sie sich von Anna nicht entfremdet. Wronski, der Mann, von dem Kitty einst glaubte, dass er sie heimführen würde, ändert seine Absichten gegenüber Kitty, als er Anna trifft. Er begehrt und bedrängt die verheiratete Anna, bis diese mit ihm Ehebruch begeht. Die Freundschaft zwischen Anna und Kitty ist darüber nicht erhaben. Kitty beginnt Anna zu verachten. Sie wird damit selbst zur Agentin des Patriarchats, das weiblichen Ehebruch mit dem Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft ächtet. Zum Ende des Romans erwächst in der nun bereits selbst verheirateten, zur Mutter gewordenen jungen Frau allerdings eine erneute Empathie für die Frau, die zum Opfer ihres heterosexuellen Begehrens (oder des beharrlichen Werbens von Wronski) wurde. Als die Konkurrenzsituation überwunden ist, sind die verdeckten, homosozialen Bindungen wieder erkennbar. Es bedarf einer bestimmten Blickrichtung, um die Kontinuität weiblicher Freundschaft, die die Möglichkeit weiblich-weiblicher Erotik nicht ausschließt, aber auch ohne genitale Sexualität eine identitätsstärkende Funktion für die Freundinnen besitzen kann, zu erkennen. Diese Erkenntnis hilft, Texte besser zu verstehen. Das lesbische Kontinuum begegnet uns, wenn wir dafür sensibel sind, fast ebenso häufig wie die klischierte Feindseligkeit der (zwangs-)heterosexuellen Frau in einer patriarchal organisierten Gesellschaft. Wir sind aber oft nicht dafür sensibilisiert, die weiblichen Beziehungen unter diesem Paradigma zu betrachten. VI.1 Politische und erotische Bündnisse: Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe (2014) Die Lektüre des 2014 erschienenen Romans An einem Tag für rote Schuhe von Kerstin Grether (* 1975) erhellt sich durch das Konzept des lesbischen Kontinuums. Ohne große Brüche werden in diesem Text freundschaftliche, politische und erotische Allianzen zwischen Frauen thematisiert. Freundschaftliche Bündnisse, feministisches Engagement und erotisches Interesse gehen fließend ineinander über, ohne dass der Text geläufige Diskurse über weibliche Homosexualität bedient. Es ist offensichtlich, dass dieser Roman nicht als herkömmlicher Lesbenroman gelesen werden kann oder soll. Es ist auch auszuschließen, dass es je Versuche geben wird, ihn als einen solchen zu definieren. Für die Autorin selbst besteht die Hauptaussage des Romans darin, sich „ganz allgemein gegen eine zu klischierte Auffassung der Wirklichkeit“ 7 zu richten. Dieses Statement der Autorin bietet natürlich genug Raum, auch 7 Kerstin Grether im Gespräch über ihren Roman „An einem Tag für rote Schuhe“. In: CULTURMAG. Literatur, Musik & Positionen, 27.08.2014. http: / / culturmag.de/ litmag/ kerstin-grether-im-gespraechueber-ihren-roman-an-einem-tag-fuer-rote-schuhe/ 82456 (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="103"?> 102 VI Das lesbische Kontinuum eine Revision von Weiblichkeit und weiblichen Beziehungen als Lektüreziel anzunehmen. Mir scheint jedoch allein das Konzept des lesbischen Kontinuums die Möglichkeit zu bieten, die Frauenbeziehung, die im Roman geschildert wird, bewusst in den Blick zu nehmen und sie nicht gegenüber Inhalten wie der dem Roman immanenten Kritik am Popgeschäft und der Kritik an der rape culture zu vernachlässigen. An einem Tag für rote Schuhe stellt die Entwicklung zweier Hauptfiguren dar, nämlich die der Ich-Erzählerin Clarissa, einer 32-jährigen, in der Berliner Szene verhafteten aufstrebenden Sängerin, die performativ ein Popstarimage pflegt, und die der 17-jährigen Jasmina, einer Bloggerin, Außenseiterin, engagierten Feministin. Während Clarissa als eine sehr in einem männerdominierten Kontext (Popszene) verankerte Frau dargestellt wird, die auf Männer anziehend wirkt und der ihre heterosexuelle Attraktivität immens wichtig ist, bildet Jasmina, die an einem subkulturellen Weiblichkeitsbild orientiert ist, einen Kontrapunkt für dieses Weiblichkeitsimage. Freilich ist auch diese junge Frau alles andere als ‚männlich‘. Beide Frauen sind interessant, intelligent und erotisch, aber Jasminas Erotik ist augenscheinlich subversiver als Clarissas poppige Erotik. Wäre der Roman etwas später erschienen, hätte der Verlag ihn sicher als Beitrag zu #MeToo beworben. Kerstin Grether formuliert durch die Figur der Clarissa eine Kritik an der im Popgeschäft üblichen Sexualisierung und Degradierung von Frauen, auf eine Art, wie sie drei Jahre später durch die #MeToo-Debatte virulent sein wird. Clarissa wurde, bevor sie Jasmina kennengelernt hat, zum Opfer eines sexuellen Übergriffs. Bis zum Einsetzen der Romanhandlung hatte sie dieses Erlebnis zu verdrängen versucht. Ihr gelingt es, sich zu befreien, nachdem ihr die Freundin vor Augen führt, dass sie nicht im Opferstatus verharren soll. Die beiden Männer hatten sie damals selbst (bzw. ihre aufreizende Kleidung) für den Übergriff verantwortlich erklärt. Clarissa wechselte daraufhin den Wohnort und begann sich zu hinterfragen, bis die 15 Jahre jüngere Jasmina in ihr Leben trat und sie aus der Selbstbezichtigungsspirale entließ. Diese feministische Bewusstseinsentwicklung liegt im Erzählfokus des Romans. Die beiden Frauen lernen sich zufällig kennen und von Anfang an herrscht ein wortloses Einverständnis zwischen den beiden eigentlich unterschiedlich wirkenden Frauen, die in Alter und Lebenssituation stark differieren. Während Jasmina für Clarissa eine Person wird, der sie ihre Trennungssorgen (wurde sie doch vor kurzem erst von ihrem Freund, der gleichzeitig ihr Plattenproduzent ist, verlassen), aber auch ihre Angst vor sexuellem Missbrauch und das Unbehagen, geradezu selbstverständlich im Popgeschäft als Frau degradiert zu werden, anvertrauen kann, ist die ältere Clarissa wiederum für Jasmina ein Objekt ihrer Schwärmerei. Die Abiturientin Jasmina verfügt schon über eine ziemlich kompromisslose feministische Haltung, allerdings wird sie in der Schule gemobbt und die Akzeptanz Clarissas hilft ihr, mit der Zurückweisung durch ihre Altersgenossen umzugehen. Es scheint kurzzeitig, als ob die jüngere Jasmina in einer fast mütterlichen Rolle für die sich verloren fühlende Clarissa agiert, doch auch Clarissa ist freundschaftlich um Jasmina besorgt. Die Zuneigung zwischen beiden zirkuliert. Jasmina nimmt Clarissa mit in ihre Frauengruppe, Clarissa Jasmina mit in ihre Musikszene. Beide Frauen setzen sich füreinander ein. Keine der beiden Frauen ist auf eine klar definierte Rolle begrenzt; Sorge umeinander, Spaß miteinander, alles wechselt sich ab. Der Altersunterschied wird als belanglos abgetan. Keine Figur agiert entweder ausschließlich aktiv oder ausschließlich passiv. Bei der Schilderung dieser <?page no="104"?> 103 VI.1 Politische und erotische Bündnisse: Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe (2014) das Selbstbewusstsein der Frauen stärkenden Freundschaft gelingt es dem Roman, die große Schnittmenge an erotischer und emotionaler Energie zwischen Frauen anzusprechen, ohne dass aus Jasmina und Clarissa ein Liebespaar wird. Der Roman erzählt, dass sowohl Clarissa als auch Jasmina heterosexuelle Kontakte pflegen, auch wenn sie im Laufe des Romans keine emotional-romantischen Beziehungen zu Männern aufbauen. Die Unterstützung als Frauen füreinander, die beider Leben so bereichert, ist Teil des lesbischen Kontinuums, in dem sich die Hauptfiguren bewegen. An einem Tag für rote Schuhe ist eindeutig ein Roman jüngster popliterarischer Provenienz und gehört zur dritten Welle des Feminismus. Doch gleichzeitig ist er ein feministischer Text, der viele Aspekte der klassischen feministischen Bewusstseinsbildung anspricht, für die die zweite Welle der Frauenbewegung steht. Und „überhaupt“ schimpfte Jasmina, „habe ich noch nie eine Ausgabe vom Spiegel gelesen, wo nicht der Kampf für Frauenrechte lächerlich gemacht wurde und für ‚out‘ befunden“. Sie schaute mir tief in die Augen und lachte. Als würde sich das Reden über Politik in keinster Weise damit widersprechen, dass sie sich voll freute mich wiederzusehen. 8 Jasminas politisches Engagement für Frauenrechte sensibilisiert auch Clarissa dafür, ihren Wert und Status als Frau zu hinterfragen. Jasminas Fürsorglichkeit ihr gegenüber - „So hatte ich mir Freundschaft immer vorgestellt, dass man gemeinsam laut denkt“ 9 - ermöglicht es Clarissa, über ihr traumatisches Erlebnis zu sprechen. Jasmina verdeutlicht ihrer Freundin, dass sie sich weder schuldig fühlen noch im Verdrängungsmodus bleiben soll. Sie unterstützt ihre Freundin emotional, zieht aber auch politische Konsequenzen daraus. Die junge Feministin versucht Clarissa dafür zu mobilisieren, ihr Erlebnis künstlerisch zu verarbeiten und zusammen mit ihrer Frauengruppe eine Antigewalt-Demonstration zu organisieren. Nicht nur im Hinblick auf die Möglichkeit, ihr Trauma zu verarbeiten, sondern ganz allgemein ist Clarissa Jasmina verbunden. „Da ich lange keine richtige Freundin mehr gehabt hatte, genoss ich jeden Satz und jede Geste, die wir miteinander teilten.“ 10 Sowohl der deutliche Altersunterschied als auch der Unterschied in der Lebenssituation verstärken den Eindruck, dass hier keine klassische Liebesgeschichte oder gar ein Coming-out verhandelt wird. Weder Jasmina noch Clarissa sind Frauen, die sich als lesbisch definieren. Es wäre jedoch auch ein Fehler, die Beziehung zwischen den beiden Frauen klein zu reden und ihre Bedeutung für die Figurenentwicklung zu negieren. Im feministischen Kontext, in dem der Roman rezipiert werden muss, besteht die Beziehung zwischen Clarissa und Jasmina aus einer gelungenen Erzählung über die fließenden Grenzen zwischen weiblicher Freundschaft und weiblicher Erotik. Beide Figuren verankern sich in einem lesbischen Kontinuum. Jasmina gesteht am Ende des Romans ihre Verliebtheit zu Clarissa. Damit befindet sie sich auf einer höheren Skala des lesbischen Kontinuums als Clarissa, die ihre Gefühle nicht eindeutig benennen kann. Im Roman wird keine homosexuelle Identitätspolitik betrieben. Gerade das Changierende der Emotion symbolisiert das Kontinuum. Clarissa, durch Jasmina feministisch erweckt, kann 8 Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe. Mainz 2014, S. 78. 9 Ebenda, S. 85. 10 Ebenda, S. 79. <?page no="105"?> 104 VI Das lesbische Kontinuum ihre herzlichen Gefühle für Jasmina noch nicht richtig einordnen, die jüngere Freundin jedoch bedient sich des Begriffs der Verliebtheit. Für sie bedeutet diese positive Emotion allerdings auch nicht, dass sie mit der Freundin unbedingt in eine an Heterosexualität angelehnte Partnerschaft treten will. Ihre Gefühle für Clarissa verpflichten die Freundin zu nichts. Clarissa hat selbst den Eindruck, in Jasmina auf unbestimmte Art verliebt zu sein. Doch empfindet sie die gängigen Begriffe als mangelhaft, um das zu signifizieren, was Jasmina in ihr wachruft. Ist es die Sehnsucht nach mütterlicher Liebe, doch nur das lang vermisste Gefühl der Freundschaft oder eben eine neue, verwirrende Form des Begehrens? Nachdem Clarissa Jasmina von ihrer Gewalterfahrung erzählt hat, empfindet sie eine große Nähe zu Jasmina. Hand in Hand schlenderten Jasmina und ich die böse, böse Straße entlang (wir liefen auf der Seite der Brunnenstraße, wo die widerlichen Typen wie feindliche Soldaten patrouilliert waren) und bogen ums Eck zum Rosebud ab. Und während wir uns dort bei Gin tonic und Latte Machiatto aufwärmten (oh, du Gentrifizierung, die du uns die Gewalt des Milchkaffeetrinkens angetan hast) und unter dem Tisch ein bisschen Händchen hielten, besetzte ich Jasmina mit der Idee, dass sie ein Engel war, der mich retten würde, ein Engel, der mich bereits gerettet hatte! Ich machte so was manchmal. Schon als Kind hatte ich manche Frauen, die ich nur flüchtig kannte, als wahre Engel empfunden. Manchmal fragte ich mich, ob ich diese Frauen begehrte, oder ob sie nur der Mutterersatz für ein Mädchen waren, das sechs Jahre seiner Kindheit ohne die Mutter hatte auskommen müssen. Es war jedenfalls mehr als nur Freundschaft, was ich empfand, aber auch nicht direkt Begehren. Es war etwas anderes: Ich suchte einen Engel. 11 Was in Kerstin Grethers Roman an Zuneigungsformen, die rettenden Charakter haben, beschrieben wird, entspricht den Vorstellungen eines lesbischen Kontinuums in Gänze. Die ausschließliche Orientierung auf männliche Sexualpartner, die von Frauen, vor allem solchen, die sich in einem männlich ausgerichteten Business wie der Musikszene zu behaupten haben, gefordert wird, verdeckt die Sehnsüchte nach weiblich-weiblicher Bindung. Diese Bindung kann mit vielerlei Namen benannt werden, sei es ‚Liebe‘, ‚Schwesternschaft‘ oder ‚Mentoring‘. Wie sie auch lauten mögen, aus Jasmina und Clarissa wird kein Liebespaar, aber ihre Identifikation miteinander und die Spiegelfunktion, die sie füreinander haben, geht über eine reine Freundschaft (wie wir den Begriff üblicherweise verstehen) hinaus und zeigt den politischen Effekt einer Loslösung von beschränkenden Selbstbildern. In ihrer Bezogenheit zueinander lockert vor allem Clarissa ihr Rollenkorsett einer patriarchalisch geprägten Popsängerin. Sie verliert dabei nicht ihre Identität als begehrenswerte Frau, doch die Begegnung mit Jasmina erweitert ihr Selbstverständnis um einige Aspekte. Mit dem Porträt einer Frauenfreundschaft, das Kerstin Grether in ihrem Poproman liefert, finden wir uns genau in dem lesbisch-feministischen Diskurs der 70er und frühen 80er Jahre, aus dem Adrienne Richs These eines lesbischen Kontinuums hervorgegangen ist. Während die Bezeichnung „lesbisch“ in ihrer patriarchalischen Definition mit einschränkenden, klinischen Assoziationen behaftet ist, werden andererseits Freundschaft und Kameradschaft zwischen Frauen vom Bereich der Erotik ausgenommen, was die Erotik selbst einschränkt. Indem wir jedoch 11 Ebenda, S. 86. <?page no="106"?> 105 VI.1 Politische und erotische Bündnisse: Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe (2014) die Skala dessen, was wir als lesbische Existenz begreifen, vertiefen und erweitern, zeichnen sich Umrisse eines lesbischen Kontinuums ab, das auf keinen einzelnen Körperteil und nicht einmal auf einen Körper als solchen beschränkt ist; als eine nicht nur diffuse, sondern […] allgegenwärtige Energie, die sich im „Teilen, Mitteilen von Freude - körperlicher, emotionaler und psychischer Freude“ und in gemeinsamer Arbeit ausdrückt; als machtverleihende Freude, die uns „weniger willens [macht], Ohnmacht oder jene anderen demütigenden […] Zustände, wie Resignation, Verzweiflung, Selbstzurücknahme, Depression und Selbstverleugnung zu akzeptieren“ […]. Wenn wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass alle Frauen in einem lesbischen Kontinuum leben, […] dann sehen wir vielleicht auch, dass wir uns selbst ständig in dieses Kontinuum hinein- und wieder hinausbewegen, gleichgültig ob wir Lesben sind oder nicht. Dann können wir erkennen, dass die unterschiedlichen Aspekte der Frauenidentifikation miteinander in Verbindung stehen […]. 12 Was vor 40 Jahren subversiv und politisch relevant war, mag innerhalb der schnelllebigen Popkultur vielleicht doch einen leichten Vergilbtheitsverdacht aufwerfen. Was bewegt eine junge, explizit als Popfeministin firmierende Autorin, sich dieser Vorstellung zu bedienen? Wird damit nicht eine Trennung zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ manifestiert, die durch die Gendertheorie bereits grundsätzlich ins Wanken geraten ist? Mir scheint das Konzept gerade deshalb mit immerwährender Jugend gesegnet zu sein, weil die Ambivalenzen, in denen junge und erfolgreiche Frauen, die gleichzeitig begehrenswert und feministisch bzw. feminin und feministisch sein wollen, gefangen sind, sich nicht prinzipiell verändert haben. Hat sich das Rollenangebot und die Emanzipation von Frauen auch gesteigert, scheint gerade ‚Femininität‘, die sich durch die Annahme bestimmter weiblicher Rollenstereotype auszeichnet und die Clarissa offenbart, wenn sie von ihrem Lippenstift und ihren Haaren erzählt, immer noch Unterordnung und sexuelle Bereitschaft zu signifizieren. Was ihr an einer Stelle Bewunderung einbringt, führt an anderen Stellen dazu, dass sie als „Hure“ beschimpft wird. 13 Gegen diese „klischierte Wirklichkeit“ rebelliert der Roman. Clarissa kalkuliert, bevor Jasmina sie aus ihren inneren Zwängen befreit, ihre Wirkung als popkulturelles Subjekt sehr genau. Ihr ist es immens wichtig, als attraktiv zu gelten und begehrt zu werden und sie befolgt die Regeln, die sie begehrenswert und liebenswert erscheinen lassen. Die Figur Clarissas definiert sich dadurch, dass sie in der Lage ist, einen Star wie den im Roman erwähnten Indie-Rocker Pete Doherty auf sich aufmerksam zu machen. Es schmeichelt ihrem Selbstbild, dass sie ihn ohne Anstrengung kennengelernt hat („Er kam schnurstracks auf uns zu, legte den Arm um mich“ 14 ). Die popkulturell orientierten Leserinnen können sich mit Clarissas Freude darüber identifizieren. Gleichzeitig aber wahrt die Figur in der intradiegetischen Darstellung ihres Erlebnisses mit Doherty vor den mit ihr befreundeten Jungs die Fassade von Anständigkeit und Unbeteiligtheit, als sie von der aufregenden Begegnung berichtet. Ihre sexpositivistische, sexuell emanzipierte Haltung wird nur außerhalb der wörtlichen Rede vermittelt. Für den männlichen Zuhörer reduziert sie ihr Erlebnis auf eine Anekdote. Doherty habe sein Glas mit ihr getauscht und sich dann über 12 Adrienne Rich: Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz, S. 160. 13 Vgl. Kerstin Grether: An einem Tag für rote Schuhe, S. 32. 14 Ebenda, S. 34. <?page no="107"?> 106 VI Das lesbische Kontinuum ihre Trinkgewohnheiten belustigt, als er ihren mit Wasser vermischten Wein getrunken habe: „Dass Pete und ich geknutscht hatten, verschwieg ich lieber. Die Jungs sollten mich nicht für ein Groupie halten.“ 15 Sie wechselt ihr Image also vor einem männlichen Publikum gegenüber dem Image, das sie einem weiblichen Publikum vorstellt. Clarissas Verschwiegenheit symbolisiert das zweigeteilte Bild von popkultureller Weiblichkeit als einerseits sexuell attraktiv, andererseits aber auch sexueller Restriktion ausgesetzt. Frauen sollen sexuell verfügbare Objekte sein und attraktiv genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. Für ihre Selbstdefinition ist es wichtig, dass eine Frau mit ihrer sexuellen Ausstrahlung punkten kann. Die Protagonistin wird dadurch als attraktiv figuriert, dass selbst Doherty ihr seine Aufmerksamkeit zollt. Sie vermochte es allein durch ihre Präsenz, einem Weltstar auf unkonventionelle, amüsante Weise nahezukommen. Gleichzeitig unterstützt Clarissas Verschwiegenheit darüber, dass ihre Bekanntschaft mit dem Star sexuell wird, den Diskurs, dass Frauen keine leicht zu erobernden Objekte sein dürfen und sich schon gar nicht selbst vor Männern als solche darzustellen haben. Sie müssen den Verdacht eines zu starken eigenen sexuellen Interesses an einem Mann (Groupie) von sich weisen. Die Hinwendung zu anderen Frauen erlaubt es Clarissa, ‚Weiblichkeit‘ selbst zu definieren und sie von patriarchalisch geprägten Vorurteilen zu befreien. Ihr gelingt ein Umgang mit dem Erlebnis der sexuellen Belästigung, indem sie die Opferrolle von sich weist. In diesem freiheitlichen Sinn lautet auch ein Unterkapitel des Buches „Mein kurzer Rock hat nichts zu tun mit dir“ 16 . Sexuell attraktiv zu sein, aber gleichzeitig nicht zum Sexobjekt, sondern zum selbstbewussten „Sexsubjekt“ zu werden, stellt sich für Clarissa als popfeministischer Befreiungsweg dar, den es zu gehen gilt. Es ließe sich der Roman einer gewissen Naivität verdächtigen, indem man Clarissas Befreiungsschritte hinterfragt. Doch im Kontext dieser Analyse geht es nicht darum, ob eine selbstbewusste Kapitelüberschrift Frauen tatsächlich davor bewahrt, Objekte sexueller Belästigung zu werden. Es geht darum, dass Clarissa durch Jasminas Liebe erweckt wird (so wie Jasmina durch Clarissa). Im Spiegel einer anderen Frau gelingt es Clarissa, psychisch selbst Anspruch auf ihre Weiblichkeit zu erheben und sie von Degradierung und Übergriffigkeit frei zu halten. Die junge Feministin, die selbst sehr attraktiv ist und gern modische Wagnisse eingeht, hält ihr einen Spiegel vor, in dem Clarissa ihre Attraktivität sozusagen mit eigenen Augen zu schätzen lernt. Eine der Selbstdefinitionen des Popfeminismus besteht gerade darin, das Konzept ‚Weiblichkeit‘ neu zu beleben, es aber um emanzipative und subversive Aspekte zu erweitern. In Abkehr gegenüber einer älteren Feministinnengeneration spüren diese Frauen den Wunsch, patriarchalisch geprägte Weiblichkeitsstereotype, trotz deren anti-feministischer Genese, spielerisch zuzulassen, zurückzuerobern und auch an anderen Frauen zu akzeptieren (beispielhaft die langen Haare Clarissas, ihr femininer Kleidungsstil und ihr auffälliger Lippenstift). Der Popfeminismus will den Stereotypen eine eigene Geschichte geben, das heißt nicht unterschreiben, dass ‚Femininität‘ ein Zeichnen bewusster Unterordnung ist. Dies ist ein frommer Wunsch, der schwierig umzusetzen ist. Mit An einem Tag für rote Schuhe versucht eine Autorin die produktive Annahme des Rollenkonstrukts ‚Weiblichkeit‘, 15 Ebenda. 16 Vgl. ebenda, S. 303. <?page no="108"?> 107 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) indem sie es als etwas darstellt, das in Verbundenheit mit anderen Frauen erweitert werden kann. „Rote Schuhe“, also sexuell konnotierte Symbole, werden zu feminin-feministischen Weiblichkeitsinsignien, ebenso wie der kurze Rock und der Lippenstift. Ohne die Spieglung durch Jasmina, die für Clarissa zu einer generellen Bewusstseinserweiterung führt, blieben sie nur das Kostüm bzw. die herkömmliche Verkleidung einer Sängerin. Emanzipation kann viele Gesichter haben und sie muss nicht popfeministisch (in dem eben dargestellten Sinn) sein. Wenn sie es aber zu sein versucht - also eine Emanzipation anhand patriarchalisch entwickelter Stereotype von Weiblichkeit und nicht eine Emanzipation von diesen Stereotypen -, erscheint es logisch, dass Frauen, aufgrund ihres miteinander geteilten Genderings, diesen Schritt gemeinsam, in Anlehnung aneinander, vollziehen. Damit wird Gendertheorie nicht hintergangen, sondern bestätigt. Im Spiegel einer anderen Frau entwickelt das frauenzugeneigte Subjekt seine Weiblichkeit. Eine Frau vermag sich in diesem Spiegel ihrer Weiblichkeit zu versichern und sie selbst zu (er-)finden. Der weibliche Spiegel ist nicht neutral, es ist kein objektiver Blick, sondern ein liebender Blick, der auf Identifikation beruht. Diese Form des ‚Gynozentrismus‘ - und das war bereits bei den Ahninnen des Konzeptes so - beruft sich nicht auf Biologie, sondern auf eine Sociology of Gender. VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) Im folgenden Abschnitt soll es um ein Textbeispiel einer Frauenbeziehung gehen, die sich aus dem Blickwinkel des lesbisch-feministischen Konzepts von Adrienne Rich fassen lässt, obwohl der untersuchte Roman vor der zweiten Welle der Frauenbewegung entstanden war und dessen Autorin die Theorie noch gar nicht zur Verfügung hatte. Der Begriff des lesbischen Kontinuums ermöglicht es, die Bedeutung der weiblich-weiblichen Beziehung im Debütroman von Irmgard Keun (1905 - 1982) anzuerkennen und ihm eine weitere Lesart hinzuzufügen. Gilgi - eine von uns ist ein dreiviertel Jahrhundert älter als An einem Tag für rote Schuhe. Auch hier sind zwei Frauen auf intensive Weise einander zugetan. Die beiden weiblichen Figuren sind durch große emotionale Nähe und ein tiefes Verständnis füreinander gekennzeichnet. Obwohl der Roman durchaus auch aus einem an Gender orientierten Blickwinkel erforscht worden ist, 17 hat diese Frauenbeziehung keine große Würdigung erhalten. Sie ist aber meines Erachtens für ein feministisches Verständnis des Textes grundlegend. Der titelgebenden Hauptfigur Gilgi gelingt es, mithilfe ihrer engen, vertrauten Freundin Olga in der patriarchal ausgerichteten Ordnung besser ihren Platz finden. Der Platz, auf dem sich Gilgi befindet, wird in der Forschung entweder als der der ‚Neuen Frau‘, der ‚neusachlichen Frau‘ oder auch als der eines Girls (im Kontext der in den 1920er Jahren aufkeimenden Girlkultur) beschrieben. Ich möchte an dieser Stelle die Begriffe nicht gegeneinander abwägen, obwohl mir Letzterer besonders treffend erscheint. Keuns Roman setzt sich mit dem zeit- 17 Vgl. bspw. Kerstin Brandt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln 2003; Doris Rosenstein: „Mit der Wirklichkeit auf du und du? Zu Irmgard Keuns Romanen „Gilgi, eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“. In: Neue Sachlichkeit im Roman. Hrsg. von Sabina Becker-/ Christoph Weiss. Stuttgart-/ Weimar 1995, S. 273 - 290. <?page no="109"?> 108 VI Das lesbische Kontinuum genössischen, medialisierten Weiblichkeitsbild auseinander, wobei er auf literarischer Ebene das Bild reflektiert und sich davon auch distanziert. Die Distanznahme zu einer klischierten Weiblichkeit gelingt der Figur über ihr ‚lesbisches Kontinuum‘, denn ihre intensive Frauenfreundschaft dient Gilgi als Rückzugsort, um in der männlich ausgerichteten Welt eine Nische zu finden, in der sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin frei fühlen kann. Der Roman, um den es hier gehen wird, erscheint trotz seines älteren Datums (Erstveröffentlichung 1931, das heißt die Figuren, die darin porträtiert sind, wären heute über 100 Jahre alt) zeitlos. Die Freundschaft der Frauen ist dabei genauso modern und glamourös wie die ihrer jüngeren Kolleginnen. Sie beruht - noch weniger als bei Clarissa und Jasmina - auf erotischem Interesse, aber zweifellos ist sie als eine tiefe homosoziale Bindung dargestellt, die durchaus als ‚Liebe‘ zu bezeichnen ist. In diesem Romanbeispiel ist der sexuelle Subtext in der Frauenbeziehung kaum vorhanden. Die Frauen fühlen sich zwar nicht vordergründig sexuell zueinander hingezogen, doch erweist sich die Freundschaft für beide Frauen als die tiefste emotionale Bindung, die sie haben, ohne dass die Frauen einander explizit ihre Liebe gestehen. In der Hauptfigur Gilgi begegnet uns der Versuch eines neusachlichen Lebensentwurfs. Der Roman war ein enormer Verkaufserfolg, nicht zuletzt, weil viele Frauen sich mit dem Versuch identifizieren konnten. Natürlich steht der Roman auch im Zeichen einer Genderrevolution, denn Gilgi bricht mit Erwartungen, die noch die Generationen ihrer Mütter an das Leben stellte (Versorgungsehe etc.). Die junge, ‚neue‘ Frau hat Ziele für ihr Leben, möchte ein von ihrer Herkunftsfamilie unabhängiges Leben führen und auch nicht in die Abhängigkeit zu einem Mann geraten. Für ihr junges Alter (Gilgi ist noch nicht einmal 21) hat sie schon reichlich Erfahrung mit Männern. Der Kritiker Kurt Tucholsky spricht anerkennend, wenn seine Worte auch unserem heutigen Verständnis nach despektierlich klingen mögen, in einer Literaturkritik des Romans von „Kleinmädchen-Ironie“ 18 . Vermutlich stellt sich eine ernstzunehmende Schriftstellerin heutzutage andere Lobesbekundungen vor. Das, was Tucholsky als „beste Kleinmädchen-Ironie“ bezeichnet, ist der Mangel an jeglicher romantisierender Weltsicht. 19 Der männliche Kritiker kann sich vielleicht nicht vollständig mit dem emanzipativen neusachlichen Weiblichkeitsentwurf von Gilgi anfreunden. Keun ist mit dieser Figur eine wirklich erstaunlich autonome Frauengestalt gelungen. Das Konzept des Sexpositivismus ist zu sehr in den gegenwärtigen Diskursen verankert, als dass ich es für Gilgi bemühen möchte. Doch diese Frauenfigur lebt eine Freiheit, wie sie in den gesellschaftlichen Grenzen der damaligen Zeit eben möglich ist. Anders als Clarissa, der spätmodernen Figur aus Grethers Roman, die bereits über 30 Jahre alt ist, verharrt dieses 21-jährige „Kleinmädchen“ nicht im postadoleszenten Habitus, sondern stellt sich der Realität. Wie bei vielen neusachlichen Lebensentwürfen projiziert auch Gilgi keine romantischen Erwartungen auf ein männliches Gegenüber. 18 Peter Panter: Auf dem Nachttisch. In: Die Weltbühne vom 02.02.1932 [Nr. 5], S. 177. In: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 24 - 29. 19 Vgl. Urte Helduser: Sachlich, seicht, sentimental. Gefühlsdiskurs und Populärkultur in Irmgard Keuns Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen. In: Irmgard Keun 1905/ 2005. Deutungen und Dokumente. Hrsg. von Stefanie Arend-/ Adriane Martin. Bielefeld 2005, S. 13 - 27, S. 22. <?page no="110"?> 109 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) Und nur weil sie jetzt im Augenblick gar nichts anderes zu tun hat, denkt sie an Olgas Bruder. Netter Junge. Wie war noch sein Vorname? Weiß sie nicht. Geküßt hat er sie gestern abend im Auto. Heute reist er wieder ab. Schade? Ach wo. Aber nett war es gestern mit ihm. Lange hatte sie nicht mehr geküßt. Es gefällt einem selten einer. Die Jahre der Wahllosigkeit zwischen siebzehn und neunzehn sind vorbei. Der Junge war nett. Der Kuß war nett. Er brennt nicht nach. Gut so. 20 Diese Haltung entspricht Gilgis karrierebewusstem, neusachlichem Leben entschieden. Sie lebt ein modernes Leben, indem enge heterosexuelle Bindungen als sentimental und hinderlich abgestempelt werden. Gilgi scheint kein Bedürfnis nach Sentimentalität zu verspüren, weil diese mit der älteren Generation assoziiert ist, von der sich die junge Frau losgesagt hat. 21 Zwischen ihrer Lohnarbeit besucht sie freiwillig Fremdsprachenkurse. Sie ist gehetzt und strebsam. Gewiss genießt es diese junge Frau auch begehrt zu werden, sie kümmert sich um ihr Äußeres, pflegt sich und küsst gerne einen hübschen Jungen im Auto. Sie ist sexuellen Kontakten gegenüber aufgeschlossen, doch sie knüpft diese Kontakte nicht an romantische Lebensentwürfe. Im Gegenteil, sie ist erleichtert, wenn der Mann für ein kleines Abenteuer keine tieferen Sehnsüchte wachruft. Gilgis Autonomie zeigt sich darin, dass sie aber auch an ein Techtelmechtel gewisse Ansprüche stellt. Sie mag die Jungs, die ihr näherkommen, und ist nicht darauf angewiesen, sich von jedem erobern zu lassen, dem sie gefällt. Die junge Frau wäre dazu viel zu stolz. Clarissa (vgl. Kap. VI.1) scheint viel wahlloser zu sein als Gilgi. Die neusachliche Figur Gilgi spielt keine amourösen Machtspielchen und betrachtet niemanden, schon gar nicht sich selbst, als sexuelles Objekt. Der Schein, dass Gilgi gefühlskalt wäre, trügt. Die bürgerliche Vorstellung von Romantik in ihrer gegebenen Form sieht sie zwar als Falle, was auch die bisherige Forschung über den Roman konstatiert, dennoch darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass die Figur für sich in ihrem Leben etwas wie Romantik reklamiert. Diese ist allerdings nicht an Männerabenteuer, also Heterosexualität, sondern an ihre Freundin Olga, an Homosozialität, gebunden. Wie nett, daß man Olga hat. Olga ist die bunteste Farbe in Gilgis Leben. Und wenn sie nicht solchen Widerwillen gegen das Wort Romantik hätte, könnte man sagen: Olga ist die Romantik für Gilgi. 22 Hiermit wird schon auf den ersten Seiten des Romans erzählt, was die schöne, ungebundene Künstlerin Olga, die ein paar Jahre älter als Gilgi ist, der umtriebigen Angestellten bedeutet. Sie ist die Spiegelfigur, in der die neusachliche, strebsame Gilgi ihr Gegenüber und damit sich selbst findet. Olga personifiziert das, was die junge Frau Gilgi, um sich in der männlichen Welt durchzuschlagen, von sich weist: die Romantik! Hübsche Olga, schöne Olga! Das nüchterne Arbeitszimmerchen riecht plötzlich nach Sommergarten, und Gilgis hartes, kleines Gesicht wird weicher und jünger. Glückliche Olga! Ein gut gelaunter, lieber Gott hat ihr einen Sektkorken an die Seele gebunden. Mag kommen, was will, Olga geht nicht unter. Sie hat die lustigsten blonden Haare, das weichste, blühende Blondinengesicht. Sie hat die 20 Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns. Berlin 2014 [Originalausgabe Berlin 1931], S. 7f. 21 Vgl. Urte Helduser: Sachlich, seicht, sentimental, S. 17f. und S. 22. 22 Irmgard Keun: Gilgi, S. 20. <?page no="111"?> 110 VI Das lesbische Kontinuum unbekümmertsten Augen, graublau mit frechen, kleinen Pünktchen in der Iris. Sie hat die faulen, räkelnden Bewegungen einer kleinen Haremsfrau und den Verstand eines jüdischen Essayisten. Sie ist an nichts und niemanden gebunden, ist das unabhängigste Wesen, das Gilgi sich denken kann. Sie bewundert Olga, obwohl sie weder die Möglichkeit noch den Wunsch hat, ihr je zu gleichen. 23 Olga ist allerdings nicht nur romantische Spiegelfigur für Gilgi, sie ist auch eine Verbündete, und diese Verbundenheit zweier Frauen schlägt den patriarchalischen Machtmechanismen ein Schnippchen. Anders als Clarissa, die sehr bewusst das Bild der sexy Frau bedient und sich am Anfang des Romans kaum sexuelle Selbstbestimmung zugesteht, ist Olga vollständig emanzipiert. Sie klammert sich nicht knechtisch an das Bild, das andere von ihr haben, und lässt sich nicht auf ein Weiblichkeitsimage (passive Haremsdame oder scharfsinnige Essayistin) festlegen. Dieser Weiblichkeitsentwurf widersetzt sich klischierter, patriarchalischer Wirklichkeit. Auch heute ist diese Darstellung von Olga, die sowohl sexuell sehr begehrenswert als auch intellektuell bewundernswert ist, ein Befreiungsentwurf. Mit Olga im Bunde weiß Gilgi sich gegen die Widrigkeiten ihres Alltags zu wehren. Ein Gegenschlag gegen das männliche Machtmonopol, den diese Frauenfreundschaft verüben kann, wird gleich im ersten Kapitel des Romans illustriert. Dies zeigt auch, wie bedeutsam Olga als Romanfigur ist. Der Roman beginnt mit Gilgis Sorge, wie sie den lästigen sexuellen Avancen ihres Chefs, der übergriffig zu werden droht, entkommen kann. Gilgi ist bei Herrn Reuter angestellt. Herr Reuter ist ein Mann, der sich in einer Midlifecrisis befindet und auf die junge Angestellte ein begehrliches Auge geworfen hat. Der Begriff ‚Midlifecrisis‘ kommt nicht vor, doch scheint Gilgi genau dies zu vermuten. Gilgi sieht Reuter als einen von sexuellen Abenteuern träumenden Mann, ohne spezifisches Interesse an ihrer Person. Sie hält sich für ein „Zufallsobjekt“. Die junge Frau besinnt sich auf Olgas Charme und fasst einen Plan, sich der lästigen Avancen zu entledigen. Die Manipulation ihres Chefs geschieht auf derart gewitzte Weise, dass auch Jahre nach Entstehen des Buches Generationen von Frauen zustimmend lächeln. Gilgi ist ein erfahrenes Mädchen. Sie kennt Männer und die jeweiligen Wünsche und Nichtwünsche, die sich hinter dem Ton ihrer Stimme, ihren Blicken und Bewegungen verbergen. Wenn ein Mann und Chef wie Herr Reuter mit unsicherer Stimme spricht, ist er verliebt, und wenn er verliebt ist, will er was. Früher oder später. Bekommt er nicht, was er will, ist er erstaunt, gekränkt, ärgerlich. Seit einiger Zeit ist dicke Luft zwischen ihr und Herrn Reuter. Jetzt ist die Sache reif. Kollegin Müller hat erzählt, daß Frau Reuter verreist ist. Das beschleunigt den Gang der Handlung. Gilgi überlegt. Sie hat keine Lust, mit Herrn Reuter ein Verhältnis anzufangen, und sie hat keine Lust, sich ihre Stellung bei ihm zu vermurksen, sie eventuell zu verlieren. 24 In den streng patriarchalischen Strukturen der 1930er Jahre, in denen sexuelle Aufmerksamkeit etwas ist, das die weiblichen Angestellten ihren Chefs, zumindest symbolisch, anstandslos zur Verfügung stellen müssen, und in denen eine Frau gesetzlich nicht vor sexueller Belästigung geschützt ist, kann eine kleine Angestellte wie Gilgi nicht risikolos ihr sexuelles Desinteresse an dem übergeordneten Mann bekunden. Die ökonomische Abhängigkeit gegenüber 23 Ebenda, S. 23. 24 Ebenda, S. 17f. <?page no="112"?> 111 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) den höhergestellten Männern offenbart der Roman schonungslos. Er zeigt, dass das Bild der neuen, sexuell emanzipierten Frau auf wackligen Füßen steht. Eine Kränkung des Mannes ist Frauen, die sich in Abhängigkeit befinden, nicht gestattet. Gilgi traut sich nicht, Reuter abzuweisen, ihm aber tatsächlich sexuell verfügbar zu sein, nähme ein nicht minder vages Ende für den professionellen Weg der von ihrem Chef Umworbenen. Sich auf Reuter einzulassen, könnte genauso zu einer Kündigung führen, wenn der Arbeitgeber beispielsweise das Interesse verlöre und ihm die Affäre peinlich werden würde. Aber nicht nur das. Erschwerend kommt für Gilgi hinzu, dass ihr Reuter ‚als Mann‘ nicht sehr gefällt. Das Gebot, dass sie an dem Mann, mit dem sie sexuell verkehrt, zumindest momentan Gefallen finden möchte, hat sich Gilgi gesetzt, sonst käme es einer Form von Prostitution nahe. Gilgi befindet sich also in einer Pattsituation. Sie handelt völlig rational und sachlich, als sie die schöne, männererfahrene Olga bittet, ihr den lästigen Verehrer abzunehmen. Dass das der schönen Olga mühelos gelingen wird, erweist sich für Gilgi als fraglos. Keine Konkurrenzsituation wird in der Erzählung evoziert. Gilgi stellt ihre Attraktivität nicht ein einziges Mal in einen negativen Bezug zu der Anziehungskraft ihrer Freundin, im Gegenteil: Sie liebt und bewundert sie für ihren Schlag bei Männern, sie weiß ihn für sich zu nutzen. Die große emotionale Nähe der beiden Frauen zeigt sich gerade im Dialog, in dem sie das Reuter-Dilemma verhandeln. „Du wolltest mich doch um was bitten, Gilgi? “ „Ja, du mußt mir einen Mann abnehmen.“ „Ist er nett? “ „Bessere Konfektionsware - nichts für dich.“ „Was soll ich dann mit ihm? “ „Er ist mein Chef, ist verliebt. Wenn er merkt, daß ich ihn nicht mag, hab’ ich muffige Luft im Büro. Du mußt ihn von mir ablenken.“ „Na ja. Wenn er aber in dich verliebt ist, wird er sich doch von mir nicht …“ Gilgi macht ihr weltweisestes Gesicht. „Der ist nicht speziell in mich, der ist an und für sich verliebt in letzter Zeit - ganz allgemein. Ich bin Zufallsobjekt, eine Einbildung …“ „Die wer’n wir ihm austreiben.“ Olga schiebt heimlich einen Apfelkitsch hinter den Diwan. „Wie sollen wir’s denn machen? “ Gilgi erklärt kurz Olga ihren Plan, Olga ist einverstanden - Nur: „Werd’ ich ihn denn auch wieder los? “ „Ach, Olga! “ Gilgi schwingt sich auf den Schreibtisch, „du bist doch viel mehr Dame als ich - nein, nicht weil du schon fünfundzwanzig bist - an und für sich. Bei dir wird einer nicht gleich so brenzlich wie bei mir kleinem Mädchen, außerdem kannst du nach vierzehn Tagen Abreise vortäuschen.“ Olga macht eine Handbewegung. […] Beide finden das Thema Reuter nicht interessant genug, um noch eine Minute länger darüber zu sprechen. 25 Der Plan, den Gilgi entworfen hat, geht auf. Die neusachliche Einschätzung von Reuters angeblicher Verliebtheit erweist sich nicht als trügerisch. Bei einem von Herrn Reuter forcierten Rendezvous kommt scheinbar zufällig Olga des Weges, die angeblich auf jemanden wartet, 25 Ebenda, S. 25. <?page no="113"?> 112 VI Das lesbische Kontinuum Reuter bietet der schönen Frau etwas unwillig einen Platz an. „Er ist Kavalier.“ 26 Diese Rolle stört ihn anfänglich, aber sofort merkt er, „daß andere Männer ihn beneiden, als Olga sich an seinen Tisch setzt.“ 27 Er „findet Olga schön“ 28 , aber noch stört sie ihn, denn durch die Störung ist „Gilgis kleine Hand […] jetzt unerreichbar weit fort.“ 29 Diese Irritation Reuters hält allerdings nicht lange an. Er wird zum Opfer weiblichen Charmes. Nur weiß er nicht, wie genau das kalkuliert ist. Es gelingt Olga mühelos, Gilgi zu überstrahlen und Reuters erotisches Interesse auf sich zu lenken. Sie gewinnt als die damenhaftere Erscheinung seine Aufmerksamkeit. Nur ist dieser Gewinn einer, den beide Frauen teilen und an dem beide mitwirken. Gilgi geht zur Telefonzelle, um nach Hause zu telefonieren. Als sie wiederkommt, empfindet Herr Reuter Olga nicht mehr als störend. Gilgi verschwindet nach einiger Zeit für eine Viertelstunde auf die Toilette. Herr Reuter erinnert sich, daß eigentlich „blond“ sein Typ ist. Er wird geistreich. Olga sieht ihn bewundernd an, und Reuter ist überzeugt, sich ein Leben lang unterschätzt zu haben. Gilgi kommt zurück, sitzt still und bescheiden da und läßt sich von Olga überblenden. Sie ist ein unscheinbares, kleines Mädchen. Herr Reuter erinnert sich an etwas verrostete Prinzipien: mit Angestellten keine Liebschaften anfangen und so weiter. Gilgi geht für zehn Minuten ins Vestibül, um nach einer Zeitung zu suchen. Durch cremefarbene Spitzen schimmert Olgas frische, rosige Blondinenhaut und überzeugt Herrn Reuter, daß Olga „die“ Frau ist, die ihn versteht. Eine halbe Stunde später bringt er erst Gilgi, dann Olga nach Hause. 30 Würden wir nur den letzten Abschnitt ohne seine Vorgeschichte lesen, könnte es auch eine Geschichte über weibliches Revierverhalten sein, bei dem eine naive und passive Frauenfigur von der gewieften Femme fatale ausgestochen wird. Zwar sprächen viele Texthinweise dagegen, zum Beispiel, dass Gilgi sich in gewisser Weise ganz aktiv in die Rolle der Unscheinbareren begibt, dessen ungeachtet würde eine patriarchalische Ideologie hier einen Machtkampf zwischen Frauen wähnen können. Diese beiden dargestellten Frauen leben aber in einem lesbischen Kontinuum. Zwangsheterosexualität dominiert die Szene nicht. Es handelt sich um keine Konkurrenzsituation, die hier geschildert wird, sondern um den Ausdruck von Verbundenheit, bei dem der Mann zum Spielball weiblicher Erwägungen wird. Zwei sich äußerst zugetane Frauen kämpfen in einer nach männlichen Bedürfnissen ausgelegten Welt gemeinsam darum, ihr Stück vom Kuchen behalten zu können. Gilgis Stück vom Kuchen ist eine Anstellung, bei der sie ihrem Chef nicht sexuell zur Verfügung stehen, ihn aber auch nicht düpieren muss. Beides fiele letztlich auf sie zurück. Das Frauenbündnis ist tatsächlich eine Art von Romantik, aber kein romantischer Entwurf, der an Männer gekoppelt ist. Olga ist eine Art Robin Hood für Gilgi. Beide Frauen sind das Gegenteil von naiv. Der Mangel an Naivität erschien den zeitgenössischen Kritikern ungewöhnlich. In einer begrenzten Perspektive erscheinen die Frauen sogar etwas seelenlos. Doch in ihrer Freundschaft, in der gegenseitigen 26 Ebenda, S. 27. 27 Ebenda. 28 Ebenda. 29 Ebenda. 30 Ebenda, S. 27f. <?page no="114"?> 113 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) Achtung vor der Schönheit und den Qualitäten der jeweils anderen, finden diese jungen Frauen ihren romantischen Gegenentwurf zur neusachlichen Welt, in der weibliche Sexualität in ein ökonomisches System eingespeist ist, aus dem nur Männer als tatsächliche Nutznießer hervorgehen können. Gilgi und Olga haben ihr Herz am rechten Fleck, nur eben nicht da, wo es Männer gemeinhin vermuten. Die sexuelle Autonomie der neusachlichen Frauen ist eine männlich definierte. Voreheliche Sexualität wird von den Girls in der Weimarer Republik zwar erwartet und auch praktiziert. Die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft lastet aber dennoch meist auf der Frau allein. Der sexuelle Genuss ist oft teuer erkauft. Gilgi selbst ist ein uneheliches Kind, wie sie im Laufe des Romans erfährt. Sie wurde von ihrer Mutter, die um ihr Ansehen fürchtete, verstoßen und zur Adoption freigegeben. Ihre eigene Lebensgeschichte zeigt also, dass Frauen in einer sehr begrenzten Freiheit leben. Deshalb gehen Gilgi und Olga strategisch mit ihren Reizen um und bleiben in heterosexuellen Beziehungen lieber sachlich. Gerade Gilgi möchte sich auf sich selbst verlassen können und nicht in zu tiefe Abhängigkeiten geraten. All ihr Verstand nützte ihnen aber nichts, wenn sie sich nicht gegenseitig hätten und einander helfen, beraten, unterstützen könnten. Diese Unterstützung braucht Gilgi auch gerade, nachdem sie sich glühend in einen Mann verliebt hat. Gilgi ist nicht emotional erkaltet, ihr ist unerwartet die Liebe passiert. Sie hat sich einem Mann emotional geöffnet, da seine Küsse in ihr nachbrannten. Gilgi gesteht sich diese Emotion ein und beginnt eine Beziehung zu Martin, der deutlich älter ist als sie. Der Begriff der Verliebtheit schließt jedoch in dem Roman nicht notwendigerweise den Wunsch nach einer lebenslangen Verbindung mit ein. Da Gilgi weiß, wie die Karten stehen (nämlich, dass Ehe, Familie und berufliche Selbstständigkeit für eine Frau der 1930er Jahre so gut wie nicht zu vereinbaren sind), entscheidet sie sich gegen eine Ehe oder eheähnliche Gemeinschaft mit Martin, obwohl sie ein Kind von ihm erwartet. Die Verantwortung für das in ihr wachsende Leben ermahnt sie zu einer Verantwortung gegenüber sich selbst. Sie spürt, dass sie mit Martin nie ihre Träume von Selbstständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit erreichen könnte. Er wird als lieber Mensch dargestellt, der jedoch nicht weitsichtig und sensibel genug ist, Gilgi in ihrer ganzen Persönlichkeit anzuerkennen. Er limitiert sie auf die Rolle des hübschen jungen Mädchens an seiner Seite. Das spürt Gilgi und bewegt sie, die romantischen Hoffnungen, die sie in Martin gesetzt hat, zu begraben. Das tut sie ohne Bitterkeit. Eine gleichberechtigte heterosexuelle Beziehung wird in der Weimarer Republik weder gesellschaftlich noch juristisch gefördert. Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau in der Ehe war bis 1977 im bundesdeutschen Gesetz festgeschrieben. Gilgi ahnt, dass, wenn sie sich ökonomisch von Martin abhängig macht, sich ihre Identität (und die Qualität ihrer Beziehung) verändern werden wird. Sie weiß, dass sie nie auf Augenhöhe in der Beziehung mit dem wesentlich älteren Martin käme. Neusachlich siegt ihr Verstand gegen das Gefühl. Tatsächlich wäre es schwer, in einem Gegenwartsroman diese radikale Lösung zu plausibilisieren. Im Kontext neusachlicher Lebensentwürfe ist Gilgis Entscheidung allerdings nachvollziehbar. Dieser so unwahrscheinliche Sieg eines scheinbar ganz sachlichen Lebensentwurfs gegen einen heterosexuellen, romantisch kodierten wird von der zeitgenössischen Kritik, namentlich von Kurt Tucholsky, als abgeschmackt disqualifiziert. Dass eine Frau so komplexbeladen sein kann, ihre Liebe für die Unabhängigkeit verspielen kann, leuchtet dem Zeitgenossen nicht ein. <?page no="115"?> 114 VI Das lesbische Kontinuum Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief. Diese hier findet in der zweiten Hälfte weder den richtigen Ton noch die guten Gefühle. Da langts nicht. Schwangerschaft, Komplikation es langt nicht. Dazu kommt eine fatale Diktion: was reden die Leute nur alle so, wie wenn sie grade Freud gefrühstückt hätten! Es ist der Frau Keun sicherlich nicht bewußt, was sie da treibt, und eben das ist das schlimme, daß ihr diese „Komplexe“ so selbstverständlich erscheinen. So spricht man eben? Nein, so spricht man eben nicht - es ist schauerlich. 31 Komplexbeladen müsse eine Frau sein, die so wagemutig ihr Glück an der Seite eines Mannes ausschlägt, der sie lieb hat und dessen Kind sie bekommt. Sie degradiert und entweiblicht sich Tucholskys Maßgabe nach als Frau ohne „gute Gefühle“. Aber hat Gilgi nach queerer Lesart auch einen Komplex, einen Makel? Diese androzentrische Kritik versteht nicht, dass Gilgi nicht die Wahl für ein liebloses Leben trifft. Sie scheut sich zwar davor, unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in eine Ehe mit Martin zu treten, zumal sie sich nicht sicher ist, ob Martin sie wirklich als Person, die sie ist, anzuerkennen vermag. Insofern agiert sie rational. Das Kind, das sie unter dem Herzen trägt, will sie jedoch nicht missen. Gilgi erwägt nicht einmal einen Schwangerschaftsabbruch, obwohl es nicht einfach werden wird, unter den gegebenen Umständen ein Kind großzuziehen. Ihre Beziehung zum Kind ist von dem Moment, da sie von ihm weiß, emotional geprägt. Gilgi nimmt von einem für sie nicht zukunftsfähigen Beziehungsmodell Abschied. Sie sei damit nicht richtig ‚weiblich‘, was klassischer Genderideologie nach offenbar bedeuten soll, sie sei ‚gefühllos‘. Tucholsky sieht jedoch nicht, was aus männlichem Blickwinkel schwer erkennbar ist: Indem sich Gilgi aus Angst vor Abhängigkeit für ein selbstständiges Leben als alleinerziehende Mutter entscheidet und den Vater ihres Kindes verlässt, entscheidet sie sich noch lange nicht gegen Liebe, Wärme und Zuneigung in ihrem Leben. Sie wird das Kind mit Olga großziehen. Es wird in der Rezeption des Romans sehr oft unterschlagen, dass sie nicht nur Martin verlässt, sondern dass sie vorhat, nach Berlin zu ziehen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen - und zwar mit Olga. Verbirgt sich hinter der Zuschreibung von „Komplexen“ das Unverständnis gegenüber dieser Entscheidung Gilgis? Scheinbar ahnt Tucholsky nicht, dass weibliche Autonomie möglich sein und dass es etwas wie ein lesbisches Kontinuum geben kann, in dem Frauen emotional getragen werden. Olga ist Gilgis Freundin, nicht Gilgis lesbische Partnerin. Gelebte Sexualität zwischen den Frauen wird im Text nie angedeutet. Gelebte Romantik schon. Das Wort ‚Freundin‘, mit dem die Funktion Olgas für Gilgi bezeichnet wird, beinhaltet hier schon einen größeren Bedeutungsrahmen. Diese romantische Freundschaft kündet bereits das Konzept des lesbischen Kontinuums an, das ein halbes Jahrhundert später von einer anderen Schriftstellerin theoretisiert und begrifflich gefasst wird. Es richtet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, Frauen, die weiblich-weibliche Beziehungen als heterosexuellen Beziehungen gleichwertig erachten, als komplexbeladen zu denunzieren. Diese beiden Frauen sind keine Lesben in irgendeiner, damals als pathologisch verstandenen, klinischen Art. Die Stärke des Begriffes ‚lesbisches Kontinuum‘ besteht darin, Frauenidentifikation jenseits lesbischer Beziehung zu thematisieren. Er kann auf alle Frauen ausgedehnt werden, die sich gegen sexistische Strukturen im Bündnis mit anderen Frauen 31 Peter Panter: Die Weltbühne, S. 177. <?page no="116"?> 115 VI.2 Romantische und neusachliche Bündnisse: Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns (1931) wehren. Das tun Jasmina und Clarissa, aber auch Olga und Gilgi wehren sich gegen Vereinnahmung und vorgefertigte Rollen von Mutterschaft und Beziehung. Ihre Identifikation mit einer anderen Frau und ihre Liebe zu einer anderen Frau legt sie nicht sexuell fest. Im ersten Romanbeispiel ist der Begriff ‚lesbisches Kontinuum‘ durch den feministischen Hintergrund gestützt, im zweiten Beispiel ist er anachronistisch, weil der Begriff noch nicht als theoretisches Konzept etabliert war. Allerdings war das Spektrum der weiblich-weiblichen Emotion bereits bekannt. Schon in dem Roman Der Skorpion (vgl. Kap. V) lernten wir eine Liebe, die auf Identifikation beruht, als eine prinzipiell weibliche Liebesform kennen. Auch dieser noch ältere Text könnte unter dem Blickwinkel des lesbischen Kontinuums betrachtet werden. Frauen, die sich in einem so gearteten Kontinuum bewegen, unterstellen auch anderen Frauen, dass sie sich - auf die eine oder andere Art - darin bewegen. Vielleicht ist Gilgis und Olgas Lebenskonzept in Berlin (auf das Keuns Roman hindeutet) als die Art von Schwesternschaft vorstellbar, die sich Mette mit ihrer Olga für zwei unbekannte Damen einst ironisch und liebevoll ausgemalt hat, als sie ein Ladenschild lasen: „Geschwister Bach“, sagte Olga und sah zu dem Firmenschild auf. „Sicher sind das zwei alte Schwestern. Die eine hat einen Mops und die andere einen Kanarienvogel. […] Die eine, die den Klavierunterricht erteilt, ist eine schönheitsdurstige Seele. Sie hat sicher einmal von Ruhm und Beifall geträumt […]. Und die andere, die praktischere, vielleicht von einem Mann und sieben Kindern. Und nun sitzen sie hier und trösten einander. Vielleicht hat die praktische ein aufopferungsfreudiges Gemüt und hat den einzigen in Betracht kommenden Mann ausgeschlagen, nur um ihre Schwester nicht zu verlassen. - ach vielleicht wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein … […]“ 32 Tucholsky könnte dieses Konzept weiblicher Verbundenheit (und mit ihr die Angst vor der heterosexuellen Ehe) nur als ‚komplexbehaftet‘ kritisieren. Vielleicht stellen wir uns das Leben, in das Gilgi mit Olga gemeinsam aufbrechen wird, auch glamouröser vor als das Leben, das den Geschwistern Bach unterstellt wird. Doch dass sich auch Olga und Gilgi als Freundinnen nie verlassen werden, hoffen wir allemal. Der Text konturiert ein Verständnis dieser Frauenfreundschaft als eine nicht kontingente, lebenslange Bindung. Vermutlich standen die Leserinnen mit einem solchen Verständnis gegenüber den männlichen Rezipienten auf verlorenem Posten. Der Verkauf des Romans lief allerdings so erfolgreich, dass der Roman bereits kurz darauf verfilmt wurde. Es ist also auszuschließen, dass er, vor allem bei den Frauen, grundsätzlich auf Ablehnung wegen „fataler Diktion“ stieß. Um die harsche Kritik zu erklären, lässt sich beschwichtigend sagen: Vermutlich muss man den „Feenzauber“ 33 der homosozialen Gemeinschaft kennen, um an ihn zu glauben. 32 Anna Elisabet Weirauch: Der Skorpion, S. 171f. 33 Ebenda, S. 171. <?page no="118"?> 117 VII Homosoziales Begehren Queere Lektüren beruhen auf der prinzipiellen Bedeutungsoffenheit von Literatur. Die Annahme, es gäbe nun mal Texte, die entweder auf homosexuelle oder heterosexuelle Rezipient*innen gemünzt sind, wird durch die bisherigen Analysen in Frage gestellt. Scheint es doch weder die eindeutig homosexuellen Texte noch die eindeutig straighten/ heterosexuellen Texte zu geben. Immer finden Verschiebungen und Überschreitungen statt. Die Begehrensbeziehungen, die literarisch hinterlegt sind, missachten Gendergrenzen und Konventionen. Bezogen auf das weiblich-weibliche Begehren, das auch in Texten eine Rolle spielt, die keineswegs einem lesbischen Literaturkanon angehören, gab es mehrere Anzeichen dafür, dass den weiblichen Figuren, die aus dem herkömmlichen Genderideal der Weiblichkeit keineswegs ausscheren und deshalb nicht homosexuell erscheinen, ein homoerotisches Begehren zugestanden werden muss. In den vorangegangenen Beispielen beruhte diese Zuneigung auf der Identifikation mit der eigenen weiblichen Rolle, die über den Spiegel einer anderen Frau, einer Schwester im Geiste vollzogen werden kann. Vor allem Adrienne Richs Idee eines lesbischen Kontinuums ist es zu verdanken, dass diese weiblich-weibliche Verbundenheit begrifflich zu fassen ist, die eine große Skala von Freundschaft über Identifikation oder erotische Anziehung bis hin zu genitaler Sexualität umfasst. Richs Thesen sind unwiderruflich in einen feministischen Kontext eingeschrieben. Die Konzentration dieser feministischen Dichterin auf eine geradezu als ursprünglich für die weibliche Identität ausgewiesene Bindung, die Frauen zueinander hätten, verband diese Vorstellung nicht mit dem Anspruch, dass jede Frau, die dieses Band für sich anerkennt, sich als ‚Lesbe‘ identifizieren müsse. Richs Essay zielte vielmehr darauf ab, dass jede Frau aus der Bindung an eine andere Frau eine Befestigung für ihre eigene weibliche Identität finden solle, um Kraft zu schöpfen, sich patriarchalischen Zuschreibungen zu entziehen. Ihre Dichterkollegin Audre Lorde formulierte diesen Geist weiblicher Verbundenheit, der dem lesbischen Kontinuum entspringt und unabhängig von der konkreten sexuellen Praxis der einzelnen Frauen für die politische Freiheit nutzbar zu machen ist, einst in einem Interview auf prägnante Weise: „[T]he true feminist deals out of a lesbian consciousness whether or not she ever sleeps with women.“ 1 VII.1 Between men Um den homoerotischen, jedoch nicht deutlich auf den Wunsch nach gleichgeschlechtlicher, genitaler Sexualität reduzierten Begehrensbeziehungen auf die Spur zu kommen, die auch sogenannte heterosexuelle Texte strukturieren, sind die Thesen von Eve Kosofsky Sedgwick aus ihrem Buch Between men. English Literature and Male Homosocial Desire sehr aufschlussreich. Dieses Buch ist nicht, bzw. nur in Teilen, in die deutsche Sprache übersetzt worden. Sedgwick stellt darin Thesen darüber auf, wie eine homoerotisch konnotierte Beziehung, die 1 Audre Lorde zitiert nach Suzanne Juhasz: A Desire for Women. Relational Psychoanalysis, Writing, and Relationships between Women. Brunswick-/ London 2003, S. 169. <?page no="119"?> 118 VII Homosoziales Begehren Männer innerhalb einer homosozialen Struktur ausleben, in Romanen so chiffriert werden kann, dass die männlich-männliche Affinität dem Verdacht der Homosexualität entgeht. Ihre Thesen beruhen auf der Prämisse, dass homosoziale Bindungen zwischen Männern für die männliche Identität von erheblicher Bedeutung sind. Sedgwick bezieht sich in ihren Untersuchungen auf den englischsprachigen Literaturkanon. Wie bereits im Zusammenhang mit dem lesbischen Kontinuum besprochen (vgl. Kap. VI), argumentiert Sedgwick dafür, dass in der patriarchalischen Gesellschaft bei Männern keinerlei Kontinuität zwischen einer homosozialen Bindung und einer homosexuellen Bindung bestünde. Es handelt sich in Bezug auf männliche Identität, anders als in Bezug auf weibliche, um eine strikte Opposition, das heißt ein patriarchalisch geprägter Mann ist in seinem sozialen Umfeld Männern zugewandt, unterstützt sie in beruflicher Hinsicht und verbringt viel Zeit mit anderen Männern, doch identifiziert sich geradezu selbstverständlich als heterosexuell - nicht nur das: Oft sind die homosozial agierenden Männer sehr von Homophobie geprägt. Beides nämlich, die starke homosoziale Bindung unter Männern und die Heterosexualität (mit Zügen von Homophobie) stellen die Fundamente des Patriarchats dar. Die homosozialen Beziehungen unter Männer gelten als politisch und sozial, sie scheinen jedoch zwangsläufig mit einer Verleugnung von großer emotionaler oder gar erotischer Bindung einherzugehen. Das Patriarchat ist nicht nur heterosexuell ausgerichtet, es ist von seiner Struktur her ebenso homophob wie homosozial. Dem scheinbar widersprechend, macht Sedgwick für die englische Literatur, hauptsächlich des 19. Jahrhunderts, durchaus auch erotische Komplizenschaft zwischen Männern aus, die sich allerdings nicht komplikationslos aus der homosozialen Beziehung ergibt. Sie zeigt, dass Männer sehr stark füreinander empfinden, allerdings ohne dass die Empfindung den Verdacht der Homosexualität auf sich zöge. Um dies zu erklären, benutzt Eve Sedgwick die Figur des triangulären Beziehungsmodells, das von dem Literatur- und Religionswissenschaftler René Girard (1923 - 2015) entwickelt wurde. Sie bezieht sich dabei auf seine Thesen aus Mensonge romantique et vérité romanesque-(1961), die einige Jahre später in englischer Übersetzung unter dem Titel-Deceit, Desire and the Novel: Self and Other in Literary Structure veröffentlicht worden sind. 2 Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität erst deutlich später als in vielen anderen Ländern (1999). 3 In diesem Buch argumentiert Girard für eine mimetische Struktur des Begehrens. Die Romanfiguren, die etwas begehren, begehren es, weil es ein Anderer begehrt. Das Begehren ist niemals rein subjektiv und niemals völlig authentisch. Es zeitigt einen mimetischen Effekt. Eine Begehrensbeziehung findet deshalb innerhalb literarischer Texte nicht, wie es vordergründig scheint, als eine direkte Subjekt-Objektbeziehung statt, sondern ist triangulär. Die dritte Figur nennt Girard den „Mittler“. Er erst stattet das begehrte Objekt mit dem Zauber aus, der es begehrenswert macht. Das Objekt seines Begehrens wäre für den Begehrenden ohne den Mittler unscheinbar. Die Strahlkraft, die es auf das Subjekt ausübt, basiert auf dem Begehren des Mittlers, das dem Objekt seinen Glanz verleiht. „Das Prestige 2 Vgl. René Girard: Deceit, Desire and the Novel: Self and Other in Literary Structure. Baltimore 1966. 3 Vgl. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität 2. Aufl. Münster 2012 [erste dt. Ausgabe 1999]. <?page no="120"?> 119 VII.1 Between men des Mittlers überträgt sich auf das begehrte Objekt und verleiht letzterem einen trügerischen Wert.“ 4 Zwischen dem Begehrenden und dem Mittler besteht eine Rivalität um das begehrte Objekt, doch zeigt sich diese meist als viel stärker emotional aufgeladen als es in der Begehrensbeziehung des Subjektes zum Objekt überhaupt möglich ist. Würde man das trianguläre Beziehungsmodell graphisch darstellen, wäre es nach Girard ein gleichschenkliges Dreieck, das heißt die Distanz des Begehrenden zum begehrten Objekt ist dieselbe wie die des Mittlers zum begehrten Objekt. Die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Mittler kann zwar als Rivalität aufgefasst werden, sie lässt sich jedoch auch als Wunsch nach Identifikation seitens des Subjekts lesen. Das Begehren, das sich auf ein Objekt richtet, kann ebenso gut als ein Begehren nach dem Wesen des Mittlers, ein Wunsch nach Identifikation mit ihm, eine Sehnsucht, es dem als strahlend empfundenen Anderen gleichzutun, angesehen werden. Rivalität und Identifikation stehen in einem durchaus ambivalenten Verhältnis. Das begehrte Objekt ist für die begehrenden Figuren in gewisser Weise nur ein Vehikel, um dem Anderen, dem Mittler, nahezukommen. „Um dem Gefühl des Partikulären zu entgehen, begehren die Menschen gemäß dem Anderen; sie suchen sich Ersatzgötter […].“ 5 Girards Thesen über das trianguläre Begehren implizieren nicht, dass das Begehren „gemäß dem Anderen“ vordergründig als erotisches Begehren verstanden werden müsse. Die Nachahmung kann auf die Kleidung, den Stand, die allgemeinen Lebensumstände gerichtet sein. Ein Grundgedanke in Girards These, der im Zusammenhang meiner Argumentation eine Rolle spielt, ist, dass das Begehren, worauf es sich auch immer richtet, seiner Theorie nach nicht als authentisch, sondern als imitiert zu bewerten sei und dass dem Mittler eine gottgleiche oder heilige Funktion zukommt. Er wird angebetet, indem etwas begehrt wird, das ihm entspricht. Bei Sedgwick wird dieses Dreieck zu einem erotischen, mit klar geschlechtlich zugewiesenen Positionen (Gender). Sie benutzt die Figur des Dreiecks, indem sie zwei Männer auf die zwei Seiten des Dreiecks schreibt, die der heterosexuellen Norm entsprechend eine Frau begehren bzw. um diese rivalisieren, wobei jedoch das Begehren, das sich auf das andere Geschlecht richtet, eher empfindungslos und blutleer ist, während die Beziehung zwischen 4 Ebenda, S. 25. 5 Ebenda, S. 70 [Hervorhebung im Original]. <?page no="121"?> 120 VII Homosoziales Begehren den Männern (between men) emotional und komplex ist. Diese zwischen den Männern bestehende Anziehung, die für Sedgwick durchaus erotischer Natur sein kann, bezeichnet sie als homosoziales Begehren. Diese trianguläre Beziehungsform hält Sedgwick für grundlegend für die männliche Geschlechtsidentität, die sowohl homosozial als auch heterosexuell ausgerichtet ist. In addition, the asymmetry I spoke of in section i of the Introduction - the radically disrupted continuum, in our society, between sexual and nonsexual male bonds, as against the relatively smooth and palpable continuum of female homosocial desire - might be expected to alter the structure of erotic triangles in ways that depend on gender. 6 Die Rivalität, die zwischen zwei begehrenden Männern in einem solchen erotischen Dreieck besteht, ist eine Form von geschlechtlicher Identifikation (die unter Frauen, weil sie in einem lesbischen Kontinuum leben, unmittelbarer ausgelebt werden kann). Wenn sie synchron eine Frau begehren, hilft es dem Begehrenden durch die Imitation eines anderen Mannes ‚zum Mann‘ zu werden. Der Begehrende begehrt nicht authentisch die Frau, er begehrt es, die Männlichkeit des Anderen zu imitieren. Die Frau wird in diesem Modell zum austauschbaren Objekt. Sie dient den Männern dazu, ihr homosoziales Begehren auszuleben, ohne sich homosexuell identifizieren zu müssen. Sie halten in dieser Konstellation das strikte Verbot, das über männliche Homosexualität verhängt ist, aufrecht. Wohl aber könnte dieses homosoziale Begehren in einem anderen Kontext durchaus als sexuell verstanden werden. Conversely, look at the relationship that embody what we have been calling here ‘male homosocial desire’ […] each relationship also could be - not only theoretically, but under different historical configurations might have been - classified as sexual. 7 Das homosoziale Begehren formt in diesem Fall die heterosexuelle Beziehung. Die begehrten Frauen dienen in diesem Modell den Männern als eine Art Währung, in der sie sich gegenseitig ihre Macht versichern und über die sie sich emotional aufeinander beziehen können. Sedgwicks inspirierende Thesen bauen, wie bereits erwähnt, darauf auf, dass das der weiblichen Geschlechtsidentität unterstellte Kontinuum zwischen ‚homosozialer Bindung‘ und ‚Homosexualität‘ für die männliche Geschlechtsidentität in der patriarchalischen Gesellschaft nicht greift. Das homosoziale Begehren zwischen Männern benötigt ein weibliches Begehrensobjekt. Die Homosozialität wird durch die Frau in Heterosexualität umgelenkt und mündet nicht in Homosexualität. Obwohl es keine Kontinuität zwischen homosozialen und homosexuellen Begehren zwischen Männern im Patriarchat gibt, zeigt Sedgwick an Textanalysen, dass im homosozialen Kontext doch etwas zwischen den männlichen Figuren ausgelebt wird, das unter anderen historischen Umständen als ‚sexuell‘ klassifiziert werden könnte. 6 Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985, S. 23. 7 Ebenda, S. 160. <?page no="122"?> 121 VII.2 Between women VII.2 Between women Ein homosoziales Begehren in einem Begehrensdreieck lässt sich jedoch meiner Meinung nach auch between women denken. In dieser Konstellation wären Begehrende und Mittlerin weiblich, das Objekt des Begehrens männlich. Ein trianguläres Begehren in dieser Konstellation ist nicht so dringlich, da es zwischen Frauen ein lesbisches Kontinuum gibt. Sexuelle Gefühle können sich aus der Folge eines homosozialen Begehrens ergeben. Gerade im 19. Jahrhundert sind die Grenzen zwischen gemäßigten und leidenschaftlichen Gefühlen, die Frauen untereinander hegen, fließend. Die Identifikation miteinander kann sich unter Frauen offener äußern als es bei Männern der Fall ist. Dies schließt aber meines Erachtens nicht aus, dass homosoziales weibliches Begehren auch das heterosexuelle Begehren zu einem Mann zu formen vermag, zumal wenn Frauen das Konzept des homosexuellen Begehrens gar nicht zur Verfügung stand. Sexuelle Identifikation mit einer anderen Frau konnte die Verehrte zur Mittlerin für eine heterosexuelle Beziehung machen. Mit einer zunehmenden Sexualisierung der Frau begann auch das weibliche Geschlecht einem klaren Homosexualitätsverbot zu unterstehen. Oftmals war es, beispielsweise durch die geschlechtergetrennte Erziehung, für eine Frau viel leichter, Gefühle gegenüber einer anderen Frau zu entwickeln als gegenüber einem ihr gänzlich unbekannten Mann. Diese homosozial entwickelten Leidenschaften durften freilich nicht durch gleichgeschlechtliche Sexualität ausgelebt werden. Ihre Sexualität sollten Frauen den Männern zur Verfügung stellen. Es ist daher möglich, dass eine botmäßige Frau den Mann, der ihr geistig und sozial fremd ist und dem sie sich unterlegen fühlt, nur deshalb sexuell interessant findet, weil er mit einer von ihr verehrten oder beneideten Frau in Verbindung steht. Nur ihre Identifikation mit der anderen Frau lässt ihn zum Objekt ihres Begehrens werden. Homoerotische Gefühle oder Gefühle der Rivalität werden durch das männliche Begehrensobjekt sublimiert. Nehmen wir aber an, die Verbindung zwischen der Begehrenden und der Mittlerin sei eindeutig erotisch konnotiert. In dem Fall würde die Frau, die „gemäß de[r] Anderen“ einen Mann erwählt, sich zwar scheinbar der Zwangsheterosexualität unterwerfen, insgeheim jedoch erlebt sie die Erotik durch die homosoziale Vermittlung. In René Girards Auffassung können auch Akteurin und Mittlerin weiblich sein. Das Begehren muss dabei gar nicht von einer anderen, als Person auftretenden Figur vermittelt werden. Als Beispiel dafür dient ihm der Roman Madame Bovary von Gustave Flaubert (1856). Dieser Roman erzählt von einer Arztgattin aus der Provinz, die zweifachen Ehebruch begeht. Sie begeht ihn, weil das beschauliche Leben an der Seite ihres Mannes zu wenig dem Bild entspricht, das sie sich in ihrer Jugend von ihrer Zukunft machte. Girard unterstellt Emma Bovarys Begehren, das sie ihren Liebhabern zollt, dass es nur aus Romanen kopiert sei. Sie begehrt wie die ihr als Vorbild geltenden weiblichen Figuren zum Beispiel einen verwegenen Adligen, der sie zu seiner Geliebten macht. Emma ersehnt weniger die sexuelle Erfüllung durch ihn, sondern strebt eine Selbstaufwertung als romantische Heldin an. Sie möchte ihren imaginären Vorbildern gleichkommen. Sexualität ist ein Instrument der romantischen Selbstschöpfung. <?page no="123"?> 122 VII Homosoziales Begehren Das Begehren gemäß dem Anderen und die „samenhafte“ Funktion der Literatur findet sich in Romanen Flauberts wieder. Emma Bovary begehrt gemäß jenen romantischen Romanheldinnen, die ihre Vorstellungswelt bevölkern. 8 Emma, die Kleinbürgerin aus der Provinz, sehe in Rodolphe, dem versierten Verführer, mit dem sie Ehebruch begeht und der sie nach einiger Zeit fallen lassen wird, nur deshalb den Märchenprinzen, weil sie durch eine Beziehung zu ihm am augenscheinlichsten die romantischen Heldinnen ihrer Kindheit zu imitieren vermöge. „Madame Bovary ist eine Kleinbürgerin aus der Provinz. Wir können uns vorstellen, daß es diese Figuren nach einem anderen Wesen verlangt.“ 9 Zwischen ihr, der Begehrenden, und der Mittlerin, die eine reine Fiktion ist, besteht, folgen wir Girards Argumentation, damit im Sinne Sedgwicks allerdings kein homosoziales Begehren, da diese Frauen, die Emma als vorbildhaft ansieht, keine Charaktere darstellen, mit denen sie sozial agiert. Ihre ausschließliche Existenz zwischen Buchdeckeln schließt eine reale homosoziale Beziehung zwischen dem weiblichen Vorbild einer Romanheldin (Mittlerin) und Emma aus. Allerdings identifiziert sich Emma mit einem weiblichen Rollenvorbild. Sie projiziert ihre romantischen Vorstellungen auf ihren Liebhaber, um dem verehrten antizipierten, romantischen Idealbild einer Frau, ihren fiktionalen Heldinnen, näherzukommen. Emma strebt danach, sich deren Wesen anzueignen. In diesem Romanbeispiel Flauberts handelt es sich um eine externe Vermittlung. 10 Es stellt sich mir die Frage: Wären Emmas literarische Vorbilder tatsächlich auftretende Figuren des Romans, wären sie für Emma tangibel, wäre dann eine erotische Allianz zwischen Emma und diesen Frauen ebenso vorstellbar, wie sie es bei Eve Sedgwick zwischen den zwei um eine Frau rivalisierenden Männern ist? Würde sie das Wesen, nach dem es sie verlangt, (homosozial) begehren? Eduard von Keyserling: Die Verlobung (1907) Es gibt Texte, die diese Konstellation zeigen. Um eine derartige trianguläre Beziehung zu illustrieren, in der ein Mann zum Vehikel für den erotischen Austausch zwischen zwei Frauen wird, möchte ich auf eine Erzählung von Eduard von Keyserling zurückgreifen. Die Verlobung ist eine Kurzgeschichte, die 1907 in der Wiener Zeitung „Neue Presse“ das erste Mal veröffentlicht wurde. Der Text behandelt die Verlobung zwischen dem jungen Mädchen Elly und dem wesentlich älteren, imposanten Grafen Hans Trimm von Baudach. Ich halte die Theorie von Sedgwick, die ich für meine Leseweise des Textes adaptiert habe, für einen validen Lektüreschlüssel, um den Text besser verstehen und analysieren zu können. Hans Trimm von Baudach genießt hohe soziale Anerkennung, so dass die Verlobung als Erfolg für Elly gewertet wird. Das Gefühl sozialen Erfolgs deckt sich allerdings nicht mit Ellys Gefühlen. Ihr ist die Rolle fremd, die sie am Tag ihrer Verlobung zu spielen hat. Der deutlich ältere Mann steht Elly als einem lebensunerfahrenen jungen Mädchen gegenüber, das sich 8 René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, S. 13. 9 Ebenda, S. 60. 10 Vgl. ebenda, S. 18. <?page no="124"?> 123 Eduard von Keyserling: Die Verlobung (1907) durchaus ihres Mangels an Weltläufigkeit bewusst ist. Elly ist keine unreflektierte Person, ihr Mangel an Weltgewandtheit verbirgt nicht ein stumpfes Geschöpf, das der Graf jedoch in ihr vermutet. Scheinbar stört die vermeintliche Gedankenlosigkeit Ellys den Grafen keineswegs, denn er zeigt sich von Elly entzückt und gibt vor, durch ihr mädchenhaftes Verhalten gerührt zu sein. Am Tag der Verlobung schmeichelt er ihr unaufhörlich und gratuliert sich eifrig zu seinem Besitz. „Du kannst ja gar nicht fühlen, welch eine ungeheure Fülle von Glück für die anderen in solch einem kleinen Mädchen steckt.“ 11 Elly kann mit dieser Begeisterung über sich nicht viel anfangen und fühlt sich, wenn auch geschmeichelt, von dem Gebaren des Grafen befremdet. Ihre Gefühle für den Grafen, ja auch die Gefühle der Verlobung gegenüber, auf die die Familie stolz ist, sind nicht authentisch. Sie werden ihr eingegeben: Das klang schön. Elly wurde wunderlich und andächtig zu Mute; und das Seltsame war, daß sie mit Andacht an sich selbst dachte, sich selbst fühlte. Sie hatte nicht gewußt, daß sie all das war, was der Graf sagte, aber jetzt fühlte sie die Worte körperlich, wie einen angenehmen, feierlichen Schauer, etwa wie den Schauer, den sie empfunden hatte, wenn die Mutter vor dem Balle ihr die kühle Perlenschur um den Hals legte. Dann aber machte ein kindischer Gedanke sie zerstreut. […] Sie hatte Lust zu lachen, blickte dann aber erschrocken den Grafen an. Dieser tat gerade eine Frage an sie: „Wirst du denn auch versuchen, mich ein wenig zu lieben? “ „Ja“, sagte Elly, und sie fand, daß dieses Ja etwas zu kurz heraus kam. Jetzt beugte der Graf sich vor und küßte sie. Sein Bart duftete leicht nach Heliotrop. „Also so ist das“, dachte Elly. 12 Dass Elly ihren zukünftigen Mann um seiner selbst willen begehrt, scheint nicht der Fall zu sein. Es wird in dieser Textpassage deutlich, dass Elly sich zwar bewusst ist, die Verlobte eines angesehenen Mannes zu sein und dadurch an sozialem Prestige gewonnen zu haben, jedoch auch, dass ihr der Graf völlig fremd ist. Trotzdem wird Elly sich dieser Verlobung bejahend zuwenden, sich gefühlsmäßig mit ihrer neuen Rolle arrangieren. Was die Quelle für das positive Selbstgefühl ist, das ihr die bejubelte Verlobung eingibt, bleibt vorerst noch unklar. Eine authentische Beziehung zu dem Grafen oder seine abgeschmackten Komplimente sind es jedenfalls nicht. Sie ist keineswegs verliebt in ihn und fürchtet, in seiner Gegenwart unpassend zu agieren. Positiv ausgedrückt flößt ihr der fremde Herr Respekt ein, aber weniger euphemistisch formuliert lässt sich auch von Angst und einem eher unangenehmen Schauer in seiner Nähe sprechen, hervorgerufen durch das „strenge, überlegende Weltmannsgesicht“ 13 . Sie ist darüber hinaus, trotz ihrer Jugendlichkeit, reflektiert genug zu erkennen, dass sie für den Grafen eine reine Projektion ist. Ist sie auch überrascht von den Zuneigungsbekundungen, dringen diese Schmeicheleien nicht wirklich in ihr Bewusstsein. Allerdings geht auch für sie von dem Grafen ein Zauber aus, den es zu klären gilt. Es lässt sich ausschließen, dass es nur die pure Eitelkeit ist, die den Grafen für Elly reizvoll macht. Sie weiß trotz ihrer Jugend, dass des 11 Eduard von Keyserling: Die Verlobung. In: Keyserling. Sommergeschichten. Hrsg. von Klaus Gräbner. Frankfurt am Main-/ Leipzig 1991, S. 22 - 31, S. 23. 12 Ebenda, S. 23f. 13 Ebenda, S. 29. <?page no="125"?> 124 VII Homosoziales Begehren Grafen euphorisches Lob auf sie nicht von ihrem Wesen gedeckt wird. Die kurze Erzählung endet mit Ellys selbstkritischer Einsicht: Nur eins möchte ich wissen, wie eigentlich diese Elly ist, mit der sich Hans verlobt zu haben glaubt; von der er glaubt, daß sie neben ihm sitzt und daß er ihre Hand hält. 14 Die homosozialen Grenzen zwischen den Verlobten sind zementiert. Was der Graf als Ellys „Mädchengedanken“ und „Mädchenleben“ 15 ansieht, so zum Beispiel, dass Elly eine kleine passionierte Gärtnerin sei, weil sie einen Garten habe, dessen Besitz sie aber nur damit erklären kann: „denn Mama wünschte es“ 16 , zeigt, dass der Graf ein Bild von ihr hat, das, wie sie nur zu gut weiß, sie eigentlich nicht erfasst. Anders als vom Grafen interpretiert, mag sie Gartenarbeit gar nicht. Der Graf verwechselt ihre gesellschaftliche Rolle als junges, unschuldiges Mädchen mit spezifischen häuslichen Aufgaben und spezifischem Auftreten völlig mit der realen Person, bzw. er überschreibt die reale Person mit eben dieser Rolle und gesteht Elly keine Individualität zu. Ellys Individualität ist für den älteren Mann weder erkennbar noch von Interesse. Für ihn geht sie völlig in dem Bild des jungen Mädchens auf, in das sie am Tag ihrer Verlobung gesetzt ist. Mehr als „ein so kindlich rundes Gesicht“, ein „Schulmädchen“ in „weiße[m] Pfingstkleid mit rosa Schärpe“ 17 ist sie für ihn nicht und ihre Erfahrungslosigkeit ist ihr ganzer Reiz. Er nennt sie mehrfach „Kind“, sie verkörpert für ihn „das Unbegreifliche, Unverständliche, ganz Fremde“ 18 , eine Person frei von jeder erotischen Gefahr. Als Elly, gleichsam erschrocken über ihre eigene Courage, anmerkt, dass der Graf und sie sich „nichts zu sagen“ 19 hätten, benennt der Graf das als die eigentliche Qualität der Beziehung. Nicht Seinesgleichen, nichts Ebenbürtiges solle seine künftige Frau für ihn sein. Sie sei keiner dieser Menschen, mit denen er sprechen, die er verstehen könne, keiner von den Menschen, deren „Wunden, des anderen Schuld“ 20 , ihm bekannt wären. Diese Personen nennt er „Spießgesellen des Lebens“ 21 , vor denen nichts zu verbergen nötig wäre. Eine solche Person vermöge zwar eine Anziehung, „etwas Schwüles und Trauriges, das als Liebe durch die Welt geht“, 22 in ihm zu erregen, bei Elly aber suche er etwas Anderes. Jegliche Gleichrangigkeit wird zwischen dem Brautpaar durch den Grafen von vornherein ausgeschlossen. Elly stilisiert er als ein unberührtes Land, in das er „sich expatriieren will.“ 23 Deutlicher als in diesen schwülstigen Formeln lässt sich kaum die starke soziale Grenze zwischen Mann und Frau um 1900 bezeichnen. Mit seiner abwertenden Definition vorheriger sexueller Beziehungen, die nur als Liebe erscheinen, und der geschwollenen Aufwertung der 14 Ebenda, S. 31. 15 Vgl. ebenda, S. 28. 16 Ebenda, S. 28. 17 Ebenda, S. 23. 18 Ebenda, S. 29. 19 Ebenda, S. 29. 20 Ebenda, S. 30. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 30. <?page no="126"?> 125 Eduard von Keyserling: Die Verlobung (1907) bevorstehenden Ehe, in der die junge Ehefrau eine brave Behaglichkeit zu verkörpern hat, bezieht der Graf sich auf eine Frau, die Elly ins Gespräch gebracht hatte und von der sie, anders als von ihrem zukünftigen Gatten, tatsächlich angezogen ist. Es handelt sich um Frau von Bardan. Sie ist einer der Gäste, die zum Verlobungsfest geladen wurden. Sie ist dem jungen Mädchen schon länger vertraut. Frau von Bardan ist „die bleiche, schlanke Frau, die Elly ihrer Schönheit und ihrer Kleider wegen so sehr bewunderte.“ 24 Sie ist die Frau, die deutlich aus der biederen Festgemeinschaft heraussticht. Elly steht mit ihr in einer namenlosen, emotionalen Verbindung. Das Mädchen ist von der Verlobung keineswegs gerührt. Elly schämt sich, „daß sie nicht auch weinen konnte“ 25 , als ihr die Gäste so andächtig zur Verlobung gratulieren. In der Szene, als die Eltern und Gäste Elly zur Verlobung beglückwünschen, wird der Schauspielcharakter, die Fremdheit für Elly offensichtlich, die sie für „die ihr so vertrauten Menschen plötzlich zu etwas Merkwürdigem und Fremden machte.“ 26 Elly wird in den Augen der Gäste zu etwas, was ihr selbst nicht entspricht. Die einzige Vertrautheit, die Elly spürt, ist die zu Frau von Bardan. Sie wird zu einem Anker für ihre Identität. Nur als Frau von Bardan sie in ihrer hübschen, milden Art umschlang und sie so seltsam aus schönen, feuchten Augen anschaute, da konnte Elly auch ein wenig weinen, sie wußte nicht warum, aber sie war ihr dankbar dafür. 27 In Frau von Bardans Armen allein bekommt sie ihre Individualität, der sie als feierliches Ehrenobjekt verlustig ging, zurück. Aber es ist nicht nur diese soziale Funktion, die diese Schönheit trägt. Frau von Bardan verkörpert auch etwas wie Erotik in Ellys Leben. Nur sie scheint von der Erfüllung eines Versprechens, das der Frühling mit all seinen die Sinnlichkeit anregenden Eigenheiten zu geben scheint, zu wissen. Das Geheimnis dieser erotischen Frau von Bardan umschließt auch den fremden Verlobten und macht ihn so für Elly interessant. Der Graf habe nämlich, so wird es erzählt, einst auch eine romantische Beziehung zu der von Elly umschwärmten Frau unterhalten. Das weiß eine Freundin Ellys selbst am Tage der Verlobung zu berichten. Wie diese Beziehung genau aussah, weiß sie natürlich nicht. „Noch heute morgen hatte Mimi, die alles wußte, behauptet, ganz gewiß hat der Graf ‚auch Frau von Bardan geliebt‘.“ 28 Im Kontext des Keyserling’schen Handlungsrahmens kann das, was Mimi zu wissen glaubt, eine rein schwärmerisch-erotische Zuneigung, aber auch eine konkrete Affäre, mit oder ohne romantische Motivation, andeuten. Doch ist das, was zwischen dem Grafen und der schönen Frau tatsächlich vorging, unbedeutend in dieser Geschichte. In Ellys Vorstellungskraft ist allein das Gerücht, dass sich die Verehrte und der Verlobte „geliebt“ haben, ohne dass diese Worte spezifiziert werden müssten, sinnstiftend für ihre eigene Beziehung zum Grafen. Es gibt kein Moment von Eifersucht, das sie überfällt, sondern der Gedanke, dass der Graf und Frau von Bardan sich näherstanden, ist für sie erheblich, um in ihm etwas mehr sehen zu können als den strengen, völlig unverständlichen Mann. Frau von 24 Ebenda, S. 25. 25 Ebenda. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 Ebenda, S. 28. <?page no="127"?> 126 VII Homosoziales Begehren Bardan ist die Mittlerin, die ihn mit Reiz versieht, und diese Mittlerin ist in der Beziehung zwischen den Verlobten ständig präsent. Als der Graf ihr schwülstig darlegt, dass es gerade Ellys Unbegreiflichkeit, die Fremdheit ihrer Kleinmädchenwelt und ihre Kommunikationsunfähigkeit seien, die ihn zu ihr hinzögen, setzt sie sich in Bezug zu Frau von Bardan, die sie erhöht und als ihr viel interessanteres Gegenteil ansieht. Elly war nachdenklich geworden. „Ich denke, es ist sehr hübsch“, sagte sie zögernd, „aber ich glaube nicht, daß es so ist, das heißt, daß ich so bin. Was kann denn an mir nicht zu verstehen sein, und wenn du verstanden hast, ist es vielleicht nichts. […] Mit den schönen, interessanten Frauen, so mit den Frau von Bardans, da kannst du, da könnt ihr, ich meine die Herren, die sie lieben, sprechen, da sprecht ihr von Liebe, oder so, die sind nicht unbegreiflich, nicht wahr? “ 29 Elly sieht ihre vermeintliche Unbegreiflichkeit, die auch als innere Leere aufgefasst werden kann, nicht als Qualität. Als der Graf die Liebe zu den interessanten Frauen mit dem Argument abwertet, dass diese Liebe nur wie Liebe scheint, weil man sich zu ähnlich wäre, wagt Elly, die dem Mann gegenüber eigentlich eher schüchtern ist, entgegenzusetzen: „Ich weiß nicht, ob ich es recht verstehe, mir scheint dieses Schwüle und Traurige, von dem du sprachst, etwas sehr Schönes zu sein, und ich denke es mir doch sehr angenehm, so geliebt zu werden, wie ihr die - die Frau von Bardans liebt.“ 30 Sie kann nicht zulassen, dass der Graf die Empfindungen, die Frau von Bardan auslösen kann, degradiert, weil sie sich zu sehr mit ihr verbunden fühlt. Sein Liebeskonzept steht im Widerspruch zu der Idee von romantischer Liebe, die auf Gleichheit der Seelen baut. Als der Graf eine Liebe, die dem romantischen Ursprungsgedanken von sexueller Liebe nahekommt, abwertet, verteidigt Elly nicht nur ihre schwärmerisch verehrte Freundin, sondern auch das Konzept einer Erotik, gepaart mit Geistesverwandtschaft, das diese vermeintliche Rivalin verkörpert. Eine solche Liebe wäre ihr, dem angeblich so schlichten, unerotischen Mädchen, durchaus angenehm. Wird der Graf für einen kurzen Moment ein Phantasma für Elly, identifiziert sie sich für einen kurzen Moment mit ihm und stellt sich vor, wie er diese schöne Frau, die Elly eben noch umarmte, erotisch berührt haben könnte, auf eine Weise, die ihr, dem kleinen Mädchen, nicht zukommt. Beraubt sie den Grafen für einen kurzen Moment seiner phallischen Position, indem sie sich seine schwüle Form der Liebe für die aufreizende Frau von Bardan aneignet? Darüber gibt der Text keine Auskunft. Wie explizit ihr Begehren für Frau von Bardan ist und bei dem Grafen war, wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal genau, ob der Graf eine sexuelle Beziehung zu Frau von Bardan unterhalten hat und auch nicht, ob diese für ihn seelisch anrührend war und wir ahnen, dass Elly niemals eine Beziehung zu Frau von Bardan haben wird, die genitale Sexualität einschließt. Aber doch ist das Band zwischen ihr und Frau von Bardan nicht bar erotischer Gefühle. Hierfür eignet sich der Begriff ‚homosoziales Begehren‘. Ihr Interesse an dem Grafen vermag sie nur durch die Gedanken an Frau von Bardan aufrechtzuerhalten. Sie ist es, die dem Grafen einen Zauber verleiht, der 29 Ebenda, S. 30. 30 Ebenda, S. 31. <?page no="128"?> 127 Eduard von Keyserling: Die Verlobung (1907) ihn erst als Ehemann vorstellbar macht. In einem sehr intimen Moment, als beide auf einer romantischen abgelegenen Gartenbank auf ihrem Verlobungsspaziergang rasten und über Flieder sprechen, fällt, was der Graf äußerst unpassend findet, Elly eine Assoziation zu Frau von Bardan ein. Während der Graf den Flieder mit weißen Wolken vergleicht, sagt Elly: „Ich finde, das sieht aus wie die Musselinkleider der Frau von Bardan.“ 31 In jedem intimen Moment, der zwischen den zukünftigen Eheleuten entsteht, wird also Frau von Bardan tatsächlich als eine Art Mittlerin für die Beziehung zu dem Grafen von der jungen Braut herbeizitiert. Der Graf möchte Frau von Bardan zwar aus der Beziehung bannen, tatsächlich aber ist sie die einzige Möglichkeit für Elly, sich auf die Verlobung einzulassen. Es sind die Musselinkleider der schönen Frau von Bardan, nicht der Maiabend, nicht der Flieder, nicht die andächtigen Gratulationen, die einen Sinn für diese Ehe stiften. Jegliches emotionale oder, in einem weiten Sinn des Wortes, erotische Interesse, das Elly am Tag ihrer Verlobung zeigt, ist an Frau von Bardan gebunden und kann nur über diese Mittlerin von Elly formuliert werden. Die homosoziale Nähe beider Frauen erweist sich als viel tiefere emotionale Bindung als die, die zwischen Elly und dem Grafen überhaupt möglich scheint. Durch Frau von Bardan gewinnt Elly eine Individualität, sie bekommt durch sie eine Vorstellung von schwüler Sexualität, die ihr der Graf weder zutraut noch je innerhalb ihrer Beziehung zugestehen wird. Mit ihren intuitiven Bemerkungen über Frau von Bardan entkommt Elly der engen Festlegung auf die ihr durch ihren zukünftigen Ehemann zugedachte Rolle der infantilen Braut, über deren geistlose Sexualität der Graf mühelos zu verfügen glaubt. Der impressionistische Autor Keyserling, der mit seinen Bildern von einer „Maiwelt“ 32 , von toll lärmenden Vögeln und blühendem Flieder immer auch eine „unklare Sehnsucht“ 33 konnotiert, die dem Bild des Frühlings entsprechend eine Sehnsucht nach erotischer Erweckung ist, stellt uns eine junge Frau vor, die andeutungsweise diese Erweckung erfährt. Sie erfährt sie in einem erotischen Dreieck. Das Objekt ist ein austauschbarer „fremde[r], imposante[r] Herr“ mit „braungoldene[m] Backenbart“, „strenge[r], grade[r] Nase“ und „hohe[r] Stirn, über der sich das blonde Haar schon ein wenig lichtete.“ 34 Es ist ein rein auf der symbolischen Ebene begehrenswerter Mann, der im Kontext des 19. Jahrhunderts männliche Hegemonie verkörpert. Quelle ihrer erotischen Erweckung und ihrer begehrlichen Gefühle ist nicht der Verlobte, der nur scheinbar das sexuelle Erwachen befördert, sondern die Mittlerin. Elly entdeckt ihre sexuellen Sehnsüchte durch die Identifikation mit einer Frau, die sie „ihrer Schönheit […] wegen so sehr bewunderte“ 35 und die, schenken wir dem Grafen Glauben, eine Spießgesellin des (männlichen) Lebens darstellt, also eine Frau ist, die sich die außereheliche Liebe/ Erotik zugesteht. 31 Ebenda, S. 28. 32 Ebenda, S. 27. 33 Ebenda, S. 26. 34 Ebenda, S. 22. 35 Ebenda, S. 25. <?page no="130"?> 129 VIII Frauenliebe Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text In diesem Kapitel soll es nicht nur um einen literarischen Text gehen, sondern vor allem um einen Film und dessen Rezeption. Diese Themenwahl unterbricht scheinbar den Fluss der Argumentation in diesem Studienbuch, in dem rezeptionsästhetische Fragen bisher kaum eine Rolle spielten. Bei Mädchen in Uniform ist die Rezeptionsgeschichte aber von besonderem Interesse, denn sie lässt sich erst mit einem queeren Blick einordnen. Wenden wir uns erst einmal der Autorin zu, die die Vorlage für den Film geschaffen hat und nach dessen Erfolg einen Roman zum Film vorlegte. Die Schriftstellerin Christa Winsloe (1888 - 1944) ist in der deutschen Literaturgeschichte eher eine Unbekannte, obwohl der 1931 entstandene Film Mädchen in Uniform damals ein sehr großer Erfolg war. Für diesen unter der Regie von Leontine Sagan gedrehten Film hatte Winsloe das Drehbuch verfasst. Diese Verfilmung ist dem Publikum heute nicht mehr allzu vertraut, das Remake von 1958 jedoch ist noch Teil der deutschen Fernsehlandschaft. Winsloes Biographin Doris Hermanns beschreibt Winsloes öffentliche Wahrnehmung folgendermaßen: Wenn ich seither gefragt wurde, über wen ich schreibe, erntete ich in den meisten Fällen fragende Blicke. Der Name Christa Winsloe sagt nur wenigen, meist Frauen über 50 etwas, der Film Mädchen in Uniform nach einem ihrer Theaterstücke ist hingegen deutlich bekannter, in Deutschland vor allem in der […] Verfilmung von 1958 mit Romy Schneider und Lilli Palmer. Dabei gab es eine Zeit, in der Winsloe weltberühmt war. 1933 wurde die erste Verfilmung zum besten Film des Jahres gekürt, im gleichen Jahr erschien ihr Roman unter dem Titel Das Mädchen Manuela. Der Roman von Mädchen in Uniform. Da dieser Roman in den Niederlanden in einem Verlag erschien, in dem auch diejenigen veröffentlichten, deren Bücher bei den ersten Buchverbrennungen dabei waren, erhielt sie in Deutschland Publikationsverbot. 1 Der Biographie Winsloes lässt sich entnehmen, dass die Autorin in vielerlei Hinsicht künstlerisch tätig war, in unserem Zusammenhang ist sie jedoch nur als Schriftstellerin von Interesse. Ihren Erfolg als Autorin begründete die Künstlerin mit dem Drama Ritter Nérestan, das seine erste Aufführung 1930 in Leipzig erlebte und ein Jahr später unter dem Titel-Gestern und heute- in Berlin von der Regisseurin Leontine Sagan inszeniert wurde. Kurz nach der Berliner Premiere wurde dieser Stoff als Mädchen in Uniform-verfilmt. Leontine Sagan übernahm die Regie und Christa Winsloe arbeitete am Drehbuch mit. Hertha Thiele erhielt die Hauptrolle der Manuela. Sie hatte diese Figur schon auf der Bühne verkörpert. Nicht zuletzt diese Besetzung machte den Film, in dem es nicht eine männliche Rolle gab, so herausragend, doch darüber wird noch zu sprechen sein. Es handelt sich um eine rührselige, doch außergewöhnlich dramatische Liebesgeschichte. Thiele verkörpert eine adoleszente 1 Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe. Berlin 2012, S. 8 [Hervorhebung im Original]. <?page no="131"?> 130 VIII Frauenliebe Offizierstochter, die ihre Mutter verloren hat. Das Mädchen wird zur Erziehung in ein Stift für höhere Töchter nach Potsdam abgeschoben. Dort verliebt sie sich in die schöne Lehrerin Fräulein von Bernburg, für die allerdings auch die meisten anderen Schülerinnen mehr oder minder obsessiv schwärmen. Nach einer Theateraufführung, in der Manuela die männliche Hauptrolle übernehmen darf, die für die Bühnenfassung titelgebend ist (in der Verfilmung spielt sie Don Carlos), bekennt sie alkoholisiert ihren Mitschülerinnen ihre Liebe zu Fräulein von Bernburg. Dieses Bekenntnis, das vom Stiftspersonal belauscht wird, markiert einen Tabubruch. Obwohl allgemein bekannt ist, dass Fräulein von Bernburg von ihren Schülerinnen besonders verehrt wird, hält man Manuelas Benehmen für untragbar. Es wird durch die Internatsleitung ein Unterschied gezogen zwischen der tolerierbaren Schwärmerei der Mädchen und der öffentlich durch Manuela bekundeten Liebe. Die Oberin sieht in diesem Liebesbekenntnis einen Skandal und zwar nicht nur aufgrund des Alkoholmissbrauchs, der zu dieser Entgleisung führte, sondern weil ihr Manuelas Emotionen als ungesund und gefährlich erscheinen. Allerdings erzählt der Film, dass innerhalb des Stifts sowieso jegliche Äußerung von Emotion als nicht preußisch und verweichlicht geächtet wird, egal welcher Natur sie ist. Die Oberin verhängt eine drastische Strafe über Manuela: die totale Isolation und Trennung von ihrer Lehrerin. Aus Verzweiflung über die Sanktion versucht Manuela Selbstmord zu begehen. Während das Mädchen in der Filmfassung gerettet wird, stirbt sie in der Theaterfassung. Auch in dem Buch zum Film (erschienen 1933), welches Winsloe als eine Art Nach-Korrektur der Verfilmung verfasst hatte, stirbt Manuela. Im Film wird Manuela, die die oberste Empore des herrschaftlichen Treppenhauses erreicht, um sich von dort herabzustürzen, am Todessprung noch rechtzeitig durch ihre Mitschülerinnen gehindert. Auch Fräulein von Bernburg kommt zu Hilfe, um das Mädchen von diesem Schritt abzuhalten. Die gelungene Rettung hat sogar die Schmähung der gefühlskalten Oberin zur Folge, die sich in der Abblende nach dem Vorfall beschämt zurückzieht. Ihrer gefühllosen Stiftsleitung wird Schuld daran gegeben, dass eine Schülerin derart in Verzweiflung geraten konnte, einen Suizid zu erwägen. Manuela und Fräulein von Bernburg sind die moralischen Siegerinnen im Film. Die Liebe siegt über die Gefühlskälte. Auch in der Buchfassung sind Manuela und Fräulein von Bernburg die moralischen Siegerinnen. Die Romanhandlung endet allerdings damit, dass Fräulein von Bernburg nur noch die tote Manuela in den Armen halten kann. Die Selbstmordabsicht Manuelas wird hier nicht rechtzeitig entdeckt. Nachdem die tote Manuela aufgefunden wurde, ziehen sich die anderen Schülerinnen respektvoll zurück und ermöglichen dem Fräulein, Abschied von der geliebten Schülerin zu nehmen. Die letzten Worte in der Buchfassung sind ein Zeichen, dass die Liebe zwischen Lehrerin und Schülerin im Stift allgemeine Akzeptanz genießt. Niemand wagt es mehr in diesem Moment, die beiden Frauen zu trennen. Mit dem Stoff verarbeitete Winsloe ihr eigenes Kindheitstrauma einer strengen preußischen Internatserziehung: Der Selbstmordversuch der verliebten Schülerin geht auf ein reales Ereignis im Leben der Autorin zurück. Die historische Manuela, die als Vorbild der Figur diente, war eine damalige Mitschülerin im Internat, in dem Winsloe erzogen wurde. Sie stürzte sich aus Liebe ein Treppenhaus herunter, um in den Freitod zu gehen, überlebte diesen Sturz - anders als die Bühnen- und Romanfigur Manuela - jedoch schwerverletzt. Ihr gescheiterter Selbstmordversuch zog eine lebenslange Gehbehinderung nach sich. <?page no="132"?> 131 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text Das Thema beruht zwar auf einer Jugenderinnerung Winsloes, doch war es keinesfalls ihre eigene Liebesgeschichte, die sie in Ritter Nérestan verarbeitete, sondern die einer Mitschülerin. Hertha Thiele, die in der Erstaufführung des Stückes sowie später auch im Film die Hauptrolle spielte, erzählte in einem Interview: „Die Manuela hat es wirklich gegeben. Sie hat sich runtergestürzt und blieb für ihr Leben lang hüftlahm. Zur Premiere des Films ist sie gekommen. Ich habe sie von weitem gesehen, damals sagte mir die Winsloe: „Ich mußte mir das Erlebnis von der Seele schreiben.“ Der Fall Manuela sei authentisch, aber nicht dokumentarisch in der hier gegebenen Form […]. 2 Unabhängig davon, in welchem Medium versucht wird, sich inhaltlich über den Film zu orientieren, die Kernaussage jeder Inhaltszusammenfassung besteht darin, dass sich die Halbwaise Manuela in ihre junge Lehrerin Elisabeth von Bernburg verliebt. Als Beispiel sei hier die Inhaltsangabe des Filmportals Cineman zitiert: Die Offizierstochter Manuela wird nach dem Tod ihrer Mutter auf ein Potsdamer Internat geschickt. In der mit preussischem Drill geführten Schule geht allein von der jungen Lehrerin Fräulein von Bernburg Wärme und Verständnis aus. In sie verliebt sich Manuela dann auch glühend - und verkündet dies lauthals nach einer Schultheateraufführung, beschwipst von gepanschter Bowle. Dies bleibt natürlich nicht ohne Folgen … 3 Natürlich entsteht Manuelas Liebe in dem Kontext des militärischen Erziehungsdrills und einer engen homosozialen Gemeinschaft, in der Fräulein von Bernburg auch für andere Schülerinnen ein Sehnsuchtsobjekt darstellt. Da sich jedoch die junge Lehrerin trotz der ihr drohenden Repressionen seitens der Stiftsleitung für Manuela einsetzt und in dieser Liebesgeschichte nicht völlig passiv bleibt, kann keine/ r, der/ die diesen Film je rezipiert hat, übersehen, dass er von der Liebe zwischen zwei Frauen handelt. Die Oberin des Stifts bezeichnet Manuelas Gefühle als unerhört. Allerdings wird nicht näher erläutert, was sie an den Gefühlen für so bedenklich hält. Wir befinden uns historisch in einer Epoche, in der der Begriff ‚Homosexualität‘ bereits bekannt war. Er diente, wie wir am Beispiel Quell der Einsamkeit gesehen haben, dazu, Gefühle, die Menschen gleichen Geschlechts haben, mit einem Konzept zu verbinden. Frauen galten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als asexuelle, begehrenslose Wesen. Es wäre naheliegend, diesen Begriff ins Spiel zu bringen. Das jedoch tun weder die Filmfiguren explizit noch die Filmrezipient*innen. Wieso wird die Liebe zwischen Manuela und Fräulein von Bernburg nicht mit ‚Homosexualität‘ in Zusammenhang gebracht? Wie kann es sein, dass ein Film, der über gleichgeschlechtliche Liebe erzählt und die Liebenden zu moralischen Heldinnen macht, so erfolgreich wurde, dass er zum besten Film der Weltproduktion erkoren wurde? 4 2 Ebenda, S. 111 [Hervorhebung im Original]. 3 „Nicht nur bezüglich des Inhalts hat dieser Film Seltenheitswert, sondern auch in Bezug auf seine Entstehung, zeichnen doch zwei Frauen für Regie und Drehbuch: einerseits die Österreicherin Leontine Sagan - andererseits die lesbische Schriftstellerin Christa Winsloe. [Pressetext] Genre: Drama Liebesfilm“. Mädchen in Uniform. www.cineman.ch/ movie/ 1931/ MaedchenInUniform/ (letzter Zugriff 11.2.2019). 4 Vgl. Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela, S. 122. <?page no="133"?> 132 VIII Frauenliebe Die Rezeption von Mädchen in Uniform wartet noch mit weiteren Merkwürdigkeiten auf. Die Autorin dieses Filmdrehbuchs, die zeitweise auch mit Frauen zusammenlebte, wurde während der Naziherrschaft nicht als Homosexuelle verfolgt, 5 sondern sogar von Propagandaminister Goebbels zu Beginn der Machtergreifung hofiert. 6 Ihr Publikationsverbot in Deutschland hatte andere Ursachen als den Inhalt ihres Textes und der Filmvorlage. Die häufig geäußerte Behauptung, wonach Winsloe bereits 1933 Publikationsverbot in Deutschland erhalten und ihren Roman deswegen in den Niederlanden veröffentlicht haben soll, ist falsch. Es war umgekehrt: Sie erhielt in Deutschland Publikationsverbot, weil sie ihren Roman in einem Verlag veröffentlicht hatte, in dem auch zahlreiche AutorInnen verlegt wurden, die in Deutschland seit 1933 als unerwünscht galten und deren Werke auf den Listen verbotener Schriften standen. 7 Der Film selbst wurde von den Nationalsozialisten zwar auf den Index gesetzt, nicht jedoch aufgrund der homoerotischen Thematik. Er galt wegen seiner Kritik am preußischen Militarismus als schädlich. Die Nationalsozialisten goutierten die antipreußische Haltung nicht, doch konnte der Film noch immer gezeigt werden. Doris Hermanns geht davon aus, dass, als das Buch zum Film Das Mädchen Manuela nach der Befreiung vom Nationalsozialismus zum ersten Mal in Deutschland verlegt werden konnte, der Film noch im breiten Bewusstsein des Publikums war. In der ganzen Zeit hat er offenbar keinerlei Anstoß hinsichtlich der Frauenbeziehung erregt oder Sittenwächter auf den Plan gerufen. Heißt das, dass die homoerotische Dimension des Stoffes den Zuschauerinnen und Zuschauern nicht bewusst war? Die Blindheit gegenüber dem (sexuellen) Inhalt kann von einem heutigen Blickwinkel aus nur erstaunen. Sie ist jedoch aussagekräftig. Dass wir heute vermuten, dass der Film als ein Film über Homosexuelle hätte rezipiert werden müssen, beruht vielleicht auch auf Blindheit gegenüber dem damals gängigen Homosexualitätsdiskurs. Klaus Mann, der mit Winsloe befreundet war und berühmt ist für seine Hinwendung zu homosexuellen Themen in der Literatur, bezeichnet in Der Wendepunkt Winsloe als seine „alte Freundin“, die sich als Autorin eines „antimilitaristischen, antipreußischen Erfolgsstücks“, nicht aber als Autorin eines lesbischen Textes bei den Nazis „mißliebig gemacht“ habe. 8 Die Ansicht ihres homosexuellen Zeitgenossen ist deshalb bemerkenswert, weil heute Winsloes Werk gerade aufgrund des lesbischen Inhalts gewürdigt wird und sie den Ruf genießt, „weibliche Homosexualität erstmals in einer breiten Öffentlichkeit der 1920er-Jahre thematisiert“ 9 zu haben. Trotzdem eckte sie bei den Zeitgenossinnen und -genossen mit dieser Thematisierung nicht an (obwohl Homosexualität 5 Vgl. ebenda, S. 149. 6 Vgl. ebenda, S. 152f. 7 Ebenda, S. 159. 8 Klaus Mann: -Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Erweiterte Neuausgabe. Mit Textvarianten und Entwürfen im Anhang herausgegeben und mit einem Nachwort von-Fredric Kroll. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 505f. 9 Jens Dobler: Persönlichkeiten in Berlin 1825 - 2006: Erinnerungen an Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung. Berlin 2015, S. 81. https: / / digital. zlb.de/ viewer/ resolver? urn=urn: nbn: de: kobv: 109-1-7841313 (letzter Zugriff 11.2.2019). <?page no="134"?> 133 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text ein durchaus heikles Sujet war). Mädchen in Uniform erwies sich als massenkompatibel und der Kult, der um den Film gemacht wurde, verdächtigte ihn mehr rührseligen Kitschs als gender- und sexualitätskritischen Inhalts. Der Film machte die beiden Hauptdarstellerinnen Dorothea Wieck (1908 - 1986) und Hertha Thiele (1908 - 1984) schlagartig berühmt. Für beide Frauen war diese Verfilmung, wenn nicht gar der Höhepunkt, so doch der Ausgangspunkt ihrer Karriere. Sensibel stellten sie eine Art erotisches Erwachen dar, das in der zwanghaften Atmosphäre der preußischen Erziehungsanstalt von der jeweils anderen Frau hervorgerufen wurde. Beide jungen Frauen verlieben sich ineinander, auch wenn die jüngere Manuela naiver ihre Liebe preisgibt. Für das Publikum war das Zusammenspiel beider Frauen so glaubhaft, dass es zu einer weiteren Produktion kam, in der Wieck und Thiele die Hauptrollen übernahmen. In Mädchen in Uniform stellte eine der beiden (gleichaltrigen) Schauspielerinnen die distinguiertere und erwachsenere Geliebte (Fräulein von Bernburg) und die andere Manuela, das junge, emotional entgrenzte und noch nicht voll den weiblichen Verhaltensnormen entsprechende Mädchen dar. Heutzutage ist der Film einem breiteren Publikum nur in dem Remake von 1958 bekannt, in dem die Darstellung der Liebesbeziehung deutlich abgemildert wurde. Aber auch bei dieser Verfilmung würden wir vermuten, dass die Zuneigung Manuelas zu ihrer Lehrerin als lesbische Liebe rezipiert werden kann. Die Liebe ist im Remake einseitiger dargestellt. Es wird viel weniger körperliche Nähe der Frauen zugelassen, so als würde das Remake bemühter sein, den Verdacht homosexueller Neigungen seitens Manuelas und ihrer Lehrerin auszuräumen. Schon durch die Besetzung wird im Remake die Liebe als obsessive Schwärmerei modifiziert. Man wählte als Darstellerin des jungen Mädchens eine junge, bereits bekannte Schauspielerin (nämlich Romy Schneider, 1938 - 1982) und für den Gegenpart die zwar sehr schöne, aber deutlich reifere Schauspielerin Lilli Palmer (1914 - 1986). Diese Besetzung ermöglichte es dem Publikum, Manuelas exaltierte Verliebtheit als adoleszente Schwärmerei zu begreifen und Fräulein von Bernburgs Emotion als mütterliche Zuwendung abzutun. Obwohl der Begriff der Homosexualität über dem Film schwebte, war es auf rationaler Basis möglich, ihm etwas entgegenzusetzen. Die erotischen Motive in der Beziehung wurden zurückgenommen. Es liegt auf der Hand, dass man durch die Besetzung der Rolle des Fräu- Die gleichaltrigen Schauspielerinnen Hertha Thiele und Dorothea Wieck als die verliebte Schülerin Manuela (jeweils links) und ihre umschwärmte Lehrerin Elisabeth von Bernburg. Standbilder aus Mädchen in Uniform (Regie: Leontine Sagan, 1931). © Beta Film GmbH. <?page no="135"?> 134 VIII Frauenliebe leins von Bernburg mit einer Grande Dame des Films, einer preußischen Diva, wie man sie damals nannte, auf Nummer sicher ging. Lilli Palmer war von internationaler Bekanntheit und für ihre Distinguiertheit im Spiel berühmt. Sie verkörperte das Ideal einer Unberührbaren. Jede zwingende lesbische Identifikation wurde ausgeschlossen. Sowohl Lilli Palmer als auch Romy Schneider hatten ihre bereits bestehende Anerkennung als Schauspielerinnen gerade nicht durch die Verkörperung erotisch ambivalent wirkender Frauen erworben. Romy Schneider war dem Nachkriegspublikum bekannt, weil sie im Historienfilm Sissi die junge, süße, naive und unschuldige österreichische Kaiserin gespielt hatte. War sie in den 1950er Jahren in einer Filmrolle zu sehen, weckte bereits ihr Name die Assoziation eines jungen, naiven, liebreizenden Mädchens. Sie stellte die Manuela als verwaistes, liebeshungriges, nicht aber als erotisch erwachtes Mädchen dar. Besetzung und Inszenierung zielten auf eine eindimensionale Darstellung. Während in der Verfilmung von 1931 die Starrheit altpreußischen Erziehungsdrills wirkungsvoll angeprangert wurde, bleibt diese Neuverfilmung psychologisch oberflächlich und bietet trotz guter Darsteller und effektvoller Inszenierung lediglich unverbindliche Unterhaltung. 10 Die spätere, „psychologisch oberflächlich[e]“ Verfilmung entschärft die leidenschaftliche Liebe der Frauen, weil die pathologische Kategorie der Homosexualität womöglich stärker im common sense verankert war als noch 20 Jahre zuvor. Der Eindruck der jüngsten deutschen Geschichte, in der (besonders männliche) Homosexuelle rücksichtslos verfolgt worden waren, kann die Filmmacher bewogen haben, die Assoziation mit der sexualwissenschaftlichen Kategorie nicht aufkommen lassen zu wollen. Doch auch das Remake verwischt die Liebesthematik nicht gänzlich. Der Schritt, diese Liebe als ‚homosexuell‘ zu bezeichnen, wurde nicht gewagt, doch gab es vereinzelte Stimmen, die zwischen Lehrerin und Schülerin eine Beziehung erkannten, „die an von unserem Strafgesetzbuch zwar nicht verbotene, von der allgemeinen Moral aber nicht gebilligte Beziehungen“ denken ließe. 11 Diese Verfilmung soll hier nicht weiter diskutiert werden. Es scheint so zu sein, dass die Verfilmung der 1950er Jahre auf der Darstellungsebene Anstrengungen unternimmt, den Diskurs um lesbische Liebe zu umschiffen. Bei der ersten Verfilmung kann von solcher Anstrengung nicht die Rede sein. Die Frage ist bisher ungeklärt, wieso man sich bei der Rezeption des Filmes aus den 1930er Jahren nicht des Konzepts der Homosexualität bediente? Sollten die Kinozuschauer*innen 20 Jahre zuvor entweder um so viel naiver oder um so viel liberaler als das Nachkriegspublikum gewesen sein? Im deutschsprachigen Feuilleton gab es nahezu keine Bezugnahme auf den Homosexualitätsdiskurs 12 , allein Zeitschriften für homosexuelle Frauen, die aber nur über einen sehr eingeschränkten Rezipientinnenkreis verfügten, sahen den Film in diesem 10 www.filmdienst.de/ film/ details/ 29805/ madchen-in-uniform-1958 (letzter Zugriff 12.3.2019). 11 Corinna Schmidt: Auf dem Weg in die 60er Jahre. Der Spielfilm Mädchen in Uniform. In: Ariadne. Forum für Frauen und Geschlechtergeschichte 68 (2010), S. 46 - 51, S. 51. 12 Vgl. Silke von der Emde: ‚Mädchen in Uniform.‘ Erotische Selbstbefreiung der Frau im Kontext der Kino-Debatte der Weimarer Republik. In: Kodikas/ Code. Ars Semeiotica 14 (1991), S. 35 - 48, S. 37. <?page no="136"?> 135 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text Zusammenhang. 13 Dass es zumindest in der Subkultur Bestrebungen gab, den Film für sich als ‚homosexuell‘ zu vereinnahmen, wundert nicht. In der Verfilmung von 1931 wird schon durch die Besetzung deutlich gemacht, dass das Verhältnis der Frauenfiguren erotisch lesbar ist und es sich nicht nur um eine Schulschwärmerei handeln kann. Es kann wohl sein, dass das Ideal dieser Art von Lehrerin-Schülerin-Beziehung aus dem 19. Jahrhundert bis in die 1930er überdauert haben mag. Die Rollen wurden allerdings so besetzt, dass der für diese Art der Beziehung signifikante Altersunterschied in Mädchen in Uniform durch die Darstellerinnen nivelliert wird. Thiele und Wieck waren faktisch gleichaltrig und gehörten merklich (wenn Wieck in ihrer Rolle auch älter wirkte) derselben Generation an. Beide Fräuleins erwecken sich gegenseitig, so dass eine pädophile Lesart ebenfalls ausgeschlossen ist. Auch das ältere Fräulein von Bernburg steht noch vor dem Eintritt in die Sexualität, sie missbraucht Manuelas Gefühle nicht, sondern sie liebt das Mädchen, wie sie von ihr geliebt wird. Wie es das Weiblichkeitsideal vorgibt, entwickelt sich bei beiden Frauen der Wunsch nach körperlicher Nähe aus den Gefühlen heraus. Die Frauen bedienen sich nicht einander, um eine in ihnen schlummernde Begierde auszuleben, für die die jeweils andere Frau nur ein Zufallsobjekt darstellen würde. Für das Kinopublikum hatten die Schauspielerinnen auch, anders als Schneider und Palmer, keine Vorgeschichte. Sie kamen aus dem Nichts und begründeten als Manuela und Elisabeth erst ihre Bekanntheit, so dass sie leicht mit ihren Rollen identifiziert werden konnten. Sie waren vorher noch auf keinen Rollentypus festgelegt. Das Publikum wollte sie deshalb wieder in einem homosozialen Drama, das weiblich-weibliche Zuneigung behandelte, besetzt sehen. In Anna und Elisabeth, einem Mysteriendrama von Frank Wysbar, sehen wir beide Künstlerinnen erneut in einem homoerotischen, heute würden wir sagen ‚lesbischen‘ 13 Vgl. Heike Schrader: -Virile,-Vamps-und wilde Veilchen - Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre. Sulzbach 2004, S. 8. Manuela von Meinhardis (Romy Schneider, links) mit ihrer Lehrerin Fräulein von Bernburg (Lilli Palmer). Standbild aus Mädchen in Uniform (Regie: Géza von Radványi, 1958). © CCC Filmkunst GmbH. <?page no="137"?> 136 VIII Frauenliebe Verhältnis agieren. Eine kranke Gutsherrin entbrennt in hysterischer Liebe zu einem Bauernmädchen, das von der höhergestellten Frau als Wunderheilerin angesehen wird. Gleich bei Erscheinen wurde der Film von den Nazis verboten, weil er das gesunde Volksempfinden schädigen könne. Doch auch hier scheint es so zu sein, dass nicht die vermeintliche Homosexualität der Figur Elisabeth, der kranken Gutsherrin, in erster Instanz für die Ablehnung des Filmes ausschlaggebend war, sondern ihre Hysterie und Krankheit, in die sich die als Wahnsinn erkennbare Zuneigung zu Anna bloß fügt. Die Thematik des Wunderheilens war primär ausschlaggebend für das Verbot des Films, sekundär nur das Verhältnis der Hauptfiguren. Zeitgenössische Kritiken dieses Films sprechen jedenfalls auch in diesem Fall nicht von Homosexualität. Der Film galt als weniger gelungen als der Kassenschlager Mädchen in Uniform. Besonders Hertha Thiel konnte als Bauernmädchen nicht an die Darstellung der ergreifend sinnlichen Manuela anknüpfen. Die Schauspielerin wurde als gereifter angesehen, schien dadurch festgelegter und weniger erotisch ambivalent. Den Verlust erotischer Ambivalenz begriff man als Manko. Die Figur des Bauernmädchens erschien unrealistisch und gekünstelt. Sie wird von Hertha Thiele als passiv dargestellt. In einer amerikanischen Kritik des jüngeren Wieck-Thiele-Films heißt es: Miss Wieck has gone through some rough times since „Mädchen“. The producers, quite misjudging her qualities, made her play characters completely out of her range. She wandered the conventional ways of sex appeal and coyness and she was quite unsuccessful at it. She undoubtedly has an appeal, out there is something devious and outside the normal in it. In „Anna und Elisabeth“ she has a chance to give this Side of her temperament full play.-[…] I wish I could be as enthusiastic about Hertha Thiele, who plays Anna. Her performance in „Mädchen“ was so fragile and touching that we were justified in prophesying an extraordinary future for her. 14 Diese Filmkritik ist aufschlussreich. Das Spiel der Frauen in Mädchen in Uniform wird als doppelbödig (devious), brüchig (fragile) und bewegend (touching) gelobt. Demnach müssen die Charakterzüge der Figuren als authentisch dargestellt gegolten haben. Sowohl der nicht strikt heteronormative Sexappeal von Dorothea Wieck, der die Zuschauer*innen in einer Art Schwebezustand ließ, als auch das Ergriffensein, das Hertha Thiele verkörpert, erschien glaub- und bewundernswürdig. Kann diese authentisch wirkende Weiblichkeit, mit der beide Figuren verkörpert worden sind, eine Erklärung dafür liefern, dass Mädchen in Uniform selbst unter kritischen Blicken des Naziregimes nicht den Verdacht erregte, ein Film über normwidrige Sexualität zu sein? 15 Es wundert doch heute, wie beide Figuren emotional einander zugewandt agieren konnten und selbst sinnlich miteinander umgehen durften. Thiele 14 Movie Review: Anna und Elisabeth With Dorothea Wieck and Hertha Thiele - Liebelei. In: New York Times, 2. Juli 1933, www.nytimes.com/ movie/ review? res=9507E5DE1338E333A25751C0A9619C946294D6CF (letzter Zugriff 11.2.2019). 15 In der Kritik zu dem Nachfolgeprojekt wird von zwei besonderen Figuren gesprochen, die es zu verkörpern galt, wobei die eine Figur in Natürlichkeit und Jugend, die andere in Realitätsflucht und dunkler Erotik verfangen ist. Dass sich zwischen diesen beiden Figuren auch eine Beziehung entwickelt, scheint nicht den ästhetischen Normen ihrer Zeit enthoben zu sein. Lassen wir einmal völlig dahingestellt, dass dies dem Kritiker in dem späten Film nur von einer Schauspielerin erfolgreich umgesetzt erschien. <?page no="138"?> 137 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text gelingt es zwar nach Ansicht des oben zitierten Kritikers nicht, später an ihre Paraderolle als Manuela anzuknüpfen, doch Wieck vermag es, ihre ambivalente Erotik sogar noch stärker zu etablieren. Es ist bei dem Rätsel um die Rezeption von Mädchen in Uniform nicht außer Acht zu lassen, dass die Rolle der Manuela mit einer Frau besetzt wurde, die gleichzeitig sowohl etwas Mädchenhaftes als auch etwas Sprödes besaß, dabei auch über eine zeitlose Attraktivität, eine Art Madonnengesicht, verfügte. Manuela ist hübsch, nicht überfeminin im Sinne der dem Zeitkolorit entsprechenden Weiblichkeitsvorstellungen, vor allem kann sie als mädchenhaft (durchaus im Sinne einer leichten Ungeschliffenheit) und als natürlich gelten. Sie erschien deshalb den Zuschauer*innen authentisch. Die andere weibliche Figur, um die sich Manuelas Liebessehnsüchte ranken, ist im cineastischen Verständnis der Zeit eine Schönheit, allerdings eine kühle Schönheit. Dorothea Wieck wirkt als Fräulein von Bernburg eleganter, älter. Sie entspricht einer klassischen Weiblichkeitsvorstellung, ist also nicht ungeschliffen, sondern selbstsicher. Sie weist sogar Züge einer Femme fatale auf, da sie manchmal dominant erscheinen kann und sich ihrer Macht über die Mädchen bewusst zu sein scheint. Diese Dominanz entspringt jedoch der typischen Rollenverteilung zwischen Lehrerin und Schülerin, wie sie in den Mädchenpensionaten herrschte. Da Christa Winsloe dabei aus eigener Anschauung schöpft, ist das Vorbild von Fräulein von Bernburg eher ein realhistorischer Weiblichkeitstypus als ein Typus imaginierter Weiblichkeit. 16 Sie zeigt sich jedoch nicht nur als mächtige Frau, sondern bei ihr sind ebenso Züge einer Femme fragile erkennbar, die vor allem dann zum Tragen kommen, wenn ihre Emotionalität durchbricht. Sie ist zart, liebevoll und der herrisch-vermännlichten Stiftsoberin symbolisch entgegengesetzt. Ihre erotische Kühle ist allerdings nach heteronormativem Muster betrachtet durchaus widerständig, denn Fräulein von Bernburg ist eine Frau ohne Mann und scheint sich nicht um Kontakte mit dem anderen Geschlecht zu bemühen, obwohl sie, anders als einige ihrer Kolleginnen, die Voraussetzungen dafür hätte, eine gute Partie zu machen. Sie ist schön und begehrenswert, aber sie setzt ihre Schönheit nicht ein, um Bewunderung von Männern zu bekommen. Trotzdem kann ihr kein moralischer Vorwurf aus ihrem heterosexuellen Desinteresse gemacht werden. Auch wenn ihre (hetero-)sexuelle Zurückhaltung eine natürliche Mutterschaft verhindert, so opfert sie sich umso entschlossener für viele Kinder auf. Sie beschützt sie und schenkt ihnen Geborgenheit. Ein Bruch mit der Rolle der Frau ist nicht deutlich. Sowohl im Film als auch im Roman zum Film wird Fräulein von Bernburgs empfundene Berufung zum Lehrberuf hervorgehoben. Es ist nicht Abscheu vor Männern, sondern Hingabe zu den Mädchen, die sie ihren Weg wählen ließ. Bestimmte Lichtstimmungen und sanfte Bewegungen heben das Auserwähltsein der Bernburg fotographisch hervor. Im Buch zum Film heißt es: Elisabeth von Bernburg war die Tochter eines hohen Offiziers […]. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und von diesen achtundzwanzig Jahren nun schon fünf Jahre im Stift, nachdem, wie man munkelte, ihre Verlobung mit einem jungen Dragonerleutnant zurückgegangen war, der Kühle und heftigen 16 Vgl. „Die Frauen lebten deshalb in einer Wechselwirkung von physischer Nähe und geistiger Distanz. Die Illusion einander nah zu sein […] wurde durch die Distanz der mächtigen Frau gebrochen.“ Karin Lützen: Frauen lieben Frauen, S. 90. <?page no="139"?> 138 VIII Frauenliebe seelischen Abwehr des jungen Mädchens wegen, die den Leutnant veranlaßt hatten, kurz vor der Hochzeit die Verbindung zu lösen. Andere wieder wollen wissen, daß Fräulein von Bernburg selbst es gewesen war, die ihrem Verlobten erklärt hatte, sie könne ihn nicht und überhaupt niemals einen Mann heiraten. „Kinder […] die Bernburgerin …Stellt euch doch vor, daß sie hätte heiraten können und daß sie da lieber hierhergekommen ist! Sie will überhaupt keine eigenen Kinder, soll sie gesagt haben - und dann soll sie den Mann einfach vor die Brust gestoßen haben, als er sie küssen wollte.“ 17 Fräulein von Bernburgs geistige Mutterschaft wird betont. Sie schenkt ihre Liebe und Aufmerksamkeit den jungen Mädchen und erkennt darin ihre Pflicht. „Ich liebe die Kinder“ 18 , ist eine Aussage, die die junge Frau mehrfach im Text trifft. Sowohl ihren Kolleginnen, der Oberin als auch Manuela gegenüber betont sie das Glück, ihre Berufung in der Mädchenerziehung gefunden zu haben. Allerdings wird im Film und im Buch zum Film herausgestrichen, dass ihre Beziehung zu Manuela nicht in der allgemeinen Liebe, zu der sie sich berufen fühlt, aufgeht. „Fräulein von Bernburg“ stieß Manuela hervor, und ihre heiße Hand faßte nach der Hand der Frau, die über sie geneigt saß. „Ich - ich muß Sie etwas fragen -, ich denke oft darüber nach - sind Sie glücklich? “ […] „Ja, Kind“, antwortete sie. „Ich habe ja euch.“ Vielleicht hätte sie sagen müssen: Ich habe ja dich. Aber diese Tochter und Enkelin von Soldaten, die ihr Leben lang gewohnt gewesen waren, mit Gefühlen sparsam zu sein und Gefühlsausbrüche zu verachten, dieses Mädchen, von einer puritanischen Mutter gottesfürchtig erzogen, diese junge Frau, die sich selber geschworen hatte, ihre Pflicht an den ihr anvertrauten Kindern rein und gerecht zu erfüllen, hätte solch ein Wort nicht über die Lippen gebracht. Es hatte für sie nur „die Kinder“ zu geben, es gab kein einzelnes Kind, an das sie ihr Herz hängen durfte. Und nun sie es doch getan hatte, vom ersten Male an, da dieses Kindes Augen und die ihren sich begegnet waren, durfte es nichts anderes für sie geben als Selbstzucht und Verzicht. Wie eine Wohltat, wie ein ganz unverdientes, niemals gekanntes Glück empfand sie die Liebe eines Kindes, die um so vieles echter war als die rührende Zuneigung und Vergötterung der anderen Kinder rings um sie. Diese Liebe strömte aus jeder Haltung, jedem ungeschickten Wort Manuelas. Aber sie wäre nicht Elisabeth von Bernburg, hätte sie sich nicht selber dafür gestraft, daß sie glücklich war durch dieses Kind und daß sie es wiederliebte, grundlos, mit aller Kraft ihres Herzens. 19 Auch die Figur der Manuela ist trotz ihrer körperlichen Attraktivität - sie wird als eine heranreifende Schönheit im Text bezeichnet, als die sie im Film ja auch besetzt ist 20 - nicht heteronormativ vereinnehmbar. Trotz ihrer Zartheit verleiht Hertha Thiele Manuela auch 17 Christa Winsloe: Das Mädchen Manuela. Der Roman zum Film Mädchen in Uniform. Vollständige, überarbeitete Ausgabe. Bern 2015 [Erstausgabe bei Albert de Lange 1933], S. 105. 18 Vgl. ebenda S. 112 (Gespräch mit der Oberin), vgl. auch S. 107 (E. von Bernburgs Betonung der Liebe zu den Kindern gegenüber Manuela) und S. 122. (Dort setzt E. von Bernburg sich mit einer älteren Kollegin auseinander und sagt ihr, wie sehr sie an den Kindern hängt.) 19 Ebenda, S. 107. 20 Vgl. ebenda, S. 72. <?page no="140"?> 139 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text kesse Züge, die um 1900 noch als unweiblich galten. Das wird im Roman von Winsloe auch beibehalten: Ich mag meine Haare nicht und nicht meinen Rock, zu Hause habe ich immer Hosen getragen, wenn ich mit meinem Bruder geturnt habe, und am liebsten trüge ich sie immer 21 sagt Manuela zu ihrer Lehrerin in der Romanbearbeitung. Diegetisch betrachtet handelt es sich mit dieser Aussage um eine Genderrollenübertretung. Manuela akzeptiert nicht die für die Weiblichkeit geltenden Restriktionen. Müsste das nicht umso deutlicher den Verdacht der Homosexualität, der sich in Abscheu gegen Weiblichkeit ausdrückt, hervorrufen? Für die Kinozuschauerinnen der 1930er Jahre stellt es sich anders dar. Manuela ist etwas burschikos, aber extradiegetisch betrachtet sind Manuelas Äußerungen kein Tabubruch, sondern eher ein positiver Kommentar zur Emanzipation und der sich in den 1920er Jahren etablierenden Erscheinung von ‚neuer Frau‘. 1931, als der Film und 1933, als der Text entstand, liegen zeitlich nach dem Aufkommen des Bildes der neuen Frau, dem eine kurzhaarige, sportliche Manuela entsprechen würde, ohne dass bei einem solchen Mädchen der Verdacht der Unweiblichkeit entstünde. Gerade ihre im Text als Genderrollenübertretung markierte Widerständigkeit macht sie für das Kinopublikum der 1930er Jahre authentisch. Das, was um 1900 noch wie eine unerhörte Zurückweisung der weiblichen Rolle klingt, ist 30 Jahre später nicht mehr als Übertretung der weiblichen Gendernorm lesbar, sondern zeigt eher die Modernität und Aktivität der Figur Manuelas. Kurze Haare galten als allgemeine Frauenmode, auch sportliche Aktivität galt zur Zeit des Entstehens des Films nicht mehr als unweiblich, sondern als modern. In ihrer Hosenrolle als Don Carlos kann Manuela ihre körperliche Attraktivität besser zur Geltung bringen als ihre Spielpartnerin, die ein weites Gewand trägt. Der Text diskursiviert also mit Manuelas Aussage nicht die Ablehnung des zeitgenössischen Frauenbildes der 1930er Jahre, sondern hebt das modernere Frauenbild, das in den 1920er Jahren das Stadtbild prägte, positiv hervor. Manuelas Aussagen unterstreichen in erster Linie die durch den Film und Roman ausgedrückte Kritik an archaischen Erziehungsmethoden, die die Autorin selbst während ihrer Pubertät als unmodern und unangemessen empfand. Manuela bietet sich somit sehr gut als weibliche Identifikationsfigur an. Sie ist keine Stephen, die Gendernormen plakativ bricht. Für beide weiblichen Hauptfiguren in Mädchen in Uniform gilt, dass sie „an appeal“ haben. Allerdings gilt für beide auch, dass sie sich „outside the normal“ (vor allem im Kontext der Frauenvorstellung um 1900) bewegen. Doch, und dies ist wichtig festzuhalten: Sie bewegen sich durch ihr Aussehen und ihre Ausstrahlung nicht außerhalb der zeitgenössischen Gendernorm der 1930er Jahre. Das sehe ich für den Erfolg von Mädchen in Uniform als eine entscheidende Komponente an. Ist Manuelas erotische Anziehungskraft von Hertha Thiele als Teil ihrer Lebendigkeit und Widerspenstigkeit dargestellt, so ist die erotische Anziehungskraft der Lehrerin in ihrer geheimnisvollen Aura, ihrer Eleganz und ihrer kühlen Anmut zu finden, die heute etwas anachronistisch wirkt. Beide Frauen bieten Identifikationspotential für ihr weibliches Publikum jenseits einer Zuschreibung von homosexueller Präferenz. 21 Ebenda, S. 111. <?page no="141"?> 140 VIII Frauenliebe Elisabeth von Bernburg (Dorothea Wieck, links) küsst Manuela (Hertha Thiele). Standbilder aus Mädchen in Uniform (Regie: Leontine Sagan, 1931). © Beta Film GmbH. Dass der Film bei seinem Erscheinen (in beiden Versionen) keineswegs skandalös erschien, hängt gewiss auch damit zusammen, dass Zuneigung unter Frauen in streng homosozialen Gemeinschaften toleriert wurde. Da viele Rezipient*innen die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts noch im Bewusstsein hatten, ist auch die Schwärmerei für eine Frau ein bestehender Topos, der für uns heute schwerer nachzuvollziehen ist als für Zeitgenoss*innen im frühen 20. Jahrhundert. Doch wo bestand damals die Grenze zwischen ‚Schwärmerei‘ und ‚homosexuellem Begehren‘? Selbst die spätere Verfilmung, in der die Zuneigung von Manuela deutlich als einseitige, obsessive Schwärmerei dargestellt wird, öffnet sich einer lesbischen Lesart. Vor allem aber die erste Verfilmung, in der diese Schwärmerei sehr körperlich zwischen beiden Frauen erfahren wird, lässt die Definition der Liebe als homosexuell zu. Es gibt in diesem Film eine Kussszene (TC: 00: 27: 51), die sich den gängigen Konventionen eines klassischen heterosexuellen Hollywoodfilmkusses 22 bedient. 23 Beide Frauen küssen sich auf den Mund, dämmriges Licht hat eine erotische Atmosphäre geschaffen, die Musik schwillt dramatisch an. (Das Remake der 1950er Jahre bedient sich dieser Konvention nicht.) Mädchen in Uniform (1931) widersetzt sich mit filmischen Mitteln der Deutung der Liebe als pure Schwärmerei. Selbst wenn den Menschen dieses Konzept durchaus noch bewusst war, scheint es nicht treffend. Erst 1958 wird dramaturgisch versucht, die Liebe Manuelas als obsessive Schwärmerei lesbar zu machen. Die Ablehnung des Begriffes einer Schulmädchenschwärmerei für Manuelas Liebe vollzieht sich bei Winsloe, indem diese Liebe gerade nicht in die Obsessionen ihrer Schulkameradinnen gereiht wird. Diese Mädchen schwärmen für Fräulein von Bernburg oder für andere Mädchen, weil ihnen heterosexuelle Partner entzogen, weil sie einsam oder vom Internatsleben gelangweilt sind. Manuelas Zuneigung ist individueller. Auch wenn die hübsche junge Frau von anderen Schülerinnen verehrt wird, weil sie ihnen mit Freundlichkeit begegnet, ist Manuelas Gefühl viel tiefer und darüber hinaus 22 Vgl. Laura Horak: Girls will be boys. Cross-dressed women, lesbians, and American cinema 1908 - 1934. New Brunswick u. a. 2006, S. 184. 23 Es ist belegt, dass diese Form des Hollywoodkusses im Weimarer Kino konventionell ist. Vgl. Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino - aufgeklärt und doppelbödig. Berlin 1999, S. 23. <?page no="142"?> 141 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text zeigt der Film, dass die Zuneigung zwischen Elisabeth von Bernburg und Manuela zirkuliert. Kein anderes Mädchen wird so geküsst wie Manuela, wird von der Lehrerin beschenkt und so umsorgt. Zwischen den beiden jungen Frauen herrscht in der zwanghaften Atmosphäre des Stifts eine besondere emotionale Übereinkunft. In der Publikation zum Film wird diese deutlich benannt: „Ich kann, ich kann nicht anders. Ich liebe Sie, liebes Fräulein von Bernburg […] - ich kann nichts dafür, ich liebe, liebe Sie! “ 24 gesteht Manuela dem Fräulein, das von ähnlichen Gefühlen geleitet ist. Ihre Erwiderung ist nicht so heftig wie Manuelas Liebeserklärung, weil sie sich beherrscht. 25 Doch sagt sie: „Ich habe dich sehr lieb, Manuela. Und doch kann ich mich nicht um dich mehr kümmern als um die anderen, das weißt du doch. Aber wenn dir was fehlt, dann darfst du immer zu mir kommen.“ 26 Diese Frauenliebe lässt sich deshalb nicht in das gängige Konzept der Schwärmerei (aus der Ferne), das durch Distanz zwischen Lehrerin und Schülerin definiert ist, eingliedern, weil Elisabeth von Bernburg zumindest zeitweise ihre Unnahbarkeit verliert, und weil das Verhältnis sinnlich ist. Die Liebe wäre, wie oben erwähnt, heute problemlos mit dem Begriff der Homosexualität umschreibbar. Allerdings widersetzt sich diese Liebe dem zeitgenössischen Begriff der Homosexualität auch, denn in das damals virulente Konzept passt die im Film gezeigte Zuneigung nicht. Selbst Christa Winsloe zeigte sich eher empört, wenn der lesbische Inhalt in der Kritik zu große Deutlichkeit gewann. Ihre Aussagen beziehen sich auf die Premiere ihres Bühnenstückes, das die Vorlage des Films war und in dem, wie im Film, nicht von einer Reduktion des Liebesmotivs auf kindliche Schwärmerei gesprochen werden konnte. Jetzt wollte ich doch bloss mal versuchen, ob ich lebendige Menschen zustande bringe. Und da kommen nun auch noch all die Frauen, die keine Männer mögen und wollen mir einreden, ich habe dieses Stück für sie geschrieben. Ich fahr wieder heim nach München, da kenn ich mich besser aus […]. 27 Mädchen in Uniform ist selbst für die Autorin, die heute als eine homosexuelle Autorin gilt, kein lesbischer Text, obwohl das Liebesmotiv herausgekehrt ist. Ich liebe Sie, so, so sehr wie meine Mutter - ja und noch viel, viel mehr! Wenn ich Ihre Hände sehe, zieht es mich hin, sie zu fühlen. Ihre Stimme, wenn Sie rufen, packt mich, reißt mich - […]. 28 Dem Wortsinn nach ist es also Liebe, was Manuela fühlt. Sie fühlt auch den erotischen Reiz, der von dem Fräulein ausgeht und empfindet körperliches Begehren. Im Film gibt es eine Szene, in der Manuela den Wunsch nach körperlicher Nähe zu ihrer Lehrerin direkt eingesteht. 24 Christa Winsloe: Das Mädchen Manuela, S. 128. 25 Vgl. ebenda, S. 128f. 26 Ebenda, S. 129. 27 Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela, S. 114. 28 Christa Winsloe: Das Mädchen Manuela, S. 128. <?page no="143"?> 142 VIII Frauenliebe Doch all diese Liebe und dieses Begehren unter Frauen gelten dennoch nicht als lesbisch und wecken keinen Zweifel an der heterosexuellen Identität der Liebenden! Tatsächlich ist die Erklärung dafür nicht allzu problematisch. Aus einer queertheoretischen Perspektive verwundert es nicht, einmal mehr zeigt sich, dass der jeweilige Sexualitätsdiskurs ausschlaggebend für die Bestimmung dessen ist, was als ‚lesbisch‘ angesehen wird und was nicht. Homosexualität ist nicht einfach gegeben, sie ist durch den Diskurs bestimmt. Die Pathologisierung der Homosexualität, wie sie in dem Standardwerk von Richard von Krafft- Ebing Psychopathia Sexualis (1886) vorgenommen wurde, prägte bis in die Weimarer Zeit den Homosexualitätsdiskurs. Im Jahre 1924 erlebte das Buch seine 17. deutsche Auflage. Wir können davon ausgehen, dass dieses Buch die allgemeine Wahrnehmung bestimmte und auch jenseits medizinischer Fachkreise rezipiert wurde. Nach Krafft-Ebing ist der/ die konträr Empfindende als krank einzustufen. Homosexualität, „konträre Sexualempfindung“ rückt in das Begriffsfeld der Degeneration. 29 Progressivere Theoretiker wie Magnus Hirschfeld und vor ihm Karl Heinrich Ulrichs versuchten wie Krafft-Ebing, Homosexualität als genetisch bedingt zu erklären. Jedoch nicht als degenerative, sondern als eine legitime Anomalie (vgl. Kap. IV). Auch die Texte der Vorkämpfer für die Homosexuellenbewegung beeinflussten den Diskurs, obwohl sie nicht so auflagenstark waren wie die des Freiherrn von Krafft-Ebing. In seiner Monographie Von der Homosexualität des Mannes und Weibes unternimmt Hirschfeld den Versuch, dafür zu argumentieren, dass es sich bei Homosexualität um eine angeborene Varietät handelte, der der Status eines dritten Geschlechtes zukam. Die genetische Bestimmung von Homosexualität schloss bei der Definition des Begehrens einer Person als ‚homosexuell‘ ihr Gender mit ein. Das ging so weit, dass prognostiziert wurde, dass es irgendwann medizinisch möglich sei, schon bei der Geburt die Zugehörigkeit zum dritten Geschlecht festzustellen. 30 Was im 19. Jahrhundert noch meist dem Wissen der Sexualwissenschaftler vorbehalten war, ist in den 1920er Jahren zunehmend popularisiert worden. Die Kinozuschauer*innen hatten eine Vorstellung von Homosexuellen. Diese mag ominös gewesen sein, kaum wissenschaftlich fundiert und wahrscheinlich war sie eher mit Verwerflichkeit als Unschuld assoziiert. „Lesbische Frauen waren in der Weimarer Republik trotz einiger Treffpunkte und Zeitschriften weitgehend unsichtbar“ 31 , konstatiert Doris Hermanns. Es ist daher anzunehmen, dass kaum jemand unter dem Konzept einer ‚konträr empfindenden‘ bzw. homosexuellen Person eine durchaus ‚normale‘, ja anziehende Frau verstand, mit der sich die Zuschauerinnen identifizieren konnten. Um einen Film oder Text queer zu lesen, müssen wir den Text mit dem zeitgenössischen Sexualdiskurs abgleichen. Der common sense über das Tabuthema ist 1931 von der Idee beherrscht, dass es möglich ist, Homosexuelle an ihrem Äußeren zu erkennen, das sich von den Heterosexuellen unterscheidet. Ließen sich Manuela und Elisabeth damals als homosexuelle Frauen wahrnehmen? Das Gender beider Frauen (in Film und Buch) ist nicht problematisch. Dieser Umstand erklärt, warum Mädchen in Uniform in der damaligen Rezeption kein Film 29 Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, S. 224. 30 Vgl. Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen. Band III. Berlin, 2. Aufl. 1920, S. 110. 31 Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela, S. 125f. <?page no="144"?> 143 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text über Homosexuelle war. ‚Homosexualität‘ ist eine sexualwissenschaftliche Kategorie, die auf Menschen zutrifft, die erkennbar anders sind. Eine Lesbe zeigt auffallend männliche Züge, eine Frau, die eine Frau begehrt, ist einem Mann ähnlich, zumal das Begehren selbst schon eine Eigenschaft ist, die auf ein männliches Gender schließen lässt. Das bedeutet nicht, dass die gelebte lesbische Realität nicht durchaus variantenreicher war als es der Diskurs vorgab. Nur fiel ein Teil der Frauen liebenden Frauen aus einer Beobachterperspektive einfach nicht unter den Begriff ‚lesbisch‘. Winsloes gefühlsbetonte Frauenfiguren im Film Mädchen in Uniform zumindest nicht. ‚Homosexualität‘, wie sie in den wissenschaftlichen Diskursen jener Zeit angesehen wurde, die entweder als Form von pathologischer Störung oder als genetisch veranlagte Anomalie galt, war nicht das vordergründige Erklärungsmuster, mit dem die Zuneigung begründet wurde; schlicht gesprochen: Weder Manuela noch ihre umschwärmte Lehrerin waren dem damaligen Verständnis nach Lesben, obwohl sie sich liebten. Ihre jungfräuliche Ausstrahlung weist auf ein historisches Genderideal zurück, das den Rezipient*innen vorgibt, dass ihr Wunsch nach Nähe nicht vordergründig sexuell zu lesen ist. Zwar lässt der Film Verschiebungen in Richtung des aktiven Begehrens zu, aber das sentimentale Frauenbild, dem beide Liebenden entsprechen, wirkt auf die Zuschauer*innen ‚unschuldig‘. Wenn Manuela und Elisabeth innig und sinnlich miteinander umgehen, hielt man es für den Ausdruck von Emotion, nicht von Trieb. Der künstlerische Oberleiter Carl Froelich besetzte mit Dorothea Wieck, auch dem Verständnis ihrer Schauspielkollegin Hertha Thiele nach, die Rolle des Fräuleins von Bernburg mit einer Frau, die dem Muster einer Lesbe absolut nicht entsprach. Eine feminine Frau reagiert, aber sie agiert nicht sexuell. Laut Hertha Thiele wollte Froelich die lesbische Beziehungsgeschichte vermeiden: „Er hat deswegen den Film mit der Wieck besetzt, im Theater habe ich das Stück mit der Melzer zusammen gespielt. Die Melzer war ein absolut männlicher Typ, und das wollte er nicht. Sie war schauspielerisch vielleicht besser. […] Was im Film an Erotik entstanden ist, geht wahrscheinlich unbewußt - denn Froelich hatte es so nicht gewollt - von mir aus.“ 32 Die Liebe dieser beiden Frauen war so ohne eine pathologische Genese darstellbar, hob aber dennoch die Zuneigung beider Frauen deutlich von der bekanntermaßen homosozial gängigen Schwärmerei in Mädchenpensionaten ab. Dabei unternahm er nicht die geringsten Anstrengungen, anders als die spätere Verfilmung, die erotische Ebene der Beziehung zu verhehlen. Was man vermeiden wollte, war eine Assoziation zu dem Begriff ‚lesbisch‘. Die Frauenfiguren sind romantische Gestalten, weil sie in ihrem Liebreiz eher an eine um 1930 anachronistisch zu wertende romantische Frauenliebe erinnern als an ‚moderne Gefühle‘, das heißt an sexualwissenschaftlich erforschte Regungen. Der Film und auch das Buch ließen den Zuschauer*innen den Spielraum, die Liebe selbst zu bewerten. Es war möglich, sich der unangenehmen, gefühlskalten Oberin anzuschließen, die diese Emotion als gefährlich und zersetzend einstufte und in die Nähe eines Wahnsinns rückte, jedoch viel wahrscheinlicher war es, Fräulein von Bernburg zu folgen und die Definition der Liebe offen zu halten: 32 Ebenda, S. 121. <?page no="145"?> 144 VIII Frauenliebe Ein wichtiger und vielzitierter Satz in diesem Film lautet: „Was Sie Sünde nennen, nenne ich den großen Geist der Liebe, der tausend Formen hat.“ Dies setzt Fräulein von Bernburg der Oberin in einer Auseinandersetzung entgegen, als diese ihr Vorhaltungen über Manuelas Verhalten macht. 33 Diese Betonung der geistigen Liebe bannt den Film weitestgehend aus dem Dunstkreis der Sexualitätsdiskurse, die sich dem Phänomen der körperlichen Liebe widmen. Wie Hertha Thiele später in einem Interview sagte: „Ich meine damit ist alles gesagt, es kann ein Anfang zur lesbischen Liebe sein, es kann noch kindliche Liebe sein, es ist auf jeden Fall Liebe. Ich glaube, damit steht und fällt der Film.“ 34 Bei den Zuschauern, und wahrscheinlich noch mehr bei den Zuschauerinnen, muss es ein Bedürfnis danach gegeben haben, polymorphe Liebe unter Frauen ausgedrückt zu sehen. Vielleicht bestand dieses Bedürfnis auch deshalb, weil sich Zuschauerinnen an ihre Zeit in Pensionaten erinnerten, im sicheren Bewusstsein, dass ihre leidenschaftlichen Gefühle für eine Freundin niemals dem Verdikt der Homosexualität ausgesetzt waren. Mädchen in Uniform ist ein Liebesfilm, doch eine bewusste Auseinandersetzung mit Homosexualität bot der Film nicht, denn der wissenschaftliche Begriff bezeichnete eine sexualwissenschaftliche Vorstellung, der sich die Darstellerinnen entzogen. Sie entsprachen keineswegs dem Muster, das die Sexualwissenschaft für lesbische Frauen entwickelt hatte, um sie in gewisser Weise zu naturalisieren, aber auch zu rehabilitieren. Das gängige Argument, dass die frauenliebende Frau sich männlich verhalte und daher die weibliche Geschlechterrolle ablehne, womit ihre Liebe zu einer Frau nur eine Imitation der Liebe eines Mannes zu einer Frau darstelle, teilen weder der Film noch das Buch. Auch aus einer heutigen Sicht kann keine der beiden Filmprotagonistinnen in ihrem Gender als männlich erkannt werden. Der Film zeigt mit Manuela, die in einem Theaterstück allerdings eine männliche Rolle übernimmt und sich eher burschikos gibt, nur ganz bescheidene Genderübertretungen. Vermutlich hält sich Hertha Thiele deshalb für die Person, von der die Erotik im Film „ausgeht“. Mir scheint offensichtlich zu sein, dass die Figur Manuela von den Zuschauer*innen als emanzipationswillig betrachtet wird. Die Frauen im Zuschauerraum sehen in ihr ein Mädchen, das zu einer Frau heranreifen will, die ihnen in gewisser Weise gleicht. Manuelas Wünsche richten sich auf ein Frauenleben, wie es in den 1920er und 1930er Jahren der Großstädte möglich war. Es ist durch Berufs- oder zumindest Erwerbsstätigkeit, Sportlichkeit, freiere Modevorschriften und eine Girlkultur gekennzeichnet. Dies erhofft Manuela sich an Emanzipation. Rezeptionsästhetisch ist eher auszuschließen, dass sie wegen ihrer Ablehnung der rein passiven Frauenrolle von Winsloes Zeitgenossen (und noch weniger von den Zeitgenossinnen) als ein verhinderter Mann gesehen wurde. Was sie an Erotik ausstrahlt, lässt sich wunderbar in das damals aktuelle Frauenbild integrieren, das nicht mehr wie im 19. Jahrhundert völlig in Passivität verharrt. Niemand wird das pathologisch gekennzeichnete Attribut ‚invertiert‘ oder ‚konträr-sexuell‘ für Manuela bereithalten. Der Begriff einer lesbischen Liebe für die Beschreibung von Manuelas Emotion erweist sich zeitgenössisch als nicht zutreffend. Dies gilt aller- 33 Ebenda. 34 Ebenda. <?page no="146"?> 145 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text dings auch für den Begriff ‚Schwärmerei‘. ‚Schwärmerei‘ war durch die Sexualwissenschaft zwischen erwachsenen Frauen sowieso verdächtig geworden. Winsloe schert sich weder in ihrem Drehbuch noch in ihrem Roman darum, dass im 20. Jahrhundert exaltierte Formen der gleichgeschlechtlichen Schwärmerei anrüchig geworden sind. Sie geht sogar noch weiter, indem sie die Beziehung als eine beiderseitig-leidenschaftliche Liebe zeichnet. Es ist auch davon auszugehen, dass die Liebe nicht als pure Imitation der Mutter-Tochter-Liebe gelesen werden soll, sonst hätte man die Lehrerin deutlich älter besetzt. Der Liebesfilm verweigert sich jeglichen Kategorien und zwar in einem so erfolgreichen Maße, dass sich heterosexuelle Frauen mit ihm identifizieren konnten. Galt der Film zur Zeit seiner Entstehung offenkundig nicht als ‚Lesbenfilm‘, wie seine Rezeptionsgeschichte zeigt, so kam es 1977 zur öffentlichen Wiederaufführung dieses Kunstwerkes im Kontext lesbischer Diskurse. Der Film erlangte bei seiner Wiederentdeckung in der lesbischen Szene einen besonderen Grad an Berühmtheit und wurde als Identifikationskunstwerk begriffen. 45 Jahre später war ‚lesbische Liebe‘ als Konzept für den Inhalt des Films tragend. Auch diese Rezeptionsgeschichte ist von Interesse. Sie ist aus einer queertheoretischen Perspektive bedenkenswert, jedoch nicht rätselhaft. Während sich Mädchen in Uniform nämlich den lesbischen Poetiken der Zeitgenoss*innen (wie sie beispielsweise bei Radclyffe Hall auftraten) entzog und verweigerte, sind vor allem im Buch zum Film Motive verwendet, die Jahre später als Indizien für eine lesbische Poetik dieses Filmes/ Textes gewertet werden konnten. Statt einer biologischen/ genetischen Erklärung, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als plausibel angesehen wurde, wird für Manuelas (lesbische) Liebe eine soziale Erklärung gegeben, was wiederum den feministischen Diskursen der 1970er über Frauenliebe mehr entsprach. Seit den 1960er Jahren wurden sowohl die Entkriminalisierung der Homosexualität als auch die Aufhebung der Klassifikation von Homosexualität als psychische Störung durch die Homosexuellenbewegung systematisch vorangetrieben. 35 Mädchen in Uniform eignete sich daher seit den 1970er Jahren als Sprachrohr homosexueller Emanzipationsbewegung. Die lesbische Poetik, die dieser Film aus Sicht einer lesbisch-feministischen Rezipientin entwickelt, besteht in Manuelas deutlicher Präferenz der homosozialen Bindungen. Im Buch zum Film findet sich Vieles, was diese Lesart unterstützt. Zwei Drittel des Romans sind der Zeit vor Manuelas Eintritt in das Stift gewidmet und in diesen vier Kapiteln werden ihre ersten homosozialen Bindungen (an Freundinnen, an die Mutter eines Freundes und über allem stehend die Bindung an ihre eigene Mutter) beschrieben. Die Mutterliebe ist für Manuela das Labsal ihres Lebens. Es wird erzählt, dass Manuela in der soldatischen Umgebung ihres Vaters mit zwei älteren Brüdern aufwächst. Während die männlichen Familienmitglieder für Manuela von geringerer Bedeutung sind, wird die Mutter von dem heranwachsenden Mädchen glühend verehrt und bewundert. Der Text stellt heraus, dass die Mutter, wie in den meisten bürgerlich geprägten Familien, die erste und wichtigste Bezugsperson eines Kindes 35 Erst seit 1992 ist gleichgeschlechtliche Neigung nicht mehr als Erkrankung in der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelistet. <?page no="147"?> 146 VIII Frauenliebe ist. „Mutter war sie, die immer da war. Sie, die kam, wenn Lela schrie, sie, die beruhigte, wenn Lela weinte.“ 36 Die Mutter Käte strahlt Sicherheit und Geborgenheit aus, wird für das kleine Mädchen in vielerlei Hinsicht zum ersten Liebesobjekt. Auf Zehenspitzen tastet sich Lela im Dämmerlicht des Zimmers hin zum Bett. Die Bettdecke hebt sich, und wie ein Küken unter die Glucke schlüpft, so kriecht Lela in die Wärme. Dicht hin zu Mutti, die ihren Arm um sie schlingt. Lelas unordentliches Köpfchen liegt an ihrer Brust. Eine Zeitlang ist es still. Dann Lela: „Mutti, war es schön gestern? “ „Ja, mein Herzchen, sehr schön.“ „Mutti, waren die Damen so schön wie du? “ „Ach, viel schöner, Liebling! “ „Aber Mutti, du bist schön, ich weiß das.“ „Ich bin nicht schön, Lela. Ich will auch gar nicht. Ich will gut sein.“ 37 Die Mutter steht für ‚Emotionalität‘, ‚Schönheit‘, ‚Zärtlichkeit‘, aber auch ‚Sittlichkeit‘ und Verantwortungsgefühl in Manuelas Leben. All diese Konzepte sind für sie mütterlich und im weitesten Sinn weiblich besetzt, was auch die spätere Wahl eines weiblichen Liebesobjekts erklärt, das sich, wie die Mutter, durch all diese edlen Eigenschaften auszeichnet und durch die Abscheu davor, mit äußerlicher Attraktivität zu kokettieren. Eine ehrfurchtgebietende weibliche Figur, die in bescheidener Weise ihre eigene, selbstvergessene Schönheit durch eine strenge Haarfrisur bannt („Es ist schrecklich, denkt Lela weiter, von unten her zu ihrer Mutter aufsehend, dass Mutti sich morgens immer so glatt frisiert.“ 38 ), verweist natürlich bereits auf die ebenfalls streng frisierte, dennoch schöne Lehrerin („Die schwarzen Haare sind streng gescheitelt. Der Knoten tief im Nacken, passt sich der edlen Kopfform gut an“) 39 , zu deren Merkmal ihre Güte, gepaart mit Sittenstrenge, gegenüber den Mädchen gehört. („Alle haben sie Fräulein von Bernburg lieb, obgleich sie sehr streng ist.“ 40 ) Manuela ist von dem preußisch und soldatisch geformten Mutterbild, das zwischen mütterlicher Güte und arbeitsamer Strenge changiert, einem weiblichen Erziehungsideal, das Fräulein von Bernburg noch profilierter zeigt, geprägt. Einer der schönsten Tage für Manuela ist der Geburtstag der Mutter, wenn diese ihrer Haushaltungspflichten enthoben ist und für Manuelas Liebesbekundungen genügend Zeit hat. Und immerzu kann man zu Mutti kommen, denn heute darf sie nichts tun. Nicht flicken, nicht in die Küche gehen, nicht rechnen nur auf dem Sofa sitzen und schön sein. Und Lela krabbelt auf ihren Schoß und schließt fest beide Arme um ihren Hals. „Mutti, Mutti, Mutti, ich hab’ dich so furchtbar lieb! “ 41 36 Christa Winsloe: Das Mädchen Manuela, S. 5. 37 Ebenda, S. 13f. 38 Ebenda, S. 17. 39 Ebenda, S. 97. 40 Ebenda, S. 96. 41 Ebenda, S. 22. <?page no="148"?> 147 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text Wie von ihrer Mutter, zu der sie eine stark ausgeprägte affektive Bindung aufweist, ersehnt sie auch von Fräulein von Bernburg Momente der puren Nähe, die nicht durch Pflichten vereitelt werden: „Immer sind Sie so weit weg, immer so fern, nie kann man bei Ihnen sein und nie Ihre Hand fassen und Sie küssen, nie nah sein! “ 42 Gleichwohl ist die hohe Achtung, die der Figur der Mutter im Text zukommt, auch auf deren Pflichtbewusstsein gestützt. Die Mutter stellt, wie es dem Bild der bürgerlichen Frau im 19. Jahrhundert entspricht, ihre Mutterpflichten über alles andere in ihrem Leben, so dass sie beispielsweise ihre repräsentativen Aufgaben als Offiziersgattin überhaupt nicht schätzt. „Was ist, Käte, warum seufzt du? “ kommt’s aus der Wagenecke. „Ach, du weißt doch, mir sind diese Hofbälle doch eigentlich eine Qual.“ […] Es wäre ja gut gewesen, still zu Hause zu bleiben, bei den Kindern. Zu stricken, einen Brief an Großmama zu schreiben und früh zu Bett zu gehen. 43 Kätes Uneitelkeit bewahrt sie vor jeder Profilierungssucht, obwohl der Text verdeutlicht, dass sie eine Erscheinung ist und weitaus mehr aus sich machen könnte. Doch Käte übt sich in Entsagung, eine Eigenschaft, für die Fräulein von Bernburg von ihren Kolleginnen ebenfalls bewundert wird. Einmal wird Fräulein von Bernburg direkt darauf angesprochen und wie die bereits verstorbene Käte, die Fräulein von Bernburg freilich nicht kennt, antwortet die junge Lehrerin im selben Geist der Hingabe an ihre geistige Mutterpflicht. „Eh bien, Sie sind eine schöne Frau, Sie sind jung. Ja, wie ich höre, haben Sie Vermögen. Sie haben Faszination. Sie sind klug. Sie könnten eine große Rolle in der Gesellschaft spielen. Ich verstehe Sie nicht. Aristokratin. Sie können zu Hof gehen. Sie könnten heiraten … […] Warum lachen Sie, Fräulein von Bernburg. Ich sage die Wahrheit. Sie sind eine Persönlichkeit - und was tun Sie? Sie versauern hier in diesem Militärhaus für Mädchen. […]“ „Aber liebe alte Nelke, ich bin doch gerne hier. […] Nicht nur gern, ich liebe mein Leben so, wie es ist. […] Das ist ein volles, gutes, herrliches Leben. Ich liebe die Kinder. Ich freue mich über sie. […]. Wir müssen ihnen die Mutter ersetzen und den Vater zugleich.“ […] „Nun gut, aber Sie selbst. Sie führen ein Leben voll Entsagung - wozu? Es gibt so viel …“ Die kleine Mademoiselle gerät in Erregung. „Für mich nicht“, sagt Fräulein von Bernburg leise. „Für mich gibt es nur eins: die Liebe der Kinder. Sehen Sie, Mademoiselle, die Kinder brauchen doch jemanden, an den sie glauben können.“ 44 Die parallelen Geisteshaltungen zwischen Manuelas erstem Liebesobjekt und der späteren Geliebten sind offenkundig. Durch ihre Mutter bekam Manuela in ihrer Kindheit ein Wertesystem vermittelt, das ihre spätere Liebeswahl beeinflusst. Im Film bleibt die Mutter abwesend. Sie ist bereits verstorben, als Manuela ins Stift gebracht wird. Jedoch wird klar, dass sie zärtliche Gefühle für die Mutter hat, dass die Mutter ein Vorbild war und, anders als die böse 42 Ebenda, S. 128. 43 Ebenda, S. 6f. 44 Ebenda, S. 121f. <?page no="149"?> 148 VIII Frauenliebe Tante, die sie ins Internat bringt, sehr liebevoll zu ihr gewesen ist. Auch im Film lässt sich erkennen, dass Fräulein von Bernburg von ihrem Wesen her der Mutter Manuelas ähnelt. In ihrer Kindheit hat Manuela ein signifikantes Verlangen nach körperlicher Nähe zu ihrer Mutter, ein Bedürfnis, das sich gegenüber Fräulein von Bernburg mit fast noch stärkerer Sehnsucht ausbildet. Es ist allein die Frau innerhalb des soldatischen, emotionslosen Raums, der Sinnlichkeit und Emotion zukommt. Sie wird daher von Manuela immer nur liebkosend als „Mutti“ angesprochen, was auf eine gewisse Distanzlosigkeit schließen lässt. Mutti hat lange, ganz weiße Finger - Lela hat die Hände so gern. - Wenn Muttis Hand sich doch mal auf meinem Kopf verirrte, denkt sie, oder so zwischen Hals und Kleid - bei Mutti ist das so gut! Papa tut das zwar auch manchmal, aber da kitzelt es bloß. 45 Als sich die Mutter mit ihrem älteren Bruder zur Kur begibt, empfindet Manuela diesen Verlust als traumatisch und weist leichte Verhaltensstörungen auf. Diese Verlustangst prägt sie und wird auch im Verhältnis zu Fräulein von Bernburg eine Rolle spielen. So, so, da hatten sie’s. Warum ließ man sie allein. Warum nahm man ihr ihre Mutti weg. Immer hatte Berti sie, Berti ganz allein für sich. Das war ungerecht. Sie, sie brauchte, daß Mutti nebenan schlief. Sie konnte nicht allein ins Bett gehen. Ja, sie stand zu spät auf. Aber warum soll man aufstehen, wenn man Mutti nicht guten Morgen sagen kann? Wozu? Wozu? 46 Manuelas Liebe zu ihrer Mutter auf eine pure, kindliche Idealisierung zu schieben, wäre aber zu kurz gefasst. Dies wäre auch nicht hilfreich, um zu erklären, warum sich der Text (und Film) für eine spätere Generation so gut für eine lesbisch-feministische Identifikation anbot. Die Mutter ist vorbildhaft für Manuela. Gerade in ihrer sozialen Rolle zeigt sich der Vorbildcharakter der Mutter. Innerhalb der Soldatenfamilie ist sie nicht nur ein emotionaler Rückzugsort, sie gleicht die als negativ empfundenen Eigenschaften des Vaters: Eitelkeit, Genusssucht und auch eine gewisse Form von Faulheit, aus. Es sind allein die negativen Eigenschaften des Vaters, die die Familie latent zersetzen, als der Offizier den Dienst quittieren muss. Während dem Vater nichts als sein Männlichkeitshabitus bleibt, ist es die Mutter, die für die Familie sorgt, bis sie selbst unter dieser Last zerbricht und stirbt. Tun. Was sollte er tun? Er konnte nur eins: Befehlen. Was noch? Kriegswissenschaft - Taktik - Schießen - Pferde reiten. Er kannte auch ein paar Sprachen, aber nur soviel, als man zu einer Unterhaltung im Salon braucht. Einer Frau konnte er jegliches Schöne in allen Sprachen sagen, ob sie nun eine Prinzessin, eine Kellnerin oder ein Ladenmädchen war. Tun … Frau Kätes Augen ruhten auf ihrem Mann in seiner kindlichen Trauer. Sie streckte ihre Hand über den Tisch hinüber und streichelte die seine, wie einem Kind. […] Er konnte seine Gedanken noch nicht auf Zukünftiges einstellen. Er war über die Tatsache, daß er früher, als seine Kräfte nachgaben, aus seinem Beruf geschleudert wurde, noch nicht weg. […] Nichts hatte er. Nichts als seinen militärischen Grad und eine winzige Pension. Frau Käte seufzte. Sie sah wohl, daß sie die Zügel in die Hand nehmen mußte. 47 45 Ebenda, S. 17. 46 Ebenda, S. 55f. 47 Ebenda, S. 58. <?page no="150"?> 149 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text Ausschließlich die Energie der Mutter, die Beständigkeit verkörpert, hält die Familie zusammen. Begriffe wie ‚Treue‘, ‚Sorgsamkeit‘ und ‚Anstand‘ verbindet Manuela nur mit ihrer Mutter. Wenn Manuela später diese Eigenschaften in Elisabeth von Bernburg wiederentdeckt, die auch die negativen Energien der anderen Erzieherinnen auszugleichen sucht, imitiert ihre Zuneigung nicht die Liebe zu einer Mutter. Aus einem lesbisch-feministischen Kontext stellt es sich anders dar. Die Vorzüge, welche Manuela durch ihre Mutter als ‚weiblich‘ und liebenswert erfahren hat, können tatsächlich als Argument dafür dienen, dass sie ein weibliches Wesen per se als liebenswerter empfindet als ein männliches. Die Mutter ist für Manuela sowohl ein (erotisches) Liebesobjekt als auch ein Vorbild. Manuelas spätere Wahl eines weiblichen Liebesobjekts ist in der Romanhandlung von dieser Prägung geleitet. Sie verwendet auf ihre Mutter Beschreibungen, die sich einiger Aspekte eines romantischen Liebesdiskurses bedienen, doch empfindet sie die Mutter nicht als die Andere, sondern versucht, Teile ihres Selbst nach dem Vorbild der Mutter zu entwickeln. Sie sieht in ihr auch den einzigen Gegenentwurf zu der gynophoben Gemeinschaft des Militärs. Die Liebe, die sie ihrer Mutter entgegenbringt, birgt einen Bruch mit der paternalistischen Herablassung ihres Vaters und der männlich-militärischen Welt, die dem kunstsinnigen, feingeistigen Mädchen widerstreben. Und nicht nur das, der Lebens- und Realitätssinn wird allein durch die Mutter gestärkt. Die Mutter ist, auch wenn sie in ihrer Bescheidenheit sich die Eigenschaft der Stärke nie selbst attestieren würde, die starke Frau. Sie ist mächtig, geistig überlegen und eine Frau, die „die Zügel in die Hand nehmen mußte“. Die Männer, die Manuela in ihrer Kindheit kennenlernt, halten sich zwar für stark, sind es aber nicht. Durch ihre Liebe zu Fräulein von Bernburg zeigt Manuela, dass sie die patriarchalisch geprägten Regeln und die symbolische Ordnung der Erziehung zu einer Soldatenmutter durchbrechen will, denn auch die Frau, in die sie sich verliebt, ist selbstständig, lebenskompetent und lehnt eine nichtige Existenz ab. Sie ist ebenso mächtig, wenn nicht noch mächtiger als ihre Mutter. Obwohl Fräulein von Bernburg äußerlich streng wirkt, sind ihr Gerechtigkeitssinn und ihre aufrichtige Zuneigung zu den Mädchen ein subversives Element innerhalb des „Militärhauses für Mädchen“. Sowohl an dem Fräulein als auch damals an ihrer Mutter schätzt Manuela eine vermeintlich den Männern vorbehaltene Stärke. Diese feministische Leseweise entspringt freilich einem Konzept von Frauenliebe der zweiten feministischen Bewegung. Dort gilt sie als wehrhaft gegenüber Militarismus und Chauvinismus. Im Roman, der uns so viel über die Mutter erzählt, ist Manuelas Präferenz gegenüber Frauen sozial geprägt. Manuelas Zuneigung zu Frauen scheint auf ihren Kindheitserfahrungen zu basieren. Schon vor dem Eintritt in das Stift ist deutlich, dass ihr Frauen attraktiver erscheinen als Männer. Das wird im Text dadurch erklärt, dass sie mit Frauen andere Lebensmöglichkeiten verbindet als mit Männern, die sie zu einer botmäßigen Ehefrau machen würden. Das Schicksal ihrer pflichttreuen Mutter ist ihr eine Warnung. Sie kann in einer feministischen Lesart als eine Kritik am Patriarchat angesehen werden, dem sich die anderen Erzieherinnen im Stift so ehrlos unterwerfen, indem sie der Erziehung von weiblichen Marionetten dienen. Während die Oberin das Patriarchat völlig internalisiert hat und die Mädchen zu gefühllosen Soldatenmüttern drillen will, sind die beiden liebenden Frauen emotionale Rebellinnen. Eine Soldatenmutter ist eine Frau, die sich sowohl in ihrer sozialen <?page no="151"?> 150 VIII Frauenliebe Rolle als auch in ihrem einzigen politischen Zweck völlig passiv der Männerherrschaft dienstbar macht. Manuela, aber auch Fräulein von Bernburg wollen nicht zu dieser Art von Frauen werden. Sie haben einen weiteren Begriff von ihren sozialen Möglichkeiten, eine Sichtweise, die sie mit Feministinnen teilen. Das 20. Jahrhundert bot Frauen mehrere erfolgreiche Lebenskonzepte und vereidigte sie nicht mehr ganz so strikt auf die Ehe. Das Gefühl, dass Frauen für Manuela interessanter sind, hat sie, als sie das erste Mal die liebreizende Mutter ihres charmanten Verehrers Fritz kennenlernt. An Fritz ist nichts auszusetzen, er ist hübsch und lieb, doch eindeutig überstrahlt die Mutter den Sohn. „Wie gefällt dir meine Mutter? “ fragte er leise in ihr Ohr. Und Lela, ohne ihn anzusehen, antwortete: „Sie ist wunder-, wunderschön.“ Mehr konnte sie um alles in der Welt nicht sagen, sonst hätte sie geweint. Sie kämpfte und kämpfte einen Knoten in ihrem Hals hinunter und zwinkerte rasch mit ihren Augen, um die Tränen, die ganz dumm, lächerlich und ungerufen in ihren Augen standen, zu bändigen. Sie schluckte, so gut sie konnte, und Fritz kam ihrem Ohr ganz nahe, so daß sie seine Haare fühlte. „Du - ich bring’ dich nachher zu ihr, sie will dich sehen! “ Lela biß sich auf die Lippen vor Erregung. Ihr Mund wurde rot und dunkel. Die Tränen hatte sie zurückgedrängt, aber es blieb ein Glanz zurück. Ihre Haare waren gescheitelt und fielen auf ihre Schulter. Ihre Arme waren nackt, mager und hilflos. Sie schämte sich für ihre Arme. Fritzens Mutter hatte weiche, weiße Arme und schöne Hände - schöner als Fritz. Fritzens Hand begann ihr weh zu tun. Sie war knochig. Die Hände seiner Mutter waren sicher sehr weich und zart zum Anfassen, das sah man schon, wenn sie spielte. Und ganz kleine Füße hatte sie, Fritz hatte große Füße. 48 Manuela beginnt sich auf scheue Weise in diese Frau zu verlieben, die jedoch nur zwei der Vorzüge, nämlich die Herzlichkeit und Schönheit, aufzuweisen hat, die Manuela durch ihre Mutter als frauenspezifisch kennengelernt hat. Wie in anderen Liebesromanen deutet die erste erwachende Leidenschaft (hier für die Mutter ihres Verehrers) auf die spätere, wirkliche Liebe, die sie zu Fräulein von Bernburg entwickeln wird, hin. Es lässt auch bei dieser Verliebtheit in die Mutter von Fritz nichts auf eine psychische oder gar physische Störung schließen, sondern sie rührt von den Erfahrungen der zu dem Zeitpunkt schon mutterlosen Manuela. Im Roman stehen die eigene Mutter, die Mutter von Fritz und die Mutterfigur der Stiftsschülerinnen, Elisabeth von Bernburg, in einer paradigmatischen Beziehung. Die beiden realen Mütter in Manuelas Vorgeschichte prägen die Gefühle, die Manuela auf Fräulein von Bernburg richtet. Sexuell können ihre Gefühle nur in letzterem Fall genannt werden, die durch eine Frau ausgelöst werden, die eben nicht ihre Mutter ist oder sein könnte (der Altersunterschied im Roman beträgt 14 Jahre, minderjährige Mütter galten um 1900 keineswegs als Regelfall). Mit der Liebe zu Fräulein von Bernburg, die sie, ihren eigenen Aussagen gemäß, mehr als ihre eigene Mutter liebt, strebt Manuela nicht der verlorenen Mutter-Kind-Beziehung nach, sondern findet in dieser Liebe wieder, was durch ihre Mutter als erstrebenswert figuriert wurde. Die feministische Literaturwissenschaftlerin Suzanne Juhasz expliziert in A desire for women, dass die Mutterbeziehung als erste roman- 48 Ebenda, S. 76. <?page no="152"?> 151 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text tische, erotische Beziehung einer Frau gesehen werden muss, die sich für die lesbische Liebe entscheidet. Sie wählt zur Illustration ihrer These Texte des 20. Jahrhunderts. Lesbian sexuality, in which erotic desire between women finds active expression, interrogates the presumption that the erotic element in the mother-child relationship must be channeled in opposite-sex directions for the achievement of normative adult sexuality. The presence of desire in love between women must be acknowledged, whether or not it leads to an adult sexual practice. Most important, the lesbian fantasy of complementary identification, in which both attachment and identificatory love - the desire to have and to be - combine, finds its source in the mother-infant romance. 49 Genau als diese Kombination zwischen Verbundenheit und Identifikation, zwischen dem Wunsch, etwas zu berühren und zu liebkosen und dem Wunsch, selbst so zu sein, lässt sich Manuelas spätere Liebe zu Fräulein von Bernburg lesen. Sie wird begehrt als eine Verbündete und doch ist sie ebenso ein Vorbild an Intelligenz und Stärke, dem Manuela nacheifert. Diese erste erfahrene Liebe, die Mutterliebe, formt, so zeigt Juhasz anhand literarischer Analysen, auch die Wahl der kommenden Liebesobjekte, weil Frauen, die auch später im Leben andere Frauen lieben und begehren, diese Liebe in gewisser Weise auf ihre Mutter rückbeziehen bzw. sich die lesbische Liebe darauf rückbeziehen lässt. Lesbische Texte, so eine der Thesen von Juhasz, nähren ihre Erotik und ihre Zuneigung gegenüber Frauen aus dem, was sie bei der Mutter an Liebe, an Verhaltensmustern oder auch an Ablehnung erfahren haben. Die Autorin nutzt zur Beschreibung dieses Zusammenhangs eine Metapher, die sie von Audre Lorde übernimmt: „There it is said that the desire to lie with other women is a drive from the mother’s blood.“ 50 Mädchen in Uniform kann als Text verstanden werden, der die von Juhasz beschriebene Poetik entwickelt. Das Buch zum Film bietet eine soziale Erklärung der lesbischen Liebe, die Jahre nach Entstehen des Romans als lesbische Poetik gelten soll. Der Film, der auf das Verhältnis zwischen Manuela und ihrer Mutter weniger explizit eingeht, jedoch auch eine tiefe Bindung zwischen Mutter und Tochter hervorhebt, lässt sich, auch ohne das Buch, in den 1970er Jahren als sozialer Diskurs über lesbische Liebe lesen. Im Grunde erweitert der Text von Winsloe auf ästhetischem Feld die in ihrer Zeit gültige wissenschaftliche Diskussion um lesbische Liebe produktiv, gerade weil er sich der damals gängigen Vorstellung von weiblicher Homosexualität verweigert. Wir sollten jedoch nicht davon ausgehen, dass Winsloe diese Diskurserweiterung bewusst betreibt. Sigmund Freud war zwar einer der ersten Wissenschaftler, der die Frage nach genetischen Vorbedingungen für die Homosexualität als unbedeutend erachtete. In Zwang, Paranoia und Perversion beschreibt Freud einen Fall von weiblicher Homosexualität, bei dem er der Liebe zu der anderen Frau die Qualität eines Mutterersatzes zuschrieb. 51 Hier wird explizit die weibliche Homosexualität als eine Folge der Bindung an Frauen gesehen. Dass diese psychologische Einschätzung jedoch die Drehbuchautorin beeinflusst hatte, scheint mir unwahrscheinlich. Der Gedanke, dass die weiblich-weibliche Bindung 49 Suzanne Juhasz: Relational Psychoanalysis, Writing, and Relationships Between Women, S. 20. 50 Ebenda, S. 188. 51 Vgl. Sigmund Freud: Zwang, Paranoia und Perversion. Studienausgabe. Band VII. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1973, S. 255 - 281. <?page no="153"?> 152 VIII Frauenliebe keine Frage von Sex und Gender, sondern von gesellschaftlichen Bedingungen ist, wurde erst viel später en vogue. Der Erfolg von Mädchen in Uniform zeigt jedoch, dass es, unabhängig von sexualwissenschaftlichen Definitionen, im Medium der Kunst Versuche gab, den Definitionsrahmen weiblich-weiblicher Liebe zu erweitern. Die Autorin entwickelt durch ihre Figuren eine Vorstellung von erotischer Frauenliebe, indem sie Erklärungen anbietet, die scheinbar spätere Diskurse um lesbische Liebe vorwegnehmen bzw. sie befördern. Dies ist der Grund dafür, dass der Film zu späteren Zeiten zu einem lesbischen Kultobjekt wurde. Der soziale und sexualwissenschaftliche Hintergrund schloss zur Zeit der Entstehung des Films (und des Buches zum Film) für die Rezipient*innen, ja selbst für die Autorin aus, den Begriff der Homosexualität auf Manuela und Elisabeth zu applizieren, weil dieser mit einer naturbedingten Manifestation des Andersseins (in den Kategorien Sex und Gender) operierte, die weder Manuela noch ihre Lehrerin aufweisen. Gleichzeitig bieten Film und besonders Buch eine Deutung für die Frauenliebe, die später als dezidiert lesbische Poetik galt. Diese Poetik basiert auf dem Rückbezug des gegenwärtigen Gefühls auf die Liebe zur Mutter. Diese emotionale Bindung ist feministisch auslegbar, denn die starke Mutterbindung Manuelas basiert nicht auf einem pathologisch indizierten Mangel, sondern im militärischen Kontext, in dem Manuela aufwächst, gilt allein die Mutter als sinnliche und liebenswerte Person. Ihre Rolle für das Mädchen überstrahlt die des Vaters bei Weitem. Dass in einem Kontext, in dem die Vorstellung von lesbischer Liebe von pathologischen Vorstellungen emanzipiert werden sollte, eine solch patriarchatskritische Erklärung für die Frauenliebe reizvoll ist, ist nicht verwunderlich. Eine weitere Poetik des Textes, die sich an die intradiegetische Betonung der Vorbildfunktion der Mutter fügt, liegt in der Rebellion gegen eine zu enge Genderrolle. Diese Rebellion operiert nicht mit der Vorstellung, dass die rebellierende Protagonistin sich im falschen Körper befände, nur weil sie den Wunsch verspürt, die weiblichen Gendergrenzen zu erweitern. Weibliche Genderrollen, wie sie von Männern erdacht sind, kritisch zu hinterfragen, war ein Anspruch, den die bürgerlichen Frauenbewegungen schon immer hatten (vgl. Kap. II). Manuela trägt eine gewisse Verachtung für die weibliche Rolle zur Schau, wenn diese mit reiner Passivität einhergeht. Der Roman wartet nicht mit der Vorstellung eines ‚invertierten Subjekts‘ auf. Zu deutlich wird betont, wie attraktiv Manuela ist und dem heutigen Verständnis gemäß rebelliert sie mit ihrer Vorliebe für bequeme Kleidung und Freiheit nicht generell gegen ihren weiblichen Körper oder die ‚natürlichen‘ Bedingungen ihrer weiblichen Körperlichkeit. Sie rebelliert nur gegen die enge Gendernorm ihrer Zeit. Ihr Wunsch, sich wie Fräulein von Bernburg der Ehe zu verweigern und nicht zu einer emotional verkrüppelten Soldatenmutter zu werden, ist sozial determiniert, da sie wie ihr Vorbild auf Selbstständigkeit hofft. Sie will, zumindest aus dem Blickwinkel einer Autorin, die nach der ersten feministischen Bewegung diesen Text verfasst hat, nicht ihre Weiblichkeit negieren, nur die enge soziale Norm, die um 1900 damit verbunden war. Die Rebellion gegen eine zu patriarchalisch gesetzte Vorstellung von Weiblichkeit und die feministische Sinnschöpfung für weibliche Existenz passen sehr gut in den lesbisch-feministischen Kontext, in dem der Film in den 1970er Jahren rezipiert wurde. Für meine queere Analyse war besonders interessant, wie es Christa Winsloe gelang, das Themenfeld der Liebe einer Schülerin zu ihrer Lehrerin auszuloten, ohne moralisch anzuecken. Obwohl Winsloes Text in leisen Anklängen den sexualwissenschaftlichen Versuchen, <?page no="154"?> 153 Christa Winsloe: Mädchen in Uniform (1931/ 1933) als (nicht) lesbisch gelesener Film/ Text lesbische Liebe zu erklären, Rechnung trägt, indem sie dieses Mädchen burschikos gestaltet und tatsächlich Manuelas Gefühle für Elisabeth von Bernburg von den schwärmerischen Gefühlen abheben will, die die anderen Schülerinnen für das Fräulein hegen (etwas, das in der Verfilmung mit Romy Schneider verschwimmt), entwickelt sie ihre Figuren nicht anhand der zeitgenössischen Diskurse über Homosexualität. Das Gedankenkonstrukt einer butch-femme-Beziehung lässt sich nicht aufrechterhalten. Wenn die Lehrerin, was bereits eine Verschiebung darstellt, auch für uns wie die femme erscheinen mag, die umschwärmt wird, so stellt der Text die Frage nach Elisabeth von Bernburgs heterosexueller Orientierung ebenso deutlich. Die schöne Frau, der es nicht schwerfiele, von einem Mann geheiratet zu werden, ja die sogar schon verlobt war, wählt die schlichte Arbeit mit den Schülerinnen. Sie entscheidet sich sogar bewusst gegen eigene Kinder, um sich um andere Kinder sorgen zu können und sieht nicht die Ehe, sondern ihre Existenz als Lehrerin als ihre Berufung. Elisabeth von Bernburg lebt lieber in einem lesbischen Kontinuum als dem vom Patriarchat geforderten Bruch mit den weiblichen Allianzen zu gehorchen. Sie widersetzt sich der für Frauen als adäquater geltenden Rolle, nämlich der der Ehefrau und Mutter. Sie ist eine Entsagende, doch sie spürt zu Manuela, was der Text auch explizit macht, eine besondere Liebe. Manuela macht sie glücklich. Der Vorstellung eines ‚invertierten Subjektes‘ namens Manuela, das ein durchweg der heterosexuellen Norm entsprechendes weibliches Wesen begehrt, welches sich ihm verweigern würde, wird durch Elisabeths willentliches Verharren in der homosozialen Gemeinschaft jeglicher Boden entzogen. So wenig wie Manuela eine butch zu sein scheint, so wenig ist allerdings auch das verehrte Fräulein eine heteronormative Frau. Allerdings ließe sich Elisabeth von Bernburgs Eheverweigerung kaum als Nichtakzeptanz ihrer Geschlechtsrolle konstruieren, da diese Frau mit zu viel Seelenreinheit bebildert ist, als dass sie Assoziationen einer männlichen Genderrolle wachruft. Sie einen ‚Mann im falschen Körper‘ nennen zu wollen, zerbricht an ihrer musterhaften Tätigkeit als Erzieherin, einer Befähigung, die zeitgenössisch weibliche Wesen auszeichnete. Was immer der Film als Indiz für Homosexualität andeutet, dekliniert er nicht aus. Mädchen in Uniform ist in jeder Hinsicht ambivalent. Der Film und das Buch verweigern medizinische Erklärungen und wenden soziale Muster an, um die Zuneigung Manuelas zu motivieren. Eine soziale Erklärung für lesbische Liebe geht besonders im Buch zum Film sehr gut auf. Der Film und auch das Buch zum Film frappieren noch heute. Genauso bemerkenswert ist die Rezeptionsgeschichte. Aus der queeren Perspektive wird allerdings erklärbar, was auf den ersten Blick unverständlich wirkt. Wenn wir einen queeren Blick auf diesen Film richten, fügen wir der Rezeption im zeitgenössischen und im lesbisch-feministischen Kontext keine letztgültige Deutung hinzu. Durch den queeren Blick wird kontrastiert und sichtbar, weshalb in dem jeweiligen historischen Kontext dieser Film als homosexuell bzw. als nicht homosexuell galt. Diesen Film queer zu betrachten, öffnet sich beiden hier vorgestellten Perspektiven. Es wird ein Begehren thematisiert, das nicht heteronormativ ausgerichtet ist. Dieses Begehren ist nicht als lesbisches Begehren kodiert. Zumindest nicht zur Zeit der Entstehung dieses Kunstwerkes. Das, was die Frauen empfanden, ließ sich nur als ‚Liebe‘ überschreiben. Mädchen in Uniform war ein Liebesfilm, aber kein Film über sexuelle Devianz, denn die Liebe <?page no="155"?> 154 VIII Frauenliebe dieser Frauen erschien legitim, weil die Frauen in ihrer Gendernorm nicht anstößig waren. Ihr mustergültiges Gender (und ihre Liebe) prädestinierte diese beiden Figuren sogar zu Identifikationsfiguren, denn wohl keine der Zuschauerinnen sympathisierte mit den unattraktiven Lehrerinnen, den meist dummen Schülerinnen oder gar mit der verrohten Oberin. Die Liebesfähigkeit der Hauptfiguren rundet das Bild von ihrer gelungenen weiblichen Genderrolle ab. Sentimentalität erschien, gerade im Kontext dieses Mädchenstifts, als eine weibliche Tugend, aber auch als Weg weiblicher Rebellion. Dies beförderte in späteren Jahren eine Lesart des Films als Lesbenfilm bzw. Frauenkultfilm. Dezidiert müssten wir sagen: Ungefähr 40 Jahre nach seiner ersten Filmpremiere wurde aus einem Frauenkultfilm ein Lesbenkultfilm, weil ab den 1970er Jahren die dort dargestellte Zuneigung der Frauen sehr gut in die damals feministisch gängige Kategorie von lesbischer Liebe passte. Eine heutige queertheoretische Perspektive erlaubt es, hinzuzufügen: Der Film ist zeitlos, weil er kein Lesbenfilm ist oder nicht nur einer ist. Aus einer wiederum 40 Jahre jüngeren Perspektive könnten wir sagen, Mädchen in Uniform erscheint uns als queerer Film. Er verweigert es, die emotionale Bindung beider Frauen eindeutig zu kategorisieren. Sie ist ein Versprechen, das unbestimmt und widerständig bleibt. <?page no="156"?> 155 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) In diesem Kapitel geht es um einen Text, den wir als ‚schwule Literatur‘ bezeichnen könnten, weil er von einer sexuellen Liaison zweier Schuljungen handelt. Kleinstadtnovelle widmet sich der männlichen Homosexualität, allerdings nähert der Text sich dem Phänomen auf eine Weise, in der schwule Identität als eine Zuschreibung gesehen wird, die männliche Personen, die die Grenze zwischen Homosozialität und Homosexualität nicht aufrechterhalten, erst dann bekommen, wenn sie die männliche Gendernorm nicht zufriedenstellend erfüllen. Das genau passiert nämlich dem Abiturienten B., der sich in seinen Mitschüler Leif verliebt: An B. soll daraufhin ein Exempel statuiert werden. Leifs Eltern möchten, dass B. wegen der Verführung ihres Sohnes der Schule verwiesen wird. Die Verantwortung für die gleichgeschlechtliche Sexualität wird seitens der Erziehungsberechtigten allein der Ich-Figur der Novelle übertragen. Während Leif nämlich ein männliches Rollenverhalten an den Tag legt und deshalb auf seine Umgebung nicht ‚schwul‘ wirkt, ist B. ein junger Mann, der sich nicht eindeutig mit der klassischen Männerrolle identifiziert. Das erklärt ihn in den Augen der konservativen Gesellschaft zum ‚Verführer‘, Leif zum ‚Opfer‘. Es geht also in diesem Text nicht vordergründig um tabuisierte Sexualität, sondern um normwidriges Gender. Das ist nicht sofort intuitiv nachvollziehbar, denn wir würden annehmen, zumindest wenn wir nicht queer denken, dass die Überschreitung der Grenze zwischen männlicher Homosozialität und Homosexualität von sexuellen Handlungen und nicht vom Rollenverhalten abhängt. In Schernikaus Text ist jedoch das Rollenverhalten die ausschlaggebende Komponente für die Diskriminierung, der die Hauptfigur ausgesetzt ist. Der Autor Ronald M. Schernikau (1960 - 1991) hat eine bewegte Lebensgeschichte. Er gilt als „der letzte Kommunist“, so auch der Titel der umfangreichen Biographie, weil er im Jahre 1989 der letzte Bundesbürger war, der am 9. Oktober 1989 die Staatsbürgerschaft der DDR erhalten hatte, kurz bevor am 9. November 1989 die Mauer fiel und somit sein Aufnahmeantrag hinfällig wurde. Nach der Wiedervereinigung verstarb Schernikau als junger Mann an Aids. Er hinterließ ein umfangreiches Prosawerk. 1 Schernikau studierte seit 1986 in Leipzig am renommierten Literaturinstitut Johannes R. Becher. Schon von Kindesbeinen an fühlte sich Schernikau mit der DDR verbunden. Seine Mutter war mit ihm 1966 illegal in die Bundesrepublik gegangen, jedoch nicht, weil sie das politische System des Westens präferierte, sondern weil der Vater von Ronald seit 1960 in Westdeutschland lebte und Ellen Schernikau gehofft hatte, die Familie durch die Flucht zusammenzuführen. Diese Hoffnung zerschlug sich, weil der Mann bereits verheiratet und an einem Zusammenleben nicht interessiert war. Aufgrund ihrer guten Berufsausbildung gelang es Ellen Schernikau, für sich und ihren Sohn ein materiell gesichertes Leben aufzubauen, wobei Ostdeutschland weiter ihr Bezugspunkt und Sehnsuchtsort blieb, den sie erst ab 1972 wieder bereisen durfte. Von dem Lebensge- 1 Vgl. Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau. Berlin 2008. <?page no="157"?> 156 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität fährten Schernikaus, Thomas Keck, ist posthum das Manuskript herausgegeben worden, in dem Schernikau die bewegende Geschichte seiner Mutter verarbeitet hat. 2 Die Mutter lebt heute wieder in ihrem Heimatort Magdeburg, der gleichzeitig der Geburtsort Ronalds war. Das ‚M.‘ führte Ronald in seinem Namen, um die Verbundenheit mit seiner DDR-Heimatstadt zu dokumentieren. Es steht für Mauritius, den Schutzheiligen Magdeburgs. Schernikaus politische Distanz zum kapitalistischen System ist zwar auch in seinem Debüttext spürbar, jedoch nicht Gegenstand dieser Erzählung. Kleinstadtnovelle ist keine einfach rezipierbare Bekenntnisliteratur. Der Text wirkt auf heutige Leser*innen artifiziell. Er brach mit Erwartungen, denn statt - wie von einem ‚schwulen Autor‘ anzunehmen - eine eindeutig politische Positionierung zur ‚Homosexualität‘ zu sein, erzählt diese Novelle etwas über die Bedeutung der männlichen Homosozialität. Das tut sie, bevor Eve Sedgwick auf wissenschaftlicher Ebene ‚Homophobie‘ und ‚Homosozialität‘ als Stützpfeiler des Patriarchats ausweist. Wir müssen verstehen, was der Text über männliches Gender und männliche Homosozialität aussagt. Mit einer queeren Haltung sollten wir vom Text nicht erwarten, dass er uns ein festes Konzept von klarer schwuler Identität präsentiert. Wenn wir nicht gleich die Hauptfiguren des Textes (B. und Leif) als ‚schwul‘ kategorisieren, verstehen wir besser, welche Rolle der Text homosexuellen Handlungen in der homosozialen männlichen Bande zuerkennt und was als die Voraussetzung für die Anerkennung als ‚Mann‘ darstellt wird. Kleinstadtnovelle ist ein Text, der postuliert, dass die Verweigerung von Emotionalität ein viel strikteres Kriterium für ‚Männlichkeit‘ darstellt als die Vermeidung homosexueller Kontakte im homosozialen Rahmen. Um die Besonderheit dieser Novelle zu erfassen, bedarf es einer queeren Lektüre. Gelingt es nämlich, sich auf den Schreibstil Schernikaus einzulassen, verblüfft der Text mit seiner Radikalität. Der junge Autor weist schon eine erstaunliche Reflexivität gegenüber der gesellschaftlich virulenten Vorstellung von einem ‚Schwulen‘ auf. Der Roman plädiert nicht nur für die Befreiung der Sexualität aus den Grenzen herkömmlicher Moral, sondern vor allem dafür, dass befreite männliche Sexualität nur dort gelebt werden kann, wo männliches Gender von Selbsthass und Emotionslosigkeit befreit ist. Er kritisiert die historisch gewachsenen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität, die sich in Ausschlussprozessen materialisieren. Die Infragestellung fester Identitätslogiken konnte 1980, als die Novelle veröffentlicht wurde, noch keine breite wissenschaftliche Geltung beanspruchen. Erst in den 1990er Jahren, die der früh verstorbene Schernikau nicht mehr erlebte, wurde dies Bestandteil queerer Episteme. Im Medium der Literatur wagte der junge Schriftsteller eine Neustrukturierung des Wissens über schwule Identität. Der Text versprüht etwas völlig ‚Unangepasstes‘. Schernikau verzichtet auf Großschreibung, so dass der Text formale Grenzen überschreitet. Dieses formale Mittel setzte Verena Stefan (1947 - 2017) in ihrem berühmten feministischen Klassiker Häutungen (1975) 3 ein, weil sie die Sprache als eine männliche Sprache ansah und es von ihrem Standpunkt aus 2 Vgl. dazu Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung. Hrsg. von Thomas Keck. Mit einem Vorwort von Dietmar Dath und einem Interview zwischen Ellen Schernikau und Claudia Wangerin.-Berlin 2010. Anlässlich Schernikaus 50. Geburtstags hat es Lesungen und Besprechungen dieses Buches gegeben. 3 Vgl. Verena Stefan: - Häutungen. Autobiografische Aufzeichnungen. Gedichte, Träume, Analysen.- 1. Auflage. München 1975. <?page no="158"?> 157 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) einer neuen Schreibung und einer neuen Wortfindung bedurft hatte, um sich als Frau erklären zu können. Häutungen ist deshalb so berühmt, weil der Roman markant thematisiert, in welch streng definitorischen Grenzen sich die weibliche Sexualität bewegt und dass Befreiung für Frauen bedeutet, diese Grenzen einzureißen. Der Roman gilt als einer der bahnbrechendsten feministischen Bekenntnistexte. Der neunzehnjährige Autor Ronald M. Schernikau, 4 der bei seinem Debüt 1980 noch acht Jahre jünger war als die feministische Autorin Stefan es 1975 bei ihrem gewesen ist, muss nicht notwendigerweise durch die Autorin inspiriert gewesen sein. Dieses formale Mittel der Kleinschreibung schien ihm wahrscheinlich einfach ebenso evident wie der feministischen Generation seiner Zeit, denn sein Standpunkt zu Bekenntnisliterat*innen, zu denen er die Autorin Stefan zählt, ist distanziert. 5 Trotzdem ist ein Vergleich nicht von der Hand zu weisen. Schernikaus Text ist bestrebt, ‚Männlichkeit‘ aus patriarchalischen Fesseln und Definitionen zu befreien. Diese Haltung ist ein maskulinistisches Pendant zu den feministischen Aufbrüchen seit den 1970er Jahren. Während in lesbisch-feministischen Kreisen die homosexuelle Lebensweise einer Frau als Widerstand gegen das Patriarchat angesehen wurde, spricht Schernikau der Entscheidung seiner Hauptfigur zur Homosexualität dieselbe patriarchats- und genderkritische Wirkung zu. Die Analogie zu der lesbischen Lebensweise als Kritik zum herrschenden Weiblichkeitsideal ist dadurch gegeben, dass der als schwul geltende Mann im Text sich mit seiner Identität ebenfalls sehr kritisch gegenüber der patriarchatskonformen Männlichkeitsrolle zeigt. Es geht ihm nicht um ein Bekenntnis zu einer anderen Männlichkeit, vielmehr zeigt er die Aporien, die Bruchstellen, Schmerzstellen der herkömmlichen Männlichkeitsvorstellung auf, der er sich verweigert. Schernikaus autobiographisch konzipierte Hauptfigur B. hasst den männlichen Habitus seiner Mitschüler. Da er sich diesem nicht anzupassen gedenkt, erklärt ihn seine Rebellion gegen männliches Gender in der dargestellten Form für seine Umgebung viel eindeutiger zum Schwulen als es ein Bekenntnis in Richtung seines Begehrens täte. denn natürlich ist b. schwul. er geht mit den mädchen auf den schulhof, sieht sich um, grüßt, bleibt stehen und ist schwul. 6 Doch es ist nicht so, dass für B. das schwule Identitätsraster, in das er sich bewusst einreiht, unproblematisch bleibt. vielleicht ist das bewußte tragen des rosa winkels, der kennzeichen der schwulen in kzs war, die nur komische überschätzung der eigenen isolation […]. wie normal ist b.? 7 Ist das Bekenntnis zu einer schwulen Identität eine Befreiung oder baut man sich sein eigenes Ghetto? Der Text verwirrt die Kategorie der Homosexualität mit der der Heterosexualität. 4 Weitere Informationen zu Schernikaus Schaffen finden sich unter www.schernikau.net (letzter Zugriff 15.1.2018). 5 Vgl. ronald m. schernikau im gespräch mit stefan ripplinger, westberlin, 6.6.1987. www.schernikau.net/ biografie/ rms-revisited.html (letzter Zugriff 11.2.2019). Siehe auch Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle. 2. Aufl. Konkret Literaturverlag, Hamburg 2009 [erste Aufl. Berlin 1980], S. 37. 6 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle, S. 32. 7 Ebenda, S. 33. <?page no="159"?> 158 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität Insofern lässt sich der Text tatsächlich besser als queerer Text denn als betroffener Beitrag ‚Problem: Homosexualität‘ und Fragen gesellschaftlicher Akzeptanz oder als eine klassische Schwulengeschichte lesen. Die Novelle verweigert damit, ein Beitrag jugendlicher Problemliteratur zu sein. Die Hauptfigur hat kein Problem, weder mit ihrem Begehren noch mit ihrem Gender; sie bzw. ihre Sexualität wird allerdings öffentlich zu einem Problem gemacht. Dass dieser Text nicht um Mitleid buhlt, erkannten bereits die zeitgenössischen Rezensenten. Dem homosexuellen Schüler Schernikau war die Selbsterhaltung lieber: „Um mich zu wehren“, schrieb er knapp zwei Jahre an einem Buch, „in dem viel Rache steckt“. Das Ergebnis, das ganz und gar nichts mit wehmütiger Primanerpoesie zu tun hat, veröffentlichte jetzt der Rotbuch Verlag […]. „b.“ erfährt den Charakter der Schule bei einem Konflikt um seine Homosexualität […]. 8 B. wird nicht dadurch zum Problem, weil er sich der Kategorie des Schwulen bedient, die er sich bewusst durch sein Auftreten zu eigen gemacht hat, sondern weil er es wagt, diejenigen, die nicht als homosexuell gelten, nicht als kategorial von sich geschieden anzusehen. Während einer Schulfahrt hatte er mit einem Klassenkameraden geschlafen, der dieses Erlebnis nicht verkraftete und sich selber bei seinen Eltern verpetzte. Der Fall erregt Aufsehen. 9 Der Feuilletonbeitrag ist als Inhaltsangabe zu kurz gegriffen. Der Skandal wird nicht dadurch verursacht, dass er einmal mit einem Klassenkameraden geschlafen hat (die beiden wiederholen den Verkehr nach der Klassenfahrt außerdem regelmäßig, doch auch das ist nicht der Punkt), sondern weil B. zwischen sich und dem heterosexuellen Leif keine Grenze zieht. Im Bild gesprochen ist es B.s Verweigerung der Ghettoisierung der Schwulen, die ihn für die Gesellschaft gefährlich macht. Wenn schwule und nicht schwule Jungs sich auf dem Schulhof zusammenfinden, steht dann nicht die ‚Männlichkeit‘ eines jeden Jungen in Gefahr? Gewiss, denn die Heteronormativität gerät ins Wanken, wenn das Andere sich nicht mehr strikt als ‚der Andere‘ zu erkennen gibt und sich mit ‚den Normalen‘ gemein macht. Damit unterstreicht der Text die Relevanz von Queertheorie, die damals noch gar nicht akademisch bekannt, geschweige denn verbreitet war. Der junge Autor versucht, homosexuelle Handlungen gerade nicht mit einer festen Identität der Handelnden zu versehen, sondern der Querdenker Schernikau will das Schubladendenken aufrütteln. Für den widerständigen Schüler steht fest: Der Homosexuelle wird über sein Gender, also sein Rollenverhalten definiert. Schwulsein ist nicht per se eine feste Identität, genau zu dieser wird sie aber erklärt. Die Schule dient in dieser Novelle als symbolischer Ort für dieses administrative Bestreben der Grenzziehung. Für die Schule, als das Symbol des zu verbreitenden Wissens über alle Arten von Dingen, ist B. ein Feindbild, weil er dieses Wissen nicht bestätigt, sondern weil er sich scheinbar narzisstisch den Konzepten entzieht. 8 Wolfgang Spindler: Nicht zu ertragen. Ein Neunzehnjähriger schrieb eine Novelle über seine Schulzeit. In: Der Spiegel, 9.6.1980. www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-14323688.html (letzter Zugriff 15.1.2018). 9 Ebenda. <?page no="160"?> 159 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) In Rückblenden erkennt der gebrandmarkte „miese Schwule“ auf dieser Konferenz die unüberbrückbare Distanz zwischen ihm und dem System, das ihn erziehen soll. Er will seine Lebensfreude nicht von einer Allianz autoritärer Sachzwänge und provinzieller Lehrer-Mentalität ersticken lassen. 10 Wo liegt Schernikaus Pointe? Wie sieht das schwule Gender aus, wie differenziert es sich von dem der ‚normalen‘ Jungs? Scheinbar steht es nicht in schlüssiger Verbindung mit der Sexualität, die der Mann auslebt. Männliche Sexualität ist dieser Novelle nach eine Grauzone. Ob sie als homo- oder heterosexuell bewertet wird, liegt daran, welche Art von Männlichkeit durch die Subjekte verkörpert wird, die die gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen vollziehen. Der Schwule ist der notwendige Antipode jeglicher Männlichkeitswerdung im Patriarchat. Das ist er aber nicht, weil er homosexuelle Handlungen vollzieht oder gar genießt, dass ist er, weil er weibliche Eigenschaften verkörpert (wie Emotionalität), die unstatthaft für ‚richtige Männer‘ sind. Sexueller Austausch in den männlichen homosozialen Kontexten scheint unproblematisch und ist nicht verboten, solange er bestimmte Bedingungen einhält, wie die der Verschwiegenheit und der Emotionslosigkeit. Auf welche Art sich ein Mann sexuelle Befriedigung schafft, steht nicht zur Debatte, wenn es allein um seine Befriedigung, nicht etwa um Liebe geht. Die Intimität zwischen B. und Leif wird nur deshalb zum Skandal, weil sich beide Jungen über deren Bedingungen nicht einig sind. Für B. ist sie ein Ausdruck von Emotion, für Leif darf sie nur hedonistisch legitimiert sein, deshalb erschüttert und verunsichert ihn B.s Zuneigung. Die Novelle legt offen, dass die homosoziale Nähe unter Jungs, deren Grenzen zur Sexualität fließend sein können, eine Grundbedingung für Männlichkeit darstellt. Diese homosoziale Nähe kann sexuelle Akte einschließen, sie ist aber notwendigerweise gepaart mit Schwulenfeindlichkeit. Was auf den ersten Blick wie eine lächerliche Doppelmoral erscheint, nämlich, dass homosexuelle Akte unproblematisch sind, solange man sich dabei nicht als ‚homosexuell‘ begreift, wurzelt tief in der Vorstellung der heterosexuellen Matrix. Das Begehren allein definiert Menschen nicht. Die Definition entsteht erst, wenn Begehren äußerlich sichtbar gemacht wird, also wie bei B. mit dem Bruch der männlichen Genderrolle einhergeht. Erst dann wird dieser Junge als ‚schwul‘ erkennbar. Was er in seinem Jugendzimmer mit seinem Kumpel tut oder unterlässt, hat nicht per se die Macht, ihn zu definieren, im Gegenteil: sich emotionslos Befriedigung miteinander zu verschaffen, ist für ‚richtige Männer‘ kein Problem. Das Prädikat ‚schwul‘ allerdings durchaus. Erst wenn die sexuelle Handlung in einer bestimmten Sprache gespiegelt, analysiert wird, kann sie als homo- oder heterosexuell gelten. Die Kleinstadtnovelle ist kein adoleszenter und schon gar nicht popromanhafter Debüttext des Schülers Ronald M. Schernikau. Sie behandelt zwar die Adoleszenz, existentielle Verunsicherung und im weiteren Sinn erzählt sie auch davon, wie der Protagonist B. sich selbst als ‚schwul‘ begreift und warum; in erster Linie ist der Text aber ein Angriff auf feste Identitätskategorien. Er widmet sich der Affäre zwischen zwei Schulkameraden. Die Kategorie des Queeren stand in den 1980er Jahren den Rezipient*innen wie gesagt noch nicht offen, auch der Autor selbst kannte sie freilich nicht. Trotzdem macht es der Text schwer, die Beziehung zwischen B., der sich bewusst schwul gibt - sich rosa markiert -, und seinem attraktiven, 10 Ebenda. <?page no="161"?> 160 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität als heterosexuell und schwulenfeindlich geltenden Mitschüler einfach als homosexuelle Beziehung einzuordnen. Auch wenn die Kategorie ‚schwul‘ nicht ausgespart bleibt, lässt der Text erkennen, dass es ihm nicht um die Befestigung einer devianten Identität geht. Er argumentiert gegen so etwas wie das, was zeitgenössisch als das typisch Schwule verstanden wurde, obwohl er gleichzeitig B. als eine nicht heteronormative Figur darstellt. Die Novelle ist ein frühes Manifest für die Kategorielosigkeit, denn er macht keinen Hehl daraus, dass das Prädikat ‚schwul‘ nicht für jeden empfindsamen Menschen erstrebenswert ist. mache folgenden test, wenn du wissen willst, ob gerade ein schwuler an dir vorbeigeht, mutter: wippt dein opfer beim gehen? ist es gekleidet nach der neusten mode? hat er ein frustriertes gesicht? der durchschnittliche schwule hat ein gesicht wie eine sitzengelassene frau. er ist getreten worden, seit sich seine kindesbeine behaarten: nicht nur massenmedien arbeiten daran und eltern, auch psychiater. 11 Die herrschende Kategorie des Homosexuellen wird von Schernikau abgelehnt, sie ist ein affirmativer Widerspruch („die ehrenrettung des sich der bürgerlichen moral entziehenden durch den bürger kann nur bürgerlich sein, also absurd.“), 12 bestätigt sie die bürgerliche Welt doch in ihrer Definition vom Anderen: „und b. langweilt das tuscheln der anderen: hast du den? , guck mal der! , ist das nicht? […]. wie normal ist b.? b. wird ermuntert, sich zu schminken.“ 13 Es gibt diesen geschminkten Schwulen, den er darstellt, für B. gar nicht als unverbrüchliche Erscheinung der Natur, er ist ein performatives Produkt, geschaffen aus Vorurteilen, abgekoppelt von Sexualität. ‚Schwul-Sein‘ ist eine Kategorie und der kritisch denkende junge Mann empfindet es so, dass es den Menschen Freude bereitet, wenn er diese Kategorie äußerlich bedient. Das tut er nicht ungern - „b. zieht noch nen dicken pullover drunter, schlingt sich den gürtel um die taille, sieht von hinten wie ein mädchen aus,“ 14 - aber doch empfindet er seine gesellschaftliche Rolle des Schwulen als beengend: „es gibt diffamierung in jeder form, es gibt sie in ratlosigkeit, verlegenheit, lachen oder behandlung.“ 15 Die Parallelen zwischen B. und Ronald Schernikau, der wie seine Hauptfigur kurz vor dem Abitur in einer Kleinstadt stand und als ‚anders‘ wahrgenommen wurde, sind offensichtlich. B. lebt schwul, insofern dass er anders aussieht, sich in Jungs verliebt. Sein selbstbewusstes Auftreten überdeckt nur, dass er sich manchmal sein Leben auch jenseits dieser Kategorie erträumt: „ein kerl sein ein traum, nur halbschwul, nur halb, alles in der schwebe lassen, provozieren oder schweigen.“ 16 Die Novelle handelt weder von einem Coming-out noch von einer Jungenliebe oder den Widerständen gegen eine solche. Sie dekonstruiert die blinden Flecken unseres Begriffssystems. Sie zeigt, wie man Kategorien nicht entkommen kann, weder in der Sexualität noch in 11 Ronald. M. Schernikau: Kleinstadtnovelle, S. 34. 12 Ebenda. 13 Ebenda, S. 33. 14 Ebenda, S. 14. 15 Ebenda, S. 33. 16 Ebenda, S. 57. <?page no="162"?> 161 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) der Liebe. B. ist in Leif verliebt, der zu der Gruppe von Jungs gehört, die den mädchenhaften, tuntigen B. verachten. Sind Leif und B. nicht unter Beobachtung, „tröstet ihn leif männlich, vielleicht sogar mit einer spur von verständnis und zärtlichkeit in der stimme.“ 17 Die Fremdheit, die B. gegenüber Leif verspürt, der zu der ihm feindlich gegenüberstehenden Männerwelt, den „mackern“, gehört, zieht ihn an. Er findet Leif attraktiv, nicht nur obwohl er diese Art ‚normaler Mann‘ zu sein scheint, die dem schwulen B. als Identität versagt ist, sondern vielleicht gerade deshalb, weil B. sich selbst auch mit dieser Art von Männlichkeit identifizieren könnte, wenn er es zuließe. er will leifs mackertum antasten, glaubt schon mit zweidrei anmachereien die kruste seiner männlichkeit zu durchbrechen. was hält b. an leif? diese aufgabe? die heimliche sehnsucht nach sosein? nach den anderen mackern? 18 Als das gleichgeschlechtliche Verhältnis Leif zu stark in seinem Selbstbild zu verunsichern beginnt, zeigt sich der als Macker titulierte Junge illoyal gegenüber dem Jungen, mit dem er in einem unklaren Verhältnis steht. Es kommt zu einem Schulskandal. Den Eltern von Leif dient der linke, offensichtlich andersgeartete Junge, erzogen von der alleinstehenden Krankenschwester, als Paradeangriffsfläche. Die Novelle erzählt, wie sich an der Schule Fraktionen bilden gegen B., für B.; gegen Homosexualität, für Sittenreinheit. Der Text spielt 1979. Es ist nicht wie vor 100 Jahren möglich, den homosexuellen Schüler ohne juristische Klärung zu verdammen. Es ist nicht möglich, den schwulen Jungen der Schule zu verweisen, ohne dass sich eine schwule Minderheit an der Schule sowie einige aufgeklärte Lehrer für den Verfemten einsetzen würden. B. mobilisiert die Öffentlichkeit, „was der vater von b.s ehemaligem geliebten auf jeden fall verhindern will.“ 19 Die links-intellektuelle Mutter stellt sich schützend vor ihren Sohn, als die aufgeregten Eltern von Leif ihn als bösen Verführer zur Rechenschaft ziehen wollen. leif erzählt […] alles seinem intakten elternhaus, das nach dem ersten entsetzen sofort bei b.s mutter anruft, entschädigung verlangt und die entfernung b.s von der schule. aber schon die gelassenheit, mit der lea den aufgeregten bericht per telefon entgegennimmt, ist verblüffend, umso mehr aber noch ihre frage: warum denn meinen sohn entfernen? ihrer war doch genauso beteiligt? das ist äußerste verweigerung vor der moral: wer hat denn hier wen verführt? fragt leifs erzeugerin um zwei spuren zu laut und kriegt gesagt: verführt? über wochen? von diesen beiden stimmungen wird die auseinandersetzung bis heute getragen. auf der einen seite hysterie über den vorfall und über die reaktion darauf, auf der anderen naive verwunderung über unsinnige moralische normen. 20 In den bürgerlichen Vorstellungen von Leifs Eltern kann nur der geoutete Schwule - der durch seine Erscheinung markiert ist - den ‚normalen Jungen‘ verführt haben. Es ist nicht denkbar, dass sich die Sexualität, die die Jungs teilten, diesem Bewertungssystem entziehen könnte. Die Anklage gegenüber B. ist in diesem System offenkundig. Sie resultiert nicht aus 17 Ebenda, S. 28. 18 Ebenda, S. 28f. 19 Ebenda, S. 52. 20 Ebenda. <?page no="163"?> 162 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität seiner ‚unerlaubten Sexualität‘, die wäre nämlich erlaubt, solange niemand davon weiß oder sie nicht benannt wird. Die Anklage liegt in B.s Bruch mit der Männerrolle, der die Sexualität sichtbar macht. Für seine Unmännlichkeit soll er zur Rechenschaft gezogen werden: fehlende reue, frau massari, ist es, die uns das verhalten ihres sohnes besonders heikel macht, meint der direktor. denn es ist b., der nicht nur spritzen will, sondern lieben, der dem anderen in die augen sieht, der selbstbewußt offenheit fordert: gegenüber sich selbst, den anderen, schließlich den eltern. das ist nicht so beim ersten mal, oder zweiten, aber in den wochen, in denen sie oft auf b.s bett zusammen sind, wird der mutiger, beginnt zärtlichkeiten zu pflegen, zu denen leif nicht gekommen ist, worte zu sagen, die leif unangenehm sind, und auf eine art zu blicken, die leif angst macht vor der liebe, oder was er dafür hält, und vor sich selbst. ich bin nicht schwul! schreit er beim letzten mal, springt nackt auf nach einem schweigsamen orgasmus und will sich wütend anziehen. 21 Der Text ist politisch, aber es ist nicht so einfach, ihn einzuordnen als gelungenen schwulen Identitätsroman, der erzählt, wie ein junger Außenseiter seine Andersartigkeit erkennt und dann beginnt, in der Kategorie des schwulen Jungen zu leben und sich zu behaupten. B. identifiziert sich nicht mit den Jungen, die die schwule Minderheit vertreten. Er identifiziert sich genauso wenig mit den ‚normalen Jungs‘; er verachtet diese und hat geradezu Angst vor deren Männlichkeitsbild: Das Thema dieses Textes ist eine Findung der männlichen Identität, die B. strikt verweigert, in heteronormativen Strukturen auszuleben. Was diesen Text zu einem grandiosen Werk macht, das in gewisser Weise seiner Zeit voraus ist (und zwar so sehr, dass homosexuelle Zeitgenossen über diesen Text erstaunt waren), ist, dass B. seine Zuneigung zu Leif nicht naturalisiert, erklärt, begründet. Er sieht Leif auch nicht als ‚hetero‘ oder ‚homo‘ an. Er begehrt ihn, aber es ist nicht klar, für was und wieso. Und es ist nicht B.s Wunsch, in eine Kategorie zu gehören, die gemeinhin als die der Homosexualität, die des Schwul-Seins dargestellt wird, sondern sein Hauptbegehr ist, der Kategorie ‚Mann‘, wie sie im Patriarchat existiert, eine Absage zu erteilen. B.s schwule Identität resultiert aus einem bewussten Nicht- Männlich-Sein-Wollen (nach Maßgabe des Patriarchats: „es ist b., der nicht nur spritzen will, sondern lieben“ 22 ). Er möchte seine Sexualität nicht nach den Geboten des Patriarchats leben. Das bedeutet nicht nur, dass er mit Männern sexuellen Verkehr pflegen will, denn das erlaube ihm das Patriarchat sogar in gewissen Grenzen („miteinander ohne-einander, berührung erst erlaubt nach verweis auf fehlende weiber“ 23 ). B. möchte vor allem nicht in die Maschinerie eines glück- und zärtlichkeitslosen Männlichkeitshabitus gezogen werden („fixiert auf den nächsten fick oder wichs ohne möglichkeit zur flucht“ 24 ). Mit seiner Verweigerung einer rein positiven bzw. positivistischen Kategorie der schwulen Identität war der Text für Menschen, die es als Errungenschaft feierten, dass Schwul-Sein als objektive Kategorie anerkannt war, wenn auch teilweise von konservativer Seite mit gesellschaftlicher Nichtakzeptanz belegt, eine Herausforderung, weil er die naturalisierte Identität eines schwulen Mannes verweigert. Auch gegenwärtig gibt es einen Anti-Queer-Diskurs, der nicht nur in einem politisch rechten 21 Ebenda, S. 51. 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 29. 24 Ebenda, S. 30. <?page no="164"?> 163 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) Lager geführt wird, sondern auch in den Reihen zu hören ist, die es als Errungenschaft sehen, dass Männer sich in ein klares Raster schwuler Identität fügen können. Aus dem Blickwinkel ‚konservativer‘ schwuler Identitäts- und Emanzipationspolitik sind queere Identitäten überflüssig und abstrus. Der Text redet dieser vermeintlichen Abstrusität das Wort, denn er nimmt den Gedanken der heterosexuellen Matrix ganz produktiv auf. Es ist nicht der Verkehr (das Begehren/ Desire), was einen Mann (Sex) zum Schwulen erklärt. Es ist nicht das, was er im Bett tut, auschlaggebend, sondern das, was er als Performance (Gender) liefert. B. ver-queert sein Gender. Er spielt mit Weiblichkeit, was ihn zum Außenseiter erklärt. Insofern ‚spielt‘ er auch den Schwulen, wird somit zum Schwulen, bleibt dabei aber in einer Distanz zu dem Etikett, das er trägt. Der erste Satz der Novelle lautet: „ich habe angst, bin weiblich, männlich doppelt.“ 25 B. glaubt nicht, einer rein biologischen Stimme seines Begehrens zu folgen, das ihn nun für immer definieren wird. Die Definition ist auch eine Projektion anderer und B. versucht, innerhalb dieser einen Raum für sich selbst zu finden. In seinem Begehren steckt auch eine große soziale Komponente. Er ist in Leif verliebt. Nur weiß er nicht genau, was an Leif ihn anspricht, welche Projektionsfläche der andere Mann für ihn darstellt. b. liebt. wer ist leif? […] in leif mehr sehen als das eigne verdrängte mackertum, an ihm mehr als die toll kurzen haare. wer ist leif? mitglied der gruppe, der verkörperte wunsch nach mitmachen, das gewollte glück. […] hinlegen […] was der anfang von b. aus war, ist das ende des andern: als leif zu werden droht wie b., gibt er auf. ich bin nicht schwul! : das ist wahr. b. hat gelernt, erwartungen nicht erfüllen zu können […]. dressur ist alles, alles dressur, es geht durch mich hindurch. ich bin siebzehn und ein mann, und es braucht keinen peitschenschlag mehr, mich wissen zu lassen: die illusion von gemeinsamkeit gibt’s noch immer nur als kinderhaben, familienausflug, auto, urlaubsfoto. ein mann existiert als das kleinkraftwerk, das ihn zuhause entsorgt, als die unterwürfigkeit seiner kinder, als erfolg im beruf, als krawatte, als schwanz. wer in der witzrunde am montag nicht mit frauenverachtenden erfahrungen aufwarten kann, ist kein mann. wer sich nicht vor sich selber ekelt, ist ein schwein. 26 Die Ablehnung dieser männlichen Sozialisation macht B. in aller Augen zum Außenseiter. B. hat mit Leif sexuellen Verkehr, der Akt an sich ist aber unmaßgeblich. Der Text behauptet, dass Sexualität in homosozialen Banden eine Selbstverständlichkeit darstellt und ein Initiationsritus sein kann. Der Eintritt in die Sexualität kann auch für die sogenannten ‚Heteromänner‘ gleichgeschlechtliche Erfahrungen einschließen. Dass sich die Jungs untereinander befriedigen, ist männliche Realität, die laut der Novelle in den Männlichkeitshabitus eingebettet ist. wer hat den größten und wer verbirgt am brutalsten seine scham. der mit der größten klappe kann es sich schon mal erlauben, einem andern zwischen die beine zu fassen. schmerzhaft und scherzhaft! 27 25 Ebenda, S. 9. 26 Ebenda, S. 60f. 27 Ebenda, S. 29. <?page no="165"?> 164 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität Insofern stellt das, was B. und Leif tun, keine Ausnahme dar. Was B. jedoch zum Verfemten macht und der männlichen Gendernorm zuwiderläuft, ist sein Wunsch, diese Akte emotional zu reflektieren bzw. gar zu romantisieren. Durch seine fehlende Sachlichkeit bringt er Leif in die Bredouille. Dies führt zum Bruch beider Jungs, denn B. beginnt die Voraussetzung für Leifs Männlichkeit, sein „mackertum“, zu unterhöhlen. Es muss eine verschwiegene, entromantisierte Lust sein, der sie frönen, um sich in Leifs Identitätskonzept, das heterosexuell ist, zu fügen. und leif konnte b. denunzieren, weil er immer nur sich selbst befriedigt mit ihm, emptyness is me and you, und deshalb weniger schuldig ist als b., der liebt oder es will, zärtlich und langsam, wenigstens das. und das verstehen auch die lehrer, die mit leif sprechen: ein verzeihlicher ausrutscher, peinlich, aber verführungen geschehen eben immer wieder. leif wird von ihnen sogar mit einbezogen in die überlegungen, wie b. zu bestrafen sei: meinst du, er würde das nochmal tun? oder immer wieder? hältst du ihn für gefährlich? wie hat er sich dir denn genähert? 28 Der Text geht so weit zu behaupten, dass für heterosexuelle Männer die Emotionalisierung sexueller Akte ein absolutes Tabu darstellt, weil das ihrer männlichen Phänomenologie widerspricht, egal ob diese Akte nun homo- oder heterosexueller Natur seien. Sexualität muss für das Objekt schmerzhaft sein. Der Mensch, der einem Mann Befriedigung verschafft, darf nicht geliebt werden. daß leif kommen würde, zu ihm und in seinen armen. was da in berlin und später in ihrer stadt geschieht, ist normale pubertäre gemeinschaftsonanie, ohne konsequenz für späteres fühlen, denken und handeln, und ohne wirkung nach außen, denn verschwiegenheit ist voraussetzung für erwünschte normalität. und man hat sich von sich selbst so entfremdet, daß man die berührung des anderen mit dem mund als intimer empfindet als die mit dem geschlechtsteil. und so hat er ihn zwar geküßt, aber nur zaghaft und mit der angst, der da neben ihm könnte sich ihm entziehen. 29 B. empfindet sich also nicht als ‚anders‘, weil er mit anderen Jungs Geschlechtsverkehr hat. Er verkauft sich den Kontakt mit Leif nicht als „gemeinschaftsonanie“. Dies stellt ihn vor soziale Probleme. Der hochintelligente und reflektierte Genderrevolutionär B. will sich seine Emotionalität nicht verbieten lassen. Er will Leif nicht nur befriedigen. Er will Leif befreien. Dieses romantisierte Begehren definiert ihn als ‚anders‘. Der Moment, in dem Leif emotional von B.s Bestrebung berührt wird, macht ihn zum Judas. Er verrät seinen Liebhaber, aber er verrät auch seine Sehnsüchte. Das Gespräch am Morgen nach dem ersten Mal ließ B. hoffen, dass Leif eigentlich auf der Suche nach Emotionsbekundungen sei, denen er auf Dauer jedoch nicht standhalten kann. fängt b. nach dem frühstück ab, holt ihn auf sein zimmer, sagt: du warst gestern besoffen. b. ahnt was kommt, sagt: du nicht? , ist aufgeregt, bekommt gesagt: ja, du hast was erzählt von liebe. ach lacht b., ein schönes thema, nicht? zu mir. bitte? zu mir. bitte, zu mir, du hast gesagt, ich wär toll und schön, 28 Ebenda, S. 54. 29 Ebenda, S. 50. <?page no="166"?> 165 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) und du seiest in mich, und b.: ich war betrunken, hatte gelesen am tag, nachgedacht, verwirrung der sinne. bist du schwul? ja. 30 Im Fortgang der sexuellen Affäre hält Leif sein Zugeständnis an B.s Emotion nicht mehr aus. B.s zunehmende Offenheit bringt Leifs männliche Identität in Gefahr und aus dieser Gefahr heraus stellt er sich vor den Eltern als ein Verführter dar, den es reut. Er macht sich lieber infantil, lächerlich und zeigt sich als schwacher Charakter, als weiter das Risiko auf sich zu nehmen, seine ‚Männlichkeit‘ (mit B. oder für B.) einzubüßen. Er befürchtet, durch die Zuneigung seines Mitschülers seiner hart antrainierten Männerrolle verlustig zu gehen. Diese Befürchtung verdichtet sich aber nicht aufgrund der Häufung vollzogener Sexualakte, sondern aufgrund dessen, dass B. zunehmend mehr nach Emotion verlangt. Emotionen, die, so sagt der Text, Heteronormativität Männern grundsätzlich verbietet. Der Denunziant wählt die Verdrängung. Der Text lässt unklar, was Leif an B. anziehend findet. Vielleicht hat er wirklich keine Gefühle für B. und genießt bloß dessen sexuelle Verfügbarkeit, die ihm Triebabfuhr verschafft? Zwar gibt es immer wieder Momente zwischen den beiden, die eine völlige Emotionslosigkeit seitens Leif fragwürdig machen, aber B. weiß nicht, woran er mit Leif je war oder ist. Der Junge verfügt nur über ein festes Charaktermerkmal, das sich immer wieder ausspricht: Leif ist vor allem als männliche Figur dadurch geprägt, keine romantischen Gefühle für B. haben zu dürfen. Das Queere dieses Textes entsteht dadurch, dass er die männliche Gendernorm angreift, in der eine grenzgängerische Figur wie B. nicht aufgeht. Schernikaus Ich-Figur geht aber auch nicht als affirmativer Widerspruch auf, indem sie einfach verkehrt, anders ist. B.s Homosexualität wird nicht als ein ans Licht gebrachtes Tabu dargestellt. Homosexualität ist wie Heterosexualität in Kleinstadtnovelle Teil fast jeder männlichen Adoleszenz. Was B. zum Schwulen erklärt, liegt jenseits von genitaler Sexualität. Es ist B.s rebellische Verweigerung von Verhaltensweisen der Kälte, die ihn suspekt machen. Seine eingestandene Emotionalität erklärt B. zum Schwulen. Dieser Text ist eine radikale Kritik der männlichen Gendernorm, aber er weist auch jegliche Normalisierungsabsicht von Homosexualität zurück. B. begreift sich zwar als ‚schwul‘ und benutzt die Kategorie für sich, aber er weiß, dass das eine Kategorie ist, die die Heterosexuellen mehr brauchen als dass sie ihm zur Selbstverständigung dient. Es ist eine Kategorie, die gemacht ist, um ihn kleinzuhalten. Die Gefahr, die von nicht klassifizierter Homosexualität ausginge, wäre, das männliche patriarchale System durch ein Eingeständnis von Verletzlichkeit, durch das Eingeständnis nicht rein triebgesteuerten Begehrens zu Fall zu bringen. Niemand der so genannten heterosexuellen männlichen Mehrheit hat laut dem Text die Erfahrung mit gleichgeschlechtlicher Sexualität völlig ausgespart. Sie ist, wie die Erfahrung mit der Heterosexualität, ein Initiationsritus im körperlichen Sinn, der sich im homosozialen Rahmen abspielt. Die Mannwerdung besteht darin, den sexuellen Körper seelisch von sich abzukoppeln. So wird ‚Männlichkeit‘ im Kontext der Heteronormativität dekonstruiert. Sie wird als beschnitten und verlogen entlarvt, als armselig und leer. Die Novelle bejubelt homosexuelle Handlungen aber nicht als revolutionäre Akte per se oder als mutige Andersartigkeit, was den Text mit unserem heutigen Analysekriterium nicht als ‚schwul‘, son- 30 Ebenda, S. 30f. <?page no="167"?> 166 IX ‚Männlichkeit‘ zwischen Homosozialität und Homosexualität dern als ‚queer‘ auszeichnet. Der maskierte Geschlechtsverkehr zwischen Jungs dient nach der Kleinstadtnovelle sogar der Befestigung der männlichen Gendernorm, mit Verschwiegenheit als Voraussetzung. Die dabei zu tragende Maske wäre die starre Emotionslosigkeit. Das ist die Normalität. Mutig ist nicht die Sexualität, sondern das Bekenntnis zu Gefühlen. Insofern kann die Kleinstadtnovelle weniger als ein schwuler Identifikationstext, sondern als ein antireaktionärer, ‚Männlichkeit‘ in Frage stellender Text gelesen werden. Oder wenn wir so wollen, kann er auch als maskulinistischer Befreiungsschlag für ein männliches Lebensmodell gelesen werden, nach dem Männer dazu befähigt sein sollten, wie B. ihre Sexualität an Emotionalität zu koppeln, wenn sie es wollen (unabhängig von Geschlechtsrollen). Mit wem die adoleszenten Subjekte schlafen, wäre für ihren Befreiungsschlag unbedeutend. Revolution besteht nicht in der Wahl des Sexualobjekts, sondern im Mut, dieses Objekt zu lieben, die sexuellen Akte nicht von sich abzukoppeln. Dies hielte die systematische Glücksvernichtung auf, die, so sieht es B., Jungs an sich vollziehen müssen. Dafür plädiert der junge, verfemte Schüler, er plädiert allerdings nicht dafür in Form eines affirmativen Widerspruchs (als der Schwule, der anders ist). Im Grunde will er Leif dazu emanzipieren, sich einzugestehen, dass auch er selbst begehrte und sich nicht nur befriedigen ließ. Dies gelang B. im Laufe seiner Affäre mit Leif allerdings nicht, und er kann sich nicht einmal damit trösten, Leif im Nachhinein für seine ‚Selbstverleugnung‘ zu verachten. B. resümiert, dass der körperlichen Intimität keine ‚wirkliche‘ Intimität, keine Vertrautheit folgte. Vielleicht hat sich Leif nicht verleugnet und sein Verrat an B. ist ‚authentisch‘. Die Hauptfigur weiß bis zum Schluss nicht, wie Leif je zu ihm stand und deshalb bleibt er nicht ohne Schmerz und gekränkte Eitelkeit zurück. Zumindest jedoch gelang es B., Leif seine eigene Verletzlichkeit spüren zu lassen und zwar so sehr, dass dieser ihn bei seinen Eltern verpetzen musste, um seine Männlichkeit vor dem schwulen Übergriff zu schützen. „er will leifs mackertum antasten, glaubt schon mit zweidrei anmachereien die kruste seiner männlichkeit zu durchbrechen.“ 31 heißt es in einem frühen Kapitel der Novelle. Doch B. gesteht sich bitter ein, dass Leif aus seiner männlichen Kruste nicht zu befreien war: und das ist keine liebe sondern tagtraum, der ihn besitzt. denn leif ist einer von der sorte, deretwegen b. vor jahren die schule wechseln will, einer von denen, die außerordentliche freude haben am anreden b.s als fräulein, und das ist in dem alter kein stillironisches, sondern ein über den schulhof gekrähtes fräulein, wozu die weit leuchtenden tücher des dreizehnjährigen reizen, alle und vor allem die, die die erfüllung der gruppenpflicht besonders aufmerksam wahrnehmen, aus angst vor nichtanerkennung: b. kann das verstehen. 32 B. muss es als schmerzvoll empfinden, dass die Sexualität zwischen den beiden auf Leifs Seite ohne Konsequenz, „ohne konsequenz für späteres fühlen, denken und handeln, und ohne wirkung nach außen“ 33 zu bleiben scheint. Leif schlägt B.s Liebe aus und reagiert auf sie mit 31 Ebenda, S. 28. 32 Ebenda, S. 57. 33 Ebenda, S. 50. <?page no="168"?> 167 Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (1980) gesteigerter Homophobie. Die Novelle bietet dafür eine soziologische, keine psychologische Erklärung. Leif unterwirft sich zwanghaft seiner Geschlechtsrolle. Die Literarisierung dieses Erlebnisses bewirkt allerdings, dass die „normale pubertäre gemeinschaftsonanie“ 34 und die schwule Zärtlichkeit, mit der B. die sexuelle Interaktion zu Leif spiegeln will, als zwei Perspektiven erkennbar werden, die das heteronormative Begriffssystem vorgibt. Es liegt keine ontologische, sondern eine begriffliche Trennung vor. Die Novelle ist queer, weil sie unmissverständlich deutlich macht, dass der prinzipielle Unterschied, der zwischen den beiden Perspektiven gezogen ist, nicht ‚natürlich‘ erscheinen kann oder dass er komplikationslos wäre. Die Differenz zwischen ‚schwul‘ und ‚nicht schwul‘ basiert in dieser Novelle allein auf „unsinnige[n] moralische[n] normen“ 35 , um das Primat der Heterosexualität zu schützen und Homosexualität abzuwehren. 34 Ebenda. 35 Ebenda, S. 52. <?page no="170"?> 169 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Im Folgenden sollen zwei Popromane durch Queer Studies in den Blick genommen werden: Alexa von Hennig Langes Relax (1997) und Charlotte Roches Mädchen für alles (2015). Queer Studies bieten sich als Methode für die Texte an, weil die in heterosexuellen Partnerschaften lebenden Protagonistinnen parallel zu ihrer Beziehung ein gleichgeschlechtliches Begehren in den Texten auszuagieren scheinen. Die folgenden Analysebeispiele unterstehen allerdings einem anderen Ziel als dem, das Textbegehren als queer zu nobilitieren. In beiden Romanen ist das queere Moment zwar auffällig, aber nicht aufrüttelnd. Die gleichgeschlechtlichen Erlebnisse dienen den Figuren nicht als Kritik an Heteronormativität, so dass ich in den folgenden Analysen die Texte vielmehr ent-queere als sie queer zu verstehen. Wenn wir eine Kompetenz in Queer Studies ausbilden, wird uns klar, dass nicht alles, was einen lesbischen, schwulen, bisexuellen Inhalt aufweist, den Charakter des Queeren im Sinne einer Heteronormativitätskritik trägt. Meine kritische Lektüre der in diesen beiden Texten auftretenden gleichgeschlechtlichen Sexualität mindert nicht die Bedeutung der Romane als popfeministische Klassiker. In den Texten wird die Referenz auf eine weiblich-weibliche Erotik zwar nicht benutzt, um Heterosexualität als Norm in Frage zu stellen, wohl aber ein ‚Aufmucken‘ gegen die Frauen in der Popkultur aufgebürdete Genderrolle zu thematisieren. Die jungen Frauen, die wir in den Texten kennenlernen, wagen keinen wirklichen Aufbruch in eine queere Identität, der sie befreien würde. Ihr Phlegma ist ihr Unglück und die jeweilige popfeministische Pointe des Romans. Zwischen dem Erscheinen der Texte, die ich in diesem Kapitel untersuchen will, liegen 18 Jahre, also sinnbildlich eine vollständige Kindheit von den ersten Gehversuchen bis zur Volljährigkeit. Während Relax den Prototyp des weiblichen deutschen Popromans der 1990er Jahre darstellt, reiht sich Mädchen für alles schon in eine Kette weiblich-popkultureller Selbstdarstellungen. Die Protagonistin des neuen Jahrtausends trägt ein noch konturierteres popkulturelles Weiblichkeitsbild zur Schau und verfolgt ihre (scheinbar) queeren Ambitionen als Zeichen eines (scheinbaren) Aufbegehrens ohne Scheu. Die weibliche Ich-Figur in Relax ist mit ihrer naiven Unverblümtheit, in der sie sexuelles Interesse am weiblichen Körper äußert, damals noch neuartig gewesen, während uns der Ton der Figur aus Mädchen für alles schon von einigen anderen literarischen Vorgängerinnen her sehr bekannt vorkommt. Zu nennen sind dabei Texte, die in diesem Jahrtausend auf dem Buchmarkt erschienen, wie Helene Hegemanns (* 1992) Debüt Axolotl Roadkill (2010), Constanze Peterys (* 1991) Debüt Eure Kraft und meine Herrlichkeit (2011), Kerstin Grethers (* 1975) Roman An einem Tag für rote Schuhe (2014) und Charlotte Roches (* 1978) Debüt Feuchtgebiete (2008) sowie der Folgeroman Schoßgebete (2011). 1 Diese Texte erregten Aufsehen und waren sehr erfolgreich. All die in ihnen beschriebenen weiblichen Hauptfiguren erweisen sich in demselben ambivalenten 1 Als literarischer Ausweis popkultureller Weiblichkeit, jedoch unter Verzicht auf heteronormativitätskritische Ambitionen, sollten in diesem Zusammenhang auch der Debütroman Kerstin Grethers Zuckerbaby (2004), Antonia Baums Debüt Vollkommen leblos, bestenfalls tot (2011) sowie das Debüt Realitätsgewitter (2016) von Julia Zange genannt werden. <?page no="171"?> 170 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Weiblichkeitsbild gefangen, welches durch die Popkultur vorgegeben ist. Die Figuren wurden in einem Zeitraum von fast 20 Jahren zu Papier gebracht und zwar von Autorinnen, die sich im Alter bis zu 20 Jahre unterscheiden, weil die älteren Popliteratinnen (z. B. Hennig von Lange) in den Siebzigern, die Jüngeren erst in den Neunzigern geboren worden sind. Die Popkultur blieb in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stehen, hinsichtlich der Ambivalenz weiblicher Selbstdarstellung erweist sie sich allerdings als erstaunlich stabil. Diese Texte sind enervierend, selbstsüchtig, voll Unruhe und Unbehagen. Der Ton changiert zwischen Anklage und Resignation. Ihre Protagonistinnen vermögen nicht mit klischierter Weiblichkeit zu brechen, im Namen des Pop aber geben sie sich rebellisch und erträumen eine sexuelle Autonomie. Gerade Roches Frauenfiguren scheuen kein Experiment, diese Autonomie vor sich selbst unter Beweis zu stellen, die trotz allem immer nur scheinbar bleibt. Dem Traum sexpositivistischer Freiheit weihen sie auch ihre weiblich-weiblichen Beziehungen. Diese dienen jedoch keineswegs dazu - mit Ausnahme von Grethers Roman An einem Tag für rote Schuhe - eine Selbstfindung zu befördern. Das gleichgeschlechtliche Interesse gehört zu einer narzisstischen Selbststilisierung. Es drückt sich darin kein Feminismus, sondern eher internalisierte Misogynie aus. Die These, die diesem Abschnitt vorangestellt ist, besteht darin, das queere Moment, das den Texten zu eigen ist, zwar zu konstatieren, weil Queerness zum Bestandteil „pop-kultureller Veröffentlichungen“ geworden ist, 2 sein patriarchats- und heteronormativkritisches Potential dabei aber in Frage zu stellen. Das heißt freilich nicht, dass die Texte keinesfalls kritisch lesbar wären, feministische Häme verdienen würden oder dass sie per se als normkonform einzuordnen sind. Meine Leseweise plädiert allerdings für Obacht gegenüber dem subversiven Potential, das die Texte aufweisen. Wenn wir als Literaturwissenschaftler*innen dort Queeres erkennen, wo die gesellschaftlichen und heterosexuellen Strukturen in Frage stehen bzw. dort, wo Identitätslogiken effektiv kritisiert werden, können diese Romane nicht als ‚queer‘ bezeichnet werden. Die Figuren sind aufmüpfig, aber nicht herrschaftskritisch. Ihr Verhalten offenbart eine bestimmte Sozialisation, die jedoch von den Figuren selbst nicht hinreichend erkannt und reflektiert wird. X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) Das Scheitern einer queeren Subversion zeigt sich prototypisch in Relax. In diesem Debütroman kratzt die Aufmüpfigkeit gegen die Genderrolle, die die weibliche Hauptfigur zeigt, nur an der Oberfläche und bleibt reine Rhetorik. Die Ich-Erzählerin hält sich zwar für unfrei, es eröffnet sich ihr jedoch kein Ausweg aus ihrer popkulturellen, strikt heteronormativen Sozialisation. Ein queeres Textbegehren, das „nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen […] der Figuren artikuliert“ 3 , treffen wir in dem Roman nicht an. Dieser Befund mag verwundern, denn die Hauptfigur artikuliert ein Begehren nach einem 2 Vgl. Lutz Hieber-/ Paula-Irene Villa: Images von Gewicht, S. 8. 3 Andreas Kraß: Queer Studies - eine Einführung, S. 22. <?page no="172"?> 171 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) popkulturellen Weiblichkeitsbild. Ihr Interesse an einer anderen weiblichen Figur, die jedoch ein reines Weiblichkeitsimago ist, stellt der Text nicht unterschwellig, sondern sogar offenkundig dar. Doch wenn wir genau auf die Artikulation dieses Begehrens hören, erkennen wir, dass queere Sexualität in diesen Texten denselben Stellenwert wie Autoerotik hat. Sie ist eine Form von Neosexualität und die begehrte Andere ist nur narzisstischer Spiegel eines optimierten Selbstbildes. Alexa Hennig von Langes Roman gilt als Prototyp des weiblichen Popromans, der seiner Autorin (* 1973) den Platz der bekanntesten deutschen Popliteratin einbrachte. (Dieses Ranges ging sie im neuen Jahrtausend verlustig.) Der Dichterkollege Joachim Lottmann (* 1956) nannte sie in einer Rezension „die Antwort der Literatur auf die Spice Girls“. 4 Lottmann bleibt in seiner Kritik des Buches nicht ohne paternalistische Herablassungen gegenüber der Autorin: „Sie hat die Hand immer in den Haaren. Es ist nicht zu begreifen, daß ein so kleiner Kopf so viele Haare haben kann.“ Jedoch würdigt er den Text als interessantes Zeitdokument. Das Transitorische popkultureller Verweise kommt schon in der Referenz auf die Spice Girls zum Ausdruck. Sie bezeichnet den Prototyp einer gecasteten Mädchenband, die in den 1990er Jahren weltberühmt war und in zahlreichen Popromanen dieser Zeit vorkommt. Diese Band hat ikonographischen Wert, auch für Angehörige einer Generation, die den Hype um die Spice Girls nicht miterlebt haben. Zwar traten die Bandmitglieder 2012 wiedervereint bei der Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele auf, doch es sind nicht die mehr oder minder traurigen Wiederbelebungsversuche, die den ikonographischen Charakter der Band ausmachen. Ihr musikalisches Schaffen bleibt eine Fußnote. Die Bedeutung der Spice Girls besteht vielmehr darin, den Begriff der Girl Power in popkulturelle Debatten eingebracht zu haben, der für einen jugendlich-liberalen Umgang mit Sexualität, für (medialen) Erfolg und eine schwer definierbare Form von fragiler Weiblichkeit steht. Girl Power ist nicht antifeministisch, aber durch den hohen Stellenwert, den die patriarchal generierte, massenkonform kommerzialisierte Weiblichkeit beim stets nur als Anglizismus in der deutschen Sprache vorkommenden Begriff Girl Power einnimmt, sollte er nicht als feministisches Schlagwort missverstanden werden. Girl Power ist ein hilfreicher Begriff, um popliterarische Texte von Autorinnen zu untersuchen. In diesem Sinne ist der spöttische Vergleich mit der Girlband nicht verkehrt, denn auch Relax versucht, Weiblichkeit zu stärken und zu akzentuieren, ohne dabei die Vorgaben an die weibliche Genderrolle, die vor allem in dem Gebot bestehen, als Sexualobjekt anziehend zu sein, zu hinterfragen. Lottman bringt dies in den ersten Zeilen seiner Buchkritik so zum Ausdruck: Nicht etwa irgendein Mann habe „einen Roman über eine frühreife Verführerin geschrieben, sondern: Lolita hat ihn gleich selbst geschrieben.“ 5 Eine Übertretung der von Männern gemachten Regeln ist also auf der Figurenebene nicht zu erwarten. Es ist allgemein festzustellen, dass in weiblichen Popromanen die Protagonistinnen mit einer weiblich konnotierten Genderrolle, die den historischen Vorgaben an diese Rolle entspricht, ausgestattet sind. So ist auch Alexa Hennig von Langes Protagonistin typisch ‚weiblich‘: irrational, infantil, 4 Joachim Lottmann: Diese Locken! Alexa Hennig von Lange - die Antwort der Literatur auf die Spice Girls. In: Die Zeit, 5.2.1998. www.zeit.de/ 1998/ 07/ Diese_Locken_ (letzter Zugriff 14.3.2019). 5 Ebenda. <?page no="173"?> 172 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman passiv, unterwürfig, triebhaft - gleichzeitig ist die Figur jedoch im Sinne einer popkulturellen Weiblichkeit darum bemüht, ihre Triebhaftigkeit und ihre weibliche Psychologie nicht zu verschleiern. Das bezeichnet der Begriff Girl Power. Er ist ein Plädoyer dafür, dass ‚Weiblichkeit‘ offen ausgelebt werden soll. Lolita wird nicht nur festgeschrieben, sie schreibt ihre Rolle selber fest. Die ‚Weiblichkeit‘ ist dermaßen medial geprägt, dass sie wie ein Abziehbild wirkt. Girl Power verlangt in erster Linie Anpassung an ein popkulturelles Weiblichkeitsgebot. Wie der Begriff, so sind auch die Figur und deren Sexualität pseudo-emanzipatorisch. Wie sehr man Girl Power auch mit Häme bedenken kann, sie verdeutlicht nun einmal die Ambivalenz popkultureller Weiblichkeit. Diese steht im Zwiespalt zwischen sexueller Autonomie und traditioneller Genderrolle. Die Ambivalenz zwischen Autonomie und Unterwerfung zeigt sich auf vielfache Art in diesem Roman. Die Ich-Figur experimentiert mit dem Comic der Superheldin Vampirella, mit Wonderbras und Haushaltsführung. Ihre proklamierte Girl Power gipfelt in einem Manifest gegen Nagellack und bleibt ein Loblied auf den extensiven Kosmetikkonsum. Aber ohne Nagellack habe ich ja echt überhaupt kein Selbstwertgefühl mehr. Nee, nee, nee. Als Frau ist es nicht leicht auf dieser Welt, und jetzt mal ich auch noch daneben. Scheiße. Mir reichts. Mir reichts echt. Das war das letzte Mal mit dem Nagellack. Ich lasse mich nicht manipulieren. Die Männer haben den Streß ja auch nicht. 6 Neben dem Aufschrei gegen die eigene Manipulation und der ostensiven Bereitschaft zur Emanzipation („Das ist echt mein Lieblingssatz: ‚Ich bin eine emanzipierte Frau - und kann schlafen mit wem ich will! ‘“) 7 wird den gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau durch die Figur fraglos entsprochen. Letztendlich ist sexuelle Bereitschaft auch eine popkulturelle Erwartung und dadurch der „Lieblingssatz“ auch nur pseudo-emanzipatorisch. In der Rollenaufteilung innerhalb der Beziehung nimmt die Protagonistin die Position einer Hausfrau ein, die auf ihren Liebsten wartet, der aber nicht, wie in bürgerlichen Ehen, in der Arbeitswelt unterwegs ist, sondern in der männlich konnotierten Partywelt, die er mit seiner homosozialen Gemeinschaft und nicht mit seiner Freundin teilt. Jedes Wochenende muß ich auf Chris warten, weil Chris dann nämlich immer feiern geht. Ich sitze dann blöde zu Hause rum und warte, daß Chris vom Feiern kommt. 8 Ich meine, als Frau bleibt dir gar nichts anderes übrig, als zu warten. 9 Du bist als Frau auf der Welt, um gequält zu werden. So ist das einfach. Emanzen haben es da ja noch schwerer, weil Männer Emanzen hassen. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich quälen zu lassen, damit die Männer einen wenigstens ein bißchen mögen. […] Warten, warten. Ehrlich. Das ist die Aufgabe der Frau der 90er. Warten und sich quälen lassen. 10 6 Alexa Hennig von Lange: Relax. Roman. Taschenbuchausgabe. 5. Aufl. Hamburg 2002 [Originalausgabe 1997], S. 153. 7 Ebenda, S. 140. 8 Ebenda, S. 137. 9 Ebenda, S. 152. 10 Ebenda, S. 153. <?page no="174"?> 173 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) Während sie wartet, verrichtet sie Hausfrauenarbeit und träumt von einer klischierten Heirat. Mit beidem entspricht sie einer klassischen weiblichen Genderrolle, was verdeutlicht, dass sich die popliterarische Weiblichkeit vom bürgerlichen Weiblichkeitsbild nicht grundsätzlich verabschiedet hat. Angela McRobbie, eine der wichtigsten Stimmen der Cultural Studies, […] bestimmt Populärkultur als einen Bereich, der vor allem dazu diene, hegemoniale Geschlechtervorstellungen zu bestätigen. McRobbie argumentiert, dass Frauen derzeit zwar eine neue und massiv intensivierte Sichtbarkeit angeboten würde, dies jedoch nur unter der Bedingung, feministische Forderungen zu verabschieden und sich bestimmten Selbsttechnologien zu unterwerfen. 11 Die gesellschaftskritischen Stimmen gegenüber dem Status der Weiblichkeit in der Populärkultur bewahrheiten sich bei der Protagonistin dieses Popromans. Ihre Sichtbarkeit (für ihren Freund beispielsweise) setzt für sie eine stetige Selbstoptimierung und eine Verleugnung feministischer Hoffnungen voraus. 12 Chris in Las Vegas heiraten. Das ist mein Traum. 13 Jeden Tag braucht Chris frische Socken. […] Dann wasche ich eben seine Socken, und Monsieur ist glücklich. 14 Der Roman ist durch zwei Erzählperspektiven geteilt. Der erste Teil des Romans ist aus männlicher Perspektive (Chris), der zweite aus weiblicher Perspektive („Die Kleine“) verfasst. Beide Figuren und beide Sichtweisen kommen im Verlauf der Handlung nicht einmal zusammen. Das Problem, das dieser Text bereits formal verdeutlicht, ist, dass die eigentlich höchst traditionell konzipierte Weiblichkeit von der „Kleinen“ - so die signifikante Bezeichnung der ansonsten namenlosen weiblichen Hauptfigur - mit der popkulturellen Männlichkeit von Chris, die weniger traditionell konzipiert ist und bürgerlichen Vorstellungen widerspricht, nicht kompatibel ist. Popkulturelle Männlichkeit erweist sich nämlich als ebenso irrational, infantil, passiv, unterwürfig, triebhaft wie popkulturelle Weiblichkeit. „Die Kleine“, die sich, den traditionellen Vorgaben gemäß, Chris als Frau unterwirft, steht vor dem Problem, dass der ihren Vorstellungen gemäße Mann nicht vorhanden ist. Chris kann nicht der Mann sein, auf den sie wartet, weil es die heroische Männlichkeit, die sie naiverweise erträumt, im popkulturellen Kosmos gar nicht mehr gibt. Chris steckt in einer Männlichkeitskrise: Chauvinismus ist Attitüde. Er nennt seine Freundin zwar: „Meine kleine Ficksau“ 15 , tatsächlich stellt aber die hedonistische Rolle des Sexgottes eine Überforderung für ihn dar. Er bekommt seine Sexualität nicht positiv in seinen Lebensstil integriert. 11 Paula-Irene Villa u. a.: Banale Kämpfe. Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht. Eine Einleitung. In: Banale Kämpfe. Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht. Hrsg. von dens. Wiesbaden 2012, S. 7 - 22, S. 14f. 12 Vgl. auch Angela McRobbie: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Hrsg. von Sabine Hark-/ Paula-Irene Villa. Wiesbaden 2010. 13 Alexa Hennig von Lange: Relax, S. 138. 14 Ebenda, S. 147. 15 Ebenda, S. 17. <?page no="175"?> 174 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Ich bin komplett unentspannt. Vielleicht gehe ich ins Klo und setzte mich in die Badewanne. […] Mein Schwanz will nicht, und nebenan lachen die Jungs hysterisch […]. Geht gar nicht. […] Benimmt sich so ein Rockstar? […] Ich fummel wieder an meinem Schwanz rum […]. Ich versuche schnell, an riesen Titten zu denken. Nebenan schreien die Jungs, und dann geht original überhaupt nichts mehr. 16 Das männliche Gender hat seine traditionelle Geschlechtscharakteristik verloren und so sind beide, „die Kleine“ und Chris, auf Selbstbefriedigung, self sex, zurückgeworfen, weil sie in ihren inkompatiblen Sphären nicht zusammenfinden. Der Roman re-inszeniert die heteronormativen Begehrensstrukturen, jedoch ohne eine wirklich leibliche Erfahrung zwischen Mann und Frau darzustellen. Er erzählt von einer Liebesbeziehung, die eigentlich nicht gelebt wird, von Unfreiheit und den Aporien popkultureller Gendervorstellungen. Die zwei-perspektivische Erzählweise zeigt, wie sehr sich die beiden Figuren einerseits in ihren Sehnsüchten ähneln und anderseits in ihren inkompatiblen Rollen gefangen sind. „Die Kleine“ spielt die sehnsuchtsvolle wartende Hausfrau und Chris spielt den stets potenten Rockstar. Dieses Spiel, das der „Kleinen“ ihre Identität verleiht, ist weder reiner Spaß noch selbstgewählter Lebensstil. Obwohl die Figur zwanghaft ihrer Geschlechtsrolle folgt, ist dieser Zwang weder durch äußerliche Macht ausgeübt noch wird er von innerer Wesenhaftigkeit diktiert. Er entspringt einem popkulturellen Kosmos. Beide setzen diesen für sich absolut. Er gebietet der Frauenfigur sowohl sexuell verfügbar zu sein als auch gleichzeitig für sich selbst eine gewisse sexuelle Autonomie zu behaupten. Diese Autonomie ist nur scheinbar und sie ist neosexuell. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch stellt in seinem Buch diese so genannten Neosexualitäten als eine dritte sexuelle Revolution vor. Aus seiner sexual-psychologischen Sicht hat sich der Stellenwert der Sexualität seit den 1980er und 1990er Jahren so grundsätzlich gewandelt, dass ‚Sex(ualität)‘ in gesellschaftlichen Kontexten keineswegs mehr als Metapher des Glückes und der Lust, sondern vielmehr als Metapher für Selbstliebe, Thrills und auch Missbrauch begriffen wird. Eines der Stichwörter dieser Neosexualität ist Selbstliebe/ self sex. Gerade die 1990er Jahre und das von Hennig von Lange gezeichnete Porträt dieser Generation sind bezeichnend für diesen Umgang mit Sexualität: Wenn die Menschen […] öffentlich inszenieren und darstellen, hat das in erster Linie einen selbstbezüglichen Charakter. Es soll die Person selbst befriedigen. Nicht Liebe oder gar Sex zwischen zwei Menschen steht im Vordergrund, sondern Selbstliebe. Ich spreche da von Self-Sex. [ ] Die Bewunderung durch die Außenwelt. Die anderen sollen sehen, wie schön ich bin, wie sexy ich mich bewegen kann, was ich für tolle Tattoos habe, wo ich gepierct bin und so weiter. Dafür wird man bewundert, das gibt den seelischen Gewinn. Die Generation davor war darauf angewiesen, dass sie diesen Gewinn aus der Kopulation zieht. Liebe, Sex, Kopulation und Orgasmus waren eins. Heute lebt der vorwärts weisende Teil der jüngeren Generation gleichzeitig sexuell und nonsexuell. Das ist etwas, was wir mit unseren alten Kategorien nicht mehr erfassen können. 17 16 Ebenda, S. 12ff. 17 Vgl. Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt-/ New York 2005, S. 43f. Zum Neosexualitätsdiskurs in der Literatur vgl. Katja Kauer: Banaler und dämonischer Sex in der Literatur um 1900 und um 2000. Hamburg 2007, S. 149 - 330. Lottmanns <?page no="176"?> 175 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) Die weibliche sexuelle Autonomie besteht in den popliterarischen Werken darin, statt einer wirklichen Befreiung diesen self sex zu kultivieren. Sexualität wird bewusst rationalisiert. Das schrieb Sigusch, bevor er die fortschreitende Rationalisierung und Selbstprofilierung durch Dating-Plattformen im Internet reflektieren konnte. Den Entwicklungen, die die Popliteratur seit den 1990er Jahren nimmt, reden Siguschs Thesen das Wort. Die Befriedigung, die in diesen Texten ersehnt wird, ist nur mehr eine seelische Befriedigung in Form eines Kicks oder einer Selbsterhöhung. So gut wie nie wird auf Liebe oder Zweisamkeit gesetzt. Der Sexualwissenschaftler konstatiert allerdings auch, dass hinter all der Rationalisierung immer ein Mangel spürbar wird. Gerade in der strikten Trennung von der weiblichen und männlichen Perspektive, wie sie in Relax vorgeführt wird, erfahren wir von dem Mangel beider Figuren, den seelischen Gewinn aus Gemeinsamkeit schöpfen zu können. An die Stelle äußerer und direkter Kontrollen sind innere und indirekte getreten, die die Menschen nicht so einengend erleben, weil sie ein Teil ihrer selbst geworden sind. Indem das dranghaft Sexuelle zunehmend bewusst rationalisiert wurde und zunehmend seinen Charakter der Irrationalität verlor, wurden alte Unabwägbarkeiten scheinbar kalkulierbar. […] Eines Tages aber brechen jene Wünsche und Begierden, die sich dem Bewusstmachen verweigern, doch wieder durch, und die Life styles erweisen sich als Abwehrformationen. 18 Die Figur der „Kleinen“ ist von den sie bedrängenden sexuellen Wünschen heimgesucht, doch statt sie mit Chris auszuleben, kanalisiert sie ihre sexuelle Energie, indem sie ein narzisstisches Selbstbild pflegt. Sie rationalisiert ihre Libido völlig. Die Life styles sind bei beiden Figuren Abwehrreaktionen gegenüber ihren unbewussten Wünschen. Der quasi impotente Chris wehrt seine Wünsche ab, indem er leidenschaftlich ein Rockstar-Image vor sich herträgt. „Die Kleine“ wehrt ihre Wünsche ab, indem sie sich nach einem gewohnheitsgemäßen Muster selbst befriedigt und einem idealisierten Bild von sich huldigt. Als Vorlage dafür dient ihr eine weibliche Comicfigur. Ihre Neosexualität, so meine These, trägt nur den Anschein von Queerness. Sie bleibt rein selbstbezüglich, statt sich kritisch auf die Heteronormativität zu beziehen. Auf den ersten Blick mag es ironisch und befreiend erscheinen, dass „die Kleine“ ihre Sexualität für sich allein auslebt und eine weibliche Comicfigur benutzt, um sich zu erregen. Diese Erregung hat scheinbar wenig mit Männern zu tun. Nee, echt. Vampirella macht mich absolut scharf. […] Ich meine, ich sehe einfach nur Titten, und schon bin ich absolut sexorientiert. [ ] Da kann ich mir 100 Fotos von Schwänzen angucken, aber nichts turnt mich so an wie Vampirella. 19 Ihre Erregung durch Vampirella sollte allerdings nicht als lesbischer Subtext missverstanden werden, denn sie komplettiert das Bild einer Figur, die primär selbstzentriert und medien- Literaturkritik nimmt ganz konsequent diesen Neosexualitätsdiskurs auf, indem er die Autorin permanent als sexuelles Objekt stilisiert (vgl. Joachim Lottmann: Diese Locken! ). Diese Stilisierung ist aber „bewusst rationalisiert“ und lässt auf keine spontan entstandene sexuelle Spannung zwischen Kritiker und Autorin schließen. 18 Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, S. 38. 19 Alexa Hennig von Lange: Relax, S. 139. <?page no="177"?> 176 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman süchtig ist. Wenn wir uns den scheinbar queeren Abschnitt, in dem „die Kleine“ ihre Selbstbefriedigung dargestellt, ansehen, wird erkennbar, dass das heteronormative System nicht gebrochen, sondern sogar bestätigt wird. Das, was „die Kleine“ in ihrer Einsamkeit treibt, ist Ausdrucksform von Neosexualität, nicht von Non-Konformität. Sie beschreibt, wie sie sich in sexuelle Stimmung bringt durch den Comic, den sie immer präzise durchliest. Das tut sie, um die Zeit totzuschlagen bis ihr Freund sie vielleicht anzurufen gedenkt. Der Vampirella-Comic ist getragen von zwei weiblichen Figuren, Vampirella und der Göttin von Drakulon. Die (überzeichneten) weiblichen Geschlechtsmerkmale von Vampirella und der Göttin sind es, die „die Kleine“ in sexuelle Stimmung bringen. Der Vibrator namens „Harald“, der phallische Ersatz, wird von der „Kleinen“ als widerwärtiges Mittel zum Zweck der mechanischen Befriedigung empfunden, die Vampirella-Figur jedoch wird verehrt. Ich meine, auf meine Art habe ich mich auf Warten eingestellt: Das geht so: Freitagnachmittag hau ich mich aufs Bett, stelle das Telefon daneben, falls Chris anruft, und dann lese ich meinen „Vampirella“-Comic. Der ist echt richtig gut. Vampirella ist überhaupt die coolste Frau, die es gibt. […] Ich kenne die Story echt schon in- und auswendig, und darum lese ich ihn auch nicht mehr wegen der Geschichte. Das ist so ein Ritual. „Vampirella“-Comic lesen, Zeit vergehen lassen, mir die Riesentitten von Vampirella angucken und scharf werden. Nee, echt. Vampirella macht mich absolut scharf. Eigentlich muß ich nur eine Seite lesen und schon zieht es an meinem Unterleib, als würden 1000 Männerfinger dran rumfummeln. Das ist echt komisch. Ich meine, ich sehe echt nur Titten, und schon bin ich absolut sexorientiert. Da denke ich immer, jeder, der den Comic liest, will Sex haben. Das ist einfach so. Ich schlage die erste Seite auf, und schon denke ich nur ans Ficken oder Rattern. Das ist doch echt komisch, oder nicht? 20 Da „die Kleine“ in einer Welt voller poppig karikierter Vorstellungen von Begehren und Sexualität lebt, ist es so komisch nicht, dass eine Kunstfigur, die eine völlige Übertreibung weiblicher Anatomie darstellt, für sie zur erotischen Vorlage für ihre sexuellen Wünsche wird. Wie queer ist das? Sie wird zwar von Brüsten erregt, diese haben allerdings nichts oder sehr wenig mit realer Weiblichkeit gemein. Trotzdem kommen wir nicht umhin, in dieser Vorliebe eine Art Queerness zu vermuten, zumal die Figur uns diese Deutung in den Mund legt: Das kann ich echt keinem erzählen. Ich meine, wenn mich einer fragt, nur mal angenommen: „Woran denkst Du, wenn du ratterst? “ und ich sage: „An Vampirella! “ Das nimmt mir doch keiner ab. Da denkt doch jeder, ich bin lesbisch oder so. 21 Tatsächlich aber mündet der Verlauf des sexuellen Szenarios, das „die Kleine“ aus ihrer Vampirella-Lektüre übernimmt, in der heteronormativen Begehrensstruktur, so dass das unbewusste Textbegehren gegen eine homoerotische Deutung ihrer Masturbationsvorlieben spricht. Diese Textstelle sollte genauer betrachtet werden. Die ersten Seiten sind noch richtig langweilig. Aber ab Seite 8 wird es richtig gut. Da kommt nämlich der Liebhaber von Vampirella angeritten und mit dem trifft sie sich erstmal heimlich im Stall. […] 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 142. <?page no="178"?> 177 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) Auf Seite 22 taucht dann immer die „Göttin von Drakulon“ auf. Die hat das genialste gelbe Kleid an, das ich mir vorstellen kann. Das schockt total. Ich meine, das ist so sexy. Obenrum hat die Göttin einfach nur einen mikrokleinen gelben BH an. Da quillt echt alles raus und unten hat sie nur so eine Art Lendenschurz rumgeschnürt. Ey, das ist so sexuell. An der Stelle ziehe ich immer meine Hose aus und ziehe meine Unterhose hinten in die Porille. Dann fühle ich mich absolut wie die Göttin von Drakulon, und was die kann, kann ich schon lange. […] Ich denke jetzt an meine Titten-Frauen und sonst an gar nichts. Harald aus der Schublade nehmen und an Titten denken. Jetzt die U-Hose aus. Langsam wird es auch unangenehm mit der Unterhose in der Porille. Ich mache jetzt die Augen zu und ratter. Zuerst ohne Harald. Einfach nur mit der rechten Hand. Ganz langsam. Nur ein bisschen rumfummeln. Erstmal ruhig werden, entspannen und rumfummeln. […] Ich lege mir noch schnell mein Schnüffeltuch über die Augen und dann fummel ich weiter. Ich streichel die Göttin. Ich ziehe die Göttin aus. Ich bin ein Mann. Ich streichel die Göttin. Sie liegt vor mir. Ich habe sie an Händen und Füßen ans Bett gefesselt. Sie windet sich. Die Göttin windet sich. Sie will sich befreien. Ich binde ihr die Augen zu und dann streichel ich sie. Ganz vorsichtig. Ihre Beine sind gespreizt und ich streichel sie zwischen ihren Beinen. Ihre Muschi ist rasiert, und sie ist ganz nackt. Ich habe sie ausgezogen, meine Göttin mit den Riesentitten. Ich sitze zwischen ihren Beinen, und ich sehe mir ihren Körper an. Ihre Brüste sind zur Seite gefallen, sie hat sich beruhigt. Sie liegt einfach nur da und läßt sich von mir streicheln. Ich sehe mir ihre Muschi an. Sie ist rosa und ganz klein. Richtig unberührt sieht die Göttin aus. So was hat sie noch nie erlebt. Das erste Mal wird die Göttin von mir zwischen ihren Beinen gestreichelt. Plötzlich sind meine Hände die Hände von Chris. Chris sitzt jetzt zwischen den Beinen der Göttin. Chris’ Hände streicheln die Göttin, ich bin die Göttin von Drakulon. Meine Augen sind verbunden, ich bin gefesselt und Chris sitzt da und streichelt mich. Ich fühle, wie Chris mich ansieht, er sieht, daß ich rasiert bin. Chris ist vorsichtig. Die Göttin atmet schwer, meine Hände greifen nach Harald. Es ist soweit. […] Harald, die Göttin, ich und Chris. Ich streichel weiter, und die Göttin kann nicht mehr, ich kann nicht mehr. Chris’ Hände spielen verrückt, und ich schmeiß Harald in die Schublade zurück. Ich hasse Harald, wenn ich einen Orgasmus habe. 22 Erneut die Frage: Wie queer ist die Szene wirklich? „Die Kleine“ begehrt nicht Frauen in der Art von Vampirella, sie sieht (und begehrt) sich als Vampirella bzw. als die Göttin. In der oben zitierten Darstellung ihrer Autoerotik zeigt sich „die Kleine“ in mehrfacher Hinsicht an das Gebot der Heteronormativität angepasst. Erstens macht sie sich ein patriarchal geprägtes Weiblichkeitsbild vollends zu eigen. Ihre Weiblichkeitsvorstellung ist geradezu masochistisch-passiv, Vampirella und die Göttin sind ihre sexuellen Vorbilder und ihre Erregung ist eine narzisstische Spiegelung ihrer selbst in diesen Bildern. Verstärkt wird die Vorbildfunktion dadurch, dass „die Kleine“ ihren eigenen Körper als mangelhaft empfindet. Vielleicht finde ich das ganze deshalb so scharf weil ich keine Titten habe. Kann ja sein. Ich meine, manchmal denke ich echt, daß es mir so wie den Männern geht. Die haben auch keine Titten, genau wie ich, und deshalb finden ich und die Männer Titten so absolut scharf. 23 22 Ebenda, 140 ff. [Hervorhebung K. K.]. 23 Ebenda, S. 142. <?page no="179"?> 178 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Da aber in der patriarchal ausgerichteten symbolischen Ordnung nur der Mann Träger des Blickes sein kann, identifiziert sich „die Kleine“ vollends mit dem männlichen Blick („Ich bin ein Mann“). Als Mann findet sie die sekundären Geschlechtsmerkmale der Göttin sexuell erregend. Im Liebesspiel, das sie imaginiert, macht sie die Göttin zu einer noch nahezu unberührten Frau, was wieder eine Männerphantasie darstellt. Eine aktive Blickposition führt bei der weiblichen Figur zu einer Geschlechtsrollenübernahme. Kurz darauf spezifiziert sie die Rollenübernahme, indem sie ihren eigenen Freund zum Akteur dieser imaginierten Szene wählt („Plötzlich sind meine Hände die Hände von Chris“). Ihre pornographische Phantasie untersteht einer männlichen Blick- und Begehrensökonomie. Sexuelle Aktivität ist männlich besetzt, daher ist der aktive Blick männlich, das passive Angeblickt-Werden entspricht der weiblichen Geschlechtsposition. 24 Wenn „die Kleine“ aktiv schaut, identifiziert sie sich mit dem männlichen Blick und nicht nur das: Sie übernimmt auch sein Geschlecht in ihrer Phantasie. Diese Rolle hält sie jedoch nicht lange aus, weil ihre sexuelle Phantasie darin gipfelt, sich selbst als das passive Objekt des männlichen Blickes und der männlichen Eroberung vorzustellen. Ihre sexuelle Erregung gipfelt in dem Moment, als ein Perspektivenwechsel erfolgt. In ihrer Imagination übernimmt „die Kleine“ nun die Perspektive der Göttin und vollzieht den Sexualakt mit Chris bzw. lässt ihn passiv an sich vollziehen: „ich bin die Göttin von Drakulon. Meine Augen sind verbunden, ich bin gefesselt und Chris sitzt da und streichelt mich.“ Ein queeres Moment, das der Text artikuliert („Da denkt doch jeder, ich bin lesbisch oder so“), wird durch die komplette Übernahme der weiblichen Rolle als reines Sexobjekt konterkariert. Die weibliche Lust entsteht nicht durch die Göttin, sondern durch die Phantasie, so begehrenswert wie die Göttin (für den absolut gesetzten männlichen Blick) zu sein - deshalb nimmt sich „die Kleine“ auch vor, sich bald einer operativen Brustvergrößerung zu unterziehen, damit sie ihre Sexualobjektposition besser ausfüllen kann und als Frau sichtbarer wird. Ihre Lust beruht, neben dem Hang zu narzisstischer Identifikation mit dem Kultsexualobjekt, darauf, sich das männliche Subjekt in diesem Spiel vorzustellen. In dieser Szene gibt es keine queere Lust und keine Erfüllung jenseits der Heteronormativität, nicht einmal jenseits eines männlichen Blicks. Die Befriedigung schöpft die Figur daraus, einem pornographischen Bild zu entsprechen, das weibliches Gender im Liebesspiel zu reiner Pas- 24 Die pornographische Szene, die von Hennig von Lange entworfen wird, stellt ein Korrelat der berühmten filmtheoretischen Thesen Laura Mulveys dar. Ihr Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975) beeinflusst seit über 40 Jahren die Filmkritik. Seit den 1990er Jahren liegt er auch in deutscher Übersetzung vor. Die Relevanz ihrer Thesen bzw. bestimmte Probleme, die der Essay außer Acht lässt, sind an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Es geht mir nicht darum, die filmwissenschaftlichen Thesen als literaturwissenschaftlichen Schlüssel zu nobilitieren, wohl aber darum, herauszustellen, dass die visuelle Lust der literarischen Figur sich als eine Lust erweist, die der patriarchalischen Blickökonomie völlig entspricht. Diese Blickökonomie kann zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Popromans in den feministischen Diskursen als bekannt vorausgesetzt werden. Ob Hennig von Lange diese Szene ausdrücklich auf Mulvey bezieht oder unabsichtlich von denselben Thesen zu weiblicher Lust getragen ist wie die Wissenschaftlerin, ist für unsere Rezeption zweitrangig. Vgl. dazu: Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino.-In: -Weiblichkeit als Maskerade. Hrsg. von Liliane Weissberg. Frankfurt am Main 1994, S. 48 - 65. <?page no="180"?> 179 X.1 Trügerische Sehnsüchte, Selbstoptimierung und Neosexualität: Alexa Hennig von Lange: Relax (1997) sivität verdammt. Dass „die Kleine“ faktisch selbst Handelnde dabei ist, nämlich durch das Vehikel Harald, ist mit ihrer Phantasie nicht vereinbar. Ich hasse Harald, wenn ich einen Orgasmus habe. Ich hasse Harald wirklich. Plötzlich ist er nur noch grün und aus Plastik. Bloß weg mit Harald. 25 Es findet keine phallische Aneignung statt, sondern die Selbstaktivität wird bedauert. Sie schämt sich: Ich fühle mich gerade ein bisschen dreckig und erwischt irgendwie. Ich liege hier in meinem Bett rum, mit Harald in der Schublade […]. Die Göttin hat sich verpißt. 26 In diesem Schuldgefühl erzählt sich ihre heterosexuelle Sehnsucht. Die Girl Power, die scheinbare Autonomie, endet da, wo der Figur klar wird, dass sie sich etwas Anderes wünscht als „Harald“. Der Roman erzählt das Scheitern beglückender Paar-Sexualität: Die Hauptfiguren haben keinen Sexualverkehr miteinander, sondern sie befriedigen sich selber. Beiden dient dazu als Folie eine idealisierte, patriarchalische, popkulturell orientierte Sexualität, in der vor allem die Frau eine festgefügte Rolle als Sexobjekt innehat und nur über ihren Sexappeal überhaupt sichtbar ist. Der Widerspruch zwischen idealisierter und real erlebter Sexualität ist bezeichnend für die Verschiebung einer Paarsexualität hin zu einer narzisstischen Autoerotik. Die leibhafte Heterosexualität der Erzählfiguren scheitert in diesem Roman deshalb, weil unerfüllbare Sexualvorstellungen auf männlicher und weiblicher Seite herrschen und die popkulturelle Performanz beider Geschlechter Inkompatibilität statt lustvolle Liebe fördert. Der Widerspruch zwischen pornographischer Phantasie (das, was „die Kleine“ imaginiert) und real erlebter Sexualität (der hassenswerte „Harald“) wird von der Figur artikuliert. Die Kluft zwischen dem heteronormativen Wunschbild und der gescheiterten Paarbeziehung wird durch die queer anmutende Selbstsuggestion der „Kleinen“ zu überbrücken versucht. In ihrer Einsamkeit sehnt sie sich als perfektionierte Frau nach ihrem nicht minder perfekten Liebhaber Chris. Dafür benutzt sie die Comic-Figur. Ihre Imagination markiert keinen Ausbruch aus der glück- und körperlosen Zweierbeziehung, sondern eine Bestätigung, dass ideale Sexualität nur zwischen Mann und Frau stattfinden kann. Selbst da, wo Mann und Frau nicht zusammenkommen, weil Chris und „die Kleine“ ja nur schwache Versionen des idealisierten popkulturellen Szenarios abgeben, bleibt das Gebot der Heterosexualität bestehen. Beide leben ihre Heterosexualität in der Phantasie aus. Die heterosexuelle Phantasie paart sich mit Narzissmus. „Die Kleine“ schöpft ihr Glück daraus, sich selbst als begehrenswert zu verstehen. Dieser Wunschprojektion steht bloße Leere gegenüber, denn niemand begehrt sie leibhaftig. Relax zeigt, wie ein ganzer Roman von Geschlechtsverkehr handeln kann, 27 ohne dass dieser wirklich passiert. Der Begriff ‚Sex‘ als Zeichen für Zweisamkeit/ Paarung hebt sich selbst auf. 25 Alexa Hennig von Lange: Relax, S. 145. 26 Ebenda. 27 Vgl. die Aussage auf der Textebene „Vielleicht ficken wir ja auch noch. Das wäre nach langer Zeit wieder eine richtig gute Idee. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das geht“ (ebenda, S. 203) mit dem Rezeptionseindruck einer „Überdosis Sex, die ihm [dem Rezipienten, K. K.] auf jeder Zeile des Debütromans ‚Relax‘ […] ins Gehirn gejagt wird“ (Joachim Lottmann: Diese Locken! ). <?page no="181"?> 180 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Er besteht im Roman nur als eine Sehnsucht. Auf diese Weise hebt sich allerdings auch das queere Moment auf. Mit ihrem Begehren nach der Comic-Figur artikuliert „die Kleine“ ihre Sehnsucht nach Chris. Der Roman ist pseudo-emanzipatorisch und pseudo-queer. Es ist ein Roman über self sex. Und genau das will er sein. Alexa Hennig von Langes Roman hatte nicht die Intention, einen weiblichen Aufbruch darzustellen, sondern die weibliche Stagnation im popkulturellen Bild offenzulegen. Das ist ein Anspruch popkulturellen weiblichen Schreibens, der, wie wir gleich sehen werden, auch Jahre später noch Bestand hat. X.2 Heterosexuelle Ehekämpfe, lesbische Verführung als neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) Fast 20 Jahre später scheint Mädchen für alles noch deutlicher auf queere Diskurse Bezug zu nehmen als Relax. Mit dem Titel wird Marie ins Licht gerückt, eine Figur, die für Chrissi, die weibliche Ich-Figur, zum sexuellen Eroberungsobjekt wird. Sie arbeitet als studentische Haushaltshilfe bei Chrissi und ist fast so ‚sexy‘ wie Vampirella. Der Text nimmt uns mit, diese Eroberung schrittweise zu verfolgen, die ziemlich bald von Erfolg gekrönt sein wird. Chrissis ausgeklügelte Eroberung steht dabei über dem Genuss. Chrissi will das Mädchen haben. Nur aus welchem Grund? Ist es Begehren, Trieb oder gar Liebe, was sie ihren Plan aushecken lässt? Warum hat sich Marie von der Frau, bei der sie als ‚Hausangestellte‘ arbeitet, erobern lassen? Welches Begehren treibt die jüngere Frau? Diesen Text aus einem queertheoretischen Blickwinkel betrachten zu wollen, liegt auf der Hand, ja mehr noch, dieses Vorhaben drängt sich auf. Lesbischer Sexualverkehr ist in den Romanen von Charlotte Roche (* 1978) nicht außergewöhnlich. Auch die weiblichen Ich-Figuren ihrer anderen beiden Romane, die vordergründig heterosexuell leben, verfügen über sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht. Vor allem Helen, die Hauptfigur des Debüts Feuchtgebiete, steht Chrissi an Forschheit in nichts nach. Allerdings begehrt Helen Frauen nicht im eigentlichen Sinn des Wortes ‚Begehren‘, sie ist allgemein an der weiblichen Anatomie interessiert und schläft mit Frauen als eine Art Studium. 28 Mit diesem Debüt gelang der Autorin Charlotte Roche ein großer Erfolg. Sie zählt zu den so genannten Vertreterinnen des Sexpositivismus. Für alle Romane Roches ist zweifellos festzustellen, dass sie einen popfeministischen Anspruch haben. Sie bieten eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden bürgerlichen Weiblichkeitsbild. Dieses Bild konturiert auch popkulturelle Weiblichkeit. Entgegen aller feministischer Errungenschaften der letzten Jahrzehnte erweist sich das bürgerliche Frauenbild auch gegenwärtig als ziemlich unabänderlich. Neben Attraktivität und sexueller Verfügbarkeit sollen die Frauen auch ein gewisses Potential an haushälterischer Begabung und Hingabe an ihre Erziehungspflichten aufweisen. Die Orientierung, die jungen Frauen in der Werbung beispielsweise gegeben wird, um diese Vorgaben einzuhalten, unterscheidet sich nicht prinzipiell von der in den 1950er Jahren. Nur kommt zum Spektrum des bürgerlichen weiblichen Idealbildes nun auch die Vorgabe beruf- 28 Vgl. Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Köln 2008, S. 116. <?page no="182"?> 181 X.2 Neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) lichen Erfolgs, höherer Bildung und lustvollen, jedoch gleichzeitig maßvollen Umgangs mit Sexualität hinzu. Von diesen bürgerlichen Vorgaben versuchen sich Roches Protagonistinnen noch deutlicher abzugrenzen, als es beispielsweise Hennig von Lange mit ihrer „Kleinen“ tut, die es schon für feministische Revolte hält, dem Nagellack zu entsagen. Helen in Feuchtgebiete verweigert fast jede Art äußerlichen Lacks. Ihre Rebellion besteht in einer Ablehnung des weiblichen Hygiene- und Schönheitswahns. ‚Weiblichkeit‘ untersteht historisch einem extremen Reinheitsgebot. Es entspricht dem klassischen Geschlechterdualismus, dass Frauen ihren als ‚anfällig‘ diskursivierten Körper mit Mitteln der Sauberkeit und Gesunderhaltung ‚rein‘ und attraktiv zu halten haben. Diesen durch Helens Mutter verkörperten Grundsatz weist Helen exzessiv von sich. Ihre Verweigerungshaltung paart sich mit ihrer sexpositivistischen Vorliebe für Geschlechtsverkehr. Da sexuelle Offenheit zu einem popkulturellen Idealbild des Weiblichen zählt, erregt weniger Helens Promiskuität als ihre mangelnde Hygiene, also ihr ‚schmutziges‘ Eroberungsverhalten, Aufsehen. In Kombination sorgt jedoch beides, die sexuelle Autonomie und die Loslösung vom Hygienediskurs, dafür, die Weiblichkeit der Figur in Frage zu stellen. Popkulturelle Weiblichkeit muss nämlich ambivalent bleiben. Wenn sie zu sehr in Richtung Autonomie kippt, wirkt sie unglaubwürdig. 29 Helens lesbische Erfahrungen ordnen sich daher eher in ein Paradigma der Liederlichkeit. Die Frauen, mit denen Helen ins Bett geht, sind Prostituierte, die von der Protagonistin für das Körperstudium bezahlt werden. Inwieweit wir es mit queerer Sexualität zu tun haben, ist daher schwer zu entscheiden. Helens Anatomiestudium des weiblichen Körpers ist in gewisser Weise nonsexuell bzw. ihre libidinöse Energie kann in völlig „resonanzfreien Akten sexueller Betätigung abgeführt werden“. 30 Die Figur Helen reizte Rezensenten nicht nur zu belustigter Kritik, sondern auch zur Artikulation innerer Abscheu. 31 Charlotte Roche benennt einen Geschlechterunterschied in der Rezeption. Während Frauen sich eher intellektuell mit dem Thema des Buches auseinandersetzen würden, führe die Lektüre bei Männern entweder zur Belustigung oder zu Ekel. 32 Es gab mehrere Parodien auf den Roman, die bekannteste ist Heinz Strunks Fleckenteufel 33 , die der Autor „als männliche Antwort auf Charlotte Roches ‚Feuchtgebiete‘ angekündigt“ 34 hatte. In der Rezeption des Romans spiegelt sich die Ambivalenz des popkulturellen Frauenbildes zwischen Bürgerlichkeit und Aufbruch. Das Unverständnis, das Helen erregt, beruht darauf, den Widerspruch sichtbar zu machen, in dem sich popkulturelle Weiblichkeit befindet. Die Figur entscheidet sich vollends gegen die Bürgerlichkeit, wirkt dabei aber obszön. Eine popkulturell geprägte Frau soll die bürgerlichen Vorstellungen, die altbacken erscheinen, zwar 29 Vgl. Katja Kauer: „We make love and it doesn’t feel good.“ In: Oxford German studies journal themed volume: Fractured legacies: historical, cultural and political perspectives on German feminism. Oxford German Studies, 45: 1, S. 100 - 120. 30 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. Berlin 2016, S. 142. 31 „Es ist ein Buch, das polarisiert, das viele genial und manche eklig finden.“ Annabel Wahba: Die Schmutzkampagne. In: Die Zeit, 22.5.2008. www.zeit.de/ 2008/ 22/ Roche-22 (letzter Zugriff 7.2.2018). 32 Vgl. Nina Power: Die eindimensionale Frau. Berlin 2011, S. 103. 33 Vgl Heinz-Strunk: -Fleckenteufel. Reinbek 2009. 34 Vgl. Marcus Jauer: Der Teufel kann Scharbeuz. In: Frankfurter Allgemeine, 5.2.2009. www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ fleckenteufel-der-teufel-kam-bis-scharbeutz-1774507.html (letzter Zugriff 7.2.2018). <?page no="183"?> 182 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman in ihrer Erscheinung hinter sich lassen, um sexy zu wirken, doch gleichzeitig soll sie eine zu konsequente Verweigerung des herkömmlichen Weiblichkeitsideals (wie Helen) vermeiden. Die sexuelle Autonomie soll eine nur scheinbare Autonomie bleiben, denn eine allzu konsequente Selbstbestimmung führt aus Sicht der Männer nur zur Negierung von Weiblichkeit. Wenn aus sexueller Verfügbarkeit aggressiv betonte Unabhängigkeit wird, wird eine Frau zur Außenseiterin im patriarchalischen Gefüge. Begehrenswert ist eine Frau nur nach den männlich generierten Maßstäben, diesen Status erlangt sie über den Weg der geschlechtlichen Unterwerfung. 35 Die Figur Helen dagegen ist zu unkonventionell und in ihrer Freiheit daher nicht mehr sexy, also geschlechtlich nicht anziehend. Sie wirkt in ihrer sexuellen Freizügigkeit, zumindest auf einige, höchst unattraktiv. Bestimmte sexuelle Vorlieben und Handlungen überschreiten sogar das Paradigma dessen, was als ‚Sex‘ verstanden wird. Dies lässt eben auch ihren sexuellen Austausch mit Frauen als nonsexuell erscheinen. Auch Chrissi beschreitet den Weg der Lossagung vom bürgerlichen Idealbild ziemlich konsequent; ein Schritt, der auch sie weder sonderlich weiblich noch sonderlich begehrenswert erscheinen lässt. Allerdings tritt sie auch nicht sonderlich queer auf und rebelliert, anders als Helen, nicht offen. Vielmehr wirkt die Figur wie eine an den popartigen Idealvorstellungen ihrer selbst gescheiterte Frau. Der Text wird damit eröffnet, uns Chrissis Überforderung als Hausfrau und junge Mutter vor Augen zu führen. In ihrer Überforderung erweist sich Chrissi als eine typisch popliterarische Gestalt. In der Popliteratur zeigen sich die Protagonistinnen als makelhaft, weil sich „problematische Situationen nicht mehr in öffentlichem Protest manifestieren, sondern in andere Kanäle umgeleitet werden, etwa in psychische Probleme.“ 36 Der Handlungsspielraum der Figuren ist gering. Chrissi ist keine Heldin, ihre Lossagung vom bürgerlichen Rollenbild besteht allein darin, den Pflichten als Hausfrau und Mutter eine schuldbeladene Absage zu erteilen. Einerseits strebt sie nach Autonomie, erhofft ein anderes Leben zu gestalten als die bürgerlichen Frauen vor ihr, andererseits hat sie sich bewusst gegen ihre Karriere zugunsten eines bürgerlichen Lebens mit Haus und Kind entschieden, weil ihr das einfacher und naheliegend erschien. Angela McRobbie nennt das, was sich an der Figur Chrissi zeigt: double entanglement. This comprises the co-existence of neo-conservative values in relation to gender, sexuality and family life […] with processes of liberalization in regard to choice and diversity in domestic, sexual and kinship relations. 37 Chrissi fühlt sich von den Haushaltspflichten so überfordert, dass ihr Ehemann Jörg eine junge Studentin anheuert, die ihr als Haushaltshilfe den Rücken stärken soll: 35 Vgl. Thomas Hecken: Populäre Kultur. Mit einem Anhang ‚Girl und Popkultur‘. Bochum 2006, S. 174. 36 Sandra Mehrfort: Popliteratur. Zum literarischen Stellenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsruhe 2008, S. 189. 37 Angela McRobbie: The Aftermath of Feminism. Gender, Culture and Social Change. London 2009, S. 12. <?page no="184"?> 183 X.2 Neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) Schön, da arbeitet jetzt jemand im Haus und macht die Sachen, die ich nicht kann. Im Prinzip gebe ich das ganze Geld, das ich in Elternzeit kriege, jetzt schwarz an Marie weiter. Sie schmeißt den ganzen Haushalt mit Jörg zusammen, als wären die das Ehepaar […]. 38 Marie bei sich im Haus zu haben, nimmt Chrissi zwar den Druck des Haushaltes, dem sie sich nicht gewachsen sieht, setzt sie aber unter einen anderen Druck. Chrissi fühlt sich dem Zwang ausgesetzt, sich vor Marie (und Jörg) als begehrenswertes Subjekt zu beweisen, deshalb hat sie sich in den Kopf gesetzt, Marie zu verführen. Dieser Verführungsgedanke hat etwas Gemütskrankes an sich und lässt vielmehr auf Chrissis psychischen Makel denn auf Begehren, Liebe, nicht mal auf einen Wunsch nach Triebbefriedigung schließen. Es ist eine völlig rationale Entscheidung, frei von jeder Spontanität der Anziehung. Dass allerdings das Objekt eine Frau ist, ist nicht belanglos, aber auch nicht problematisch für Chrissi. Gleichgeschlechtlicher Verkehr ist für Chrissi, wie auch für die anderen Frauenfiguren von Roche, überhaupt kein Hinweis auf homosexuelle Identität oder eine lesbische sexuelle Präferenz. Der Begriff kommt in dem Zusammenhang nicht einmal mehr vor. Das spricht eindeutig für eine queere Leseweise dieses Buches, denn weiblich-weiblicher Sexualverkehr wird nicht als unnormal aufgefasst oder kategorisiert. Was an ihm diskussionswürdig ist, sind nicht die moralischen oder die begrifflichen, sondern die rein pragmatischen Erwägungen, die den Akt begleiten. Chrissis unaufgeregte Haltung zu gleichgeschlechtlicher Sexualität spricht in diesem Roman nicht für eine Verwerfung der Heteronormativität. Sie ist abgeguckt aus Film und Fernsehen. Innerhalb der letzten Jahre hat die Erscheinung von Homosexualität in der Popwelt zugenommen. Der Versuch, Sexualität mit dem eigenen Geschlecht auszuprobieren, wirft bei popkulturellen Frauenfiguren nicht die ängstliche Frage auf, ob jemand denken könne, die Frau sei „lesbisch oder so“. 39 „Die Kleine“ in Relax beschäftigt sich noch, wenn auch nur halbernst, mit dem Gedanken, Chrissi überhaupt nicht. Sie hat keine Bedenken lesbisch zu sein, sondern konstatiert für ihr Erwachsenenalter einen Mangel an Gelegenheit; „als ich Mädchen war, Klassenfahrt oder so, dann fasst man auch mal Gleichgeschlechtliche an, und als verheiratete Frau scheint das irgendwie unmöglich geworden zu sein.“ 40 Nur stellt sich für uns erneut die Frage, ob diese emanzipierten Gedanken darauf schließen lassen, dass Chrissi Identitätskategorien grundsätzlich verwirft? Die Sorge, dass ihr Mann eigentlich schwul sei, spricht dagegen. 41 Hinsichtlich ihres Mannes holen sie die Kategorien wieder geschwind ein. Ihre Auseinandersetzung damit wirkt geradezu wahnhaft. Auch ihr eigentliches Interesse an Marie spricht gegen eine kritische Auseinandersetzung mit der Heteronormativität. Es ist nicht von einem Begehren nach Nähe zu einer Person getragen, sondern verleiht Chrissi einen neurotischen Charakter. Als neosexuelles Subjekt zieht Chrissi den Gewinn, den sie sich aus der Eroberung von Marie verspricht, nicht aus der körperlichen Befriedigung, die, wenn überhaupt, ein angenehmer Nebeneffekt ist, sondern aus der seelischen Befriedigung. Sie besteht darin, ihren Mann im Kampf um Marie ausgestochen zu haben. Als sie Marie das erste Mal 38 Charlotte Roche: Mädchen für alles. München/ Berlin 2015, S. 75. 39 Alexa Hennig von Lange: Relax, S. 142. 40 Charlotte Roche: Mädchen für alles, S. 169. 41 Vgl. ebenda, S. 77f. <?page no="185"?> 184 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman sieht, ist für sie sofort klar, dass Jörg, ihr Ehemann, von der hübschen, jungen Haushaltshilfe angetan sein muss. Dieser Gedanke stachelt sie auf. Er entspringt ihrem Kopfkino, ist für sie jedoch fraglos real. Ihre Vermutung beißt sich zwar mit Chrissis Annahme, dass ihr Mann insgeheim Männer begehre und somit schwul sein könnte, aber Logik ist Chrissis Sache nicht. Heute kommt die neue Babysitterin. Jörg hat eine ausgesucht und gefunden. Im Bioladen. Die hing da. Also als Zettel am Schwarzen Brett. 42 Marie, Marie, Marie, so nennt er sie schon, die bauen grad eine Beziehung auf, und ich bin wieder mal unpässlich. Kotz. Los jetzt, Chrissi, du verlierst deinen Mann an die, wenn du nicht schnell da runtergehst und Präsenz zeigst. Ich bringe mich in Form und geh dann runter. Ich kann ihre Erscheinung von der Treppe aus durch den Flur Luftlinie ca. sieben Meter weit gut sehen. Sie steht in der Küche. Sofort weiß ich, warum er sie ausgesucht hat. Sie sieht sehr gut aus. Lange, glatte blonde Haare, riesige braune Augen. Coole Klamotten, sehr selbstbewusstes Auftreten. […] Ich beobachte ganz ruhig, wie er sie nervös begrüßt. Peinlich. Tja, er hat auch Hintergedanken, das seh ich ihm an, so gut kenn ich ihn schon. Schrecklich, wenn man jemanden so lesen kann. […] Sie kommt ins Wohnzimmer, gefolgt von meinem Mann, er ist wegen ihrer Schönheit so aufgeregt, dass er auf seinen durchgewetzten Herrensocken fast ausrutscht. Aber er hat recht mit seinem Rumgerutsche: Sie ist wirklich wunderschön! Mein Mann hat sie aus dem Bioladen und hat nicht erzählt, wie hübsch sie ist! Das ist ja nicht dumm. Dann hätte ich sie nie in unser Haus gelassen. 43 Vom Moment der ersten Begegnung an hat Marie einen Reiz für Chrissi. Dieser basiert aber weniger auf Maries tatsächlichem Wesen oder ihrer faktischen Attraktivität, sondern speist sich größtenteils aus der (vielleicht nur erdachten) Rivalität zu ihrem Ehemann, „um gegen Jörg gewonnen zu haben“ 44 : „Jörg und ich kämpfen um deine Liebe, jetzt schon allen den Kopf verdreht“; 45 „Jörg kann sich auf den Kopf stellen, Marie gehört mir! “ 46 Marie ist eine Trophäe für Chrissis Selbstwertgefühl. Es schmeichelt ihrer Eitelkeit, Marie zu gefallen: „Und jetzt guckt sie mich an, wie es früher Männer gemacht haben, ganz schön schön mit ihr.“ 47 Chrissi beurteilt die junge Frau als die eindeutig attraktivere Person, weil sie „jünger, schöner, fitter ist“ 48 (nach Maßgabe der massenkonformen Schönheitsvorstellungen). Der Begriff Abschätzung passt in diesem Kontext besser als der Begriff Anerkennung. Es ist nicht so, dass Chrissi die andere Frau anerkennt. Ihre Bewunderung für Marie ist das Ergebnis einer Rasterbewertung. Chrissi selbst hat gerade ein Kind geboren, ihre Figur hat an Jugendlichkeit eingebüßt. Darüber hinaus ist Marie mit klassischen Schönheitsattributen ausgestattet. Das alles konstatiert Chrissi nüchtern, sie betrachtet sie sachlich, mustert sie ohne Wohlwollen. Sandra Bartky stellte in ihrem berühmten Aufsatz Foucault, Femininity and the Modernization 42 Ebenda, S. 34. 43 Ebenda, S. 38f. 44 Ebenda, S. 122. 45 Ebenda, S. 82. 46 Ebenda, S. 143. 47 Ebenda, S. 85. 48 Ebenda, S. 121. <?page no="186"?> 185 X.2 Neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) of Patriarchal Power 49 die These auf, dass die patriarchalische Gewalt über den weiblichen Körper in modernen Gesellschaften keine äußerliche darstellt. Sie bezieht sich dabei auf den Machtbegriff von Michel Foucault. Die modernen Subjekte unterstellen und unterwerfen sich einer Kontrollinstanz, die sie in ihr Inneres verlagern. Analog dazu ist die Normierung und Disziplinierung des weiblichen Körpers eine ins Innere der Frauen verlagerte Handlung. Sie brächte Frauen ständig dazu, ihren weiblichen Körper mit einem Idealbild abzugleichen und den Versuch zu unternehmen, sich diesem Bild bestmöglich anzupassen. Wenn Chrissi über Marie spricht und sie zu einem Idealbild erklärt, das in Differenz zu ihr besteht, hört sich das an, als würde eine innere Instanz die Bewertung vornehmen. Sie folgt bei ihrer Würdigung von Maries Aussehen einem massenkonformen Schönheitsdiskurs, nicht ihrem eigenen Begehren oder ihren eigenen ästhetischen Vorlieben. Das führt dazu, dass die objektiven Beschreibungen von Maries Schönheit wie die eines ent-personalisierten männlichen Beobachters wirken, der das weibliche Subjekt in eine patriarchalische Gefügigkeit zwingt. 50 Wenn Chrissis Aussagen über Marie persönlicher werden, also Chrissis ‚eigener‘ Blickwinkel auf die andere Frau erkennbar und sie nicht mit der Stimme einer objektivierenden Instanz betrachtet wird, sind Chrissis Aussagen über Marie keineswegs mehr überschwänglich. Chrissi fühlt sich nicht durch sie erotisiert. Dies führt zu der Annahme, dass Chrissi Marie zwar als schön bewertet, diese Schönheit sie auch reizt und sie diese ‚besitzen‘ will, aber dass ihr Marie ohne Berufung auf die ‚objektive Instanz‘ in ihrer Individualität eigentlich gar nicht gefällt. Da, wo Chrissi sie mit ‚eigenen Augen‘ sieht, also wenn sie einen persönlicheren Blick auf ihr ruhen lässt, macht sie Abstriche und findet Mängel an Maries Attraktivität. Sie versucht selbstbewusst zu wirken, und hält den künstlichen Blickkontakt aufrecht. Ein bisschen weniger Augen aufreißen wär besser. Na ja. Die Stressflecken am Hals kann sie nicht verbergen. 51 Ich schäme mich ein bisschen. Für sie. 52 Sie sieht so lebensfroh aus, wenn sie Kaugummi kaut, na gut, und ein bisschen prolo, […]. 53 Eigentlich trifft Marie nicht Chrissis persönlichen Geschmack. Wenn ich sie jetzt mal genau angucke, stelle ich fest, dass sie wie alle jungen Frauen grad einen Dutt mitten auf dem Kopf trägt. Ich finde, das lässt sie älter aussehen. 54 „Du siehst richtig schön und frisch heute aus. Steht dir gut die Farbe.“ Ich spiele auf ihren lachsfarbenen Pulli an, stimmt zwar nicht, dass er ihr gut steht, aber egal. Zieht. 55 49 Sandra Lee Bartky: Foucault, Femininity and the Modernization of Patriarchal Power. In: Writing on the body: Female embodiment and feminist theory. Hrsg. von Katie Conboy-/ Nadia Medina-/ Sarah Stanbury. New York 1997, S. 129 - 154. 50 „Woman lives her body as seen by another, by an anonymous patriarchal Other.“ Ebenda, S. 140. 51 Charlotte Roche: Mädchen für alles, S. 73. 52 Ebenda, S. 141. 53 Ebenda, S. 168. 54 Ebenda. 55 Ebenda, S. 82. <?page no="187"?> 186 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Nie spricht sie in der Sprache der Zärtlichkeit über sie. Stattdessen offenbaren ihre Äußerungen Chrissis popkulturell internalisierte Misogynie. Sie stellt sich sogar vor, wie es wäre, Marie die Treppe runterzuwerfen. Diese Gewaltphantasie ist nur halbernst, spricht aber für Chrissis emotionale Distanz gegenüber Marie. 56 Im folgenden Zitat ist dieses Phänomen noch direkter auszumachen. Chrissi treibt Sport, um sich von den Zeichen der Schwangerschaft zu erholen. Das verheimlicht sie vor Jörg, ihrem Ehemann, weil dieser sportliche Frauen ablehnt. Sie nimmt Marie mit, um sie zu ihrer Komplizin gegen Jörg zu machen. Beim Sport schaut sie auf Marie mit den Augen des Trainers, also mit der Brille männlicher Bewunderung. Chrissi übernimmt seinen Blick. Er steht symbolisch für ein unpersönliches männliches Schönheitsempfinden. Erst später scheint sie ihre eigenen Augen auf Marie zu richten. Dann wird Marie Gegenstand weiblicher Neugier und differenzierender Betrachtung. Sie blickt Maries Körper mit einer doppelten Linse an, sie findet ihn einerseits schön, aber es interessiert sie andererseits, dieser Schönheit auf den Grund zu gehen, also herauszufinden, wie ‚echt‘ diese Schönheit ist. Chrissi erkennt auch in Maries Körper die Einschreibung der patriarchalischen Schönheitsnormen und prüft Maries Manipulationen, Schönheitsgeboten zu entsprechen, was ihr allerdings aus Chrissis Sicht gut gelingt. Marie liegt näher am Idealbild des „anonymous patriarchal Other“ 57 als die Erzählerin selbst. Dieses Umstandes ist sich Chrissi vollends bewusst. Aber macht sie das als Individuum für Chrissi begehrenswert? Marie erregt Chrissi nicht als Subjekt. Sie ist ein Wertgegenstand. Erregend ist die Vorstellung der erotischen Rivalität um dieses Objekt mit Jörg. Wir kommen beim Trainer an, er guckt komisch, tja, weil ich vergessen habe, Marie anzumelden. Ich kläre es mit ihm, und natürlich hat er nichts dagegen, so gut, wie sie aussieht. Sie kann alles besser als ich, jede Übung, auch wenn sie sie nie gemacht hat, zack, direkt besser. Was so ein paar wenige Jahre jünger doch körperlich ausmachen. Sie hat einen ganz flachen Bauch, nicht so eine Speckrolle wie ich über der Gebärmutter, die wahrscheinlich nie abzutrainieren ist, nur durch Fettabsaugen weggeht. Und wer macht das schon? Nur Arschlöcher. Sie trägt sogar einen Push-up-BH, ja ja, der Brustkomplex. Sonst trägt sie ganz abgenutzte olle Sportkleidung mit Reibestellen überall, auch zwischen den Beinen konnte ich bei einer Übung sehen. Bei den Liegestützen, wo die Hände so im Handgelenk umknicken, sieht man schon die fehlenden Jahre des Lebens. […] Sie hat Riesenspaß, der Trainer auch, ich habe schlechte Laune und will die ganze Zeit, dass es aufhört. […] Der Trainer schlägt ein, das ist das sichere Zeichen, dass es endlich vorbei ist, und ich gehe etwas auffällig schnell in die Garderobe. Sie zieht sich aus, aber nicht selbstbewusst, sie dreht sich weg und versucht, das Wesentliche zu verbergen. Ich sehe alles. Adlerauge. Sie ist ganz rasiert. Wie machen die das bloß, gehen die alle ins Waxingstudio? Und legen die sich da breitbeinig nackt wie ein Frosch hin und lassen alle Mitarbeiterinnen des Waxingstudios da reinkriechen? Wenn man innen an den Schamlippen die Haare weghaben will, da muss man ja ganz schön alles hin und her spreizen. Ich gucke sie komplett total an, ist mir scheißegal, wenn es ihr unangenehm ist, kann sie sich schon 56 Vgl. ebenda, S. 121. 57 Sandra Lee Bartky: Foucault, Femininity and the Modernization of Patriarchal Power, S. 140. <?page no="188"?> 187 X.2 Neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) mal dran gewöhnen, weil, und das merke ich, es wird zum Äußersten kommen. Das gehört einfach dazu, auch um gegen Jörg gewonnen zu haben. Sie ist mein und nicht sein. 58 Tatsächlich kommt es zum Äußersten. Der Einblick in Chrissis Psyche führt dazu, dass Marie fast unser Bedauern erntet, die völlig zu Chrissis Spielfigur wird: „Was der kann, kann ich schon lange, dann schnapp ich mir halt Marie.“ 59 Zynische Kommentare über ihre Dummheit und Naivität 60 wechseln mit Beschreibungen, in denen es Chrissi kickt, Marie durcheinander zu bringen. Ich hab mir schon so viele Gedanken gemacht, ob Marie, wenn’s hart auf hart kommt, mit einsteigt, aber, ganz ehrlich, wenn sie nicht mitmacht, ist die die Erste, die auf der Strecke bleibt. 61 Marie palavert […]. Oh, sie hat offensichtlich alleine das Thema gewechselt und redet jetzt über meine Handtaschensammlung, die ich im Schrank horte […]. Was für eine Marke das sei, will sie wissen, und wo ich sie herhabe. Sie findet, die Taschen sehen aus wie waffenscheinpflichtig. […] Wie so deutsche Handwerkskunst. Nur, dass sie nicht aus Deutschland kommen, du ungebildetes Frettchen. Sondern aus England, vom Designer Alexander MCQueen. 62 „Fährst du? “, bitte ich sie. Ich liebe es, neben ihr zu sitzen und sie nervös zu machen beim Fahren. Das ist richtiges living on the edge. Sie spürt meine Blicke von der Seite und ich gefährde damit uns beide. Da ist Autofahren nicht langweilig. 63 Zwar ist es so, dass Chrissi Maries Nähe genießt und auch Spaß mit ihr hat, ihren seelischen Gewinn zieht sie aber nicht aus dem Verkehr oder dem Kontakt mit Marie. Die gelebte Sexualität zwischen beiden Frauen bleibt „resonanzfrei“, um es noch einmal in der soziologischen Kategorie zu formulieren. Der seelische Gewinn beruht ganz auf ihrer Selbstliebe und dem Machtspiel der Eroberung. Sie mag ihre Rolle als Verführerin und Siegerin gegen Jörg viel mehr als sie Marie mag. Die Beschreibung der Intimität zwischen beiden legt den Spielcharakter offen. Ich drehe meinen Kopf, fummel meine andere Hand auch noch aus ihrer raus, ich merke, dass sie schon wartet, greife mit festen Händen ihren Hinterkopf und drücke ihr Gesicht in meins. Ich lege meine Lippen auf ihre, sie sind kälter als erwartet, schiebe mit meinen Lippen ihre auseinander und lecke mit der Zungenspitze ihre Lippen entlang. Da fühle ich Kaugummi, jetzt nicht aufhalten lassen von Kleinigkeiten. Chrissi, zieh’s durch, sei tapfer, tu leidenschaftlich. 64 Mit Marie lebt Chrissi kein ‚authentisches‘, irrationales Begehren aus, sondern die junge Frau erweist sich als neosexuelles Experimentierfeld. 58 Charlotte Roche: Mädchen für alles, S. 121f. 59 Ebenda, S. 80. 60 Vgl. ebenda, S. 138. 61 Ebenda, S. 214. 62 Ebenda, S. 91. 63 Ebenda, S. 146 [Hervorhebung im Original]. 64 Ebenda, S. 171. <?page no="189"?> 188 X Ausblick: Queere Ambitionen im weiblichen Poproman Ich lasse sie zappeln, mache mich interessant, wie es im Buche steht. Erst süchtig machen, dann zappeln lassen. So steht es doch immer in Datingbüchern für Männer, und wie man Frauen veräppelt. Und das mach ich jetzt leider leider notgedrungen mit Marie. Tut mir wirklich ein bisschen leid, aber macht auch ein bisschen Spaß. 65 Auch wenn es zu lustvollen Beschreibungen und pornographischen Szenen zwischen Marie und Chrissi kommt, sollten wir uns darüber nicht hinwegtäuschen lassen, dass in diesem Text kein weiblich-weibliches Begehren queer zur Heteronormativität dargestellt wird. Dies ist zum einen so, weil sehr zweifelhaft ist, dass Chrissis Begehren wirklich auf Marie gerichtet ist. Aus den zitierten Textstellen lässt sich der Eindruck gewinnen, dass Chrissi Marie nicht mal sonderlich mag, selbst in den intimsten Situationen hat Marie keine Chance, nicht abgeschätzt und objektiviert zu werden: Als ich hochgucke, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen, ob sie mich auslacht oder befremdet guckt, legt sie gerade ihren Kopf in den Nacken, macht die Augen zu und leckt sich ganz schön übertrieben die Lippen nass. Voll abgeguckt im Porno denke ich, aber was nicht? 66 Zum anderen zieht Chrissi die erotische Energie weder aus dem Begehrensobjekt, noch bedeutet ihr der Geschlechtsverkehr mit Marie viel, sondern im Sinne eines Begehrensdreieckes wird ihr das Begehren über Jörg als dritte Figur in diesem Spiel vermittelt. Der emotionale Austausch besteht zwischen dem Ehepaar. Marie ist ein Wertgegenstand, um den gebuhlt wird. Aus der (erdachten) Rivalität zu Jörg erwächst Chrissis Plan, die hübsche junge Frau zu verführen. Die erotische Energie entsteht between man and woman, also für die Akteurin Chrissi aus der Rivalität mit dem Mittler ihres Begehrens. Diese beiden Charakteristiken, die Chrissis Beziehung zu Marie kennzeichnen, lassen Chrissi als ein beinahe lächerliches neosexuelles Subjekt erscheinen. Wie in Relax ist für die junge Frau die heterosexuelle Paarbeziehung nicht zufriedenstellend. Das liegt nicht einmal am Mann, sondern vor allem daran, dass ihr die bürgerliche Rolle, in die sie sich durch ihre Ehe und Mutterschaft gedrängt fühlt, nicht passt. Statt sich jedoch dieser Rolle zu entledigen oder ihre Situation zu ändern, versucht sie, ihre Situation durch narzisstische Selbstliebe aufzuwerten. Marie, deren Charakter wir nicht entschlüsseln können und die womöglich ebenso desinteressiert an ihrer Arbeitgeberin als Person ist wie diese an ihr, liefert eine Art Ersatzbefriedigung. Diese Befriedigung ist nur vermeintlich physisch. In Siguschs Terminologie ausgedrückt, wird der „seelische Gewinn“ Chrissis nicht aus der körperlichen Erfahrung mit Marie gezogen. Chrissi benutzt ihre Sexualität, um sich psychische Befriedigung zu verschaffen. Selbst wenn sie den Geschlechtsverkehr teilweise als lustvoll empfinden kann, ist sie nicht primär daran interessiert, weil sie nicht von einem körperlichen Begehren nach Marie geleitet ist, sondern weil die gleichgeschlechtliche Sexualität nur eine Art Versicherung für ihre Wirkmächtigkeit darstellt. Es ist eine Form der Autoerotik. Die Kunstfigur Vampirella und das Hausmädchen Marie unterscheiden sich in ihrer neosexuellen Funktion für die jeweilige Akteurin kaum. 65 Ebenda, S. 172. 66 Ebenda, S. 192. <?page no="190"?> 189 X.2 Neosexuelle Machtdemonstration: Charlotte Roche: Mädchen für alles (2015) Roche verzichtet in keinem ihrer Romane auf queere Momente. In Mädchen für alles stellt sie diese sogar in den Vordergrund der Erzählung. Aus einem queer-theoretischen Blickwinkel bleibt aber diese Darstellung einer nicht heterosexuellen Sexualbeziehung eine oberflächlich-popkulturelle Erscheinung. Sie rüttelt weder an der Heteronormativität noch am festgefahrenen Weiblichkeitsbild der Figur. Chrissi erlebt sich dank Marie nicht anders oder kommt zu einer psychischen Reife. Da es sich bei Marie nicht wie bei Comicfigur Vampirella um eine Kunstfigur, sondern im Text um eine Person aus Fleisch und Blut handelt, gibt es auch eine wirkliche Nähe der Figuren im Laufe der Romanhandlung. Es ist vielleicht möglich, eine ehrliche Sympathie zwischen den Frauen in den Text wohlwollend hineinzuinterpretieren, nur faktisch ist diese von den Machtspielen verdeckt, in die sich Chrissi verstrickt. Über Maries Motivation, sich auf Chrissi einzulassen, bleiben wir völlig im Unklaren. Rein pragmatische und bestenfalls neosexuelle Gründe sind bei der Angestellten nicht auszuschließen. Chrissi ist Maries Arbeitgeberin. Als diese schenkt sie ihr eine luxuriöse Designertasche, nimmt sie mit zum personal training und lädt Marie auf kostspielige Ausflüge ein. Der Eindruck, dass Marie für ihre Freundschaft bezahlt wird, lässt sich schwer von der Hand weisen. Die sich zwischen ihnen abspielende Sexualität hat nicht die Chance, ohne den Kontext, in dem sie entsteht und durch den sie motiviert wird, rezipiert zu werden. Sie entwickelt sich nicht aus einem lesbischen Kontinuum, sondern aus einem heterosexuellen Machtspiel. Schon bevor sie Marie überhaupt gesehen hat, nimmt Chrissi sie als Konkurrentin und nicht als (mögliche) Freundin wahr. Dieser Text verfügt über keinen queer-feministischen Mehrwert. Der popfeministische Gewinn, der aus der Lektüre dieser hier vorgestellten Romane gezogen werden kann, besteht in der Dekonstruktion des popkulturellen Weiblichkeitsbildes. Den Autorinnen gelingt es, die Gefangenschaft bzw. die doppelte Verstrickung weiblicher Figuren in dem Anspruch, in das bürgerliche Weiblichkeitsbild zu passen und es gleichzeitig poppig zu überbieten, zu verdeutlichen. Das hat zur Konsequenz, dass Chrissi Marie unbedingt verführen will. Die queeren Erlebnisse sind für die Figuren jedoch nur eine Anpassung an den Befehl, ‚sexy‘ und sexpositive Weiblichkeit zu verkörpern. Sie dürfen daher nicht als Aufbruch missverstanden werden, sondern dienen dazu, die Heteronormativität in den Texten zu befestigen und die Ehe zu stärken. So ist sowohl die Selbstbefriedung der „Kleinen“ anhand des Vampirella-Comics als auch die Befriedigung Chrissis durch Maries Eroberung eine rein neosexuelle Erscheinungsform. Das bedeutet nicht, dass diese Passagen von uns überlesen oder negiert werden sollten. Sie stehen im Vordergrund der Erzählung und tragen eine Funktion, sogar eine feministische. Sie dienen dazu, das popkulturelle Weiblichkeitsbild zu entlarven und die Ambivalenz dieser Weiblichkeitsvorstellung aufzuzeigen. Jedoch ist die Sichtbarkeit der weiblich-weiblichen Sexualität hier eben kein queerer Aufbruch und kein rebellisches Aufbegehren, sondern gehört zu dem popkulturellen Szenario, in dem die Frauen versuchen sich zurechtzufinden. <?page no="192"?> 191 XI Queer - ein Schlusswort Laurie Penny: Unsagbare Dinge (2014/ 2015) 2013 wurde Judith Butler auf ihre zu diesem Zeitpunkt schon länger zurückliegenden Thesen über die kulturelle Bedingtheit der Geschlechtsidentität befragt. Ihre Thesen trugen eine akademische Schlüsselfunktion für die Queertheorie. Das Interview aus dem Philosophiemagazin 1/ 13, das sich auf diese Thesen rückbezieht, wurde in der Einleitung bereits zitiert. Es sollte damit gezeigt werden, wie die Philosophin all jenen Kritiker*innen den Wind aus den Segeln nimmt, die ihr naiven Idealismus unterstellen. Sie insistiert in dem Interview darauf, dass unsere Wahrnehmung biologischer Unterschiede bzw. die besondere Betrachtung spezifischer Unterschiede oder gar vorschnelle Generalisierungen, etwa dass alle Frauen Kinder kriegen können, kulturell bedingt sind und völlig von dem abstrahieren, was wir als harte biologische Fakten beschreiben dürften. Zum Abschluss dieses Studienbuches scheint jedoch noch viel interessanter, wie sich das Gespräch fortsetzt. In ihm ist eine Sequenz enthalten, die wir - sowohl in unserem sozialen Umgang als auch als Literaturwissenschaftler*innen - zu einer fruchtbaren Bestimmung des Queeren heranziehen können. Der Interviewer fragt die Konstruktivistin, ob die genderkonstruktivistische Debatte womöglich nicht doch den menschlichen Bedürfnissen, die als „biologisch bedingt“ akzeptiert werden sollten, ihre Berechtigung entzieht: Aber stellen wir uns eine Frau vor, die kulturell sehr feministisch geprägt ist und sich für ein selbstbestimmtes Leben ohne Kinder entschieden hat. Doch plötzlich spürt sie einen unbändigen Kinderwunsch. Ist dieser Wunsch nicht möglicherweise doch einer, der ganz woanders herkommt - also biologisch bedingt ist? Ich weiß, was Sie meinen. Aber passiert das nicht immerzu, wenn es ums Begehren geht? Sie treffen jemanden, denken, zu diesem Menschen könnte ich mich niemals hingezogen fühlen, und plötzlich finden Sie sich von einer Anziehungskraft erfasst, die völlig unvorhersehbar ist und die von „irgendwo anders“ kommt. Sehr viel Begierde kommt von „irgendwo anders“! Das führt dazu, dass wir nicht ganz wissen, wer wir sind. Denn die rationale Idee, die wir von uns selbst haben, ist nicht immer kompatibel mit unseren tiefsten Bedürfnissen und Begierden; aber gerade diese Inkompatibilität ist für mich konstitutiv für das menschliche Subjekt. Wir können sagen, die Begierde kommt von „irgendwo anders“, oder sie kommt nicht aus meinem rational denkenden Selbst. Aber das heißt nicht, dass sie aus irgendeiner archaischen Natur oder biologischen Wahrheit oder weiblichen Realität hervorgeht. 1 Hier nun wird von Butler Begehren, das „völlig unvorhersehbar ist“, als etwas zutiefst Menschliches beschrieben. Dieses Begehren könnte als queeres Begehren bezeichnet werden. Es ist als etwas definiert, das zwar keineswegs aus einer „archaischen Natur oder biologischen Wahrheit“ 1 Heterosexualität ist ein Phantasiebild. Judith Butler im Gespräch. Die Adorno-Preisträgerin über Geschlecht, Begehren und die fundamentale Fragilität des Lebens. In: Philosophiemagazin 01 (2013), S. 64 - 69, S. 66. <?page no="193"?> 192 XI Queer - ein Schlusswort hervorgeht, aber von „irgendwo anders“ kommt. Dieses „irgendwo anders“ ist nicht lokalisierbar, steht jedoch in einem Widerspruch zu der „rationale[n] Idee, die wir von uns selbst haben.“ Eine queere Begierde ist für das Selbst insofern nicht völlig zugänglich und verständlich, als es diese nicht in eine rationale Sprache, etwa die der eigenen Identitätslogik, zu übersetzen vermag. Dieses Studienbuch soll dazu ermutigen, sich den queeren Blick zu erschließen. Das Angebot an Texten, die sich für eine queere Lesart anbieten, ist gradezu unbegrenzt. Es wird durch Butlers Aussage erneut offensichtlich, was unsere Lektüren ergaben: Das queere Begehren ist weder auf bestimmte Subjekte noch auf bestimmte Textsorten, die als ‚homosexuell‘ gelten, begrenzt. Im Debütroman von Olga Grjasnowa (* 1984) setzt sich die um ihren verstorbenen Liebsten trauernde Ich-Erzählerin Mascha mit diesem namenlosen Begehren, von dem sie manchmal ergriffen wird, auseinander. Ich zitiere diese Passage aus Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (zuerst veröffentlicht 2012) deshalb, weil die Ich-Figur ein queeres Begehren nicht nur für sich selbst reklamiert, sondern als omnipräsent deklariert. Eine Frau, die direkt vor mir lag, drehte sich auf den Rücken, und ich dankte Anne Frank. Im Alter von elf Jahren hatte ich ihr Tagebuch gelesen und verstanden, dass ich nicht die einzige Frau war, die Frauen begehrte, und dass nichts sich ausschloss. Die homoerotischen Passagen in ihrem Tagebuch beruhigten und erregten mich, so wie die Frau, die vor mir lag und mir breitbeinig ihr Becken entgegenstreckte. 2 Genau dort, wo Identitätskonzepte versagen oder nicht benötigt werden, wenn sich widersprüchliche Gefühle oder unerwartete Begierden regen, kann Queer Reading zu einem geeigneten Lektüreschlüssel werden. Chrissis dezidierte Verführungsabsicht (Kap. X.2) hingegen, die eine Form der Selbstoptimierung darstellt, erschien uns nicht queer, aber Lolos Zuneigung zu Doralice (Kap. I), Manuelas Zuneigung zu Fräulein von Bernburg (Kap. VIII) oder auch B.s Zuneigung zu Leif (Kap. IX) wirkten queer auf uns, weil die Zuneigung jeweils spontan entstand und von den Akteurinnen bzw. Akteuren nicht rational ergründet werden konnte. Chrissis Begehren haben wir sehr viel Vorhersehbarkeit attestiert. Ihre rationale Idee von sich selbst, sich nämlich als sexuell omnipotentes Subjekt beweisen zu müssen, verhängt über sie die Aufgabe, die Liebhaberin von Marie zu werden. Das rührt nicht von „irgendwo anders“ her, sondern ist kompatibel mit ihrem Selbstbild. Wenn wir Judith Butlers Gedanken folgen, dass „[s]ehr viel Begierde […] von ‚irgendwo anders‘“ herrührt und deshalb nicht immer kompatibel mit unserem Selbstbild ist, fragen wir uns natürlich trotzdem, was „von irgendwo anders“ denn bedeutet. Um Anerkennung zu bekommen, bedienen wir uns Identitätskategorien, die von außen auf uns projiziert werden bzw. die außerhalb von uns bestehen. Die Kategorien gehen uns voraus und wir fügen uns in sie kontextentsprechend ein. Diese Projektionen, die die Kategorien auf uns werfen, sind immer changierend, so dass sie neben der Definition für das Selbst gleichzeitig auch das Potential der Widersetzung mit sich bringen. „Es ist deshalb unmöglich, einer bestimmten Norm voll und ganz zu entsprechen.“ 3 Nicht selten entsteht ein momentan aufleuchtendes Begehren, das der rationalen Idee von der eigenen Person entgegensteht, aus der Überlagerung verschiedener 2 Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. 3. Aufl. München 2014, S. 244. 3 Heterosexualität ist ein Phantasiebild. Judith Butler im Gespräch, S. 66. <?page no="194"?> 193 Laurie Penny: Unsagbare Dinge (2014/ 2015) Projektionen oder Normen. In diesem Bruch mit einer Identitätslogik liegt der Zauber und die Faszination des Menschlichen, deshalb erzählt Literatur gerne davon, wie Figuren von einem Begehren ergriffen werden, welches inkompatibel mit der Idee ist, die sie eigentlich von sich selbst haben. In meinem Einführungsbuch ging es vordergründig um das nicht mit der heterosexuellen Norm kompatible Begehren. Queeres Begehren ist aber nicht unbedingt nur dort zu suchen, wo sich der Verdacht des Queeren offen ausspricht. Etwas erscheint auf den ersten Blick als queer, wenn das Gender oder die Geschlechtsidentität (Sex) verwirrend wirkt oder wenn wir mit homosexuellen Verhältnissen konfrontiert werden. Da ‚Queer Studies‘ jedoch kein Synonym für ‚Gay- und Lesbian Studies‘ ist, da wir mit der Queertheorie um Reflexivität jeglicher Art von Identitätskategorien bemüht sind, kann auch heterosexuelles Begehren durchaus die Qualität des Queeren aufweisen. Das hört sich erst einmal widersinnig an, aber auch heterosexuelles Begehren kann dazu führen, „dass wir nicht ganz wissen, wer wir sind“ und uns deshalb vor Probleme mit dem eigenen Selbstbild gestellt sehen. Zum Abschluss dieses Buches möchte ich ein Beispiel dafür aus einer Buchpublikation der feministischen Bloggerin Laurie Penny (* 1986) liefern. Es soll uns helfen, den Begriff des Queeren von Vorannahmen freizumachen. Wir werden auf ein heterosexuelles, ganz klassisch erscheinendes Begehren treffen. Die Begehrende kann sich allerdings nur schwer mit diesem Begehren arrangieren. Es gelingt der Ich-Erzählerin, das Begehren zwar im Nachhinein zu verarbeiten und wegzuschieben, indem sie es mitteilt. Die Frau ist meinungsstark, feministisch, queer. Sich mit Typen einzulassen, die ihre männliche Identität niemals in Frage stellen, ist für sie ein No-Go. Auf sehr persönliche Weise vermittelt uns die Ich-Figur, dass in ihr dennoch das Begehren geweckt wurde, einem Mann nahe zu kommen, dessen Rollenbild sie eigentlich verabscheut. Laurie Penny bedient sich keiner fiktiven Erzählerfigur. Sie tritt als ‚Ich‘ auf. Es ist kein Einzelphänomen, dass junge Frauen, die sich als feministisch verstehen und agitatorisch unter dem Paradigma des Feminismus publizieren, auf persönliche Weise ihre Stellung als Frau in der Gesellschaft thematisieren, indem sie Episoden aus ihrem Leben erzählen. Als sehr berühmte Vertreterin dieser feministischen Publikationsart kann Laurie Penny gelten. Die Bücher der britischen Autorin erfreuten sich auch als deutsche Übersetzungen hohen Zuspruchs. Wir müssen an dieser Stelle nicht diskutieren, welcher Welle des Feminismus wir Penny zuordnen oder ob das Attribut ‚post‘ ihren Texten vorangestellt werden sollte. Laurie Pennys Texte sind Gegenwartsphänomene und als solche können wir sie rezipieren. In ihrem Buch Unsagbare Dinge: Sex, Lügen und Revolution, das 2015 auf Deutsch erschien, rechnet die Autorin mit dem Kapitalismus und den marktkonformen Genderrollen ab. Ich möchte an dieser Stelle weder die Relevanz ihrer Thesen noch die Argumentationsführung diskutieren. Es geht ihr darum, durch die publizistische Arbeit die weibliche Subjektivierung zu hinterfragen. Sie fordert ihre Leserinnen auf, sich nicht zum Zweck einer unheiligen Allianz mit dem Kapitalismus und seinen Versprechungen vom Feminismus loszusagen. Ein Kapitel trägt den Titel „Liebe ist Arbeit“. 4 In diesem Abschnitt zeigt sich Penny verletzlich. 4 Laurie Penny: Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Hamburg 2015 [engl. Original Unspeakable Things, 2014], S. 227 - 229. <?page no="195"?> 194 Mir soll es darum gehen, ihre darin geäußerten Bekenntnisse unter dem Paradigma der Queer Studies zu betrachten, was meiner Meinung nach ein besseres Verständnis der politisch-agitatorischen Aussagen befördert. Fast Mitternacht, vor einem besetzten Unigebäude. Die sexuelle Spannung zwischen mir und einem der inoffiziellen Studentenführer ist so stark, dass sie fast mit Händen greifbar ist. Mich beschämt, wie sehr ich ihn will. Der blasierte Gockel versucht immer wieder vergebens, in Diskussionen mit mir das letzte Wort zu behalten, und ich werde von anderen oft gefragt, wann es mit uns beiden was wird. Als wäre das schon abgemacht. Bei einer Uni-Besetzung gibt es kaum Privatsphäre, aber in der Dunkelheit draußen neben den Mülltonnen haben wir welche gefunden. Es ist Dezember, die Luft ist bitterkalt, und die drei Bier, die wir getrunken haben, reichen nicht aus, um uns zu wärmen. Wir kommen uns etwas näher. Da ist er, der Moment, in dem die Musik anschwillt und wir es unter dem Mond wild miteinander treiben, während schon der Abspann läuft. Das geschieht aber nicht. Stattdessen sagt er: „Tut mir leid. Tut mir echt leid. Aber ich küsse nur sehr hübsche Mädchen.“ Er ist betrunken, er führt sich nicht absichtlich auf wie das letzte Arschloch. Aber wir wissen beide, was er meint, und ich bin verletzt, weil er recht hat: Ich gehöre nicht zu den Mädchen, die von solchen Jungs geküsst werden. Ich bin keine sexy Knuspertüte. Ich bin rauflustig und rechthaberisch. Ich gehe ganz in meiner Arbeit und meiner Politik auf. Ich habe kurze Haare, trage kunterbunte Kleider und klobige Stiefel und stelle mich nicht dümmer, als ich bin. Es hat nicht nur mit Attraktivität zu tun. Am Schießeisen beißt keiner an. Trotzdem fühle ich mich, als hätte man mich hinausgezerrt und hinter den Mülltonnen erschossen. Und einen Augenblick lang, der sich in die Länge dehnt und durch den verletzten Intimbereich meines Herzens tobt, wünschte ich, ich wäre anders. Ich wäre ein Mädchen wie das, das sich mit eben diesem Kerl zwei Stunden später im Matratzenlager unter einer Decke wälzt, ein Mädchen mit sanfter Stimme und langem, weichem Haar. Die Eifersucht frisst mich auf […]. 5 Die Funktion dieses Textes liegt auf der Hand. Er möchte die Leserinnen emotional öffnen, um ihnen dann jedoch deutlich zu machen, dass es keine Umkehr aus der rebellischen Weiblichkeit für die Ich-Figur geben kann: „Denn wenn wir alle Regeln befolgen, wenn wir alles richtig machen, dann sind wir natürlich eine doofe Tussi, ein hirnloses Püppchen […]“. 6 Pennys Argument ist, dass Frauen sich in eine medial verbreitete Schönheitsuniform zwängen, weil eine Frau internalisiert hat, was Penny schildert: „[D]ass ich, wenn ich nicht das brave Mädchen spiele, auch nicht so viele Küsse abbekomme, wie ich es gern hätte.“ 7 Um Zurückweisung zu vermeiden, um Anerkennung zu gewinnen, akzeptieren Frauen, dass sie „auf Linie gehalten“ 8 werden. Die Annahme von Genderrollen basiert auf dem Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden. 5 Ebenda, S. 227f. 6 Ebenda, S. 229. 7 Ebenda, S. 228. 8 Ebenda. XI Queer - ein Schlusswort <?page no="196"?> 195 Meine Identität ist von dem sozialen Problem der Anerkennung nicht zu trennen. Wir sind abhängig von den bestehenden sozialen Kategorien, und die bestehen außerhalb von uns. 9 Da wir Anerkennung brauchen, treten wir in die Zirkulation dieser Kategorien ein. 10 Ein bestimmtes soziales Muster für weibliche Attraktivität hat Penny allerdings für sich abgelehnt und eine andere Identität, die sie nicht als „sexy Knuspertüte“ ausweist, angenommen. Ihre Anerkennung, beispielsweise in der politischen Gruppe, in der sie tätig ist, ist davon abhängig, sich gerade nicht schönheitsmarktkonform zu zeigen. Sie schöpft ihr Selbstverständnis zielsicher daraus, „nicht zu den Mädchen [zu gehören], die von solchen Jungs geküsst werden“. Die Identitätskategorie, in der Penny sich bewegt, besteht ebenfalls außerhalb von ihr. Mit ihrer Frisur eines „Science-Fiction-Robo-Stricher“, wie sie sie nennt, 11 hat sie sich in eine Identitätskategorie gefügt, die sich, wie jede andere, allerdings auch nicht in jedem Moment richtig anfühlt. („Und einen Augenblick lang, der sich in die Länge dehnt und durch den verletzten Intimbereich meines Herzens tobt, wünschte ich, ich wäre anders.“) Sie ist die Intellektuelle, die eine historisch eher als ‚männlich‘ geltende Geschlechterposition einnimmt („rauflustig“, „rechthaberisch“) und sich nicht vordergründig über (marktkonforme) Weiblichkeit profilieren will. Deshalb müsste sie von einem Mann, der als „blasierter Gockel“ auftritt, abgestoßen, zumindest irritiert sein. Er steht auf der anderen Seite, die mit der Idee ihrer selbst nicht kompatibel ist. Genderpolitisch gesehen ist er ein Feind. („Mich beschämt, wie sehr ich ihn will.“) In anderen feministisch motivierten autobiographischen Essaysammlungen, wie zum Beispiel in Lena Dunhams (* 1986) Not that kind of girl (2014) 12 oder Margarete Stokowskis (* 1986) Untenrum frei (2016) 13 , sind die Männer, denen gegenüber die Frauen eine unvorhersehbare Anziehung verspüren, was sich die Frauen in der rationalen Nachbearbeitung natürlich kaum selbst verzeihen können, oft sogar politisch im rechten Lager. In der Essaysammlung Bad Feminist (2014) 14 von Roxane Gay (* 1974) richtet sich das Begehren, das von der Frau retrospektiv als demütigend für ihr Selbstbild empfunden wird, sogar auf Männer, die als rassistisch zu bezeichnen sind. In dem von mir gewählten Beispiel ist der Mann ‚nur‘ ein blasierter Gockel und damit ‚nur‘, was seine Genderpolitik angeht, ideologisch verblendet. Selbstverständlich ist auch diese Attraktion unvorhersehbar genug und beschämt die Akteurin. Ist dieses Begehren wirklich beschämend? Nehmen wir Pennys Text ernst, widersetzt sich das dort geschilderte Begehren der rationalen Idee, welche die Frau von sich hatte, als sie es verspürte. Der Mann hingegen kann seine rationale Idee von sich selbst, nämlich die eines Machisten, vor sein Begehren stellen oder wurde nicht gleichermaßen stark von der sexuellen „Spannung“ erfasst wie die Erzählerin. Seine Zurückweisung erscheint unglaubhaft. Seine Entschuldigung, warum er sie nicht küssen kann, lächerlich. Hat er nur mit ihr gespielt oder 9 Heterosexualität ist ein Phantasiebild, S. 64. 10 Vgl. ebenda. 11 Vgl. Laurie Penny: Unsagbare Dinge, S. 228. 12 Vgl. Lena Dunham: Not that kind of girl. Was ich im Leben so gelernt habe. Frankfurt am Main 2014 [engl. Original 2014]. 13 Vgl. Margarete Stokowski: Untenrum frei. Reinbek bei Hamburg 2016. 14 Vgl. Roxane Gay: Bad feminist. Essays. New York 2014. Laurie Penny: Unsagbare Dinge (2014/ 2015) <?page no="197"?> 196 erfindet Penny hier eine Demütigung, um ihre Leserinnen vor der Aufgabe des Selbstbildes eines Kusses wegen zu warnen? Ist popkulturelle Männlichkeit (Gender) tatsächlich so fragil und krisenbehaftet, dass sie ständig der symbolischen Befestigung über ‚richtiges‘ Begehren nach „sehr hübschen“ Frauen bedarf? Wie auch immer, über das männliche Gegenüber erfahren wir in dieser Textstelle nichts, außer dass es ihm scheinbar gelingt, sein Selbstbild aufrechtzuerhalten. Der Text behauptet, dass - anders als er - die Frau dem unbotmäßigen Begehren gern nachgegeben hätte. Die rationale Idee einer aufrührerischen Feministin, die die Begehrende von sich hat, hätte die momentane Hoffnung auf sexuelle Erfüllung nicht im Keim erstickt. Penny erzählt dies als Auftakt für ihr Plädoyer gegen Marktkonformität und Schönheitsideale. Doch sie eröffnet mit dieser Erzählung auch einen Blick auf ein queeres Moment ihres Lebens und sie erteilt damit allen Frauen Absolution, die ‚feministisch inkorrekt‘ begehren bzw. begehrt haben. Dieses Begehren, das für die Erzählerin eigentlich in die Mülltonne gehört, anstatt vor den Tonnen ausgelebt zu werden, steht der Rationalität ihres Selbst entgegen. Würde sie mit dem blasierten Macho tatsächlich eine Liebesbeziehung eingehen, ließe sich eine Assoziation zu einem Roman von Jane Austen, in dem eine kluge, einsichtige Heldin Gefühle für einen viel zu stolzen Mann entwickelt, der jedoch durch die weibliche Gefühlsschule gebessert werden kann, kaum unterdrücken. Genau dieses romanhafte Szenario lehnt Penny allerdings als Leitkonzept für junge Frauen ab. Der Motor ihres Buches ist, dass der naive weibliche Glaube, sich männliche Liebe mit einem femininen Habitus verdienen zu können, Unglück und Enttäuschung seitens der Frauen befördert. Auch als „sexy Knuspertüte“ bliebe ihr eine fundamentale Anerkennung durch die Männer letztendlich versagt. Sich mit eben „diesem Kerl zwei Stunden später im Matratzenlager unter einer Decke“ zu wälzen, hieße nicht, wirklich geliebt/ anerkannt/ begehrt zu werden. ‚Romantische Liebe‘ ist für Penny eine Verkaufsstrategie und die Sehnsucht, durch emotionale Hingabe einen Mann vor seinem falschen Selbstbild zu retten, sei als Lebensplan ebenso untauglich wie der Gedanke, durch Liebe erlöst zu werden. Umso widersinniger und lächerlicher muss es erscheinen, dass gerade die Frau, die dagegen anschreibt, filmszenenartige Romantik mit einem „Gockel“ erträumt. Diese Sehnsucht kommt von „irgendwo anders“ her. Und es ist gar nicht unmöglich, dem Ursprung dieser romantischen Idee auf die Spur zu kommen. Sie stammt vielleicht aus einem Roman wie Stolz und Vorurteil (1813), der zu den bekanntesten Texten der englischsprachigen Literatur zählt, oder aus der letzten BBC-Verfilmung des Romanstoffes. Penny selbst stellt sich ihr ausbleibendes Liebesabenteuer als Filmszene vor („während schon der Abspann läuft“). Das sentimentale Weiblichkeitsbild, in das sie sich einen Augenblick lang gerne fügen würde, zirkuliert in der Welt. Es ist auch für Feminist*innen jederzeit greifbar. Sicher entspricht diese Sehnsucht nicht Pennys Identität als kritischer Feministin, aber dieses heterosexuelle Szenario, bei dem der Mann dann doch nicht mitspielt, offenbart das queerste Moment der gesamten Schrift. Wenn auch die Intention gewiss darin lag, eine emotionale Nähe zu den Leserinnen herzustellen, markiert die Passage auch, dass die queer-feministische Identität, die sich Penny zuschreibt, nicht lückenlos ist. Mir scheint es keine intellektuelle Spielerei zu sein, den queeren Charakter dieser nicht allzu larmoyanten Erzählung über erlebte heterosexuelle Zurückweisung erkennen zu können, sondern fast die einzige Möglichkeit, das Gefühl der Demütigung im Kontext einer so XI Queer - ein Schlusswort <?page no="198"?> 197 meinungsstarken, streitlustigen Flugschrift überhaupt zu plausibilisieren. Sie ist nicht nur der Auftakt für Pennys Plädoyer, die „Prinzessin im Kopf “ 15 zu töten, sondern gleichermaßen ein Plädoyer dafür, die scheinbar völlig inadäquaten Träume von sich zu billigen bzw. ihr Aufkeimen als kulturimmanent zu betrachten. Queer zu begehren ist kein Makel, kein Mystizismus, sondern „konstitutiv für das menschliche Subjekt.“ Ein queeres Begehren sieht manchmal ganz anders aus als erwartet. Selbst wenn das Begehren leerläuft, weil es, wie in dieser Passage, auf kein Gegenüber trifft, erscheint es bei genauer Analyse doch mehr als eine Peinlichkeit. Diese Episode offenbart, dass sich keine Identitätskategorie immer richtig anfühlen kann. Doch gerade ihre Inkompatibilität mit rationalen Selbstbildern macht Menschen aus, zeigt sie als liebens- und begehrenswert. 15 Ebenda, S. 230. Laurie Penny: Unsagbare Dinge (2014/ 2015) <?page no="200"?> 199 Literaturverzeichnis Primärtexte Dohm, Hedwig: Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen. Vollständige Neuausgabe mit einer Biografie der Autorin. Hrsg. von Karl-Maria Guth. Berlin 2015. Dunham, Lena: Not that kind of girl. Was ich im Leben so gelernt habe. Frankfurt am Main 2014. Ebner-Eschenbach, Marie von: Kleine Romane. Nach dem Text der ersten Gesamtausgabe, Berlin 1893. Hrsg. von Johannes Klein. München 1958. Fontane, Theodor: Effi Briest. Stuttgart 2002. Gay, Roxane: Bad feminist. New York 2014. Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. 3. Aufl. München 2014. Grether, Kerstin: An einem Tag für rote Schuhe. 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