Musikeinsatz im Französischunterricht
Eine historische Darstellung bis 1914
0909
2019
978-3-8233-9291-0
978-3-8233-8291-1
Gunter Narr Verlag
Andreas Rauch
Die vorliegende Dissertationsschrift geht erstmals den Fragen nach, welche musikalische Formen und Liedtexte im deutschen Französischunterricht von den Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt worden sind und welche unterrichtlichen Zwecke damit verfolgt wurden. Dabei werden unter anderem bilinguale Zonen in Deutschland, adlige Damengesellschaften, Mädchenschulen und die Philanthropen, eine pädagogische Reformbewegung, einbezogen. Einen Höhepunkt erfuhr das Singen in der neusprachlichen Reformbewegung, die in eine umfangreiche fachdidaktische Auseinandersetzung mündete.
<?page no="0"?> Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Giessener Beiträge Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Rauch Musikeinsatz im Französischunterricht Andreas Rauch Musikeinsatz im Französischunterricht Eine historische Darstellung bis 1914 Das vorliegende Werk geht erstmals den Fragen nach, welche musikalische Formen und Liedtexte im deutschen Französischunterricht von den Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt worden sind und welche unterrichtliche Zwecke damit verfolgt wurden. Dabei werden unter anderem bilinguale Zonen in Deutschland, adlige Damengesellschaften, Mädchenschulen und die Philanthropen, eine pädagogische Reformbewegung, einbezogen. Einen Höhepunkt erfuhr das Singen in der neusprachlichen Reformbewegung, die in eine umfangreiche fachdidaktische Auseinandersetzung mündete. ISBN 978-3-8233-8291-1 18291_Rauch_Umschlag.indd 3 08.08.2019 13: 08: 07 <?page no="1"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="2"?> Andreas Rauch Musikeinsatz im Französischunterricht Eine historische Darstellung bis 1914 <?page no="3"?> © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8291-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9291-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0177-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="4"?> 5 Inhalt Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. 1 Musik im Unterricht der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht . . 57 I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium . . . . . . . . . . 67 I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen und die Auswirkung auf den Musikeinsatz im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. 6. 1 Hauchecorne, Rochow und Basedow als Wegbereiter des Philanthropismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. 6. 2 Unterrichtsmethodische Entwicklungen bei den Philanthropen Wolke und Trapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. 7 Musikalische Elemente in Salons, Konversationszirkeln, Sprachgesellschaften und Damenorden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende . . . 123 II. Der Musikeinsatz im Französischunterricht im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. 1 Die Hochzeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode und die Folgen für den Musikeinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode an Real- und höheren Mädchenschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 II. 2. 1 Ansätze zu einer naturgemäßen Methode unter Einbeziehung von Musik und ihre institutionelle Verankerung . . . . . . . . . . . . 167 II. 2. 2 Wichtige Vertreter der naturgemäßen Methode und ihr Bezug zum Musikeinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 <?page no="5"?> II. 2. 3 Von den Sprechübungen zum Singen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 II. 2. 4 Die ersten umfassenden Formen des Liedeinsatzes . . . . . . . . . 235 II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ und das Vordringen von Sprech- und Gesangstechniken im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 II. 4. 1 Die Phonetik und Quiehls musikalische Übungsformen . . . . 286 II. 4. 2 Lautschulung mit Hilfe von Grammophonen . . . . . . . . . . . . . . . 303 II. 5. Ausformung didaktischer und bildungstheoretischer Ideen zum Singen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 II. 6 Intertextuelle, intermediale und kinästhetische Formen des Liedeinsatzes im Rahmen der direkten Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 III. Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 III. 1. Die Vertreter der „ Anciens “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 III. 1. 1 Karl Wetzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 III. 1. 2 Ludwig Hasberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 III. 1. 3 Johannes Spelthahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 III. 1. 4 Wilhelm Ricken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 III. 1. 5 Wilhelm Knörich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 III. 1. 6 W. Kahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 III. 1. 7 Ludwig E. Rolfs und Bartel Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 III. 1. 8 Oscar Thiergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 III. 2 Die Vertreter der „Modernes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 III. 2. 1 Carl Knaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 III. 2. 2 Karl Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 III. 2. 3 Xavier Ducotterd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 III. 2. 4 Karl Irmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 III. 2. 5 Ferdinand Simon und Julius Stockhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 III. 2. 6 Hanns Heinz Ewers und Marc Henry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 III. 2. 7 Gustav Thurau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 III. 2. 8 Charles Schweitzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 III. 2. 9 Adolf Klages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 III. 3 Vermittelnde Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 V. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 <?page no="6"?> Les hommes chantent d’abord, ils écrivent ensuite. François René de Chateaubriand <?page no="8"?> 9 Vorwort und Dank Die Liebe zur Musik und zu den Fremdsprachen hat mich schon seit meiner Kindheit geprägt, einerseits beim Musizieren als Violonist mit meiner Mutter, die mich am Klavier begleitete und als Klavierlehrerin für die Musik sensibilisierte, andererseits während meiner Tätigkeit als Assistant d’allemand des Pädagogischen Austauschdiensts in Maubeuge, im Orchester Arioso 1994 / 1995 oder dann in Laienorchestern in Paris während meiner Zeit als lecteur DAAD an der Université Paris X / Nanterre 2004-2011. Auch während meines Studiums der Romanistik und Anglistik an der TU Chemnitz und im Referendariat habe ich dieses Thema weiterverfolgt - so widmeten sich bereits meine Erste und Zweite Staatsexamensarbeit dem Einsatz von Liedern im Englischunterricht. Neben meiner Tätigkeit als DAAD-Lektor in Frankreich habe ich dann pädagogisch-didaktische Studientage zum Thema Musique et Littérature sowie musikbezogene Weiterbildungsveranstaltungen für Fremdsprachenlehrer organisiert. Auch in meinen Lehrveranstaltungen an der Université Paris X konnte ich unter anderem ein interdisziplinäres Seminar La musique dans l’espace germanophone anbieten, das sich an der Schnittstelle zwischen Musikwissenschaft, Fremdsprachendidaktik, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaften befand. Als Mitglied der Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Étrangère ou Seconde (SIHFLES) habe ich mich an Vorträgen und Artikeln über Musik im Französischunterricht beteiligt. Nach meiner Rückkehr aus Frankreich nahm ich eine Stelle als Fachgruppenleiter Französisch am Zentrum für Fremdsprachen der Technischen Universität Chemnitz an. Parallel dazu suchte ich nach einem geeigneten Betreuer für die Anfertigung einer Dissertation zum Thema Musik im Fremdsprachenunterricht , zu dem ich schon so viele Vorarbeiten geleistet hatte. Herr Prof. Dr. Wolfgang Dahmen, mit dem ich seit Beginn meines Studiums in Kontakt stehe, machte mich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit Herrn Prof. Dr. Marcus Reinfried bekannt, der sich bereit erklärte, als Doktorvater diese Dissertation zu betreuen. Das vorliegende Buch stellt eine leicht überarbeitete und gekürzte Version meiner Dissertation dar, die im Sommer 2017 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt wurde. Ich danke Herrn Prof. Dr. Reinfried an dieser Stelle ganz besonders. Als ausgewiesener Spezialist für die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts hat er mich ausführlich beraten, den Entstehungsprozess meiner Dissertation kontinuierlich begleitet und mir viele wertvolle inhaltliche Hinweise gegeben. <?page no="9"?> 10 Mein ganz herzlicher Dank gilt ebenfalls meinem zweiten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Dahmen, der bereits zu Beginn meines Studiums nicht nur meine Begeisterung für die Romanistik geweckt, sondern mich auch immer unterstützt sowie in fachlichen und beruflichen Fragen beraten hat. Danken möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Franz-Joseph Meißner und Frau Prof. Dr. Hélène Martinez, die als Herausgeber der Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik die Aufnahme in die Reihe befürwortet und mit konstruktiven Ratschlägen begleitet haben. Insbesondere danke ich Frau M. A. Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für die verlegerische Betreuung des Manuskripts. Zu großem Dank bin ich auch der Geschäftsführerin des Zentrums für Fremdsprachen der Technischen Universität Chemnitz, Frau Dr. Angela Minogue, verpflichtet. Ohne ihre Unterstützung, sei es durch die Ermöglichung der Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Tagungen der SIHFLES , durch Stundenabminderungen oder einfach nur durch ihre motivierenden Worte wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Auch weiteren Chemnitzer Kollegen bin ich zu Dank verpflichtet: Für die Hilfe beim Übersetzen lateinischer Texte betrifft das Herrn Dr. Burkhard Müller, für Hinweise zu älteren italienischen Quellen Frau Dott.ssa Daniela Giovanardi und Frau Dott.ssa Margherita Romano. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Dr. Joachim Seifert, der mich bereits während meines Studiums als Betreuer meiner Ersten Staatsexamensarbeit sehr detailliert beraten und mir viele gute Anregungen gegeben hat. Herzlich möchte ich der Direktorin der Universitätsbibliothek der TU Chemnitz, Frau Angela Malz, für ihre Unterstützung danken. Ich danke der Leiterin des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin, Frau Dr. Bettina Reimers, für ihre hilfreichen Ratschläge. Meinen besonderen Dank drücke ich Helga und Jean-Pierre Malherbe aus, durch deren liebevolle und großzügige Unterstützung die Arbeit veröffentlicht werden konnte. Ich danke außerdem Herrn Dr. Yves Métivier für seine Hinweise. Diese Arbeit widme ich in Liebe und dankbarer Erinnerung meinen Eltern Kristina Rauch und Dr. Manfred Rauch. Chemnitz, im April 2019 Andreas Rauch <?page no="10"?> 11 Abkürzungsverzeichnis Bd. Band bes. besonders bzw. beziehungsweise ders. derselbe (Autor) dies. dieselbe (Autorin) / dieselben (Autoren) ebd. ebenda erw. Aufl. erweiterte Auflage vollst. überarb. u. erw. Aufl. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Hrsg. Herausgeber Jg. Jahrgang o. g. oben genannt/ e o. J. ohne Jahresangabe o. O. ohne Ortsangabe o. S. ohne Seitenangabe u. a. und andere / unter anderem vgl. vergleiche <?page no="12"?> 13 Einleitung Das Thema Musik im Fremdsprachenunterricht erfreut sich seit den 1950er Jahren und besonders seit der „kommunikativen Wende“ 1 der 1970er Jahre zunehmender Beliebtheit. 2 Das gilt vor allem für den Anfangsunterricht in der Grundschule bzw. das 5. und 6. Schuljahr, bei dem „ältere ganzheitspsychologische und fachdidaktisch integrative […] Ansätze“ 3 angewendet werden. 1 Hans-Eberhard Piepho erklärte 1974 die kommunikative Kompetenz zum übergeordneten Lernziel des Fremdsprachenunterrichts. Vgl. Hans-Eberhard P iePho , Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Dornburg-Frickhofen: Frankonius-Verlag 1974. 2 In der Datenbank des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung - (IFS) der Philipps-Universität Marburg sind 655 Hinweise zu Veröffentlichungen zum Thema Fremdsprachenunterricht und Musik seit 1974 verzeichnet. Die Datenbank umfasst u. a. Aufsätze der Zeitschriften Der fremdsprachliche Unterricht, Der fremdsprachliche Unterricht Französisch, französisch heute, Le français dans le monde, Zielsprache Französisch, Praxis Fremdsprachenunterricht, Praxis des neusprachlichen Unterrichts, RAAbits Französisch, Fremdsprachenunterricht, Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis, Grundschulunterricht, Aus der Grundschule, Praxis Grundschule, Pädagogische Welt und FF-Fremdsprachen Frühbeginn . 3 Karl-Heinz h ellwig , Sehen und hören, empfindend verstehen und sprechen - Bild- und Musik-Kunst im Fremdsprachenunterricht. In: Gabriele B lell / Karlheinz h ellwig (Hrsg.), Bildende Kunst und Musik im Fremdsprachenunterricht (Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert, Bd. 1). Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien: Lang 1996, S. 20. (Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck.). Hellwig gibt vorwiegend Beispiele für den Englischunterricht, mit Ausnahme von Leisinger und Bohlen, die sich auch auf den Französischunterricht beziehen. Es wird dabei vor allem folgendes Werk zitiert: Fritz l eisinger , Der elementare Fremdsprachenunterricht in Volksschulen und Abschlußklassen weiterführender Schulen. Grundfragen seiner Methodik. Stuttgart: Klett 1949, S. 88-94. Leisinger unterstreicht neben der psychologischen Belebung des Unterrichts vorwiegend die Ausspracheschulung im Gesang. Eine überarbeitete Fassung widmet sich 17 Jahre später im Kapitel II. Anschauungsstufe dem Einsatz von Gedichten und Liedern, wobei auch hier die Ausspracheschulung im Mittelpunkt steht. (Fritz l eisinger , Elemente des neusprachlichen Unterrichts. Stuttgart: Klett 1966, S. 204-207.). Zu den weiteren zitierten Werken gehören: Adolf B ohlen , Methodik des des neusprachlichen Unterrichts. Dortmund: Lensing, 5., überarbeitete und erweiterte Aufl. 1966, S. 54; Friedrich s chuBel , Methodik des Englischunterrichts für höhere Schulen. Frankfurt am Main: Diesterweg, 4. Aufl. 1966, S. 86-88; Karin F reund -h eitmüller , Reim und Lied im Englischunterricht . Hannover: Schroedel / Lensing 1968. Freund-Heitmüller stellt erstmals das Musische in den Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts: „Das Musische hat in jeder Sprache seine spezifische Auswirkungskraft. Jeder Lernende muß der Sprache diese ihre dynamische Eigengesetzlichkeit ablauschen. Sie ist wichtiger als die noch so sorgfältige Aussprache isolierter Laute. […]. Das Musische als konstituierendes <?page no="13"?> 14 Einleitung Mit der mehrdimensionalen Erweiterung des Literaturbegriffs durch die Rezeptionsästhetik 4 rückt der Einsatz von Liedern als „vertonter Lyrik“ 5 auch für die Mittel- und Oberstufe in den Mittelpunkt der fachdidaktischen Diskussion: Harald Weinrich untersucht in seinem bahnbrechenden Aufsatz Ein Chanson und seine Gattung 6 „die erstaunliche literarisch-musikalische Gattung des Chansons“, 7 „eine unverwechselbar französische“ 8 Mischgattung, für die es keine normative Definition 9 gibt. Weinrich betrachtet ein (prototypisches) Chanson, als ob es ein lyrisches Gedicht wäre, […] ganz von der Melodie abgesehen. Das ist nicht nur aus methodischen Gründen geschehen, sondern findet seine Rechtfertigung auch darin, daß tatsächlich die Melodie in der Gattung Chanson gegenüber dem Text eine untergeordnete Rolle spielt. 10 Element der Sprache kann nicht deutlich genug in den Vordergrund gerückt werden, denn immer noch haben Bemühungen um den Aufbau eines isolierten Wortschatzes oder um gewisse grammatische Phänomene in vielen Schulen das Übergewicht. […]. Es wohnen, wie jeder Sprachlehrer weiß, Sprache und Musik dicht beieinander und sind […] eng verzahnt und verbunden.“ (Ebd., S. 7 f.). - In den 1960ern bis Anfang der 1970er Jahre erfreuen sich Liedersammlungen von französischen Volksliedern besonderer Beliebtheit im Französischunterricht: Vgl. Rudolf t elling (Hrsg.), Chantons la France. 40 chants. Berlin: Volk und Wissen 1967; Howard B einhoFF / Karl-Heintz F ärBer (Hrsg.), Chantons gaiement . Chansons de la France. Frankfurt am Main / Berlin / München: Diesterweg 1970; Brigitte s tenzel (Hrsg.), Chansons de France. Die 30 bekanntesten Volkslieder, zusammengestellt und mit Anmerkungen versehen. München: Hueber 1973. Auch in Frankreich erscheint 1967 eine 103 Seiten umfassende didaktische Sammlung zum Liedeinsatz im Unterricht Français langue étrangère : CIEP (Hrsg.), La chanson moderne en France, son utilisation pédagogique . Sèvres: CIEP 1967. 4 Vgl. Rainer r osenBerg , Verhandlungen des Literaturbegriffs: Studien zu Geschichte und Theorie der Liteaturwissenschaft . Berlin: Akademie-Verlag 2003, S. 17 f. 5 Werner F aulstich , Rock - Pop - Beat - Folk. Grundlagen der Textmusik-Analyse . Tübingen: Narr 1978, S. 5. 6 Harald w einrich , Ein Chanson und seine Gattung. In: ders., Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 1971, S. 124-136. 7 Ebd., S. 124. 8 Ebd. 9 Vgl. Harald w einrich , Interpretation eines Chansons und seiner Gattung. In: Die neueren Sprachen , Bd. 11, 1960, S. 162. - Vgl. zur Gattungsproblematik und zur Untersuchung der Gattung „literarisches Chanson“ Wolfgang Victor r uttkowski , Das literarische Chanson in Deutschland. Eine Gattungsanalyse . München: Francke 1966. 10 Weinrich (1971), S. 132. Vgl. dazu auch Weinrich (1960), S. 164 f. - Weinrich unterscheidet vier Gattungsmerkmale: „1. die Gliederung in Strophen mit mehr oder weniger regelmäßigem Wechsel von Couplet und Refrain; 2. die starke Reimbindung; 3. die Vortragsweise als Einzelvortrag mit Instrumentalbegleitung; 4. die dienende Rolle der Melodie.“ (Weinrich 1971, S. 135.). <?page no="14"?> Einleitung 15 Der Romanist gesteht der musikalischen Komponente im Vergleich zum (Chanson-)Text lediglich eine dienende Rolle 11 zu. Friedrich Klotz 12 schließt sich Weinrichs Betrachtungen an und bezeichnet das Chanson als „Gattung Poesie“. 13 Klotz legt vier verschiedene und von ihm selbst erprobte Methoden für die Chansonbehandlung im Unterricht vor, mit denen „man eine Unterrichtsreihe abwechslungsreich gestalten oder in Einzelstunden auf verschiedene Arten den Schülern diese kleinen Kunstwerke nahebringen kann.“ 14 Es handelt sich um 1. das Einhören, 2. das Eindenken, 3. Poésie-Chanson (die Interpretation des Chansons wie ein „echtes Gedicht“ 15 ) und 4. Chansons - übersetzt. 16 11 Diese Ansicht wird bis Ende der 1970er Jahre allgemein geteilt, wie von Hannelore Rüttgens in ihrem Artikel Pourquoi ces chansons? Der dienenden Rolle der Melodie kommt nach Rüttgens „insofern besondere Bedeutung zu, als durch die untergeordnete Stellung der Musik das Schwergewicht auf den Text gelegt wird; andere Autoren leiten aus diesem Verhältnis ein Qualitätsmerkmal für das Chanson ab, indem nämlich der Text auch ohne die Musik seinen Wert behält.“ (Hannelore r üttgens , Pourquoi ces chansons? In: französisch heute 8, 1977, S. 100.). Rüttgens schlägt vor, Weinrichs formale Kriterien der Chansonanalyse zu „verbinden mit textanalytischen und diese auf das jeweilige Chanson anzuwenden“. (Ebd.). Zur Textanalyse stellt Rüttgens einen Katalog von 16 Fragen vor, die „eine didaktische Analyse des Chansons vorentlasten: Welche Themenbereiche spricht das Chanson an? Welches besondere Problemfeld? Welche Lösungen werden gesehen? Welche Sachinformationen liefert der Text? Wer ist der / sind die Handlungsträger? Inwieweit greift das Chanson die konkrete Wirklichkeit auf ? Welche allgemeine Aussagen werden getroffen? Welche Fragen wirft der Text auf ? Welchen Hörerkreis spricht das Chanson (besonders) an? Wie oft und mit welchen sprachlichen Mitteln wird der Hörer direkt angesprochen? Womit will das Chanson zum Nachdenken, evtl. zum Handeln, anregen? Welche Schlüsselwörter werden gebraucht? Welche Funktionen haben sie? Art, Anzahl und Funktion von Wiederholungen? Welche Sprachebene wird verwandt? “ (Ebd.). 12 Vgl. Friedrich k lotz , Das Chanson im Französischunterricht. In: Der fremdsprachliche Unterricht 2 / 7, 1968, S. 26-37. 13 Ebd., S. 26. Das vollständige Zitat lautet: „Dem Romanisten kommt das Wissen zu Hilfe, daß (im Gegensatz zu dem, was allgemeinhin als Song bezeichnet wird) das Chanson in ganz entscheidender Weise französisches Wesen ausdrückt und eine lange Tradition als Kunstwerk hat - wenn man so will, seit der ‚Cantilène de Sainte Eulalie‘. Allein die Tatsache, daß das Wort unübersetzbar ist, daß der Ausländer, wenn er das bezeichnen will, was seiner Meinung nach ein Chanson ist, das französische Wort wählt, beweist, wie unverwechselbar französisch diese Gattung Poesie ist.“ 14 Ebd., S. 28. Diese Form der thematischen Behandlung wird auch aufgenommen in einem Themenheft von Le français dans le monde (131, 1977) mit dem an Berlioz’ Werk der Musikkritik erinnernden Titel À travers chants . 15 Klotz verweist in diesem Zusammenhang auf die in den Gedichtsammlungen verwendete Explication des textes , (ebd., S. 31, und Paul h artig / Pierre m ichelin , Études françaises-- Gedichtsammlung. Stuttgart: Klett 1967). 16 In den 1970er und 1980er Jahren erscheint in der DDR-Fremdsprachenzeitschrift À travers le monde regelmäßig die Rubrik Une chanson pour vous , in welcher der Übersetzer Stephan Göritz eine Interlinearübersetzung des französischen Chansontexts ins <?page no="15"?> 16 Einleitung Neben der Durchnahme einzelner Chansons schlägt Klotz vor, „Chansons in Reihen zu besprechen (nach welcher der genannten Methoden auch immer).“ 17 Klotz gibt folgende Themengruppen an: 1. Paris im Chanson, 2. Politik im Chanson, 3. Sozialkritik im Chanson, 4. Édith Piaf, 5. Weitere Themengruppen a) Das Chanson und sein Dichter im Chanson (Trénet / Bécaud), b) Jungsein - Qual und Glück (Neuville / Bécaud), c) Das religiöse Chanson (Chansons des Père Aimé Duval / der Sœur Sourire einerseits und von Brassens / Bécaud andererseits). In seiner 1975 im Diesterweg-Verlag erschienenen Publikation Das französische Chanson bietet der Literaturwissenschaftler Karl Hölz 18 erstmals Modelle für den Unterricht mit dem Chanson an, wobei nach einem historischen Abriss die Chansontexte mit einem Fragenkatalog und Diskussionsthemen versehen sind. 19 Deutsche anbietet. Die Rubrik wird erstmalig im Heft 1/ 1973 veröffentlicht mit Gilbert Bécauds Nathalie. Folgender Kommentar spiegelt das starke Interesse von Schülern und Französischlehrern an der Chanson française in der DDR wider: „Pour répondre au désir d’un grand nombre de nos lecteurs, nous publions ici le texte d’une des chansons les plus connues de Gilbert Bécaud que vous connaissez certainement. Elle s’appelle ‚Nathalie’. Les paroles sont de Pierre Delanoë, la musique est de Gilbert Bécaud.“ ( À travers le monde , 1 / 1973, S. 3.). Da der Liedtext im Zentrum steht und die Melodie nach einer damals verbreiteten Auffassung, deren bekanntester Repräsentant Weinrich war, eine nur dienende Rolle einnimmt, wird die Melodie nicht abgedruckt. Weitere Beispiele sind Jacques Brels Le plat pays / Das flache Land ( À travers le monde , 10 / 1981, S. 9), Georges Moustakis Marche de Sacco et Vanzetti / Marsch für Sacco und Vanzetti ( À travers le monde , 11 / 1981, S. 9), Jean Ferrats Nuit et brouillard / Bei Nacht und Nebel ( À travers le monde , 1-2 / 1982, S. 21). 17 Klotz (1968), S. 33. Auch das 1982 erschienene Buch von Felix Schmidt Das Chanson bietet Chanson-Texte in einer französisch-deutschen Interlinear-Version, wobei Schmidt chronologisch und thematisch differenziert in „Das politische Chanson, Das religiöse Lied, Das nichtpolitische Chanson, François Villon / Aristide Bruant / Yvette Guilbert, Mistinguett / Maurice Chevalier / Charles Trenet, Saint-Germain-des-Prés, Félix Leclerc / Georges Brassens, Jacques Brel, Guy Béart, Charles Aznavour / Serge Gainsbourg, Édith Piaf / Yves Montand / Juliette Gréco, Jean Ferrat / Barbara / Anne Sylvestre, Das Chanson in Deutschland.“ (Vgl. Felix s chmidt , Das Chanson. Herkunft, Entwicklung, Interpretation . Frankfurt am Main: Fischer 1968.). 18 Vgl. Karl h ölz , Das französische Chanson (Modelle für den neusprachlichen Unterricht Französisch 4168). Frankfurt am Main: Diesterweg 1975. 19 Einen Überblick über Publikationen zur unterrichtlichen Verwendung von Chansons von den 1960ern bis in die 1980er Jahre gibt Volkhard h einrichs , Chansons in der landeskundlichen Dossierarbeit Französisch in der Sekundarstufe II (Heinrichs 1983a). In: Die neueren Sprachen , Bd. 82, 1983, S. 460-462. <?page no="16"?> 17 Im gleichen Verlag wird von Hans Puls und Edmond Jung das Heft La Chanson française contemporaine 20 herausgegeben. In ihrem Vorwort unterstreichen die Autoren die Rolle der chanson française als „nouveau genre littéraire“. 21 Die 1980 erschienene Schrift des Soziolinguisten Louis-Jean Calvet La chanson dans la classe de français langue étrangère 22 leitet einen Paradigmenwechsel im modernen Französischunterricht ein. So überträgt er Karl Bühlers Organon-Modell und Roman Jakobsons Kommunikations-Modell auf den Liedeinsatz im Fremdsprachenunterricht: Pour qu’un message passe entre un émetteur (E) et un récepteur (R), il faut […] qu’ils aient en commun un code grâce auquel il pourra y avoir encodage et décodage. Ajoutons à cela que les rôles sont réversibles, l’émetteur pouvant devenir récepteur et vice-versa. Que se passe-t-il pour la chanson? Nous pouvons utiliser un schéma très semblable […]. 23 20 Hans P uls / Edmond J ung (Hrsg.), La Chanson française contemporaine ( Modelle für den neusprachlichen Unterricht Französisch 4270). Frankfurt am Main: Diesterweg 1979. 21 Ebd., S. 5. Puls und Jung folgen in ihrem Vorwort mit dem Titel Commentaire de poèmes (und nicht etwa Commentaire de chansons ) Weinrichs Position der Priorität der Textkomponente des Chansons. „,Comment! ’, se diront peut-être quelques-uns en voyant l’objet du présent fascicule, ‚on explique les chansonniers, maintenant? N’est-ce pas de la littérature de bas étage? Que peuvent-ils apporter à l’homme cultivé? Les auteurs pensent-ils vraiment qu’il n’y a plus rien à dire sur les vrais textes littéraires? ‘ […] Nous pourrions commencer par répondre que si cette étude constitue un vrai hommage aux divers poètes de la chanson, nous sommes en excellente compagnie. Ce sont des poèmes de Brassens, de Brel et de Boris Vian que diverses académies ont présenté en 1974 aux candidats du Baccalauréat, comme sujets de commentaire de textes. […]. Ces poètes ont en effet promu et illustré un nouveau genre littéraire qui a maintenant ses titres de noblesse, la chanson française, qui est presque aussi caractéristique du génie français que le lied de Schubert, de Schumann et de Hugo Wolf l’est de l’Allemagne, le bel canto de l’Italie, le gospel song de l’Amérique.“ (Ebd., S. 5.). Nach jedem Gedicht folgen Wortschatzhilfen unter der Überschrift Vocabulaire , gefolgt von jeweils 3 oder 4 Fragen nach dem Schema: „Questions: On étudiera dans cette chanson: 1. Les éléments descriptifs; 2. L’aspect champêtre; 3. Les symboles; 4. L’art de la chanson.“ (Ebd., S. 16.). Parallel dazu haben Puls / Jung bei Diesterweg Modellinterpretationen zu den Chanson-Texten herausgegeben, die für den Lehrer ausformulierte Antworten zu den o. g. Fragen in Form eines Commentaire und eine Conclusion anbieten. Vgl. Hans P uls / Edmond J ung (Hrsg.), La Chanson française commentée. (Schule und Forschung. Schriftenreihe für Studium und Praxis 4234). Frankfurt am Main: Diesterweg 1979. 22 Vgl. Louis-Jean c alvet , La chanson dans la classe de français langue étrangère. Paris: CLE international 1980. Calvet hat in den 1970er und 1980er Jahren eine Vielzahl von Artikeln zum Liedeinsatz in Le français dans le monde verfasst. (Vgl. Dieter g erstmann , Bibliographie Französisch. Für Studium, Lehre und Praxis. Teil 1: A-L. Frankfurt / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien: Lang 2006, S. 92.). 23 Ebd., S. 25. Einleitung 17 <?page no="17"?> 18 Einleitung Neben Wortschatzschulung, Phonetik und Grammatik widmet Calvet ein Kapitel der landeskundlichen Komponente des Liedeinsatzes, das durch die beiden annexes Vingt thèmes de classe de civilisation und eine Mini-Bibliographie von Vingt chanteurs et chanteuses de la „Nouvelle Vague“ , also zeitgenössischen auteurs-compositeurs-interprètes , komplettiert wird. In seiner im Folgejahr erschienenen Schrift Chanson et société 24 fordert Calvet eine Aufwertung der musikalischen Komponente in Bezug zum Liedtext. 25 Volkhard Heinrichs 26 nimmt diese Position auf und schlägt insbesondere für die Arbeit mit fortgeschrittenen Lernern der Sekundarstufe II „zwei verschiedene, jedoch methodisch komplementäre Angänge nahe: den über die Musik und den über den vorgetragenen Text.“ 27 24 Louis-Jean c alvet , Chanson et société. Paris: Payot 1981. 25 Bernard Cousin schreibt dazu in seiner Rezension: „L.-J. Calvet part de ce constat: les manuels scolaires, ou les ouvrages, quand ils citent ou publient des chansons, n’en retiennent que le texte. Il explique exclusivement cette réduction qui méconnaît cette ‚spécificité de ce mode d’expression‘ par le fait que dans la chanson, ce n’est qu’au poème ou au texte qu’est reconnu un véritable statut artistique. C’est négliger les difficultés de reproduction imprimée de la musique, nécessitant le recours aux portées, qui ne sont pas parlantes pour tous les lecteurs. L’auteur propose, et c’est l’intérêt de son livre, de dépasser cette simple analyse de texte, car pour lui, dans la chanson, comme aurait dit G. Brassens: ‚Tout est bon chez elle, il n’y a rien à jeter.‘ On ne peut que le suivre dans cette voie.“ (Bernard c ousin , Rezension zu „Calvet, Louis-Jean, Chanson et société. “ Paris: Payot 1981. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations. 37 e année, n° 3, 1982, S. 501.). 26 Volkhard h einrichs , Zur Behandlung von Chansons im Französischunterricht der S I und S II (Heinrichs 1983b). In: Der fremdsprachliche Unterricht 16 / 64, 1982, S. 275. 27 Heinrichs empfiehlt für beide Angänge „zunächst ein[en] Einstieg über die Hörfassung […], zumal diese Vorgehensweise die Variation des üblichen Textunterrichts und die Einübung in eine besondere und zukunftsrelevante Form des Hörverstehens ermöglicht. Wählt man den Angang über die Musik, wobei für die Aussage des Chansons die Beziehungen zwischen Melodie, Rhythmus, Tempo, Gesangsvortrag, instrumenteller Begleitung und Arrangement im Plenum der Lerngruppe oder in arbeitsteiliger Gruppenarbeit mit selektiven Höraufgaben untersucht werden können, sollen in einem ersten Schritt Chansons gewählt werden, bei denen die musikalischen Mittel nicht kontrapunktisch, sondern parallel oder redundant zu sprachlich intendierten Aussagen stehen. Solche, z. B. ironischen Chansons wären einer späteren Untersuchung vorbehalten […]. Sodann kann der Lehrer sukzessiv das musikalische Besprechungsvokabular einführen, soweit es für ein allgemeinbildendes Gespräch über Unterhaltungsmusik gegenwärtig und künftig gebraucht wird. Der Angang über die Musik hat den Vorteil, daß die musikalischen Zeichen in ihrer Bedeutung viel diffuser und mehrdeutiger als die sprachlichen sind und sich zunächst eher an das Gefühl und weniger an den Intellekt wenden. Mithilfe der Musik können eventuelle Schwierigkeiten im Globalverständnis des Textes übersprungen werden, weil die musikalischen Mittel auf den Zuhörer wie ein Filter wirken, der als Einstimmung das Verständnis bewußt in eine ungefähre Richtung lenkt.“ (Ebd., S. 275 f.). <?page no="18"?> 19 Die wachsende Bedeutung der musikalischen Seite in der Arbeit mit dem französischen Chanson spiegelt sich auch in Dietmar Frickes gleichnamigem Leitartikel 28 des Sonderhefts Behandlung von Songs und Chansons wider. Nach Fricke führt die Vernachlässigung der musikalischen Seite des Chansons zu einem „Verlust an inhaltlicher und ästhetischer Information“. 29 Fricke plädiert für die Analyse der musikalischen Dimension beim Einsatz von Chansons im Französischunterricht, „denn die Gründe, die trotz allem für die zusätzliche Mühe sprachlicher Bewältigung musikalischer Informationen sprechen“, 30 liegen vor allem in der Gattung selbst beschlossen. Sie ist nur als Einheit von Text und Musik rezipierbar.“ 31 Als Illustration dieser Aussage führt Fricke ein Zitat des bekannten auteur-compositeur-interprète 32 Guy Béart an: „La chanson, c’est l’union de l’aveugle - la musique - et du paralytique - les paroles. Sans la musique, les paroles restent paralysées, mais sans les paroles, la musique va n’importe où.“ 33 Anhand dreier Chansons von Guy Béart, Maxime Le Forestier und Henri Tachan zeigt Fricke die Anwendung der musikalischen Analyse 34 bzw. musikalischer Ausdrucksmittel, wobei er als Hilfe ein „Minilexikon musikalischer Begriffe“ in deutsch, französisch, englisch, spanisch und italienisch beifügt. 35 Eine methodisch-didaktische Pionierleistung zur inhaltlichen Analyse von Chansontexten gelingt Volkhard Heinrichs in seinem Basisartikel zum Chan- 28 Vgl. Dietmar F ricke , Zur musikalischen Seite der Arbeit mit dem (französischen) Chanson. In: Der fremdsprachliche Unterricht 18, 1984, S. 255-266. 29 Ebd., S. 255. 30 Zur Arbeit an der musikalischen Komponente der Chansonbehandlung schlägt Fricke vier Primärkomponenten als Semantisierungshilfe vor: Melodik, Rhythmik, Harmonik und Form der Komposition. Die Sekundärkomponenten beziehen sich auf das Arrangement, die Tertiärkomponenten auf die Aufnahmetechnik und die Interpretation. (Ebd., S. 256, 258 und 262.). 31 Ebd., S. 256. 32 Vgl. zur Gattungs- und Definitionsproblematik des französischen Chansons der Gegenwart und des auteur-compositeur-interprète die Schrift von Thomas v ogel , Das Chanson des Auteur-Compositeur-Interprète. Ein Beitrag zum französischen Chanson der Gegenwart. Frankfurt am Main: Peter Lang 1981. 33 Fred h idalgo , Guy Béart. In: Paroles & Musique. Le Mensuel de la musique 3 / 1983, S. 27 A. 34 Vgl. zur Rolle der Musikanalyse als Teil der Gesamtinterpretation eines Chansons und Songs Dietmar F ricke , Die Rolle der Musikanalyse für eine Gesamtinterpretation des Chansons und Songs im fremdsprachlichen Unterricht - vorgestellt anhand eines französischen und englischen Beispiels. In: Die neueren Sprachen , Bd. 84, 1985, S. 501-512. 35 Vgl. Fricke (1984), S. 265. Einleitung 19 <?page no="19"?> 20 Einleitung soneinsatz in Praxis des neusprachlichen Unterrichts . 36 So nutzt er wie Puls / Jung das Interpretationsmodell des commentaire de texte 37 und bezieht sich auf den aus der Informationstheorie abgeleiteten und dem Fremdsprachenunterricht angepaßten artikulatorischen Dreischritt von 1. Informationsentnahme (compréhension), 2. Informationsverarbeitung (analyse) und 3. Informationsbewertung (commentaire) […], dem als fertigkeitsbezogene Lernziele wichtige Kulturtechniken zugrunde liegen. 38 Nach diesem Leitartikel veröffentlichte Volkhard Heinrichs von 1980 bis 1987 unter der Rubrik Chansons im Französischunterricht insgesamt 18 Modellvorschläge mit einem Aufgabenapparat und didaktischen Hinweisen in der Zeitschrift Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 39 36 Vgl. Volkhard h einrichs , Der „commentaire de texte“ als Arbeitsform der Sekundarstufe II. Zum Chanson „Page d’écriture“ von Jacques Prévert in S I und S II (Heinrichs 1983c). In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 27, S. 55-66 . 37 Heinrichs zeigt in seinem Leitartikel, „wie ein Interpretationsmodell in der Form des commentaire de texte aussehen könnte, der als Arbeits- und Prüfungsform auf der Oberstufe des Gymnasiums allgemein die Nacherzählung ablöst.“ (Ebd., S. 56.). Vgl. zum commentaire de texte : Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Französisch ( „Normenbuch“ ) . Neuwied: Luchterhand 1975. 38 Heinrichs (1980), S. 56. Vgl. dazu auch Winfried B artenstein , Arbeit mit französischen Sachtexten. Mündliche und schriftliche Textaufgaben in der Sekundarstufe II. Stuttgart: Klett-Cotta 1976, S. 71 f. und S. 84. 39 Vgl. u. a. Volkhard h einrichs , Chansons im Französischunterricht: La parisienne (Heinrichs, 1983d). In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 1 / 83, S. 40-43, vor allem S. 43. Unter 3. Sujets d’étude schlägt Heinrichs folgenden Fragenkatalog zur Analyse von Chansontexten vor: „Compréhension: 1. Qui est le personnage central de la chanson? , 2. Comment réagit-il au milieu parisien? , 3. Réunissez toutes les expressions montrant la frustration ressentie par le personnage central. […] Analyse: 6. Quelle image le personnage central reflète-t-il des Parisiens? , 7. En quoi la chanson exprime-t-elle l’opposition entre Paris et la province? 8. Expliquez la signification du retour en privince., 9. Quel est le ton de la chanson et par quels moyens stylistiques et musicaux est-il créé? , 19. Quels niveaux de langue peut-on différencier dans la chanson et qu’est-ce qu’ils expriment? […] 12. Définissez la musique, l’arrangement et l’interprétation de Marie-Paule Belle par rapport à la signification générale de la chanson., 13. Comparez la chanson à une planche des Frustrés de Claire Brétecher. Quelles correspondances et quelles différences y trouvez-vous? , Commentaire: 14. Que pensez-vous de ,l’émancipation‘ de la parisienne? , 15. Qu’est-ce que la capitale peut apporter à un provincial qui s’installe à Paris, d’après vous? , 16. Comparez la façon de ,faire carrière‘ de la parisienne à un héros ou une héroïne que vous connaissez dans la littérature française.” (Ebd., S. 43.). <?page no="20"?> 21 Analog zur Trias Compréhension / Analyse / Commentaire wendet der Englischlehrer Wolfgang Biederstädt den Dreischritt Comprehension / Analysis / Discussion zur Inhaltsanalyse von Rocktexten an. 40 1986 erscheint im Klett-Verlag die Sammlung Chansons d’aujourd’hui für den Einsatz in der Sekundarstufe II. 41 Die Autoren Bernhard Wiehl, Eberhard Haar und Sylvie Schenk knüpfen an den didaktischen Dreischritt von Heinrichs an und erweitern diesen zu Compréhension / Analyse et interprétation / Commentaire et discussion. 42 Die sechs Themenschwerpunkte lauten: I. Les jeunes et les vieux, II. Les visages de l’amour, III. La vie en ville et à la campagne, IV. L’individu et la société, V. Les marginaux, VI. La guerre et la paix. Volkhard Heinrichs plädiert für einen verstärkten Einsatz von französischen Chansons in der Sekundarstufe II anhand einer multimedialen Konstruktion des Chansondossiers, 43 als Kombination aus Chansons als Leitmedium und komplementären Sach-, Hör- und Bildtexten sowie aus fiktionalen Texten zum Thema. Dieses Dossier soll Abstand halten sowohl von einer einseitigen Ausrichtung auf das Chanson oder von Zuliefererdiensten für eine andersartige Sachwissensvermittlung als auch von der reinen Auflockerung des Unterrichts durch gelegentlich eingestreute Chansons. 44 Dieser multifunktionale Ansatz wird auch in Liedersammlungen aufgenommen wie beispielsweise derjenigen von Norbert Becker / Volkhard Heinrichs La chanson française: Paroles et musique . 45 Die Autoren ergänzen die Arbeitsform des commentaire dirigé progressiv nach der methodischen Trias Compréhension-/ Analyse / Commentaire personnel mit komplementären Bildtexten (Karikaturen, 40 Vgl. Wolfgang B iederstädt , Lieder im Englischunterricht und Vorschläge für den Unterricht in der Sekundarstufe I. In: Der fremdsprachliche Unterricht 18, 1984, S. 267-276, vor allem S. 272 f. 41 Bernhard w iehl / Eberhard h aar / Sylvie s chenk , Chansons d’aujourd’hui . Stuttgart: Klett 1986. 42 Die Autoren schreiben dazu im Avant-propos : „L’appareil pédagogique accompagnant les chansons s’aligne sur les démarches actuelles de l’étude de texte: les questions de compréhension, d’analyse et d’interprétation tendent à faire cerner l’élève la spécificité de l’œuvre et à le sensibiliser au mariage texte-musique.“ (Wiehl / Haar / Schenk 1986, S. 3.). 43 Vgl. Heinrichs (1983a), S. 464. 44 Ebd., S. 465. Zum dossierintegrierten Chansoneinsatz wurde 1984 am Centre international d’études pédagogiques de Sèvres (C.I.E.P.) in der Reihe Les Dossiers de Sèvres unter dem Titel La chanson d’aujourd’hui eine Materialiensammlung zum multimedialen Chansondossier erstellt. Vgl. Lucette c hamBard / Robert d amoiseau (Hrsg.), La chanson aujourd’hui. Mythes et images du temps présent . Sèvres: C.I.E.P. 1984. 45 Vgl. Norbert B ecker / Volkhard h einrichs , La chanson française - Paroles et musique. Düsseldorf: Bagel 1985. Einleitung 21 <?page no="21"?> 22 Einleitung Fotos) und Travaux pratiques mit Lückentexten, Zuordnungsübungen und Wortschatzarbeit ( Vocabulaire thématique sur la chanson ). Auch Henning Düwell und Hannelore Rüttgens 46 nutzen die multimediale Konstruktion des Chansondossiers, wobei sie wie Fricke eine Aufwertung der musikalischen Komponente fordern: Chansons erfordern eine Rezeption von Musik und Text, die in ihrer jeweiligen Komposition und ihrem Zusammenhang Anlaß für verschiedene Formen der Wahrnehmung, Analyse und Verarbeitung bieten. Daher müssen für den mehrdimensionalen Prozeß der Aufnahme und der Auseinandersetzung mit einem Chanson Aufgaben eingesetzt werden, die dieser Vielschichtigkeit gerecht werden. Dies gilt insbesondere für eine adäquate Berücksichtigung der Musikkomponente, die allerdings bei der Behandlung von Chansons im Unterricht nicht voll bewältigt werden kann, weil hierzu bei den Adressaten die erforderlichen Vorkenntnisse häufig nicht vorausgesetzt werden können. 47 Bei Düwell / Rüttgens erfolgt der Zugang zu den Chansons in einer an Sievritts angelehnten Stufenfolge: 1. Rezeption (A: Première impression sur la musique et les paroles de la chanson , B: Compréhension globale , C: Compréhension détaillée , D: Compréhension sélective ; 2. Reproduktion (A: Reproduction , B: Reproduction-- Production ); 3. Textproduktion (A: Production , B: Textes supplémentaires, Caricatures, bandes dessinées ). 48 In den 1990er Jahren ist der Einsatz von Chansons und die musikalische Komponente ein fester Bestandteil im Französischunterricht, wobei sich der Fokus auf Moderne Chansons 49 der Nouvelle génération française 50 bezieht. In 46 Henning d üwell / Hannelore r üttgens , Comprendre la vie à travers la chanson . Paderborn: Schöningh 1985. 47 Ebd., S. 5. Bezüglich der Musikanalyse verweisen die Autoren auf Manfred s ievritts , Lied-Song-Chanson 1 „Lieder erzählen“. Materialheft zu Musidaktik Grundband 1. Wiesbaden: A cappella 1982, S. 17. - Nach Sievritts beziehen sich die Unterrichtsmethoden auf fünf unterschiedliche Begriffs-Ebenen. Zur verhaltensorientierten Ebene, d. h. den Verhaltensweisen der Unterrichteten zählt er „Produktion: komponieren, dichten, erfinden; Reproduktion: singen und spielen (realisieren); Transposition: beschreiben (in Worte umsetzen) - bewegen (in Bewegung umsetzen) - notieren (in graphische Zeichen, in Bilder umsetzen); Rezeption: hören - Notation lesen - aufnehmen; Reflexion: analysieren - interpretieren - verstehen - werten.“ (Ebd., S. 17.). 48 Vgl. Düwell / Rüttgens (1985), S. 5-8. 49 Vgl. dazu Titel und Themenschwerpunkt von Der fremdsprachliche Unterricht Französisch . Heft 21: Moderne Chansons , 1996. Dazu wird eine CD Moderne Chansons vom Friedrich-Verlag herausgegeben: Cornelia B erthold , Moderne Chansons . CD zu Der fremdsprachliche Unterricht Französisch , Heft 21, Stuttgart: Klett / Friedrich 1996. 50 Seit 1992 gibt Michel Boiron, der Directeur du CAVILAM , didaktisierte, zeitgenössische Chansons heraus. Die erste CD mit Lehrerhandreichungen erschien in Mainz in Kooperation mit dem Institut de France. Vgl. Michel B oiron / Patrice h ourBette (Hrsg.), La <?page no="22"?> 23 seinem Basisartikel Chansons in der Schule - von Brassens und Brel zu Rap und Bruel im o. g. Themenheft Der fremdsprachliche Unterricht Französisch versucht Ralf Böckmann eine Standortbestimmung zur Rolle des französischen Chansons im Französischunterricht mit dem Fazit, dass der Platz des französischen Chansons im Unterricht zwar schon seit langem gesichert ist, wobei er allerdings für den Einsatz aktueller Chansons plädiert, für „Beispiele der 90er Jahre […], Interpreten dieser Tage, die in der frankophonen Welt und darüber hinaus bekannt und beliebt sind, auch solche, die es vielleicht erst bei uns zu entdecken gibt.” So sollte die „didaktische Diskussion über das Was und das Wie […] heute innerhalb des Spannungsfeldes von klassischem französischem Chanson, von Pop, Rap und kommerzieller Medienkultur verlaufen.” 51 In seinem Artikel Chansons im Französischunterricht (Schwerpunkt: Sekundarstufe II) im Themenheft Musik und Fremdsprachenunterricht 52 zeigt Werner Weilhard methodisch-didakische Möglichkeiten im Bereich des Hörverstehens 53 auf: Hinsichtlich der Methoden des Chansoneinsatzes sollte […] das Prinzip „Vario delectat” [sic] gelten. In jedem Fall unverzichtbar ist im Vorfeld der Planung eine möglichst präzise Klärung der Schwierigkeitsfaktoren und -grade im Lernbereich Hörverstehen. 54 nouvelle génération française / Neue Trends aus Frankreich. Mainz: Bureau Musique de l’Institut Français 1992. 51 Böckmann (1996), S. 3 f. 52 Vgl. Werner w eilhard , Chansons im Französischunterricht (Schwerpunkt: Sekundarstufe II). In: Fremdsprachenunterricht 6/ 93, S. 355-360. 53 Werner Weilhard zitiert hier Patrice Julien, der für das moderne, aktuelle Chanson festhält: „L’objectif pédagogique est triple: - Entraînement à l’écoute et à la perception du français actuel oral, - Apprentissage en contexte authentique de la phonologie, de la syntaxe et du vocabulaire utilisés en français courant et en ‚langue jeune’, - Sensibilisation à l’univers de références et aux mythologies quotidiennes des Français.“ Julien verweist auf vier Gefahren bei der Auswahl von aktuellen Chansons: „ - Le jugement ou le choix esthétique qui opposerait la ‚belle chanson à texte‘ à ‚la variété débile’. , - Le choix exclusif de chansons anciennes que l’enseignant aime particulièrement., - Le rejet de chansons dont la perception serait trop difficile., - L’élimination de chansons évoquant des sujets tabous (sexualité, drogue, …) ou utilisant un vocabulaire jugé trop argotique.“ (Ebd., S. 355, und Patrice J ulien , La nouvelle chanson française autrement. In: Le français dans le monde 221, 1988, S. 45-49, hier S. 45. 54 Weilhard (1993), S. 355. Weilhard unterscheidet 1. Die Methode des Einhörens (Hörverstehen und Text(teil)rekonstruktionen (Phase I), 2. Sprachliche Erarbeitung (Phase II), 3. Inhaltliche Erarbeitung und Interpretation (Phase III), 4. Aneignung des Chansons (Phase IV). (Ebd., S. 355 f.). Einleitung 23 <?page no="23"?> 24 Einleitung Für die Sekundarstufe I gibt Wolfgang Froese Ende der 1980er und bis Ende der 1990er Jahre das beliebte Liederheft En chantant 55 heraus, das neben 15 kindgemäßen Chansons traditionnelles 56 auch 12 Chansons didactiques 57 enthält. Das 1994 im Institut für Didaktik populärer Musik von Karl Rohrbach und 55 Wolfgang F roese , En chantant. Chansons didactiques et traditionnelles. Begleitheft [für Schüler] (Froese 1989a). Stuttgart: Klett 1989. 56 Dazu gehören 1. Le coq est mort, 2. Sur le pont d’Avignon, 3. Alouette, 4. Savez-vous planter les choux? , 5. Dans la forêt prochaine, 6. J’ai du bon tabac, 7. Lundi matin, 8. Gentil coquelicot, 9. Malbrough s’en va-t-en guerre, 10. Il était un petit navire, 11. Au clair de la lune, 12. Chevaliers de la table ronde, 13. Le bon roi Dagobert, 14. Il est né le divin enfant, 15. Bon anniversaire. 57 Es handelt sich um 1. Salut, ça va? , 2. Bonjour, salut, 3. Que font-ils? , 4. Que c’est chouette! , 5. Les cadeaux de mon anniversaire, 6. Au marché, 7. Au café, 8. Tout le monde est gris, 9. A l’hôtel, 10. Christine est malade; 11. L’ami Gaston, 12. Une visite à Paris. Die Lieder können unabhängig von einem Lehrwerk verwendet werden. Mehrere Lieder beziehen sich auf Bernd g runwald (Hrsg.), Échanges 1 , édition longue . Stuttgart: Klett 1981. So wird in Unité 8 A der Lektionstext Christine est malade durch das gleichnamige Lied mit der Bezeichnung Swing aufgenommen. Froese gibt im Lehrerheft folgende Hinweise, die sich auf Échanges 1 beziehen: „ Einsatz : nach L. 8 B, Ziele : Textverständnis; Textreproduktion., Verlauf : 1. Sch. hören das Lied ohne Textvorlage, 2. Lehrer überprüft das Detailverständnis durch gezielte Fragen und sammelt Stichwörter an der Tafel, 3. Anhand der Stichwörter reproduzieren Sch. den Text in freier Form: a) mündlich, b) schriftlich., 4. Sch. hören das Lied zur Kontrolle., (5.) Sie musizieren selbst anhand der Noten und singen dazu. Hinweis : Das Lied kann auch zwischen L. 8 A und L. 8 B eingesetzt werden, um den Infinitiv als Verbergänzung einzuführen (hier: avoir envie de faire qc.). Es empfiehlt sich, in diesem Fall nach der o. g. 2. Phase eine mündliche Umformungsübung anzubieten: reste au lit a envie Christine ne va pas au collège n’a plus envie prend un médicament → Elle a le temps de rester au lit. lit des Astérix n’a pas le temps etc. ne fait pas ses devoirs regarde la télé (Wolfgang F roese , En chantant. Chansons didactiques et traditionnelles. Lehrerheft (Froese 1989b). Stuttgart: Klett 1989, S. 8.). Ludger Schiffler bezieht sich auf das vorliegende Beispiel in zwei Publikationen: Ludger s chiFFler , Wie kann man Grammatik interaktiv gestalten? (Schiffler 1995a). In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 29 / 17, 1995, S. 17-21 und ders., Planung des Französisch-Anfangsunterrichts. Einführung für Lehrer in der Ausbildung (Schiffler 1995b). Stuttgart / Düsseldorf / Berlin / Leipzig: Klett 1995, S. 10-19. Zur Methodenvariation empfiehlt Schiffler neben der Kopplung von Sprache und Musik durch die suggestopädische Methode explizit Froeses En chantant , denn dadurch, „daß zu jeder Lektion didaktische Lieder, sogar teilweise in Reimform, entwickelt wurden, […] ist das Singen der Texte möglich. Als Beispiel sei hier die zweite Strophe des Liedes ,Christine est malade‘ angeführt: À huit heures et demie, / madame Leconte va au travail / et Christine reste à la maison./ Elle prend un thé au citron / et prend un médicament. / Aujourd’hui, elle a le temps / de lire des Astérix.” (Ebd., S. 18 f.). <?page no="24"?> 25 Matthias Ganz herausgegebene Werk Chansons pour toi 58 besteht aus drei Heften mit 5 CDs, wobei Band 1 einfache Lieder, Kanons, Chansons für die ersten zwei bis drei Jahre Französischunterricht vorstellt. Es dominieren die Chansons traditionnelles. Band 2 enthält Lieder der Nouvelle génération française wie Jean-Jacques Goldman, Michel Fugain, Stephan Eicher und Patricia Kaas. Dazu geben die Autoren handlungsorientierte Aufgabenstellungen vor: ( Wir schreiben ein eigenes Chanson ). 59 Band 3 ist als Lehrerband 60 konzipiert und bietet zahlreiche didaktische Hinweise sowie die kompletten Notenarrangements. So beginnt der Lehrerband mit dem Titel Das Lied im Französischunterricht und dem Zitat „Guter Unterricht ist ganzheitlicher Unterricht“. 61 Die Autoren beschreiben die gegenseitige Wechselwirkung der linken und rechten Hemisphäre des Gehirns, wobei nach Forschungen der Neurobiologie bei der linken Hirnhälfte die rational-analytische, bei der rechten Hirnhälfte die intuitiv-imaginative Funktion im Mittelpunkt steht: Das Chanson bietet die Möglichkeit, wieder beide Seiten unseres Bewußtseins anzusprechen: es beinhaltet Musik und Sprache, es weckt Emotionen, entspringt der Realität oder der Phantasie … - kurz: es berührt den ganzen Menschen, nicht bloß den Kopf. 62 Der Liedeinsatz im Französischunterricht ermöglicht ein ganzheitliches Lernen - im Pestalozzischen Sinne mit Kopf, Herz und Hand. 2002 erscheint ein Themenheft der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Französisch zu „Sprache und Musik“ 63 mit einer Auswahlbibliographie, die zeigt, dass Ende der 58 Kurt r ohrBach / Matthias g anz (Hrsg.), Chansons pour toi . Bände 1-3. Oldershausen: Lugert 1994. 59 Vgl. Rohrbach / Ganz (1994), Bd. 2, S. 28. 60 Rohrbach / Ganz (1994), Bd. 3, S. 3. 61 Ebd. 62 Rohrbach / Ganz (1994), Bd. 3, S. 3. 63 Vgl. Der fremdsprachliche Unterricht Französisch , Heft 57: Sprache und Musik , 2002. Dazu erschien eine gleichnamige CD: Cornelia B erthold / Anna w iese , Sprache und Musik . CD zu Der fremdsprachliche Unterricht Französisch , Heft 57, 2002. Als Nachfolgehefte von En chantant gibt Wolfgang Froese zusammen mit Florence Absolu zwei Bände passend für die Arbeit mit den Lehrwerken Ensemble / Découvertes inklusive Kopiervorlagen mit Texten, Noten sowie Übungsvorschlägen zu Projektarbeit, Freiarbeit und fächerübergreifendem Unterricht heraus. (Vgl. Wolfgang F roese / Florence a Bsolu , Paroles & Musique Bd. 1: Kopiervorlagen passend zu Découvertes 1 und 2 bzw. Tous ensemble 1 und 2 (Froese/ Absolu 1999a). Stuttgart: Klett 1999; dies., Paroles & Musique. Volume 2. Kopiervorlagen passend zu Découvertes 3 und 4 bzw. Tous ensemble 3 und 4 (Froese/ Absolu 1999b). Stuttgart: Klett 1999.). Das Thema Sprache und Musik steht auch im Mittelpunkt des Dossiers Paroles et musique in der fremdsprachendidaktischen Zeitschrift Les Langues Modernes. (Vgl. Les langues modernes. Revue trimestrielle de l’Association des professeurs de langues vivantes de l’enseignement public, 4 / 2008.). Einleitung 25 <?page no="25"?> 26 Einleitung 1990er Jahre diese Interdependenz von Sprache und Musik in mehreren fremdsprachendidaktischen Publikationen thematisiert wird. 64 Eine weitere Tendenz der 1990er Jahre ist durch die Interdisziplinarität geprägt: Ursula Mathis organisierte 1993 an der Universität Innsbruck das interdisziplinäre Symposium La chanson française contemporaine. Politique, société, médias , an dem neben den Romanisten namhafte Historiker, Journalisten, Kultur-, Sprach-, Literatursowie Musikwissenschaftler und Soziologen beteiligt waren. 65 Dieser fachübergreifende, interdisziplinäre Ansatz dominiert auch im 1997 von Norbert Becker herausgegebenen Themenheft zum Chanson. 66 Becker prophezeit im Vorwort die Medienrevolution der 2000er Jahre, die durch den Triumph und die Ausbreitung des Internets charakterisiert werden kann, sowie neue Kommunikationsplattformen, die mit Videoclips, mp3, mp4, deezer u. a. ein neues Medienzeitalter einläuten. 67 Zum visuellen Medieneinsatz aus einer interdisziplinären Perspektive erscheint auch 1992 Marcus Reinfrieds Dissertationschrift Das Bild im Fremdsprachenunterricht 68 als erste lückenlose Darstellung der historischen Entwicklung der visuellen Medien im Französischunterricht. 1996 gibt Gabriele Blell mit Karlheinz Hellwig den interdisziplinären Band Bildende Kunst 64 Für den Bereich Englisch erscheinen Beginn der 1990er Jahre zwei Grundlagenwerke von Tim Murphey: Tim m urPhey , Song and music in language learning: an analysis of pop song lyric and the use of song and music in teaching English to speakers of other languages (Europäische Hochschulschriften / European University Studies 11, Education, Bd. 422). Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris: Lang 1990, und ders., Music & Song . Oxford: Oxford University Press 1992. 65 Ursula m athis (Hrsg.), La chanson française contemporaine. Politique, sociéte, médias. Actes du symposium du 12 au 16 juillet 1993 à l’Université d’Innsbruck. Innsbruck: Verlag des Institutes für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck 1995. 66 Vgl. französisch heute 2, 1997. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich mit der Entwicklung des Chansons bis zu den Café-Concerts in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Dietmar Rieger) bzw. bis zur modernen Klassik (Ursula Mathis). Andreas Oberhuber widmet sich „zwei Stiefkindern des französischen Chansons“, dem „chanson de femme(s) und dem Videoclip“. Becker prognostiziert dabei in seiner Einleitung: „Beide [Stiefkinder, A. R.] kommen oft bei der Betrachtung dieser Gattung zu kurz. Dabei bietet gerade der Videoclip, der die Präsentation eines Chansons den Hörern und Zuschauern vorzüglich nahebringen kann, auch methodisch interessante Möglichkeiten. Die schulische Wirklichkeit nähert sich so erheblich der Realität des unmittelbaren Erlebens. Videoclips werden immer mehr Eingang in den Unterricht finden.“ (Ebd., S. 101.). 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. Marcus r einFried , Das Bild im Fremdsprachenunterricht. Eine Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts. Tübingen: Narr 1992. <?page no="26"?> 27 und Musik im Fremdsprachenunterricht 69 heraus und charakterisiert den fremdsprachendidaktischen Zusammenhang wie folgt: Motivierender Fremdsprachenunterricht beginnt beim Lernenden und seinen Interessen. Der Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht ist […] zu einer beliebten und sprachlich produktiven Selbstverständlichkeit geworden. Das gilt insbesondere für Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache: wie z. B. für Bildergeschichten, Cartoons, Comics, Buchillustrationen zu literarischen Texten, Filmen und Videos. Ähnlich verhält es sich mit Musik. Durch elektronische Apparate ist Musik überall. Es gibt auch kaum einen Lernenden, der sich nicht in irgendeiner Form von Musik für das Fremdsprachenlernen motivieren ließe. […]. Die mediumexterne Kombination von Bild und Fremdsprache sowie von Musik und Fremdsprache, d. h. das Sprechen über Bildkunstwerke: Malereien, Graphiken und Collagen - oder über Tonkunstwerke ohne Wort: Programm-Musik und Charakterstücke - war jedoch lange Zeit ein auffällig vernachlässigter Bereich der Fremdsprachendidaktik im neusprachlichen Unterricht. 70 Zwei Jahrzehnte nach der kommunikativen Wende kommt Frank G. Königs in Anlehnung an Hans-Eberhard Piephos proklamierter „postkommunikativer Phase” 71 nach einer Bestandsaufnahme der Forschungen in der Fremdsprachendidaktik zum Ergebnis, dass diese Neuentwicklungen als Belege für eine „Veränderung des Verständnisses von fremdsprachenunterrichtlicher Kommunikation und natürlich auch von fremdsprachenunterrichtlich bezogener kommunikativer Kompetenz” interpretiert werden können. 72 Königs prägt den Begriff „neokommunikativ”, der diese Neuentwicklungen treffender darstelle als „postkommunikativ”. 73 Parallel zu Frank G. Königs, dessen Aufsatz in der wenig verbreiteten chilenischen Zeitschrift Taller de letras erschien und deutschlandweit nur in der UB Frankfurt konsultierbar ist, bezeichnete auch Marcus Reinfried diese unterrichtsmethodischen Strömungen in seiner Vorlesung über 69 Vgl. Blell / Hellwig (1996). 70 Ebd., S. 7. 71 Vgl. Hans-Eberhard P iePho , Kommunikativer DaF-Unterricht heute - Überlegungen zum Einstieg in die „postkommunikative Epoche“. In: Deutsch lernen 15, 1990, S. 122-142. 72 Frank G. k önigs , Auf dem Weg zu einer neuen Aera des Fremdsprachenunterrichts? Gedanken zur „postkommunikativen Phase“ in der Fremdsprachendidaktik. In: Taller de letras 19, 1991, S. 21-42, hier S. 32. 73 Vgl. ebd., S. 32, und Marcus r einFried / Laurenz v olkmann (Hrsg.), Medien im neokommunikativen Fremdsprachenunterricht. Einsatzformen, Inhalte, Lernerkompetenzen . Beiträge zum IX. Mediendidaktischen Kolloquium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (18.- 20.09.2008) (Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert Bd. 20). Frankfurt am Main: Peter Lang 2012, S. 12. Einleitung 27 <?page no="27"?> 28 Einleitung Methodenkonzeptionen an der damaligen PH Erfurt als „neokommunikativ“. 74 Dieser Paradigmenwechsel hin zum neokommunikativen Fremdsprachenunterricht wurde von Reinfried nach einer empirischen Auswertung der Sachregister der Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht aus drei Jahrzehnten analysiert 75 , wobei er daraus folgende fünf unterrichtsmethodische Leitprinzipien abgeleitet hat: 76 (1) Handlungsorientierung (mit den Unterrichtsformen kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen und Lernen durch Lehren); (2) fächerübergreifender Unterricht (dem der Projektunterricht, die Mehrsprachigkeitsdidaktik und der bilinguale Unterricht zugeordnet werden); (3) ganzheitliches Lernen 77 (mit Inhaltsorientierung sowie authentischem und inzidentellem, d. h. beiläufigem Lernen); (4) Lerner- und (5) Prozessorientierung (mit der Individualisierung des Lernens, dem autonomen Lernen und dem reflektierten Einsatz von Lerntechniken). 78 Zur Mehrsprachigkeitsdidaktik erschien 1998 ein von Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried herausgegebener umfangreicher Sammelband. 79 Ein Jahrzehnt später verfasste Franz-Joseph Meißner darüber hinaus einen grundlegenden historischen Aufsatz, der sich erstmals der diachronen Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik widmete und deren historischen Vorläufern unter semasiologischen und onomasiologischen Aspekten nachging. 80 In mehreren Bänden der von Gabriele Blell und Rita Kupetz herausgegebenen Reihe Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert werden intermediale Korrelationen, d. h. Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache und mediumexterner Kombination von Musik und Fremdsprache 74 Vgl. ebd., S. 13. 75 Vgl. Marcus r einFried , Neokommunikativer Fremdsprachenunterricht: ein neues methodisches Paradigma. In: Franz-Joseph m eissner / Marcus r einFried (Hrsg.), Bausteine für einen neokommunikativen Französischunterricht. Lernerzentrierung, Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Interkulturalität, Mehrsprachigkeitsdidaktik . Akten der Sektion 13 auf dem 1. Frankoromanistentag in Mainz, 23.-26.09.1998 . Tübingen: Narr, 2001, S. 1-20. 76 Vgl. dazu Marcus r einFried , Neokommunikativer Fremdsprachenunterricht. In: Carola s urkamP (Hrsg.), Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe , Stuttgart: Metzler, 2. Aufl. 2017, S. 266. 77 Vgl. dazu den Beitrag von Gabriele B lell / Christiane l ütge , Musical Visions: Filmmusik im Rahmen der Entwicklung von Hör-Seh-Verstehen im Fremdsprachenunterricht. In: Reinfried / Volkmann (2012), S. 99-110. 78 Reinfried (2010), S. 232 f. 79 Franz-Joseph m eissner / Marcus r einFried (Hrsg.), Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen. Tübingen: Narr 1998. 80 Franz-Joseph m eissner , Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu. In: Claus g nutzmann / Frank G. k önigs (Hrsg.), Geschichte des Fremdsprachenunterrichts ( Fremdsprachen Lehren und Lernen , 39. Jg. 2010), S. 132-144. <?page no="28"?> 29 thematisiert. 81 Die kommunikativen, sprachlichen und kulturellen Interaktionsmöglichkeiten der Neuen Medien zeigt Laurenz Volkmann 82 auf in seinem Artikel Überlegungen zum Lernziel Medienkompetenz 83 am Beispiel Musikvideoclips . Neben der fremdsprachlich kommunikativen und der interkulturellen Kompetenz plädiert Volkmann für eine semiotische und kulturkritische Kompetenz. 84 Die zentrale Rolle von Musikvideoclips im Französischunterricht zeigt sich auch daran, dass Andreas Nieweler 2011 seine Reihe Französisch Innovativ mit dem Band Musik und Videoclips eröffnet. 85 In diesem Zusammenhang verweist Nieweler auf das didaktische Potential der Neuen Medien, insbesondere des Internets: 86 Mit dem vorliegenden Band werden gezielt Kompetenzen gelehrt und erworben. Die Schüler lernen, Chansons, Lieder und Musikvideoclips 87 zu analysieren und produktiv zu nutzen. Sie tauchen dabei ein in eine landeskundlich relevante Vielfalt an Texten und Medien aus dem frankophonen Sprachraum und erweitern ihre Kenntnisse. Das Internet ist eine reichhaltige Informationsquelle für Musik und Künstler. Entsprechende Hinweise für Recherchen werden in den Beiträgen gegeben. 88 81 Vgl. Camilla B adstüBner -k izik , Bild- und Musikkunst im Fremdsprachenunterricht. Zwischenbilanz und Handreichungen für die Praxis (Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert Bd. 12) . Frankfurt am Main: Peter Lang 2007 und Gabriele B lell / Rita k uPetz (Hrsg.), Der Einsatz von Musik und die Entwicklung von Audio-Literacy im Fremdsprachenunterricht (Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert Bd. 17). Frankfurt am Main: Peter Lang 2010. 82 Vgl. Laurenz v olkmann , Überlegungen zum Lernziel Medienkompetenz am Beispiel Musikvideoclips. In: Petra B osenius / Jürgen d onnerstag (Hrsg.), Interaktive Medien und Fremdsprachenlernen ( Kolloquium Fremdsprachenunterricht Bd. 17). Frankfurt am Main: Peter Lang 2004, S. 145-162. 83 Vgl. zur Medienkompetenz Laurenz v olkmann , Förderung von Medienkompetenzen. In: Fremdsprachen lehren und lernen 41, Heft 1, 2012, S. 25-39, und zur Entwicklung von Medienkompetenzen mit Musikvideoclips ders., Teaching Music Video Clips / Teaching via Music Video Clips. In: Gabriele l inke (Hrsg.), New Media - New Teaching Options?! Heidelberg: Winter 2006, S. 37-77. 84 Ebd., S. 146. 85 Andreas n ieweler (Hrsg.), Französisch Innovativ , Bd. 1: Musik und Videoclips. Stuttgart: Klett 2011. 86 Vgl. Renate k lenk -l orenz , Chansondidaktik: Wege ins Hypermedium. Impulse für den modernen Französischunterricht. Hamburg: Kovač 2005. 87 Vgl. zum Hör-, Hör-Seh- und Hör-Lese-Verstehen und der visual literacy Christine m ich ler / Daniel r eimann (Hrsg.), Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht . Tübingen: Narr 2016. 88 Nieweler (2011), S. 5. Einleitung 29 <?page no="29"?> 30 Einleitung Die Auswahl der Beiträge zeigt die methodische Vielfalt der thematischen Aspekte, 89 die sich mit den Themenheften der 2010er Jahre der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht - Französisch 90 größtenteils decken. 91 Der wachsenden Bedeutung nicht nur von Chansons bzw. Liedern, sondern von Musik im Fremdsprachenunterricht wird dadurch Rechnung getragen, dass die Herausgeberin Carola Surkamp mit Gabriele Blells Beitrag einen separaten Lexikoneintrag diesem Stichwort im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik widmet. 92 Blell fasst folgende didaktische Grundlagen und 89 Vgl. u. a. in der Inhaltsübersicht die Titelformulierungen der drei Beiträge von Petra Bausch: Grandir ou les épreuves de la vie (Lieder zum Zuhören und Mitsingen), Aktuelle Lieder von Diam’s und anderen im Unterricht, Abwechslung und Emotionen! , Rappen für eine bessere Zukunft: Jede Generation hat ihre Sprecher! ; Andreas Nieweler: Authentische Grammatik durch Lieder: si -Sätze einmal anders; Ute Rellecke: Mehrkanaliges Lernen mit Musik statt trockenem Grammatikunterricht; Mirja Bülen: Les liaisons amoureuses: ein Chanson d’amour von Lara Fabian; Min Chul Hauke Hering: Die Storyboard- Methode am Beispiel des Clips Les meilleurs ennemis ; Carolin Gieseke: Rêves et réalité: Châtelet Les Halles ; Veit Husemann: Musicals im Unterricht: Le Roi Soleil et Cie. (Nieweler 2011, S. 3.). 90 Der didaktische Aspekt des Französischlernens anhand von Chansons und Videoclips wird thematisiert in Heft 81/ 82 La nouvelle chanson française (inklusive einer Doppel-CD). In Heft 94, Französisch ab Klasse 6 , widmet sich Sandra Feuge in ihrem Beitrag Tous en chœur dem Thema Musik und Schüleraktivierung im Anfangsunterricht; Pia Keßlers Beitrag: Klatschen, Springen, Sprechen, Singen berichtet über Rhythmusübungen und Aussprachetraining. Im Heft 95 zum Thema Hören beschreibt Petra Bausch in ihrem Artikel En avant la musique ! die Hörverstehensschulung mit dem Lied Ma sœur von Vitaa. Im Heft 107 Planète jeunes (inklusive DVD) stellt Rick Chamberlin unter Enseignement à deux vitesses das Lied Éducation nationale von Grand Corps Malade vor; Heft 109 widmet sich La grammaire en chansons (inklusive CD); Heft 133, Lernen mit Musik , setzt den Schwerpunkt auf Lernstrategien und den Einsatz von neuen Impulsen durch Musik anhand von Musik und Bewegung (kinästhetische Komponente), Suggestopädie, aktivierender Elemente wie die Nutzung des Körpers als Instrument (Bodypercussion), Rap, Hörspiel; Heft 139, Chansons de la francophonie, erlaubt durch außereuropäische Chansons die Vielfalt der globalen Sprache Französisch besser zu vermitteln. 91 Das in der vorhergehenden Fußnote 90 zitierte und im Februar 2016 erschienene Themenheft zu den Chansons de la francophonie kann als Antwort auf Claudia Polzin-Haumanns Forderung gesehen werden, dem Theorie-Praxis-Problem in der Lehrerausbildung durch die Verbindung von sprach-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Inhalten zu begegnen. Als Beispiel zitiert sie „die schulgerechte Aufbereitung frankophoner Literatur Afrikas“. (Claudia P olzin -h aumann , Die Relevanz der Romanistik: Überlegungen zu Gegenstandsbereich, Aufgaben und Zielen einer angewandten romanistischen Linguistik in der Wissensgesellschaft. In: Wolfgang d ahmen / Günther h oltus / Johannes k ramer / Michael m etzeltin / Wolfgang s chweickhard / Otto w inckelmann (Hrsg.), Romanistik und Angewandte Linguistik. (Romanistisches Kolloquium XXIII.) Tübingen: Narr 2011, S. 3-20, hier S. 12.). 92 Vgl. Surkamp (2017), S. 259-262. <?page no="30"?> 31 Prinzipien für den Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht zusammen: (1) Prozessorientierung als Konzept konstruktivistischen Lernens zur Anregung von Sprach- und Sinnbildung sowie zum ästhetischen Lernen; (2) ganzheitlich-handelndes, schülerzentriertes Lernen (Lernerorientierung), bei dem die Lehrperson Monitor, Beraterin sowie aktiv Beteiligte ist. Handlungsorientierung ist dabei das zentrale verbindende konzeptionell-didaktische Prinzip der Fremdsprachendidaktik und der angrenzenden Musikpädagogik; (3) Öffnung des Lernortes Schule: Projektorientiertes Lernen (z. B. Musikwerkstatt) oder Hörspaziergänge (Lehr- und Lernort, Projektarbeit); (4) interkulturelles Lernen zur Entdeckung fremder akustischer Kulturen. 93 Michaela Sambanis untersucht in ihrem 2013 bei Narr erschienenen Buch Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften 94 u. a. die Interaktionen zwischen Musik, Sprache und Bewegung, wobei sie nach einem kurzen historischen Abriss des „bewegten Lernens” auch auf Bewegungslieder eingeht: Lehrkräfte, die in der Grundschule Englisch oder Französisch unterrichten, verfügen in der Regel über ein Repertoire an bewegungsbasierten Aktivitäten. Sie singen mit ihrer Klasse Bewegungslieder (z. B. Head and shoulders, knees and toes / Tête, épaules et jambes et pieds ) oder verbinden Lieder mit Tanzbewegungen. 95 Im Basisheft Praxis Fremdsprachenunterricht 3 / 2015 mit dem Titel Musik widmet sich Sambanis unter dem Abschnitt Grundsätzliches der Wirkung von Musik auf das Fremdsprachenlernen. 96 Engelbert Thaler untersucht die Ziele eines musikbasierten Fremdsprachenunterrichts (MBF) und orientiert sich in seinem Artikel Musikbasierter Fremdsprachenunterricht 97 auf die Bildungsstandards, d. h. die fünf Bereiche der Abiturstandards: 93 Ebd., S. 227. 94 Vgl. Michaela s amBanis , Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften . Tübingen: Narr 2013. Vgl. zu den neuronalen Auswirkungen musikalischen Lernens Eckart a lt müller , Macht Musik schlau? Zu den neuronalen Auswirkungen musikalischen Lernens im Kindes- und Jugendalter. In: Musikphysiologie und Musikermedizin 2 und 3 / 2007, S. 40-50; Oliver g rewe , Musik und Emotionen. Warum kreatives Handeln glücklich macht. Essay. In: Blell / Kupetz (2010), S. 29-35; Lutz J äncke , Macht Musik schlau? Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie . Bern: Hans Huber 2008. 95 Sambanis (2013), S. 91. 96 Vgl. Michaela s amBanis , Musik bitte! Sprache und Musik - Sprache der Musik. Fremdsprachliche Überlegungen und Wissenswertes aus den Neurowissenschaften zu Musik und Sprache. In: Praxis Fremdsprachenunterricht . Basisheft. Musik 3 / 2015, S. 7-10. 97 Vgl. Engelbart t haler , Musikbasierter Fremdsprachenunterricht. In: Praxis Fremdsprachenunterricht (2015), S. 11-16. Einleitung 31 <?page no="31"?> 32 Einleitung 1. Funktionale kommunikative Kompetenz (Hör- / Hörsehverstehen, z. B. Dekodierung eines Popsongs […]; Leseverstehen, z. B. kursorisches Lesen einer Star-Biographie; Sprechen, z. B. kritische Diskussion des Musikbetriebs; Schreiben, z. B. Verfassen einer E-Mail an Band-Mitglieder; Sprachmitteln, z. B. kontrastive Analyse von Originaltext und deutscher Übersetzung; Verfügen über sprachliche Mittel, z. B. Ausspracheschulung und Förderung des Sprachflusses durch Singen oder Einführung einer grammatischen Struktur. 2. Interkulturelle kommunikative Kompetenz (z. B. Perspektivenwechsel durch Rollenspiel mit einem amerikanischen Hip-Hop-Star). 3. Text- und Medienkompetenz (z. B. Analyse typischer Merkmale eines Rap-Musikvideos […]. 4. Sprachbewusstheit (z. B. Sensibilisierung für kolloquiale Varianten von Songtexten […]. 5. Sprachlernkompetenz (Reflexion und Vertiefung der Sprachlernprozesse durch autonome Nutzung von Online-Musikvideo-Portalen). 98 Ludovic Gourvennec bettet den Liedeinsatz in den Kontext des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens ein: Dans le CECRL , la compétence pragmatique „recouvre l’utilisation fonctionnelle des ressources de la langue (réalisation de fonctions langagières, d’actes de paroles) en s’appuyant sur des scénarios ou des scripts d’échange interactionnels. Elle renvoie également à la maîtrise du discours, à sa cohésion et à sa cohérence, au repérage des types et genres textuels, des effets d’ironie, de parodie.” Elle aborde donc l’au-delà du texte, son inscription dans le contexte, et elle s’avère primordiale dans l’appréhension d’une chanson […]. Et le CECRL apporte une précision importante pour notre étude : „Plus encore pour cette composante que pour la composante linguistique, il n’est guère besoin d’insister sur les incidences fortes des interactions et des environnements culturels dans lesquels s’inscrit la construction de telles capacités.” 99 (2001: 18). 100 Eine weitere wichtige Entwicklungslinie zum Musikeinsatz im Fremdsprachenunterricht der letzten Jahre zeigt sich durch die Europäisierung der bilingualen Sachfachdidaktik und die Entwicklung des europäischen Konzepts des CLIL ( Content and Language Integrated Learning ) bzw. des EMILE ( Enseigne- 98 Thaler (2015), S. 11. 99 Ludovic g ourvennec , Paroles et musique: le français par la chanson . Paris: Hachette (München: Hueber) 2017, S. 101 f. 100 Conseil de l’Europe (Hrsg.), Cadre européen commun de référence pour les langues. Apprendre - Enseigner - Évaluer. Paris: Didier 2001, S. 18. <?page no="32"?> 33 ment d'une Matière par l’Intégration d'une Langue Étrangère ). 101 Im Rahmen des bilingualen Unterrichts wird das Schulfach Musik verstärkt in sogenannten CLILbzw. EMILE-Musikmodulen als Sachfach eingesetzt. 102 Der hier beschriebene Forschungsstand zum Thema Musik im Französischunterricht zeigt, dass vor 1945, ja vor der neusprachlichen Reformbewegung das Thema bisher kaum beachtet und untersucht wurde. Gabriele Blell beginnt zwar ihren o. g. Beitrag zu Musik mit der Feststellung: Die Idee von Musik im Fremdsprachenunterricht ist seit Wilhelm Viëtor in der neusprachlichen Didaktik gängig und zunehmend auch unterrichtliche Praxis geworden, zuerst im Anfangsunterricht des 5. und 6. Schuljahres (seit ca. 1882), später auch im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht […]. 103 Es werden jedoch keine Beispiele angegeben oder Querverweise angeführt. Selbst Herbert Christ als ausgewiesener Experte für den historischen Bereich des Fremdsprachenunterrichts konstatierte im Jahre 2002: Chansons erhielten erst spät jenes dauerhafte Hausrecht im Französischunterricht, das sie inzwischen zu haben scheinen. […] Ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der neusprachendidaktischen Zeitschriften von den 80er Jahren des 19. bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ist aufschlussreich: das Thema Lied wird nur ganz selten angesprochen. In der Zeitschrift Die Neueren Sprachen findet man beispielsweise zwischen 1893 und 1944 zwei (! ) Aufsätze zum Thema Chanson. 104 Eine Ausnahme bildet nach Christ lediglich der Anfangsunterricht, bei dem er eine Quelle von 1915 zitiert: In älteren Lehrplänen findet man gelegentlich empfehlende Hinweise zu einer anderen Weise der Beschäftigung mit Liedern im Unterricht. So liest man in einem Lehrplan von 1915, es sollten in der Unterstufe „einzelne Lieder, deren Singweise 101 Vgl. Wolfgang h allet , Bilingualer Sachunterricht. In: Surkamp (2017), S. 29-32. 102 Die Begriffspaare CLIL und EMILE stehen für die Verwendung einer Fremdsprache zur Vermittlung von fachlichen Inhalten und haben sich aus dem integrierten Sprach- und Sachfachunterricht und bilingualen Unterrichtsformen entwickelt. Vgl. dazu Charlott F alkenhagen , Content and Language Integrated Learning (CLIL) im Musikunterricht. Eine Studie zu CLIL-Musikmodulen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2014, und Anemone g eiger -J aillet / Gérald s chlemminger / Christine l e P aPe , Enseigner une discipline dans une autre langue: méthodologie et pratiques professionnelles: Approche CLIL - EMILE. Frankfurt am Main: Peter Lang 2016. 103 Surkamp (2017), S. 259. 104 Herbert c hrist , Wann und wie Chansons im Französischunterricht in Deutschland heimisch wurden - Eine unterrichtsmethodische Skizze. In: Anne a mend -s öchting (Hrsg.), Das Schöne im Wirklichen - das Wirkliche im Schönen. Festschrift für Dietmar Rieger zum 60. Geburtstag ( Studia Romanica , Bd. 108), 2002, S. 69. Einleitung 33 <?page no="33"?> 34 Einleitung in der Gesangsstunde eingeübt werden, auch gesungen” werden. Doch dürfte es sich in der Regel um Volks- und Kinderlieder gehandelt haben. 105 Diese spärlichen, ja parzellierten Hinweise zum Einsatz von musikalischen Elementen, sowohl in der Primärals auch in der Sekundärliteratur, 106 zeigen, dass eine möglichst lückenlose Aufarbeitung und Darstellung des Musikeinsatzes am Beispiel des Französischunterrichts im deutschsprachigen Raum ein dringliches Desiderat darstellt. Das Thema dieser Arbeit situiert sich an der Schnittstelle mehrerer Forschungsrichtungen, zwischen der Didaktik des Französischen, Literatur- und Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte, Sprachphilosophie, politischer Ideengeschichte sowie Kulturwissenschaften. Sie kann damit als Bindeglied zwischen der Geschichte des Methoden- und Medieneinsatzes betrachtet werden. 107 105 Ebd., S. 70. 106 Die Beschäftigung mit der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und erste Forschungen beginnen 1890 und beschränken sich „auf eine Fremdsprache in einem Land. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kamen Veröffentlichungen hinzu, in denen versucht wird, den gesamten Fremdsprachenunterricht in einem Land, in mehreren Ländern oder sogar europäisch-amerikanischen Fremdsprachenunterricht historisch zu beschreiben.“ (Marcus r einFried , Geschichte des Fremdsprachenunterrichts: Ein internationaler Überblick über die Literatur. In: Karl-Richard B ausch / Herbert c hrist / Hans-Jürgen k rumm (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht , 5., vollst. neu überarb. u. erw. Aufl. Tübingen und Basel: Francke 2007 (Reinfried 2007a), S. 622). Siehe auch ders., L’historiographie du français langue étrangère en Allemagne. Un abrégé de son évolution. In: Marie-Christine k ok e scalle / Karène s anchez -s ummerer (Hrsg.), Usages et représentations du français hors de France. 25 ans d’études historiques au sein de la SIHFLES (actants, outils, pratiques.). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n° 50, 2013, S. 203-219. - Sophie Aubin behandelt in ihrem Beitrag in Documents einen Teilaspekt, d. h. das 19. Jahrhundert, und bezieht sich nicht exklusiv auf die Entwicklung des Französischunterrichts im deutschsprachigen Raum. Vgl. Sophie a uBin , Maître de langue, professeur de langue et enseignement de la musique du français (XIX e siècle). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n° 35, 2005, S. 41-57. 107 Zu den allgemeinen Überblickswerken zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und seiner Didaktik gehören Louis G. k elly , 25 centuries of language teaching. An inquiry into the science, art, and development of language teaching methodology 500 B. C.-1969. Rowley / Mass.: Newbury House 1969; Jean Antoine c aravolas , Histoire de la didactique des langues au siècle des Lumières. Précis et anthologie thématique. Montréal / Tübingen: Presses de l’Université de Montréal / Narr 2000. - An der Schnittstelle von Fachdidaktik und Kulturwissenschaften steht Walter k uhFuss , Eine Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit. Französischlernen am Fürstenhof, auf dem Marktplatz und in der Schule in Deutschland. Göttingen: V&R unipress 2014 . Wichtige Quellenwerke zur Methoden- und Lehrbuchgeschichte sind Reinfried (1992); Konrad s chröder , Linguarum Recentium Annales. Der Unterricht in den modernen europäischen Sprachen im deutschsprachigen Raum. 4 Bände. Augsburg: Universität 1980, 1982, 1983, 1985; Herbert c hrist / Hans-Joachim r ang (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Ver- <?page no="34"?> 35 Analog zu Marcus Reinfrieds Monographie Das Bild im Fremdsprachenunterricht , die eine Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts aufzeigt, ist auch die vorliegende Arbeit der historisch-genetischen Methode verpflichtet. Der zeitliche Rahmen der Arbeit umfasst die frühen Formen des Musikeinsatzes im Unterricht der Antike und endet mit dem Ausklingen der neusprachlichen Reformbewegung und dem Sieg der vermittelnden Methode am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914. 108 Die Primärquellen sind Liedersammlungen für den Französischunterricht und vor allem Lehrbücher, in denen Liedtexte und gelegentlich auch die dazugehörigen Noten abgedruckt wurden. Die Sekundärquellen umfassen Publikationen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Produkte eines Forschungsgebiets, in der die Zahl der fremdsprachendidaktischen Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten zwar erheblich zugenommen hat: Der Nachweis von Beispielen des Musikeinsatzes vor der neusprachlichen Reformbewegung hat sich jedoch angesichts der mageren Auswahl von (oft verschollenen) Primärquellen und auch Sekundärquellen als äußerst komplex und schwierig erwiesen. In verschiedenen Archiven und Nachlässen konnte ich allerdings wichtige handschriftliche Dokumente sichten, die dazu beigetragen haben, bisher vorhandene thematische Lücken in der Geschichte des Fremdsprachenordnungen. Bd. I-VII. Tübingen: Narr 1985. Bekannte Werke zur Methodengeschichte des Fremdsprachenunterrichts sind Christian P uren , Histoire des méthodologies de l’enseignement des langues. Paris: Nathan 1988; Claude g ermain , Évolution de l’enseignement des langues: 5000 ans d’histoire. Paris: CLE International, 1993; Konrad m acht , Methodengeschichte des Englischunterrichts. Bände 1-3. Augsburg: I & I Universität Augsburg 1986, 1987, 1990; Friederike k liPPel , Englischlernen im 18. und 19.- Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrrichtsmethoden. Münster: Nodus-Publ. 1994. Grundlagenwerke zur Mediengeschichte sind Reinfried (1992) und Hanno s childer , Medien im neusprachlichen Unterricht seit 1880. Eine Grundlegung der Anschauungsmethode und der auditiven Methode unter entwicklungsgeschichtlichem Aspekt . Kronberg / Ts.: Scriptor 1977. Wichtige Forschungsimpulse zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts gehen von der im Dezember 1987 in Paris gegründeten Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Étrangère (SIHFLES) aus, die nicht nur zweimal im Jahr die Zeitschrift Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde herausgibt, sondern ein interaktives Netzwerk und eine Kommunikationsplattform unter Forschern darstellt. 108 Mein ursprüngliches Vorhaben der Erstellung einer lückenlosen Darstellung bis 1945 oder sogar bis zur Gegenwart hätte quantitativ und qualitativ den Rahmen einer detailliert-fundierten Darstellung gesprengt. Das sich während der neusprachlichen Reformbewegung herausgebildete neue Paradigma zum Liedeinsatz bestimmt die Verwendung von musikalischen Elementen im Fremdsprachenunterricht bis heute und schließt die Arbeit ab. Einleitung 35 <?page no="35"?> 36 Einleitung unterrichts unter besonderer Berücksichtigung des Fachs Französisch zu schließen. 109 Die Arbeit bezieht sich vorwiegend auf den deutschsprachigen Raum: zunächst auf Deutschland, da von hier wichtige methodisch-didaktische Neuerungen ausgingen. Weiterhin werden Österreich und die germanophone Schweiz einbezogen. Weitere wichtige Impulse gingen besonders von Frankreich und Italien aus. So werden in der vorliegenden diachronen Evolution auch intermediale und -personale Parallelen, Interdependenzen und Querverbindungen aufgezeigt. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile, wobei die neusprachliche Reformbewegung (etwa 1880-1905) im Zentrum der Darstellung steht: Zunächst werden frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung untersucht (Kapitel I). Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Musikeinsatz im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung (Kapitel II). Die umfangreiche Auseinandersetzung über den Einsatz französischer Lieder - sei es in Form von französischen Kontrafakturen bekannter deutscher Melodien oder original französischer Melodien - bildet den Abschluss dieser Arbeit (Kapitel III). Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist ein dreifaches: 110 Zunächst soll untersucht werden, wann, wo, zu welchen Anlässen sowie in welchen Unterrichtssituationen Musik eingesetzt worden ist. Zum zweiten beschäftigt sich die vorliegende Monographie mit der Art des Musikeinsatzes im Französischunterricht, d. h. den methodischen Funktionen: Welche Lieder wurden ausgewählt und warum? Wurden diese neu geschaffen oder adaptiert? 109 Beispiele dafür sind u. a. Frédéric Guillaume Hauchecornes Tagebuch mit einer handgeschriebenen Liedersammlung ( 1814-1820 ), die ich im Archiv Französischer Dom Berlin entdeckt habe. Hauchecornes realienkundliches Lehrbuch mit Liedelementen Lectures pour la jeunesse, Tome III konnte ich durch eine Auktion erwerben. Einige wichtige Handschriften und anonyme Drucke habe ich in der Bibliothèque nationale de France , sites Richelieu und François Mitterrand entdeckt. Ein Großteil der zeitgenössischen Lehrbücher konnte in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin und der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig konsultiert werden. Die Reproduktion der Notenbeispiele erwies sich jedoch als schwierig, oft nicht realisierbar, so dass ein Großteil der Lehrwerke antiquarisch beschafft werden musste. Ein Korpus von 146 pädagogischen Prüfungsarbeiten, sogenannten Assessorenarbeiten, konnte ich im Archiv des Deutschen Instituts für Pädagogische Forschung der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung BBF Berlin untersuchen. 110 Vgl. dazu das Modell der Faktorenkomplexion: Nadia m inerva / Marcus r einFried , Les domaines à explorer et l’évolution historique. In: Marie-Christine k ok e scalle / Nadia m inerva / Marcus r einFried (Hrsg.), Histoire internationale de l’enseignement du français langue étrangère ou seconde: problèmes, bilans et perspectives“ ( Le français dans le monde. Recherches et applications , 52 / 2012, S. 14-28. Vgl. auch Kelly (1969). <?page no="36"?> 37 Welche spezifische musikalische Formen wurden angewendet? Schließlich widmet sich die Arbeit der Frage, wie verschiedene Musikformen eingesetzt wurden, als Lückenfüller am Ende der Stunde oder als tragendes didaktisches Konzept? Welche personale Faktoren (Ausprägung der Lehrer- und Schülerschaft) sowie sachbezogene Faktoren (Lernziele, Inhalte, Unterrichtsmethoden und Medien) haben den Musikeinsatz gefördert und geformt? Welche Sozialformen und methodische Funktionen wurden durch Musik übernommen? Neben diesen internen Determinanten stellt sich auch die Frage nach externen Einflussfaktoren, die oft stärker sozialgeschichtlich geprägt sind (wie das Selbstbild schulischer Institutionen oder soziale Funktionen des Sprachenlernens): In welchem Bezug stand dabei der Musikeinsatz zu den Schülern und deren Alter? Wie sah der institutionelle Kontext aus: Wurden Lieder schulisch und außerschulisch eingesetzt? In welchen Schulstufen und -formen? Von welchen Lehrenden für welche Lernenden wurden welche Lieder verwendet? Gab es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Liedeinsatz und wie spiegelt sich das in den Lehrwerken für Mädchenbzw. Knabenschulen (z. B. Mittlere Mädchenbzw. Knabenschulen) oder am Schultyp (Realschule, Oberrealschule, Realgymnasium, Gymnasium) wider? Sollte der Lehrende selbst musikalisch sein, singen können und ein Instrument spielen, um Lieder im Unterricht einzusetzen? Wie manifestieren sich kulturgeschichtliche Einflüsse (d. h. dem historischen Wandel unterworfene Erziehungs-, Lern-, Sprach- und Kulturkonzepte)? Nach einem Aphorismus des deutschen Philosophen Odo Marquart „Zukunft braucht Herkunft” 111 speist sich ein tiefgründiges Verständnis der Gegenwart, also des modernen Französischunterrichts, aus einer profunden Kenntnis und Analyse der historischen Zusammenhänge in ihrer diachronen Evolution. Deshalb soll abschließend mit der vorliegenden Arbeit auch gezeigt werden, dass heute gängige, verbreitete Konzepte und Unterrichtsformen beim Einsatz von Musik im Französischunterricht keinesfalls Produkte des 21. Jahrhunderts sind, sondern sich bereits in Ansätzen in der über 500-jährigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts manifestieren. 112 111 Vgl. den Titel des gleichnamigen Buches: Odo m arquart , Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam 2003. So lautet auch das Motto des Deutschen Altphilologenverbands 2002. Vgl. dazu Helmut h eit , Der Ursprung der Vernunft. Zur philosophiehistorischen Genealogie des griechischen Wunders. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 20. 112 Vgl. Kelly (1969): 25 centuries of language teaching. An inquiry into the science, art, and development of language teaching methodology 500 B. C.-1969. Einleitung 37 <?page no="38"?> I. Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung I. 1 Musik im Unterricht der Antike Der Musikeinsatz im Unterricht steht in einer sehr langen Tradition weit vor Beginn eines Fremdsprachenunterrichts. In der griechischen Frühzeit gab es eine bewusste Erziehung vorrangig für den Adel und für Knaben. Platon unterscheidet zwei Bereiche: die Gymnastik für den Körper und die Musik für die Seele. 1 An erster Stelle stand die „Zucht“ des Körpers und der Seele zum gewandten Kämpfer, wobei der Körper auch durch Wettkämpfe, Spiele und Tanz 2 trainiert wurde. Diesem „gymnastischen“ Element war das „musische“ Element nachgeordnet, „die Bildung des ritterlichen Knaben durch Musik und Volkspoesie, durch die Weisheit der überlieferten Sagen […].“ 3 Musik, vor allem der Gesang, spielte auch eine Rolle in der Erziehung der Mädchen im Rahmen des Ideals der höfischen Gesellschaft, in der „der Frau als der hochgeachteten Hüterin aller edlen Sitten“ 4 eine spezielle Bedeutung zukam. Als Leitfigur der antiken Erziehung gilt Homer, den Marrou auch als „Erzieher Griechenlands“ bezeichnet. 5 Wie bei der homerischen Erziehung spielten Formen der Musik in der spartanischen Kultur eine entscheidende Rolle. Musik steht im Mittelpunkt der Kultur und sichert die Verbindung zwischen ihren verschiedenen Formen: „im Tanz reicht sie der Gymnastik die Hand, durch den Gesang trägt sie die Dichtung, die einzige archaische Form der Literatur.“ 6 Spar- 1 Vgl. Henri Irénée m arrou , Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum. München: dtv 1977, S. 97. 2 Oft gab es auch kombinierte Formen. Marrou berichtet in seiner Problemgeschichte der Erziehung im Altertum von „musikalischen“ Zwischenspielen, dem Tanz der jungen Phäaken, dem Tanz beim Fest der Söhne des Alkinoos, dem Gesang der Sänger, dem Leierspiel. Achill erleichtert beispielsweise seinen Kummer, „indem er sich in sein Zelt zurückzieht und für sich allein die Taten der Helden besingt, wobei er sich auf der klangvollen Phorminx begleitet.“ (Marrou 1977, S. 38.). 3 Albert r eBle , Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta 1951, S. 20. 4 Ebd. 5 Vgl. Marrou (1977), S. 44. 6 Ebd., S. 57. <?page no="39"?> 40 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht ta war im 7. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. sogar die musikalische Hauptstadt Griechenlands. Dort entstanden auch die beiden ersten Schulen der Musikgeschichte. 7 In Sparta fanden musikalische Wettkämpfe aller Art statt, die von jeweils zwei Chören, einem von Knaben und dem anderen von verheirateten Männern ausgestaltet wurden. 8 Außer dem Chorgesang spielte die Militärmusik in der Antike die Rolle unserer heutigen Trompeten und Trommeln und gab den Rhythmus für die gemeinsame Bewegung an. Marrou kommt zu dem Fazit, dass die gesamte antike Kultur und ihre Erziehung „mehr künstlerisch als wissenschaftlich [waren], und ihre Kunst war musikalisch, bevor sie literarisch und plastisch wurde. […] Derjenige, der (als Sänger und Tänzer zugleich) nicht in einem Chor seinen Platz ausfüllen kann, ist nicht wahrhaft erzogen. 9 “ Damit wird der Chor als gemeinstiftendes Element und dessen erzieherische Dimension hervorgehoben. Die musikalische Schulung hatte so eine moralische und disziplinierende Komponente, die dazu beitrugen, „die Jugendlichen zur ‚Selbstbeherrschung‘ zu erziehen, sie gesitteter zu machen, indem er [der Unterricht, A. R.] mit Eurhythmie und Harmonie ihre Seele erfüllte.“ 10 Chorgesang und Tanz gehörten auch zwingend zur Teilnahme von Schülern an Feierlichkeiten sowie Zeremonien; diese nahmen einen wichtigen Rang im Schulkalender ein, sie wurden amtlich festgelegt und ihr Besuch galt als „heilige Pflicht“. 11 Gesang, Tanz und Poesie bildeten damit die Grundpfeiler von Lehre und Unterricht. Die jungen Athener lernten zwei Instrumente: Lyra und Oboe. Oft gab es neben dem eigentlichen Schulmeister, der das Schreiben und Lesen vermittelte, einen speziell bestellten Lehrer für das Lyraspiel und Musiktheorie. Ein systematischer Fremdsprachenunterricht spielte während der Antike eine eher untergeordnete Rolle, da in vielen wohlhabenden Familien die Erziehung ihrer Kinder durch Ammen und Sklavinnen erfolgte. Es handelt sich hierbei um einen Erstspracherwerb und einen begleitenden Muttersprachunterricht in der griechischen Sprache. Marrou verweist auf die sorgfältige Auswahl der Kinderfrauen, „die Reinheit ihres sprachlichen Ausdrucks und ihrer Aussprache sollten dem Kind das Annehmen fehlerhafter Gewohnheiten ersparen, die man ihm später austreiben müßte.“ 12 Der (Erst-)Spracherwerb wurde beim griechischen Kind musikalisch vor allem durch Wiegenlieder, aber auch Ammengeschichten gefördert (Äsops 7 Ebd., S. 57. 8 Ebd., S. 58. 9 Ebd., S. 97. Marrou bezieht sich hier auf Platons Nomoi , Buch 2, 654 a, b. 10 Ebd., S. 98. 11 Ebd., S. 264. 12 Vgl. Marrou (1977), S. 274. <?page no="40"?> I. 1 Musik im Unterricht der Antike 41 Tierfabeln, Geschichten von Zauberinnen und Mythen). Obwohl die Ammen eine wichtige Erziehungs- und Lehrfunktion erfüllten, finden wir jedoch „kein Bemühen, all dies in einem regelrechten Unterricht zusammenzufassen.“ 13 Auch der folgende private Unterricht ist mit der Anwendung der Muttersprache verbunden, in der Elementarschule war hierbei ein einfacher Sklave beauftragt, der das Kind bei seinen täglichen Gängen zur Schule und nach Hause begleitete. 14 Der Elementarunterricht bediente sich auch musischer Elemente. So nennt das griechische Kind zunächst die 24 Buchstaben beim Namen (Alpha, Beta, Gamma etc.), ohne die Zeichen vor Augen zu haben. Danach zeigt man den Kindern ein Alphabet aus Großbuchstaben, die in mehreren Spalten geordnet sind. Die Kinder sagen diese Liste her, nach Marrou in einem singenden Ton. 15 Hierbei wird Musik als ein mnemotechnisches Hilfsmittel angewendet. Seit dem 5. Jahrhundert hatte man zu diesem Zweck ein Alphabet in vier Trimetern komponiert. Es handelt sich um den Vorläufer der Alphabetlieder bzw. der heute gebräuchlichen grammar songs / chansons grammaticales. Außerdem wurden aus den Buchstaben des Alphabets Entsprechungen mit „kosmischen Elementen“ erstellt: Die sieben Vokale ordnete man den sieben Noten der Tonleiter und den sieben Engeln zu, die den sieben Planeten vorstehen. 16 Mit der Lektüre eng verbunden war die Rezitation. Die Stücke wurden nicht nur gelesen, sondern auswendig gelernt. 17 Marrou berichtet darüber, dass „wenigstens die Anfänger die Gewohnheit gehabt haben zu psalmodieren, indem sie Silbe für Silbe vor sich hersangen.“ 18 Die römische Erziehung steht nicht nur in der Tradition der hellenistischen Erziehung, sie ist deren Fortsetzung, da Rom und Italien im Bereich der griechischen Kultur aufgingen. „Es gibt nicht hier eine hellenistische, dort eine lateinische Kultur, sondern […] nur eine ‚hellenistisch-römische‘ Kultur.“ 19 Der römische Adel ermöglichte seinen Söhnen eine allumfassende Bildung und das war für die Römer die griechische Ausbildung und Erziehung, die durch griechische Sklaven als Hauslehrer erfolgte. Es handelt sich hierbei um eine Art kommunikativen Unterricht mit dem griechischen Hauslehrer, um nicht 13 Ebd., S. 274. 14 Die Etymologie von Pädagoge verweist auf den griechischen Begriff paidagogos , was wörtlich „Kinderbzw. Knabenführer“ bedeutet. Das griechische Wort wurde dann im Sinne von „Aufseher, Betreuer der Knaben“ und später im Sinne von „Lehrer, Erzieher“ verwendet. Vgl. Matthias w ermke (Hrsg.), Duden - Das Herkunftswörterbuch . Mannheim: Bibliographisches Institut 2004, S. 579. 15 Vgl. Marrou (1977), S. 289. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 194. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 445. <?page no="41"?> 42 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht nur die Aussprache, sondern die Kultur zu vertiefen. In den ersten Jahren lernte das römische Kind vom griechischen Hauslehrer oder der griechischen Amme griechisch zu sprechen, es handelt sich um eine Art direkte Methode. Latein wurde als weitere Erstsprache oder bisweilen auch erst als Zweitsprache vermittelt. Im Schulalter herrschte dann eine Diglossie-Situation. Das spiegelt sich in den zweisprachigen Schulbüchern zu Beginn des 3. Jahrhunderts, den Hermeneumata Pseudositheana 20 wider. Hierbei handelt es sich um ein praktisches Handbuch zum Erlernen von Vokabeln mit einer Art Interlinearversion, die sowohl von Griechen als auch von Lateinern benutzt werden konnte. Die Texte in Dialogform sind in zwei Spalten aufgeteilt, wobei der griechische (Original-) Text links stand und die lateinische Übersetzung auf der gegenüber liegenden Seite. Die Anwendung von Musik im Unterricht wurde zurückgedrängt. Scipio Aemilianus spricht von Musik- und Tanzschulen nur in einer Kritik der Jugend für die „unanständige und schamlose Kunst,[…], die sich höchstens für Komödianten, aber nicht für Kinder von freier Geburt und erst recht nicht von senatorischem Rang schicke.“ 21 Somit kam es zu einer Abwertung des Einsatzes von Musik im Unterricht an römischen Schulen, das Studium von Musik wurde nur noch bei den jungen Mädchen als unterhaltende Kunst akzeptiert. 22 Die musikalischen Künste gehörten zwar als notwendiger Bestandteil des Luxus und des eleganten Lebens zur Bildung, Musik und Tanz wurden jedoch reduziert oder zumindest vernachlässigt. In der Antike und im Mittelalter war der Musikunterricht noch in den Schulfächer-Kanon der sieben freien Künste ( septem artes liberales ) eingebettet. Hierbei bedeutet der Begriff „ars“ nicht „Kunst“ im heutigen Sinne, sondern „Technik, Fähigkeit, Wissenschaft“. Diese Bezeichnung „freie Künste“ geht vermutlich auf Seneca zurück, der diese gegenüber den „praktischen Künsten“ ( artes mechanicae ) in seinem 88. Brief aufwertet: „Quare liberalia studia dicta sunt vides: quia homine libero digna sunt . “ („Du siehst, warum die freien Künste 23 so genannt werden: weil sie eines freien Menschen würdig sind“). 24 20 Ebd., S. 485. 21 Ebd., S. 455. 22 Ebd. 23 Als Begründer des Systems der freien Künste gilt der römische Gelehrte Varro (116-27 v. Chr.) mit seinen in der Spätantike belegten Disciplinae . Das verloren gegangene Werk Disciplinarum libri IX um 35 v. Chr. gibt aber die Zahl sieben noch nicht an. Neben den Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie wurden noch Medizin und Baukunst ergänzt. Vgl. dazu Gerhard k rause , Bd. 9: Dionysius Exiguus-Episkopalismus. In: Gerhard k rause / Gerhard m üller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9. Berlin / New York: de Gruyter 1982, S. 717 f. 24 Lucius Annaeus s eneca , Epistulae morales ad Lucilium: lateinisch-deutsch ( Briefe an Lucilius. Bd. 2). In: Reiner n ickel (Hrsg.), Epistulae morales ad Lucilium 2, Düsseldorf: <?page no="42"?> I. 1 Musik im Unterricht der Antike 43 Martianus Capella bildet eine Brücke zum Mittelalter 25 mit seinem um 400 erschienenen Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii („Die Hochzeit der Philologie mit Merkur“). Die als Lehrbuch konzipierte Enzyklopädie hatte einen entscheidenden Einfluss auf das abendländische Bildungswesen. Die siebenbändige Enzyklopädie stellte den Kanon der sieben freien Künste dar. 26 In der Tradition von Capella wurden die freien Künste oft als weibliche Allegorien mit spezifischen Attributen präsentiert. Die Abbildung Sieben freie Künste 27 zeigt einen Auszug aus der Handschrift Tübinger Hausbuch (um 1450). Von links nach rechts erkennt man Geometrie, Logik, Arithmetik, Grammatik (in der Mitte), Musik, Physik (anstatt der Astronomie), Rhetorik (Abb. 1). Die den Allegorien zugeschriebenen Attribute und deren Positionierung sagen etwas über die Wertigkeit und Bedeutung der Künste aus. An der Spitze steht die Gramatica, die als Majestät mit Krone, gewissermaßen als Krönung der scholastischen Künste, dargestellt wird. Anstelle des majestätischen Königsinsigniums Zepter hält sie eine Art Peitsche in der rechten und einen Reichsapfel in der linken Hand. Auf den spätantiken römischen Schriftsteller, Gelehrten und Staatsmann Cassiodor geht nicht nur der erste christliche mittelalterliche Lehrplan und die administrative Studienordnung ( Institutiones 28 ) zurück. 29 Er gilt als Schöpfer der Einteilung der septem artes in ein Trivium und Quadrivium. Das Trivium („dreifacher Weg“) umfasste die drei Fächer, die sich auf Sprache und Logik Artemis & Winkler 2009, S. 162. - Das Adjektiv „frei“ verweist darauf, dass die Beschäftigung mit diesen „artes“ eines freien Mannes ( homo liber ) würdig sein sollte. Ein freier Mensch war einer, der nicht arbeiten musste, um zu (über-)leben. Im Mittelalter gab es die Ableitung LIBER > Buch, die auf die später entstehenden Buchwissenschaften verweist. 25 Capella steht in der Tradition des griechischen Autors Aristeides Quintilianus, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. eine ausführliche, enzyklopädiehafte Trilogie Περι μουσικῆξ ( Über die Musik ) verfasst hat. Im zweiten Buch beschreibt er den heilenden Einfluss von Musik auf die Seele und stellt detailliert die pädagogische Wirkung der Musik zur Erziehung junger Menschen dar. Interessanterweise orientiert sich die Musiklehre des Quintilianus an Pythagoras und der Mathematik. Hiermit erklärt sich bereits auch die spätere Einteilung der Musik in das Quadrivium bei Boethius. Vgl. Rudolf s chäFke , Aristeides Quintilianus: Von der Musik. Berlin-Schöneberg: Max Hesses 1937, und Max h aas , Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung . Bern: Lang, 2. Aufl. 2009. 26 Vgl. dazu die Habilitationsschrift von Sabine g reBe : Martianus Capella: ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’. Darstellung der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander. Stuttgart und Leipzig: Teubner 1999. 27 Vgl. S. 45 in der vorliegenden Arbeit. 28 Vgl. Günter l udwig , Cassiodor. Über den Ursprung der abendländischen Schule. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft 1967, S. VII, 1, 4 und S. 161-166. 29 Vgl. Josef d olch , Lehrplan des Abendlandes . Ratingen: Aloys Henn Verlag 1959, S. 78. <?page no="43"?> 44 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht beziehen. Diese bildeten die Grundlage für die lateinische Wissenschaftssprache und wurden selbst auch in der lateinischen Unterrichtssprache vermittelt. Das Trivium umfasste 1. Grammatik, vor allem die lateinische Sprachlehre und Beispiele lateinischer Autoren und die Analyse bedeutender literarischer Werke; 2. Rhetorik als Redekunst, die Stillehre und Sprachunterricht beinhaltete, ebenfalls mit Beispielen bekannter antiker Autoren; 3. Dialektik als Lehre vom logischen Denken. Zum Quadrivium („vierfacher Weg“) gehörten als Fortsetzung der sprachlichen Fächer des Triviums folgende Bereiche, die Teile der Mathematik umfassten und die harmonische Ordnung der göttlichen Schöpfung repräsentierten: 1. Arithmetik als Zahlentheorie und praktisches Rechnen; 2. Geometrie, die auch Geographie und Naturgeschichte umfasste; 3. Musik, vor allem Musiktheorie als mathematisches Phänomen und Studium der Kirchentonarten; 4. Astronomie als Lehre der Himmelssphären und ihre Auswirkungen auf den Menschen (Astrologie). 30 Cassiodor steht hier in der Tradition von Anicius Manlius Severinus Boethius, einem der ersten Scholastiker. Boethius verfasste mehrere Traktate, Lehrschriften, Übersetzungen und Lehrbücher aller vier Fächer des Quadriviums. In seinem Werk De institutione arithmetica (um 507) findet man erstmals den Begriff des Quadriviums zur Bezeichnung der oben genannten vier mathematischen Fächer. 31 Diese Einteilung wurde für die mittelalterliche Schul- und Universitätsausbildung maßgebend. Hauptgewicht lag in der Schulbildung auf dem Trivium, oft blieb es beim Studium der Gramatica. 32 Eine stärkere Einbeziehung der Rhetorik und Dialektik erfolgte dann erst in den Universitäten. 33 30 Astronomie und Astrologie bildeten bis ins 18. Jahrhundert ein einheitliches Forschungsgebiet. 31 Vgl. Wolfgang B ernhard , Zur Begründung der mathematischen Wissenschaften bei Boethius. In: Antike und Abendland 43, 1997, S. 130-151. 32 Die herausragende Bedeutung der Grammatik an den mittelalterlichen Schulen zeigt sich auch in der Bilddarstellung des Tübinger Hausbuchs (Abb. 1, S. 45 in der vorliegenden Arbeit). 33 Vgl. Uta l indgren , Die artes liberales in Antike und Mittelalter. Bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinien. (Algorithmus, 8.) München: Institut für Geschichte der Naturwissenschaften 1992. <?page no="44"?> I. 1 Musik im Unterricht der Antike 45 Abb. 1: Sieben freie Künste. In: Tübinger Hausbuch (um 1450). Bildnachweis: Tübinger Hausbuch. Handschrift. Universitätsbibliothek Tübingen, Md 2, fol. 320v. www.uni-tuebingen.de/ uni/ ndm/ materialien/ index.htmhttp: / / www.uni-tuebingen.de/ uni/ ndm/ materialien/ 320v_Freie_Kunste.JPG <?page no="45"?> 46 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters Der berühmte praxisorientierte Musikpädagoge Guido von Arezzo (um 992- 1050) weist darauf hin, dass Boethius’ Werk „nicht für Sänger, sondern allein für Philosophen nützlich ist“ . 34 Guido von Arezzo war Benediktinermönch im Kloster Pomposa bei Ravenna und prägte als musikpädagogische Autorität, als Lehrer und Praktiker wie kaum ein anderer den zeitgenössischen Unterricht. Er schuf die Grundlagen für den heutigen Umgang mit musischen Elementen im Unterricht: Die Einheit von Schule und Kirche war zentral für das mittelalterliche Schulleben. Als Mönch entwickelte Guido von Arezzo mehrere unterrichtsmethodische und musikpädagogische Prinzipien. Dabei folgte er dem Bildungsideal des Mittelalters, Gott singend zu loben. Auch der sprachliche Lehrstoff wurde in Versen dargeboten, danach von den Schülern singend vorgetragen und eingeprägt. 35 Die feststehende Gottesdiensttradition folgte dem Gesangsrepertoire der Gregorianik und des Gregorianischen Chorals. 36 Die Aufzeichnung von „Musik“ erfolgte durch Neumen, die aus waagerechten Strichen, Häkchen und Punkten bestehenden frühmittelalterlichen Notenzeichen. Dabei wurden die Handbewegungen des dirigierenden Chorleiters nachempfunden, mit denen man die einstimmigen Gesänge aufzeichnete. Hierbei wird der Melodieverlauf, also das Steigen oder Fallen, angezeigt, ohne jedoch die exakte Tonhöhe und Zeitdauer anzugeben. 37 Die Neumen könnten somit auch als ein mnemotechnisches Hilfsmittel für den Kantor bei seinem Sprechgesang im Gottes- 34 „Boetium […] cuius liber non cantoribus, sed solis philosophis utilis est . “ - Guido, epist. de ign. Cant. II, 50b. Vgl. dazu Anja h eilmann , Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium. Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von „De institutione musica“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 53, und Michael B ernhard , Überlieferung und Fortleben der antiken lateinischen Musiktheorie im Mittelalter. In: Theodor g öllner / Klaus Wolfgang n iemöller / Heinz von l oesch (Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie . Bd. 3: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter . Darmstadt: WBG 1990, S. 7-36. 35 Guido von a rezzo , Musicae regulae rhythmicae. Zitiert in: Jost s mits v an w aesBerghe , Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/ 3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, S. 178. 36 Der Gregorianische Choral ist ein einstimmiger Choral. Der Begriff Gregorianik als komplexer Sammelbegriff bezieht sich auf die durch die Reformbestrebungen des Papstes Gregors I. (Gregors des Großen) um 600 initiierten kirchenpolitischen Neuordnungen der katholischen Kirche und der mittelalterlichen Gesellschaft. Es ging hierbei also nicht nur um eine Vereinheitlichung der Kirchenmusik. Vgl. Heinz Alfred B rockhaus , Europäische Musikgeschichte , Bd. 1: Europäische Musikkulturen von den Anfängen bis zur Spätrenaissance. Berlin: Verlag Neue Musik 1983, S. 219-229. 37 Der polyseme Begriff geht zurück auf griechisch νεύμα : Wink, Zeichen. Vgl. zur etymologischen und musikwissenschaftlichen Diskussion Haas (2009), S. 348-488. <?page no="46"?> I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters 47 dienst betrachtet werden. 38 Als Teil der mündlichen Überlieferung stellten die Neumen kein eigenständiges Notensystem dar. Guido von Arezzo legte hiermit den Grundstein für die heutigen Notenlinien, bei denen die Tonhöhe angezeigt wird. Er schafft damit die Grundlage für die europäische Tonbenennung mit dem Verfahren der Solmisation, ein auf die Tonsilben des Hexachords (Ut, re, mi, fa, sol) aufbauendes System relativer Tonverhältnisse. Guido von Arezzo schlägt vor, für jeden Ton einen bekannten Gesang auszuwählen, der mit diesem Ton beginnt und dies als musikalische Gedächtnisstütze zu nutzen. Dabei verwendet er die bekannte und erfolgreiche Melodie des Johanneshymnus. 39 Das Erlernen der Tonsilben, die den Anfang des Hymnus bilden, diente als Übung für das Singen vom Blatt: Ut 40 queant laxis Auf dass mit lockeren Stimmbändern Resonare fibris singen (zum Klingen bringen) mögen Mira gestorum von den Wundern Deines Tuns Famuli tuorum Deine Schüler Solve polluti löse der sündhaften Labii reatum Lippe Schuld Sancte Iohannes. Heiliger Johannes. Georg Lange behandelt das Thema in seiner Dissertation Zur Geschichte der Solmisation und schlägt folgende Übersetzung vor: „Damit die Diener die Wunder Deiner Thaten mit beruhigtem Herzen singen können, so löse die Schuld des sündigen Mundes, heiliger Johannes.“ 41 38 Vgl. Andreas r auch , La musique dans l’espace germanophone. Analyse de documents. Nanterre: COMÈTE 2008, S. 25 f . 39 Eckhart Nolte hat nachgewiesen, dass Guido von Arezzo die Melodie in didaktischer Absicht vermutlich selbst komponiert hat und nicht Paulus Diaconus (ca. 720-799). Es handelt sich also bereits um das Konzept einer chanson didactique avant la lettre, also ein Lied, das speziell für den Unterricht entwickelt wurde, um bestimmte grammatische, idiomatische Elemente zu schulen bzw. einzuprägen und gleichzeitig eine Auflockerung des Unterrichts und Motivation zu ermöglichen. Siehe auch Eckhart n olte , Zur Bedeutung Guidos von Arezzo als Musikpädagoge. In: Rudolf-Dieter k raemer (Hrsg.), Musikpädagogische Biographieforschung: Fachgeschichte - Zeitgeschichte - Lebensgeschichte. Essen: Blaue Eule 1997 (Musikpädagogische Forschung. Bd. 18), S. 39. - Vgl. auch zur Einteilung und Klassifikation der didaktischen Lieder Andreas r auch , Zum Einsatz von Liedern im Englischunterricht unter Beachtung motivationaler und didaktischer Komponenten. Erste Staatsexamensarbeit (unveröffentlicht). Chemnitz 2001 (Rauch 2001b), 217 S., S. 99-108. 40 Im 16. Jahrhundert wurde das ut wegen der Euphonie durch das do ersetzt. 41 Georg l ange , Zur Geschichte der Solmisation . Berlin: Schulze 1899, S. 9. <?page no="47"?> 48 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Die romanischen Sprachen haben bis heute das Guidonische System beibehalten. 42 Das deutsche Notensystem orientiert sich an der mittelalterlichen, alphabetischen Tradition. Durch seine praktischen Erfahrungen als Chorleiter kreierte Guido von Arezzo ein mnemotechnisches System mit dem erkennenden Auge als visuellem Mittel, der bezeichnenden Sprache als Merkvers bzw. -melodie, begleitet von der zeigenden Hand. 43 Das Zeichensystem der Guidonischen Hand 44 zur Unterstützung des Gedächtnisses folgte der Idee, dass jeder spezifische Teil der Hand, also Fingerspitzen und -gelenke, den sechs Stufen der Tonleiter ut-re-mi entspricht. In der folgenden Abbildung 45 ist nicht nur die Guidonische Hand aus dem 13. Jahrhundert abgebildet, sondern auch die Lehrperson, die eines Klerikers, vermutlich Guido von Arezzo (Abb. 2). 46 Seine linke Hand ist überdimensional vergrößert und die rechte Hand zeigt darauf. So konnte im zeitgenössischen Unterricht der Lehrer mit dem Zeigefinger 47 der rechten Hand exakt die Position der Tonfolge auf der linken Handfläche angeben. Im Außenkreis sind im Uhrzeigersinn die Solmisationssilben in Leserichtung von unten nach oben erkennbar. Im über der Hand stehenden Text des Caput VI seines Musiktraktats beschreibt der Autor die Überlegenheit der guidonischen Musiklehre 48 und verkörpert somit einen Metatext, da die Figur nicht nur theoretische musica vermittelt, sondern auch aktiv zum richtigen Singen anleitet. Die Guidonische Hand verbindet akustisch-artikulatorische Komponenten (das Singen), visuelle Komponenten (das Sehen) und haptische Komponenten (das Greifen und Zeigen der Hand) zu einem multisensoriellen Akt. Das Grei- 42 Richard Münnich folgt Guido von Arrezos Tradition und entwickelt 1930 ein äquivalentes Tonsilbensystem mit den Silben JA LE MI NI RO SU WA JA und deren Veranschaulichung durch Handzeichen im Musikunterricht. (Vgl. Richard m ünnich : JALE. Ein Beitrag zur Tonsilbenfrage und zur Schulmusikpropädeutik , Lahr: Schauenburg 1930.). Das System wurde in der DDR im Fach Musik bis in die 1980er Jahre in den Lehrplänen gefordert und angewendet. 43 Vgl. dazu Sybille k rämer / Horst B redekamP , Bild-Schrift-Zahl. München: Fink 2003. Der Gebrauch der Finger bzw. der Fingerglieder der linken Hand als mnemotechnisches Unterrichts- und Lehrmittel war im Mittelalter sehr verbreitet. 44 Der Historiker Sigebert von Gembloux ist der erste, der in seinem Werk De viribus illustribus (1105-1110) über die Guidonische Hand berichtet. Vgl. Smits van Waesberghe (1969), S. 120. Nach neueren Forschungen geht sie jedoch nicht auf Guido von Arezzo zurück, sondern wurde später eingeführt. Vgl. Karl H. w örner , Geschichte der Musik. Ein Studien- und Nachschlagebuch. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 8. Aufl. 1993, S. 50. 45 Vgl. S. 50 in der vorliegenden Arbeit. 46 Vgl. Smits van Waesberghe (1969), S. 136. 47 Der Zeigefinger bzw. die zeigende Geste gehört zu den Gebärden-Chiffren der Bilddarstellung des Mittelalters. Hierbei wird der Rezipient, also der Betrachter, direkt angesprochen. 48 Vgl. Krämer / Bredekamp (2009), S. 39; Wenzel (1995), S. 78 f.; Smits van Waesberghe (1969), S. 136. <?page no="48"?> I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters 49 fen der Töne ermöglicht das Begreifen der Musik. Diese Verknüpfung der Reize kann lernpsychologisch als Hauptelement des unbewussten Lernens durch Konditionierung betrachtet werden. Rhythmus und musische Elemente waren im Mittelalter damit integraler Bestandteil des Sprachunterrichts. Den meisten Schülern wurde die lateinische Sprache im Mittelalter in „Singschulen“ vermittelt. 49 Durch einfaches Singen wurde zunächst der Rhythmus und Sprachfluss eingeübt. „After the rhythm and flow of the language had been drilled by plain chant, which was based solidly on speech rhythms, the pupil began the formal study of Latin.” 50 Der Lateinunterricht folgt hier also primär der mündlichen Tradition des Fremdsprachenunterrichts. Der Chorgesang ( plain chant ) knüpft an die antike Tradition der rhetorischen Memoria -Lehre an und ermöglicht das natürliche Lernen. 51 Die Funktion des Lernens im Chor, das bis heute als gemeinsames Singen praktiziert wird, übernahm seit der Antike ein Sprechchor. Müller beschreibt die Entwicklung des Per-chorum- Lernens. 52 Es handelt sich um gleichzeitiges, rhythmisch gegliedertes ‚Aufsagen‘ von Sätzen und Texten […]. Der Chor der Antike war ein Sprechchor, der wohl auch durch Rhythmen einfacher Instrumente gegliedert und synchronisiert werden sowie in regelrechten Chorgesang übergehen konnte. 53 Dieses rhythmische Lernen wurde dann auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen, als die Römer begannen, Griechisch zu lernen. Dabei wurden Ausspracheweise und Intonation im Unterricht metrisch vermit- 49 Es handelt sich hierbei um die Tradition der Schola cantorum , eines berufsmäßigen Sängerchors der päpstlichen Kapelle in Rom, der während der Amtszeit Gregor des Großen gegründet wurde. Nach diesem Beispiel bildeten sich Chöre von Geistlichen, die wegen besonderer stimmlicher Fähigkeiten ausgewählt, ausgebildet und damit vor anderen ausgezeichnet wurden. Aus der Schola cantorum gingen mehrere Päpste hervor. In vielen katholischen Gemeinden gibt es bis heute eine Schola cantorum für den Gregorianischen Gesang in der Liturgie. Bekannte Beispiele sind die Schola cantorum in Paris und die Schola Cantorum Basiliensis in Basel. Vgl. Eberhard t hiel , Sachwörterbuch der Musik . Stuttgart: Kröner 1963, S. 587. 50 Vgl. Kelly (1969), S. 99. 51 Vgl. Klaus m üller , Lernen im Dialog. Gestaltlinguistische Aspekte des Zweitspracherwerbs. Tübingen: Narr 2000, S. 160-162. 52 Bei folgender etymologischer Analyse wird deutlich, dass das Chorsprechen eine Sprachlehrmethode darstellt: Das lateinische per chorum wird volksetymologisch umgedeutet zu französisch par cœur und dann als Lehnübersetzung im englischen Idiom to learn by heart , also „ auswendig lernen“. Die deutsche Entsprechung verweist auf das „nach außen gewendete Buch“, also das zugeklappte Buch, aus dem der Schüler nicht ablesen kann, wenn er vorträgt. 53 Müller (2000), S. 161. <?page no="49"?> 50 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Abb. 2: Kleriker mit Guidonischer Hand. Elias Salomo: Scienta artis musicae (1274) Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D75 inf., fol. 6 r. Nach J. s mits v an w aesBerghe , Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/ 3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, Abb. 72, S. 137. <?page no="50"?> I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters 51 telt 54 sowie der auswendig gelernte Stoff dann mündlich geprüft. Kelly beschreibt, dass Vergil-Rezitationen mit dieser Methode zum bevorzugten Unterrichtsstoff wurden. 55 Abb. 3: Auszug aus Walter r iPman , A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930, S. 800. Diese Memorisierungs- und Rezitationsfunktion wird von Walter Ripman 56 wieder aufgenommen und im Rahmen der direkten Methode 57 angewendet (Abb. 3). Man erkennt eine an die mündliche Aussprache angepasste phonetische Transkription mit diakritischen Zeichen und suprasegmentalen Elementen wie der Tilde für Nasalierung, Liaison und Assimilierung (im Sinne der narrow vs. broad transcription ). 58 54 Vgl. Kelly (1969), S. 99. 55 Dieses mnemotechnische Verfahren wird dann in den 1990er Jahren in den chansons grammaticales und der Sing Grammar angewendet. Vgl. zum Total physical response S. 335 f., Fußnote 632 in der vorliegenden Arbeit. 56 Walter r iPman , A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930. 57 Vgl zur direkten Methode Kapitel II. 2 und II. 3 in der vorliegenden Arbeit. 58 Vgl. dazu Duane R. k arna , The use of the international phonetic alphabet in the choral rehearsal. Plymouth: Rowman 2012. Es handelt sich hierbei um eine innovative Darstellung der Aussprache von Liedern aus 37 Sprachen, darunter Latein. Als Prototyp gilt die Vertonung von Schillers Nänie durch Brahms. Karna stellt zuerst den deutschen Urtext dar, darunter in eckigen Klammern die narrow IPA transcription und danach als Interlinear- <?page no="51"?> 52 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Die bis hierher dargestellte Entwicklung bezog sich mit den kirchlichliturgischen Lateinlehranstalten vor allem auf den klerikalen Bereich. Vereinzelt gab es aber auch weltliche Unterrichtsformen. Ein Beispiel dafür ist Egbert von Lüttichs Fecunda ratis 59 („Das vollbeladene Schiff“). Das in Hexametern geschriebene Buch präsentiert sich als Schiff, eine Parabel auf eine Fahrt durchs Leben. So ist das Buch gegliedert in ein prora (Vorderdeck) mit 1768 hexametrischen Versen und ein puppis (Heck). 60 Egbert war Lehrer an der Domschule zu Lüttich 61 und sein Lehrbuch sollte den Schülern die lateinische Sprache freudvoll näherbringen. Wieder steht die intrinsische Lernermotivierung mit Lernen durch Spaß und Freude im Mittelpunkt. Dieses Florilegium für jüngere Schüler enthält Auszüge antiker Autoren (wie Vergil, Ovid, Horaz und Seneca) sowie aus der Bibel und christlicher Literatur (Augustinus, Gregor der Große). Interessanterweise finden sich in der Sammlung volkssprachliche narrative Elemente wie auch mittelalterliche Fabeln (beispielsweise Reynard = Reineke Fuchs), Sprichwörter und Volksweisheiten („Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“), Volksmärchen ( De puella a lupellis servata / „Das vor den Wölfen gerettete Mädchen“, also ein Vorläufer von Rotkäppchen), Reime, Klagelieder 62 und Zitate aus dem 11. Jahrhundert, die explizit für den (säkularen) Unterricht des Triviums von Egbert selbst ins Lateinische übersetzt und in dieses pädagogische Konzept integriert wurden. 63 Einige dieser volkssprachlichen Elemente nahm Egbert version die englische Übersetzung. Durch die universelle Anwendung der IPA-Transkription kann der Text ad hoc abgesungen werden. Vgl. Karna (2012), S. 2-4. 59 Vgl. Ernst v oigt (Hrsg.), Egbert von Lüttich, Fecunda ratis. Halle: Niemeyer 1889. Der deutsche Herausgeber Ernst Voigt stellt dem lateinischen Werk eine Widmung an den Historiker Ernst Dümmler und den Mediävisten Gaston Paris voran: „Ernst Dümmler und Gaston Paris in herzlicher Verehrung zugeeignet“. Vgl. Voigt (1891), S. I. 60 Vgl. Wolfgang m aaz , Egbert von Lüttich. In: Norbert a ngermann (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. 6. Lukasbilder bis Plantagenet. München und Zürich: Artemis 1986, Sp. 1602 f. 61 In Lüttich gab es vor 1020 bereits Pfarrschulen. Diese niederen Schulen bildeten das „erforderliche Hülfspersonal der ostarii, lectores, exorcistae, acolythi und namentlich einen leistungsfähigen Kirchenchor [aus].“ (Voigt 1889, S. XXVI.). 62 Bei Egbert bezeichnet nenia die Trauergesänge im alten Rom, ursprünglich das römische Klagelied der weiblichen Familienangehörigen eines Verstorbenen bei dessen Begräbnis. Diese Texte wurden auf der Flöte und Laute begleitet. (Vgl. Ferdinand h irsch , Wörterbuch der Musik. Berlin: Verlag Neue Musik, 1977, S. 269.). Bei Ovid und Horaz erfährt der Begriff eine semantische Erweiterung zu Kinder- oder Zauberlied. Bekannt wurde der Begriff vor allem durch Brahms’ Vertonung von Schillers Klagegesang „Nänie“ Auch das Schöne muß sterben. 63 Es liegt weltweit nur eine englische Übersetzung des lateinischen Originals von Robert Gary Babcock vor: Egbert of l iège , The Well-Laden Ship ( Mediaeval Library 25 ) . London: Dumbarton Oaks 2013. <?page no="52"?> I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters 53 zuerst direkt nach seinem Widmungsbrief auf. Der Geleitbrief richtet sich ad Alboldum episcopum und meint damit den Bischof Adalbold (Adelbold, Albold) von Utrecht. 64 Bereits in der Widmung ( dedicatio ) werden pädagogische Prinzipien erläutert und explizit auf die neniae (hier: Kinderlieder), das rhythmisierte Vorlesen und den Gesang von Versen eingegangen, der durch häufige Satzwiederholungen eine mnemotechnische Funktion erfüllte. Nam non his, qui sunt assidua lectione ad uirile exculti, sed formidolosis adhuc sub disciplina pueris operam dedi, ut, dum absentibus interdum preceptoribus illa manus inpuberum quasdam inter se (nullas tamen in re) nenias aggarriret uti in his exercendis et crebro cantandis uersiculis ingeniolum quodammodo acueret, tum istis potius uteretur. 65 Ähnliche Lernformen lassen sich heute noch in Koranschulen und auch beim Einprägen von Tonsprachen, wie dem Chinesischen, beobachten. Auch hier spielt rhythmisiertes Nachsprechen, das gelegentlich auch in einen Sprechgesang einmünden kann, eine wichtige Rolle. Das Werk spiegelte die Erkenntnis- und Lebenswelt der Jugendlichen in der Knabenschule wider, indem es die Alltagserfahrung des zeitgenössischen Lebensumfeldes einbezog, die Region um Lüttich mit ihren Bauernhöfen und Dörfern, die den Schülern aus ihrem Alltag bekannt waren. So baut Egbert auf ein vertrautes inhaltliches Vorwissen auf und vermittelt damit Neues, das 64 Voigt (1889), IX. Gemeint ist Papst Adalbold II von Utrecht (um 970-1026), der Verfasser eines musikalisch-philosophischen Traktats war. Vgl. Jost s mits v an w aesBerghe (Hrsg.), Adalboldi episcopi ultraiectensis epistola cum tractatu de musica instrumentali humanaque ac mundana . Buren: Divitiae musicae artis 1981, S. 31-70. 65 Voigt (1889), S. 1 f. - Eine etwas freiere Übersetzung dieses schwer verständlichen lateinischen Texts ins Deutsche lautet: „Nicht für diejenigen habe ich mir Mühe gegeben, die durch ständiges Vorlesen im Unterricht zu einem reifen Verständnis hin gebildet worden sind, sondern für kleine Knaben, die unter der Lernzucht noch furchtsam sind. Denn diese Schar der Unmündigen murmelt gewisse liedähnliche Texte, bei denen es sich eher um Kinderlieder handelt, vor sich hin, vor allem bei Abwesenheit der Lehrer. Das geschieht wie bei gewissen Verslein, die die Knaben oft üben und singen müssen, um ihr noch geringes Talent zu entwickeln - eine Unterrichtsform, die von ihnen gern angewendet wird.“ - Egbert bedient sich eines verschachtelten, schwülstigen Stils, nicht ohne Selbsthuldigung, um zu zeigen, dass er ein exzellentes Latein beherrscht. Die Quelle ist insofern exemplarisch für den Unterricht und die musikalische Ausbildung, als dass es sich um jüngere Knaben vor dem Stimmbruch handelt. Sie sollen in einer Art Singsang Verse oft wiederholen und dadurch automatisch „einschleifen“. (Vgl. dazu auch S. 51 in der vorliegenden Arbeit.). Der polyseme Begriff disciplina (Zucht / Ausbildung) spiegelt das strenge scholastische Lehrerbild wider, bei dem der Einsatz der Nenien eine gewisse Abwechslung und motivierende Entspannung bildete. <?page no="53"?> 54 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht heißt die lateinische Sprache und Kultur. 66 Vor allem die mündliche Tradition der Volksmärchen war den Schülern vertraut und für das Verstehen der lateinischen Übersetzung hilfreich. Parallel dazu war der Unterrichtsgegenstand motivierend. Die Moral der Fabeln fungiert hier als Lehrstück für die Schüler. Das Werk ist damit ein interessanter Beleg für die mittelalterliche Unterrichtspraxis. Die sakrale Musik spielte eine bedeutende Rolle im mittelalterlichen Lateinunterricht und wird von Petrus Abaelardus (1079-1142) erwähnt. 67 Viele zeitgenössische Traktate enthielten breite Darstellungen über Aussprachephänomene wie Vokalqualität, Silbenlänge und Intonationsmuster. Louis G. Kelly verweist auf spezifische phonetische Probleme: As it was taken for granted that spelling governed pronunciation, medieval scholars were faced with the problem of „silent letters“. Music, it seems, was pressed into service to ensure that these letters were taken care of. Letters whose phonetic existence was threatened by the pronunciation habits of the new Romance languages were strengthened by being sung on a „liquiscient“ note, i. e, separatedly from the vowel preceding them in a syllable, and in later centuries, this spread to all threatened consonants. 68 Bereits im Mittelalter gab es also im Unterricht das Phänomen der Hyperkorrektheit als Form eines spezifischen Sprachlernbewusstseins. Darauf hat Kelly am Beispiel der note liquiscente im Gregorianischen Choral hingewiesen. 69 Besonders erfolgreich hat der belgische Theologe und Humanist Nicolaus Clenardus (1493-1542) Sprachlehrlieder ( language teaching songs ) 70 aus Braga angewendet. Clenardus entwickelte eine Lehrmethode für den Spracherwerb des Lateinischen. Diese hatte eine Art Konversationsmethode als Grundlage und kann als Vorstufe zur Assimil-Methode 71 betrachtet werden. Clenardus berichtet von einem Dialog, der mit den Worten Heus puer („Na, 66 Das didaktische Konzept Vom Eigenen zum Fremden ist 1999 von Marcus Reinfried detailliert dargestellt worden. Vgl. Marcus r einFried , Von der Realienzur Kulturkunde. Frankreichkundliche Paradigmen als dialogische Konstrukte im deutschen Französischunterricht” (Reinfried 1999a). In: Herwart k emPer / Siegfried P rotz / Detlef z öllner (Hrsg.), Schule - Bildung - Wissenschaft: Dia-Logik in der Vielfalt . Rudolstadt: Hain 1999, S. 199- 234. 67 Petrus a Baelardus , Epistula Nona CLXXVIII. Vgl. Kelly (1969), S. 99. 68 Vgl. Kelly (1969), S. 99 f. 69 Louis G. k elly , Un problème linguistique à propos du Chant Grégorien. In: Bulletin des jeunes romanistes, X, 1964, S. 9-13. 70 Die Bezeichnung stammt von Kelly (1969), S. 100. 71 Vgl. zur Assimil-Methode S. 217, Fußnote 253 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="54"?> I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters 55 Junge“) beginnt. 72 Aus dem ständigen Wiederholen dieser typischen Anredeformel im Dialogrhythmus auf singende Weise („in singsong fashion“ 73 ) entstand spontan ein Singsang, eine Melodie. Darüber hinaus berichtet Clenardus mit gewissem Humor, dass sogar die Maultiertreiber dieses Lied gesungen haben sollen. 74 Das Lied wird schließlich zur idiomatisierten expression courante als Begrüßungsformel aller sozialer Schichten. Müller stellt fest, dass die Lateinschule des Mittelalters dem natürlichen Zweitspracherwerb entspricht: Die erfolgreiche Lateinschule des Mittelalters verfuhr also im Grunde genommen genauso, wie sich […] das erfolgreiche, ‚natürliche‘ Erlernen einer zweiten Sprache vollzieht: Nicht von kleinen Einheiten, die aszendent zu immer größeren aufgebaut werden, sondern eher deszendent über den Rhythmus größerer und in sich abgeschlossenerer Sinneinheiten, die nach ihrer Haftung im Gedächtnis in weiteren Übungen ‚aufgebrochen‘ und analysiert werden. 75 72 Genthe gibt zahlreiche Beispiele in seiner Geschichte der Macaronischen Poesie mit Onomatopöien: „Heus Puer? hem kliskklask caois hoc, viden’ improbe multa Orba super mensam pocula stare mero? “ In deutscher Sprache lautet der Text: „Na, Junge? […]. Siehst Du denn nicht, dass viele Becher schändlicherweise keinen unverdünnten Wein (mehr) enthalten? “ Bei dem vorliegenden Zitat sind zwei Interpretationen möglich: einerseits enthält es den Hinweis, dass die Gläser unverdünnten Wein enthalten, andererseits aber auch den Vorwurf, dass der Junge sie ausgetrunken bzw. nicht gefüllt hat. Es ist hier also eher im Sinne eines animierenden Trinkliedes zu verstehen, wie bei Chevaliers de la Table ronde . In der Antike pflegte man nämlich zu den Mahlzeiten maßvollerweise nur „gemischten“, d. h. mit Wasser verdünnten Wein zu trinken; das Beharren auf ungemischtem Wein deutet hier also den Vorsatz an, sich zu betrinken. Bei diesem Trinklied, das auffordert, die leeren Gläser wieder zu füllen, wurde die Formel Heus Puer? vermutlich ständig als Aufruf zum Nachschenken in einem Singsang wiederholt. (Vgl. F. W. g enthe , Geschichte der Macaronischen Poesie und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale. Leipzig: Meissner 1836, S. 324.). - Als Macaronische Poesie bezeichnet man eine willkürliche Mischung lateinischer und landüblicher (italienischer, französischer, deutscher) Elemente, die den Flexionen der lateinischen Sprache unterworfen wird. Sie ist eine Erfindung der italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts, deren macaronisches Hauptwerk das Opus Macaronicorum des Merlinus Cocaius, d. i. Teofilo Folengo ist. So könnte „(kliskklask) caois“ neben dem lautmalerischen Element auch ein Wortspiel mit Cocaius enthalten. Auf deutschem Boden findet man einzelne macaronische Verse bei Thomas Murner und Hans Sachs. (Vgl. Genthe 1836 und Oskar s chade , Zur macaronischen Poesie . In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst, Bd. II und IV, 1856. Zitiert in: Ernst g ötzinger , Reallexicon der Deutschen Altertümer . Leipzig: Verlag von Woldemar Urban 1885, S. 594.). 73 Vgl. Kelly (1969), S. 100. 74 Ebd. 75 Vgl. Müller (2000), S. 162. <?page no="55"?> 56 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Diese Elemente des „singenden Lernens“ werden in den 1920er Jahren von Georg Lapper in Bayern aufgenommen und bilden die Grundlage seiner gleichnamigen Methode. 76 Fazit: In der Antike 77 und im Mittelalter überwiegt die mündliche Tradition. Kelly verweist mit der Formel „Ear before Eye“ darauf, dass „the introduction to language through oral skill [is] much older than many modern educators would care to admit, being found at least as early as the beginning of the Middle Ages.” 78 Dies spiegelt sich auch in der formalen gregorianischen Bildungstradition der Schola cantorum 79 wider, die eng mit der liturgischen mittelalterlichen Praxis verbunden war und bei der die Ausspracheschulung durch das Singen einen wichtigen Platz einnahm. Die mündlichen Fähigkeiten des Hörverstehens und Sprechens spielen damit auch historisch-genetisch eine bedeutende Rolle. Das Hörverstehen schaffte die Grundlage für die weiteren Fertigkeiten und konnte damit, wenn man das in heutigen Worten ausdrücken will, als basic skill bezeichnet werden, obwohl es damals die didaktische Konzeption der vier Grundfertigkeiten in expliziter und systematischer Form noch nicht gab. 80 Daraus wurden dann als im Mittelalter gültige didaktische Maximen: Nichts kann gesprochen werden, das nicht zuvor gehört und verstanden wurde. Nichts kann gelesen werden, das nicht zuvor gehört, verstanden und gesprochen wurde. Nichts kann geschrieben werden, das nicht zuvor gehört, verstanden, gesprochen und gelesen wurde. 81 Diese Tradition setzt sich fort bei der Entwicklung des Kirchenlieds im Rahmen der Reformation. 76 Vgl. Rauch (2001b), S. 59. 77 Vgl. Müller (2000), S. 161: „Die Antike […] - und für ‚orale‘ Kulturen gilt das noch heute - war intuitiv und praktisch gedächtnisbewußt.“ 78 Kelly (1969), S. 214. 79 Vgl. zur Schola cantorum S. 49, Fußnote 49 in der vorliegenden Arbeit. 80 Zu weiteren Details vgl. Andreas r auch , Möglichkeiten der Integration von Liedern im Englischunterricht ab Klasse 7 - dargestellt an ausgewählten Beispielen. Zweite Staatsexamensarbeit (unveröffentlicht). Chemnitz 2003, 103 S., S. 8. 81 Helmut r eisener , Hits for the kids. In: Der fremdsprachliche Unterricht 37 / 46, 1993, S. 269. Diese didaktische Reihenfolge ist, wie Reisener richtig feststellt, gleichzeitig eine ontogenetische und gilt für Sprache und Schrift. <?page no="56"?> I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht 57 I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht Martin Luther (1483-1546) verkörpert den Wendepunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Er kann nicht nur als theologischer Kopf der Reformation gesehen werden: Es handelt sich um eine durchaus komplexe Persönlichkeit, dessen Bedeutung für die Kultur- und Musikgeschichte unbestritten ist. Seine Bibelübersetzung ermöglichte eine Normierung der deutschen Sprache und damit auch eine weitgehende Verbreitung und Demokratisierung der heiligen Schrift, denn von nun an konnte der einfache (lateinunkundige) Bürger die Bibel in seiner Muttersprache lesen. Luther zielte auf die Volkssprache, wie er 1530 im Sendbrief vom Dolmetschen formuliert: Man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die Mutter im hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet. 82 Bei der Verbreitung der Bibelübersetzung Luthers wirkte der Buchdruck als entscheidender Katalysator in der Verbreitung der neuen Religion. Im Folgenden sollen vor allem die Bedeutung Luthers einerseits als Musiker und Komponist, andererseits als Erzieher und Pädagoge sowie die Anwendung seiner Prinzipien für den Sprachunterricht dargestellt werden. Die Musik und vor allem das Lied nehmen im Bildungswesen der Zeit des Humanismus eine Sonderstellung ein, da sie „[…] in einzigartiger Weise verschiedenartigen Aspekten der Pädagogik, der Religion, der Wissenschaft und der Musikpflege [unterliegen].“ 83 Wolfgang Niemöller verweist auf das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Fachdisziplin innerhalb der septem artes 82 Martin l uther , Werkausgabe 30, 2 , Nr. 637, S. 17. Wenn nicht anders angegeben, beziehe ich mich auf die Weimarer Ausgabe: Martin l uther , D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe . Weimar: Böhlau 1883 ff. - Der Jugendevangelist Theo Lehmann steht mit seinen metaphernreichen evangelischen Karl-Marx-Städter Jugendgottesdiensten in der DDR in Luthers Tradition: „Quel est le langage utilisé? C’est un langage différent que les jeunes adorent. Comme Luther, il veut voir ce que disent ses compatriotes: ‚den Leuten aufs Maul schauen‘ (observer le langage des gens) et non pas ‚den Leuten nach dem Mund reden‘ (dire ce que les autres veulent entendre).” Andreas r auch , Dr. Blues: Theo Lehmann, un pasteur contestataire. In: Le nouveau Bulletin de l’A.D.E.A.F. n°105, septembre 2009, S. 20. 83 Klaus Wolfgang n iemöller , Zum Einfluß des Humanismus auf Position und Konzeption von Musik im deutschen Bildungssystem der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Walter r üegg & Annegrit s chmitt (Hrsg.), Musik in Humanismus und Renaissance . Mitteilung VII der Kommission für Humanismusforschung. Weinheim: Acta Humaniora 1983, S. 77- 97. <?page no="57"?> 58 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht liberales und künstlerischer, „poetischer“ Ausdrucksform. 84 Bis zum 16. Jahrhundert war die Musikausbildung innerhalb des Quadriviums 85 eine Art Mischung aus Arithmetik und Musik. 86 Luther stellt dieser musica theoretica eine realitätsnahe musica practica 87 entgegen. So spielt der Musikeinsatz 88 im Unterricht in Luthers Bildungskonzeption eine zentrale Rolle: Musicam habe ich allzeit lieb gehabt. Wer dies Kunst kann, der ist guter Art, zu allem geschickt. Man muß Musicam von Noth wegen in Schulen behalten. 89 Ein Schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an. Man soll auch junge Gesellen zum Predigtamt nicht verordnen, sie haben sich denn in der Schule in der musica wohl versucht und geübet. 90 Die Verbindung der mittelalterlichen Lateinschule mit der Kirchenmusik wies der musica neben dem Latein auch als Lehrfach eine wichtige Stellung zu. Niemöller 91 hat nachgewiesen, dass der rector scholae im Normalfall auch gleichzeitig, gewissermaßen in Personalunion, der rector chori als cantor war. Dies geschah aus soziologischen, berufsrechtlichen und häufig auch finanziellen Gründen. Oft wurden Neugründungen von Schulen unter der offiziellen Begründung vorangetrieben, dass dadurch der feierliche liturgische Gesang in der Kirche erhalten werden konnte. Der Schulmeister sollte zuerst dem Chor und dann erst der Schule vorstehen. 92 Das Singen der Schulchöre diente dem Lob Gottes, und dazu sollten alle Gläubigen angehalten werden, in ihrer Muttersprache mitzusingen. 93 Die 84 Vgl. Klaus Wolfgang n iemöller , Untersuchungen zu Musikpflege und Musikunterricht an den deutschen Lateinschulen vom ausgehenden Mittelalter bis um 1600 . Regensburg 1969 (Kölner Beiträge zur Musikforschung, Bd. 54). Zitiert nach Rüegg & Schmitt (1969), S. 77. 85 Vgl. S. 44 f. in der vorliegenden Arbeit. 86 Vgl. dazu: Musik in der Artistenfakultät. In: Angelika B acher , Pädagogische Potenziale der Musik. Frankfurt am Main: Peter Lang 2008, S. 51 f. 87 Vgl. dazu Hubert g uicharrousse , Les musiques de Luther. Genf: Labor et fides 1995, S. 246. 88 Die Musik kommt in der Wertigkeit bei Luther direkt nach der Theologie: „Ich gebe nach der Theologia der Musica den nächsten Locum und höchste Ehre.“ In: Martin l u ther , Werkausgabe, 1530, Tischreden 6, Nr. 7034, S. 348. 89 Ders., Werkausgabe, Tischreden 1, Nr. 968, S. 490. 90 Ders., Werkausgabe, Tischreden 5, Nr. 6248, S. 147. 91 Vgl. Klaus Wolfgang n iemöller , Grundzüge einer Neubewertung der Musik an den Lateinschulen des 16. Jahrhunderts. In: Georg r eichert / Martin J ust (Hrsg.), Bericht über den internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Kassel 1962. Kassel: Bärenreiter 1963, S. 133. 92 Ebd., S. 133. - Nach Niemöller hatte das lutherische Schulwesen in Sachsen-Thüringen für einige Länder durchaus eine Vorbildfunktion. Oftmals übernahm ein Vikar ( succentor ) pädagogische Aufgaben als Unterstützung des cantor. Vgl. Niemöller (1963), S. 134. 93 In vielen Orten gab es neben der von den Schulmeistern geleiteten Kantorei den chorus symphonicus oder die Kurrende. Der Kurrende gehörten die „pauperes“ an, die ih- <?page no="58"?> I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht 59 Kirchgemeinde wurde im Gottesdienst aktiv einbezogen. Anstelle des Gregorianischen Gesangs stellte Luther ein Repertoire von Chorälen zusammen. 94 Die Formel des Singens und Sagens taucht wiederholt bei Martin Luther auf. Johannes Block verweist auf die Botschaft des Evangeliums, die singend und sagend zum Menschen kommt. 95 Es handelt sich um eine Verstehensmethode: „Theologie wird unter Gesang getrieben und kommt unter Gesang zum Verstehen.“ 96 Block untersucht diese Beziehung von verbum und vox 97 bei Luther: Die Propheten haben keine Kunst derart gebraucht wie die Musik, weil sie ihre Theologie […] in Musik gesetzt haben, so daß sie Theologie und Musik engstens verbunden haben, wenn sie die Wahrheit in Psalmen und Liedern verkündigten. 98 […] Den nächsten Platz nach der Theologie gebe ich der Musik. Das ist durch das Beispiel Davids und aller Propheten offenbar, die all das ihr in Versmaßen und Gesängen überliefert haben. 99 ren Unterhalt durch Singeinlagen erbettelten. Die adeligen Schüler kauften sich vom Chordienst frei. Die armen Kurrendeknaben wurden als „Brodschüler“ bezeichnet und mussten jede Singgelegenheit materiell nutzen. Walter Salmen beschreibt einen die Berufe darstellenden Bilderbogen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, bei dem der Chorschüler folgendermaßen dargestellt wurde: „Ein armer Chorschüler bin ich / Geistlich zu werden steht mein sinn. / Ich bin nur gar ein junger Knab / Zur Schulen mich begeben hab. / Da ich gantz fleissigklich studier / Vnd in armut mein leben führ. / Zu Chor vnd Kirchen ich auch sing / Auff das daruon mein Brodt ich bring. / Biß das es mit mir besser wird / Vnd ich werd weitter Ordiniert. / Auch besser mich hinbringen mag / Wart hewer vnd forta uff besser tag.“ Zitiert nach Walter s almen , Musikleben im 16.-Jahrhundert. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik, 1976, S. 21, und Georg m ertz , Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16.-Jahrhundert. Heidelberg: Winter 1902, S. 434 f. 94 Vgl. Rauch (2008), S. 35 f. 95 Johannes B lock , Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers. Tübingen: Francke 2002, S. 24-28. - Block verweist auf Luthers Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“ Der Verkündigungsengel singt: „Vom himel hoch da kom ich her, ich bring euch gute newe mehr, der guten mehr bring ich so viel, dauon ich singen und sagen wil.“ Block (2002), S. 25. 96 Block (2002), S. 24. 97 Zitiert nach Block (2002), S. 82. 98 Martin l uther , Weimarer Ausgabe , Abteilung Briefe . Weimar: Böhlau, Bd. 5, Nr. 639, S. 18. [1. / 4. 10. 1530]. 99 Das Zitat lautet bei Luther: „Proximum locum do Musicae post Theologiam. Hoc patet exemplo David et omnium prophetarum, qui sua omnia metris et cantibus mandaverunt.“ Block (2002), S. 82. <?page no="59"?> 60 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Luthers Bedeutung für das Kirchenlied mündet in die Rolle der Reformation als Singbewegung. 100 Er dichtete 36 Kirchenlieder, bei mindestens 20 dieser Lieder stammen die Melodien sicher von ihm selbst: 101 „Erst die Noten machen den Text lebendig.“ 102 Viele Kirchenlieder von Luther greifen nach dem Prinzip der Kontrafaktur 103 vorreformatorische deutsche Lieder, aber auch lateinische Gesänge der katholischen Kirche, wie Hymnen sowie Volks- und Gesellschaftslieder auf. Hierbei wird das oben dargestellte didaktische Konzept Vom Eigenen zum Fremden 104 angewendet. Da viele (vormals katholische) Choräle und Volkslieder bekannt waren und zum Allgemeingut gehörten, konnte Luther diese erfolgreich verbreiten und für den protestantischen Kirchenchoral nutzen. 105 Ein bekanntes Beispiel ist das Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott , dessen Text von Martin Luther zwischen 1527 und 1529 geschrieben wurde und bis heute zum Reformationstag in den evangelischen Gemeinden gesungen wird. 106 100 Block (2002), S. 24 prägt diesen Begriff und spricht von einer „Revolution von unten“. Der Terminus „Singbewegung“ wurde in den 1920er Jahren innerhalb der Jugendbewegung verwendet. In der DDR der 1960er Jahre formierte sich als Antwort auf die Folkbewegung in den USA dann die „Singebewegung“, die zunehmend von der FDJ vereinnahmt wurde. Vgl. Andreas r auch , „Sag mir, wo du stehst“ - Entre rock et folk, les chanteurs engagés en RDA. In: La culture progressiste à l’époque de la guerre froide. Grenoble: ILCEA [en ligne] 16, 2012, mis en ligne le 04 juillet 2012. URL: http: / / ilcea.revues.org/ 1413, 19 S. 101 Vgl. dazu Wörner (1993), S. 233. 102 Ders., Werkausgabe, Tischreden 1, Nr. 968, 3815, 7034, 2545. 103 Als Kontrafaktur (lat. contrafacere = umwenden, ins Gegenteil verkehren) wird eine Umdichtung eines Gesangstexts unter Beibehaltung der Melodie bezeichnet. - Zitiert nach Thiel (1963), S. 326. - Beim Kirchenlied wurde oft ein weltliches Gedicht für geistliche Zwecke unter Beibehaltung der Melodie umgedichtet. Der Begriff wird auch für den umgekehrten Vorgang benutzt, d. h. die Umdichtung und spätere oftmals triviale Verwendung religiöser Texte zu weltlichen Zwecken. Dabei werden Bezüge zur Intertextualität deutlich. Das Prinzip der Kontrafaktur beinhaltet einen Wiedererkennungs- und Aha-Effekt, der gezielt von der Werbeindustrie und auch der (politischen) Satire und Karikatur genutzt werden. Dasselbe Prinzip liegt in der modernen Unterhaltungsmusik vor, wenn ein Titel neu „arrangiert“ , also „gecovert“ wird. (Vgl. Rauch 2008, S. 36.) Siehe auch zur Geschichte des Begriffs Theodor v erweyen / Gunther w itting , Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat . Konstanz: Universitätsverlag Konstanz GmbH 1987, S. 11-21. 104 Vgl. S. 54, Fußnote 66 in der vorliegenden Arbeit. 105 So integriert Luther das Liebeslied von Haßler: Mein Gmüth ist mir verwirret. 106 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Guicharrousse (1995), S. 230 f.: „La question de la première parution de ce chant de lutte est en fait insoluble, car il est impossible, dans le foisonnement des recueils évangéliques de l’époque, de distinguer ce qui relève de décisions volontaires de Luther et des autorités religieuses réformées des actions commerciales individuelles des éditeurs et imprimeurs […].“ <?page no="60"?> I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht 61 Der Text bezieht sich auf Psalm 46: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke. 107 Luther stellt in diesem Choral in der ersten Strophe die Macht Gottes und seinen Schutz vor Anfeindungen und Versuchungen des „alt böse[n] feind[es]“ dar. Hierbei wird die Tradition des Mittelalters deutlich, in der dritten Strophe wird der Teufel als „Fürst dieser Welt“ bezeichnet. Die darauf folgende vierte Strophe zeigt den kämpferischen Charakter „[…] jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde.“ 108 Die Rezeption und musikalische Fortentwicklung des Lutherschen Reformationschorals ist für den zeitgenössischen Französischunterricht sehr interessant. Das Kirchenlied, das fester Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes war, ist vermutlich auch zu Tischgebeten in den protestantischen Familien gesungen worden und wurde auch ins Französische übersetzt. Die folgende Abbildung zeigt einen Auszug aus dem Gesangbüchlein / Teutsch und Frantzösisch nebeneinander gesetzt. 109 Es handelt sich um die Interlinearversion des Lutherchorals in einer zweisprachigen Ausgabe von Mömpelgard / Montbéliard 1618 (Abb. 4, S. 62). Die französische Version passt sich dem Rhythmus und Metrum des deutschen Originaltexts gut an: 107 Vgl. zur historischen Genese und Rezeption des Lieds Michael F ischer , Religion, Nation,-Krieg. Der Lutherchoral „ Ein feste Burg ist unser Gott “ zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster: Waxmann 2014 und ders., Ein feste Burg ist unser Gott. In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon des Deutschen Volksliedarchivs. http: / / www.liederlexikon.de/ lieder/ ein_feste_burg_ist_unser_gott. Eine zeitlose, textimmanente Analyse schlägt Hermann Kurzke vor. Er bestreitet einen aktuellen Anlass für diesen Choral, also weder den Wormser Reichstag von 1521 noch die Confessio Augustana von 1530. Für Kurzke ist der „sprachliche Militarismus“ der Reformations-Marseillaise „rein geistlicher und nicht weltlicher Natur“ und die Bilder des Krieges von Paulus inspiriert : „Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt.“ Brief an die Epheser 6,11. Hermann k urzke , Die Marseillaise in der Reformation: „Ein feste Burg ist unser Gott“. In: ders., Kirchenlied und Kultur. Tübingen: Francke 2010, S. 199. 108 Friedrich Engels in einem Brief an Schlüter 1885. In: Karl m arx / Friedrich e ngels , Werke , Bd. 30. Berlin: Dietz Verlag 1958, S. 312. - Johann Sebastian Bach schuf eine gleichnamige Choralkantate BWV 80 und eine Choralbearbeitung BWV 720, zur 300-Jahr-Feier der Augsburger Konfession 1830 nahm Felix Mendelssohn-Bartholdy das Thema in seiner Reformationssinfonie wieder auf. 109 Martin l uther / Jacques F oillet : Gesangbüchlein, Teutsch und Frantzösisch neben einander gesetzt: Darinnen der gantze Psalter Davids, sampt anderen Geistlichen Liedern, hiebevor durch weiland D. Martin Luthern und andern der Evangelischen Kirchen zugethanen Christlichen Personen, in Teutsche reymen und gesang verfasset … zu befinden = Les Pseaumes de David, avec les Hymnes de D. M.-Luther, & autres Docteurs de l'Eglise …-- Tout nouvellement mis en lumiere. Montbéliard: Zetzner 1618, S. 174 f. <?page no="61"?> 62 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Eyn feste Burg ist unser Gott, Ein gute Wehr und waffen. Er hilfft uns frey auß aller not, Die uns jetzt hat betroffen. Der alt böse Feindt, Mit ernst ers jetzt meint, Groß macht und viel list, Sein grausam ruestung ist Auff erd ist nicht seyns gleichen. Nostre Dieu nous est un bon fort, Une arme secourable. Il nous est pour aide et support, Que mal ne nous accable. Le vieux ennemy N’est pas endormi : Par fraude il fait voir Son furieux pouuoir Et n’a point son semblable. Abb. 4: Beginn von Ein feste Burg ist unser Gott / Nostre Dieu nous est un bon fort . Interlinearversion mit Neumen. In: Martin L uther / Jacques F oillet : Gesangbüchlein, Teutsch und Frantzösisch neben einander gesetzt […]. Montbéliard: Zetzner, 1618, S. 174 f. <?page no="62"?> I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht 63 Der vorliegende Auszug des Mömpelgarder Gesangsbüchleins ist insofern aufschlussreich, als es ein Zeugnis für die Zweisprachigkeit der Enklave ist. 110 Bei Tischgebeten in der Familie oder zu Beginn des Unterrichts konnten die Psalmen in beiden Sprachen gesungen werden, da Metrum und Rhythmus an die französische Version angepasst sind. In den reformierten Gebieten wurden die calvinistischen 111 Psalmenkompositionen von Claude Goudimel verwendet: Les pseaumes mis en rime françoise, par Clément Marot et Théodore de Bèze, Genève 1565. Es handelt sich um den ersten vollständigen Genfer Liederpsalter oder Hugenottenpsalter ( psaultier huguenot ). 112 Goudimel 113 vertonte die von Marot und de Bèze umgedichteten Psalmentexte. Am Beispiel von Psalm 46: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke ( Zu Gott wir unser Zuflucht haben ) soll dies exemplarisch vorgestellt 110 Vgl. Abschnitt I. 5 zur Zweisprachigkeit und den bilingualen Zonen in Montbéliard / Mömpelgard. 111 Die Reformation durch Jean Calvin (1509-1564) geht von Genf aus und beeinflusst auch den Gemeindegesang vor allem in der französischsprachigen Schweiz, Frankreich und den Niederlanden. Nach seiner Institution de la Religion chrétienne- soll im Gottesdienst nur „die unmittelbar an das Wort gebundene und für die Gemeinde verständliche Musik“ Berechtigung - haben. So wird der „einstimmige unbegleitete Gemeindegesang in der Volkssprache“ [also ohne Orgel, meine Anmerkung, A. R.] zur einzigen Form gottesdienstlicher Musik. (Wörner 1969, S. 236). - Édith Weber hat die restriktive Rolle der Musik bei Calvin, gewissermaßen als ornement anhand des Kirchengesangs, nachgewiesen: „,Et certes si le chant est accomodé‘ à telle gravité qu’il convient d’avoir devant Dieu et devant ses anges, c’est un ornement pour donner plus de grâce et dignité aux cœurs et les enflamber à plus grande ardeur de prier, mais il se faut toujours donner garde que les aureilles ne soient plus attentives à l’harmonie du chant que les esprits au sens spirituel des paroles.“ (Édith w eBer , La musique protestante de langue française. Paris: Honoré Champion, 1979, S. 40). Im Gegensatz zu Luther spielt also der Kirchengesang bei Calvin nur eine sekundäre Rolle. 112 Vgl. zur Rolle der Hugenottenkolonien in Deutschland den Abschnitt I. 5. in dieser Arbeit. - Bereits 1539 erschienen in Straßburg erste Reimpsalter, die mit Melodien versehen waren. Nach Weber besteht der Hugenottenpsalter aus 150 Psalmenparaphrasen (nicht „-übersetzungen“), das heißt: strophischen und gereimten Dichtungen in der eindrucksvollen französischen Sprache des 16. Jahrhunderts, die der „Mann auf der Straße“ leicht verstehen und auswendig lernen sollte. 49 Paraphrasen wurden von Clément Marot (1496-1544) gefertigt und nach seinem Tod, 1544 in Turin, Théodore de Bèze (1519-1605) anvertraut, der die übrigen 101 Paraphrasen beisteuerte. (Édith w eBer , Die Beziehungen zwischen humanistischen Odenvertonungen und dem Genfer Psalter. In: Eckhard g rune wald / Henning P. J ürgens / Jan R. l uth , Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Berlin: de Gruyter 2004, S. 126). 113 Der Hugenotte Goudimel wurde 1572 in Lyon in der Bartholomäusnacht erschlagen. (Siehe Gerhard n estler , Geschichte der Musik . Mainz: Schott 1997, S. 166, und Ralf Georg c zaPla , Transformationen des Psalters im Sprannungsfeld von gemeinschaftlicher Adhortation und individueller Meditation. Paul Schedes Psalmen Davids und Psalmi aliquot. In: Gunewald / Jürgens / Luth 2004, S. 198). <?page no="63"?> 64 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht werden: Marot übersetzte den Psalm aus dem Lateinischen Deus noster refugium et virtus und stellt darüber einen kurzen Kommentar über den Schutz Gottes (später Luthers „ein feste Burg“): De David. Psalme XLVI. Deus noster refugium & virtus Argument. 114 Les bons chantent icy, quelle fiance & seureté ils ont en tous perils, ayant Dieu pour leur garde. Des qu’adversité nous offence, Dieu nous est apuy & defence: Au besoin l’avons asprouvé, Et grand secours en luy trouvé. […] Die Goudimelsche Version nach der Übersetzung von Marot und de Bèze ist bis heute Bestandteil der reformierten französischen Gesangsbücher, wie der Auszug aus dem Recueil de psaumes et cantiques à l’usage des églises réformées von 1859 beweist. 115 Dargestellt ist der 113. Psalm: Vous qui servez le Seigneur nach Marot 1542. Die Melodie aus dem Jahr 1551 stammt aus Genf und ist bis heute in den reformierten Gemeinden Teil des psautier français de la Réforme-psaumes. 116 Boerner / Pilz / Rosenthal 117 verwenden den 113. Psalm des Hugenottenpsalters in einem Auszug aus dem Recueil von Berger-Levrault in ihrem Lehrbuch der französischen Sprache als erstes Lied im Anhangteil unter der Rubrik Chansons (Abb. 5, S. 66). Hierbei ergibt sich eine Parallele zum geopolitischen Hintergrund wie beim Gottesvertrauen in „Ein feste Burg ist unser Gott“ als Festung im Dreißigjährigen Krieg. In der Ausgabe von 1914 wurden nur drei der fünf Strophen abgedruckt. Es handelt sich neben der ersten Strophe um die dritte Strophe. Letztere wurde als zweite angegeben und die vierte Strophe als dritte abgedruckt. Nach der unveränderten ersten Strophe, die als Lobpreisung Gottes verstanden werden kann: Vous qui servez le Dieu des cieux,/ Célébrez son nom glorieux,/ Chantez sa grandeur. wird in der zweiten Strophe die Macht Gottes dargestellt: […] dans ce haut lieu / D’où sa main 114 Clément m arot , Œuvres de Clément Marot, Valet-de-Chambre de François I. Roy de France, Revues sur plusieurs Manuscrits, sur plus de quarante éditions. Tome troisième. La Haye: P. Gosse & J. Neaulme 1731, S. 311 f. 115 Anonym, Recueil de psaumes et cantiques à l’usage des églises réformées . Paris / Strasbourg: Veuve Berger-Levrault et fils 1859, S. 139 f. 116 Vgl. Alain B ergèse / Marc B lanzat (Hrsg.), Arc en ciel. Un recueil de chants au service de toutes les églises. Lyon: Réveil publications, Service de publication de l’Église réformée en Centre-Alpes-Rhône 1988, S. 88 f. 117 Otto B oerner / Clemens P ilz / Max r osenthal , Lehrbuch der französischen Sprache für preußische Präparandenanstalten und Seminare nach den Bestimmungen vom 1. Juli 1901. Leipzig und Berlin: Verlag B. G. Teubner, 3. Aufl. 1914, S. 143. <?page no="64"?> I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht 65 lance le tonnerre […] . Parallelen zum Kriegsbeginn 1914 werden deutlich. In der dritten Strophe wird Trost gespendet: Au juste qu’il voit affligé, / Au pauvre qu’il voit négligé, / Il tend la main dans leur détresse. In den reformierten Gemeinden in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz gilt die Psalmenübertragung des sächsischen humanistischen Dichters Ambrosius Lobwasser 118 bis heute als richtungsweisend. Lobwasser brachte die Melodie von Goudimel mit den Psalmen, die von Marot und de Bèze vom Latein ins Französische übersetzt worden waren, nach den gleichen Versmaßen in deutsche Reime. Die Lobwasser-Übersetzung erschien erstmals 1573 mit dem Titel Der Psalter deß Königlichen Propheten Davids / in deutsche reymen verstendiglich vnd deutlich gebracht / mit vorgehender abzeigung der reymen weise / auch eines jeden Psalmes Inhalt / Durch den Ehrenuertesten Hochgelarten Heern Ambrosium Lobwasser / der Rechten Doctorn vnd Fürstlicher Durchlauchtigkeit in Preussen Rathe. Vnd hierüber bei einem jeden Psalmen / seine zugehörige vier stimmen / vnd laut der Psalmen / andechtige schöne gebet. 119 118 Vgl. Lars k essner , Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner. In: Grunewald / Jürgens / Luth (2004), S. 217-228. 119 Der Genfer Psalter wurde auch ins Englische, Niederländische, Ungarische, Tschechische, Rätoromanische und viele andere Sprachen übertragen. Dabei wurde wie bei der Lobwasser-Übertragung das Vers- und Reimschema weitgehend beibehalten. Vgl. dazu Robert w eeda , Itinéraires du Psautier huguenot à la Renaissance. Turnhout: Brepols 2009. <?page no="65"?> 66 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Abb. 5: Otto B oerner / Clemens P ilz / Max r osenthal , Lehrbuch der französischen Sprache für preußische Präparandenanstalten und Seminare nach den Bestimmungen vom 1. Juli 1901 . Leipzig und Berlin: Verlag Teubner, 3. Aufl. 1914, B. Chansons. 1. Psaume CXIII, S. 143. <?page no="66"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 67 Édith Weber 120 hat die exakte Kongruenz in Reim, Versmaß und Goudimelscher Melodie am Beispiel des Psalms 46 dargestellt. I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium Für den Fremdsprachenunterricht, insbesondere den Französischunterricht spielte seit Ende des 16. Jahrhunderts die Reichsstadt Straßburg eine entscheidende Rolle als Drehscheibe zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich. Eng verbunden mit der Reformation in Straßburg war die Tradition des Humanismus und - wie Bernd Schröder es treffend formuliert hat - sein „Ideal höherer Schulbildung, das die Antike beerbt, humanistischen Geist atmet und Bedürfnisse wie Anliegen des noch jungen Protestantismus aufnimmt.“ 121 Die Erfindung des Buchdrucks 122 als Meilenstein des Humanismus ermöglichte eine relativ schnelle und weitreichende Verbreitung der Reformation in Europa. Marc Lienhard verweist deshalb folgerichtig auf die Personifizierung der Reformation als „fille de l’imprimerie“. 123 So wurden in Straßburg zwischen 1550 und 1620, der Anfangszeit des Dreißigjährigen Kriegs, die meisten Lehrwerke für den Französischunterricht gedruckt. 124 Wie die christlichen Schulreformer August Hermann Francke und Christian Salzmann setzt sich Johannes Sturm dafür ein, dass für alle Unterrichtsfächer und auch Vorlesungen Lehrbücher bereitgestellt wurden. 125 Der Humanist Sturm ist wie Philipp Melanchthon untrennbar verbunden mit der frühprotestantischen Pädagogik des 16. Jahrhunderts. Der Reformator Martin Bucer holte Sturm 1537 in die freie Reichsstadt Straßburg. Hier gründete Sturm ein Jahr später das Straßburger Gymnasium, 126 das bis heute als Gymnase Jean Sturm fortbesteht; 120 Vgl. Weber (1979), S. 116. Modèle: Dès qu’adversité nous offense, texte de Clément Marot (1546), Adaptation allemande: Zu Gott wir unser Zuflucht haben , texte d’Ambrosius Lobwasser (1573). Adaptation musicale: version en contrepoint note contre note de Claude Goudimel. 121 Bernd s chröder , Johannes Sturm (1507-1589). Pädagoge der Reformation. Zwei Schulschriften aus Anlass seines 500. Geburtstages. Lateinisch-deutsche Lese-Ausgabe, übersetzt von Ernst e ckel und Hans-Christoph s chröter . Jena: IKS Garamond, 2009, S. 7. 122 Ebd., S. 31. 123 Vgl. Marc l ienhard , Humanisme et Réforme à Strasbourg avant l’arrivée de Jean Sturm. In: jean sturm. Quand l’humanisme fait école. Catalogue réalisé sous la direction de Matthieu a rnold et Julien c ollonges . Strasbourg: Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg 2007, S. 25. 124 Vgl. dazu Kuhfuß (2014), S. 89. 125 Vgl. Jean B oisset (Hrsg.), La réforme et l’éducation. Toulouse 1974, S. 125-141. 126 Vgl. Arnold / Colonges (2007), S. 33-38. <?page no="67"?> 68 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht 1621 geht aus der Sturmschen Gründung die Straßburger Universität hervor. 127 Johannes Sturms Gymnasium ist ein akademisches Gymnasium oder Gymnasium illustre ; es fanden hier auch öffentliche, propädeutische Vorlesungen statt. 128 Sturm kann somit zu Recht als „Vater des […] althumanistischen Gymnasiums protestanischer Prägung“ 129 bezeichnet werden. Seine Verwurzelung im Protestantismus und seine humanistische Tradition spiegeln sich in seiner Schul- und Unterrichtskonzeption, insbesondere im Sprachunterricht wider. 130 Sein Programm der Neuordnung des Schulwesens stellt Sturm detailliert in der im Jahre 1538, also zu Beginn seiner Tätigkeit als Rektor des Gymnasiums veröffentlichten Schrift De literarum ludis recte aperiendis 131 vor. Es handelt sich um einen detaillierten Lehrplan und eine umfassende Unterrichtskonzeption für das Straßburger Gymnasium. Das Bildungsziel Sturms, das Matthieu Arnold als Widmung seinem Ausstellungskatalog jean sturm. Quand l’humanisme fait école. 132 voranstellt, fasst das Ziel der Ausbildung am Sturmschen Gymnasium und damit die wichtigsten Elemente seiner Konzeption zusammen: „Propositum a nobis est sapientem 133 atque eloquentem pietatem fine esse studiorum.“ 134 Neben dem Grundsatz der Frömmigkeit werden Vernunft und Eloquenz in Form der reinen und kunstvollen Rede hervorgehoben. Hier zeigt sich Sturms Modernität. Schule und Unterricht wurden nach Sturm folgendermaßen organisiert: 127 Vgl. Schröder (2007), S. 7. 128 Schröder (2009), S. 18. - Luther hatte bereits 1520 in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes gefordert, dass sich die „weltliche Obrigkeit“ dem Schulwesen annehmen soll. So entstanden in den protestantischen Gebieten solche vom Renaissance-Humanismus geprägte Gelehrtenschulen und von protestantischen Landesherren getragene (protestantische) akademische Gymnasien im (vor-) universitären Bereich. Loïc Chalmel bezeichnet diese Kurse mit Vorlesungscharakter im Sturmschen Gymnasium als „la semi-universitas“ (vgl. Loïc c halmel , Les cours publics et la semi-universitas. In: Matthieu a rnold , Johann Sturm (1507-1589). Tübingen: Mohr-Siebeck 2008, S. 301). 129 Ebd., S. 7. 130 Eine detaillierte Zusammenfassung der Werke von Johannes Sturm findet man bei Jean r ott , Bibliographie des œuvres imprimées du recteur Strasbourgeois Jean Sturm (1507- 1589). Actes du 95 e congrès national des sociétés savantes, Tome 1: Enseignement et vie intellectuelle IX e - XVI e siècle. Paris: Bibliothèque nationale 1975, S. 313-404. 131 In der vorliegenden Arbeit wird die kommentierte Ausgabe lateinisch-deutsch von Schröder (2009) verwendet. 132 Arnold / Colonges (2007), S. II. 133 Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 134 „Unser Vorsatz ist es, dass das Ziel der Frömmigkeit eine weise und beredte [sc. rhetorisch geschulte] Frömmigkeit sei.“ Vgl. Schröder (2009), S. 120 f. <?page no="68"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 69 1. Die Schüler wurden im Alter von sechs Jahren aufgenommen. Darauf folgte ein fünfjähriger Besuch öffentlicher Vorlesungen. Die unterste Stufe ist dabei die neunte Klasse. 135 2. Klassenlehrer ( classici praeceptores ) sind für den gesamten Unterricht des betreffenden Schuljahres verantwortlich. Fachprofessoren ( publici professores ) sollten öffentliche Vorlesungen in ihrer Disziplin halten. So garantiert Sturm eine Binnendifferenzierung in Lehre und Forschung. 136 3. Der Unterricht folgt einer klaren äußeren Ordnung: „In allen Klassen wurden von Montag bis Samstag täglich jeweils fünf Unterrichtsstunden abgehalten, und zwar vormittags im Sommer von 6 Uhr bis 7 Uhr und von 8 Uhr bis 9 Uhr und im Winter von 8 Uhr bis 10 Uhr sowie nachmittags das ganze Jahr hindurch von 12 Uhr bis 2 Uhr und von 3 Uhr bis 4 Uhr. Die Unterbrechungen sollten den Schülern vermutlich Gelegenheit geben, Übungsaufgaben zu lösen. Dazu kamen noch besondere Stunden am Samstag und Sonntag für Religion und Kirchenmusik […].“ 137 Für Sturm stellt der Einsatz des Gesangs und musischer Elemente eine wichtige methodische Komponente des Unterrichts am Gymnase de Strasbourg dar und ist Teil des methodisch geordneten Unterrichtskonzepts. Dabei nimmt die frühzeitig beginnende Fremdsprachenausbildung eine Schlüsselrolle ein. Priorität gilt dem Sprechen. 138 Sprachliche Bildung ( linguae informatio ) wird zur Schlüsselqualifikation der Persönlichkeitsbildung und des Weltwissens: (1) Quare videndum est, ut prima liberorum aetatula mature ad linguae informationem dedatur. Ad loquendum enim homines quam ad cogitandum iudicandumque promptioram naturam habent et quod unicuique aptum est, ab eo principium in erudiendo debemus ducere. Sed ut loqui ita etiam recte facere pueri facillime assuescunt. 139 135 De literarum ludis recte aperiendis liber XII, 2. Vgl. Schröder (2009), S. 126 f. 136 Zitiert nach Schröder (2009), S. 36. 137 Anton s chindling , Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621. Wiesbaden: Steiner 1977, S. 182. 138 Hierbei knüpft Sturm an eine mittelalterliche Tradition des Lateinlernens an, kann aber auch als Vorläufer einer Reformkonzeption des neusprachlichen Unterrichts gesehen werden. 139 Der Text lautet auf deutsch: „(1) Deshalb muss darauf geachtet werden, dass Kinder schon im zarten Alter rechtzeitig in der Sprache unterrichtet werden. Menschen neigen naturgemäß eher zum Sprechen als zum Überlegen und Beurteilen, und wir müssen bei der Erziehung mit dem anfangen, was für einen jeden das Passende ist. Wie ans [richtige] Sprechen, so gewöhnen sich die Knaben ganz leicht daran, richtig zu handeln.“ ( De literarum ludis I,6 (2). In: Schröder 2009, S. 86 f.). <?page no="69"?> 70 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Sturm unterstreicht die Bedeutung des Einprägens und Wiederholens und damit den schrittweisen Aufbau komplexer Kenntnisse. 140 Alle Unterrichtsverfahren dienen dem Memorisieren und Nachahmen. Beispiele dafür sind das Anfertigen von Vokabellisten ( diaria bzw . ephemeridae ) in speziell geführten Vokabelheften ( commentariolus ), das Vortragen von Schulreden ( declamationes ), angeleitete Gespräche unter Schülern ( confabulationes ), Disputationen ( disputationes ) und das Theaterspiel (comœdiae et tragœdiae). 141 Wesentliche Unterrichtstechniken waren das Psalmensingen (psalmodia), das Vorlesen biblischer Schriften ( recitationes ), das (angeleitete) Spiel (ludus), 142 der Schülerwettstreit ( aemulatio ) und die Befragungen der Lehrer durch die Schüler innerhalb des Unterrichts ( interrogationes ). Schröder 143 zeigt Sturms Mittlerrolle zwischen Tradition (Nachahmung im Rahmen der auf Einprägen ausgerichteten Unterrichtsweise) und Innovation (systematische Entwicklung und Anwendung des geordneten, stetig wiederholbaren Lehr-Lern-Verfahrens). Einige dieser didaktisch-methodischen Verfahren nutzte Sturm in seinen Classicae Epistolae und verband diese mit dem Schultheater, wobei verschiedene Unterrichtsformen angewendet wurden, wie das Rezitieren von Texten und Dialogen oder das Singen von Liedern. Angela Weißhaar beschreibt, wie Studentenlieder und Dramen mit einer Moral am Ende des Stückes an der „humanistischen Schulbühne des Johannes Sturm in Straßburg aufgeführt wurden. Sie bildeten einen gewissen Kontrast zu deren didaktischen Elementen.“ 144 Die Rolle von musischen Elementen im Schultheater steht im Einklang mit der humanistischen Pädagogik der Renaissance. Bereits Luther hatte auf die prägende und erzieherische Rolle des Gesangs in der Lehrerausbildung hingewiesen. 145 Dabei steht Sturm in Luthers Tradition und unterstreicht die Bedeutung des Gesangs im Unterricht im Jahr 1565 in einem Brief an den Gesangslehrer des Straßburger Gymnasiums Mattias Stiffelreuter. Sturm will „dessen Methode in den Strassburger Schulen für immer eingepflanzt 140 Schröder (2009), S. 38. 141 Vgl. dazu Johannes c rüger , Zur Straßburger Schulkomödie. In: Festschrift zur Feier des 350-jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums. Straßburg: Heitz & Mündel 1888, S. 307-354. 142 Zitiert nach Schröder (2009), S. 39. 143 Ebd., S. 39. 144 Vgl. Angela w eisshaar , Gérard Du Vivier, Grammatiker und Komödienautor. In: Wolfgang d ahmen et al. (Hrsg.), „ Gebrauchsgrammatik “ und „ gelehrte Grammatik “ . Französische Sprachlehre und Grammatikographie zwischen Maas und Rhein vom 16. bis zum 19.-Jahrhundert (Romanistisches Kolloquium XV). Tübingen: Narr 2001, S. 251-283. 145 „Ein Schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an.“ Vgl. dazu S. 58 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="70"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 71 sehen“ 146 und besteht darauf, dass singen ( canere ) keineswegs schreien ( clamare ) bedeute. 147 Stiffelreuter unterstreicht hier, dass der (Schul-) Chor sich vor „dem Ueberschreiten der Grenze zwischen Gesang und Geschrei“ hüten möge, „und dass der Sänger das ästhetische Empfinden nicht nur der Ohren, sondern auch der Augen des Publikums“ respektieren soll. 148 Die Bedeutung und Wertigkeit von Musik als Chorgesang emanzipiert sich in Sturms gymnase demnach erstmals von den klassischen, naturwissenschaftlichen Fächern, wie Weber detailliert darstellt: „La musique figure à part entière aux côtés de l’astronomie, de la géométrie, des mathématiques. Les instructions à l’attention des cantors et des instituteurs sont nombreuses et révélatrices de l’importance réservée à la musique.“ 149 Musikalische Elemente werden also bewusst und ganz natürlich in den Theaterstücken verarbeitet und mit Tanzelementen verbunden. Weber führt das auf die Tradition der humanistischen Schulgestaltung zurück: La musique est tout naturellement intégrée au drame scolaire, en raison de l’importance qui lui est attribuée dans la pédagogie de l’époque en cause. Elle est présente dans les chœurs à la fin des actes ( chorus canens par opposition au chorus loquens , chœur parlé) . Elle se manifeste par une simple réplique chantée à une voix par les élèves, ou exécutée à quatre voix par le chœur, en style „note contre note“ qui est aussi le moyen des Odes humanistes et du choral protestant en Allemagne, du Psaume en France.[…]. Les acteurs [also die Schüler, A. R.] peuvent également danser; dans certains drames, des interludes orchestraux rehaussent l’atmosphère et servent d’obtenir le silence de la part des spectateurs; ceux-ci sont parfois appelés à chanter des chorals ou des pièces grégoriennes connues, notamment le Te Deum , réminiscences des Matines qui représentaient le cadre lors des exécutions de drames semi-liturgiques. 150 Édith Weber zeigt die Vorbildwirkung des elsässischen humanistischen Schultheaters: „Dans les Pays Rhénans, le climat est particulièrement favorable à une extension rapide et durable du théâtre humaniste et scolaire, avec participation musicale; il connaîtra un essor extraordinaire.“ 151 146 Friedrich s annemann , Die Musik als Unterrichtsgegenstand an den Evangelischen Lateinschulen des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Schulgesanges. Berlin: Ebering 1904, S. 154 f. 147 „Primum ut cantat, non clamat chorus.“ (Sannemann 1904, S. 155). 148 Zitiert nach Sannemann (1904), S. 155. 149 Édith w eBer , Le théâtre humaniste et scolaire dans les pays rhénans. Tome second. Paris: Klincksieck 1974, S. 38. 150 Ebd., S. 39. 151 Ebd. <?page no="71"?> 72 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Interessante Parallelen werden deutlich im zeitgenössischen Rappoltsweiler Schulmeisters eydt. 152 Der aus dem Beginn des 16. Jahrhundert stammende Eid des Rappoltsweiler Schulmeisters beschränkt sich nicht auf das rein rechtliche Element, sondern betrifft auch interne, organisatorische und vor allem soziale Schulangelegenheiten. Der Schulmeister (hier im Bereich der Musik Schulmeisterliche Chorregent ) muss den abendlichen Chorgesang mit seinen Schülern organisieren ( Obendsalve ), den Chor als Chorleiter leiten und dirigieren, bei Veranstaltungen in Basel begleiten und für Ordnung während der Predigt sorgen: Zu allen chorgesängen soll ein schulmeister selbs, so er zugegen sin mag, zuston vnd regieren und die kinder im chor und an den predigten in stiller zucht, in loblicher ordnung angezogen halten.[…]. Es soll auch ein schulmeister die burgerschaft mit belonung der kindern nit höher besweren, dann wie altem harkommen ist, und was den armen schülern zu allmuesen von meß singen, […] oder sust sunderlichen von andechtigen luten gegeben wurdt, das soll auch inen pliben und under sy allein geteilt werden, und ein schulmeister oder sin prouisor daruon nichts nemmen. 153 Knepper kommentiert das Arbeitspensum des Schulmeisters wie folgt: „Bei der straffen Ordnung, die dieser Eid voraussetzt, wird man den ganzen Schulbetrieb für einen höchst förderlichen halten und den Rappoltsweiler Schulmeister zu den meistbeschäftigten Pädagogen rechnen müssen.“ 154 Eine komplexe praxisrelevante Anwendung von Sturms Ideen wird deutlich in der 1565 auf Anfrage von Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken und Neuburg zur Strukturierung der 1561 gegründeten Lauinger Schule verfassten Scholae Lauinganae. 155 Sturms Schüler führten die Straßburger Schulreform im In- und Ausland fort. Der humanistische Reformpädagoge stellt im ersten Kapitel 152 Vgl. dazu Joseph k nePPer , Das Schulwesen und Unterrichtswesen im Elsass von den Anfängen bis gegen das Jahr 1530. Straßburg: Heitz & Mündel 1905, S. 244-247. Knepper weist nach, dass „‚magistri‘ oder Leute ‚myndern grads‘ vorgesehen waren […] und […] daß Rappoltsweiler seit alters eine tüchtige Lateinschule besessen haben muß, deren Lehrer in weiterm Umfange Universitätsbildung aufzuweisen hatten.“ Knepper (1905), S. 244. 153 Ebd., S. 246. 154 Ebd., S. 247. 155 Sturms Schulkonzeption wird an vielen europäischen Schulen übernommen, z. B. dadurch, dass einige seiner Schüler später als Leiter neu gegründeter Schulen berufen werden. Johannes Sturm war außerdem selbst beteiligt an der Inspektion des Gymnase illustre in Hornbach (Pfalz-Zweibrücken) und an der Konzeption des Gymnasiums in Thorn (Polen). (Vgl. dazu Barbara s her t insley , Johann’s Sturm’s method for humanistic pedagogy. In: Sixteenth century journal. New York & Kirksville, Bd. 20, 1989, S. 23-40, und H. de c helminska , Sturm et la Pologne. In: L’Humanisme en Alsace. Paris: Société d’Édition Les Belles Lettres, 1939, S. 52-63.). <?page no="72"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 73 seiner Schrift die septem artes liberales vor. Er ergänzt das klassische Trivium und Quadrivium mit Landwirtschaft, Ethik, Politik und erwähnt auch die Bedeutung der protestantischen Religion für Unterricht und Schulleben. Unter der Rubrik Geometrie zieht Sturm einen Vergleich zwischen Mathematik und Musik: […] etiam voluptatis causa addita est musica, quae ut numerando scientia de numeris iudicat, ita haec de sonis et vocum varietate, dissimilitudine, concentione, spatiis atque temporibus praecepta certa et perpetua demonstrat et in his, quid autum, quid grave, quid intermedium, quid longum, quid breve, quid moderatum sit, admirabili varietate considerat. 156 Sturm gibt auch Hinweise für seine Lehrerkollegen. Die erste Aufgabe des Lehrers ist Gewissenhaftigkeit ( diligentia ). 157 Im Abschnitt III, 19 bezieht er sich mit Modus / das rechte Maß auf Aristoteteles und und erklärt es am Beispiel der Musik. Hier zeigt sich eine weitere didaktische Funktion von Musik für den Unterricht. Da Musik für die Schüler durch Singen und Hören plastisch erfahrbar und ausführbar ist, lassen sich dadurch Verhaltensregeln besser vermitteln. Sed quoniam omnibus rebus modus necessarius est, et moderatio ratioque requitur. Modus primum unus est, cum ordinem, quem ostendimus, instituere et sequi. Alter non plus properare, quam vires discipuli patiantur. Tertius qui properationem potest adiuvaren memoriam non solum praesentis, sed etiam superiorum dierum renovare. Id fiet primum interrogatione praeceptoris per omnes facta decurias voce clara, ut reliqui in tota curia, etiam extremi queant exaudire. Quod in musica sit, ut omnes simul canant et audiant, id etiam in hac debet fieri arena, ut omnes simul vel pugnent vel spectent, hoc est omnes pueri aut interrogant et respondeant aut simul audiant, quae respondeantur atque interrogentur. Vitiosa et detrimentosa ratio est, auri adolescebtis unius astare et non omnium aures interrogationibus et responsionibus feriri atque excitari. 158 156 Schröder (2009), Scholae Lauinganae I, 15, 2, S. 268. - In deutscher Sprache lautet der Text: „Die Musik wird beigesellt, um die Schüler zu ergötzen. Wie die Wissenschaft des Rechnens über die Zahlen urteilt, so vermittelt die Musik zuverlässige und immergültige Regeln für Töne und die Mannigfaltigkeit der Stimmen, für Missklang, Zusammenklang, Pausen und Tondauer; dabei beachtet sie, was hoch, was tief, was dazwischen liegend, was lang, was kurz und was gemäßigt ist in bewundernswerter Mannigfaltigkeit.“ (Schröder 2009, S. 269.). 157 Schröder (2009), Scholae Lauingana e III, 17, S. 288. 158 Schröder (2009), Scholae Lauinganae III, 20, S. 288 und 290.). Die Texte sind in der Lateralversion so angeordnet, dass sich der lateinische (Original-)Text auf der linken Seite befindet und die deutsche Übersetzung jeweils auf der rechten Seite. - Der Text lautet auf deutsch: „Da für alle Dinge ein Maß unabdingbar ist, halten wir Behutsamkeit und <?page no="73"?> 74 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Im Kapitel über die vierte Klasse beschäftigt sich Sturm mit den klassischen Autoren und der Wortschatzarbeit. Dabei soll der Lehrer die Worte und Satzabschnitte nicht nur vorsprechen, sondern auch an die Tafel schreiben. Durch Fragen soll festgestellt werden, wie viel der Schüler schon verstanden hat, bevor er „stylum in manu sumere“, also „Feder und Griffel zur Hand nehmen lässt. 159 Das Vor- und Nachsprechen wird plastisch mit dem „Vorkauen“ verglichen: „Si enim infantis ventriculo non nocet cibus praemasticatus, sed est salubris, cur haec praecantata noceant et non sint utilia discentibus.“ 160 Sturm stellt hier eine Übungstypologie als didaktische Folge der Fertigkeiten vor: Eadem enim ratio est exercitationis in scribendo, quae in cantando, in stylo eadem, quae in musica. Qui cantoris discipulus queat cantare, antequam didicerit, nisi praeceptoris adiuvetur praecantatione? Haec igitur exercitatio in scholis et suscipiatur et instituatur et perficiatur in hac aetate et in hac curia […]. 161 Im Kapitel V De exercitationibus quotidianis / Über die täglichen Übungen geht Sturm auf den Grundsatz des täglichen Übens (V, 2) ein. Er empfiehlt für sein Gymnasium zehn Übungsformen 162 und nennt dabei als erste das Singen von Psalmen. Da die Religion bei Sturm den ersten Platz einnimmt, betrifft das auch die religiösen Gesänge, Lesungen und Homilien. Sturm verweist dabei vernünftiges Vorgehen für nötig. Das rechte Maß ist zunächst das eine, nämlich den oben aufgezeigten Lehrplan aufzustellen und ihm zu folgen. Zum anderen, nicht schneller vorzugehen, als es die Kräfte des Schülers erlauben. Zum dritten kann das rechte Maß das Fortschreiten unterstützen, das Gelernte nicht nur des gegenwärtigen Tages, sondern auch des vorgehenden auffrischen. Das geschieht besonders durch Fragen des Lehrers, die er in allen Klassen mit verständlicher Stimme vorbringt, so dass alle in der Klasse, auch die Hintersten ihn hören können. Was in der Musik gilt, dass alle zugleich singen und hören können, das muss auch in diesem Amphitheater gelten, dass alle zugleich entweder kämpfen oder zusehen, d. h. alle Knaben fragen und antworten oder hören zugleich, was beantwortet werden soll oder wonach gefragt wird. Falsch und schädlich ist das Vorgehen, sich dem Ohr nur eines einzigen Schülers zuzuwenden und nicht die Ohren aller mit Fragen und Antworten zu treffen und zu öffnen.“ (Schröder 2009, Scholae Lauinganae III, 19, S. 289 und 291.). 159 Vgl. Schröder (2009), Scholae Lauinganae III, S. 308. 160 In deutscher Sprache lautet der Text: „Wenn nämlich eine vorgekaute Speise dem Magen eines Kindes nicht schadet, sondern zuträglich ist, warum sollte dieses Vorgesprochene den Lernenden schaden und nicht nützen? “ (Ebd., S. 309.). 161 In deutscher Sprache lautet der Text: „Der Grund zu üben ist beim Schreiben derselbe wie beim Singen, beim Darstellen wie beim Musizieren. Wie könnte ein Gesangsschüler singen, bevor er es gelernt hat, wenn ihm nicht durch das Vorsingen des Lehrers geholfen würde? Diese Übung soll also in den Schulen aufgenommen, eingesetzt und durchgeführt werden in diesem Alter und in dieser Klasse.“ (Ebd., S. 309.). 162 Schröder (2009), Scholae Lauinganae V, 3, S. 340-354. - Weitere Übungsformen sind das Vorlesen, Predigten im Gottesdienst (Homilien), schriftliche Darstellung, Vortrag, Abhandlung, Unterredung, Schilderung, Schauspiel, Spiel. <?page no="74"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 75 auf mehrere intertextuelle Bezüge zu Ciceros De oratore 1, 127 und entwirft wiederum räumliche Variationen (Aufstellen der Schüler in Doppelreihen), visuelle Variationen (die Schüler stehen sich gegenüber, um sich anzuschauen), akustische Variationen (Modulation der Lautstärke, Variation der Pausen, wechselweises Singen). Das Ziel ist dabei das Gotteslob (über den religiösen Gesang), aber auch eine mnemotechnische Komponente und die Berücksichtigung verschiedener Lerntypen. 3.1. De psalmodiis (1) Quoniam igitur primas tenet religio sacris cantibus et recitationibus et contionibus primas damus. Et primo loco de cantu praecipimus, ut antequam in curia magister docere incipiat, psalmos aliquot alternatim e regione duplicato ordine modulentur adolescentes. Voce media soni unius, linguae nobilitate eadam et spatiis iisdem non solum versuum atque sententiarum, sed verborum etiam atque syllabarum, ut simul incipiant, simul progrediantur, simul consistant, mora vero tanta fiat, quae neque fastidium pariat neque officiat intelligentiae. Intelligenter enim cantari debet, quod canitur, ut et lex Die cognoscatur et memoria discipulorum adiuvetur et copia comparata sit, quoties autoritatibus contendendum est. 163 Wie beim Wortschatz ist auch die Wiederholung ein wichtiges lernpsychologisches Element beim Einprägen der Psalmen. Es handelt sich dabei um ein obligatorisches Training, eine Pflichtübung. Innerhalb dreier Monate sollen die Psalmen sechsmal wiederholt werden, das dreimalige Singen und dreimalige Beten symbolisiert die göttliche Trinität und schließt den Kreis zwischen Religion, Theologie und Musik: (2) Istud officium ter faciendum quotidie est, mane cum in scholas ingrediendum est, meridie cum domum reditur, ante caenam cum finis sit laboris quotidiani. Psalmorum numerus quos hebdomadibus oportet singulis modulari, brevitate et prolixitate 163 Ebd., S. 340. In deutscher Sprache lautet der Text: „3.1. Über das Singen der Psalmen. (1) Da die Religion den ersten Platz innehat, weisen wir auch den heiligen Gesängen, Lesungen und Homilien den ersten Platz zu. Als erstes schreiben wir zum Gesang vor, dass die Schüler, bevor der Lehrer in der Klasse zu lehren beginnt, einander gegenüber in doppelter Reihe aufgestellt, wechselweise mit verhaltener Stimme auf einen Ton einige Psalmen singen, in der gleichen Schnelligkeit der Sprache, im gleichen Zeitmaß nicht nur der Verse und Sätze, sondern auch der Worte und Silben, so dass sie gleichzeitig beginnen, gleichzeitig fortfahren, gleichzeitig innehalten, die Pause aber so groß wird, dass sie weder Missmut hervorruft, noch das Verstehen beeinträchtigt. Verständlich soll nämlich der Gesang gesungen werden, damit sowohl das Gesetz Gottes erkannt als auch das Gedächtnis der Schüler unterstützt wird und ein Vorrat geschaffen wird, wie er von den Vorgesetzten zusammen zu stellen ist. (Schröder 2009, Scholae Lauinganae V, 3. 1., S. 341.) <?page no="75"?> 76 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht singolorum aestimandus est, ut tertio mense omnes in his scholis resonent et quotannis quater queant decantari. Ter igitur canendum est et ter precandum. Quas preces pium et sanctum est ad psalmorum argumentum referre et theologi officium est has preces conficere et in his scholis custodire. 164 Im Anhang I fügt Schröder einen tabellarischen Lehrplan des von Johannes Sturm begründeten Gymnasiums nach den „Klassischen Briefen“ an. 165 In erster Linie kommen klassische Autoren zum Einsatz, vor allem Cicero und Vergil. Die Texte wurden im 16. Jahrhundert ausschließlich für die Schullektüre gedruckt. Für die Klassenstufe der Prima wurden neben den obligatorischen Lektüre-Texten der klassischen Autoren und den Unterrichtsgegenständen Rhetorik, Dialektik sowie zwei Briefen in lateinischer Sprache pro Woche von der Prima bis zur Quinta und dann von der Septima bis zur Decima Gesang in beiden Sprachen, Wortschatzarbeit und Kirchenlieder vorgeschrieben. 166 Johannes Sturms Schriften sind ein wichtiges Beispiel für den schulischen Unterricht der Reformationszeit, wobei Sturm nicht nur ein theoretisches Schulkonzept vorstellt, sondern didaktische und methodische Fragestellungen aufwirft und entsprechende Lösungen dazu anbietet. In seiner Rolle als humanistischer Schulreformer, Gelehrter und Pädagoge hat er mit seinem Gymnase de Strasbourg einen didaktischen Mikrokosmos geschaffen, der als Vorbild für die gymnasiale und universitäre Bildung seiner Zeit gelten konnte. Gleichzeitig kann er als Visionär bezüglich innovativer Unterrichtsmethoden bezeichnet werden. Sturm baut musikalische Elemente in sein Unterrichtskonzept ein und erweitert es von der kirchlichen auf die weltliche Bühne mit seinem Schultheater. Er hat sich allerdings ausschließlich mit der höheren (Gymnasial- und Universitäts-) Bildung beschäftigt. Nach Sturms Tod 1580 waren keine Veränderungen im Straßburger Lehrplan vorgenommen worden. Zwilling berichtet von einer bedeutenden Abnahme der Schülerzahl zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Deshalb wurden 1604 unter dem 164 Ebd., S. 340. Auf deutsch lautet der Text: „Jene Pflicht ist dreimal täglich zu erfüllen, morgens, wenn man zur Schule geht, mittags, wenn man nach Hause zurückkehrt, vor dem Abendessen, wenn das Ende der täglichen Arbeit gekommen ist. Die Zahl der Psalmen, die in den einzelnen Wochen gesungen werden sollen, ist nach der Kürze und Länge der einzelnen zu veranschlagen, so dass innerhalb dreier Monate alle in diesen Schulen erklingen und sie jährlich viermal gesungen werden können. Dreimal soll folglich gesungen und dreimal gebetet werden. Es ist fromm und gottgefällig, diese Gebete nach dem Inhalt der Psalmen einzurichten, und es ist Aufgabe der Theologen, sie zu verfassen und in diesen Schulen zu bewahren.“ (Schröder 2009, Scholae Lauinganae V, 3. 1., S. 341.). 165 Vgl. Schröder (2009), S. 373-375. Vgl. dazu auch Pierre s chang / Georges l ivret (Hrsg.), Histoire du Gymnase Jean Sturm. Berceau de l’université de Strasbourg 1538-1988 . Strasbourg: Oberlin 1988, S. 73 f., und Schindling (1977), S. 178-180. 166 Vgl. Schröder (2009), S. 373 f. <?page no="76"?> I. 4 Formen des Musikeinsatzes am Straßburger Gymnasium 77 Kanzler Johann Philipp Boecklin die Statuten revidiert und zum Teil vervollständigt und man versuchte, durch die Aufnahme des Französischen in den gymnasialen Fächerkanon den Schulbesuch zu heben. 167 Das Projekt wollte „die Jugendt inn der frantzösischen sprach an Ihr selber, zuvorderst lesen und pronunciren wol unnd mit allen Fleiss unterweissen, mehr mit lebendiger stimme auch unterrichten […].“ 168 Außerdem sollten die Schüler auch zur Wochen zweymal, Donnerstags und Sambstags umb ein Uhren nachmittag ettliche christliche unnd geistliche Psalmen auss den bewerthesten gesangbüchern singen lernen, auch ettliche kurtze Epistolas unnd Orationes schreiben unnd recitiren lassen […] demselbigen allem treuwlich gehorsamen und nachkhommen. 169 Wie bei Sturm findet man hier die Integration von Psalmen in den Unterricht, wie sie auch im Gottesdienst und den Bibelstunden der reformierten Gemeinden verwendet wurden. 170 Kuhfuß 171 zeigt, dass diese curricularen Überlegungen eine Vorbildstellung für das Schulwesen im süddeutschen Raum eingenommen hätten. Leider wurde der Lehrplan von 1604 nicht realisiert. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts entstanden viele Privatschulen. Lehrmeister aller Art, Sprach-, Fecht-, Tanz- und Musikmeister waren meist geflohene französische Hugenotten. Der bedeutendste unter den Sprachmeistern war der Hugenotte Daniel Martin 172 , der aus Sedan als junger Mann nach Straßburg kam und viele Jahre eine Privatschule leitete. 1632 erschien seine Grammatica Gallica sententiosis exemplis referta, die eine Reihe von Gedichten, Lern- oder Merkreimen, Gesängen und Gebeten enthielt sowie originelle Angaben zur französischen Aussprache (Abb. 6). 173 Einige Jahre später veröffentlichte Martin sein Parlement nouveau , einen umfangreichen Dialogband mit einhundert Kapiteln. Gleich im ersten Kapitel führt Martin den Leser in die französische Schule ein und erklärt die Tätigkeiten des Lehrers und die Leistungen seiner Schüler. Dabei lernen sie nicht nur Lesen und Schreiben, trainie- 167 Vgl. Zwilling (1888), S. 277, und Kuhfuß (2014), S. 202. 168 Zwilling (1888), S. 278. 169 Ebd., S. 279. 170 Vgl. zu Clément Marot und dem Genfer Psalter S. 63-67 in dieser Arbeit. 171 Kuhfuß (2014), S. 202. 172 Zwilling (1888), S. 264. 173 Daniel Martin stellt in seiner Vorrede dar, dass er die deutsche Jugend seit achtzehn Jahren mit großem Eifer unterrichtet: „Le ferme et immuable dessein que j’aye en l’ame depuis dix huict ans d’employer mon talent au service et à l’avancement de la ieunesse allemande desireuse d’apprendre nostre langue françoise, me derobe la moitié du repos que la nuict octroye aux autres de ma profession et me defend de me contenter de l’instruction que ie vous donne de bouche durant le sejour du soleil sur nostre horizon […].“ (Zwilling 1888, S. 264.) <?page no="77"?> 78 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht ren das Übersetzen, sondern widmen sich vor allem dem Sprechen, das für den Sprachmeister Daniel Martin im Mittelpunkt steht: „car pour bientost estre savant en la langue, il faut lire, exposer, composer et parler, sans estre honteux de faillir; car qui ne parle iamais mal, ne parlera iamais bien.“ 174 Martin ist hier sehr modern, da er das „Lob des Fehlers“ als schöpferische Energiequelle des Unterrichts schon lange vor Montessori erkannt hat. Abb. 6: Auszug aus Daniel m artins Grammatica gallica , abgedruckt in Carl z willing , Die französische Sprache in Strassburg bis zu ihrer Aufnahme in den Lehrplan des Protestantischen Gymnasiums. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des Protestantischen Gymnasiums zu Straßburg . Straßburg: Heitz & Mündel, 1888, S. 266. I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen Es ist gezeigt worden, dass in Grenznähe Städte wie Straßburg / Strasbourg in einem gewissen Umfang zweisprachig waren. Noch stärker trifft diese bilinguale Situation auf Mömpelgard zu. Die Grafschaft Montbéliard / Mömpelgard 175 174 Ebd., S. 267. 175 Vgl. dazu: Michael B uhlmann , Württembergisches Mömpelgard. St. Georgen: Vertex Alemanniae, Schriftenreihe des Vereins für Heimatgeschichte St. Georgen, Heft 30, 2007, S. 9-18. <?page no="78"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 79 war im 16. Jahrhundert eine kleine deutsche Enklave im französischen Gebiet, die staatsrechtlich vom rechtsrheinischen Herzogtum Württemberg getrennt war. Die Reformation in Mömpelgard war verbunden mit dem Herzog Ulrich von Württemberg, der nach einer Anzahl von Rechtsbrüchen (beispielsweise dem Mord an seinem Freund Ulrich von Hutten 1515) aus Württemberg fliehen musste, Zuflucht in Mömpelgard fand und Kontakt zu Luthers Lehre bekam. Unter dem protestantischen Herzog Christoph (1550-1568) infolge des Augsburger Religionsfriedens 1555 setzte sich das orthodoxe Luthertum nach dem Grundsatz cuius regio eius religio durch. Michael Buhlmann beschreibt, dass sich der neue Glauben erst gegen 1588 fest verankert hat und Mömpelgard so zur „evangelischen Insel“ inmitten von katholischen Gebieten (Freigrafschaft Burgund, habsburgischer Sundgau, Bistum Basel) wurde. An der Spitze der lutherischen Kirche in Mömpelgard stand jeweils ein Fürst, der Landesherr und Bischof in Personalunion war. Eng verbunden mit der lutherischen Landeskirche war das recht progressive Schulwesen. Die Schulbildung für 5bis 14-jährige Mädchen und Jungen war obligatorisch. Es gab in jeder Kirchgemeinde, später in jedem Dorf Grundschulen, ab 1540 eine Lateinschule und ein Gymnasium. Im Tübinger Stift erhielten Mömpelgarder Stipendiaten ab 1560 eine Ausbildung zu Pfarrern. Ein Versuch von Graf Georg II. (1662-1699) zur Gründung einer Universität in Mömpelgard scheiterte jedoch 1676. Es fand hier ein intensiver Austausch mit den umliegenden frankophonen Gebieten im Bereich der Verwaltung, des Handels und der Kommunikation statt als Vektor der marketplace tradition . 176 Der Auszug aus dem Mömpelgarder Gesangsbüchlein (Abb. 4) ist ein Beweis für die Zweisprachigkeit der Enklave. Die Psalmen konnten jeweils in beiden Sprachen gesungen werden. Das Gebetsbüchlein wurde so bei Tischgebeten im familiären Kreis oder zu Beginn des Unterrichts verwendet. Metrum und Rhythmus waren an die französische Version angepasst. Gleichzeitig ist ein Vergleich des (deutschen) Originaltexts von Luther mit der französischen Übertragung von Foillet interessant: Die deutsche Version der Vorrede von Jacob Foillet 177 unterscheidet sich auf den ersten Blick bezüglich des Umfangs (fünf Seiten gegenüber der französischen Version mit zwei Seiten). Sie beginnt mit einer zeitgenössisch üblichen Höflichkeitsformel als Widmung an den Regenten Ludwig Friedrich (1617-1631) von Mömpelgard: 176 Vgl. Kuhfuß (2014), S. 31, und Tom m c a rthur , Living words. Language, lexicography, and the knowledge revolution. Exeter: University of Exeter Press, 1998, S. 80-83. 177 Im deutschsprachigen Teil kann man lesen: Undertheniger Gehorsamer Jacob Foillet / Buchtrucker. (Luther / Foillet 1618, S. 4.). <?page no="79"?> 80 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Dem Durchleuchtigsten / Hochgebornen Fürsten / vnd Herren / Herrn Ludwig Friderichen / Hertzogen zu Wuertemberg / vnd Teck / Graffen zu Mümpelgardt / Herrn zu Heydenheym / Hericouts, Blamont, &c. Meinem gnedigen Fürsten und Herrn. 178 Die ersten sieben Abschnitte stimmen auf den historischen Kontext ein und bilden den historischen Rahmen einer besonderen, schweren Zeit: Da vnser getrewer HErr und Heyland Jesus Christus seine libe Juenger / vund uns alle lehret / wie wir vns in den letzten zeiten verhalten sollen / spricht er mit hellen klaren worten also: Seydt wacker allzeit / und bettet / daß ir wuerdig werden möget / zu entfliehen diesem allem / daß da geschehen soll / und zustehen vor deß Menschen Sohn. Luc. 21. Wer ist nun under uns / der nicht wisse / das eben auff uns die letste zeit vnd das End der Welt kommen sey. 179 Der Verweis auf Lukas 21 soll eine Warnung und zugleich eine Ermutigung durch die frohe Botschaft ausdrücken. 180 Nur das tägliche Gebet spendet Hoffnung und Zuversicht: „Ist aber solches jemalen von noethen gewesen / so ists warlich in diesen letsten sichern bösen zeiten hoch vonnöthen.“ 181 Diese Erklärung bildet innerhalb der captatio benevolentiae den historischreligiösen Hintergrund und die Absicht ( end ) des Büchleins: Zu diesem end hat der Hocherleuchte Mann / und thewre Werckzeug Gottes D. M. Luther / vnd andere Geystreiche / Gottselige Lehrer gesehen / in dem sie die Psalmen Davids / als auch andere Geystliche Lieder / in Teutsche Reymen verfasset / sampt angehenckten schönen lieblichen Melodeyen / dieselbige in der Christlichen Kirchen zu singen und zu gebrauchen. 182 178 Luther / Foillet (1618), S. 2. Ludwig Friedrich von Württemberg-Mömpelgard (1568-1631) war der Begründer der jüngeren Seitenlinie der linksrheinischen Besitzungen Württembergs (Mömpelgrad, Reichsweiher, Hohburg). Seine Amtszeit wurde durch den Dreißigjährigen Krieg und die damit verbundene Hungersnot und Pestepidemie überschattet. Vgl. dazu Buhlmann (2007), S. 9 f. 179 Luther / Foillet (1618), S. 2. 180 Vgl. vor allem Jesu Rede über die Endzeit, Lukas 21, Verse 5-36. 181 Vgl. Luther / Foillet (1618), S. 3. Das Erscheinungsjahr des Gesangsbüchleins 1618 ist auch der Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), auf den Foillet direkt anspielt. In dieser schwierigen geopolitischen Lage drohte nach einem Vorstoß der Schweden ins Elsass 1632 dem politisch neutralen Pays de Montbéliard die Gefahr, zwischen dem katholischen kaiserlichen und dem protestantischen Lager zerrieben zu werden. Man versuchte deshalb, in Stuttgart und Mömpelgard Frankreich als Schutzmacht zu gewinnen, was 1633 gelang. 1648 wurde Mömpelgard im Westfälischen Frieden mit Schweden als reichsunmittelbar bezeichnet und 1650 verließen die Franzosen Mömpelgard. (Vgl. Buhlmann 2007, S. 16.). 182 Luther / Foillet (1618), S. 2 f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="80"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 81 Foillet bezeichnet Luther als „Werckzeug Gottes“, der als Lehrer hilft, das Gebet anhand des Einsatzes von „Melodeyen“ und Gesang zu gebrauchen, also aktiv anzuwenden, und auch zu wiederholen und zu üben. 183 Der Erfolg der (gesungenen) Psalmen wird sich nach Foillets Prognose auch in der französischen Übersetzung bei den frankophonen protestantischen Gemeinden als nützlich erweisen: „Also werden sie ohne allen zweyfel / wie sie bereit in das Frantzoesisch gebracht worden / auch ihren Herzlichen nutzen haben / besonders in denen Kirchen / so der rechten vnverenderten Augsburgischen Confession beygethan.“ 184 Foillet nutzt die (damals konventionell üblichen) stilistischen Mittel der Unter- und Übertreibung, die er mit Parallelen der Herausgeberfiktion verbindet: Zufällig sei ihm ein Exemplar der französischen 185 Originalausgabe des Psalters „underhanden kommen“. Er war der erste , der eine deutsch-französische Interlinearversion in einem Band zusammengestellt und auch die Reime angepasst habe für den Kirchengesang, die zur Ehre Gottes sowie als Unterstützung und geistliche Auferbauung („aufferbawung“) 186 der Gemeinde dienen: Derowegen als mir ohne lengsten das Frantzösische geschriebene Original exemplar vnderhanden kommen / darinnen der gantze Psalter Davids / sampt andern fuernembsten Geystlichen Liedern verfasset vnd begriffen / auß allerley reinen Teutschen Psalmen vnd gesangbuechlein zusammen getragen / in Frantzoesische reymen und 183 Hierbei wird eine Parallele zu Luthers pädagogischem Prinzip deutlich: „So sie’s nicht singen, glauben sie’s nicht.“ St. Augustin hat vermutlich gesagt: „Wer singt, betet doppelt.“ Auf die heutige Zeit bezogen heißt das, erst durch das eigenaktive Handeln wird ein Verstehen möglich. Diese Kraft der Musik betrifft bei Luther natürlich vor allem den Glauben, die Nachdichtung von Psalmen, biblische Erzähllieder und Katechismuslieder, denn Gesungenes haftet besser im Gedächtnis. Insbesondere der frühe Französischunterricht des 16. und 17. Jahrhunderts hat damit in seinen protestantischen Kontexten auch davon profitiert. 184 Luther / Foillet (1618), S. 3. 185 Die französische Version ist Elisabeth Magdalena von Hessen-Darmstadt gewidmet. Ist das auch ein Indiz für das Erscheinen des Gebetsbüchleins am Magdalenentag 1618? Ludwig Friedrich hatte Elisabeth Magdalena ein Jahr vorher geheiratet. Analog zur deutschen beginnt auch die (kürzere) französische Vorrede mit der Höflichkeitsformel als Widmung: „A très-illvstre, havte, et puissante Dame & Princeße, Madame Elisabeth Magdaleine, Duchess de Wirtemberg & Teck, Comtesse de Montbeliard & Née Landgrave de Heße, Ma Dame tout-benigne & tres clemente.“ (Luther / Foillet 1618, S. 4a.). 186 Zum Topos der aufferbawung vgl. Anneliese s Prengler -r uPPenthal , Gesammelte Aufsätze zu den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Tübingen: Beck 2004, S. 198. Sprengler-Ruppenthal zeigt anhand der lutherischen Verdener Kirchenordnung von 1806, die vor allem welfisches und württembergisches Gut aufgenommen hat, dass die Kirchen der Augsburgischen Konfession „etliche feine mittelceremonien“ beibehalten haben, die „der geistlichen Auferbauung der Gemeinde dienen“ sollten. (Vgl. Spengler-Ruppenthal 2004, S. 198.). Meine Hervorhebung steht in Fettdruck. <?page no="81"?> 82 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht in ein Volumen gebracht / so auch biß anhero niemalen gesehen noch getruckt worden: als hab ich nicht vnderlassen koennen / dasselbige zur ehr Gottes / vnd aufferbawung seiner Kirchen an das tagliecht herfuer zu bringen. 187 Die Interlinearversion hatte den Vorteil, dass auch die Metrik angepasst wurde. Somit konnte das Gesangsbüchlein sowohl in deutschals auch in französischsprachigen Gemeinden und natürlich auch in zweisprachigen Gemeinden wie in Mömpelgard / Montbéliard angewendet werden. Die zweisprachigen Gesangsbücher sind letztlich auch ein Indikator für die Defizite in der deutschen Sprachkompetenz vieler zugezogener frankophoner Bürger nach Mömpelgard, wobei die Interlinearversion eine wichtige kommunikative Brückenfunktion bildete. Hierbei zeigte sich das Bedürfnis, in der einen Sprache zu singen und gleichzeitig am Rand die (muttersprachliche) Version mitzulesen, um besser zu verstehen. Das Gesangsbüchlein hat als prototypische Version somit Pilotcharakter für weitere zweisprachige Ausgaben und ist damit ein erstes Lehrwerk für den zweisprachigen Einsatz von Liedern im Fremdsprachenunterricht: Vnd damit es desto fueglicher vnd mit mehrerm nutzen beydes in Teutschen und Frantzösischen Kirchen koendte gebraucht werden: wie mit weniger / damit man sehe / daß das Frantzösische dem Teutschen allerdings / vnd fast von Wort zu wort gleichstimmend ist 188 / habe ich mit Gott meinen mueglichsten fleyß vnd arbeyt angewendet / daß es in beyden sprachen moechte herfuerkommen. 189 Eine interessante parallele Entwicklung stellt die Evolution der Sprach- und Kulturassimilation der Hugenotten in Preußen dar. Seit 1560 nannte man die Evangelischen reformierten Bekenntnisses huguenots. 190 Mit dem Revokationsedikt von Fontainebleau 1685 durch Ludwig XIV. wurde das Edikt von Nantes aufgehoben und das reformierte Bekenntnis verboten. Dies löste einen Exodus der Glaubensflüchtlinge aus. „Einige hunderttausend Hugenotten verließen Frankreich, um in protestantischen Ländern Europas Zuflucht zu su- 187 Luther / Foillet (1618), S. 3. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 188 Damit ist die Interlinearübersetzung gemeint. 189 Luther / Foillet (1618), S. 2-4. 190 Vgl. zur Etymologie und Bedeutung des Wortes Johannes k ramer , Das Französische in Deutschland. Stuttgart: Steiner 1992, S. 71 f. - Als Wallonen werden die Evangelischen reformierten Bekenntnisses und französischer Sprache aus den spanischen Niederlanden bezeichnet. „ Waldenser waren eine vorreformatorische Reformbewegung, die ihren Ausgang um 1174 von Waldes [auch als Petrus Waldus bekannt, A. R.] aus Lyon nahm.“ Vgl. dazu Theo k ieFner , Glaubensflüchtlinge französischer und provenzalischer Sprache in Deutschland (Hugenotten, Wallonen und Waldenser). In: Wolgang d ahmen et al. (Hrsg.), Das Französische in den deutschsprachigen Ländern. (Romanistisches Kolloquium VII.) Tübingen: Narr 1993, S. 39 f. <?page no="82"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 83 chen, nicht zuletzt in deutschen Territorien.“ 191 Dabei kam die Aufnahme der Hugenotten in Preußen der „fürstlichen Einwanderungs-, Wirtschafts- und Peuplierungspolitik entgegen, die darauf gerichtet war, die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges zu überwinden und das kulturelle und wirtschaftliche West-Ost-Gefälle in Europa auszugleichen.“ 192 Kuhfuß schreibt, dass 1672 die ersten Hugenotten sich in Berlin niederließen, 1688 erhielten sie Versammlungsfreiheit in den Kirchen der Stadt und ab 1700 verfügten sie über eine eigene Kirche. 193 Die Hugenottenprivilegien umfassten wirtschaftliche und kulturelle Vorrechte. 194 Das Französische wurde besonders gepflegt und zur offiziellen Sprache in den Domänen Kirche, Familie sowie Schule. Noch vor dem Aufbau eines Elementarschulwesens erhielten die Hugenotten mit dem Collège royal françois 1689 ein erstes eigenes Gymnasium, wobei der Unterricht auf französisch stattfand. 195 Die weltoffene, frankophile Politik Friedrichs II. förderte die Hugenotten in Preußen: depuis 1740, Frédéric II y favorise une culture francophile et francophone et entretient une cour à la française. Berlin constitue donc un milieu favorable aux réfugiés protestants francophones venus s’y installer en grand nombre après la promulgation de l’Édit de Potsdam en 1685. 196 Wie viele Adelige seiner Zeit war Friedrich II. französisch erzogen worden. Der aufgeklärte „prince-philosophe“ sprach wohl besser französisch als deutsch. 197 Der Hof Friedrichs II. favorisierte französische reformierte Glaubensflüchtlinge als Lehrer und Erzieher, und in Berlin wurden französische Kindermädchen und Gouvernanten eingestellt. 198 Durch ihre bilingualen Kompe- 191 Kramer (1992), S. 73. 192 Kuhfuß (2014), S. 302. 193 Ebd., S. 303. 194 Ebd., S. 304. 195 Vgl. Franziska r oosen , „ Soutenir notre Église “. Hugenottische Erziehungskonzepte und Bildungseinrichtungen im Berlin des 18. Jahrhunderts. Bad Karlshafen: Verlag der deutschen Hugenotten-Gesellschaft 2008, S. 190. 196 Manuela B öhm , Stratégies autour des choix linguistiques dans l’enseignement huguenot en Brandebourg-Prusse (Böhm 2011a). In: Geraldine s heridan / Viviane P rest (Hrsg.), Les Huguenots éducateurs dans l’espace européen à l’époque moderne. Paris: Honoré Champion 2011, S. 274. 197 Obwohl Friedrich II. zweisprachig (berlinisch-französisch) aufgewachsen war, fand sein Unterricht auf französisch statt. Einem bildungssprachlichen Sprachniveau mit verschiedenen Sprachregistern und Wortschatznuancierungen in seinen Interessenssphären Musik, Dichtung, Philosophie und Geschichte stand ein bestenfalls dialektales Niveau des Berlinischen gegenüber. Vgl. dazu Corina P etersilka , Die Zweisprachigkeit Friedrichs des Großen. Ein linguistisches Porträt. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 278-280. 198 Vgl. Kuhfuß (2014), S. 308. Voltaire spottete über den style réfugié der Berliner Hugenotten und kritisierte deren Archaismen, Dialektismen und Provenzialismen als Abwei- <?page no="83"?> 84 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht tenzen wurden die Hugenotten oft auch als Sprachmeister angestellt. 199 Ein interessantes Beispiel der Réfugiés in einer deutschsprachigen Umgebung stellt die 1725 gegründete Maison des Orphelins in Berlin dar, die für die Erziehung und Bildung der hugenottischen Waisen bestimmt war. Durch einen umfangreichen Elementarunterricht wurden die Jungen auf handwerkliche Berufe vorbereitet und die Mädchen auf eine Arbeit als Gouvernante und Erzieherin: Das Bildungskonzept wird vom damaligen Direktor Humbert wie folgt charakterisiert: „Nos enfans apprennent à lire, à écrire, en allemand et en françois; à chiffrer, la religion. Le but de notre etablissement n’est pas d’en faire des sçavans, mais de bons citoyens, propres à apprendre une bonne profession.“ 200 In den französischen Gemeinden war damit das Standardfranzösische die Sprache für Kult, Bibel- und Katechismusunterricht. 201 Die Verwendung des Hugenottenpsalters 202 kann in den reformierten Gemeinden als Gradmesser der Verwendung des Französischen in den Hugenottenkolonien gelten. Die französische Sprache im Gottesdienst war „zum ausschlaggebenden Identifikationskriterium geworden“. 203 Die sprachliche Akkulturation, also das Hineinwachsen der Hugenotten in die neue kulturelle Umwelt, die sprachliche Integration dieser Migranten, die schrittweise ihre Sprache aufgaben und zur deutschen Sprache übergingen, kann als komplexer Prozess verstanden werden. Ein Sprachwechsel im Sinne von Weinreichs language shift 204 umfasst den Wechsel im habituellen Gebrauch einer Sprache zur anderen und untersucht dabei auch die sozialen Aspekte als Phänomen des Sprachkontakts. 205 Manuela Böhm charakterisiert den Sprachwechsel als komplexe[n] Prozess, der generell darin besteht, dass innerhalb eines beobachteten Zeitraums immer mehr Sprecher einer mehrsprachigen Gemeinschaft in immer zahlreicheren Situationen statt der bislang dominanten Sprache A zunehmend die Sprache B benutzen. Einem Sprachenwechsel geht demnach immer zwingend ein Stadium der Mehrsprachigkeit voraus, in dem für die involvierten Sprachen bestimmte Funktionen und Domänen ihrer Verwendung, unter Umständen mit diglossischer Struktur, chung vom „bon usage“. Vgl. ebd., S. 306. 199 Vgl. Kuhfuß (2014), S. 308. 200 Manuela B öhm , Sprachenwechsel: Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19.-Jahrhundert. Berlin: de Gruyter 2010, S. 450. 201 Ebd., S. 304. 202 Vgl. S. 63-65 in der vorliegenden Arbeit. 203 Wolfgang B ergerFurth , Sprachbewußtsein und Sprachwechsel in der französisch-reformierten Gemeinde Berlins ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. In: Dahmen et al. (1993), S. 88. 204 Vgl. Uriel w einreich , Languages in contact. Findings and problems. New York: Publication of the Linguistic Circle of New York 1979, S. 68. 205 Vgl. Böhm (2010), S. 450. <?page no="84"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 85 ausgebildet werden. Funktions- und Domänenaufteilung bleiben aber nicht dauerhaft bestehen: Der Sprachwechsel nähert sich seinem Ende in dem Maße, wie der Sprecher die Domänen und Funktionen für Sprache A beschränken und Sprache B ausbauen. 206 Frédéric Hartweg hat den Sprachwechsel bei den Hugenotten Berlins detailliert dargestellt. 207 Kramer bringt das auf die Formel: Am Anfang war es die Muttersprache, zu der man mühsam die Zweitsprache Deutsch hinzulernte, wobei man mit dieser häufig bis ans Lebensende Probleme hatte; einer etwa eine Generation währenden wirklichen Zweisprachigkeit folgte eine Phase der ‚Eindeutschung’; d. h. des Übergangs der Kolonie von der französischen zur deutschen Sprache, der sich über mehrere Generationen erstreckte. 208 Dieses Drei-Phasen-Modell Einsprachigkeit → Zweisprachigkeit → Einsprachigkeit wird von Böhm zu einem longue-durée -Modell ergänzt, „da der Sprachwechsel je nach Medialität, soziokulturellen und lokalen Bedingungen unterschiedlich dauerte.“ 209 Susanne Lachenicht unterstreicht Böhms Aussage, dass nicht von einem Modell auszugehen ist, nach dem innerhalb von drei Generationen von französischer Einsprachigkeit zu deutsch-französischer Diglossie und dann zu deutscher Einsprachigkeit übergegangen wurde (im Kontext Brandenburg-Preußens), sondern zunächst von asymmetrischer Mehrsprachigkeit zum Zeitpunkt der Einwanderung ( Patois und Französisch, Letzteres vor allem als Gottesdienstsprache) […]. In der zweiten und dritten Generation zeichnen sich zunehmende und in der dritten und vierten Generation wieder abnehmende Mehrsprachigkeit ab (Plattdeutsch mündlich auf dem Land, Hochdeutsch oder Berli- 206 Ebd., S. 31. 207 Frédéric h artweg , Zur Sprachsituation der Hugenotten in Berlin im 18. Jahrhundert. In: Beiträge zur Romanischen Philologie 20, 1981, S. 117-127. 208 Kramer (1992), S. 86 f. 209 Böhm (2010), S. 523 f. - Böhm begründet das wie folgt: „Statt von Phasen der Ein- und Mehrsprachigkeit auszugehen, muss die Modellierung den Umbau der schrift- und sprechsprachlichen Kompetenzen der Zuwanderer ins Zentrum rücken. Die Untersuchungen […] haben gezeigt, dass je nach Phase des Sprachwechsels von unterschiedlichen Typen von Mehrsprachigkeit auszugehen ist: Die sprachliche Ausgangssituation der Hugenotten war von ‚innerer‘ Mehrsprachigkeit, also verschiedenen Varietäten des Französischen als Muttersprache (L1) geprägt. Im Laufe des Akkulturationsprozesses tritt das Deutsche in seiner hochdeutschen Schriftsprachlichkeit und dialektal varianten Sprechsprachlichkeit (neue L1) hinzu, so dass von äußerer und innerer Mehrsprachigkeit bei gleichzeitiger Abnahme der französischen sprechsprachlichen wie schreibsprachlichen Kompetenz auszugehen ist. Am Ende wird Deutsch in seinen sprechsprachlichen Varietäten als Muttersprache (L1) und als geschriebenes Hochdeutsch (innere Mehrsprachigkeit) und gegebenenfalls Französisch als Fremdsprache (L2) verwendet.“ (Ebd., S. 523.). <?page no="85"?> 86 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht nerisch mündlich in Berlin sowie Hochdeutsch als Schriftsprache auf dem Land und in der Stadt, wenn Alphabetisierung vorlag, und Französisch als zunehmend passiv beherrschte Kultsprache bei der Mehrheit der Réfugiés, wobei sich hier je nach sozialer Schicht (und auch auf individueller Ebene) wiederum gravierende Unterschiede festellen lassen. 210 Im Gegensatz zur oben beschriebenen Sprachenfrage zeigte sich die französisch reformierte Konfession als religiöser Bereich als viel stabilere und konservativere Komponente in der hugenottischen Identitätskonstruktion. Böhm begründet das mit der Rolle der reformierten Kirche als letzter Bastion des Sprachenwechsels. 211 Hartweg berichtet über das Dilemma einer Gruppierung, die durch ihre religiös bestimmte Zusammengehörigkeit definiert und ihre Existenz durch die Eingriffe der politischen Macht als gefährlich empfindet und daher ihre Sprache als Legitimierungsmoment verteidigt, obwohl sie dadurch ein wesentliches Element ihrer geistlichen Aufgabe, nämlich die Verkündigung und die Seelsorge verkümmern läßt und dadurch z. T. ihre Existenzberechtigung oder zumindest ihren Sonderstatus einbüßt […]. 212 Starke Diskussionen gab es darüber, ob deutsche Predigten in den französischen Kirchen Berlins eingeführt werden sollten, da es häufig Klagen über fehlende Französischkenntnisse bei den Kindern gab. Dieser Vorschlag wurde abgewiesen, da er „gefährlich und seine Folgen für die Erhaltung unserer Kirche nachteilig sein konnten.“ 213 Um der Gefahr der „Eindeutschung“ zu begegnen, wurde seitens der Berliner hugenottischen kirchlichen Behörden die französische Sprache zum wichtigsten Identifikationselement, um den Sonderstatus zu wahren. Hartweg schreibt dazu: Das Singen der französischen Psalmen und nicht der Lieder des deutschen Gesangbuchs, das Französische als „lingua sacra“, was keineswegs den Gebrauch des Deutschen im Alltag ausschloß, hatten symbolischen Wert, dessen Verlust die geistige Identität gefährdete. 214 210 Susanne l achenicht , Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2010, S. 417. 211 Böhm (2010), S. 531. 212 Hartweg (1981), S. 118. 213 Frédéric h artweg , Französisch als Kultsprache? Zur Sprachpolitik der französischreformierten Kirche in Berlin (1774-1814). In: Beiträge zur Romanischen Philologie 24, 1985, S. 17. 214 Frédéric h artweg , Die Hugenotten in Berlin: Eine Geschichte, die vor 300 Jahren begann. In: ders. / Steffi J ersch -w enzel , Die Hugenotten und das Refuge: Deutschland und Europa. Berlin: Colloquium-Verlag 1990, S. 36. <?page no="86"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 87 Das Sprachenproblem blieb jedoch auf der Tagesordnung, was ein Beschluss aus dem Jahr 1781 beweist, zweisprachige Ausgaben des Neuen Testaments mit französischem Text und deutscher Übersetzung anzuschaffen. 215 In diesem Zusammenhang wurde auch der Katechismus und der Goudimelsche psaultier huguenot verwendet, an dessen Stelle am Ende des 18. Jahrhunderts das livre de cantiques trat. 216 Wie bei den Lutheranern spielte die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache eine zentrale Rolle. Der calvinistische Gottesdienst war streng und nahe am Bibelwort ausgerichtet. So basierte die Predigt auf einer vom Pastor ausgewählten Bibeltextstelle, die von Bibellesungen, Liedern und Gebeten illustriert wurden. Der Psalm galt für die Reformierten als gesungenes Gebet und der Hugenottenpsalter als ein wichtiger Bestandteil hugenottischer Frömmigkeit. Die Psalmen wurden seit dem 16. Jahrhundert gesungen, 217 und das galt auch für den Unterricht. Der Genfer Katechismus von Calvin bildete die Grundlage der Instruktion der Jugend im brandenburgischen Refuge und war damit auch das wichtigste Lehrbuch, nicht nur im Katechismusunterricht. Bei den Bibelausgaben reichte bald eine zweisprachige Ausgabe nicht mehr aus. Böhm zeigt anhand der Schulgeschichte der Hugenottenkolonie in Strasburg bei Berlin, dass man hier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Übersetzung angeschafft haben muss. 218 Noch im Jahr 1783 hatte das Berliner Konsistorium im Bereich des Liedgutes und Psalmengesangs eine Neuauflage der vom hugenottischen Pastor Hauchecorne 219 herausgegebenen Psalmensammlung beschlossen. 220 Ab 1791 wechselte die Berliner Gemeinde zu einem neuen, von den Pastoren Hauchecorne und Henry herausgegebenen Gesangbuch, das „nur noch einen Teil der Psalmen, dafür aber 40 hymnes und 95 cantiques in französischer Sprache enthielt, die nach deutschen Melodien gesungen wurden.“ 221 Die beiden Herausgeber argumentierten dazu im Vorwort, dass dieses neue Gesangbuch notwendig geworden sei, weil „die Psalmen veraltete Redewendungen enthielten und für nunmehr 215 Vgl. Hartweg (1981), S. 125. 216 Vgl. S. 63-67 in der vorliegenden Arbeit. 217 Vgl. Margarete w elge , Die Französische Kirche zu Berlin. In: Gottfried B regulla (Hrsg.), Hugenotten in Berlin. Berlin: Union Verlag 1988, S. 115. 218 Vgl. dazu Böhm (2010), S. 218-222. 219 Frédéric Guillaume Hauchecorne war ein reformierter Pastor in Berlin. Der hugenottische Theologe wuchs zweisprachig auf und war zudem als bedeutender Pädagoge praktisch an allen wichtigen Erziehungsinstituten der Französischen Kirche Berlins tätig. 220 Vgl. Böhm (2010), S. 223. 221 Ebd., S. 223. - Der Abdruck der Psalmentexte und -noten wurde von dem bekannten hugenottischen Kupferstecher Daniel Nikolaus Chodowiecki illustriert. Vgl. dazu Abb. 7, S. 88. - Hauchecorne war seit Januar 1783 Mitglied der Psalmenkommisson. Er wurde am 4. Juni 1783 zum Katechismusprediger und Pastor der Friedrichstadtkirche berufen. Mit ihm wurde das Singen von Psalmen in dieser Berliner Gemeinde fest institutionalisiert. <?page no="87"?> 88 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht fremd gewordene Verhältnisse stünden.“ 222 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden keine eigenen Gesangsbücher mehr gedruckt und die Berliner reformierte Gemeinde übernahm für die deutschsprachigen Gottesdienste auch die deutschen Gesangsbücher. 223 Abb. 7: Daniel Nikolaus c hodowiecki , Nations, loués le Seigneur! In: Les Pseaumes de David en Vers avec des prières aux dépens de la Compagnie du Consistoire. Berlin: G. J. Decker, Imprimeur du Roi, 1783. Titel-Kupfer zu den Psalmen. Radierung 1782. Wieder abgedruckt in: Jens-Heiner B auer , Daniel Nikolaus Chodowiecki. Das druckgrafische Werk. Hannover: Verlag Galerie J. H. Bauer 1982, S. 146, Tafel 964. Der Akademiesekretär Jean-Henri Samuel Formey berichtete 1785 in einer Rede zum 100jährigen Jubiläum des Potsdamer Edikts über seine Sprachkenntnisse und die der ersten Generation der Réfugiés . Er habe die deutsche Sprache wie eine tote Sprache gelernt. Parallel dazu bestätigte er, dass das Französische 222 Ebd., S. 223. 223 Ebd. und Welge (1988), S. 116. <?page no="88"?> I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen 89 vielerorts in den ursprünglichen Hugenottengemeinden nicht mehr verstanden würde: Encore assez imparfaitement, pour la conversation, [on apprend la langue allemande, A. R.], comme on apprend les langues mortes. […]. Pour les Réfugiés qui n’ont pas eu ces raisons & ces occasions de parler allemand, on les a vus mourir dans l’âge le plus avancé, ne sachant que leur langue, ou même leur patois. Quelques uns d’entr’eux, quand on leur fasoit des reproches à ce sujet, repondoient: Que peut-on apprendre en cinquante ans. […] Je n’ignore pas que plusieurs causes ont diminué les troupeaux, & qu’une des principales est le mélange des deux Nations, qui a fait passer plusieurs membres de nos Eglises dans les Eglises Allemandes des villes, & encore plus de la campagne. Cette langue que les premiers Réfugiés ne pouvoient apprendre, a pris tellement le dessus que la langue maternelle à son tour est devenue inintelligible, & qu’en bien des endroits on ne peut plus s’en servir pour l’instruction des Catéchumes. 224 In den politischen Umwälzungen 1814 kam es zu einer für den Fortbestand der französischen Kirche entscheidenden Debatte zwischen den beiden französisch reformierten Pastoren David Louis Théremin und Jean Henry. Théremin 225 hatte in einer (bezeichnenderweise auf deutsch verfassten) Streitschrift die zentrale Frage aufgeworfen: Ist es aber vernünftig, daß dieser Gottesdienst in französischer Sprache noch fortdaure, wenn schon der größte Theil der Gemeinen von dieser Sprache nichts mehr verstehet und sich unmöglich in derselben erbauen kann? Betet man Gott an, wenn man nicht weiß, was man hört oder was man selbst spricht? 226 Die französische Sprache war nach Théremin damit zur reinen Gottesdienstsprache geworden: „im gemeinen Leben spricht sie schon Niemand mehr.“ 227 Gleichzeitig lehnt Théremin den Einsatz der französischen Sprache im Religionsunterricht ab. Der Lehrer sollte sich zu dem Gedanken-Kreise seiner Schüler herablassen, daraus seine Gleichnisse, seine Beispiele nehmen, wie es Jesus, unser höchstes Vorbild that; er muß, mit einem Wort ihre Sprache reden. Unsere Jugend lernt aber zuerst Deutsch sprechen; die französische Sprache ist fremd für sie. Soll sie in dieser den Unterricht bekommen, so muß sie während desselben nicht nur die Sachen, sondern auch die Sprache lernen. 224 Hartweg (1985), S. 7. 225 Vgl. dazu Bergerfurth (1993), in: Dahmen et al. (Hrsg.), S. 95-97. 226 Hartweg (1990), S. 39. 227 Ebd., S. 39. <?page no="89"?> 90 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Wie sehr wird ihr dadurch das Lernen schwer und unangenehm, das der Lehrer so viel Ursache hat, leicht, faßlich und anziehend zu machen. 228 Théremins Schrift hat angeblich Friedrich Wilhelm III. dazu ermuntert, seinerseits für die Beseitigung des Französischen einzutreten. 229 Jean Henry und eine Reihe Berliner Pastoren haben sich erfolglos für die Beibehaltung der französischen Sprache eingesetzt, denn die Berliner Kirchengremien gaben allmählich ihren Widerstand gegen die deutsche Sprache auf. Genauso erging es den übrigen preußischen Réfugiés- Gemeinden. So hatte sich deutsch als Gottesdienstsprache in den französisch-reformierten Gemeinden bis 1831 durchgesetzt. 230 I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen und die Auswirkung auf den Musikeinsatz im Unterricht I. 6. 1 Hauchecorne, Rochow und Basedow als Wegbereiter des Philanthropismus Hauchecorne spielt nicht nur eine wichtige Rolle als Theologe, sondern auch als Pädagoge und Erzieher. In seiner autobiographischen Schrift Ma carrière pédagogique de cinquante ans stellt er seinen pädagogischen Werdegang vor. Hauchecorne kann als einer der „umtriebigsten Pädagogen der französischen Kolonie“ bezeichnet werden. 231 Nachdem er das Französische Gymnasium in Berlin besucht hatte, studierte er Theologie am Séminaire und war als Repetitor für Griechisch in den höheren Klassen tätig. 232 Seine besonderen pädagogischen Fähigkeiten 233 bewies er als Katechet ( Ministre catéchiste ) der französisch-refor- 228 Vgl. Dahmen et al. (1993), S. 98. - Im gleichen Jahr erscheint darauf die (anonym) verfasste Replik von Jean Henry, dem Pastor der Französischen Kirche zu Berlin und Bibliothekar des Königs mit dem Titel Adresse aux Eglises Françoises des Etats Prussiens en réponse à l’écrit qui leur a été adressé en allemand cette année sous le titre d’Appel aux Communes Françoises de la Monarchie Prussienne par un de leurs plus anciens Pasteurs. Ebd., S. 90. 229 Vgl. Ursula F uhrich -g ruBert , Hugenotten unterm Hakenkreuz. Studien zur Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin 1933-1945. Berlin: de Gruyter 1994, S. 15 f. 230 Ebd., S. 16. 231 Böhm (2011), S. 304. 232 Vgl. Frédéric Guillaume h auchecorne , Ma carrière pédagogique de cinquante ans. o. O. 1820, 16 S., handschriftlich, im Archiv Französischer Dom Berlin unter der Signatur AFrD- 208 / 15. An. 233 Vgl. dazu Abb. 8, S. 104 und Manuela B öhm , Hugenottische Netzwerke in der Berliner Wissenschaft, Verwaltung und Kunst um 1800 (Böhm 2011b). In: Anne B aillot (Hrsg.), Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Bd. 1. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2011, S. 304. <?page no="90"?> I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 91 mierten Gemeinde und an der École de Charité , am Waisenhaus sowie als Privatlehrer und Erzieher, als Inspektor des hugenottischen Schullehrerseminars ( Pépinière des chantres et maîtres d’école ). Nach Prüfung durch das französische Generaldirektorium gründete er sein eigenes Erziehungsinstitut, das in seinem Haus untergebracht und auf die Erziehung von Knaben aus gehobenen Familien des europäischen Adels ausgerichtet war. 234 Unter seinen Schülern soll auch Heinrich von Kleist gewesen sein. 235 In dieser sogenannten Ritterakademie 236 wurden die Knaben in den Elementarfächern unterrichtet. Dieser Elementarunterricht ging weit über die Vermittlung der gängigen Bildungsrudimente hinaus. 237 Seine Lehrbücher zeigen bereits realienkundliche Inhalte. 238 In den höheren Klassen erfolgte eine Ausbildung entsprechend den beruflichen Vorstellungen der Zöglinge. Neben Latein, Französisch, Englisch, Deutsch, Geographie, Geschichte, Arithmetik, Zeichnen, dem Lesen nützlicher und geistreicher Bücher, Moral und biblischer Geschichte wurden unter anderem auch angewandte Mathematik, 239 Experimentalphysik, Schifffahrt, Mechanik, militärische Baukunst und Landwirtschaft unterrichtet. Das im Unterricht erworbene theoretische Wissen wurde durch Ausflüge, Reisen und praktische Übungen gefestigt. Es zeigen sich aufklärerische und reformpädagogische Elemente und Ansätze von Künstlerwerkstätten, die später in Kerschensteiners Arbeitsschule und der Waldorfpädagogik Anwendung finden: 240 Ich bin davon überzeugt, […], dass für den Staat der größte Vortheil daraus erwächst, wenn seine Bürger in ihrer Jugend die gehörige Anleitung zur Thätigkeit, zu guten Sitten und menschenfreundlichen [meine Hervorhebung, A. R.] 241 Gesinnungen erhalten haben. […]. Das Kind ist, wie die junge Pflanze, biegsam. Auch ohne harte 234 Vgl. Ludwig d uPuis , Ein Hugenottennachfahre im französisch besetzten Preußen (Berlin 1806-1809. In: Hugenotten. 62. Jahrgang Nr. 2/ 1998, Themenheft Berlin, S. 43-61. 235 Vgl. Hauchecorne (1820), S. 5-8. Im Anhang an Hauchecornes Schrift findet man eine Liste von 76 Schülern, die im Internat des Instituts wohnten (2.14-16). Nach Roosen (2008), S. 144, wurden die externen Schüler nicht namentlich aufgeführt. Kleist besuchte zwischen 1787 und 1788 die Anstalt. 236 Vgl. Böhm (2004), S. 304. 237 Vgl. Roosen (2004), S. 145. 238 Vgl. dazu Kuhfuß (2014), S. 443. 239 Hauchecorne beschäftigte elf Lehrer und unterrichtete selbst die humanistischen und mathematischen Wissenschaften. Vgl. Roosen (2004), S. 144. 240 So mietete Hauchecorne beispielsweise ein Grundstück, auf dem er alljährlich mit seinen Schülern eine kleine Festung baute, Angriffs- und Verteidigungsübungen veranstaltete sowie Exkursionen in die schlesischen Berge und an die Ostsee durchführte. Die geographischen Vermessungen Hauchecornes und seiner Schüler im Berliner Tiergarten wurden sogar vor der Akademie der Wissenschaften präsentiert. Vgl. Roosen (2004), S. 145. 241 Vgl. dazu die Definition zu den Philanthropen in Reinfried (1992), S. 56. <?page no="91"?> 92 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Strafen, vermittels eines auf Achtung und Ernst gegründeten Ansehens, kann man eine zahlreiche Jugend an einen Grad von Folgsamkeit und Gehorsam gewöhnen. 242 Bereits im obenstehenden Zitat wird Hauchecornes Nähe zu den Philanthropen 243 deutlich. Die Bewegung wurde von Johann Bernard Basedow initiiert, den Hauchecorne in Dessau persönlich kennen lernte. 244 Basedow hatte dort 1774 das berühmte Philanthropin gegründet, eine „Werkstätte der Menschenfreundschaft“. 245 Es handelt sich um eine Versuchsschule mit Internat, deren Entwicklung von der an pädagogischen Reformen interessierten Öffentlichkeit verfolgt wurde. 246 Die Philanthropen standen unter direktem Einfluss von Jean-Jacques Rousseaus Pädagogik vom Kinde aus, die mit seinem Émile ou de l’éducation „eine kopernikanische Wende“ 247 in der Entwicklung des Schulwesens und der Pädagogik markierten. 1774, im gleichen Jahr wie Basedow, gründete Hauchecorne sein Pensionat und wendete hier seine pädagogischen Konzeptionen an: Wie Basedow setzt Hauchecorne auf strenge Disziplin, aber auch auf Fröhlichkeit und Kameradschaft. Die Leistungen sollten nicht durch Drohungen und Strafen gesteigert werden, sondern durch Lob und Freude am Unterricht. Nicht nur das theoretische Wissen, sondern die praktische Erfahrung im Umgang mit Realia und eigener Tätigkeit, Erkenntnissen und Erfahrungen durch Ausflüge in die Natur, Sport und die Aneignung nützlichen Wissens wurden zu Eckpfeilern in der Elementarbildung der Kinder. 248 Aufklärerische Pädagogik sollte eine Antwort auf politisch-soziale Probleme geben. So entwickelte der Aufklärungspädagoge und Schulreformer Friedrich Eberhard von Rochow eine reformorientierte Pädagogik und Schulpolitik mithilfe seines Konzepts einer „rationalen Elementarbildung für den ‚gemeinen Mann‘ auf dem Lande und errichtete auf seinem Gut Reckahn eine Musterschu- 242 Frédéric Guillaume h auchecorne , Nachricht von seiner Erziehungsanstalt in Berlin . (Hauchecorne 1794b). Berlin: G. F. Starcke 1794, S. 7 f. 243 Vgl. dazu Reinfried (1992), S. 56-86. 244 Hierbei erkennt man bereits einen Verweis auf Hauchecornes Nähe zu den Philanthropen. 245 Vgl. Reinfried (1992), S. 56. 246 Siehe ebd. - Das in Basedows Vorstellung an Menschenfreunde entworfene Plädoyer für eine Reform des Bildungswesens wird von Theodor Fritzsch, einem erziehungswissenschaftlichen Pionier, sogar mit Luthers Sendschreiben verglichen, wobei ihm eine geradezu missionarische Rolle zugewiesen wird. (Siehe Reinhard s tach , Schulreform der Aufklärung. Zur Geschichte des Philanthropismus. Heinsberg: Dieck 1984, S. 7.). 247 Vgl. dazu Ulrich h ermann , Die Philanthropen - Das „pädagogische Jahrhundert“. In: Hans s cheuerl (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik. Erster Band - Von Erasmus von Rotterdam bis Herbert Spencer. München: Beck 1979, S. 136. 248 Vgl. Roosen (2004), S. 147. <?page no="92"?> le. 249 Rochows pädagogische Konzeption bot neben der Elementarbildung im Lesen, Schreiben, Rechnen sowie dem Katechismus vor allem praktische handwerkliche Tätigkeiten, durch die die Kinder zu Arbeitsamkeit, Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit erzogen wurden. Ein bisher noch wenig berücksichtigter Aspekt ist Rochows Wertschätzung des Singens als Teil der Elementarbildung. Auch die Mädchenbildung wurde gefördert. In den Mädchenschulen sollten die künftigen Vorsteherinnen des Hauswesens die nötigen Kenntnisse der Hauswirtschaft erlernen. 250 1776, also zwei Jahre nach Eröffnung des Basdowschen Philantropins und von Hauchecornes Pensionatsschule erscheint von Rochows Kinderfreund. 251 Schon im Titel wird die Rousseausche Konzeption des Autors deutlich. Hauchecorne überträgt das pädagogische Werk zusammen mit dem hugenottischen Pfarrer Samuel Henri Catel ins Französische. Es erscheint 1778 in Berlin in der französischen Kolonie bei Starcke unter dem Titel L’Ami des enfans à l’usage des écoles in zwei Bänden. Die französische Version sollte als Lehr- und Lesebuch kostenlos verteilt werden an die Kinder der Maison des orphelins und der École de la Charité in Berlin: „Notre but étoit de leur offrir [aux enfants, A. R.] à la fois un manuel de lecture & un cours de Morale pratique, proportionné à leur âge & à leur capacité.“ 252 Das Lehrbuch beginnt mit einer Gebetsammlung für Kinder: 1. Prière pour les enfans, 2. Prière avant le repas, 3. L’enfant sincère und kurzen Geschichten und Parabeln. Am Ende schließt sich ein Psalm, ein Bibelspruch oder eine Moral in der Tradition des Exemplums an. In 4. La fille d’enfans geht es um die soziale Empathie der maîtresse d’école , die ein armes Mädchen kostenlos unterrichtet: 249 Rochow eröffnete ein Jahr vor Basedows Dessauer Philanthropin seine Versuchsschule auf seinem Gut in Reckahn. Rochows Schule gilt als erste „philanthropische Musterschule“, die eine flächendeckende Alphabetisierung aller Schulkinder der ländlichen Region ermöglichte. Dabei wurde diese Schule in Reckahn zur Pilgerstätte. Unter den Besuchern waren auch die Lehrer des Dessauer Philanthropins. Vgl. dazu Hartmut s chröder , Lehr- und Lernmittel in historischer Perspektive: Erscheinungs- und Darstellungsformen anhand des Bildbestands der Pictura Paedagogica online. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008, S. 31 f. 250 Vgl. Hermann (1979), S. 139. 251 Vgl. Friedrich Eberhard von r ochow , Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauche an Landschulen. Brandenburg: Gebrüder Halle 1776. 252 Vgl. Friedrich Eberhard von R ochow , L’ami des enfans à l’usage des écoles. Traduit par Hauchecorne et Catel, Ministres de l’Eglise françoise de Berlin. Berlin: George Frédéric Starcke 1778, S. III. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 93 <?page no="93"?> 94 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Dieu veut que nous ayons compassion des pauvres, & le plus grand bien qu’on puisse faire à quelqu’un, c’est de l’instruire. Depuis ce tems elle envoya régulièrement la jeune fille à l’école, pendant quelques heures de la semaine, & plus elle s’instruisoit, plus elle travailloit avec ardeur & fidélité. 253 Im letzten Absatz folgt dann das Bibelzitat, mit dem der Leser, also das Schulkind direkt angesprochen werden soll: „Aye soin non seulement de tes propres enfans, mais des enfans d’autrui. Prov. XIX. 17.“ 254 Das Leben auf dem Gut Reckahn stellt einen pädagogischen Gegenentwurf zur traditionellen Schule dar. Es sollte eine freie, kindgerechte Erziehung ermöglichen mit dem Ziel, die Schüler glücklich 255 zu machen, unabhängig von der finanziellen Situation der Familie. Hauchecorne schreibt dazu in seiner Préface zu seiner Übersetzung in L’ami des enfans: Mr. de Rochow […] rend heureux ses justiciables, & goute la volupté pure du séjour de la campagne. 256 Persuadé que le moyen le plus efficace de contribuer à la perfection successive des hommes, 257 est celui d’éclairer les classes inférieures & de procurer aux cultivateurs le bienfait inestimable d’une instruction populaire & rélative [sic] à leur destination future, il a établi des écoles gratuites dans ses terres; il a composé plusieurs livres classiques, & dirige lui-même les maîtres qu’il employe. 258 Hauchecorne verweist darauf, dass Rochows Lehrbuch sowohl im Muttersprachals auch Fremdsprachenunterricht angewendet werden kann. Deshalb empfiehlt er auch kontrastive intertextuelle und interkulturelle Vergleiche, bei denen sich die Schüler individuell korrigieren können: [La traduction] pourra servir aux François & aux Allemands de texte également agréable & utile pour les traductions; on sait combien cet exercice est indispensable, si l’on veut connoitre à fond le génie & les beautés d’une langue. Notre petit livre pourra procurer cet avantage aux enfans de l’une & de l’autre nation. On fera tour-à-tour 253 Ebd., S. 3. 254 Ebd. 255 Die Frage nach dem Glück stand im Zentrum der philosophischen Debatte des 18. Jahrhunderts als Siècle des Lumières bei Montesquieu, Voltaire und Rousseau. Vgl. dazu Robert m auzi , L'idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIII e siècle , Paris: Armand Colin 1997. 256 Intertextuelle Bezüge zum 1759 erschienenen conte philosophique Candide von Voltaire werden deutlich. Rochow versucht auf seinem Gut, Voltaires Maxime „Il faut cultiver notre jardin“ in die Tat umzusetzen. 257 Meine Hervorhebungen, A. R. Das pädagogische Ideal der Vervollkommnung des Menschen, durch Bildung und Erziehung „se cultiver“ klingt an. 258 Rochow (1778), Préface, S. I f. <?page no="94"?> usage & de l’original, & de la version, & l’on pourra même alors, sans le secours d’un maître, rectifier ses fautes à l’aide de ces deux écrits. 259 Teilweise werden bestimmte Kapitel des ersten Bands durch Realien bezeichnet, wie beispielsweise Brennglas, Magnet, Globus. Rochow ist davon überzeugt, dass die Vermittlung von Unterrichtsinhalten ohne die Verwendung von Realia nicht kindgemäß sein kann: „Ohne Vergrößerungsglas, welches doch nur sehr einfach seyn darf, Magnet, Globus, und das Bild […] möchten diese Zwecke schwerlich erreicht werden.“ 260 Die Verbindung von Theorie und Praxis zeigt sich in der utilitaristischen Verwendung von Realien. 261 Der zweite Band enthält u. a. nachgestellte Unterrichtssequenzen (21. Frage eines Schulkindes an seinen Lehrer ), Rätsel mit Bezügen zu entsprechenden Bibelstellen (1. Enigme ) . Bestimmte Tugenden werden in der Überschrift, in einer kurzen Geschichte, oft als Exemplum, vorgestellt. Es folgt die Moral anhand eines Bibelspruchs mit exaktem intertextuellen Verweis auf die Bibelverse. 262 Dabei ist ein intertextueller Vergleich der deutschen Originalversion mit der französischen Übertragung von Hauchecorne aufschlussreich. In 98 . Der Abschied / 102. Les Adieux verabschiedet sich der Maître d’École von seinen Schülern, die es bedauern, dass sie ihm nicht genug Freude bereitet haben. 263 „S’il pouvoit être témoin du bonheur qui sera la suite de notre docilité à ses instructions! “ 264 Der Lehrer appelliert an die Emanzipation der Schüler und das eigenverantwortliche, lebenslange Lernen, das die individuelle Grundlage für das persönliche Glück jedes Einzelnen darstellt: Le Maître vous intéressoit plus que les préceptes. Maintenant que je vous quitte, vous serez obligés de penser vous mêmes, & ce sera votre bonheur. Je pars, mais mes instructions ne vous quittent point; elles vous seront plus utiles que ma présence, si vous avez soin d’en faire l’objet de vos réflexions fréquentes, de les retracer souvent à votre mémoire, & de les appliquer à votre conduite. Jean, XVI. 7. 265 259 Ebd., S. III. 260 Rochow (1776), S. 4, und Schröder (2008), S. 34. 261 Vgl. dazu Schröder (2008), S. 31. 262 Zum Beispiel: 11. L’amour du prochain . In: Friedrich Eberhard von r ochow , L’ami des enfans à l’usage des écoles. Tome second . Traduit par Hauchecorne et Catel, Ministres de l’Eglise françoise de Berlin. Berlin: George Frédéric Starcke 1785, S. 15 f. 263 Ebd., 98 . Der Abschied, S. 99. 264 Ebd., 102. Les Adieux, S. 166. 265 Es folgt ein intertextueller Bezug auf Johannes 16, 7. Eine Analogie zwischen Lehrer und Klasse sowie Apostel und Gemeinde wird deutlich: „Cependant, je vous dis la vérité : il vaut mieux pour vous que je m’en aille. En effet, si je m’en vais, je vous l’enverrai.“ Vgl. Anonym, La Bible Louis Segond 21. Genf: Société Biblique de Genève 2007, S. 1213. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 95 <?page no="95"?> 96 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht In der französischen Version folgt thematisch darauf 103 . Cantique sur le chant du Psaume LXXXVI. Diese Version wurde im Anschluss an die Textarbeit zu 102. Les Adieux in der Klasse auf französisch gesungen. Gleichzeitig werden wesentliche Elemente der Parabel wieder aufgenommen: Ô toi qui nous donnas l’être, Dieu des cieux! Ô mon bon maître! Quand mon cœur s’élève à toi, Ne t’éloigne point de moi. Je bénis la Providence, Qui si sagement dispense Ses dons à tous les humains, Les ouvrages de ses mains. 266 Damit endet die französische Version. Im deutschen Original werden exemplarisch fünf Lieder dargestellt, bei denen die schwere Arbeit der Menschen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten gezeigt wird. Trotz der mühseligen Arbeit und des entbehrungsvollen Lebens sind die Menschen glücklich und preisen Gott: 99 . Morgenlied einer frommen Magd, 100 . Morgenlied eines frommen Knechts, 101. Lied des frommen Sämanns, 102 . Lied des frommen Tageloehners . 267 Ein Großteil der Texte wird als Vater-Sohn-Gespräch präsentiert. Diese auf den Dialog aufbauende Gesprächsführung in Form des sokratischen Gesprächs ist ein zentrales Element philanthropischer Schriften, Rochows Kinderfreund orientierte sich an diesem entwickelnden Unterrichtsgespräch als Vermittlungsform: „Die Popularität der von ihm reformierten Reckahn’schen Landschule basierte nicht zuletzt auf der sehr geschickten Gesprächsführung der dort tätigen Lehrer, über die begeistert und wirkungsvoll berichtet wurde.“ 268 Die Philanthropen schätzten die sokratische Methode als „Mittel der Verstandes- und Vernunftbildung, sahen jedoch auch, dass sie nur bei einer kleinen Zahl von Schülern funktionieren konnte […].“ 269 Rochow folgte wie Basedow, Wolke, Hauchecorne oder Salzmann der in der Aufklärungszeit aufkommenden Idee einer Sokratik für Kinder, die freilich nur schwer umzusetzen war, da solch ein Gespräch eine demonstratio ad hominem darstellte, in der nicht die Denk- 266 Rochow (1778), S. 167. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 267 Rochow (1776), S. 163-168. 268 Marcelo c aruso , Geist oder Mechanik. Unterrichtsordnungen als kulturelle Konstruktionen in Preußen, Dänemark (Schleswig-Holstein) und Spanien 1800-1870. Frankfurt am Main: Peter Lang 2010, S. 104. 269 Ebd., S. 103. <?page no="96"?> inhalte, sondern die Gedanken der an der Unterredung teilnehmenden Personen bestimmend waren.“ 270 In einigen Parabeln wurden Kirchenlieder eingebettet, bei denen komplexe soziale und moralisch-ethische Zusammenhänge kindgemäß nahegebracht werden sollen. Ich führe die deutsche und französische Version nebeneinander auf. 271 270 Ebd., S. 104. Vgl. dazu auch Otto w illmann , Sokratische Methode. In: Wilhelm r ein (Hrsg.), Encyclopädisches Handbuch der Pädagogik . Bd. VIII. Langensalza: Beyer & Mann 1908, S. 646 f.: „Insofern die Begriffe Analyse und Synthese auch der Didaktik angehören, ist die sokratische Methode auch als Unterrichtsweise charakterisiert, wenn sie als analytisch bezeichnet wird; doch hat sie einen spezifisch didaktischen Zug, indem sie nicht bloß, wie alle Analysis vom einzelnen ausgeht, sondern von dem, was dem zu belehrenden Mitunterredner am nächsten liegt. Sie knüpft an dessen Gedankenkreis an; die sokratische Erörterungsweise ist meist eine demonstratio ad hominem; nicht Denkinhalte überhaupt, sondern die Gedanken des jetzt und hier an der Unterredung teilnehmenden Freundes sind Gegenstand der Bearbeitung.“ Hanno Schmitt nennt Heinrich Julius Bruns wie seinen Förderer Rochow „Meister des sokratischen Gesprächs“ (meine Hervorhebungen in Fettdruck): „Durch dieses wußte er Vernunft in den Herzen seiner Kinder zu wecken. Bruns’ Anknüpfungspunkte waren vor allem die überaus reichen und wertvollen Erfahrungen seiner Bauernkinder. Durch seine Unterrichtsfragen wußte er an diese Erfahrungen anzuknüpfen und die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu fesseln, zu unterhalten und dadurch zum Nachdenken anzuregen. Die pädagogischen Erfolge der sokratischen Gesprächsmethode beruhen bis heute auf der Einsicht, daß in jeder ratlos suchenden Haltung die Gewähr dafür liegt, daß der Geist des jungen Menschen vorwärtsdrängt. […]. Angestrebt wurden […] lebendige Bildungsprozesse. Lehren bedeutete bereits bei Bruns nicht einfach den Unterrichtsstoff zu übermitteln, sondern eine lebendige Bereitschaft bei den Kindern zu wecken . Lernen bekam damit einen neuen, bis auf unsere Tage utopischen Sinn. Nicht mehr gedächtnismäßige Einprägung überlieferter Unterrichtsinhalte, sondern die Weckung der lebendigen Bereitschaft zum Lernen wurde Hauptaufgabe des Unterrichts.“ (Vgl. Hanno s chmitt , Ein Meister des sokratischen Gesprächs. Heinrich Julius Bruns (1746-1794): Dorfschullehrer an der Rochowschen Musterschule in Reckahn. In: PÄD Forum 24, Dezember 1996, S. 541. 271 In der französischen Version werden auch die Vornamen französiert: aus Wilhelm wird Guillaume, aus Klaus wird Claude und der arme Vetter Carl zu Charles. Im Original will Klaus nicht auf „Bier, oder Kaffeh und Kuchen“ verzichten, in Hauchecornes Übertragung „il lui falloit du vin, du café, du gâteau…“ Vgl. 20 . Die Kunst, ohne Reue froehlich zu sein . In: Friedrich Eberhard von r ochow , Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauche an Landschulen. Brandenburg: Gebrüder Halle 1779, S. 27 f. und 20 . Les plaisirs innocents . In: Rochow (1785), S. 27 f. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 97 <?page no="97"?> 98 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht 20. Die Kunst, ohne Reue froehlich zu sein Klaus konnte den ganzen Fruehling hindurch Blumen sehen, Nachtigallen schlagen hoeren, die schoensten Kornfelder durchwandeln, und ihm kam auch nicht ein froher Gedanke in den Sinn. Wenn er froh werden sollte, so mußte Bier, oder Kaffeh und Kuchen da seyn - er mußte im Spiele gewinnen, oder den besten Rock in der Gesellschaft anhaben - oder es mußte ein einfaeltiger Mensch gegenwaertig seyn, den er aufziehen konnte. Einst ging er ueber ein kleines Feld an einem Orte zu Gaste, und sah, wie gewoehnlich, gedankenlos vor sich nieder. Da fand er seinen armen Vetter Carl vor einem wilden Apfelbaume, der eben in voller Bluethe stand. Er sang mit leiser Stimme den Vers: „Mich ruft der Baum i n seiner Pracht! „Auch mich, auch mich hat Gott gemacht! „Gebt unserm Gott die Ehre.“ 272 Und weinte vor freudiger Empfindung des allguetigen Schoepfers. „Wie kannst du dich über einen Baum so freuen? “ sagte Klaus muerrisch zu Carl, der ihn nun mit froher und wohlwollender Seele grueßte. „Ey, lieber Vetter! (antwortete Carl), wenn es nicht wohlfeile Freuden gaebe, wo wollte ich Armer welche hernehmen? Ich kann keine Freuden bezahlen. Aber darum habe ich Gott so lieb, daß er auch fuer uns Arme Freuden bereitet hat - Denn ich kann ohne Kosten und ohne Reue froehlich seyn. 20. Les plaisirs innocents Claude n’éprouvoit aucun sentiment de joie à la vue des fleurs du printemps & du vert naissant des campagnes. Le rossignol chantoit en vain pour lui. Pour réjouir son cœur, il lui falloit du vin, du café, du gâteau. .. il falloit que la fortune le favorisât au jeu, ou qu’il fut le mieux habillé de la compagnie. […] ou qu’il se trouvât un pauvre imbécile, qu’il pût tourner en ridicule. Dans ces occasions Claude étoit gai & content. Un jour, qu’il traversoit une petite étendue de champs labourés, pour se rendre à un festin, & qu’à son ordinaire il marchoit, sans penser à rien; il trouva un de ses pauvres cousins, appelé Charles qui considéroit un pommier sauvage en fleurs. Charles chantoit tout bas ce vers d’un cantique: L’arbre s’écrie en sa beauté Célébrez un Dieu de bonté! Car je suis son ouvrage. & des larmes de joie & de reconnoissance couloient le long de ses joues … „Comment est-il possible de se réjouir à la vue d’un arbre dit Claude, en l’interrompant brusquement? “ Charles, après l’avoir salué affectueusement lui répondit: „Mon cher Claude, s’il n’y avoit pas des plaisirs qui ne coûtent rien, comment pourrois-je m’en procurer dans mon indigence? Je n’en puis pas payer : mais Dieu qui nous aime & que j’aime à mon tour, nous 272 272 Meine Markierungen der gesungenen Psalmenversion auf deutsch und französisch stehen in Fettdruck. Die Orthographie der beiden Ausgaben in der Originalversion wurde hier übernommen. <?page no="98"?> Aber es ist eine ordentliche Kunst.“ „Nun, was ist das denn fuer eine? “ sprach Klaus. „Das ist sie, wenn du mich hoeren willst,“ antwortete Carl: „Ich sehe alles recht an, was da ist; Großes und Kleines, was Gott gemacht hat, und finde alle Tage was Neues und Schoenes. Dann denke ich nach, warum, und wozu dieses und jenes wohl da seyn, oder wozu es wohl nuetzen mag? Und wenn ich dabey der Weisheit des Schoepfers zuweilen auf die Spur komme, dann kann ich gleich mit meinen eigenen Worten bethen; weil ich von der Allmacht, Weisheit und Guete Gottes alsdann ganz durchdrungen bin. Und so geh’ ich mit Vorsaetzen, dem Allguetigen zu gefallen, munter und froh an meine Arbeit.“ „Lebe wohl! “ sprach Klaus, und ging fort. 2. Kor. 13, 11. 1. Thess. 5, 16. 18. a aussi préparé des plaisirs, à nous autres indigens. Je puis être gai & heureux sans frais & sans remords. Je considère tout ce qui existe autour de moi; depuis les choses les plus grandes jusqu’aux plus petites; en un mot, tout ce que Dieu a fait, & tous les jours je découvre de nouvelles beautés? Je me demande alors, quel est l’usage & le but de toutes ces choses? & après avoir longtemps réfléchi, je parviens quelquefois à entrer dans les vues de la sagesse divine; & pénétré de la Puissance, de la Sagesse & de la Bonté de mon Dieu, je lui adresse une prière que mon cœur me dicte au moment même. Plein de ces idées & de la résolution de plaire au souverain Bienfaiteur des hommes, je retourne à mon ouvrage avec ardeur & sérénité! Claude lui dit froidement adieu & s’en alla. 2 Cor. XIII, 11. 1 Thess. V, 16. 18. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 99 <?page no="99"?> 100 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Der (von mir hervorgehobene) Psalm steht im Zentrum des Texts und bildet sowohl inhaltlich als auch typographisch dessen Herzstück. Intertextelle Bezüge bestehen zu Psalm 1,3: „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht; und was er macht, das gerät wohl.“ 273 Die französische Version ( Bible Segond 21 ) lautet: „Il ressemble à un arbre planté près d’un cours d’eau.“ 274 Im Berliner Hugenottenpsalter Les Pseaumes de David en Vers avec des prières aux dépens de la Compagnie du Consistoire (Abb. 7) findet man die leicht veränderte gereimte Version in der 2. Strophe des Psaume I: Tel que l’on voit un arbre toujours beau, Qui fut planté sur les bors d’un ruisseau, Et qui ses fruits en leur saison rapporte, Sans que jamais sa feuille tombe morte: Tel est le juste, & tout ce qu’il fera, Béni d’en haut, toujours prospérera. 275 Es handelt sich also um ein wichtiges biblisches Gleichnis zu Beginn des Psalters, das in der französischen Ausgabe Louis Segond mit der Überschrift Deux hommes, deux destinées 276 verbunden ist. Der Weg des Frommen - der Weg des Gottlosen wird also anhand eines Exemplums für die Kinder vorgestellt. Hauchecornes französische Übertragung präzisiert und interpretiert. In der Rochowschen deutschen Originalversion lässt sich die egoistische, herrschsüchtige Figur Klaus durch das Exemplum der Dankbarkeit und des Fröhlichseins vor Gott seines armen Vetters Carl nicht überzeugen. Das wird bei Rochow stilistisch durch ein lakonisches „Lebe wohl! “ sprach Klaus, und ging fort. dargestellt. In der Hauchecorneschen Übertragung unterstreicht das moralisch-gefühlsbetonte Adverb „froidement“ und das kursivgedruckte „adieu“ die pädagogisch-didaktische Absicht. Der Verweis auf die Bibelverse des Neuen Testaments am Schluss des Texts ist nicht nur als Quellenangabe zu verstehen, sondern als Illustration der Moral, die durch die exemplarischen Eigenschaften von Carl / Charles zusammengefasst und allegorisch exemplifiziert werden: 273 Vgl. zur deutschsprachigen Version Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999, S. 222. 274 La Bible Louis Segond (2007), S. 629. 275 Les Pseaumes de David en Vers avec des prières aux dépens de la Compagnie du Consistoire. Berlin: G. J. Decker, Imprimeur du Roi 1783, S. 6. 276 La Bible Louis Segond (2007), S. 628. <?page no="100"?> Seid allzeit fröhlich Seid dankbar in allen Dingen; Denn das ist der Wille Gottes In Christus Jesus an euch. […] freut euch laßt euch zurechtbringen, laßt euch mahnen habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Soyez toujours joyeux (1 Thess 16) exprimez votre reconnaissance en toute circonstance, car c’est la volonté de Dieu pour vous en Jésus-Christ. […] soyez dans la joie, (2 Cor. XIII, 11) travaillez à vous perfectionner, encouragez-vous, vivez en plein accord dans la paix, et le Dieu d’amour et de paix sera avec vous. Hiermit wird die Topikkette „Freude“, „fröhlich“, „plaisirs“, „innocents“ wieder aufgenommen. Parallelen zum Aufbau einer Predigt und Bibelexegese werden deutlich. Diese Tradition ist typisch für das frühe 18. Jahrhundert. So wurden als Lehrmaterialien kaum Schulbücher verwendet, sondern in der Tradition des Bibelunterrichts die Heilige Schrift und Nacherzählungen biblischer Geschichten. 277 Für Rochow und Hauchecorne waren die damaligen Schulbücher unzulänglich: „Es scheint mir ganz unnötig, hier zu wiederholen, was nun endlich allgemeiner geglaubt zu werden scheint, daß die Bibel, so ehrwürdig sie auch ist, doch kein zweckmäßiges Lesebuch für diese erste Schulzeit sei.“ 278 Rochow schrieb im „Vorbericht“, einer Art „Einleitung“ zur Funktion des Buchs Kinderfreund : „Uebrigens hat der Verfasser geglaubt, daß dieses Buch so lange, bis ein besseres da ist, geschickt sey, die große Lücke zwischen Fibel und Bibel auszufüllen.“ 279 Albert Reble stellt dazu fest: „Wie Comenius’ Orbis pictus der Urahn aller Bilderbücher ist, so stellt Rochows ‚Kinderfreund‘ den Urahn aller Schullesebücher dar.“ 280 1789, also vier Jahre nach Rochows Kinderfreund, erscheint mit Hauchecornes Lectures pour la jeunesse 281 ein realienkundliches Lehrbuch, das ab 277 Vgl. die Kapitel I. 3, 4, 5 in der vorliegenden Arbeit und Kuhfuß (2014), S. 443. 278 Friedrich Eberhard von r ochow , Vom Nationalcharakter durch Volksschulen (1779/ 1907). In: Fritz J onas (Hrsg.), Friedrich Eberhard von Rochows sämtliche pädagogische Schriften. Berlin: Reimer 1907, S. 338. Zitiert in Schröder (2008), S. 32. 279 Vgl. Rochow (1776), S. 4 und Schröder (2008), S. 33. 280 Vgl. Albert r eBle , Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett 1951, S. 157. 281 Die meisten Bücher Hauchecornes sind nicht mehr erhalten. Band 1 ist in der Kinderbuchabteilung der Staatsbibliothek Berlin, Westhafen vorhanden, Band 2 in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Band 3 konnte ich durch eine Auktion erwerben. Die Bände 4 und 5 sind verschollen. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 101 <?page no="101"?> 102 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht 1790 im Französischunterricht eingesetzt wurde. 282 Hauchecorne stellt in seinem fünfbändigen Werk das Wissen seiner Zeit in der Tradition der Enzyklopädisten kindgemäß dar. Dazu nutzt er wiederum die Dialogform als Form des katechisierenden Gesprächs. Tome I beginnt mit einem entretien zwischen einem Vater und seinen Söhnen über Les Plantes Botaniques . In einem 24-seitigen Gespräch stellt der Vater die wichtigsten Pflanzen kindgerecht vor mit viel Poesie: Le père […] L’aspect de ces plantes n’est ni aussi riant, ni aussi varié que celui des fleurs; mais leur existence est plus utile, 283 elle intéresse davantage l’humanité; et, sous ce rapport, elles sont bien dignes de fixer toute notre attention. Les fleurs semblent créées pour ajouter un nouveau charme aux jouissances de l’homme; celles-ci pour le soulager dans ses douleurs […]. Le cadet . A ce compte il y a donc ici vingt classes de plantes botaniques; car je viens de compter ce même nombre de planches. Le père . Cela est vrai. Lisez maintenant les petites inscriptions qui sont posées à la tête de chaque planche, et vous saurez quelle est la vertu des plantes qui croissent. 284 Wesentliche Elemente des Philanthropismus werden deutlich: Es handelt sich um ein entdeckendes Lernen, die Empathie mit den Kindern wird deutlich durch das Beachten der Altersstufenspezifik und Individualität des Kindes. Anhand der Realia wird die Anschaulichkeit des Unterrichts unterstrichen. Hauchecorne vermittelt durch die Person des Le père die vertrauensstiftende Lehrperson (in seiner religiösen Doppelrolle). Die Pflanzen werden auf französisch beschrieben und da es ein Französischlehrbuch für deutschsprachige Lerner ist, folgt der Fachbegriff in Klammern auf deutsch: 1° Commençons par la planche qui contient les plantes pectorales ou béchiques. Là sont, le capillaire ( Mauerraute ), qui se plaît dans les lieux pierreux et humides; on confond sous ce nom trois ou quatre espèces de fougères, dont la fructification est à la partie inférieure des feuilles; on en fait un sirop pectoral. 285 Die Dialoge zwischen Vater und Söhnen werden durch enzyklopädische Texte ergänzt: In weiteren entretiens werden Principales découvertes faites en Euro- 282 Vgl. dazu Böhm (2010), S. 459. 283 Vgl. die Nähe zu Rochows utilitaristischer Verwendung von Realien. 284 Frédéric Guillaume h auchecorne , Lectures pour la jeunesse. Tome I (Hauchecorne 1790a) . Berlin: G. F. Starcke 1790, S. 3 f. 285 Ebd., S. 4. <?page no="102"?> pe depuis quelques siècles 286 dargestellt wie die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die Erfindung des Biers, des calcul différentiel von Leibniz, die Erfindung des Porzellans (u. a. „La porcelaine de Saxe […] inventée en 1706 par le baron de Bötticher“ 287 ). Handwerkerkünste wie Holzschnitt werden anhand von Dürers Holzstichen vorgestellt, Musikinstrumente wie „L’ Harmonica, cet instrument de musique; composé de cloches ou tasses de verre, dont les sons inimitables approchent beaucoup de la voix humaine, est de l’invention du célèbre Franklin, établi en Pensilvanie.“ 288 Des Weiteren werden einige Spiele dargestellt, wie das jeu d’oie 289 und das Schachspiel, das mit der Musik verglichen wird: Il y a de grands musiciens qui sont en même tems grands joueurs d’échecs. Peutêtre existe-t’-il plus de ressemblance qu’on ne croit entre les échecs et la musique. Il n’y a de chaque côté que 16 pièces aux échecs, dont 8 principales et 8 subalternes; et l’échiquier sur lequel elles se promènent n’est que de 64 cases. Il n’y a de même que 6 à 7 tons dans la musique, 12 ou 13 sons qui s’arrangent sur 5 lignes. En les combinant, on exécute la musique la plus difficile, comme on fait des coup variés sur un échiquier de peu d’étendue avec un petit nombre d’échecs. 290 Hauchecorne hatte schon vor seiner ersten Pfarrstelle an der Friedrichstadtkirche in Berlin (1783-1822) erste Privatschüler. Im Archiv Französischer Dom Berlin habe ich in Hauchecornes Nachlass ein unveröffentlichtes Lieder-Buch 1814-1820 gefunden. Das handgeschriebene Büchlein sieht wie ein Tagebuch aus, es enthält verschiedene Liedtexte und auch handgeschriebene Noten, Wiegenlieder, die eventuell selbst komponiert wurden. Mehrere Lieder sind in einer Interlinearversion (linke Seite französisch, rechte Seite deutsch) dargestellt. Als Thema wählt Hauchecorne vor allem (philanthropische) Tugenden wie Fidélité / Treue (Abb. 8), 291 kindgemäße Empathie ( Wiegenlied ) und Bezüge zu Reformation und Spiritualität Das neue Leben . 292 286 Ebd., S. 32-79. 287 Ebd., S. 69. 288 Ebd., S. 53. 289 Ebd., S. 107-117. 290 Ebd., S. 111. 291 Vgl. Archiv Französischer Dom Berlin , Signatur AFrD. Rep 04-NL III, Nr. 4 . Berlin 1814- 1820, S. 11f. - Ich danke Herrn Robert Violet vom Archiv des Französischen Doms herzlich für seine wertvollen Hinweise zu Hauchecorne. 292 Am Ende der Liedersammlung befindet sich ein dreiseitiges Liederverzeichnis unter dem Titel Rondo. Vgl. Frédéric Guillaume h auchecorne , Liederbuch (1814-1820) . Manuskript, o. O., S. 47-49. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 103 <?page no="103"?> 104 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Abb. 8: Frédéric Guillaume h auchecorne , Liederbuch (1814-1820) . Manuskript, o. O., S. 11 f. Archiv Französischer Dom Berlin , Signatur AFrD. Rep 04-NL III, Nr. 4 . Tome II der Lectures pour la jeunesse ist als Sammlung von Reiseerzählungen konzipiert. Der Vater als Ich-Erzähler reist mit seinen Kindern durch Preußen, Franken, Bayern und Sachsen, wobei er geographische und soziokulturelle Besonderheiten beschreibt: z. B. Voyage dans le Cercle de Ruppin, Frédéric II. Dans une Église de village, Le Roi & le chef de file du régiment de Bernburg, Anecdotes concernant quelques métiers, Voyage en Franconie. Auf dieser Reise kommen die <?page no="104"?> Protagonisten nach Dessau 293 und beurteilen die Philanthropen nicht ohne Kritik. Damit wird Hauchecornes pädagogisch-didaktische Einschätzung deutlich: Le Philanthropin institué par Mr. Le Prof. Basedow & généralement connu dans toute l’Europe m’intéressoit particulièrement. Cette fondation indépendamment des secours qu’elle offre encore actuellement à la jeunesse aura toujours le mérite d’avoir dans son origine réveillé l’attention de tous ceux qui sont chargés du soin de l’éducation. On ne peut pas nier que cet objet se soit perfectionné depuis quelques années; il y a peut-être eu des gens qui ont été trop loin dans les réformes & qui pour faire disparoître quelques défauts ont renversé le tout. Ceux qui ont proposé les réformes ne sont pas responsables de l’excès auquel d’autres les ont portées. L’éducation de la jeunesse 294 sera toujours redevable à Mrs. Basedow, Campe, Wolcke [sic] des améliorations qu’elle a reçues dans plusieurs contrées & la postérité n’oubliera pas que le Prince de Dessau a consacré des sommes considérables à une entreprise aussi utile à l’humanité. 295 Der Ich-Erzähler beschreibt mit dem Lernumfeld die personelle und räumliche Ausstattung des Philanthropins: „Il y a actuellement vingt à trente Elèves au Philantropin, ils y reçoivent les leçons de plusieurs Professeurs & Maîtres. Le bâtiment est spacieux, propre, bien aëré, & l’inspection particulière des Elèves est partagée entre plusieurs Maîtres.“ 296 In den Pausen können sich die Kinder in einem Garten erholen. 297 Auch sportliche Aktivitäten sind in der Pause vorgesehen. 298 Charakteristisch sind Solidarität und Altruismus, die sich aus der christlichen Religion speisen. Dabei tauchen die Begriffe plaisir und bonheur 299 als Leitthemen wieder auf. Eine wichtige Rolle dabei spielt der Gesang im Philanthropin beim Gottesdienst: Dans un autre voyage que je fis à Dessau il y a deux ans, j’eus occasion d’assister pendant toute une matinée aux leçons que les Maîtres avoient soin de rendre intelligibles pour les enfans. Cette fois-ci, nous assistâmes au service Divin où nous entendîmes Mr. Du Toit expliquant aux Elèves rassemblés dans la grande salle le devoir de prendre plaisir au bonheur d’autrui. Pour leur rendre les exercices de piété plus 293 Suite du voyage en Franconie. Dessau. Le Philanthropin. In: Frédéric Guillaume h auche corne , Lectures pour la jeunesse. Tome II. Berlin: G. F. Starcke 1789, N° XVI, S. 243-257. 294 Der Titel Lectures pour la jeunesse bezieht sich explizit auf die kindgemäße Komponente der philanthropischen Erziehung. 295 Ebd., S. 245 f. 296 Ebd., S. 246 f. 297 Parallelen zum Fröbelschen Kindergarten avant la lettre werden hier deutlich. 298 Das Turnen spielte bei den Philanthropen, besonders bei Salzmann und GutsMuts, eine wichtige Rolle. 299 In Tome I seiner Lectures pour la jeunesse widmet Hauchecorne ein Unterkapitel den Caractères du bonheur. (Hauchecorne 1790a, S. 242-249.). I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 105 <?page no="105"?> 106 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht utiles on tâche d’y mettre les instructions à leur portés, & pour soutenir leur attention on entremêle l’explication de leurs devoirs du chant des cantiques qui ont été composés pour la jeunesse recueillie au Philanthropin. 300 Musik in Form des gemeinsamen Gesangs im Philanthropin erhält neben der gemeinschaftlichen gruppendynamischen Komponente eine lernpsychologische: Durch das gemeinsame Singen wiederholen die Kinder besser (mnemotechnisches Element). Das gemeinsame Singen im Chor stärkt die Motivation und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Lieder wurden speziell jugendgemäß konzipiert und für die Jugend komponiert, es handelt sich also um eine Form didaktischer Lieder. Durch das Singen wird die Aufmerksamkeit verstärkt. Vielleicht wurde indirekt sogar schon das mehrkanalige Lernen mit allen Sinnen avant la lettre praktiziert. Bestimmte Anschauungsmodelle und -objekte im (Schul-) Garten erleichtern Unterricht und gestalten ihn praxisnah. Der Bezug Hauchecornes zur reformierten Kirche und sein Treffen mit Basedow werden auch in den Text integriert, um die Verbindung zwischen reformierten Glaubensgrundsätzen und den Philanthropen zu verdeutlichen: Nous assistâmes l’après dinée au service divin dans l’Eglise réformée & nous passâmes quelques heures chez M. Basedow. Il s’occupoit encore du soin de rendre plus facile la méthode d’enseigner aux enfans à épeler, & me donna quelques ouvrages qu’il venoit de composer sur ce sujet. 301 Hauchecorne integriert in seinen Lectures pour la jeunesse Tome III verschiedene Textsorten wie Fabeln, Moralgeschichten und sogar Theaterstücke, bei denen wieder eine Moral am Ende steht. In den Lectures pour la jeunesse N° VIII steht die Suche nach dem bonheur im Zentrum. 302 Dabei wird die Fragestellung als Fallbesprechung anhand eines conte philosophique und conte moral 303 dargestellt. Hierbei treten in mehreren verschachtelten Erzählsträngen in einer Mise en abyme bestimmte Eigenschaften als Allegorien auf und zum Abschluss erfolgt die Moral als Schiedsspruch eines Sage im Streit zwischen Mr. Alerte und Mr. Qu’importe: „Le Sage: Voyez vous, Monsieur; vous commencez à vous faire. C’étoit fort bien dit. - Quand on emprunte d’un ami, il faut parler comme Mr. Alerte, mais quand on tire un ami d’embarras, il faut tenir le langage de Mr. Qu’importe .“ 304 300 Ebd., S. 247. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 301 Ebd., S. 249. 302 Die glückliche, sorgenfreie Erziehung steht auch bei den Philanthropen im Mittelpunkt. 303 Intertextuelle Parallelen zur Debatte der philosophischen Frage nach dem Glück war typisch im Genre des conte moral und conte philosophique bei Rousseau oder Montesquieus Parabole des Troglodytes in seinen Lettres persanes . 304 Frédéric Guillaume h auchecorne , Lectures pour la jeunesse. Tome III (Hauchecorne 1790b) . Berlin: G. F. Starcke 1790, N° VIII, S. 123. <?page no="106"?> Der Schiedsspruch des Sage im Stil eines Nathan des Weisen entspricht damit der Moral des conte philosophique und des (auktorialen) Erzählers in Person des Lehrmeisters Hauchecorne. Dabei favorisiert Hauchecorne die aristotelische Lehre vom goldenen Mittelweg, der aurea mediocritas . 305 Die Moral Les trésors de cette terre ne font point notre bonheur wird als Notenbeispiel und im Anschluss auch der Text darunter abgedruckt (Abb. 9). Vermutlich wurde das Stück als Operette im Schultheater in Hauchecornes Schule aufgeführt. Als Titel ist angegeben Nouveau Vaudeville pour l’opérette: Zémire & Azor. 306 Hauchecorne hat 1790 offensichtlich eine für die Jugend didaktisierte Fortsetzung des opéra-ballet Zémire et Azor des belgischen Komponisten André-Ernest-Modeste Grétry von 1771 verfasst, wobei die für die Glücksdebatte der Aufklärung wichtigen Konzepte bonheur, fortune, le bon cœur, l’âme pure, vertu anhand der Protagonisten Zémir, Ali, Azor und Lisbé in einem (philosophischen) Streitgespräch erörtert werden. 307 305 Vgl. Louis Jean l évesque d e P ouilly , Théorie des sentimens agréables. Genève: Barillot et fils, 1771, réimpression Genève: Slatkine 1971, S. 226 f. Zitiert in: Alessandro z ancona to , La dispute du fatalisme en France 1730-1760. Paris: Presses de l’Université de Paris- Sorbonne 2004, S. 122: „[…] cette recherche d’une ‚aurea mediocritas‘ qui, dans ses implications pratiques à cette époque du XVIII e siècle, n’est guère différente d’un ‚bonheur bourgeois’, fondé sur le repos de l’aisance: parmi les hommes heureux, il faut admirer ceux‚ à qui un travail modéré, fournit aisément de quoi souvenir à leurs besoins et à ceux de leur famille. Nous nous apercevrons bientôt, que la plupart d’entr’eux, exempts d’inquiétude, de chagrin et d’ennui, portent dans le fond du cœur une joye secrette toujours prete à se developer. Si leurs jours ne sont pas filez d’or, ils le sont du moins de soye; c’est un tissu de sentimens doux, où il n’entre ni plaisir vif, ni chagrin amer.“ 306 Vgl. Frédéric Guillaume h auchecone , Lectures pour la jeunesse III , 1790, S. 125 f. 307 Grétrys opéra comique enthält Ballett- und Tanzelemente. Das Libretto stammt von Jean-François Marmontel. Intertextuelle Bezüge sind vorhanden zu Jeanne-Marie Leprince de Beaumonts La Belle et la Bête . Wie Rousseaus Oper Le devin du village (1753) hat Zémire et Azor eine erzieherische Komponente: „Le conte de Mme Le Prince de Beaumont est publié dans un recueil qui a pour titre: Le Magasin des enfants. En le publiant, l’auteur n’a qu’un souci: faire œuvre de pédagogie. Elle a en effet consacré sa vie à l’éducation des jeunes filles de familles nobles en Angleterre. Son objectif est double: d’abord moral, il s’agit de les amener à la vertu; secondairement linguistique, elle veut les amener à une bonne maîtrise du français.“ [Meine Hervorhebungen, A. R.] - (Patrick t aïeB / Judith l e B lanc , Merveilleux et réalisme dans Zémire et Azor: un échange entre Diderot et Grétry. In: Dix-huitième siècle 1/ 2011, n° 43, S. 186. URL: www.cairn.info/ revue-dix-huitieme-siecle-2011-1-page-185.htm.image093.jpg|image094.png) I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 107 <?page no="107"?> 108 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Abb. 9: Frédéric Guillaume h auchecorne , Lectures pour la jeunesse. Tome III. Première partie. Berlin: G. F. Starcke 1790, S. 123-125. <?page no="108"?> In der Ausgabe seiner Lectures pour la jeunesse von 1794 wird das Jahr als Tagebuch dargestellt und beginnt mit den bonnes résolutions des Kindes: „Janvier 1794: Résolutions d’un enfant sage en commençant l’année .“ 308 Wichtige Leitelemente der kindgemäßen philanthropischen Ideale werden aufgenommen: Je viens de commencer une nouvelle année. Mes bons parens m’ont si tendrement embrassé lorsque je leur présentai les vœux que j’avois fait en leur faveur; ils en faisoient de si ardents pour ma sagesse, & sembloient me dire que leur félicité en tenant étroitement à la mienne dépendoit de mes efforts pour me conforter à leurs intentions paternelles; j’étois si touché en les embrassant moi même, je sentois dans ce moment combien je les aimois, combien il étoit important pour moi de m’abandonner à leur sage direction! Je veux maintenant mettre à profit l’impression que cette journée m’a faite, & tâcher d’être aussi heureux toute ma vie. Je veux me rappeler les bons avis qu’ils m’ont donné [sic] pour diriger mes résolutions. Je les relirai quelquefois pour ne pas en perdre le souvenir, & j’aurai la satisfaction de porter la joie dans le cœur de mes parens & la tranquillité la plus douce dans le mien. 309 Verschiedene französische Gedichte sind den Prinzessinnen Luise und Friederike von Mecklenburg Strelitz und Ferdinand von Preußen, dem Neffen Friedrichs des Großen, gewidmet. Ein Lokalkolorit der preußischen Dorflandschaft wird durch eine Chanson pour un jour de naissance. Air: Les jeux d’amour et du village wiedergegeben. Hierbei wird wieder die Technik der Kontrafaktur benutzt: 310 Auf eine damals allen bekannte Melodie wird ein neuer Text gesungen und so die Verbreitung des neuen Texts erleichtert. Durch die drei Asterisken kann jede Person individuell eingesetzt und das Lied auch in der Klasse nach der Lektüre gesungen werden. Der Text wurde vermutlich von einem Schüler vorgesungen und der Refrain im Chor dann gemeinsam von der gesamten Klasse: Chantons, amis, chantons la fête De l’amour & du sentiment. Que ce soit le cœur qui nous prête De sa voix le divin accent. Le cœur est tout, pour *** Elle fait grâce du talent ; Offrons lui, pour présent unique Les hommages du sentiment. (bis) 311 308 Frédéric Guillaume h auchecorne , Lectures pour la jeunesse. Berlin: G. F. Starcke 1794 (Hauchecorne 1794a), S. 1. 309 Ebd., S. 1. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 310 Ebd., S. 32. 311 Hauchecorne (1794), S. 55 f. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 109 <?page no="109"?> 110 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Weitere Theaterstücke mit Chorsequenzen zu Ehren der königlichen Prinzessin Luise werden dargestellt und der Text zum Mitsingen abgedruckt. 312 Es folgen speziell für Hauchecornes Schule inszenierte Komödien und Theaterstücke, die auch Stimmvariationen im Theaterspiel der Schüler verlangen, oft werden auch Gedicht- und Liedelemente integriert. 313 Neben den von Hauchecorne aus dem Deutschen ins Französische übersetzten Fabeln findet man zur Illustration die französische Version der Fabeln der Moralisten Gellert, Hagedorn, Lichtwer und Gleim. 314 Die Affinität zum friedlichen, glücklichen Dorfleben wird dargestellt in Jonival; ou, l’Enfant empressé à célébrer l’Anniversaire du Jour de Naissance de sa Mère; Divertissement. 315 In einer unterhaltsamen Parodie der bukolisch-akadischen Dichtung verschmelzen lyrisch-musikalische Elemente mit Dialogen zur Idealisierung des Hirtenlebens und werden in einer Art Mise en abyme in eine Theatersituation integriert. Es handelt sich also um Theater im Theater für das Schülertheater! Bekannte Fabeln und Gedichte werden in die Rollenspiele integriert. In der fünften (und letzten) Szene kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne und als Krönung tanzen alle den Schweizerischen Ranz des Vaches. 316 Als Form der Realia fügt Hauchecorne eine Klappkarte mit den Noten und Instrumenten (Kuhglocke und Cornemuse ) an und gibt in einer Fußnote dazu Rousseaus Erklärungen aus dem Dictionnaire de la musique wieder: „Air célèbre parmi les Suisses, & que leurs jeunes Bouviers jouent sur la Cornemuse en gardant le bétail dans les montagnes.“ 317 Hauchecorne übernimmt diesen Teil der Erklärung und fügt aus Rousseaus Artikel zur Musique hinzu: „Il est défendu sous peine de mort de le jouer dans leurs troupes, parce qu’il fait fondre en larmes, déserter ou mourir ceux qui l’entendent, tant il excite en eux l’ardent désir de revoir leur pays.“ 318 Rousseau unterstreicht hierbei die emotionale, identifizierende, memorisierende und identitätsstiftende Funktion von Musik: 312 Vgl. Divertissement à l’occasion de l’anniversaire de la Princesse Royale. In: Hauchecorne (1794), S. 176-181. 313 Vgl. Les échappés de l’école; Comédie en un Acte. Par Mr. S *** . Hauchecorne greift hier auf die Herausgeberfiktion zurück, um sich nicht selbst als Autor zu nennen. (Ebd., S. 229- 254.). 314 Zwölf Fabeln dieser Moralisten wurden von Chodowiecki 1792 als Druckgrafik angefertigt. Vgl. Daniel Nikolaus c hodowiecki , Zwölf Blätter zu Fabeln von Gellert, Gleim, Hagedorn und Lichtwer. Berlin: Sammlung Gretschel 1792. Der aktuelle Standort ist das Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Inventarnummer DChodowiecki 1B 3.911. 315 Vgl. Hauchecorne (1794), S. 354-374. 316 Ebd., S. 373. - Der Ranz des vaches stammt aus dem frankophonen Kanton Fribourg. In den deutschsprachigen Kantonen ist er als Kuhreihen bekannt. 317 Jean-Jacques r ousseau , Dictionnaire de la musique . Paris: Chez la Veuve Duchesne, librairie, rue Saint Jacques; au Temple du Goût. 1768, S. 405. 318 Ebd., S. 373. <?page no="110"?> On chercheroit en vain dans cet Air les accents enérgiques capables de produire de si étonnants effets. Ces effets, qui n’ont aucun lieu sur les étrangers, ne viennent que de l’habitude, des souvenirs, de mille circonstances qui, retracées par cet Air à ceux qui l’entendent, & leur rappellant leur pays, leurs anciens plaisirs, leur jeunesse, & toutes leurs façons de vivre, excitent en eux une douleur amère d’avoir perdu tout cela. La Musique alors n’agit point précisément comme Musique, mais comme signe mémoratif. Cet Air, quoique toujours le même, ne produit plus aujourd’hui les mêmes effets qu’il produisoit ci-devant sur les Suisses; parce qu’ayant perdu le goût de leur première simplicité, ils ne regrettent plus quand on la leur rappelle. Tant il est vrai que ce n’est pas dans leur action physique qu’il faut chercher les plus grands effets des Sons sur le cœur humain. 319 Diese detaillierte Beschreibung der Gebräuche deckt sich mit Hauchecornes realienkundlicher Unterrichtskonzeption. 320 I. 6. 2 Unterrichtsmethodische Entwicklungen bei den Philanthropen Wolke und Trapp Christian Heinrich Wolke, der an Basedows Elementarwerk mitgearbeitet hat, ist neben Basedow ein weiterer wichtiger Vertreter der Philanthropen. Für Wolke steht, noch stärker als bei Basedow, der praktisch-spielerische Aspekt der Spracherlernung im Vordergrund. Grundlage des Anfangsunterrichts ist die naturgemäße Lehrmethode 321 , die eine Affinität zum muttersprachlichen Lernprozess aufweist. Für die Philanthropen erfolgt dieses imitative, nachahmende Lernen durch den bloßen Gebrauch 322 und auf angenehme, natürliche und spielerische Weise. Das Spiel im Unterricht ist für Basedow und Wolke zentral und bildet eine naturgemäße Form des Lernens. 323 Dabei spielt die phonetisch-artikulatorische Komponente eine elementare Rolle. 319 Vgl. Rousseau (1768), S. 317. 320 Vgl. S. 36, Fußnote 109, und S. 101, Fußnote 281 in der vorliegenden Arbeit. 321 Vgl. Reinfried (1992), S. 70-76. Marcus Reinfried weist in seiner Dissertation nach, dass sich Basedow bereits im zweiten Kapitel seiner Magisterarbeit mit der naturgemäßen Methode, eines „methodus naturalis omnium scholasticorum studiorum“ beschäftigt. (Ebd., S. 70.). 322 Reinfried (1992), S. 70, und Johann Bernhard B asedow , Vorstellung an Menschenfreunde. Neu herausgegeben von Hermann l orenz . Leipzig ( Neudrucke Pädagogischer Schriften , Bd. 14), 1893, S. 80. 323 „Das kleine Kind empfindet aber die meiste Lust, wenn es spielen kann, und so ist auch der erste Unterricht in die Form des Spieles zu kleiden.“ Hermann s chmeck , Die natürliche Sprachenerlernung bei den Philanthropisten. Unter Berücksichtigung der modernen Bestrebungen auf neusprachlichem Gebiete. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1909, S. 19.). I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 111 <?page no="111"?> 112 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Der Zweitspracherwerb orientiert sich an der evolutiven Entwicklung des Erstspracherwerbs: Man mache den Kindern nur Lust zur Aufmerksamkeit […]. Zuerst gewöhnt sich das Ohr zu den Tönen; hernach erhalten dieselben anfangs eine schwankende und etwas unrichtige, mit der Zeit aber eine festere und richtigere Bedeutung […]. Unterredet euch nur fleißig mit der Jugend von sinnlichen Dingen, die ihr angenehm sind; sorget nur, dass eine gewisse Anzahl Wörter in der ersten, eine andere in der zweiten Woche herrschen; alsdann wird die Fähigkeit, euch zu verstehen, unfehlbar anwachsen, die Jugend wird euch n a c h a h m e n wollen, besonders dann, wenn ihr sie für die geringste Bemühung rühmet. 324 Wolke zeigt die natürliche, kindgemäß-spielerische Anwendung der Sprache in seiner Anweisung für Muetter und Kinderlehrer […] anhand einer Musikmetapher: Die menschliche Stimme wird als Instrument charakterisiert, dessen vielseitige Verwendung die Schüler zunächst aufmerksam beobachten sollten, um dann auf ihm zu spielen und es zu meistern und zu beherrschen. Das funktioniert aber nur in täglicher Übung. Diese naturgemäße Lernmethode zeigt die natürliche, menschliche Stimme als „Tonwerkzeug“: Der Lerning werde veranlaßt, zu hoeren und zu bemerken, wie Jemand singt, anstimt, die Toene schleift, trillert; wie er jubelt, groelet, juchet, jucheiet, jauchzet; wie er lullet oder trallallet; wie er laut lacht […]; wie Jemand mit der Zunge klackt oder schnalzet […]. 325 Wie Basedow nutzte Wolke im Rahmen seines Anschauungsunterrichts 326 Realia, die einen Sachunterricht anhand eines „Schulkabinet[s] von Nachahmungen sinnlicher Gegenstände in Modellen und Kupferstichen […]“ 327 ermöglichte. Es wurden meist die Kupferstiche Chodowieckis verwendet. Dabei sollte der Fremdsprachenunterricht nahezu ausschließlich in der Fremdsprache stattfinden. Diese Versinnlichungsmethode 328 wurde von Basedow theoretisch 324 Schmeck (1909), S. 19. 325 Christian Heinrich w olke , Anweisung für Muetter und Kinderlehrer, die es sind oder werden koennen, zur Mittheilung der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe, von der Geburt des Kindes an bis zur Zeit des Lesenlernens. In Verbindung mit dessen Erziehungslehre zum Gebrauche fuer die erste Kindheit. Leipzig: Georg Voß 1805, S. 242. 326 Ebd., S. 18, und Reinfried (1992), S. 85 f. 327 Vgl. Schmeck (1909), S. 19. 328 Schmeck zitiert Wolke über die praktische Ausübung der Versinnlichungsmethode: „‚Versinnlichungsmethode‘ nennt er sie, ‚zur angenehmen und baldigen Mitteilung richtiger Vorstellungen und Begriffe und ihrer beim Sprechen hörbaren, beim Schreiben sichtbaren Zeichen, nämlich der Wörter, nicht nur bei der zweiten, sondern auch bei der ersten zu erlernenden Sprache, also ohne dass eine Übersetzung der unbekannten <?page no="112"?> begründet und Wolke setzte sie in seinem Französisch- und Lateinunterricht erfolgreich in die Praxis um. Es handelt sich um eine ganzheitlich-holistische Methode, bei der die Einsprachigkeit des Unterrichts (in der Fremdsprache) im Vordergrund steht. Im Französischunterricht von Wolke erfährt das Einsprachigkeitsprinzip eine psychologische Rechtfertigung und bereitet den Weg zur Anschauungsmethode der neusprachlichen Reformbewegung. Wolke argumentiert, dass bei deutschsprachigen Worterklärungen […] neu eingeführte französische Wörter nicht aufmerksam und nicht bewußt genug wahrgenommen [werden würden], da der Text allzu transparent sei […]. Daher schenke der Schüler sowohl der Aussprache als auch der Bedeutung des französischen Wortes zuwenig Aufmerksamkeit.“ 329 Wolkes psychologische Reflexionen nehmen schon en germe einige Elemente der méthode directe des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorweg. Marcus Reinfried hat nachgewiesen, dass die Versinnlichungsmethode der Dessauer Philanthropen aber nicht als eine direkte Methode bezeichnet werden kann, da zu deren Charakteristika nach Christian Puren 330 auch die „Berücksichtigung der altersgemäßen Interessen und Bedürfnisse der Schüler, die Selektion der Vokabeln (Auswahl nach centres d’intérêt ) und die Progression der grammatikalischen Strukturen [gehören].“ 331 Da diese beiden Charakteristika bei den Philanthropen noch keine wichtige Rolle spielen, befindet sich ihre Versinnlichungsmethode „noch auf dem halben Weg zwischen der natürlichen Methode der Gouvernantenpädagogik und der direkten Methode, wie sie sich kurz vor der Jahrhundertwende ergeben hat.“ 332 Deshalb ist es sensu stricto noch keine direkte Methode. 333 Ernst Christian Trapp, der oft als „Theoretiker der philanthropischen Bewegung“ 334 bezeichnet wird und einige Jahre lang die erste deutsche Professur für Pädagogik besetzte, gibt in einer Reihe von Schriften eine relativ systema- Sprache; welche man lehren und lernen will, in eine bekannte nötig ist; eine Methode, bei deren Anwendung der Lehrer kein Wort von der Sprache seiner Schüler wissen darf, und der unfehlbare, ja unvermeidliche Erfolg sich zeigt, dass die Schüler die ihnen vorher fremde Sprache geläufig und richtig, oder so wie ein Wohlbelehrter seine Muttersprache sprechen kann.‘“ (Schmeck 1909, S. 39.). Vgl. Christian Heinrich w olke , Anweisung, wie Kinder und Stumme one [sic] Zeitverlust und auf naturgemäße Weise zum Verstehen und Sprechen, zum Lesen und Schreiben, oder zu Sprachkenntnissen und Begriffen zu bringen sind. Leipzig: Siegfried L. Crusius 1804, S. 33. 329 Reinfried (1992), S. 75. 330 Vgl. Puren (1988), S. 116 f. 331 Reinfried (1992), S. 75. 332 Ebd., S. 76. 333 Ebd. 334 Stach (1984), S. 7. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 113 <?page no="113"?> 114 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht tische Darstellung der philanthropischen Unterrichts- und Erziehungsmethode. Trapp lehnt die formale Bildungstheorie ab und orientiert sich an den Realien. Wie alle Philanthropen favorisierte Trapp eine natürliche Sprachenerlernung und folgte Wolkes naturgemäßer Lernmethode nach dem Grundsatz, dass man der Natur folgen, die Natur zu Rate ziehen müsse, und (in Bezug auf die Erlernung der Muttersprache) zu untersuchen habe: wie macht es die Natur, dass man eine Sprache ohne kunstmässigen Unterricht lernt? Und wie ist die Natur des Menschen in Rücksicht sowohl auf sein Vermögen, als auf sein Bedürfnis, Sprachen zu lernen, eingerichtet? Mit anderen Worten: wie lernt ein jeder Mensch seine Muttersprache, und wie geht es zu, dass er sie versteht oder spricht? 335 Trapp orientiert sich beim Erlernen einer Fremdsprache vor allem am Erstspracherwerb, also der Sprachverwendung, und leitet daraus ein möglichst frühes Erlernen einer Fremdsprache ab. Es handelt sich um eine kindgemäße, intuitive Methode, die sich an der menschlichen Natur orientiert. Aufgrund des inhärenten „Nachahmungstriebs“ beginnt das Kind nach Trapp zunächst mit der Nachbildung gehörter Töne; anfangs geht es schwer; mit dem Erstarken der Sprechorgane wird die Fähigkeit aber grösser, und dann wird das Kind unter den Tönen immer denjenigen wählen, den das jedesmalige Bedürfnis erfordert, wobei vorauszusetzen ist, dass es allmählich gemerkt hat, was für eine Sache mit irgend einem Ton oder Wort bezeichnet wird. 336 Die Ausführungen über das Erlernen der Muttersprache überträgt Trapp auf das Erlernen fremder Sprachen: Dass man bei Erlernung fremder Sprachen sorgfältig und so genau als möglich nachahmen müsse, was bei Erlernung der Muttersprache geschieht, wenn man auf dem kürzesten und leichtesten Wege seinen Zweck, das gewöhnliche und gemeinnützige Verstehen und Anwenden fremder Sprachen, erreichen will. 337 Danach schließt sich das Vorsprechen der fremden Worte in ähnlicher Weise wie die Laute der Muttersprache und deren Nachahmung an. 338 Neben den phonetisch-artikulatorischen Übungen der Philanthropen wurde auch gesungen, das lässt sich indirekt aus Trapps Versuch einer Pädagogik ableiten. Im 335 Schmeck (1909), S. 51. 336 Ebd. 337 Ebd., S. 54, und Joachim Heinrich c amPe (Hrsg.) , Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Revisionswerk XI . Braunschweig: Gräffer 1788, S. 360. 338 Vgl. Schmeck (1909), S. 58. <?page no="114"?> Abschnitt III. Vom Unterricht erklärt Trapp die spielerische Vermittlung des Einmaleins, das mit entdeckendem Lernen und Belohnung verbunden wird: Die Ziffern lernen die Kinder zugleich mit den Buchstaben. Hier laeßt sich die Versinnlichung leicht anbringen. Man schreibt jede Ziffer auf ein Zettelchen und laeßt das Kind aus einer Ecke […] Nuesse, Rosinen, Mandeln u. d. gl. holen, so viel als die auf dem Zettel stehende Ziffer anzeigt. Fehlt das Kind, so verliert es eine Nuß; bringt es die rechte Zahl, so gewinnt es eine. Es scheint, daß man auf diese Art in einem Nachmittage die Kinder die Ziffern von 1 bis 20 lehren koenne. Das Einmaleins scheint am besten so gelernt werden zu können, daß man, wenn z. B. von zweimal zwei bis zweimal zehn gelernt werden soll, neun Haufen von Nuessen, Kirschensteinen u. d. gl. mache, deren jeder zwei Abtheilungen habe. In jeder Abtheilung des ersten Haufens liegen zwei; in jeder Abtheilung des zweiten Haufens liegen drei u. s. f. Nun laeßt man die Kinder die Einheiten beider Abtheilungen zusammen zaehlen, und fragt sie jedesmal: Wie viel macht nun zweimal drei, zweimal vier u. s. w. Wann man dis eine Zeitlang getrieben hat, so geht man von Haufen zu Haufen nach der Reihe, und fragt: Zweimal drei macht? Zweimal vier macht? u. s. w. Wer es ohne Fehler weiß, bekoemmt eine Rosine zur Belohnung. Wie bald sich das in Musik gesetzte Einmaleins singend erlernen lasse, weiß ich aus Mangel der Erfahrung nicht zu bestimmen. 339 Diese Textpassage gilt für Schmeck als Beweis für den Musikeinsatz im (Fremdsprachen-) Unterricht: Übrigens haben die Philanthropisten das Singen in ihrem Unterrichte auch schon zu Hülfe genommen. […] Die Anwendung dieses Huelfsmittels [des gesungenen Einmaleins, A. R.] steht darnach fest. Ob auch speziell im fremdsprachlichen Unterricht gesungen wurde, ist direkt nicht festzustellen, aber bei der angewandten Methode mit grosser Sicherheit anzunehmen. Wenn man in der fremden Sprache spielte, betete u. s. w., warum sollte man denn nicht auch in ihren Lauten singen? 340 Auch das Lesen und Schreiben erfolgen unter Umgehung der Muttersprache und der Vermeidung grammatischer Übungen. Trapps bedingslose Anwendung der Einsprachigkeit, die Schmeck als „Radikalismus“ bezeichnet, 341 findet einhundert Jahre später in der Méthode Berlitz ihre Anwendung, worauf Schmeck hinweist. 342 In den Lehrbüchern dieser in den USA entwickelten Sprachlehrmethode wird darauf verwiesen, dass eine Orientierung am 339 Ernst Christian t raPP , Versuch einer Pädagogik. Berlin: Friedrich Nicolai 1780, S. 366 f. 340 Schmeck (1909), S. 82. 341 Ebd., S. 74. 342 Ebd. I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen 115 <?page no="115"?> 116 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Erstspracherwerb erfolgt: „La Méthode Berlitz est l’imitation dans la pratique de la manière dont la nature enseigne la langue maternelle aux enfants.“ 343 In den 1770er Jahren waren Lesebuchsammlungen für Kinder, die sich an den Philanthropen orientieren, sehr beliebt. Der deutsche Buchhändler Gottlieb August Lange gab in seiner 1749 gegründeten Lange’schen Verlagsbuchhandlung mehrere fremdsprachige Lesebücher speziell für Kinder heraus. Es handelt sich um eine Sammlung kurzer Lesestücke, denen wie bei Hauchecorne und Rochow ein katechisierendes Gespräch zwischen Kind und Lehrer vorangestellt wird: Anweisung zum Franzoesischen Lesen. Erstes Gespraech. Das Kind und der Lehrer. Kind. Liebster Lehrer, ich moechte gern Franzoesisch lesen lernen. Karl lieset schon recht gut, wie Papa sagt. Lehrer. Das ist schoen. Da hab ich eben ein franzoesisches Alphabet. 344 Wie bei Wolke und Trapp folgen nun mehrere Gespräche zur Aussprache. 345 Im Vorwort verweist der Herausgeber auf die kinder- und lehrerfreundliche Intention seines Lehrwerks: „Dieses Lesebuch ist eigentlich nur zum Behuf einer Privatanstalt gedruckt worden. Es enthaelt solche Stuecke, von denen man gemerkt hat, daß sie theils den Kindern gefallen, theils den Unterricht sehr erleichtern.“ 346 Lange nennt explizit als Textsorte Lieder, die nicht nur förderlich zum Lesenlernen sind und den Lernprozess akzelerieren, sondern vor allem als Gesprächsanlass dienen: Durch die Lieder z. B. kann man die Kinder nicht nur geschwinder lesen lehren, sondern man hat auch Gelegenheit, bei der unumgaenglich nothwendigen Erklaerung eines jeden Wortes, ihnen mancherlei Belehrungen ueber Gott, Natur und Religion zu ertheilen, die sich um so fester in ihr weiches Gehirn eindruekken, als sie ueberhaupt Verse leichter und lieber im Gedaechtnisse behalten denn Prosa. 347 Der Bezug zu John Lockes Empirismus und seiner sensualistischen Theorie der tabula rasa wird deutlich durch das „Eindrücken“ der Erkenntnisse, das bessere 343 Anonym, Méthode Berlitz, Partie française . Premier livre. 11. Aufl. 1899, S. 3. Vgl. dazu Henri B esse , Irene Finotti. Lambert Sauveur à l’ombre de Maximilian Berlitz. Les débuts de la méthode directe aux États-Unis. In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n°45, 2010, S. 232-239. 344 Gottlieb August l ange (Hrsg.), Ein Franzoesisches Lesebuch fuer Kinder. Berlin: Gottlieb August Lange, dem Koeniglichen Schlosse gegenueber 1778, S. 3. 345 Ebd., S. 2-14. 346 Ebd., S. 1. 347 Ebd., S. 1 f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="116"?> Memorisieren durch den Einsatz von Liedern und Gedichten. Hiermit wird der Liedeinsatz mit einer Lerntheorie verbunden. Locke beeinflusste entscheidend die philanthropische Bewegung, denn Basedow beruft sich in Bezug auf das spielerische Lernen auf Lockes 1693 erschienene Erziehungsschrift Some thoughts on education. Für den englischen Philosophen ist das Lernen - vor allem bei Kindern - im besten Falle fröhliches Spiel und eine Quelle des persönlichen und gesellschaftlichen Glücks. I. 7 Musikalische Elemente in Salons, Konversationszirkeln, Sprachgesellschaften und Damenorden Das Französische wurde in Deutschland in der Mitte des 17. Jahrhunderts zur „mit großem Abstand wichtigsten neueren Fremdsprache - eine Position, die es zweieinhalb Jahrhunderte lang halten sollte.“ 348 Die französische Sprache nahm eine wichtige Stellung als langue véhiculaire des europäischen Adels ein und fungierte beispielsweise am kursächsischen Hof in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts als lingua franca der Aristokratie. Koldau 349 und Kuhfuß 350 berichten über frankophile Damenkränzchen am anhaltinischen Hof von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen. Am Hof wurde die Bildung in verschiedenen europäischen Sprachen durch Übersetzung, Schulversuche und Damenorden gepflegt. 351 Als Gegenreaktion auf die starke Französierung am anhaltinischen Hof wurde 1617 die Fruchtbringende Gesellschaft 352 von Fürst Ludwig I. gegründet. Nach dem Vorbild der italienischen Accademia della Crusca sollte sich die älteste deutsche Sprachgesellschaft der Pflege der deutschen Hoch- 348 Marcus r einFried , Geschichte des Fremdsprachenunterrichts bis 1945. In: Eva B ur witz -m elzer / Grit m ehlhorn / Claudia r iemer / Karl-Richard B ausch / Hans-Jürgen k rumm (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen und Basel: A. Francke, 6., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2016, S. 620. 349 Vgl. Linda Maria k oldau , Frauen - Musik - Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, S. 297 f. 350 Vgl. Kuhfuß (2014), S. 90. 351 Vgl. dazu das Eurolab-Projekt von Klaus c onermann , La cour de Köthen, „laboratoire“ d’une culture plurilingue aux débuts de la Fruchtbringende Gesellschaft. Köthen als höfisches Labor vielsprachiger Sprachkultur vor und in der Frühzeit der Fruchtbringenden Gesellschaft. Klaus Conermann, Les cours, lieux de rencontre et d’élaboration des langues vernaculaires à la Renaissance (1480-1620). In: Atelier n° 6. Eurolab MESHS Lille 2015. URL: http: / / eurolab.meshs.fr/ page.php? r=53&id=165&lang=fr. 352 Vgl. Friedrich Wilhelm B arthold , Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft. Sitten, Geschmacksbildung und schöne Redekünste deutscher Vornehmen vom Ende des XVI. bis über die Mitte des XVII. Jahrhunderts. Berlin: Verlag von Alexander Duncker 1848. I. 7 Musikalische Elemente 117 <?page no="117"?> 118 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Sprache und Literatur widmen. 353 Die Fruchtbringende Gesellschaft war mit 890 Mitgliedern die größte und bedeutendste der deutschen Sprachgesellschaften des Barocks. 354 Bei diesem Palmenorden handelte es sich fast ausschließlich um einen Männerorden. Koldau zeigt, dass in der Fruchtbringenden Gesellschaft „künstlerisch besonders begabte Ehefrauen der Mitglieder zwar an den Sitzungen teilnehmen [konnten], jedoch nur unter dem Gesellschaftsnamen ihres Mannes und nicht als ordentliche Mitglieder.“ 355 Musik spielte in der Fruchtbrin- 353 Als Symbol der Fruchtbringenden Gesellschaft , die auch Palmenorden genannt wurde, wählte sich die Gesellschaft den Palmenbaum mit der Devise: Alles zu Nutzen. Der Name „Fruchtbringend darum, daß ein jeder Gesellschafter ueberall Frucht zu schaffen gefliessen sei, […] d. h. zu Fruechten, Baumen, Blumen, Kraeuter oder dergleichen, was aus der Erde wachse gehoerig […] und darneben überall Frucht zu schaffen […] beflissen seyn solle.“ (Ebd., S. 107.). 354 Vgl. Koldau (2005), S. 293. 355 Ebd., S. 294. Am 18. 01. 2007, also 390 Jahre nach Bildung der Fruchtbringenden Gesellschaft , wurde die Neue Fruchtbringende Gesellschaft zu Köthen / Anhalt e.-V. - Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache in Köthen gegründet. Sie folgte der sprachpflegerischen Tradition der Fruchtbringenden Gesellschaft. Während der Palmenorden keine Frauen aufnahm, spielen sie in der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft eine führende Rolle. In der Köthener Erklärung zur Gründung der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft werden die Grundsätze in drei Punkten zusammengefasst (meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck): „Eingedenk der großen Leistungen der Fruchtbringenden Gesellschaft, die vor 390 Jahren als erste Gesellschaft zur Pflege der deutschen Sprache in Weimar gegründet wurde und ihren ersten Sitz in Köthen / Anhalt hatte, und in Anbetracht der vielfältigen Einflüsse, denen die deutsche Sprache als Alltags-, Kultur- und Wissenschaftssprache ausgesetzt ist, und angesichts der bedrohten Einheitlichkeit der Sprache und der Rechtschreibung, im Bewußtsein um den Wert einer jeden Muttersprache für die Verständigung, das Denken, die Kultur und das Selbstbewußtsein der Menschen, sowie im Bewußtsein, daß jeder Tag aufs neue um eine verständliche deutsche Sprache gerungen werden muß, damit sie als eine europäische Kultursprache lebendig bleibe, und daß diese Aufgabe nur gemeinsam und von vielen bewältigt werden kann, haben sich heute in Köthen / Anhalt Sprachinteressierte aus ganz Deutschland zusammengeschlossen mit dem Ziel, die deutsche Sprache als Amts-, Kultur-, Landes- und Wissenschaftssprache zu erhalten, zu pflegen, zu schützen und weiterzuentwickeln, um mit der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft für die deutsche Sprache einen Ort zu schaffen, der für die Pflege der Sprache gute Kräfte anziehen, bündeln und ausstrahlen soll. Zur Erfüllung dieser Aufgabe werden die Mitglieder gemeinsame Leitlinien entwickeln, einander unterstützen und Verbindungen zu anderen Personen und Gruppen knüpfen, die sich für die deutsche Sprache einsetzen. So soll es den Mitgliedern wie den Gesellschaftern von einst vor allen Dingen obliegen, die deutsche Sprache in ihrem grundlegenden Wesen und ihrer Bedeutung zu erhalten, auszuüben und zu pflegen, und sich für das Erreichen ebendieser Ziele in allen Bereichen unseres Lebens einzusetzen. In Anlehnung an das Wort der Fruchtbringenden Gesellschaft von 1617 „Alles zu Nutzen“ stellt die Neue Fruchtbringende Gesellschaft ihr Handeln unter den Leitsatz „Alles zu Nutzen - allen zu Nutzen! “ Köthen / Anhalt, den 18. Januar 2007. - Vgl. dazu Köthener Erklärung vom 18. Januar 2007: http: / / www.fruchtbringende-gesellschaft.de/ nfg_koethener-erklaerung.pdf. War die Fruchtbringende Gesellschaft als Regenden <?page no="118"?> Gesellschaft eine geringe Rolle. Wenn Musik „überhaupt in den Statuten erwähnt wird, dann nur als geringfügiger Zeitvertreib - zu Beginn des 17. Jahrhunderts dennoch ein wichtiger Hinweis, dass die Adelsdamen selbstverständlich gewohnt waren, zu musizieren und dies auch häufig in Gesellschaft taten.“ 356 In allen Sprachgesellschaften bekam das neue Mitglied bei seiner Hänselung (wie die Aufnahmezeremonie genannt wurde) einen Gesellschaftsnamen, der immer der Pflanzenwelt entnommen war, einen Spruch und ein Emblem. Fürst Ludwig I. erhielt als Gründungsmitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft den Beinamen Der Nährende . 357 Als Gegenentwurf zur männlich dominierten Fruchtbringenden Gesellschaft erfolgte am 21. 10. 1617, also nicht einmal zwei Monate nach Gründung des Palmenordens, die Gegengründung der frankophilen Noble Académie des Loyales 358 durch Fürstin Anna von Anhalt-Bernburg, die Schwägerin von Fürst Ludwig I. Es handelt sich um eine geheimgehaltene Gesellschaft, die exklusiv Frauen und Angehörigen von Adelsfamilien vorbehalten waren. Die Akademie „hielt sich […] im Rahmen der damals modernen französischen Bildung.“ 359 Ziel war es, die Errungenschaften der französischen Kultur und Bildung unter den vornehmen, adeligen Damen zu verbreiten. 360 Es gibt aktion auf die starke Französierung am Anhaltinischen Hof gegründet worden, so setzt sich die Neue Fruchtbringende Gesellschaft ähnlich wie die Académie française heute für eine Bewahrung der (Mutter-)Sprache als Kulturgut ein, als Schutz vor der Amerikanisierung der deutschen Sprache. Die erste Vorsitzende der Neuen Fruchtbringende Gesellschaft ist seit Gründung die Computerlinguistin Uta Seewald-Heeg. Der Dichter Rainer Kunze ist Ehrenmitglied und Klaus Conermann gehört zu den Gründungsmitgliedern. - Vgl. www.fruchtbringende-gesellschaft.de/ und Matthias B artl , Köthen als Brücke und Dach. Neue Fruchtbringende Gesellschaft will für die deutsche Sprache gute Kräfte bündeln. In: Mitteldeutsche Zeitung, Köthener Ausgabe, 20. Januar 2007, S. 10. - Vgl. dazu Thomas P aulwitz , Schaut auf diese Stadt. In Köthen / Anhalt entsteht ein Anziehungspunkt für Sprachpflege. In: Deutsche Sprachwelt 27, Frühling 2007, S. 3. 356 Vgl. Koldau (2005), S. 296. 357 Ludwig I. wurde bereits 1600 Mitglied der Accademia della Crusca und erhielt dort den Beinamen: Der Entzündete. Vgl. Christoph s toll , Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München: Paul List Verlag 1973, S. 210. 358 Gerhard d ünnhauPt , Merkur am Scheideweg. Eine unbekannte Schwesterakademie der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Joseph P. s trelka / Jörg J ungmayr (Hrsg.), Virtus und Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Bern, Frankfurt am Main, New York: Peter Lang 1983, S. 384-392. 359 Vgl. Curt g eBauer , Geschichte des französischen Kultureinflusses auf Deutschland von der Reformation bis zum Dreissigjährigen Kriege. Strassburg: Heitz & Mündel 1911, S. 118. 360 Die Sprachenfrage deutsch oder französisch wird exemplarisch durch Stereotypisierung und Polarisierung anhand der Bildungsfrage aufgenommen. Hans Schultz schreibt dazu, dass Fürstin Anna von Anhalt-Bernburg die Noble Académie des Loyales „vermutlich entrüstet über die Bestrebungen ihres Verwandten Ludwig zur Ausbreitung der ungebildeten, deutschen Sprache, ja zur Entfernung aller feineren Bestandteile aus ihr, I. 7 Musikalische Elemente 119 <?page no="119"?> 120 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht mehrere Indizien dafür, dass es sich um eine Replik auf den Palmenorden handelte, hatte die Fruchtbringende Gesellschaft als Emblem eine Kokospalme, wählte die Noble Académie des Loyales als Ordenszeichen „eine goldene Palme, die mit dem Phönix als Sinnbild wechselte […] und nannte sich auch L’ordre de la Palme d’or , sie führte den Wahlspruch ,sans varier‘ und als Unterschrift unter dem Phönix ,Rare mais perpétuel‘ […].“ 361 Ein bewusster Gegensatz zum Palmenorden ist hier die starke Betonung der französischen Sprache. So wurden die Statuten ursprünglich nur auf französisch verfasst und „erst 1633 in revidierter Fassung ins Deutsche übertragen […].“ 362 Christian I., der Gatte von Fürstin Anna von Anhalt-Bernburg, korrespondierte selbst mit seinem Bruder Ludwig in französischer Sprache. 363 Die Akademie bestand aus 20 Mitgliedern, „wobei genaue Vorgaben für die Verteilung auf fürstliche (10), gräfliche (7) und ritterbürtige (3) Damen bestanden und die ständischen Differenzen strikt zu beachten waren […].“ 364 Außerdem mussten alle Mitglieder reformierten Glaubens 365 sein. Im Gegensatz zu anderen Sprachgesellschaften sollten die Mitglieder nach den Satzungen der Noble Académie des Loyales […] ihre Zeit / wie auch sonsten / mit Ehrlichen / Ihnen und ihrem Stande wohl anstehenden auch frölichen Ubungen [sic] und Gesprächen zubringen / unter welchen auch diese sein sollen / daß sie sich befleißigen / unterschiedlicher Sprachen / allerhand schöner Hand-Arbeit / auch anderer feiner künstlicher Sachen / darunter auch die Musick / Gedichte / und ingemein in allen dem / was ihnen und ihres gleichen rühmlich ist / und wohl anstehet / nach einer jeden Fähigkeit.“ 366 gleichsam als Gegengewicht“ stiftete. (Vgl. Hans s chultz , Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften des XVII. Jahrhunderts für die Reinigung der deutschen Sprache. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1888, S. 19.). Die französische Sprache galt gegenüber der von den männlich dominierten Sprachgesellschaften genutzten deutschen Sprache als fein, als rein, als „nobel“ und wird durch ein Frauenideal der kultivierten Damengesellschaften gepflegt. 361 Ebd., S. 118. 362 Koldau (2005), S. 297. 363 Vgl. Dünnhaupt (1983), S. 386. 364 Koldau (2005), S. 297. 365 Nach Klaus Conermann verleiht das Sinnbild der Palme mit der Devise „Sans varier“ und dem opferbereiten Phönix mit der Inschrift „Rare mais perpetuel“ der Noble Académie des Loyales eine „heroische Note, die gut zu einem Zusammenschluß des reformierten Adels am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges passen will.“ (Klaus c onermann , Die Tugendliche Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft. Sittenzucht, Gesellschaftsidee und Akademiegedanke zwischen Renaissance und Aufklärung. In: Daphnis 17 , 1988, S. 546.). 366 Ebd., S. 547. <?page no="120"?> Die Mitglieder wählten sich französische Beinamen wie la Pourvoyante, la Constante, la Paisible, l’Obéissante, la Concorde, l’Invariable, la Débonnaire und eine französische Devise. 367 Heinz Engels vermutet, dass „die Musik und die Gedichte […] sich natürlich bei diesem [besonders frankophilen, A. R.] Damenorden auf französische Lieder und Gedichte“ beziehen. 368 „Die adligen Damen sangen in gemeinsamer Runde auch gerne französische Lieder.“ stellt Kuhfuß 369 fest. Koldau bezweifelt jedoch, ob die Frage nach dem Repertoire und der vokalen und instrumentalen Ausführung der französischen Lieder auf den Sitzungen der Académie des Loyales aufgrund der spärlichen Quellenlage dieses geheimen Damenordens je beantwortet werden kann. 370 Viele dieser Damen gehörten parallel einer weiteren Damengesellschaft an, die neben dem gesellschaftlichen Miteinander und der standesgemäßen Konversation, die bei der Académie des Loyales im Vordergrund stand, besonders auf die christlich-moralische Sittsamkeit und Tugend achteten. 1619, also zwei Jahre nach der Noble Académie des Loyales, gründeten neun Adelsdamen als „neün newe Kunstgöttinnen auf dem gräflichen Schloss zu Rudolstadt die Tugendliche Gesellschaft, einen Damenorden, der der Fruchtbringenden Gesellschaft eng verbunden war, sich allerdings ein „Werck“ zum Ziel setzte, „das mehr als singen“ sei. 371 Koldau stellt fest, dass das „Singen“ hier „primär als Dichtung und nicht als Musikausübung zu verstehen [ist]“ und sich „das ‚mehr‘ auf die bereits im Ordensnamen enthaltene Zielsetzung [bezieht], die weiblichen Tugenden und dadurch die christlich-evangelische Sittlichkeit im gesamten Staatsgefüge zu fördern.“ 372 Dabei stand die Tugendliche Gesellschaft nicht nur „Frauen aus reformierten Kreisen, sondern Angehörigen aller reformatorischer Bekenntnisse offen.“ 373 Klaus Conermann zitiert zeitgenössische Quellen von Damen der Tugendlichen Gesellschaft, die sich als Dichterinnen, Verfasserinnen von Erbauungsschriften, Sinnbildern und Frauenlexika, als musikalische Liebhaberinnen, sogar als Komponistinnen engagierten. 374 Das gesellschaft- 367 Vgl. Gebauer (1911), S. 118. 368 Heinz e ngels , Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. (Beiträge zur deutschen Philologie 54). Gießen: Schmitz 1983, S. 108. Nach Koldau „besteht kein Grund zur Annahme einer solchen Einschränkung auf ein französisches Repertoire, das im protestantischen Deutschland zu dieser Zeit ohnehin weiter verbreitet war als deutsche und italienische Drucke mit Kompositionen […].“ (Koldau 2005, S. 298.). 369 Vgl. Kufuß (2014), S. 90. 370 Vgl. Koldau (2005), S. 298 f. 371 Das Zitat lautet bei Conermann: „Von Hochgeborner Art neün newe Kunstgöttinnen / Durch rechten FürstenMuth ein solches werck beginnen / Das mehr als singen ist.“ (Conermann 1988, S. 513.). 372 Koldau (2005), S. 302. 373 Ebd., S. 303. 374 Ebd. und Conermann (1988), S. 582-593. I. 7 Musikalische Elemente 121 <?page no="121"?> 122 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht lich-kirchliche Engagement reichte von der Gründung von Schulen und dem regelmäßigen Abhalten von Hausandachten mit Gebet (der „Haus-Kirche“) bis zu geistlicher Lektüre mit Kirchenliedern. 375 Bis auf die frankophile Noble Académie des Loyales und die Tugendliche Gesellschaft waren alle weiteren Gesellschaften größtenteils Männerorganisationen, die einen deutschen Sprachpurismus förderten. 376 Die von Barthold 377 und Conermann 378 erwähnte bukolische frankophile Académie des Vrais Amants, die aus Verehrern des Schäferromans Astrée von Honoré d’Urfé bestand und „deren Mitglieder in die Rollen von Schäfern und Hirten schlüpften und diese lesend, phantasierend und spielend an den Höfen Anhalts und Thüringens nachahmten“ 379 , ist jedoch nach Dünnhaupt erfunden: „[…] die Erklärung, warum weder Barthold noch Conermann dokumentarische Beweise für die Existenz einer ‚Académie des Vrais Amants‘ auftreiben konnten, ist sehr einfach - es hat nie eine solche Akademie gegeben! ! “ 380 Weitere Akademien und Sprachgesellschaften waren männlich dominierte germanophile Nachahmungen der Fruchtbringenden Gesellschaft : Die Deutschgesinnte Gesellschaft mit dem Sinnbild der Rose hatte zwei weibliche Mitglieder und nahm neben Angehörigen des Adelsstands auch mehrfach Mitglieder aus 375 Vgl. Koldau (2005), S. 304. 376 Hierbei wird eine Parallele zum Mömpelgarder Gesangsbüchlein deutlich: Die deutsche Version der Interlinearausgabe ist dem Fürst Ludwig Friedrich von Württemberg-Mömpelgard mit einer fünfseitigen Vorrede gewidmet, die wesentlich kürzere, zweiseitige französische Widmung gilt seiner Ehefrau Elisabeth Magdalena von Hessen-Darmstadt. Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen gilt als einer der Gründerväter der (männlich dominierten) Fruchtbringenden Gesellschaft, die sich für die deutsche Hochsprache gegen die zunehmende Französierung einsetzte. Als Gegenreaktion wurde dann bekanntlich von seiner Schwägerin die (exklusiv weibliche) Geheim- Académie des Loyales gegründet, die sich durch Gender und Sprache abgrenzte und so einen Gegenpol geschaffen hat. Der deutsche Diplomat und Epigrammatiker Christian Wernicke, der zeitweilig als Gesandter in Paris arbeitete und auch Mitglied des germanophilen und männerdominierten Pegnesischen Blumenordens war, hat die frankophilen Tendenzen seiner Zeit, nicht zuletzt auch die Damen-Akademie, anhand von boshaften Wortspielen auf die „Franzosenkrankheit“ im III. Buch seiner Überschriften scharfzüngig kritisiert: „Frantzösische Wörter in der Deutschen Sprache. Daß keiner maennlich mehr in unsrer Sprache spricht / Und nichts / als Eyter fleußt aus Unsern Federposen / Verwundert mich im minsten nicht: Die Deutsche Sprach hat die Frantzosen. - Vgl. Christian w ernicke , Ueberschriften Oder Epigrammata In acht Buechern / Nebst einem Anhang von etlichen Schaeffer-Gedichten / Theils aus Liebe zur Poësie, theils aus Haß des Muessiggangs geschrieben. Hamburg: Zacharias Hertel 1701, S. 54. - Vgl. dazu auch Dietrich n euFeld , Christian Wernicke und die literarische Verssatire in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts . Dissertation: Jena 1922. 377 Vgl. Barthold (1848), S. 132. 378 Vgl. Conermann (1988), S. 582-593. 379 Ebd., S. 547. 380 Dünnhaupt (1983), S. 385. <?page no="122"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 123 bürgerlichen Kreisen auf. 381 Der Pegnesische Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz, später auch Nürnberger Dichterschule genannt, widmete sich der Förderung der deutschen Sprache und Poesie. 382 Der Elbschwanenorden stand vor allem deutschen Gelehrten und Dichtern 383 offen und beschäftigte sich unter anderem mit der Übersetzung französischer Romane ins Deutsche. I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende Die Kultur der exklusiv weiblichen Sprachzirkel erlebte einen Höhepunkt mit Französischlehrwerken für weibliche Lernende. 384 Das französisch-flämische Gesprächsbuch La gvirlande des ievnes filles von Gabriel Meurier gilt als „frühestes Französischlehrwerk für Mädchen […] [und wurde] in bearbeiteter Form auch in Deutschland verwendet.“ 385 Seine für die im Pensionat lebenden jungen Damen höheren Standes in Dialogform geschriebene Gesprächssammlung kann als Beispiel für den (damals noch seltenen) Klassenunterricht in 381 Vgl. Karl F. o tto , Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts . Stuttgart: Metzler 1972, S. 36-38. 382 Ebd., S. 43-52. Der Pegnesische Blumenorden exisitiert bis heute als Verein und führt regelmäßig Schäferspiele und poetisches Theater durch: URL: http: / / www.blumenorden.de/ . 383 Vgl. die Satzung des Elbschwanenordens: „1. Die Mitglieder sollen geborene Deutsche sein, oder wenigstens Personen, die der deutschen Sprache mächtig sind und auch in ihr dichten. 2. Die Mitglieder sollen nach Möglichkeit bereits gekrönte Poeten sein.“ (Otto 1972, S. 56.). Otto vertritt die These, dass der Elbschwanenorden nur „deswegen gegründet wurde, damit er der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ Mitglieder zuführen könne.“ (Ebd., S. 53.). 384 Vor dem 18. Jahrhundert spielten Frauen im Französischunterricht - von adeligen Frauen einmal abgesehen - nur eine geringe Rolle. Vgl. dazu die Untersuchung von Edgar Radtke zu den Dialogen französischer Sprachlehrbücher des 17. Jahrhunderts: „Die Annahme, daß im 17. Jahrhundert Frauen am Sprachunterricht partizipieren und als neue Zielgruppe Sprachbücher erwerben, läßt sich nicht erhärten. Weder werden von den Buchhändlern Frauen des Bürgertums als Käufer geführt noch bestehen in dieser Zeit außer den vereinzelten petites écoles und den Klöstern Institutionen, die lebende Fremdsprachen als Bestandteil der Bildung vermitteln. Diese Ausgangslage deckt sich auch mit der Wahl des Personenkreises in den Dialogen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in denen Frauen als Gesprächspartner kaum Platz finden und auch selten genug zum Gesprächsthema avancieren.“ (Vgl. Edgar r adtke , Gesprochenes Französisch und Sprachgeschichte. Zur Rekonstruktion der Gesprächskonstitution in Dialogen französischer Sprachlehrbücher des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Adaptationen. Nürnberg: Niemeyer 1994, S. 53.). 385 Vgl. Barbara k altz , Wie lernte man in der Frühen Neuzeit Französisch in Augsburg und Nürnberg? In: Mark h äBerlein / Christian k uhn , Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2010, S. 128. <?page no="123"?> 124 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht französischer Sprache verstanden werden. 386 Mädchen und Frauen lernten im 16. Jahrhundert meist Französisch und Italienisch. Sie beherrschten kein Latein, während die jungen Männer in Latein als erster Fremdsprache unterrichtet wurden. 387 Nach Franz-Rudolf Weller wurde der Antwerpener Sprachmeister Meurier von den „Reformern des 19. Jahrhunderts als der Reformer unter den Alten angesehen.“ 388 Meurier integriert auch „während der Mahlzeiten und nach Tisch […] ‚kommunikative‘ und durch Anschauung unterstützte französische Sprechübungen.“ 389 Kuhfuß zeigt, wie Sprichwörter und Redensarten den Unterrichtsdiskurs kommunikativ gestalteten. Diese (französischen) Redemittel sollten auswendig gelernt und dann im Unterricht ad hoc angewendet werden: 390 „Approchez, et soyez attentives / Dites, je vous escoute / Allez à votre place / Parlez haut et distinctement, à ce qu’on vous puisse entendre.“ 391 Der Einsatz dieser charnières 392 ermöglicht nicht nur eine Fokussierung auf eine einsprachig-französische Unterrichtssituation, sondern favorisiert zudem eine Schülerzentrierung avant la lettre. Günter Holtus fasst die didaktische Funktion dieses Lehrwerks folgendermaßen zusammen: Insgesamt zeigt sich in Gabriel Meuriers Werk, daß als Methode für den Sprachunterricht für Mädchen ein assoziatives, situationsgebundenes Lernen bevorzugt wird; eine explizite Darstellung der Grammatik bleibt einem anderen Adressatenkreis vorbehalten, der des Lateinischen kundig ist und der mit diesem Lehrwerk nicht als Zielpublikum angesprochen werden soll. 393 386 Vgl. Franz-Rudolf w eller , Skizze einer Entwicklungsgeschichte des Französischunterrichts in Deutschland bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Die neueren Sprachen 79, 1980, S. 135-161. 387 Kuhfuß (2014), S. 188. 388 Weller (1980), S. 157. 389 Ebd. 390 Hier zeigen sich schon Parallelen zur direkten Methode. Kuhfuß bringt es auf den Punkt: „Im Mädchenpensionat des 16. Jh.s liegt eine der Wurzeln der direkten Methode.“ (Kuhfuß 2014, S. 190.). 391 Zitiert nach Kuhfuß (2014), S. 189. 392 Den Einsatz der französischen charnières zur (behutsamen) Öffnung des Unterrichts und zur Schüleraktivierung wird 400 Jahre später von Jean-Pol Martin in seiner Methode Lernen durch Lehren (LdL) wieder aufgenommen, indem er eine starke Ritualisierung des Unterrichtsdiskurses favorisiert, also den „Klassenraumdiskurs als Habitualisierungsebene“ versteht. Vgl. Jean-Pol m artin , Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 33, 1986, S. 395-403. 393 Vgl. Günter h oltus , „La gvirlande des ievnes filles“ (1580) und „La grammaire des dames“ (1748): Überlegungen zu französischen Grammatiken und ihrem Zielpublikum. In: Wolfgang d ahmen et al. (Hrsg.), Sprache und Geschlecht in der Romania . (Romanistisches Kolloquium X). Tübingen: Narr 1997, S. 254. <?page no="124"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 125 Das Zitat verweist auf zwei ausgebildete Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts, die von Marcus Reinfried 394 klassifiziert werden in: 1. Eine hauptsächlich vom traditionellen Lateinunterricht inspirierte deduktive Richtung. 395 Sie begann mit dem Auswendiglernen von (in Deutschland während des 17. Jhs. auch noch in vielen Grammatiken neuerer Sprachen lateinisch formulierten) Grammatikregeln und den dazu gehörigen zielsprachlichen Beispielsätzen. Zur Textlektüre kam es bei diesem Unterrichtsverfahren erst in einem fortgeschrittenen Stadium. 2. Eine eher imitative Richtung, die keine zuvor erworbenen Lateinkenntnisse voraussetzte und entweder mit verschriftlichten Dialogen oder einfacheren zielsprachlichen Texten begann. […]. Diese Richtung setzte die Grammatik nur sehr reduziert ein. In dieser imitativen, praxisorientierten Perspektive wurde eine Vielzahl von Lehrwerken speziell für Lateinunkundige konzipiert. Mit den Grammaires des Dames 396 entstand damit ein neuartiges Genre von Lehrmaterialien. Es handelt sich nach einer Untersuchung von Gabriele Beck-Busse um des grammaires d’usages 397 (c’est-à-dire qu’elles font ressortir le côté pratique): presque deux tiers […] présentent, outre la description grammaticale au sens strict du mot, […] 1. Des dialogues, 2. Un guide épistolaire, 3. Une collection de proverbes, 4. Des exemples de lecture (tels que: extraits de journaux, histoires et curiosités), 5. Des extraits ou des exemples d’auteurs modèles (comme, p. ex. Un choix de lettres de personnages connus), 6. Des extraits de poésie, 7. Une explication du langage poétique, 8. des chansons, 398 9. des énigmes, 10. des synonymes expliqués pour trouver le mot juste, 11. une liste d’homophones, 12. un recueil de prononciations vicieuses, 13. un traité d’orthographe, 14. un vocabulaire, 15. une introduction aux règles de la bienséance. 399 394 Vgl. Reinfried (2016), S. 621. Meine Hervorhebungen sind in Fettdruck markiert. 395 Vgl. dazu auch Albert s treuBer , Beiträge zur Geschichte des französischen Unterrichts im 16. bis 18.-Jahrhundert. I: Die Entwicklung der Methoden im Allgemeinen und das Ziel der Konversation im Besonderen. (Romanische Studien, 15). Berlin: Ebering 1914, S. 20-22. 396 In der vorliegenden Arbeit wurde eine Auswahl aus der Vielzahl der Damengrammatiken getroffen, die speziell auf die Entwicklungslinien (Vorläufer und intertextuelle Bezüge) zum Einsatz von Poesie und musischen Elementen zielt. 397 Vgl. zum Begriff der Gebrauchsgrammatik den Aufsatz von Claudia P olzin -h au mann , „Gebrauchsgrammatik“ aus terminologischer Sicht: Konzepte und Begrifflichkeit in den Werken von Bosquet (1586) und Chiflet (1659). In: Dahmen et al. (2001), S. 131-147. 398 Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 399 Vgl. Gabriele B eck -B usse , À propos d’une histoire des „Grammaires des Dames“. Réflexions théoriques et approches empiriques. In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n°47 - 48, 2012, S. 29. <?page no="125"?> 126 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Beck-Busse stellte nach der Analyse von 37 französischen und italienischen Grammaires des Dames fest, dass „les Dames“ nicht Personen, sondern ein Konzept verkörpern, einen sprachlichen „Reflex einer Gesellschaft, die in ‚den Damen‘ den Prototyp eines Konstrukts von Leserschaft sieht, der folgende Erwartungen unterstellt werden […]: “ 400 Der Inhalt des Werks soll für Latein-Unkundige aufbereitet sein und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Der Stoff wird auf „angenehme Weise“, „ohne Dornen“ 401 , also „unakademisch“ vermittelt und eignet sich für das Selbststudium. Eine Damengrammatik ist brève, concise, pertinente; qui préfère le pratique au théorique, le concret à l’abstrait, en mettant l’accent sur l’application et l’applicabilité (exercices, dialogues, vocabulaire, textes etc.) au lieu d’enseigner un système de règles stériles et arides, et, par conséquent, peu utiles; qui tienne compte de l’aspect „anti-érudit“, aussi par rapport à la forme extérieure: que format et grosseur des volumes s’accordent aux idées qu’évoquent l’ honnêteté , la sociabilité et le bon goût . 402 Die Eigenschaften der utilitaristischen Verwendung des Lernstoffs und der Fokussierung auf die praktische, konkrete Anwendung und Realisierbarkeit des Lernziels für das nicht gelehrte, also lateinunkundige Publikum zeigen die Linie zur späteren Entwicklung der Realienbildung und der (praxis- 400 Vgl. Gabriele B eck -B usse , Grammaire des Dames / Grammatica per le Dame: Grammatik im Spannungsfeld von Sprache, Kultur und Gesellschaft . Frankfurt: Peter Lang 2014, S. 249. 401 Die Metapher stammt von Abbé Bencirechi, der in seinen Leçons hebdomadaires de la langue italienne à l’usage des Dames sein weibliches Publikum für sich (und sein Werk) gewinnen will: „Je me flatte, MESDAMES, qu’une méthode aussi claire que commode, & qui n’offre que des fleurs à cueillir, où l’on ne trouve ordinairement que des épines, suffira pour vaincre tous les obstacles qui ont pu s’opposer jusqu’ici aux progrès que la langue italienne pouvait faire parmi vous; elle triomphera en même-tems de vos irrésolutions pour l’avenir.“ (Abbé B encirechi , Leçons hebdomadaires de la langue italienne à l’usage des Dames. Paris: Veuve Ravenel et Fetil 1772, IV-VI. Zitiert in Beck-Busse 2014, S. 150) und Madeleine r euillon -B lanquet , Grammaire des Dames et apprentissage des langues à la fin du XVIII e siècle. In: Histoire Epistémologie Langage 16 / II, 1994, S. 61.) Diese Metapher nimmt Abbé Louis Barthélémy in seiner Préface zur Cantatrice grammairienne wieder auf: „Nous invitons celles qui ne connoissent point cet essai à cueillir des roses dans un champ qui n’est semé ni de ronces ni d’ivraie.“ (Abbé Louis B arthélé my , La Cantatrice grammairienne, ou l’Art d’apprendre l’Orthographe Françoise seul, sans le secours d’un maître, par le moyen des Chansons érotiques, pastorales, villageoises, anacréontiques, & tc. Avec un portrait des Poёtes chansonniers les plus agréables de notre nation, & un modele de Lettres mélées de réflexions sur le style épistolaire. Ouvrage dédié aux Dames, & dédié à Madame la Comtesse d e B eauharnais par M. Abbé ***, de Grenoble. Genève: Grabit 1788, Préface, xi.). 402 Beck-Busse (2012), S. 21. <?page no="126"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 127 orientierten) Realschule auf. Als erste Quelle einer Grammaire des Dames gilt das gleichnamige, 1688 in Venedig erschienene Werk von Louis de Pelenis. 403 Die erste offiziell belegte Grammaire des Dames , die sich bereits im Titel ausschließlich 404 an die „Dames“ wendet, geht auf Annibale Antonini zurück. Die Mehrzahl der Damengrammatiken wurde jedoch von Männern oder unter (männlichen) Pseudonymen verfasst. Eine Ausnahme bildet Madame La Roche und ihr Lehrwerk La Pierre de Touche ou le secret de délier la langue par le moyen de certains Entretiens courts, faciles & galans. 405 Es handelt sich hierbei explizit um ein zweisprachiges Gesprächsbuch einer Frau für Frauen, 406 die ihnen den Zugang zum Französischen als europäische lingua franca des 17. Jahrhunderts erleichtern soll, indem sie auf eine Affinität zwischen Geschlecht und französischer Sprache verweist: Epître. Belles & charmantes Demoiselles. L’application & l’attachement que vous avés jusques ici fait paroître pour une langue, qui fait dans ce siécle une partie des délices des plus galantes & des plus polies de l’Europe, & qui posséde des avantages si eminens sur toutes les autres langues vivantes, m’ont obligée de vous offrir ce petit ouvrage, qui dans la prémiére vûë semblera peu digne de se voir dans vos belles mains; J’ose néanmoins vous protester ici avec tout le respêt, que je vous dois, qu’il vous sera d’une utilité toute particulière, pour vous faciliter l’accès de la langue françoise. Comme elle a beaucoup de douceurs & d’agrémens accompagnés d’une noble fierté, elle ne sçauroit paroître avec plus d’éclat, que dans vos belles bouches: vous pouvés par son moyen donner quel tour il vous plaira 403 De Pelenis präsentiert im Vorwort zum im gleichen Jahr erschienenen Werk La Galerie françoise Et italienne De Loüis de Pelenis sein methodisch-didaktisches Programm. Die Grammaire des Dames / La Grammatica delle Dame stellt hierbei den ersten Band, also den ersten Raum der Galerie dar. Vgl. dazu Beck-Busse (2012), S. 24, und Beck-Busse (2014), S. 308. 404 „Au reste, cette grammaire sera principalement à l’usage des Dames.“ (Annibale a ntonini , Grammaire italienne à l’usage des Dames, avec des dialogues et un Traité de la Poësie dédié à la Reine. Paris: Philippe-Nicolas Lottin 1726, Préface, S. 2 f.). 405 Vgl. Madame l a r oche , La Pierre de Touche ou le secret de délier la langue par le moyen de certains Entretiens courts, faciles & galans, divisés en trois parties avec une grammaire nouvellement revuë & augmentée d’un Recueil de plusieurs histoires, de régles et de lettres sur toutes fortes de sujets. Lipsic: Chés les Heritiers de Frederic Lankisch 1730 (1730a). / Madame La r oche , Der Probier-Stein, oder die Kunst die Zunge aufzuloesen, vermittelst kurtzer, leichter und galanter Gespraeche, In drey Theile abgefasset. Nebst einer vollstaendigen Grammatic, von neuem uebersehen, mit noch einigen nuetzlichen Regeln, und mit einem Anhange unterschiedener lustigen Historien und allerhand Briefen, und itzt mit einem sehr leichten Syntax vermehret. Leipzig: In Verlag Friedrich Lanckischens Erben 1730 (1730b). 406 Im Avertissement lockert La Roche diese Einschränkung und öffnet das Werk auch den höfischen Kavalieren: „Cet ouvrage peut servir aux Cavaliers aussi bien qu’aux Dames […]“. (La Roche 1730, Préface, S. 5.). <?page no="127"?> 128 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht aux choses, […], que lorsque vous vous servés de cette belle langue, qui a sû trouver le secret d’enchanter les plus belles âmes. 407 Nach dem französischen Vorwort folgt die deutsche Übersetzung. Das Lehrwerk enthält Dialoge in der Interlinearversion. In der Préface wird die kommunikationsgelenkte Praxisorientierung ihrer Dialoge unterstrichen und parallel dazu der traditionelle, deduktive Unterricht kritisiert: 408 Pour cela, elle a inséré dans ces Entretiens tout ce qui peut tomber à tous momens dans le discours, que pourroient tenir des gens, qui bronchent à chaque pas, ou pour parler plus clairement, qui ont de la peine à dire: bon jour, bon soir & comment vous portés vous , après avoir pris leçon (chose étonnante) sept ou huit mois de certaines gens qui se disent maîtres de Langues. 409 Im Kapitel Kurtze und leichte Gespräche ihres Onziême Entretien / Das eilffte Gespraech 410 nimmt La Roche am Beispiel der Interlinearversion dieses Argument wieder auf und vergleicht die praxisorientierte Vermittlung mit dem musischen Element des Tanzens, das man praktisch beherrschen sollte. Gleichzeitig kritisiert sie die mangelnde didaktisch-methodische und fachliche Ausbildung der Sprachmeister: Il y a des gens ici, qui Es giebt Leute hier, welche se disent Maîtres de Langue, & sich vor Sprachmeister ausgeben, ils ne savent pas seulement und koennen nicht einmal l’orthographe. orthographice schreiben. Il y en a d’autres, qui Es giebt noch andere, die n’ont apris que deux nur 2. Monath Franzoesisch mois le françois, & gelernet, und sich dennoch ne laissent pas d’enseigner, unterstehen zu informiren & d’avoir des Ecoliers. und Scholaren anzunehmen. Il en êt de même de Also ist es auch mit dem la Danse, chacun se Tantzen beschaffen, jedermann mêle de montrer à unterstehet sich im Tanzen danser. zu informiren. 407 La Roche (1730), S. 2 f. 408 Vgl. dazu die beiden methodischen Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts und Reinfried (2016), S. 621 sowie S. 125 in der vorliegenden Arbeit. 409 La Roche (1730), Préface, S. 1. 410 Ebd., S. 133-144. <?page no="128"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 129 Et il y en a assés ici, Und es giebt ihrer hier so viel, pour en fournir à toutes daß man koente alle Staedte in les villes d’Allemagne. Teutschland darmit versorgen. 411 411 In den 1740er bis 1760er Jahren erschienen Damengrammatiken vor allem in Deutschland. 412 Beck-Busse spricht von einer „première phase d’‚accumulation’“ ou de ‚condensation’“. 413 Es handelt sich wieder um die imitative Richtung 414 mit Dialogen und Interlinearversion. Gottfried Steinbrecher publiziert seine Grammaire 415 in Dresden, David Étienne Choffin seine Nouvelle Grammaire A-l’Usage des Dames 416 in Berlin, Christian Gottfried Hase 417 in Halle und Henrich Martin Gottfried Köster 418 in Frankfurt. 411 Ebd., S. 143 f. 412 Die zitierten Damen-Grammatiken, die im deutschsprachigen Raum erschienen sind, zeigen schon im Titel einen Zusammenhang zwischen „Damen“ und „Ungelehrten“ bzw. „Lateinunkundigen“. (Vgl. dazu Beck-Busse 2014, S. 132. Beck-Busse nennt als Ausnahmen Steinbrecher und Prunay. Steinbrecher charakterisiert seine Grammaire mit dem Adjektiv „leichte“. Somit ist hier auch implizit von einer Grammatik für „Ungelehrte“ auszugehen.). 413 Vgl. Beck-Busse (2012), S. 24. 414 Reinfried (2016), S. 621. 415 M. Gottfried s teinBrecher , M. Gottfried Steinbrechers leichte frantzösische Grammaire vor das Frauenzimmer. In XX. Regeln, Artigen Sprüchwörtern, Kurtzen Brieffen, und Kuriosen Reden. Dreßden: Johann Nicolaus Gerlachen 1744. 416 David Étienne c hoFFin , Nouvelle Grammaire A l’Usage des Dames, Et d’autres Personnes Qui ne savent pas de Latin. Tome II. Berlin: Haude und Spener 1747. 417 Christian Gottfried h ase , Philosophische Anweisung zur franzoesischen, italiaenischen und englischen Sprache auf Verlangen herausgegeben . Halle: Joh. Justinus Gebauer 1750. Man erkennt hier neben den französischen und italienischen „Frauenzimmer“-Sprachen bereits die „ marketplace -Orientierung“ anhand der englischen Sprache. Hase und Köster betonen auch die Phonetik bzw. Aussprache und stellen diese kontrastiv vor der Folie des Deutschen dar. 418 Henrich Martin Gottfried k öster , Anleitung zur Frantzösischen Sprache zum Gebrauch des Frauenzimmers, und anderer welche kein Latein verstehen. Frankfurt und Leipzig: Johann August Raspe 1761. Köster betont in seiner Vorrede ausführlich die Verwendung der mündlichen Sprache und integriert kontrastiv phonetische Regeln zur deutschen und französischen Aussprache. Seine Leçons enthalten wie bei Madame La Roches La Pierre de Touche Gespräche mit einer Interlinearversion französisch-deutsch: „Man hat einen rechten Ueberfluß an Frantzoesischen Grammaticken; allein ich zweifele, ob eine einzige so beschaffen ist, daß man Frauenzimmer daraus unterrichten kann. Ich habe einen Versuch gemacht, diesem Mangel abzuhelfen; mit welchem Erfolg, das wird die Zeit und das Urtheil der Verstaendigen lehren […]. Ich schreibe hier vor Frauenzimmer und Unstudierte, und diese haben genug, wenn sie so viel in einer Grammatik finden, daß sie durch ihre, eines guten Woerterbuchs und eines muendlichen Lehrers, Beyhuelfe franzoesische Schriftsteller verstehen lernen und im Sprechen desto geschwinder fortkommen.“ (Ebd., A1-3.). Köster zeigt in seiner Einleitung, dass das Parlieren im Französischen eine Notwendigkeit in der Salonkultur geworden ist: „Die franzoesische Sprache ist so <?page no="129"?> 130 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht In den 1770er und 1780er Jahren dominieren Grammaires des Dames , die in Frankreich bzw. im französischsprachigen Raum erschienen. Beck-Busse hat herausgeabeitet, dass das für den französischsprachigen Raum wichtigste Assoziationsmuster auf der Beziehung ‚der Damen‘ zur Orthographie [beruht], […] was insofern kaum überrascht, als die am Latein orientierte, etymologisierende (Recht-) Schreibung des Französischen gemeinhin als die zentrale Schwierigkeit des weiblichen Geschlechts begriffen wird.“ 419 Die Orthographie wird somit zum „zentralen Referenzpunkt der Lateinunkundigkeit“. 420 Häufig griffen die Autoren auf die Herausgeberfiktion zurück, wählten ein weibliches Pseudonym oder gaben keinen Namen an. Die Ausstrahlungskraft und, wie es Beck-Busse resümiert, die „Plakativität der Formel Grammaire des Dames“ 421 führten dazu, dass 1776 eine Damengrammatik ohne Autor oder Nebentitel erschien. Als Verfasser wird im Sinne der Herausgeberfiktion nur der Anfangsbuchstabe P *** angegeben. 422 Der vollständige Nachname wird nur in der Schlussformel der Widmung erwähnt und typographisch hebt sich die in Kleindruck verfasste Ergebenheitsformel von der in Majuskeln abgesetzten Dame ab: „Je suis, avec le plus profond respect, MA- DAME, de Votre Altesse Sérénissime, Le très-humble & très-obéissant Serviteur, Prunay.“ 423 An den eigentlichen Titel wird typographisch schon der Inhalt des Werks als Mini-Résumé beschrieben: Où l’on trouvera des principes sûrs & faciles, pour apprendre à Orthographier correctement la Langue française, avec les moyens de connaître les expressions provinciales, de les éviter, & de prévenir, chez les jeunes Demoiselles, l’habitude d’une prononciation vicieuse, Dédiée à Son Altesse Sérénissime Madame la Princesse de Lambalen Surintendesse de la Maison de la Reine. 424 nothwendig geworden, daß sie ein Frauenzimmer sogar nicht mehr entbehren kann. Der allgemeine Gebrauch dieser Sprache in der galanten Welt, die vortreffliche Schriften, die nahe Nachbarschaft der Franzosen, und ihre oeftere Gegenwart in Laendern, wo man sie vor diesem kaum nennen hoerten, ist der Grund dieser Nothwendigkeit.“ (Ebd., S. 9.). 419 Vgl. Beck-Busse (2014), S. 133. 420 Ebd., S. 134. Vgl. zur Orthographe des Dames Dena g oodmann , L’ortografe des dames: Gender and Langage in the Old Regime. In: French Historical Studies , 25 / 2, 2002, S. 191-223. 421 Vgl. Beck-Busse (2014), S. 128. 422 Vgl. Mr. d e P runay , Grammaire des Dames, Où l’on trouvera des principes sûrs & faciles, pour apprendre à orthographier correctement la langue française. Paris: Lottin l’aîné 1777. 423 Ebd., Widmung, a ij. 424 Ebd., Titelseite. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="130"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 131 Der Autor Prunay, „Chevalier de l’Ordre Royal et Militaire de Saint-Louis“, 425 widmet seine Damengrammatik der Princesse de Lamballe . In der Préface stellt er die Schwerpunkte seiner Grammaire des Dames 426 vor: „Il axe son ouvrage sur la bonne éducation, sur le bon ton, la correction, l’élégance de justesse auxquels doivent parvenir les ‚jeunes demoiselles’“ 427 Prunay zeigt, dass „Une Dame possède de façon innée l’art de la conversation“, 428 unterstreicht aber auch die Rolle der Orthographie: Une Dame, par exemple, fait tout le plaisir d’une conversacion, par son esprit, par les grâces qu’elle fait répandre sur tout ce qu’elle dit, par les expressions fines et délicates dont elle se sert; que cette même Dame s’exprime par écrit, il semble que ce ne soit plus la même personne […]. 429 Prunay nimmt die Rosen- und Dornenmetapher von Abbé Bencirechi auf und zeigt, dass seine Damengrammatik, die moins chargée que les autres [grammaires conventionnelles, A. R.], débarassée de ses épines ordinaires; & ornée de quelques fleurs, ne pourra que plaire aux Dames, & que les jeunes Demoiselles y apprendront, promptement, en s’amusant & sans fatiguer leur mémoire, ce que notre Langue a de plus essenciel, tant pour l’expression que pour l’Ortographe. 430 Es handelt sich hierbei um einen Aspekt der intrinsinschen Motivation. Durch das freudvolle Lernen („plaire“), „en s’amusant“ wird ein Lernfortschritt erzielt. Neben Kurzgeschichten wird unter der Rubrik Alphabet français auch ein Sonett verwendet: Il serait à souhaiter que tous les pêcheurs eussent des sentiments de pénitence, pareils à ceux qu’on trouve décrits dans ce fameux Sonnet de Desbarreaux. Il est si beau pour l’expression & les sentimens, que je suis persuadé qu’on ne sera pas fâché de le retrouver ici. 431 425 Ebd., Titelseite. 426 Javier Suso López hat nachgewiesen, dass bei Prunay die Bezeichnung „Grammaire des Dames“ „est établie, en tant que label définitoire d’un type de grammaire.“ - Vgl. Javier S uso l óPez , Le rôle des Grammaires destinées aux dames dans la disciplinarisation du français (XVIII e siècle). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n°47-48, 2012, S. 71. 427 Vgl. Madeleine r euillon -B lanquet , Grammaire des Dames ou comment rendre „instructive et amusante“ une étude généralement considérée comme rébarbative. In: Équipe 18 ème et Révolution (Hrsg.), Langages et Révolution (1770-1815). Actes du 4 ème colloque international de lexicologie politique. Collection Saint-Cloud. Paris: Klincksieck 1995, S. 165. 428 Ebd., S. 165. 429 De Prunay (1772), Préface, S. xviii. 430 Ebd., S. xix. 431 Ebd., S. 302. <?page no="131"?> 132 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht 1785 erscheint in Genf eine äußerst erfolgreiche Damengrammatik, die danach sechsmal in Paris aufgelegt wird. Es handelt sich um die Grammaire des Dames ou Nouveau Traité d’orthographe Françoise des Abbé Louis Barthélémy. 432 Das Werk ist Madame la Comtesse de Genlis gewidmet. Wie Prunay stellt auch Barthélémy in seiner Préface mit Enthusiasmus die Vermittlung der französischen Sprache für das weibliche Publikum dar als „celle qui a le plus de disposition à la perfection; son caractere consistant dans la clarté, la pureté, la finesse & la force.“ 433 Die Darstellungsweise der Damengrammatik soll so einfach und so präzise wie möglich sein: „Dans cet Ouvrage, destiné principalement aux Demoiselles, les élémens de notre Langue seront présentés de la maniere la plus simple & la plus précise.“ 434 Dabei verweist er mehrfach auf die clarté der französischen Sprache und bezieht sich damit auf die zwei Jahre zuvor von Rivarol 435 gegebene berühmte Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie: „Si cet ouvrage n’a pas le mérite de la nouveauté dans le choix de la matière, […], j’ose dire qu’il aura celui de la clarté.“ 436 „L’Orthographe des Dames“ nimmt hierbei einen wichtigen Platz ein und illustriert gewissermaßen Barthélémys Aussagen. Seine Grammatik soll das (weibliche) Publikum unterhalten und nicht trocken-monoton, also weltfremd und deshalb abstoßend wirken wie der traditionelle, deduktive (Latein-) Unterricht: 437 „l’orthographe [….] avait 432 Vgl. Abbé Louis B arthélémy , Grammaire Des Dames, Ou Nouveau Traité d’Orthographe Françoise, Réduite aux regles les plus simples, & justifiée par des morceaux choisi de Poésie, d’Histoire, & c. Ouvrage dédié A Madame la Comtesse de Genlis. Par M. L’Abbé Barthélémy, de Grenoble. Genève: Paul Barde 1785. 433 Ebd., Préface, S. v. Barthélémy zitiert hier den Grammatiker Abbé Girard. - Vgl. Synonymes François Leurs differentes significations et le choix qu’il en faut faire pour parler avec justesse par Mr. Abbé Girard de l’Académie Françoise & Secretaire-Interprête du Roi. Préface IV. In: Les Œuvres de Mr. L’Abbé Girard de l’Académie Françoise & Secretaire-Interprëte du Roi. Tome Second Contenant des Vrais principes de la Langue françoise avec les Synonymes François. Leide: chez J. de Wetstein 1762. 434 Vgl. Barthélémy (1785), Préface, S. vi. 435 Rivarol zeigt in seiner wohl bekanntesten Formel, dass die clarté des Französischen der Grund für dessen exponierte Rolle darstellt: „Ce qui distingue notre langue des langues anciennes et modernes, c’est l’ordre et la construction de la phrase. Cet ordre doit toujours être direct et nécessairement clair […]. Le Français, par un privilège unique, est seul resté fidèle à l’ordre direct […]: la syntaxe française est incorruptible. C’est de là que résulte cette admirable clarté, base éternelle de notre langue. Ce qui n’est pas clair n’est pas français; ce qui n’est pas clair est encore anglais, italien, grec ou latin. (Antoine de r ivarol , De l’Universalité de la langue françoise. Paris: Bailly & Dessenne 1784, S. 49 f., Paris: Obsidiane 1991, S. 38 f.). Vgl. dazu auch Ulrich r icken , Grammaire et philosophie au siècle des Lumières. Villeneuve-d’Ascq: PUL 1978, S. 158 f. 436 Barthélémy (1785), Préface, S. viii. Meine Hervorhebung steht in Fettdruck. 437 Vgl. Reinfried (2016), S. 621. <?page no="132"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 133 besoin d’être présenté sous des dehors moins arides & moins rebutans.“ 438 Deshalb folgt Barthélémy der imitativen Richtung 439 und integriert Textsorten wie „verschriftlichte Dialoge oder einfache zielsprachliche Texte“, 440 historische Anekdoten, Zitate und Gedichte, die eine semantische Nähe zur Gattung Lied haben. Jedes Grammatikphänomen wird durch eine kurze Definition eingeführt, kursiv hervorgehoben und dann anhand eines kurzen Gedichts zusammengefasst. Dabei soll der Reim auf spielerische Weise nicht nur die Damen unterhalten, 441 sondern auch beim Memorisieren der Beispiele helfen: DES DIPHTHONGUES. Plusieurs voyelles sont-elles réunies dans une syllabe, pour se prononcer par une seule émission de voix? C’est ce qu’on appelle diphthongue. Ainsi ces vers: Il n’est point de cœur sans desir, Ni d’espérance sans plaisir ; Je jouis quand mon cœur s’amuse A se repaître avec ma muse Des chimeres de l’avenir. Les voyelles des mots cœur, plaisir, jouis, repaître, font des diphthongues Parce qu’elles se prononcent par une seule émission de voix. 442 DIPHTHONGUES. PRONONCEZ Caen sans e : c â n Faon Laon sans o : fân, lân, pân Paon 442 438 Vgl. Barthélémy (1785), Préface, vii. In der 5. Auflage nimmt Barthélémy die Rosenmetapher wieder auf. Reuillon-Blanquet stellt das Zitat als Motto über ihren Aufsatz: „Peu de ronces et beaucoup de roses.“ (Vgl. Reuillon-Blanquet 1995, S. 163.). 439 Vgl. Reinfried (2016), S. 621. 440 Ebd., S. 621. 441 Madeleine Reuillon-Blanquet (1995), S. 168 charakterisiert die Funktion des Werks wie folgt (meine Hervorhebungen in Fettdruck): „Ce livre pourrait passer pour une anthologie de la littérature galante ou mondaine. Il s’insurge aussi contre les prononciations vicieuses, signe de mauvaise éducation, et relève en particulier celles de Genève. On peut noter que cette Grammaire des dames a traversé sans encombre l’époque révolutionnaire (1797, 5 e édition) sans que rien ne soit changé au contenu, ni surtout aux exemples. Les auteurs de référence sont les mêmes, et l’on s’adresse toujours à des jeunes filles de bonne famille.“ 442 Ebd., S. 3 f. <?page no="133"?> 134 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Barthélémy widmet der Aussprache einen wichtigen Teil seines Orthographiekapitels. Damit kündigt sich schon die wachsende Bedeutung der Phonetik bei der neusprachlichen Reformbewegung und der direkten Methode an. Da es zu Barthélémys Zeit noch keine genormte Ausspracheschrift gab (das Alphabet Phonétique International wurde erst 1888, also ein Jahrhundert später, entwickelt), transkribiert Barthélémy mit einem accent circonflexe. Drei Jahre später erweitert Barthélémy sein Textrepertoire mit einer weitgefächerten Liedersammlung, bei der die Musik eine tragende Rolle in der Grammatikvermittlung erhält: La Cantatrice grammairienne . Der Titel bereits ist ein methodisches Programm: das Epitheton charakterisiert die Rolle der Cantatrice , sie zeichnet sich durch die Grammatik aus. Auch typographisch wird die Bedeutung der Sängerin unterstrichen durch die Majuskel und den Großdruck des Nomens CANTATRICE. Sie allein steht im Mittelpunkt. Es handelt sich also um eine Grammatik, die auf musische Weise (im Sinne der imitativen Richtung 443 ) durch eigenständiges, autonomes Lernen „sans le secours d’un maître“ 444 vermittelt werden soll. Das breitgefächerte Repertoire der Lieder wird wie bei Prunay bereits im Titel ausführlich dargestellt und hat die Funktion eines Mini-Résumé: La Cantatrice grammairienne, ou l’Art d’apprendre l’Orthographe Françoise seul, sans le secours d’un maître, par le moyen de Chansons érotiques, pastorales, villageoises, anacréontiques, & tc. Avec un portrait des Poëtes chansonniers les plus agréables de notre nation, & un modele de Lettres mélées de réflexions sur le style épistolaire. 445 Das Lied-Repertoire umfasst ein buntes Florilège an Gattungen, an deren Anfang die Chansons érotiques 446 stehen - ein Beweis dafür, dass ein genre populaire für ein freudvolles, 447 lebendiges, motivationsgeladenes und unterhaltsames 443 Vgl. Reinfried (2016), S. 621. 444 Beck-Busse stellt einen Zusammenhang her zwischen der Möglichkeit, auf einen Sprachmeister verzichten zu können und der Grammaire des Dames : „Ist die Darstellung klar genug, kann auf Erläuterungen (und damit den Sprachmeister) verzichtet werden.“ (Beck-Busse 2014, S. 145.). 445 Vgl. Barthélémy (1788), Titel. 446 Suso López verweist in diesem Zusammenhang auf die im Dictionnaire de l’Académie von 1762 angegebene etymologische Bedeutung von érotique : „Adjectif qui doit être pris dans son sens traditionnel: ‚qui appartient à l’amour, qui en procède’“. „L’adjectif ‚érotique‘ ne doit pas conduire à l’erreur: ce sont des poésies qui parlent de l’amour, des sentiments affectifs du plaisir d’aimer, tout simplement.“ (Suso López 2012, S. 74.). Es handelt sich hier noch nicht um den „caractère grivois“ der „chansons de vaudeville“ wie bei Simonnin. 447 In diesem Zusammenhang spricht Suso López von „pratiques pédagogiques innovantes“ und verwendet die „formule d’une ‚pédagogie souriante’“. Ebd., S. 74. (Vgl. dazu auch Carla P ellandra , La grammatica delle dame. In: Lionello s ozzi (Hrsg.) L’educazione <?page no="134"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 135 Lernen 448 sorgt. Das wird auch durch das Motto auf dem Titelblatt „En instruisant, cherchons à plaire“ unterstrichen. Die Damengrammatik ist Madame la Comtesse de Beauharnais 449 gewidmet. Wie Prunay gibt Barthélémy seinen Namen auf der Titelseite nicht an: „OUVRAGE destiné aux Dames, & dédié à Madame la Comtesse d e B eauharnais . Par M. l’Abbé ***, de Grenoble. “ 450 Auch in der Zueignungsformel an Comtesse de Beauharnais unterzeichnet er als „Votre très-humble & très obéissant serviteur, l’Abbé ***.“ 451 Barthélémy verbindet einen Prosatext mit mehreren Liedern, gefolgt von „réflexions sur le style épistolaire“. 452 Er erkennt eine Affinität von Damen und Gesang und hält dies für ein angeborenes Charakteristikum: „L’humeur chansonnière, en général, est un des caractères des femmes: tristes ou gaies, elles chantent toujours; & l’on diroit que la chanson est l’expression naturelle de tous leurs sentiments.“ 453 Deshalb soll eine Damengrammatik spezifisch für die Frauen das Wissen angenehm, lebensnah und mit freudvoller Motivation vermitteln, wozu sich Lieder ideal eignen: „[…] il faut aux femmes un savoir qui soit d’accord avec leurs traits; par conséquent les connoissances qu’elles desireront acquérir doivent être celles qui sont d’un usage agréable pour la vie […]. 454 Der Einsatz dell’uomo e della donna nella cultura illuministica. Atti del Convegno Internazionale di Torino. Turin: Accademia della scienze, Bd. 24.3, 2000, S. 103-115.). 448 Suso López stellt das freudvolle Lernen für das weibliche Publikum in Bezug zum Spannungsfeld Mädchenvs. Knabenbildung und ordnet es in den bildungspolitischen Kontext des vorrevolutionären Frankreichs ein (meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck): „Barthélémy revendique ainsi le plaisir d’apprendre, face au châtiment corporel, aux punitions sévères, à la discipline aveugle […] qui faisaient partie du „programme“ d’enseignement des écoles et des collèges des garçons, et qui constituaient le moyen d’affermir leur caractère, d’en faire des hommes. Installer le principe du plaisir dans l’éducation était ainsi un pogramme révolutionnaire, dont participe Barthélémy, même s’il est réservé aux femmes“. (Suso López 2012, S. 74.). 449 Die Comtesse de Beauharnais war wie Barthélémy Mitglied in der Société des amateurs de la langue française , die vom Académicien und „grammairien patriote“ François-Urbain Domergues gegründet wurde. Vgl. dazu Beck-Busse (2014), S. 275, und Winfried B usse / Françoise d ougnac , François-Urbain Domergue: le grammairien patriote (1745-1810). (Lingua et traditio, Bd. 10.). Tübingen: Narr 1992, S. 34-42. 450 Barthélémy (1778), S. i. und iv. 451 Auf der Einbandseite der Originaledition von 1788 findet man den Zusatz mit Namen: „Par M. Abbé Barthélémy, Auteur de la Grammaire des Dames.“ Vgl. dazu Beck-Busse (2014), S. 275. Reuillon-Blanquet leitet daraus eine Präferenz von Barthélémy für seine Grammaire des Dames ab: „Le nom de l’auteur et la référence à la Grammaire des Dames, qu’il considéroit sans doute comme une œuvre plus sérieuse, figurent en clair sur la page de titre de cette édition.“ (Reuillon-Blanquet 1995, S. 175.). 452 Barthélémy (1778) , Préface, S. vii. 453 Ebd., Préface, S. xi. 454 Ebd., Préface, S. xi. - Vgl. zu den Stereotypen in den Grammaires des Dames Nadia m i nerva , Le donne e la grammatica. Su alcune „Grammaires des Dames“ tra Sette e Otto- <?page no="135"?> 136 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht von Liedern erleichtert nicht nur das Lernen, sie sind ein wichtiger Pfeiler seines didaktischen Konzepts, das erfolgreich sein wird, denn: „[Il est possible d’] apprendre sa langue en chantant.“ 455 Bei Barthélémy fungiert das Lied als Hilfsmittel, als motivationsgelenktes Element zur Wiederholung bzw. zum mnemotechnischen Einschleifen und zur Zusammenfassung der Grammatikregel. Wie Prunay betont Barthélémy bei allen Kompetenzen auch hier die Bedeutung einer korrekten Orthographie: L’étude de la langue ne devroit-elle pas avoir le premier pas sur toutes les autres? L’orthographe n’est-elle pas une partie de cette étude à laquelle elles doivent donner le plus d’attention? „Orthographiez, orthographiez, disons-nous sans cesse aux femmes, si vous voulez que nous vous lisions avec tout intérêt que la fraîcheur & le brillant de votre coloris nous inspirent.“ 456 Hierbei zeigt sich, dass seine Damengrammatik anwendungsorientiert und utilitaristisch ist: Die Einführung in die Orthographie und die Wortarten dient dem Verfassen von Briefen, dem damals verbreiteten Betätigungsfeld der Damen. Die Grammaires des Dames sind also funktionale Gebrauchsgrammatiken. 457 Gleich zu Beginn seiner Cantatrice grammairienne deutet Barthélémy an, warum er ein lernerorientiertes, abwechslungsreiches Lernen ermöglichen will: „L’ennui naquit un jour de l’uniformité.“ 458 Dem freudvollen Lernen („plaisir“) wird somit als Negativfolie die Langeweile („l’ennui“) entgegengesetzt. Interessanterweise deckt sich diese Klassifizierung mit den beiden von Marcus Reinfried beschriebenen methodischen Hauptrichtungen, der imitativen und traditionell-deduktiven Richtung. 459 Diese Einteilung ergänzt die Synthese von Beck-Busse: 460 ceno. In: Nadia m inerva (Hrsg.), Dames, démoiselles, honnêtes femmes. Bolognia: CLUEB 2000, S. 73-105, bes. S. 78-80 und S. 96 f. 455 Barthélémy (1778), Préface, S. xi. 456 Ebd., Préface, S. ix. 457 Vgl. Dahmen et al. (2001), S. 131-147. Beck-Busse fügt zur Polarität „Gebrauchsgrammatik“ vs. „Gelehrte Grammatik“ die Polarität „Soziable Grammatik“ vs. „Gelehrte Grammatik“ hinzu, wobei die „Soziable Grammatik“ durch „Aspekte wie Eleganz, Grazie, Ungezwungenheit, Kommunikativität, kurz Soziabilität“ ergänzt wird. Beck-Busse (2014), S. 179 f. 458 Barthélémy (1788), S. i. 459 Vgl. Reinfried (2016), S. 621. 460 Vgl. Beck-Busse (2014), S. 258. Dabei berücksichtigt die Synopse nur „Parameter, die im 17. und 18. Jahrhundert die Diskussion rund um Literatur ‚für Damen und andere Ungelehrte‘ bestimmen.“ <?page no="136"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 137 PLAISIR ENNUI variété uniformité geschmeidige Anordnung starrer Aufbau Plauderton, Gespräch Vortrag Briefe, Verse Wissenschaftsprosa, Traktat unterhaltend dozierend von gleich zu gleich von oben herab herrschaftsfrei belehrend soziabel unsoziabel dialogisch monologisch kurzweilig langatmig abwechslungsreich eintönig handlich unförmig clarté l’obscur induktiv deduktiv Praxisbezug, Anwendung, Übung Theorie Beispiele Regeln anschaulich metaphysisch Barthélémy kämpft somit gegen die Monotonie des (traditionellen) deduktiven lateinzentrierten Unterrichts und setzt sich ein für eine Öffnung des Französischunterrichts, indem die grammatischen Regeln imitativ erst durch das Lied verifiziert und dann angewendet werden durch den Akt des gemeinsamen Singens: Diversité sera la devise d’une production à laquelle j’avois cru d’abord ne pouvoir ravir la monotonie qui paraissoit en être le partage. Je prie les dames de ne faire que de très-courtes réflexions sur le précepte. Les chansons qui le confirment, diront plus que le précepte lui-même. 461 In der Liedstrophe wird das grammatische Phänomen vorgestellt und im Text kursiv hervorgehoben. Im Refrain dieser chansons grammaticales wird die Regel aufgenommen und verifiziert: „Les chansons qui suivent justifieront le précepte.“ 462 Um den Unterricht kurzweilig und lernerzentriert, also erfahrbar für alle, zu gestalten („à la portée de tout le monde“), verwendet Barthélémy bekannte Melodien populärer Autoren und auch Volkslieder aus zeitgenössischen Liedersammlungen, die als tube oder Ohrwurm zum damaligen Gemeingut gehörten und einen lieu commun bildeten: 461 Vgl. Barthélémy (1788), S. 1. 462 Ebd., S. 211. <?page no="137"?> 138 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Nous avons extrait des meilleurs recueils, celles qui étoient marquées au coin du bon goût & qui pouvoient se chanter sur des airs connus, afin que l’ouvrage fût à la portée de tout le monde. Les meilleurs couplets qui aient été faits dans notre langue, y ont trouvé place. Les noms des auteurs justifieront d’ailleurs notre choix. 463 Der Rückgriff auf Bekanntes, „des airs connus“, folgt einer pädagogischen Progression vom Bekannten zum Neuen, dem oben dargestellten didaktischen Konzept Vom Eigenen zum Fremden. 464 Die Technik der Kontrafaktur ermöglicht so eine Breitenwirkung im bildlichen Sinne einer tache d’huile: Alle Lernerinnen können die (am Beispiel kursiv dargestellte) neue Regel ad hoc singen und internalisieren, da ihnen die Melodie schon bekannt ist, was immer explizit angegeben wird, z. B. „Cette chanson faite sur l’air: Vous qui du vulgaire stupide est adressée à une aimable Glycere, & désigne très bien les articles. “ 465 Gleichzeitig dient die Reimstruktur als mnemotechnisches Instrument zum Memorisieren der grammatisch-lexikalischen Regel. Die Vermittlung erfolgt induktiv, dialogisch, gewissermaßen ungezwungen im Plauderton durch ein inklusives nous : Chantons avec Mad. Dugason, les trois couplets qu’on trouve dans la scene sixieme de La folle par amour: ils nous donneront l’idée la plus satisfaisante du futur. 466 Quand le bien-aimé reviendra Près de sa languissante amie, Le printemps alors renaîtra, L’herbe sera toujours fleurie; Mais je regarde …. hélas! … hélas! … Le bien-aimé ne revient pas! … 467 Barthélémy setzt diese Technik auch als Illustration der Grammatikregel, als Wiederholung, Festigung und zur Ergebnissicherung ein. Zum divertissement wird ein (damals bekanntes) Spottlied gesungen: Les dames chanteront avec plaisir la chanson suivante qui vient à l’appui de la même règle. Elle est sur l’air: Annette à l’âge de quinze ans. Mad. De F**, qui railloit M. de Goud ** sur la petitesse de sa taille: 463 Ebd., S. 2. 464 Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. 465 Vgl. Barthélémy (1788), S. 8. 466 Ebd., S. 47. - In einer Fußnote gibt Barthélémy die semantische Regel an: „Le futur marque une chose qui n’est pas, mais qui sera ou qui se fera.“ Die Damengrammatik wendet sich an ein frankophones (und frankophiles) Publikum. 467 Ebd. <?page no="138"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 139 Il est vrai, je ne suis pas grand; Mais cet illustre conquérant, Cet Alexandre qui vainquit, Chacun le nomme Un très-grand homme, Quoique petit. 468 Die hier beschriebene Szene bezieht sich auf Barthélémys Motto „Il est agréable d’apprendre sa langue en chantant“ 469 und entspricht fast detailgetreu der Frontispizseite 470 von La Grammaire en vaudevilles, ou lettres à Caroline 471 (Abb. 10, S. 141). Es werden drei junge Damen dargestellt, die anhand von Gesang die Grammatik wiederholen: in der Mitte des Bildes spielt eine junge Dame die Laute, rechts lehnt sich eine junge Dame mit verschränkten Armen an die Lautenspielerin und hört ihr andächtig zu, während die links gegenüber sitzende junge Dame die Hände wie eine Dirigentin im Takt der Melodie wiegt. Als Subtext steht unter der Abbildung: „Elles répètent leur grammaire en s’accompagnant de la guitare.“ 472 Diese Szene illustriert zwei interessante Aspekte zum Liedeinsatz: einerseits handelt es sich erstmalig um eine inhärente didaktische Funktion der Musik, andererseits wird mit dem Wiederholen und Nachahmen im Sinne der imitativen Richtung die zunehmende Bedeutung der Artikulation und Aussprache deutlich. Diese Elemente kündigen die spätere Entwicklung der neusprachlichen Reformbewegung an. Das Werk La Grammaire en vaudevilles wurde anonym veröffentlicht. Laut Barbier 473 stammt das Werk von Barthélémys Schüler Antoine-Jean-Baptiste Simonnin. 468 Ebd., S. 224. 469 Barthélémy (1788), Préface, S. xi. 470 Beck-Busse stellt das Zitat von Barthélémy direkt unter das Bild, um die Parallele zu verdeutlichen. Vgl. Beck-Busse (2011), S. 43. 471 Antoine-Jean-Baptiste s immonin , La Grammaire en vaudevilles, ou Lettres à Caroline sur la Grammaire française, par S ***. Paris: Barba 1806. 472 Ebd., Frontispiz. - Es handelt sich bei dem dargestellten Musikinstrument wahrscheinlich um eine Gitarrenlaute, die auch Gitarre von Mandora genannt wird. Diese Laute hat eine Gitarrenbesaitung. Der birnenförmige Körper der Laute wurde beibehalten, während die robustere Mechanik, die Bünde und die Besaitung von der Gitarre übernommen wurden. 473 Hier lautet die Eintragung: „Grammaire française en vaudevilles, ou Lettres à Caroline sur la langue française, par M. S. … (Ant.-Jean-Bapt. s immonin ). Paris, brumaire an XIV 1806, in-16.“ Vgl. Antoine-Alexandre B arBier , Dictionnaire des ouvrages anonymes . Troisième édition Paris: Gauthier-Villars 1874, Tome II, E-L, S. 554. Die Schreibweise des Autors von La Grammaire en vaudevilles variiert in verschiedenen Quellen zwischen Simonnin, Simmonin und Simonin. In der vorliegenden Arbeit wird - abgesehen von unterschiedlichen Zitaten - die Schreibung Simonnin präferiert. <?page no="139"?> 140 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Im Gegensatz zu Barthélémys Cantatrice grammairienne verzichtet Simonnin auf ein Zueignungsschreiben, da die Widmung an Caroline bereits im Titel erfolgte. Dafür setzt Simonnin vor die Préface ein zweiseitiges schwülstiges Widmungsgedicht. 474 Im Sinne der Herausgeberfiktion erklärt Simonnin in der Préface : Cependant je dois dire encore que la Grammaire en vaudevilles n’étoit pas destinée à l’impression. Ces lettres n’avoient d’abord été écrites que pour Mademoiselle Caroline de L ***, qui me les avoit demandées (elle seule pouvoit faire entreprendre une tâche aussi difficile à remplir. 475 Die Préface kann als manifeste 476 einer Grammaire des Dames betrachtet werden. Nach Simonnin ist seine Grammaire en vaudevilles die einzig wahre Grammatik, die die Bezeichnung Grammaire des Dames als Gütesiegel verdient: Quelques livres ont paru sous le titre de Grammaire des Dames et Rudiment des Dames; je les ai lus entièrement, sans jamais y rien trouver qui pût véritablement justifier leur titre. Chacun de ces ouvrages est la grammaire des dames comme celle des hommes; je veux dire que la méthode de leurs auteurs, quoique très-bonne, d’ailleurs, n’a rien qui en rende la pratique plus agréable que celle des autres ouvrages de ce genre. 477 Im Gegensatz zu Barthélémys Cantatrice grammairienne ist Simonnins Grammaire en vaudeville dialogisch aufgebaut als Gespräch des (auktorialen) Erzählers bzw. Autors mit Caroline. Bereits im ersten Satz der Préface wird der Fokus auf die Konversation gelenkt, die den Damen gewissermaßen in die Wiege gelegt ist: „L’un des plus précieux avantages du beau sexe, c’est l’esprit de conversation […].“ 478 Simonnin verwendet mehrere musikalische Analogien und bezieht sich auch auf die beiden Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts, wobei er statt der vom traditionellen Lateinunterricht inspirierten deduktiven Richtung die imitative, anhand von Liedern und Musikinstrumenten angewandte, praxisorientierte Richtung favorisiert. 474 Nach Beck-Busse bezieht sich Simonnin in der Widmungsadresse auf die Lettres à Émilie sur la Mythologie von De Moustier. (Gabriele B eck -B usse , La grammaire française dédiée à mes jeunes amies: bibliographie raisonnée de manuels de la langue française à l’usage de la jeunesse féminine 1546-1850. In: Histoire Épistémologie Langage 16 / II, 1994, S. 27.). 475 Simonnin (1806), S. xxii-xxiij. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 476 Reuillon-Blanquet (1995), S. 169. 477 Simonnin (1806), xvj. 478 Ebd., S. xi. <?page no="140"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 141 Abb. 10: Antoine-Jean-Baptiste s imonnin , La Grammaire en vaudevilles, ou lettres à Caroline sur la grammaire française. Paris: Barba An XIV / 1806, Frontispiz. <?page no="141"?> 142 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Daraus ergibt sich auch eine (naturgegebene) Affinität zur französischen Sprache und zur (geschriebenen) Konversation, also dem Briefeschreiben. So ist seine Grammaire en vaudeville in 21 Briefe unterteilt, um die Authentizität des Werks zu unterstreichen. Die Themenschwerpunkte werden kursiv hervorgehoben und lassen zunächst eine klassisch-lateinische, deduktive Grammatiktradition vermuten: Lettre III. De l’Article., Lettre IV. Du Nom. Mit den gründlichen Grammatikinformationen wird aber auch eine populäre Melodie, oft in der Form eines bekannten Lieds, verbunden. Hierbei wendet Simonnin wie Barthélémy das Verfahren der Kontrafaktur nach einer (damals bekannten zeitgenössischen Melodie) an. Lettre III. De l’Article. Air du vaud. Du Procès . 479 Die Vermittlung der Grammatik und Orthographie soll deshalb - und hier ergibt sich eine Parallele zu Barthélémy - nicht trocken und deduktiv erfolgen, sondern lebensnah anhand von Liedern und musischen Elementen. Cet esprit naturel, cette grâce, cet enjouement, qui le distinguent de nous; cet art admirable de broder en racontant, de donner de l’intérêt aux moindres bagatelles, tout cela peut suppléer à l’étude du latin et du grec, mais non pas au français, qui est aux pensées ce que sont à la musique les sons de la harpe, du piano, de la guitare, et des autres instrumens de ce genre. On lit presque toujours avec plaisir les lettres d’une femme: le beau sexe tient aussi de la Nature le talent du style épistolaire; mais la Nature ne lui apprend pas l’orthographe. 480 Mehr noch als Barthélémy nutzt Simonnin die Galanterie und die schon im Titel angegebene Form des vaudeville 481 und Elemente des marivaudage verbun- 479 Vgl. Simonnin (1806), S. 41. 480 Ebd., S. xij. 481 Simonnin hat über 200 vaudevilles und Theaterstücke geschaffen, bei denen der Liedeinsatz eine wichtige Rolle spielt, wie beispielsweise in seinem vaudeville Le Marchand de chansons. Vaudeville en un acte. Er kann als einer der produktivsten auteurs dramatiques des frühen 19. Jahrhunderts gelten: „Dès l’âge de treize ans il faisait des vers, insérés dans les recueils lyriques annuels; il mit plus tard la Grammaire française en vaudevilles (1806, in-16) et parodia le Mérite de femmes (1825). Il avait une grande facilité à tourner les couplets […]“, vermerkt der zeitgenössische Dictionnaire universel des contemporains. (Louis Gustave v aPereau , Dictionnaire universel des contemporains, contenant toutes les personnes notables de la France et des pays étrangers . Ouvrage rédigé et continuellement tenu à jour, avec le concours d'écrivains et de savants de tous les pays. Paris: Hachette 1858, S. 1595.). <?page no="142"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 143 den mit einem grammatischen Thema. Zur Illustration verwendet auch Simonnin die Rosen- und Dornenmetapher. 482 Es wird wieder die bekannte Melodie im Rahmen der Kontrafaktur angegeben. Air: Souvent la nuit quand je sommeille. Tantôt je parle de grammaire, Tantôt je m’entretiens de vous; A l’utile je joins, ma chère, Et l’agréable et le plus doux. Afin de varier les choses Souvent je laisse sans façon Pour l’écolière la leçon, ET LES ÉPINES POUR LES ROSES. Il faut donc revenir aux épines. 483 Darauf folgt die Erklärung des participe présent am Beispiel „[d‘]une femme AIMANT la bible.“ 484 Im Gegensatz zu Barthélémy verwendet Simonnin in der Tradition des vaudeville grivois 485 oft bewusst zweideutige sexuelle Anspielungen: 482 Vgl. dazu auch Barthélémy (1785), Préface, vii. 483 Ebd., S. 165. 484 Ebd., S. 166. 485 Das Genre des vaudeville war offenbar so populär, dass es zahlreiche Unterformen gab, neben dem vaudeville grivois, vaudeville épisodique, vaudeville historique, vaudevilleanecdote, vaudeville anecdotique, dem tableau-vaudeville, drame-vaudeville, mélodrame-vaudeville und dem vaudeville-ballet-pantomime auch die mélodie-vaudeville , die comédie-vaudeville oder die folie-vaudeville. (Vgl. den Eintrag „Antoine-Jean-Baptiste s i monnin “ in Joseph Marie q uérard , La France Littéraire, Ou Dictionnaire bibliographique des Savants, Historiens et Gens de Lettres de la France, Ainsi que des Littérateurs étrangers qui ont écrit en français, plus particulièrement pendant les XVIII e et XIX e siècles. Tome Neuvième. Paris: Firmin Didot Frères 1838, S. 173-177.). Das umfangreiche Werkverzeichnis umfasst neun Spalten zum Werk des Vaudeville-Autors. Die Grammaire française en vaudevilles, ou Lettres à Caroline sur la langue française, par M. S. … Paris, brum. 1806, in-16. wird als zweiter Eintrag unter VARIA erwähnt. (Ebd., S. 177, Spalte 1.). Simonnin komponierte auch selbst: „Plusieurs chansons de M. Simonnin ont été insérées dans les recueils lyriques annuels, tels que le Chansonnier français, ou Étrennes des dames; le Chansonnier des demoiselles; le Chansonnier des Grâces, etc.“ (Ebd., S. 177, Sp. 1.). Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. - Als Vorform des Chansons wurde das Vaudeville seit dem 15. Jahrhundert von allen Ständen gesungen. Zu bereits vorhandenen, bekannten Melodien, den Timbres , wurden neue Texte nach dem Kontrafakturverfahren gedichtet. Nach Boileau ist das Vaudeville eine Art französische Nationalgattung: „C’est Boileau lui même qui, dans son Art poétique, proclame que ,Le Français, né malin, forma le vaudeville.’“ (Vgl. Chant II, Vers 182.). Zitiert in Fritz n ies , Chansons et vaudevilles d’un siècle devenu „classique“. In: Dietmar r ieger (Hrsg.), La chanson française et <?page no="143"?> 144 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Lettre XV beginnt wieder in der deduktiv-aristotelischen Tradition mit dem Grammatikthema in Kursivschrift: De l’Adverbe. Es folgt kursiv die Angabe der (zeitgenössisch) bekannten Melodie. Air: On compteroit les diamans , die aufgrund der Kontrafaktur den Lernerinnen gut bekannt ist. So lässt sich nach dem Baukastenprinzip neues Wissen auf Bekanntem aufbauen und integrieren. C’est peu de savoir que Dorbal Fait l’amour avec Elisère; L’amour se fait ou bien ou mal; Comment donc ont-ils su le faire? Est-ce par des sermens discrets? Avec pudeur, avec décence? Est-ce de loin, est-ce de près ? Entr’eux quelle fut la distance? C’est peu de savoir que Forlis Possède une fortune immense; Comment ses biens sont-ils acquis? Quand Lus eut-il tant d’arrogance? Dans quel ordre le jeune Irza Met-il ses conquêtes superbes? … C’est pour répondre à tout cela Que l’on inventa les adverbes. 486 Es folgt der auktoriale Erzählerkommentar des Verfassers mit der didaktischen Funktion der Ergebnissicherung: „Vous savez, Caroline, qu’il ne faut pas tout prendre au pied de la lettre; c’est pour répondre à cela comme à toute autre chose, que nous avons besoin d’ adverbes .“ 487 Die Originalweise ist La Jouissance par M r . Belle (fils) (Abb. 11, S. 145). 488 Es handelt sich um eine chanson populaire grivoise, die zeitgenössische Konventionen der Galanterie und des manierierten marivaudage sowie des vaudeville aufnimmt: son histoire. Tübingen: Narr 1988, S. 47 und 57.). - Oft waren es Spottlieder, die aktuelle Ereignisse satirisch kommentierten: „Le fait d’être imbriqué dans des événements actuels vaut surtout pour les nombreuses variétés de chansons satiriques, réunies sur le nom vaudevilles“. (Nies 1988, S. 49.). Die Bekanntheit der Vaudevilles führte dazu, dass Grammatikregeln oft als Reime kreiert, dann als Lied gesungen und dank des mnemotechnischen Effekts der Wiederholung im Refrain leichter memorisiert werden konnten. 486 Simonnin (1806), S. 176. 487 Ebd., S. 177. 488 Es handelt sich beim Komponisten vermutlich um ein Pseudonym. Deshalb wurde das Musikstück auch unter der Rubrik Anonyme Drucke im Répertoire International des Sources Musicales aufgenommen. Ein Originalexemplar ist in der Bibliothèque nationale in Paris, site Richelieu, vorhanden. Es sind weder Erscheinungsort noch Erscheinungsdatum bekannt: <?page no="144"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 145 Abb. 11: La Jouissance, par M r de Belle fils. Air: On compteroit les diamants, où [sic], Non, non Doris. 165. ( Quand on est près d’une beauté [1 v]). Anonym, o. O. , o. J., AN 1386. F Pn. Signatur Bnf: VM 7- 4886 (5). La Jouissance, par M r de Belle fils. Air: On compteroit les diamants, où [sic], Non, non Doris. 165. (Quand on est près d’une beauté [1 v]). Anonym, o. O. , o. J., AN 1386. F Pn. Signatur Bnf: VM 7- 4886 (5). Vgl. Otto E. a lBrecht / Karlheinz s chlager (Hrsg.), Répertoire International des Sources Musicales (RISM ). Publié par la Société Internationale des Bibliothèques Musicales . Bd. 9: Vacchelli - Zwingmann. Kassel, Basel, London: Bärenreiter 1981, S. 451. <?page no="145"?> 146 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Quand on est près d’une beauté Et que l’on parle de tendresse. On respire la volupté. On se croit déjà dans l’ivresse. Veut-on lui prendre un doux baiser, Elle fait une résistance. Mais malgré tout Il faut oser en espérant la jouissance. Der erotische Inhalt und die Explosion der Sinneseindrücke wird durch die Trias Text, Melodie, Interpretation (durch die Rezipienten) für die Damen als Lernerinnen erlebbar und greifbar durch Synästhesien wie „respire[r] la volupté“, die einen liebestrunkenen, orgasmusartigen Zustand auslösen: „On se croit déjà dans l’ivresse“, „Il faut oser en espérant la jouissance.“ Die Melodie ist tänzerisch im Zweihalbe-Takt notiert. Durch den Wechsel von Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnoten wird die tänzerische Bewegung nachgeahmt. Das „Sich-Zieren“ der Dame („Veut-on lui prendre un doux baiser, / Elle fait une résistance“) wird plastisch erfahrbar durch einen Vorschlag auf der Silbe -sisin résistance. Mehrere Lerntypen werden hierbei angesprochen: Der tänzerische Rhythmus favorisiert ein bewegtes, kinästhetisches Lernen mit Schwung und die synästhetischen Elemente begünstigen eine für die Lernenden individuell erlebbare Lernerfahrung mit allen Sinnen. Das Kontrafakturverfahren ermöglicht, dass die (lernenden) Damen sofort (eventuell im Chor) mitsingen bzw. mittanzen und parallel, gewissermaßen en passant, nebenbei die grammatische Regel erkennen und anwenden. Dieses beiläufige Lernen, ohne bewusstes Einprägen, das offensichtlich nicht mit Anstrengung verbunden ist und ungeplant, unbewusst und unabsichtlich abläuft, wird als inzidentelles Lernen 489 bezeichnet. Die Melodie von „On compteroit les diamans“ wird auch wieder aufgenommen im Kontrafakturverfahren, diesmal anhand der Vermittlung „De l’Adjectif “ 489 Vgl. John R. a nderson , Kognitive Psychologie. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Joachim F unke . 7., erweiterte und überarbeitete, neu gestaltete Auflage. Berlin: Springer 2013, S. 133. - Bereits Goethe hat diese Lernform indirekt charakterisiert: „Alles, was uns begegnet, lässt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.“ ( Johann Wolfgang g oethe , Wilhelm Meisters Lehrjahre . Buch 7, 1. Kapitel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, 1. Aufl. 1795 / 1796, S. 472.). Vgl. dazu auch Una M. r öhr -s endlmeier (Hrsg.), Inzidentelles Lernen. Lebenslang lernen. Bd. 10. Berlin: Logos Verlag 2012, S. 1-10. Das intentionale Lernen ist somit die bewusste Übung und Aneignung von Sprachwissen, wohingegen das inzidentelle Lernen ein „Nebenprodukt“ weiterer sprachlicher Aktivitäten ist. Zur inzidentellen Semantisierung vgl. außerdem Marcus r einFried , Wortschatzarbeit (Reinfried 2017c). In: Andreas n ieweler (Hrsg.), Fachdidaktik Französisch. Das Handbuch für Theorie und Praxis. Stuttgart: Klett Sprachen 2017, S. 176-191. <?page no="146"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 147 im Vélocifère grammatical 490 von „Mlle Stéphanie de w archouF , âgée de quinze ans“, die auf dem Titelblatt vorgestellt wird als „élève de M. g alimard . “ 491 De l’Adjectif. Air: On compteroit les diamans. L’ADJECTIF est la qualité, Qu’au nom SUBSTANTIF on ajoute; Mais offre une difficulté: Prononcé seul, il laisse un doute. Beau, bon, méchant, rouge, petit, Adroit, prudent, constant et tendre; Sans quelque SUBSTANTIF ….. l’esprit Ne peut pas aisément comprendre. 492 Im Gegensatz zu Barthélémy und Simonnin gibt es bei Warchouf keinen Kommentar in Prosa. Das gesamte Werk, also die grammatische Erklärung und deren Illustration anhand von Beispielen sind in Versen verfasst. 493 Julien Tell kommentiert diesen Aufbau in seinem Werk Les Grammairiens français depuis l’origine de la grammaire en France durchaus wohlwollend: „Il y a un couplet, sur un air différént, pour chaque règle de la grammaire. Je crois que cette idée pourrait être mise en pratique.“ 494 490 Stéphanie de w archouF , Vélocifère grammatical ou la langue française, et l’orthographe apprises en chantant, ouvrage très-élémentaire, unique en son genre, mise en vaudevilles, et dédié aux Demoiselles; Par Mlle Stéphanie de Warchouf, âgée de 15 ans, élève de M. Galimard, Profes. de Gram., l’Écrit. et d’Arithmét., rue du Faub. S. Martin, N° 83. Première édition; suivie De l’Arithmétique des Dames, ouvrage simplifié, et à la portée des personnes les moins intelligentes. Paris: Le Normant 1806. Der Titel fungiert wieder als Mini-Résumé des Inhalts wie bei Barthélémy und Simonnin. Wie Simonnin spricht Warchouf, die selbst erst 15 Jahre alt ist, ein sehr junges Publikum an: „dédié aux demoiselles“. Lediglich der Abschnitt der (als kompliziert geltenden) Arithmetik wendet sich an die (reiferen) Dames, wobei hier nicht auf Lateinunkundige, Anfänger oder Unstudierte verwiesen wird, sondern auf „les personnes les moins intelligentes“. Deshalb handelt es sich auch um ein „ouvrage simplifié“. 491 Ebd., Titel. - Nach der Titelseite folgt ein Verweis auf den Herausgeber Galimard mit einer Erfolgsgarantie, die Warchoufs Methode nach dreimonatigem Studium garantiert: „AVIS. M. g alimard , éditeur de cet ouvrage, le démontre, tant en ville que chez lui, ainsi que l’ écriture et de calcul. Ses procédés sont si simples, qu’il en garantit le succès au bout de TROIS MOIS d’étude.“ 492 Ebd., S. 14. 493 Zweimal werden Anmerkungen in Fußnoten gegeben: Rodogune (1) Tragédie de Corneille. Bajazet (2) Tragédie de Racine und grammatische Präzisierungen beim Terminus régime ou complément . Vgl. ebd., S. 412 und 66. 494 Vgl. Julien t ell , Les Grammairiens français depuis l’origine de la grammaire en France jusqu’aux dernières œuvres connues. Ouvrage servant d’introduction à l’étude générale des langues. 2. Aufl. Paris: Firmin Didot 1874, S. 218. <?page no="147"?> 148 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Das Werk ist so konzipiert, dass es komplett gesungen werden kann. Statt einer Zueignung wendet sich Warchouf in den gesungenen Versen sofort in einer Introduction direkt in Liedform an ihr Publikum. Si j’avais les graces, le style, De fabricans du Vaudeville, Je pourrais, à très-peu de frais, Faire cinq ou six cents couplets. ( Bis. ) 495 Au lieu de mon VÉLOCIFÈRE, Je ferais un Dictionnaire, Avec lequel un ignorant, Au moins s’instruirait en chantant. ( Bis. ) 496 Der Titel Vélocifère grammatical zeigt, dass die Grammatik ein Hilfsinstrument sein soll, eine Art Laufrad, das eine Dynamik entwickelt und mit dem man (in der Sprache) vorankommt. Als Gebrauchsgrammatik ist das Werk benutzerfreundlich und in seiner Form direkt auf die Bedürfnisse der Demoiselles als jugendliche Lernerinnen abgestimmt: J’ai du trop leste Vaudeville Maîtrisé le ton et le style, Pour qu’il fût à la fois plaisant, Instructif et divertissant. ( Bis. ) Prenez donc mon VÉLOCIFÈRE Comme un ouvrage élémentaire, Où j’ai traité chaque sujet, Sans m’éloigner de mon objet. ( Bis. ) 497 Die Grammatik soll unterhalten und ein freudvolles Lernen ermöglichen. In ihrer Abgrenzung zu den „anderen“, „klassisch-deduktiven“ Grammatiken stellt Warchoufs Werk damit eine Neuerung dar, denn das Variieren des Methodenrepertoires wirkt nicht nur unterhaltend, sondern auch stark motivierend im Sinne der variatio delectat . Warchouf kritisiert aber Simonnins Ansatz des vaudeville grivois und seiner jargonreichen Galanterie, wobei sie darauf verweist, dass es sich bei ihrem Vélocifère um ein ernstzunehmendes Werk handelt: Le maître de Caroline, Sous prétexte de leçon, 495 Wie in einer Partitur wird angezeigt, dass die wichtigste Aussage im Refrain wiederholt werden soll. 496 Warchouf (1806), S. 6. 497 Ebd. <?page no="148"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 149 De l’amour qui le domine Toujours parle le jargon. Cette tournure insipide Nuit à ses jolis couplets: Aux miens, la raison préside; C’est elle qui les a faits. 498 Jede Grammatikeinheit endet mit einem speziellen Liedgenre, Tanz, Reigen, um das Gelernte zu festigen, und wendet sich direkt an die Demoiselles, wie der Abschluss der Introduction zeigt: AIR: Chantez, dansez, amusez-vous Belles, chantez, instruisez-vous Sur les règles de la Grammaire; Et vous verrez qu’il est bien doux De les suivre en VÉLOCIFÈRE. On retient plus facilement Ce qu’on apprend en s’amusant. 499 Es ist erstaunlich, dass Stéfanie Warchouf, „âgée de quinze ans“, zu diesen reifen und komplexen didaktischen Reflexionen in der Lage war. Die Erklärung dafür gibt Julien Tell in einer Fußnote: „Le véritable auteur est nommé Galimar [sic], imprimeur, qui demeurait faubourg St-Martin, n° 83.“ 500 Galimard hatte 1803, also drei Jahre vor dem Vélocifère grammatical (An XII), das Werk Le Rudiment des Dames veröffentlicht. Galimard wird als Autor angegeben und verspricht bereits im Titelzusatz: „Pour apprendre en trois mois la Langue française et l’Orthographe, par principes raisonnées: Cet ouvrage, qui convient parfaitement aux personnes dont les premières études ont été négligées […]“. 501 498 Ebd., S. 7. 499 Ebd. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 500 Tell (1874), S. 218. Hier handelt sich um ein ähnliches Beispiel für die Herausgeberfiktion wie bei Foillet (siehe Kapitel I. 5.) André Chervel übernimmt Tells Information: „w ar chouF , Stéphanie de serait un pseudonyme de Galimard, selon Tell, Les Grammairiens français)[…]. “ André c hervel , Les grammaires françaises 1800-1914. Répertoire chronologique. Paris: Centre National de Recherche Pédagogique. Service d’Histoire de l’Éducation 1982, S. 10. 501 P. G. g alimard , Le Rudiment des Dames. Pour apprendre en trois mois la Langue française et l’Orthographe, par principes raisonnées: Cet ouvrage, qui convient parfaitement aux personnes dont les premières études ont été négligées, est démontré par son auteur Le Cit. P. G. g alimard , Professeur de Langue française et de Belles-Lettres; auteur des Préceptes abrégés de Rhétorique, et de plusieurs autres ouvrages relatifs à l’éducation. Cinquième édition, Ornée de figures, augmentée de stances et fables ou [sic] chaque <?page no="149"?> 150 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Hierbei ergibt sich eine Parallele zu seiner Bemerkung als Herausgeber vom Vélocifère, bei dem die gleiche Zeitspanne zur Perfektionierung der Sprache angegeben wird. Galimards Rudiment ist klassisch-deduktiv aufgebaut und entspricht der von Marcus Reinfried beschriebenen, vom traditionellen Lateinunterricht inspirierten deduktiven Richtung, die in der Form des trockenen, abstrakten Grammatikstils von Barthélémy und Simonnin stark kritisiert worden war: Bereits im AVIS wird deutlich: Galimard übernimmt die Kategorien der lateinischen Grammatik und wendet diese auf das Französische an: Le Cit. g alimard , auteur de cet ouvrage, le démontre en ville; ainsi que l’ écriture et le calcul . Il tient aussi un cours chez lui tous les soirs, depuis sept heurs jusqu’à dix. On y enseigne le latin, la tenue des livres, les changes, les élémens de mathématiques et le dessin. 502 Ein Blick auf die einzelnen Kapitel zeigt, dass es sich um eine streng hierarchisierte Darstellung der Grammatik handelt, die dem klassischen deduktiven Lateinunterricht folgt. Ausgehend vom Begriff erfolgen die Erklärung und schließlich als Illustration einige Beispiele: Principes généraux. Pour parler ou pour écrire on se sert de mots qui sont composés de syllabes, et ces syllabes sont composées d’une ou de plusieurs lettres. Des lettres Il y a vingt-cinq lettres dans l’alphabet, savoir: six voyelles , dix-huit consonnes et une aspirée ou muette, c’est l’ h . 503 Nach Pierre-Alexandre Lemaire handelt es sich beim Rudiment und bei weiteren Werken wie der Arithmétique des Dames oder dem Jeu Analytique Grammatical 504 um ein und dasselbe Buch. Parallel zum Vélocifère grammatical erscheint 1806 Le nouveau rudiment des Dames. Dieses Buch ist aber identisch mit dem Vélocifère und keine Fortsetzung des Rudiment von 1803. 505 partie du discours, pour explication de laquelle l’exemple est cité, se trouve désignée en caractère italique. Paris: Le Normant 1803 (An XII). 502 Ebd., S. ii. 503 Ebd., S. 5. 504 Pierre Alexandre l emaire , Cours théorique et pratique de langue françoise suivi de l’Ampliateur français ou cours pratique de Langue Française . Paris: chez l’auteur 1807, S. 73. 505 Vgl. P. G. g alimard , Jeu analytique et grammatical pour apprendre la langue françoise par principes raisonnés. Paris: chez l’auteur 1802. <?page no="150"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 151 Es bleibt die Frage, warum Galimard im Rudiment die klassische konservativ-deduktive Richtung vertritt und dann unter dem Pseudonym der fünfzehnjährigen Stéphanie Warchouf eine diametral entgegengesetzte Position mit einer progressiven Methode avant la lettre kreiert. Wie oben dargestellt, nahm das Französische vom 17. bis 19. Jahrhundert für vornehme Damen des Adels und des gehobenen Bürgertums eine exklusive Vorrangstellung ein. Das gilt für fast alle Länder Europas, besonders jedoch für Italien. In den Salons wurde französisch gesprochen und das Französische war die Präferenzsprache der preziösen Korrespondenz. Bereits im 17. Jahrhundert erfreute sich die französische Sprache eines „statut d’art d’agrément indispensable“. 506 Das Französische wurde von den meisten Schülerinnen und deren Eltern empfunden als „partie de l’éducation et du bagage culturel des dames pour sa ‚douceur, ses charmes et ses agréments’“. 507 Jacqueline Lillo beschreibt dazu den Französischunterricht am Educatorio Carolino , einer der größten Mädchenschulen von Palermo, in der neben der Vermittlung des Italienischen (in Abgrenzung zum Sizilianischen) eine Ausbildung in den „beaux arts“ Kalligraphie, Schreiben sowie die Vermittlung eines sittsamen Verhaltens und vornehmer Umgangsformen erfolgte: Dans l’institution pour jeunes filles la plus représentative de la ville, l’Educatorio Carolino , le français est enseigné depuis sa fondation. On le pratique au même titre que les autres matières considérées comme fondamentales telles que l’italien (toujours par opposition au sicilien, la calligraphie, l’arithmétique, la religion, l’histoire de la Sicile, le savoir-vivre, la musique, etc.). L’objectif est de former de parfaites maîtresses de maison à la moralité irréprochable. 508 Ein Teil des Erfolgs ist die Kombination von Theorie und Praxis: „L’enseignement, non seulement théorique mais aussi pratique, dispensé dans cet établissement donne d’excellents résultats, récompensés par une mention spéciale lors de l’Exposition Universelle de Paris en 1900.“ 509 Der Einsatz von musischen Elementen auf französisch war hierbei Teil des gesamten Schullebens: „Les ‚maîtresses internes‘ obligent les élèves à 506 Jacqueline l illo , L’enseignement du français à Palerme au XIX e siècle. Bologna: CLUEB 2004, S. 27 f. 507 Siehe ebd., S. 28. „Il [mon père, A. R.] me raconte tant de merveilles sur le profit que cette belle langue nous apporte! […] concluant que quant à la douceur, ses charmes et ses agréments, la Langue Française est la Langue des Dames.“ Vgl. auch A. D. M., Les progrès de la langue française au XIX e siècle. Ouvrage divisé en deux parties par A. D. M., professeur de langue française, des exercices académiques et théologiques de l’établissement de l’éducation, de sciences, lettres et arts Lo Stesicoro … . Palermo: Imprimerie Royale 1847, S. 16 f. 508 Lillo (2004), S. 28. 509 Ebd. <?page no="151"?> 152 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht parler français en dehors des cours et organisent aussi pour les fêtes de carnaval et de fin d’année des représentations théâtrales en français, des saynètes, comédies en un acte etc.“ 510 Neben dem Französischen wurde das Italienische als Fremdsprache besonders von Frauen gern gelernt. Bis zum 16. Jahrhundert war die italienische Kultur im Kontext der Renaissance führend, dabei nahmen die Musik und die Oper eine entscheidende Rolle ein. Die Affinität der Dames zur „Musikalität“ der italienischen Sprache verbindet nach Beck-Busse 511 Sprachcharakteristik und geschlechtsspezifische adelige Verhaltensformen. Die besondere Affinität des „beau sexe“ zum Italienischen wird von Placido Catanusi im Anschluss an seine Widmung „Aux Dames“ folgendermaßen beschrieben: Beau Sexe, que j’honore & respecte infiniment, c’est pour vous que je mets au jour une facile instruction d’une langue, qui est admirablement belle, & qui a des graces particulieres dans vostre bouche, & qui vous peut fournir, des pensées tout à fait dignes de vous. 512 Dem „schönen Geschlecht“ ist das Werk gewidmet, wobei Schönheit und Anmut der Grazien auf die grâce der italienischen Sprache „überstrahlt und sich in der Verbindung beider geradezu zu potenzieren scheint.“ 513 Nach einer Ergebenheitsadresse „A son Altesse Royalle Madame la Duchesse de Guyse“ 514 erläutert Catanusi die Ziele seines Werks. Er wendet sich ausschließlich an die „Dames délicates, à qui la methode pedante […] fait horreur, & qui cherchent pour apprendre l’Italien des voyes les plus douces, & plus aisées.“ 515 Catanusi richtet sich also an ein (weibliches) Publikum, das die imitative Richtung des Fremdsprachenunterrichts favorisiert und die traditionelle, vom klassischen Lateinunterricht inspirierte deduktive Methode einer „Gram- 510 Ebd. 511 Beck-Busse (2014), S. 221 f. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann nicht auf diese Spezifik näher eingegangen werden. Das betrifft auch stereotype Vorstellungen zum „weiblichen Charakter“ der Vokale, wie sie beispielsweise in Barettis Auffassung zur „effemminatezza“ des Italienischen anklingen. 512 Placido c atanusi , Instruction A la Langue Italienne pour l’apprendre sans les Regles de la Grammaire. Avec un Recueil de Chansons accomodées aux Airs François, & un Traité de la Poësie Italienne pour les plus curieux. Par Placide Professeur en Droict, Maistre, & Interprette des Langues de son A. R. Madame de Guise. Paris: chez M. Mettayer 1667, S. Ai v . 513 Beck-Busse (2014), S. 59. 514 Catanusi (1667), S. Ai v . 515 Ebd. <?page no="152"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 153 maire fascheuse, & importune“ 516 ablehnt. Für diese weibliche Klientel formuliert Catanusi sein pädagogisches Programm: 517 C’est pour elles, que j’ay desrobé à mes occupations ordinaires de professer les loix, ce que je leur offre auiourd’huy pour leur enseigner la Prononciation, Traduction, & Cõposition de cet aymable langage; Et c’est pour elles enfin que j’ay accomodé des paroles Italiennes aux airs François pour les apprendre à chanter en Italien sans peine. 518 Um den Dames diese liebliche Sprache näherzubringen, teilt Catanusi seine Instruction in vier Bücher und zwei Anhänge ein, in denen Fragen zur Morphologie, Phonetik, Grammatik, Übersetzung und composition besprochen werden. Im vierten Buch Des moyens pour faciliter les Dames à parler 519 werden im Chapitre I Regeln zur Morphologie vorgestellt, im Chapitre II Des regles pour accomoder les paroles Françoises en Italien, sans Dictionnaire , Chapitre III behandelt Des Proverbes Italiens les plus choisis und Chapitre IV hat Des discours & manieres de parler Italien zum Inhalt. Das (letzte) Chapitre V präsentiert Des chansons Italiennes accomodées aux airs François pour faciliter aux Dames le chant italien , gefolgt von einem Traité de la Poésie italienne. Die Überschrift und die Beispiele des fünften Kapitels zeigen, dass durch die Kontrafakturtechnik bekannte französische Melodien in einen italienischen Kultur- und Sprachkontext transferiert werden. Im Gegensatz zu den französischen Grammaires de Dames von Barthélémy, Simonnin und Warchouf, bei denen die Sprach-Arbeit an Orthographie und Phonetik in der Muttersprache Französisch im Mittelpunkt stand, handelt es sich bei Catanusi um den Kontext von französischen Lernerinnen, die das Italienische als Fremdsprache erlernen sollen. Der Einsatz von bekannten Liedern und deren Anwendung auf den italienischen Kontext erfolgt in einem Kulturtransfer, bei denen eigene Strukturen an neue Lerninhalte angepasst werden. Dieser Prozess der Akkomodation wurde bereits von Catanusi so benannt. 520 Der Prozess der Assimilation des Fremden an das Eigene 521 wird im Rahmen der Kulturkunde noch eine wichtige Rolle spielen. 516 Ebd. 517 Es handelt sich bei Catanusis Instruction weniger um ein Lehrwerk als um eine Methodik und Propädeutik des Fremdsprachenlernens, modern ausgedrückt: um das Erlernen des Lernens, d. h. die Aneignung von Lernstrategien. 518 Ebd., Ai v . 519 Ebd., S. 50-120. 520 Vgl. Chapitre II: Des regles pour accomoder les paroles Françoises en Italien, sans Dictionnaire , und Chapitre V: Des chansons Italiennes accomodées aux airs François pour faciliter aux Dames le chant italien. (Ebd., S. 56 und 70.). 521 Vgl. zum didaktische Konzept Vom Eigenen zum Fremden Reinfried (1999a), S. 205. <?page no="153"?> 154 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Im speziell auf den Liedeinsatz konzipierten Chapitre V kontextualisiert Catanusi die Verwendung der chansons italiennes. Die Erklärungen weisen Parallelen zur Herausgeberfiktion bei mehreren Grammaires des Dames auf. Die Liedersammlung entstand auf Wunsch einer seiner (adeligen) Schülerinnen, einer Prinzessin, für die er dank ihres schönen Gesangs weitere Lieder komponierte und darauf die Übersetzungen anfertigte. Mit dem Zitat soll auch die Praxisrelevanz seiner Liedersammlung unterstrichen werden: Es ist ein Werk, das nützlich ist, das aus der Praxis stammt und für die Praxis bestimmt ist. Ayant eu l’honneur d’enseigner l’Italien à quelque Princesse auec assés de succez, sa curiosité la porta à me demander des airs Italiens; Parce qu’elle chantoit fort bien, ie luy fis les chansons, & les Traductions, qui suiuent de quelques airs François en Italien, dont elle fut si satisfaite, qu’elle m’ordonna de luy en faire d’autres sur d’autres airs. I’ay bien uoulu, Mesdames, uous en faire part, croyant, que cela uous poura estre agreable, & de quelque diuertissement, pour estre nouueau, & galant. 522 Das Chapitre ist in Reimform verfasst und resümiert den Aufbau der folgenden Liedersammlung: Auf eine allseits bekannte Melodie ( Sur le chant ) wird ein neuer (italienischer) Text in Kontrafakturtechnik gesungen. Dabei schließt diese italienische (fremdsprachliche, von Catanusi übersetzte und in Reimform gebrachte, also didaktisierte) Version direkt an den französischen Vers an. 523 Sur le chant, Dans le siecle où nous sommes, Toutes les choses ont leurs temps, 524 522 Catanusi (1667), S. 70. 523 Die deutsche Übertragung wurde vom Verfasser der vorliegenden Arbeit ergänzt. 524 Der Titel des Originallieds steht in Kursivdruck . Kommentare und Präzisierungen des Autors folgen in Normalschrift. Wie beim Beispiel 20. Die Kunst, ohne Reue froehlich zu sein / 20. Les plaisirs innocents in Rochows Kinderfreund und Hauchecornes französischer Übertragung wird eine Moral in der Tradition des Exemplums gegeben, die bei Catanusi auf französisch erfolgt. Die (adaptierte, didaktisierte, in Reimform angepasste) italienische Übersetzung fungiert als Illustration der Moral, wobei der erste Buchstabe als Versal fett markiert ist. Das Thema der Vergänglichkeit erinnert an das berühmte Sonett Alles ist eitel (1635) des Barockdichters Gryphius. Das bereits im (französischen) Titel angegebene und kursiv gedruckte Carpe-diem-Motiv Toutes les choses ont leurs temps wird dann anhand der folgenden (italienischen) Strophe exemplifiziert und illustriert mit Hilfe der (im Barock typischen) Vanitas-Thematik als Warnung vor der Vergänglichkeit der Schönheit. <?page no="154"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 155 T anto se’, bella, Clori, Quanto freschezz’ e’ntè: Vecchia che se’, dimori Ogetto uil, affé, Se se’ fanciull’ accorta Godi, mentr’ il comporta Bellez’, etat’, e fé, Deh, che pazzi’ é questo Honor, che ti ritien; Giache beltà si presto, Si perde, e piu non uien, Sciocc’ hor che puo’, uon 525 vuoi Vn tempo uorrà’ poi, Che nessun’ hará ben. 526 Du bist so schön, Clori, So viel Frische ist in Dir. Wenn Du alt bist, bleibst Du In der Tat ein wertloses Objekt. Wenn Du ein schlaues, aufgewecktes Mädchen bist, Dann genieße, solange das noch geht, Deine Schönheit, Jugend und das in Dich gesetzte Vertrauen. Oh weh, wie dumm ist doch falsch verstandene Ehre, die Dich zurückhält / aufhält, Denn die Schönheit vergeht so schnell und kehrt nie wieder zurück. Was Du jetzt tun könntest, willst Du nicht zulassen. Dumm ist es, wenn Du nicht willst, wenn Du kannst. Und eines Tages wirst Du es zwar wollen, Wenn niemand davon Gutes haben wird. 525526 Der Liedteil kann auch als Praxisteil verstanden werden, bei dem die in den vorherigen Kapiteln erworbenen Kenntnisse angewendet werden. Im zweiten Buch Des regles pour accomoder les paroles Françoises en Italien, sans Dictionnaire geht es um die methodische Frage des effizienten Einsatzes der Übersetzung für den Fremdsprachenunterricht. Catanusi beschreibt eine „ traduction circulaire […], d. h. eine Übersetzung, die, vom italienischen ‚Ur‘-Text ausgehend, diesen zunächst ins Französische überträgt, um diese Übersetzung dann, möglichst ohne Zuhilfenahme des Ausgangstextes, wieder ins Italienische zu übersetzen.“ 527 525 Es soll vermutlich non heißen. 526 Ebd., S. 70. Die Ausgabe wurde von einer Microfich e der Bibliothèque nationale reproduziert. Es fällt eine willkürliche Anordnung der Seiten auf, nach Seite 70 folgt Seite 81. Die Seiten 89 bis 92 fehlen. Die Seiten 84 und 85 erscheinen doppelt. 527 Beck-Busse (2014), S. 47. Der Originaltext von Catanusi lautet: „Cette sorte de traduction circulaire se fait assez aisement, ou il n’y a autre chose à faire, que ramplacer en mesme endroit les paroles tournées en François, comme elles estoient auparauant en Italien dans le liuvre le mieux que l’on pourra, sans regarder le liuvre, & si par hazard uous ne uous souvenez pas de quelque mots, demandez les plustost à uostre Maistre, la necessité, & la crainte de mal faire uous fera plus retenir en vn iour, que le liure en un an.“ (Catanusi 1667, S. 26 f.). <?page no="155"?> 156 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht Im vorliegenden Beispiel würde der italienische Text ins Französische übersetzt werden, wobei es durch den französischen Titel Toutes les choses ont leurs temps schon einen ersten Hinweis gibt auf das Rückübersetzen von Vn tempo uorrà’ poi. Die von Catanusi beschriebene Art des Übersetzens ist der traditionellen, deduktiven Methode und der „pedanterie“ diametral entgegengesetzt und entspricht eher der imitativen-intuitiven Richtung, da sie ein inzidentelles Lernen ermöglicht, ganz beiläufig „sans qu’il y paroisse“: Cette manière de traduire est fort propre à ceux, qui n’ayment point la pedanterie, & c’est le veritable moyen d’apprendre vne langue suiuant les reigles de la Grammaire sans qu’il y paroisse, Vous instruisant tout de mesme, que si uous estiez dans le pays. 528 Im Folgejahr 1668 veröffentlichte Catanusi seine Instruction à la langue italienne contenant deux parties. 529 Es handelt sich um einen Folgeband, dessen Aufbau der Ausgabe von 1667 ähnelt, doch ohne den Traité de la Poésie italienne. 530 Als Begründung dafür, dass ein neuer Band schon ein Jahr später folgt, schreibt Catanusi: „L’estime que l’on fait de la Langue italienne, & la passion que les plus honnestes gens ont de l’apprendre, m’oblige de mettre au iour ce petit Traité.“ 531 Eine Neuerung ist die numerische und graphische Aufwertung des Liederteils, der sich auch durch ein besonderes Deckblatt von dem Rest des Werks abhebt. Graphisch hervorgehoben ist das Adjektiv italienne , wobei françoise und Recueil de chanson immer kleiner dargestellt werden: „La Mvse ITALIENNE habillée à la françoise ov Recveil de chansons Italiennes, accommodées aux Airs François du temps.“ 532 Auf der nächsten Zeite folgt die Zueignung AVX LECTEVRS, in der Catanusi an den Erfolg der ersten Auflage anknüpfen will: „Ce n’est ny le desir de la gloire, ny la confiance que i’ay en moy-mesme, qui m’ont porté à entreprendre d’appliquer des paroles Italiennes aux Airs François que l’on chante icy à Paris; mais l’ennui seul de plaire au public.” 533 528 Catanusi (1667), S. 26 f. 529 Vgl. Placido c atanusi , Instruction à la langue italienne contenant deux parties: dans la première il est traitté de tout ce qui regarde la parfaite connoissance de cette langue; et la seconde est un recueil de chansons italiennes accomodées aux airs françois de ce temps par le sieur Placide Catanusi. Paris: Estienne Loyson 1668. 530 Der Band ist Madame Le Maistre gewidmet. 531 Catanusi (1668), S. A. 532 Ebd., S. 132. Die Allegorie der „Muse italienne habillée à la françoise“ und die „Chansons Italiennes, accomodées aux Airs François du temps“ verweisen auf Akkomodation und einen Transfer der italienischen Zielkultur in die französische Ausgangskultur. 533 Ebd. <?page no="156"?> I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende 157 Catanusi ist sich sicher, dass die neue, ausführlichere Ausgabe eine noch bessere Annahme finden wird, da er noch bekanntere und stärker verbreitete Weisen ausgewählt hat: […] j’ay choisi des Airs qui ont le plus cours, & que tout le monde sçait. Si vne premiere impression moins correcte & beaucoup moins ample que celle-cy a esté agreable à tant de gens, n’ay-je pas droit d’attendre que celle-cy sera encore mieux receuë? Quoy qu’il en arriue, i’ay eu intention de plaire en instruisant, & cette intention merite d’estre considérée. 534 Catanusis Aphorismus des „plaire en instruisant“ am Schluss der Zueignung wird ein Jahrhundert später wieder aufgenommen und variiert zum Motto von Barthélémys Cantatrice grammairienne „En instruisant, cherchons à plaire.“ In der Spätphase der Damengrammatiken für (deutsche) Lernerinnen des Italienischen, also fast zwei Jahrhunderte nach Antonini und Catanusi, taucht der Topos der Affinität des „beau sexe“ zum Gesang 535 bei Karl Ludwig Kannegießer wieder auf: „Da ich bei der Auswahl der Lesestuecke sorgsam zu Werke gegangen bin, so darf ich meine Arbeit auch dem w e i b l i c h e n Geschlecht empfehlen, dem zum Behuf des Gesanges einige Kenntniß der italienischen Sprache fast unentbehrlich ist.“ 536 Kannegießer folgt dem von Marcus Reinfried beschriebenen didaktischen Grundsatz Vom Eigenen zum Fremden : 537 Dem Lesebuche geht eine kurze Geschichte der italienischen Literatur voran, auf welche ich bei den Lesestücken mich bisweilen bezogen habe. In den letzteren ist neben dem Fortgang vom Leichteren zum Schwereren 538 die moeglichste Mannigfaltigkeit bezweckt worden. Daher finden sich zuerst kleine Saetze, Anekdoten, Briefchen, kleinere und groeßere Erzaehlungen und Novellen, Schilderungen, Beschreibungen, sodann Abhandlungen, ein bedeutendes Stueck aus einem der neuesten Romane, ein kurzes Lustspiel, und endlich als Vorschmack der Poesie einige kurze Stellen aus den bedeutendsten Dichtern. 539 Diese didaktische Progression spiegelt sich auch im Lesebuch-Abschnitt Poesie wider. Nach (einfacheren) Gedichten werden (komplexe) Opernauszüge 534 Ebd., S. 132. Meine Hervorhebung steht in Fettdruck. 535 Diese Affinität des schönen Geschlechts zum Gesang hat Barthélémy in seiner Préface zur Cantatrice grammairienne dargestellt. Vgl. Barthélémy (1788), S. xj. 536 Vgl. Karl Ludwig k annegiesser , Italienische Grammatik nebst Lesebuch und Woerterverzeichnis fuer Anfänger und Geübtere und vorzüglich auch für Damen. Mit einer Geschichte der italienischen Literatur. 2. Aufl. Leipzig: Fr. Hentze 1845, S. IV. 537 Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. 538 Meine Anmerkungen stehen in Fettdruck. 539 Vgl. Kannegießer (1845), S. IV. <?page no="157"?> 158 I Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht abgedruckt, z. B. Oh che felici pianti! aus Metastasis Opern und O bella età dell’ oro aus den Amyntas des Torquato Tasso. 540 Kannegießer gibt nur vereinzelte Vokabelhilfen und weist dem lauten Lesen eine wichtige Rolle zu. Er kann in diesem Sinne als einer der Vorläufer der direkten Methode angesehen werden. 540 Ebd., S. 144-146. <?page no="158"?> II. Der Musikeinsatz im Französischunterricht im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung II. 1 Die Hochzeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode und die Folgen für den Musikeinsatz Der Einsatz von musischen Elementen im Französischunterricht wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugunsten der Grammatik-Übersetzungs-Methode weitgehend zurückgedrängt, wobei die zentrale Bedeutung der Grammatik durch die formale Bildungstheorie gerechtfertigt wurde. 1 Parallel dazu etablierte sich im Gegensatz zum holistischen Einsprachigkeitsprinzip bei den Philanthropen 2 und den Grammaires des Dames 3 eine konsequente Zweisprachigkeit. Das zeigte sich im zeitgenössischen Französischunterricht darin, dass hauptsächlich übersetzt wurde. Marcus Reinfried fasst dieses Spannungsfeld folgendermaßen zusammen: 1 Vgl. dazu Reinfried (1992), S. 91 f. Gerhard Budde berichtet über die Beurteilung des Französischunterrichts des „Franzosen Monnard, der im Auftrage des Unterrichtsministers die Mehrzahl der rheinpreussischen Anstalten besuchte, über den im neusprachlichen Unterricht herrschenden grammatischen Unterricht […].“ Dabei heißt es von einigen Gymnasien, „dass die Schüler [sic, auf deutsch im Zitat, A. R.] sont incapables d’exposer de vive voix autre chose que les règles de la grammaire; … ils ne sont exercés ni à parler le français ni à l’entendre parler an einem Gymnasium qui compte au nombre des meilleurs.“ Monnard begründet diese Erscheinung wie folgt: „Bien des maîtres embarrassent cette étude; ils construisent autour de la langue un échafaudage grammatical si compliqué qu’ils empêchent de voir l’édifice.“ In einer Anmerkung fügt er hinzu: „On m’a cité un gymnase de la Prusse occidentale dans lequel les élèves n’apprennent guère autre chose du français que la grammaire; les plus forts ne traduisent dans l’année que peu de pages; ils étudient les règles de la langue, mais non la langue même.“ Zitiert in Gerhard B udde , Der Kampf um die fremdsprachliche Methodik. Sechs Vorträge gehalten in Jena anlässlich der Ferienkurse im August 1908. Hannover und Leipzig: Hahnsche Buchhandlung 1908, S. 67. 2 Vgl. dazu Marcus r einFried , Les origines de la méthode directe en Allemagne. In: Herbert c hrist / Daniel c oste (Hrsg.), Contributions à l’histoire de l’enseignement du français. Actes de la section 3 du Romanistentag d’Aix-la-Chapelle du 27 au 29 septembre 1989 und Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n° 6, 1990, S. 126- 156. 3 Die Grammaires des Dames können vor allem der (imitativen) Lese-Übersetzungs-Methode des 18. Jahrhunderts zugeordnet werden. Es werden hauptsächlich Versions eingesetzt, ein Bildeinsatz wie bei den Dessauer Philanthropen findet noch nicht statt. Deshalb könnte bei den Grammaires des Dames von einem moderaten Einsprachigkeitsprinzip und bei den Philanthropen Wolke und Basedow von einem konsequenten Einsprachigkeitsprinzip gesprochen werden. <?page no="159"?> 160 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Das methodische Spektrum zwischen der kognitiven Durchdringung der Zielsprache und der ganzheitlichen Sprachpräsentation konstituierte sich nun in einer neuen Weise: Die synthetische Grammatik-Übersetzungsmethode, die es bereits in vorangegangenen Jahrhunderten gegeben hatte, bildete nach wie vor (in verbesserter Form) den einen Eckpfeiler des Spektrums. Die sogenannte „analytische Methode“, eine streng wörtliche Übersetzungsmethode, bildete nun den neuen Eckpfeiler; sie steht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland für den ganzheitlichen Pol beim schulischen Fremdsprachenlernen. 4 Die beiden bekanntesten Vertreter der synthetischen Grammatik-Übersetzungs-Methode waren die beiden Lehrwerkautoren Johann Valentin Meidinger 5 und Carl Ploetz. 6 Diese Methode kann als klassisch-deduktiv 7 bezeichnet werden und arbeitet vor allem mit Einzelsätzen. Im Gegensatz zu Meidinger führte Ploetz bereits im frühen Anfangsunterricht Sätze in der Zielsprache sowie Übersetzungen vom Französischen ins Deutsche ein. Ploetz folgte dem didaktischen Grundsatz vom Einfachen zum Komplexen, der das Prinzip Vom Eigenen zum Fremden ergänzt. 8 Dadurch ergibt sich eine didaktische Pro- 4 Vgl. Marcus r einFried , Die direkte Methode im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung. Ein historisch-genetischer und systemtheoretischer Beschreibungsansatz. In: französisch heute , 2007 (Reinfried 2007b), S. 263. 5 Vgl. Johann Valentin m eidinger , Practische französische Grammatik, wodurch man diese Sprache auf eine ganz neue und sehr leichte Art in kurzer Zeit gründlich erlernen kann. Frankfurt am Main: Meidinger 1783. - Meidingers Grammatik gilt als der Beginn der Grammatik-Übersetzungs-Methode. Vgl. Reinfried (2016), S. 622. 6 Carl Julius P loetz , Cours gradué de langue française / Lehrbuch der französischen Sprache. Erster Cursus oder Elementarbuch. Berlin: Herbig 1848. Fast ein halbes Jahrhundert dominierten die Ploetzschen Französischlehrbücher an den Schulen. Das Elementarbuch der französischen Sprache wurde in Preußen an den meisten höheren Schulen verwendet. Vgl. dazu Georg r eichel , Die neusprachlichen Lehrbücher an den höheren Lehranstalten Preussens im Schuljahr 1897/ 98. In: Die neueren Sprachen , Bd. 7, 1899/ 1900, S. 399 und Reinfried (1992), S. 89. 7 Vgl. zur Klassifizierung der beiden Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts Reinfried (2016), S. 621 f. - Marcus Reinfried ordnet die Lehrbücher von Meidinger und Ploetz in den Kontext der neuhumanistischen formalen Bildungstheorie ein: „Ploetz’ ‚Elementarbuch‘ war wie Meidingers Grammatikübungsbuch einer neusprachlichen Lehrkonzeption verbunden, die die grammatische Analyse ins Zentrum und an den Anfang stellte, und harmonisierte deshalb mit neuhumanistisch geprägten höheren Schulen, in denen dies als formal bildend geschätzt wurde.“ (Ebd., S. 622.). Ploetz war selbst Gymnasiallehrer mit typischer Wertschätzung der Reflexion und des abstrakten Denkens. Die Grammatik sollte Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnis und Verstand der Schüler formen. Diese Auffassung vertritt auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Der Verstand baut sich durch Grammatik auf, da sie die Kantschen Kategorien enthalte. Vgl. Reinfried (1992), S. 91 f. 8 Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. <?page no="160"?> II. 1 Die Hochzeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode 161 gression der Lernziele, wobei Ploetz auch die Aussprache 9 unter seinen Grammatikregeln berücksichtigte. Demgegenüber war die „analytische“ 10 Übersetzungsmethode von James Hamilton 11 und Joseph Jacotot 12 holistisch, nutzte authentische Texte und folgte einer intuitiven Lernkonzeption: 13 Cette méthode est - avant tout dans l’enseignement de départ - déductive, atomiste, et utilise majoritairement des phrases indépendantes. À l’opposé, la méthode de traduction dite analytique d’Hamilton qui a trouvé un grand écho en Allemagne est de type holistique; elle repose sur une conception d’acquisition intuitive et fait usage de textes authentiques. 14 9 Vgl. Reinfried (2014), S. 266 f., und Reinfried (2016), S. 622. 10 Hier hat „analytisch“ nicht die Bedeutung von „zergliedernd unter Einsatz des Verstandes“, sondern eher die Bedeutung von „nachformend nach den Prinzipien der Muttersprache“. Sie wollte die Sprachkenntnis nicht über Regeln vermitteln, sondern über den Sprachgebrauch. 11 James h amilton , The history, principles, practice and results of the Hamiltonian system, for the last twelve years. Manchester: Bowler 1829. 12 Vgl. Jean Joseph J acotot , Enseignement universel. Langue maternelle . 5. Aufl. Paris: A la librairie spéciale de l’enseignement universel (méthode Jacotot), chez Mansut fils 1834. 13 Vgl. Reinfried (2007b), S. 261. 14 Marcus r einFried , Le mouvement réformiste et la méthode directe en Allemagne: développement, fondement théorique, variations méthodologiques (Reinfried 1999b). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n° 23, 1999, S. 207. - Die Bezeichnung der approche atomiste wird bei Karl Quiehl ein halbes Jahrhundert später noch eine wichtige Rolle spielen. Vgl. dazu S. 287-289 und S. 293-299 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="161"?> 162 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 12: Charles t oussaint / Johann Gustav Ludwig l angenscheidt , Methode Toussaint- Langenscheidt. Brieflicher Sprach- (und Sprech-) Unterricht für das Selbststudium der französischen Sprache. Berlin: Langenscheidt 1903, S. 34. <?page no="162"?> II. 1 Die Hochzeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode 163 Ihre methodischen Konzeptionen, die beide Autoren unabhängig voneinander entwickelten, wurden als Variationen ein und derselben Methode angesehen. Das trifft vor allem für den Elementarunterricht zu. Hier wurden von Anfang an längere authentische Texte übersetzt. Die Übersetzungen erfolgten satz- oder abschnittsweise sowohl von der Fremdsprache in die Muttersprache ( version ) als auch von der Muttersprache in die Fremdsprache ( thème ). Diese Rückübersetzung (Retroversion) diente der häuslichen Nachbereitung der Schüler. Als Vorbild diente die Interlinearversion, wobei der französische Teil des Textes mithilfe eines Kartons abgedeckt und dann zeilenweise wieder aufgedeckt wurde. Diese Technik wurde auch in der Methode Toussaint- Langenscheidt 15 angewendet. Im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht 15 Vgl. Otto w endt , Enzyklopädie des französischen Unterrichts. Methodik und Hilfsmittel für Studierende und Lehrer der französischen Sprache mit Rücksicht auf die Anforderungen der Praxis . 3., neu bearbeitete Aufl. (1. Aufl. 1888) Hannover und Berlin: Meyer 1909, S. 79-86. Die Methode wurde nach ihren Gründern Charles Toussaint und Gustav Langenscheidt benannt und war ursprünglich für den Selbstunterricht mit Hilfe von Unterrichtsbriefen ohne Lehrer bestimmt, ist aber auch später im Schulunterricht angewendet worden. Nach Wendt haben ihre Begründer „den ersten Anstoß zur sorgfältigen Beachtung und faßlichen Bezeichnung der Aussprache gegeben […].“ (Ebd., S. 79.). Der Schwerpunkt der Unterrichtsbriefe liegt in der Angabe der Aussprache. Beide Autoren stellten nach langen Versuchen ein phonetisches System zusammen, durch welches sich die fremden Laute annähernd und allgemein verständlich wiedergeben ließen. Es wurden nicht nur die zielsprachlichen Laute durch besondere Zeichen wiedergegeben, sondern auch Betonungen, Längen, Kürzen und Silben. Wendt wählt hier in seiner Beschreibung bewusst die Parallele zum Notensystem. Das heutige gültige Transkriptionssystem der 1886 gegründeten Association phonétique internationale existierte zunächst parallel zum 1852 von Karl Richard Lepsius entwickelten internationalen Alphabet. Der Bezug zur Musiklehre wird bei den Anhängern der direkten Methode noch häufig verwendet werden. (Vgl. u. a. S. 268-272 in der vorliegenden Arbeit). Wendt schreibt dazu: „Nach dem T.-L.’schen System, welches für die Sprache das ist, was die Notenschrift für die Musik, wird die Aussprache überall so dargestellt, dass jeder, der deutsche Druckschrift richtig liest, auch die fremde Sprache richtig sprechen muß. Sprechen, Schreiben und Lesen der fremden Sprache wird stets gleichzeitig geübt.“ (Wendt 1909, S. 80.). Es handelt sich um eine wortgetreue Interlinearübersetzung, typischerweise in folgender Reihenfolge: 1. Zeile: Originaltext in Fremdsprache, 2. Zeile: Aussprache des französischen Originaltexts mit phonetischer Transkription, 3. Zeile: Wort-für-Wort- Übersetzung auf Deutsch. Ein „Leserost“ in Form einer Auflegeschablone diente zum selektiven Lesen des Fremdsprachentextes, der Aussprache oder der Übersetzung. Die Entwicklung der Lautschrift war deshalb so wichtig, weil bei den Fernstudienbriefen kein Lehrer bzw. akustisches Vorbild vorhanden war (Abb. 12). Das änderte sich ab 1905, als die schriftlichen Sprachkurse durch phonographische Platten ergänzt wurden. Diese Sprechplatten (Phonotula) waren fakultative Bestandteile der Lehrprogramme. (Vgl. Anonym, Phonotula. Die Methode Toussaint-Langenscheidt und das Grammophon. Berlin: Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung 1915, S. 16.). In der Einleitung zum 1. Unterrichtsbrief Französisch wird auf 84 Seiten die Anwendung der französischen Lautlehre und das phonetische Transkriptionssystem erklärt. Neben dem Ersten und Zweiten <?page no="163"?> 164 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung vergrößern sich dann allerdings die Unterschiede zwischen Hamiltons und Jacotots Methode: Bei Jacotot läuft das Unterrichtsgespräch meist einsprachig und stärker inhaltsbezogen ab als bei Hamilton, wobei der Transfer zur Eigentätigkeit der Schüler eine wichtige Rolle spielt. Hamilton und Jacotot beobachteten bei ihrer Methode den naturgemäßen Gang, wie der Fremde in einem fremden Lande oder die Kinder eine Sprache erlernen […], daß sie nämlich beide 1. dem Schüler gleich von Anfang an die Sprache als eine lebendige, Gedanken enthaltende vorführen, also lauter sprachganze Sätze geben, weil die Sprache eher als die Grammatik, das Concrete eher als die Abstraction, die Praxis eher als die Theorie ist; und daß sie 2. den Schüler die Gesetze der fremden Sprache möglichst selbständig erkennen und auffinden lassen, weil dieß für ihn […] förderlicher sei, als wenn er sich gleich von Anfang an mit dem abstracten Inhalte einer Grammatik herumzuschlagen habe und weil dadurch das ganze Verhältniß des Lehrers zu den Schülern heiterer, frischer und unmittelbarer werde. 16 Unter den Schlagwörtern „Tout est dans tout: Toutes les intelligences sont égales“, „Tous les hommes ont une égale intelligence; tout homme a reçu de Dieu la faculté de pouvoir s’instruire“ erweiterte Jacotot seine zunächst nur auf den Leseunterricht in der Muttersprache („Langue maternelle“, 1823) konzipierten Unterricht auf andere Fächer wie Mathematik, Fremdsprachen („Langue étrangère“, 1829), Philosophie, Metaphysik und Musik: De son chant. Un musicien parlerait de la mélodie des sons; un poète de la prosodie et des vers que chantait Calypso; un physiologiste examinerait si on chante avec un instrument à cordes, etc. Un philologue dirait: il y a une édition de telle année où se trouve cette variante: Du doux dans sa voix , il y ajouterait mille conferatur , et il aurait le prix de quelque part. 17 Muster, Ausgangspunkt und Ziel ist für Jacotot Fénélons Télémaque. Dabei Kursus des Lehrbuchs der französischen Sprache von Toussaint / Langenscheidt wurde auch ein Lehrbuch nach der Methode Toussaint-Langenscheidt von Carl Otto Martinus Brunnemann herausgegeben. (Vgl. Charles t oussaint / Gustav l angenscheidt , Lehrbuch der französischen Sprache für Schulen . Erster Kursus. 15. Aufl. 1895; Ch. t oussaint / J. L. G. l angenscheidt , Lehrbuch der französischen Sprache für Schulen. Zweiter Kursus. 8. Aufl. 1889; Carl O. M. B runnemann , unter Mitwirkung von C. t oussaint und J. G. L. l angenscheidt , Lehrbuch der französischen Sprache für Schulen. Erster, Zweiter und Dritter Kursus. 5. Aufl. Berlin 1890.). 16 Johann Adam P Fau , Der Sprachunterricht nach Hamilton und Jacotot: für Lehrer an Gymnasien und Realschulen dargestellt. Quedlinburg: Frank 1844, S. 10. 17 Vgl. Jacotot (1834), S. 480. <?page no="164"?> II. 1 Die Hochzeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode 165 soll die erste Seite des Buches solange betrachtet, geübt und wiederholt werden, bis sie „unbewußtes Eigentum des Schülers geworden ist, ebenso soll das ganze Werk Kristallisationspunkt für das gesamte Wissen bilden nach dem Grundsatze „Apprends bien un livre et rapportes-y tous les autres.“ 18 Die methodischen Ansätze in den Lehrbüchern von Johann Heinrich Philipp Seidenstücker 19 und Franz Ahn 20 zeigen wie Ploetz eine schülergerechte grammatische Progression und favorisieren einen induktiven Grammatikunterricht. Beide Autoren befinden sich damit „zwischen dem ganzheitlichen und dem synthetischen Pol des Sprachenlernens“. 21 Ahn plädiert wie die Philanthropen in den 1780er Jahren für eine Spracherlernung durch den Sprachgebrauch. Das Lernen von Regeln wird ausgeschlossen. Neben Übersetzungen sollen alle Grundfertigkeiten berücksichtigt werden. In seinem Praktischen Lehrgang , der in den Jahren 1834 und 1839 erschien, bietet Ahn kleine Lektionen mit je einer neuen Regel und wenigen Vokabeln; hieraus werden französische bzw. englische und deutsche Sätze geformt, die dem Leben entnommen sind; die sehr kurze Grammatik ist gesondert. Die Aussprache soll praktisch gelehrt werden; Regeln werden nicht gegeben, sondern am Schlusse eine Aussprachebezeichnung, die sich an die Schreibung anschließt. Im zweiten Teile haben wir eine zusammenhängende Geschichte, ferner kleine Beschreibungen, Briefe, Anekdoten in der fremden und in deutscher Sprache, auch Idiotismen und Redensarten. 22 Ahn stellt im Vorwort des von ihm herausgegebenen Französischen Lesebuchs für Gymnasien und höhere Bürgerschulen 23 die Grundsätze der didaktischen Progression vom Einfachen zum Komplexen sowie vom Leichteren zum Schwereren dar, wobei vor allem das letztere Prinzip dem Grundsatz Vom Eigenen zum Fremden entspricht. 24 Es wird darauf hingewiesen, dass die 18 Zitiert in Wendt (1909), S. 50. 19 Johann Heinrich Philipp s eidenstücker , Elementarbuch zur Erlernung der Französischen Sprache. 2. Abteilung. Dortmund und Leipzig: Schultz & Wundermann 1811 und 1813. 20 Franz a hn , Praktischer Lehrgang zur schnellen und leichten Erlernung der französischen Sprache. 2 Bände. Cöln: Du Mont-Schauberg 1834 und 1839. 21 Vgl. Reinfried (2007), S. 261. - Auf Seidenstücker berufen sich sowohl Ahn (in seinem ersten Band) als auch Ploetz (für den Seidenstückers zweiter Band das Vorbild war). In Ahns Lehrwerken findet sich erstmals die Idee einer impliziten und intuitiven Grammatik als durchgängiges Prinzip. 22 Zitiert in Philipp a ronstein , Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Erster Band: Die Grundlagen. Leipzig und Berlin: Teubner 1926, S. 37. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 23 Franz a hn (Hrsg.), Französisches Lesebuch für Gymnasien und höhere Bürgerschulen. Erster Theil. Für die unteren und mittleren Klassen. 11. Aufl. Köln: Verlag der Du Mont-Schauberg’schen Buchhandlung 1848, Vorwort, S. III. 24 Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. <?page no="165"?> 166 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung meisten bisher in Deutschland erschienenen französischen Chrestomathieen und Lesebücher[n] […] den Ansprüchen, welche man in unseren Tagen an solche Schriften zu machen berechtigt ist, keineswegs genügen können. Nicht nur ermangeln sie der unumgänglich nothwendigen Fortschreitung vom Leichteren zum Schwereren, sondern sie sind auch, mit wenigen Ausnahmen, aus unlauteren oder sehr dürftigen Quellen geschöpft und scheinen überhaupt, in Auswahl und Anordung, das Werk der Uebereilung und des bloßen Zufalls zu sein. 25 Bei der Auswahl des Stoffes bietet Ahn in „drei verschiedenen Kursus“ zunächst Einzelsätze, die klassischen Schriftstellern gewidmet und nach den Hauptabschnitten der Sprachlehre geordnet sind. Darauf folgen Anekdoten und naturhistorische Stücke. Der zweite Kursus beginnt mit leichten Fabeln von Fénélon, Lesage, d’Antelmy sowie Voltaire und schließt mit kurzen, authentischen (literarischen) Briefen ab, z. B. von Rollin an Friedrich den Großen bei seiner Thronbesteigung. Der (komplexe) dritte Kursus umfasst erzählende, beschreibende, belehrende und rednerische Prosa. Das Lesebuch schließt mit einer 26-seitigen Poetischen Darstellung mit der Funktion eines Appendice , der einen Vorläufer des Anhangs mit Gedichten und Liedern darstellt, wie sie in den Französisch- und Englischlehrwerken ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich waren. Die Gedichte und Fabeln werden nummeriert und mit dem deutschen Titel versehen. Darauf folgt der Text in der Fremdsprache. Neben Fabeln von Lafontaine wie Die Grille und die Ameise findet man Gedichte von Dubos, Legouvé, Chénedollé und anderen zeitgenössischen Autoren wie Delille 26 . Unter der Nummer 17. Die Macht des Gesanges wird auch der Bereich der Musik im Rahmen der Künste thematisiert: Dans ses noirs ateliers, sous son toit solitaire, Tu charmes le travail, tu distrais la misère. Que fait le laboureur conduisant ses taureaux? Que fait le vigneron sur ses brûlants coteaux? Le mineur enfoncé sous ses voûtes profondes? Le berger dans les champs, le nocher sur les ondes? Le forgeron domptant les métaux enflammés? Ils chantent, l’heure vole, et leurs maux sont charmés. 27 25 Ahn (1848), Vorwort, S. III. 26 Delille war Gymnasiallehrer in Amiens, bevor er eine Professur am Collège Royal für lateinische Poesie annahm und Mitglied der Académie française wurde. 27 Vgl. L’imagination, poëme. Chant cinquième. Les Arts. In: A.-V. a rnault , Œuvres complètes de Jacques Delille. Tome quatrième. Paris: Édouard Leroi, Libraire 1835, S. 141. <?page no="166"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 167 Die acht abgedruckten Verse stellen einen Auszug und damit eine Didaktisierung des 27 Seiten umfassenden Gedichts L’imagination von Jacques Delille dar. Die oben genannten Beispiele zeigen, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen methodischen Pluralismus gab, obwohl dieser Pluralismus eingeschränkt wurde durch die Tendenz zur Übersetzung. Nach dem Vorbild des Lateinunterrichts war der Trend zur synthetischen Grammatik-Übersetzungs-Methode besonders stark an den klassischen Gymnasien, an den Realgymnasien und teilweise an den neusprachlichen Oberrealschulen. An den Realschulen und teilweise auch an den höheren Mädchenschulen bildeten sich Ansätze zur direkten Methode heraus. 28 II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode an Real- und höheren Mädchenschulen II. 2. 1 Ansätze zu einer naturgemäßen Methode unter Einbeziehung von Musik und ihre institutionelle Verankerung Der genaue Ursprung des Ausdrucks direkte Methode liegt noch etwas im Dunkeln, obwohl die Bedeutung zumindest klar ist, dass dadurch der Umweg über die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht vermieden werden sollte. Die erste Erwähnung dieses Fachbegriffs erfolgte 1874 in einer kaum bekannt gewordenen Dissertation. 29 In den Veröffentlichungen der neusprachlichen Reformbewegung wird der Begriff selten verwendet. 30 Entscheidend für die Ausbildung der neusprachlichen Reformbewegung als soziales Phänomen 31 war ein Sprachlernkonzept, das seinen Schwerpunkt auf „äußere[n] Gründe[n] des praktischen Nutzens“ 32 legte. So wurde das Französische (erst) durch eine Ministerialverfügung vom 24. 10. 1837 zum verbindlichen Lehrgegenstand am Gymnasium in Preußen, an 28 Vgl. Reinfried (2007), S. 261. 29 Vgl. dazu S. 198 in der vorliegenden Arbeit. 30 Vgl. dazu Herbert c hrist / Daniel c oste (Hrsg.), Pour et contre la méthode directe. Historique du mouvement de réforme de l’enseignement des langues de 1880 à 1914. In: Études de Linguistique Appliquée 90. Paris: Didier 1993, S. 11. 31 Vgl. Reinfried (2007), S. 261 f., und Wilhelm m angold , Der Unterricht im Französischen und Englischen. In: Wilhelm l exis (Hrsg.), Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1902, S. 192-195. 32 Mangold (1902), S. 192. In den früheren Jahrhunderten hatten nur einzelne Schulen das Französische in ihren Lehrplan aufgenommen wie beispielsweise 1689 das Berliner Collège royal françois für die Hugenotten. Vgl. dazu auch Roosen (2008), S. 190 und S. 83 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="167"?> 168 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung dem die klassischen Sprachen Latein und Griechisch dominierten. 33 Anfangs beschränkte sich der Unterricht jedoch auf nur sechs Schuljahre mit jeweils zwei Wochenstunden. 34 1859 erscheint das Französische erstmals (zugleich mit dem Englischen) offiziell als verbindliches Fach in der Unterrichts- und Prüfungsordnung der Real- und höheren Bürgerschulen, „nicht nur weil beide Sprachen als moderne Verkehrssprachen wichtig sind, sondern auch deshalb, weil beide Sprachen im Gebiete der Realwissenschaften eine reiche Literatur besitzen.“ 35 Im weiteren Verlauf der 1850er und 1860er Jahre stieg die Zahl der deutschen Realschulen, Oberrealschulen und Gymnasien, an denen der meiste Französisch- und Englischunterricht erteilt wurde. 36 Nach und nach wurden die französischen Sprachmeister, die zwar für die Aussprache des Französischen gute Dienste leisteten, aber kein deutsches Staatsexamen vorweisen konnten, durch wissenschaftlich gebildete deutsche Theologen, Altphilologen 37 oder Mathematiker ersetzt, „die zwar Disziplin und Methode hatten, […], denen es aber […] oft an den elementarsten Kenntnissen in ihrem Fache Französisch fehlte“. 38 Um die Bildung des „Nachwuchses“ abzusichern, wurden an vielen Universitäten schließlich Lehrstühle für romanistische Philologie geschaffen. 39 Das preußische Kultusministerium erweiterte die Zugangsberechtigung zum universitären Lehramtsstudium von den Absolventen der klassischen Gymnasien auf alle Abiturienten. 40 So entstand eine neue Generation von Fremdsprachen- 33 Vgl. Budde (1908), S. 3-62. Mangold (1902), S. 192 unterstreicht, dass in der Ministerialverfügung dem Französischen „jeder geistbildende Wert“ aberkannt wurde: „Nur äußeren Gründen des praktischen Nutzens verdankte es ein geduldetes Dasein und auch ein Plätzchen in der mündlichen und schriftlichen Prüfung. Seine zwölf Stunden von der Tertia aufwärts wurden zwanzig Jahre später (1856) um fünf, drei in Quinta und zwei in Quarta, vermehrt […], aber die mündliche Prüfung fiel weg, so daß nur noch ein Exercitium als Zielleistung verblieb.“ (Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck.). 34 Vgl. Herbert c hrist / Hans-Joachim r ang (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Bd. VII. Tübingen: Narr 1985, S. 5 und 23. 35 Mangold (1902), S. 192. 36 Vgl. Reinfried (2007), S. 261 f. 37 Vgl. Christ / Rang (1985), Bd. VII, S. 79 f. 38 Mangold (1902), S. 192. 39 Vgl. Hans Helmut c hristmann , Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19.- Jahrhundert. Ihre Herausbildung als Fächer und ihr Verhältnis zur Germanistik und klassischer Philologie. ( Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akadamie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1985, Nr.- 1 ) . Stuttgart: Steiner 1985, S. 24 und 28. 40 Vgl. Friedrich P aulsen , Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgangs des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Leipzig: Veit 1885, S. 567. <?page no="168"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 169 lehrern, die sich über ihr neuphilologisches Studium definierten und neue Methoden für den neusprachlichen Unterricht der lebenden Fremdsprachen entwickelten. Anstelle des Fachbegriffs direkte Methode wurde im 19. Jahrhundert häufiger von der imitativen, natürlichen oder analytischen Methode gesprochen. 41 Bereits 1830 verwendeten Hamilton und Jacotot ein „analytisches“ 42 Unterrichtsverfahren. 1849 erhielt der Schweizer Professor für französische Literatur Charles Monnard, der seit 1846 den vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. angebotenen Lehrstuhl für romanische Sprachen und Literatur an der Universität Bonn innehatte, vom Minister von Ladenberg den Auftrag, den französischen Unterricht an den Gymnasien und Realschulen der preußischen Rheinprovinz zu evaluieren. 43 Monnard setzte in seiner Untersuchung drei Schwerpunkte: Er wollte zuerst Probleme und Mängel bei der Durchführung des französischen Unterrichts erforschen, danach die Ursachen ermitteln, um schließlich Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Hauptkritikpunkt war dabei die Aussprache: […] pour ne citer que deux exemples, on entend trop habituellement le v prononcé comme f […] et l’ s initial comme z. Si quelques-uns des maîtres prononcent bien et donnent, à cet égard, de bonnes directions, d’autres, en plus grand nombre, passent aux élèves bien des fautes ou même leur en font commettre. Beaucoup d’entre eux n’ont jamais été dans un pays français. Il y en a qui paraissent avoir entendu d’occasion des Français d’une classe peu cultivée et qui leur ont emprunté des habitudes étrangères au bon usage. 44 Monnard führt sechs Ursachen für die kritisierten Mängel auf: 1. Der Unterricht wird zu spät begonnen und es werden ihm zu wenige Stunden eingeräumt, besonders in den unteren Klassen: „Tout sollicite de le commencer [le français, A. R.] en V e après une année employée aux élémens du latin, avant de passer à ceux du grec.“ 45 Monnard forderte deshalb ein höheres Stundenvolumen: „On ne peut que se réjouir de la proposition faite dans la conférence à Berlin d’accorder au français quatre heures par semaine en V e et en IV e .“ 46 41 Vgl. Reinfried (2007), S. 262. 42 Vgl. S. 161 in der vorliegenden Arbeit. 43 Charles m onnard , Sur l’étude de la langue française dans les institutions publiques de la Prusse rhénane. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 5. Jg., Bd. 7, 1850, S. 247-254. 44 Ebd., S. 249. 45 Ebd. 46 Ebd. <?page no="169"?> 170 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung 2. Die unteren Klassen sind „trop nombreuses pour les exercices élémentaires“. 47 Im katholischen Gymnasium zu Köln wurden deshalb die unteren Klassen in zwei Parallelgruppen aufgeteilt. 3. Die Schüler sollen nur den Wortschatz lernen, die zur Lektüre notwendig sind [sic], und nicht nur „de s’approprier un petit manuel lexique“, sondern den Wortschatz in einer Kommunikationssituation durch Redemittel adäquat anwenden „pour se tirer d’affaire dans le monde“. 48 4. Die Unterrichtsmethode, „c’est la méthode trop peu pratique de l’enseignement.“ Die Lehrer verlieren sich oft in grammatischen Spitzfindigkeiten: „La langue française, dans les gymnases particulièrement, n’est pas destinée à servir d’instrument pour cette éducation intellectuelle à laquelle sert si admirablement l’étude approfondie de l’organisme du grec et du latin.“ 49 5. Das Französische findet beim Aufrücken in die höheren Klassen und beim Abitur nicht die gebührende Berücksichtigung, was gewissermaßen von der Unterrichtsbehörde vorgezeichnet ist: Dans les gymnases la langue française exerce bien peu d ’influence sur la promotion. 50 Aussi arrive-t-il souvent que les deux premières classes, la première surtout, traitent avec négligence une étude de peu d’utilité dans les grands examens (Abiturienten-Examen). 51 6. Der Lehrer, und das ist der Hauptpunkt, ist für das Fach methodisch nicht hinlänglich ausgebildet und sein Unterricht zu grammatiklastig: […] le point capital serait de perfectionner les études des maîtres […]. On est frappé des recherches dont la langue française est l’objet en Allemagne; les grammairiens allemands ont éclairé cette partie de la science de traits de lumière que souvent on chercherait en vain chez les grammairiens français. Sous ce rapport bien des instituteurs laissent peu de chose à désirer pour la précision et la solidité du savoir. Quelques-uns ont vécu en France ou en Belgique, mais, à part la grammaire, la plupart des autres ne se sont pas familiarisés avec la langue, ils ne s’en servent pas avec quelque aisance; des erreurs, des locutions et des constructions incorrectes se glissent dans leur enseignement. 52 Deshalb schlägt Monnard eine Reform der Lehrerbildung in drei Punkten vor: 47 Ebd., S. 250. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 250. 50 Es handelt sich um Kursivdruck im Original, um diesen Punkt hervorzuheben. 51 Ebd., S. 252. 52 Ebd., S. 253. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="170"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 171 a) La création d’un séminaire français. 53 b) Des bourses pour faciliter aux élèves du séminaire un séjour en France serviraient à compléter leur instruction. 54 c) Les maîtres, pour la plupart sans contact avec des Français et surtout des Français lettrés, réduits à lire la langue des livres sans entendre la langue vivante et sans consulter personne, auraient besoin d’un moyen pour conserver les bonnes habitudes. […]. Un cours de répétition de quelques semaines, organisé au séminaire pour les instituteurs, remplirait le but. 55 Der Gymnasiallehrer Karl August Mayer reagiert ein Jahr später auf Monnards Kritik und fordert in der Programmschrift zum Osterexamen für die unteren Klassen eine „naturgemäße“ Anordnung des Unterrichtsstoffs, für die oberen allerdings eine vorzugsweise wissenschaftliche Behandlung. 56 Mayer kritisiert, dass die Fabrikanten seiner Stadt ihre Söhne auf ein Gymnasium schickten, „obgleich es dort an einer wohlorganisirten, auf den Principien allgemeiner Bildung ruhenden Realschule nicht fehlte“. Und das, obwohl die Schüler nichts Anderes beabsichtigten, als in das Geschäft der Väter einzutreten, die gelehrte Schule zu absolviren, und erst mit dem Abiturientenzeugniß in der Tasche arbeiteten sie in neueren Sprachen und mathematischen Fächern dasjenige nach, was die Realschule vor dem Gymnasium voraus hat, eine Aufgabe, welche bei der tiefer gehenden Bildung, die sie bereits gewonnen hatten, weniger Zeit als man denken konnte, in Anspruch nahm. 57 Für Mayer sind die modernen Fremdsprachen „eigentlich die Hebel der Bildung“ und „besonders geeignet, die geistige Kraft der Jugend zu wecken.“ 58 Er bedauert, dass das Französische am Gymnasium eine untergeordnete Rolle im Vergleich zur höheren Bürger- und der höheren Töchterschule spielt. Deshalb 53 Damit war ein Romanistisches Seminar gemeint, das (nach dem Vorbild des Altphilologischen Seminars) für die wissenschaftliche Ausbildung der Lehramtsanwärter an den Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerichtet wurde. 54 Monnard zeigt sich auch hier als Visionär: Die Auslandsstipendien des Pädagogischen Austauschdiensts (PAD) und des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) ermöglichen heute vielen Lehramtsstudentinnen und -studenten ihren Auslandsaufenthalt. 55 Ebd., S. 254. - Auch hier zeigt sich, dass Monnards visionäre Vorschläge in Form der Lehrerfortbildungen verwirklicht wurden. 56 Karl August m ayer , der französische Unterricht an höhern Schulanstalten. In: Rector g reverus (Hrsg.), Programm zum Osterexamen des Gymnasiums zu Oldenburg . Oldenburg: Stalling 1851, 54 s. Oldenburg gehörte zu Rheinpreußen und wird deshalb hier als Beispiel angeführt. Die Programmschrift ist in der Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur 10,193 vorhanden. Vgl. auch Budde (1908), S. 73. 57 Ebd., S. 7. 58 Ebd., S. 8. <?page no="171"?> 172 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung setzt er sich wie Monnard für den Erhalt und den Ausbau des Französischen auch an Gymnasien ein und widerspricht seinem Kollegen, dem „Director des französischen und englischen Instituts zu Leipzig“ und „ordentlichem Lehrer an der ersten Bürgerschule“ Ernst Hauschild 59 , der „als ein gewandter Vertheidiger der neuern Sprachen contra Griechisch und Latein auftritt […] [und trotzdem] entschieden das Französische dem Privatfleiß des Gymnasiasten überlassen [will]“ mit der rhetorischen Frage: Wäre es deshalb nicht besser, die französische Sprache resolut auf dem Lektionsplane des Gymnasiums zu streichen und einen frischen Hieb in den Baum zu thun, auf den halbverdorrten Zweig, der dem sonst gesunden Stamme doch zur Unzier und zum Schaden gereicht? 60 Im Gegensatz zu Hauschild kämpft Mayer für den Verbleib und die Aufwertung des Französischen am Gymnasium: Verbannt man das Französische von der Gelehrtenschule, so wird vielleicht das Gymnasium gewinnen, schwerlich aber der zu bildende Schüler. Denn die Kenntniß der französischen Sprache ist noch immer für die modernen Kulturvölker zu wichtig, als daß es dem Zufall überlassen werden dürfte, ob von unsern Schülern gerade diejenigen, welche vorzugsweise eine wissenschaftliche Bildung anstreben, sich damit befassen wollen oder nicht. 61 Außerdem fordert Mayer das Singen von Liedern und Sprechübungen, da erst dadurch die Sprache lebendig werde und deren Hauptvorzüge zu Tage treten. Er schlägt deshalb eine Zusammenarbeit mit dem Gesangslehrer vor. Dadurch wird der Fokus auf die mündliche Interpretation der Sprache und die Aussprache gelegt: Ich würde es im Interesse des französischen Unterrichts auch gerne sehn, wenn der Gesangslehrer hin und wieder den Schülern ein französisches Liedchen, etwa eine Chanson von Béranger - wär’ es auch nur eine im Jahr - einübte, vorausgesetzt, daß er sich dazu qualificierte. Eine Chanson will, wie das Lied im engeren Sinne des Wortes überhaupt, gesungen sein, um verstanden zu werden, und nirgens wird eine reine Aussprache strenger gefordert als beim Gesange. 62 59 Vgl. Ernst J. h auschild , Die Bildungselemente der deutschen, französischen und englischen Sprache, in neun öffentlichen Vorträgen dargestellt. Leipzig: Verlag der Hinris’schen Buchhandlung 1847. 60 Mayer (1851), S. 9. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 50. <?page no="172"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 173 In den „beiden oberen Klassen soll der Unterricht grösstenteils in der Fremdsprache durchgeführt werden.“ 63 Bei der Lektürebehandlung empfiehlt Karl August Mayer auch diejenigen Dichtungsarten, wo die Poesie an das Gebiet der Prosa streift, z. B. im Lustspiele, im Epigramm, der Satire und Chanson, wo sich alle Seiten des französischen Nationalcharakters in ihrem vollen Glanze entfalten. Hier zeigt sich ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihre Durchdringung und Darstellung menschlicher Verhältnisse, ihre fröhliche Laune, ihr schneidender Witz und brennender Spott, ihre Feinheit, das Lächerliche an Menschen, Sitten, Gewohnheiten, Lagen und Zuständen herauszufinden und meisterhaft darzustellen. Am fleißigsten und glücklichsten ist die Chanson von den Franzosen bearbeitet worden, sie ist wahrhaft populär und reflektiert den Nationalcharakter. Vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert ist sie fröhlich und heiter; seitdem hat sie, wie das Vaudeville, eine satirisch-historische Farbe angenommen. Die Chanson enthält eine Geschichte und ein Sittengemälde Frankreichs. 64 In Mayers panorama diachronique zeigen sich schon in nucleo Ansätze und Elemente der Kulturkunde avant la lettre ! An Mayers ausführliche, klassisch-literarische Analyse der Textsorte Chanson knüpft Gustav Thurau 65 in seiner Dissertation Beiträge zur Geschichte und Charakteristik des Refrains in der französischen Chanson an. Thurau wird im späteren Methodenstreit im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung eine tragende Rolle auf Seiten der Gegner der Reform einnehmen. Als Mitherausgeber der (reformkritischen) Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht formulierte er seine Kritik an den Reformern unter anderem auch am Beispiel des Liedeinsatzes im Französischunterricht. 66 63 Budde (1908), S. 73. 64 Mayer (1851), S. 46. Auch im sich an die Programmschrift anschließenden Schulbericht schreibt Mayer für den Bereich Französisch der Prima und Sekunda: „In den Stunden wurde meist französisch gesprochen.“ (Schulbericht. Uebersicht der im Schuljahre 1850 bis 1851 in den Classen des Gymnasiums durchgenommenen Lehrgegenstände. In: Rector Greverus (1851), S. 56 und 58.). 65 Gustav t hurau , Beiträge zur Geschichte und Charakteristik des Refrains in der französischen Chanson. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albertus-Universität zu Königsberg i. P. Weimar: Felber 1901 (Thurau 1901a). Diese Dissertation wurde noch im selben Jahr in Berlin veröffentlicht: Gustav t hurau , Der Refrain in der französischen Chanson. Beiträge zur Geschichte und Charakteristik des französischen Kehrreims. Berlin: Felber 1901 (Thurau 1901b). Wie Mayer verwendet Thurau das Femininum „die Chanson“, um den Bezug zur französischen Literaturgattung zu unterstreichen. 66 Vgl. dazu: Gustav t hurau , Gesang und Sprachunterricht. In: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht. 7. Jg., 1908, S. 193-213. <?page no="173"?> 174 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung II. 2. 2 Wichtige Vertreter der naturgemäßen Methode und ihr Bezug zum Musikeinsatz II. 2. 2. 1 A. F. Louvier In den 1860er Jahren wurde die Anschauungsmethode durch den Direktor einer höheren Töchterschule in Hamburg, A. F. Louvier, neu begründet. Die Methode knüpft an die Versinnlichungsmethode 67 der Dessauer Philanthropen an. Louvier setzte zur unmittelbaren Anschauung im Anfangsunterricht Gegenstände, Modelle und vorgespielte Aktionen ein. 68 Er stellt in seiner Schrift Über Naturgemäßheit im fremdsprachlichen Unterricht 69 sein „naturgemäßes“ und imitatives Lehrverfahren vor, das planmäßig und abgestuft ist: 70 Motto: Sprachunterricht kann nie in der pestalozzischen Schule seine feste Grundlage finden - d. h. zu einer naturgemäßen Methode gelangen, wenn diese sich nicht stützt auf eine Erkenntnistheorie 71 und eine Psychologie, die imstande ist, zugleich auch der Sprachentstehung im einzelnen Kinde, parallel gehend zu folgen. Die „Naturgemäßheit“ steht der „Unnatur“ ungefähr ebenso schroff entgegen, wie „Erziehung“ (Entwicklung) der „Dressur“. So wie der Unterricht sich von seiner erzieherischen Pflicht entfernt, verfällt er erbarmungslos eben der Dressur, sei es in höherem oder geringerem Grade: ein Drittes giebt es nicht, und der Begriff „naturgemäß“ deckt sich mit dem Begriff “erziehlich“, wie „Unnatur“ stets der „Dressur“ innewohnt. Es läßt sich daher nicht verschweigen, daß jeder nicht naturgemäße Unterricht also zur Dressur entwürdigt wird. 72 Louvier stellt drei Funktionen der Sprachenbildung dar, die im naturgemäßen Unterricht als Stufen aufeinander folgen: 67 Vgl. dazu Reinfried (1990), S. 126-145. Den frühesten Versuch wagte der Berliner Realschullehrer Karl Griep, der im Anschluss an die 16 Bildertafeln aus Lithographien des Berliner Taubstummenlehrers Carl Wilke ein sachlich geordnetes französisch-deutsches Vokabular erstellte. Karl g rieP , La ville et la campagne. Recueil de mots français avec traduction allemande, adaptés à l’explication des tableaux de M. Wilke. Berlin: Henri Sauvage 1858 und Karl August Martin h artmann , Die Anschauung im neusprachlichen Unterricht. Vortrag, gehalten am 16. April 1895 auf der Jahresversammlung des Sächsischen Gymnasiallehrervereins zu Chemnitz. Wien: Eduard Hölzel, 1895, S. 10. 68 Vgl. dazu Reinfried (1992), S. 156. 69 A. F. l ouvier , Über Naturgemäßheit im fremdsprachlichen Unterricht. In: Die Mittelschule. Pädagogische Zeitschrift für die Interessen des deutschen Mittel- und Volksschulwesens. 3. Jg., Nr. 17, 1889, S. 267-294. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 70 Ebd., S. 156-158. 71 Louvier beruft sich hier auf Kants Erkenntnistheorie, ohne jedoch detailliert seine Anleihen beim Philosophen zu benennen.Vgl. dazu Reinfried (1992), S. 156. 72 Louvier (1889), S. 267. <?page no="174"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 175 1) „Anschauung“ 2) „Ableitung“ 3) „Elementare Logik“ 73 1) Die ersten beiden Jahre sind bei Louvier der empirischen Anschauung vorbehalten. 74 Dabei ist „Anschauung“ für Louvier „keineswegs gleichbedeutend für den Begriff ‚Sehen’. Vielmehr ähnelt sie [die Anschauung, A. R.] der ‚Erfahrung durch die Sinne’“. 75 Deshalb sollte der Lehrer Realia (womit reale oder modellhaft verkleinerte Gegenstände gemeint sind) in den Unterricht einbeziehen, um einen naturgemäßen Unterricht zu ermöglichen: Der Lehrer hat die im Lehrbuche angeführten Gegenstände in die Klasse zu bringen, mit denselben die im Lehrbuch vorgeschriebenen Veränderungen vorzunehmen, und alsdann, aber erst dann den fremden Ausdruck an die Kinder in ganz ungezwungener Weise hinanzubringen und üben zu lassen. Dieser Ausdruck oder dieser Satz sagt aber sodann genau dasselbe, was als Gedanke bereits in den Kindern lebt, und muß deshalb sofort verstanden und vom Schüler gesprochen werden. Nie bringt die Lektüre etwas Neues oder Unverstandenes, wie im bisherigen Unterricht, weil sonst die deutsche Übersetzung erst den Sinn ergiebt, den die fremde Sprache nicht gab. 76 2) In der Mittelstufe, also im Unterricht der beiden folgenden Jahresklassen „im dritten und vierten Jahre“ 77 , folgt die Stufe der „Ableitung“. Es handelt sich um „Begriffe abstrakter Natur, also abgeleitete Begriffe“, hierbei werden die in der ersten Stufe erlernten Begriffe im dritten und vierten Jahr dann „angewendet“. 78 Jetzt lernen die Schüler u. a. die Konjugationen der Vergangenheit und grammatische und morphologische Strukturen kennen. Dabei sollen die Denkprozesse verfolgt werden, „die der Bildung neuer Wörter (Abs- 73 Louvier erwähnt hierbei Immanuel Kant und räumt dabei aber ein: „Ich gestehe, daß ich an dieser Stelle, indem ich diese drei Bezeichnungen wähle, einen Akt der Selbstverleugnung übe, der mir sehr schwer fällt, und nur, um für die Lehrer und Lehrerinnen, die nicht mit der Kantschen Terminologie bekannt sind, nicht abschreckend zu schreiben, auf deren Hilfe ich doch angewiesen bin, deshalb stelle ich mich hier dem Vorwurf bloß, als ob diese drei Bezeichnungen nicht die Sache träfen. Wäre ich genötigt, in einem philologischen Seminar, oder auf einer Unterrichtsbehörde gegenüber die Sache zu begründen, alsdann würde ich mich bemühen dürfen, die obigen drei Hilfsmittel auf ihren wahren, erkenntnistheoretischen Wert zurückzuführen.“ Ebd., S. 270 f. 74 Ebd., S. 271-285. 75 Ebd., S. 271. 76 Ebd., S. 272. Neben der Naturgemäßheit der einsprachigen Anschauungsmethode wird diese assoziationspsychologische Begründung von Felix Franke rezipiert. Vgl. S. 192 in der vorliegenden Arbeit. 77 Louvier (1889), S. 285. 78 Ebd. S. 285. <?page no="175"?> 176 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung trakta) und neuer Formen (z. B. der Verbformen) zugrunde liegen.“ 79 Louvier beschreibt die Ableitung durch die „Erfahrung durch die Sinne“ exemplarisch wie folgt: Hier muß es genügen, wenn ich aus den sinnlich-wahrnehmbaren, also durch Erfahrung erworbenen Begriffen: pauvre, bon, propre, beau, sain u. a., durch einen inneren, intellektuellen Vorgang die Abstrakta machen kann: pauvreté, bonté, propreté, beauté, santé u. a. - Dieser Vorgang aber ist der folgende: Das Kind wird durch Erfahrung dahin geführt, zu erkennen und zu sagen: der Tag ist schön, der Apollo ist schön, der Baum ist schön, der Gesang ist schön; sobald das Kind erkennt, daß schön (der Begriff) immer wiederkehrt, also aus der Vielheit eine Einheit wird, daß diese Einheit nur ein Merkmal hat, die Schönheit, in diesem Augenblick versteht der Schüler auch das Wort: la beauté, und mein Zweck für den Sprachunterricht ist erreicht. Nach demselben Gesetz entstehen die Abstrakta: pauvreté, bonté, propreté, santé, u. a., sogar mit derselben Endung té. 80 3) In der dritten Stufe, im fünften Unterrichtsjahr, folgt schließlich die Stufe der „Logik“. Da sich nach Louvier die ersten beiden Stufen auf das Verstehen und Sprechen konzentrierten, also der gesamte Sprachunterricht ein ausschließliches „Sprechen“ war, da alle Übung sich naturgemäß an das Hören und Sprechen, nie auf das Lesen (also ans Auge) richtete, so kann jetzt das dritte Hilfsmittel eingeführt werden, daß [sic, A. R.] ich nur sehr annähernd die „Logik“ nenne. 81 79 Ebd. 80 Ebd., S. 286. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. Louvier unterstreicht hierbei die induktive Wissensvermittlung seiner naturgemäßen Anschauungsmethode und wählt dazu den plastischen Vergleich mit der Heilgymnastik: „Die Schüler hören während der Schuljahre kein Wort über die Kantsche Begründung dieser Methode. Nie wird eine Kategorie in der Klasse erwähnt, Hunderte von Lehrern und Lehrerinnen haben bis heute nach den Leitfäden unterrichtet, ohne zu ahnen, daß sie im Dienste Kants gestanden haben. Einzelne, etwas oberflächliche Hospitanten haben sogar den Eindruck mitgenommen, als wäre die Lehrstunde eine einfache Konversationsstunde, kurz, ich betone, daß die Ausführung des Unterrichts eine einfache Sache der scheinbaren Praxis ist, während die Begründung des Unterrichts hier, gänzlich verschieden davon, notwendig eine wissenschaftliche Behandlung erforderte. Der Gegensatz zwischen dieser Begründung und der Ausführung dieser Methode ist genau derselbe, wie in der Heilgymnastik: der ausübende Kranke weiß von keinem anatomischen Gesetz, aber der wissenschaftliche Arzt ist sich der Naturberechtigung seiner Rezepte vollkommen bewußt.“ (Ebd., S. 286.). 81 Ebd., S. 286. <?page no="176"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 177 Louvier beschreibt am Beispiel der Konjunktionen, wie abstrakte Begriffe, die nicht vom konkreten Begriff herzuleiten sind, durch fremdsprachliche Erklärungen vermittelt werden: Weil, obgleich, während, denn, trotz u. s. w. sind nicht durch sinnliche Anschauung zu erfassen, weder im Begriff noch im Wort. Sie sind die Diener und auch die Geschöpfe einer Logik, die sich mit den Verhältnissen eines Gedankens zum anderen beschäftigen; sie sind zum Teil sogar die reinen Vertreter der reinen Verstandes-Kategorien 82 (Kausalität), die sonst zwischen zwei Sätzen gar keinen Ausdruck fänden; sie sind, wie die Kategorien selbst transcendentaler Natur, und da die Anschauung hier versagt, eine begriffliche Ableitung nicht existieren kann, eine lautliche Ableitung sehr tief versteckt liegt, deshalb ist die logische Erfassung dieser Beziehungen zugleich die elementarste und die naturgemäße, und schon der so innerlich wichtigen Bindewörter wegen dürfte in einem vollständigen System nicht die Logik unter den sprachtreibenden Hilfsmitteln der Natur hinweggelassen werden. 83 Im sechsten Jahr der Spracherlernung soll die Sprache nunmehr selbst zum Objekt des Studiums gemacht werden: sie selbst wird zum Gegenstand der Betrachtung; nicht die Aneignung des fremden Ausdrucks ist das Ziel der nun folgenden Beschäftigung mit der Sprache, sondern der Inhalt ist es, d. h. der Schatz, den ein fremdes Volk in der Litteratur niedergelegt hat. Nicht die fremdländische Form wird gelernt, sondern ihre Abweichung vom Deutschen wird erkannt und erfaßt, es ergiebt sich eine Vergleichung zwischen dem Wesen der Muttersprache und dem der fremden; es gilt jetzt ferner eine annähernd freikünstlerische Übertragung desselben Gedankens aus der einen in die andere Sprache; denn beide sind nicht länger unbekannt; - es folgt endlich der erwachsene Schüler seinem Triebe nach Kritik, indem er an der erlernten fremden Sprache die Gesetzmäßigkeit folgernd erkennt […]. 84 Das (weitere) Studium einer bereits bekannten Fremdsprache als Objekt ist für Louvier die Kultur, und so folgt auf den naturgemäßen der kulturgemäße 85 Unterricht. Louvier versucht, das Erlernen der französischen Sprache durch eine implizite Systematik einer Stufenfolge zu optimieren, wobei die lexikalischen und grammatischen Kenntnisse aufeinander aufbauen. Das Fehlen 82 Nach Louvier werden nun die Kantschen Verstandeskategorien angewendet, die im Elementarunterricht noch teilweise fehlten. Vgl. dazu Reinfried (1992), S. 157. 83 Vgl. Louvier (1889), S. 287. Louvier steht noch unter dem Einfluss der formalen Bildungstheorie, da er glaubt, „dass dadurch der Verstand der Schüler entwickelt und geschult werde.“ (Reinfried 1992, S. 157.). 84 Ebd., S. 288. 85 Ebd. <?page no="177"?> 178 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung dieser Progression bei der naturgemäßen Versinnlichungsmethode der Philanthropen im 18. Jahrhundert bildet den Hauptunterschied zur direkten Methode des 19. und 20. Jahrhunderts. 86 Bei Louviers sechsbändigem Lehrwerk basieren aber nur die beiden ersten Jahresbände auf der Anschauung. 87 In Band 1 bringt der Lehrer Realia mit in die Klasse, wie beispielsweise das Modell einer kleinen Stadt ( Lection 11): Voilà une maison, voilà une église (üben! ) Qu’est-ce que cela? C’est une maison. Montre-moi la maison. Voilà la maison. Qu’estce que cela? C’est une église. Montre-moi une église. Voilà une église. Combien de maisons? Trois maisons. Combien de maisons? Deux maisons? Combien de maisons? Une maison. 88 In Band 2 werden Kurztexte wie kleine Lesestücke, Märchen, Anekdoten, Gedichte und Reime vorgestellt. Hierbei stehen Vokabelhilfen auf deutsch in Klammern und erinnern an die Interlinearversion der Hamilton-Jacotot-Methode. 89 3. Le soir. Petit enfant, déjà la brume (Dämmerung) Autour de la maison s’étend (sich verbreitet): On doit dormir quand vient la lune, Petit enfant. 90 Das Gedicht befindet sich mit am Ende des zweiten Bandes und ist wie das folgende Gedicht Le nom de Dieu ein Auszug aus der Comédie enfantine von Louis Ratisbonne. Es handelt sich um ein kindgemäßes Theaterstück mit Reimen, Gedichten und auch Liedelementen. Die Chanson du coquillage zum Schluss des Stücks wurde allerdings nicht bei Louvier abgedruckt. 91 86 Vgl. dazu in Reinfried (1992), S. 75, und Puren (1988), S. 116 f. 87 Vgl. Reinfried (1992), S. 153. - Nach der didaktisch-methodischen Konzeption der zwei ersten Jahresbände bringt der „Lehrer in Abständen von einer bis drei Wochen neue Gegenstände in die Klasse“ mit, „eine Puppenstube, das Modell einer Stadt, einen ‚Noah- Kasten‘ mit vielen Tierfiguren, Landkarten, Schemel, bunte Stöcke und Papiere, diverse Werkzeuge und Bücher sowie eine Schwarzwälder Uhr. Außerdem spielen Lehrer und Schüler Handlungen vor; sie imitieren beispielsweise unterschiedliche Handwerker bei der Arbeit.“ (Ebd., S. 153.). 88 Vgl. A. F. l ouvier , Das erste Jahr französischen Unterrichts. Ein Beitrag zum Erlernen fremder Sprachen. 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1872, S. 15. 89 Das verdeutlicht einen Umweg über die Muttersprache und widerspricht Louviers Thesen. 90 A. F. l ouvier , Das zweite Jahr französischen Unterrichts. Ein Beitrag zum Erlernen fremder Sprachen. 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1890, S. 83. 91 Louvier wählte das Beispiel „Allons, il faut rentrer bien vite, petit Pierre; Tu vas te refroidir, assis sur cette petite pierre […]“. (Louvier 1890, S. 84.). <?page no="178"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 179 Im Band 3 92 findet man Lesetexte und landeskundliche Kurztexte, Band 4 enthält einige Gedichte Texte, Briefe, zwei Fabeln von La Fontaine, jedoch keine Lieder. 93 Band 5 94 bietet längere historische Lesestücke, wobei Band 6 95 sich ausschließlich der Grammatik widmet und eine Anleitung für den Lehrer gibt. Die oben genannten Beispiele zeigen, dass alle Erklärungen und Lehrerhinweise in Louviers Lehrbüchern ausschließlich auf deutsch erfolgen. Damit besteht ein Widerspruch zwischen Louviers Theorie und seiner Unterrichtspraxis. 96 Otto Wendt weist darauf hin, daß sich das, was für das sieben- oder achtjährige Mädchen eignet, nicht ohne weiteres für den zwölfjährigen Schüler verwenden läßt. Immerhin lassen wir Louvier den Ruhm, die Mängel der rein grammatischen, mittelbaren Methode erkannt und Mittel und Wege gezeigt zu haben, durch die sich gewisse Ziele des ursprünglichen Unterrichts sicher erreichen lassen. 97 II. 2. 2. 2 Ignaz Lehmann Die unmittelbare Anschauung als Mittel zur Spracherlernung wurde in der Nachfolge Louviers von Felix Danicher in seiner Französischen Schreib-Lese-Fibel 98 angewendet. Der Pfälzer Lehrbuchautor Ignaz Lehmann nutzte hingegen die mittelbare, auf Bilder beruhende Anschauung. Sein Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache nach dem Anschauungsunterricht 99 wurde von einigen Zeitgenossen als gelungene Realisierung einer Fremdsprachenlehrmethode 100 betrachtet, die muttersprachenähnlich und „einsprachig“ ist. Lehmann war Vorsteher 92 A. F. l ouvier , Das dritte Jahr französischen Unterrichts. Ein Beitrag zum Erlernen fremder Sprachen (Louvier 1871a) . 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1871. 93 A. F. l ouvier , Das vierte Jahr französischen Unterrichts. Ein Beitrag zum Erlernen fremder Sprachen. 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1891. 94 A. F. l ouvier , Das fünfte Jahr französischen Unterrichts. Ein Beitrag zum Erlernen fremder Sprachen (Louvier 1871b) . 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1871. 95 A. F. l ouvier , Rationelle und vereinfachte Schulgrammatik . Das sechste Jahr französischen Unterrichts (nebst Anleitung für den Lehrer). 2. Aufl. Hamburg: Hermann Grüning 1876. 96 Vgl. Reinfried (1992), S. 153, Fußnote 261. 97 Wendt (1909), S. 74. 98 Felix d anicher , Französische Schreib-Lese-Fibel. Eléments de conversation, de lecture et de grammaire française. Nach der Methode des Anschauungsunterrichts. Frankfurt a. M.: Jaeger 1867. 99 Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868. 100 Hartmann (1895), S. 10 bezeichnet Lehmanns Werk als „sehr bemerkenswert“. Für Albert von Roden ist es „eine bedeutende und eigenartige, zugleich bahnbrechende Leistung“. (Albert von r oden , Die Verwendung von Bildern zu französischen und englischen Sprech- <?page no="179"?> 180 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung einer Knaben-Erziehungsanstalt in der Pfalz, also im Grenzbereich zu Frankreich. Sein 1868 erschienenes Lehrwerk teilt er wie Louvier seinen Stoff in eine Folge von sechs Stufen ein. 101 Die erste Stufe nutzt die „directe Anschauung“ 102 , also unmittelbare Anschauung realer Gegenstände des Klassenzimmers. Der Lehrer zeigt auf diese Gegenstände und benennt sie in der Fremdsprache 103 oder erklärt Vorgänge durch seine Mimik und Gestik. Danach wiederholen die Schüler das vom „Lehrer französisch Gesprochene […] laut, sei es einzeln, sei es im Chor, wobei wir nur die skrupulöseste Achtsamkeit auf die Aussprache empfehlen; unablässig und unermüdlich sei das Vorsagen, Verbessern, Nachhelfen, Wiederholen.“ 104 Erst danach wird das Buch geöffnet und „was dem Ohr und dem Munde geläufig geworden, auch dem Auge anvertraut.“ 105 übungen . Progr. der Realschule in der Nordstadt zu Elberfeld, Nr. 520. Eberfeld: Baedekersche Buchdruckerei, A. Martini und Grüttesfien, 1898, S. 4.). 101 Das Buch folgt der Erkenntnistheorie des neuzeitlichen Sensualismus, die sich an den von Johann Amos Comenius und John Locke entlehnten Grundsatz des Thomas von Aquin: Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu orientiert. Lehmann zielt damit besonders auf einen praktischen, anwendungsorientierten Gebrauch der Sprache. 102 Vgl. Lehmann (1868), S. I. Nach Marcus Reinfried (1992), S. 95, Fußnote 55, entspricht die erste Stufe „noch nicht vollkommen den (erst in den achtziger und neunziger Jahren ausführlich formulierten) Prinzipien der direkten Methode: paradoxerweise entfällt noch etwa ein Drittel von jeder Lektion auf Hinübersetzungen, die zur sprachlichen Festigung und zum Transfer bestimmt sind.“ Zwar bietet Lehmann einsprachige Semantisierungen neuer Vokabeln und lehnt die Herübersetzung ab ( version ). Dennoch ist das Festhalten an der Hinübersetzung ( thème ) für Reinfried noch ein „punktuelles Relikt der Ploetzschen Grammatik-Übersetzungsmethode“, da im Ploetzschen Elementarbuch auch der dritte und letzte Teil jeder Lektion eine Übersetzung vom Deutschen ins Französische darstellt. (Ebd., S. 95.). 103 In seinen Bemerkungen zur ersten Stufe schreibt Lehmann: „Der Schüler soll gewöhnt werden, bei dem französischen Worte den Gegenstand, den es bezeichnet, ohne das Medium der deutschen Übersetzung zu denken […]. (Lehmann 1868, Erste Stufe. Directe Anschauung, Bemerkungen zur ersten Stufe, III.). 104 Ebd., S. IV. Der Fettdruck wurde vom Originaltext übernommen. Lehmann vergleicht den Zweitspracherwerb mit dem Erwerb der Muttersprache: Das ständige, „unendliche Wiederholen“ soll aber nicht „durch das Anfangs papageienmäßige Nachplappern abschrecken. Gerade hierin liegt ein ungeheurer […] Vorzug der neuen Methode: es muß eben der Prozeß des Erlernens der Muttersprache gewissermaßen noch einmal durchgemacht werden. Der Schüler, und wäre er bereits zum Mann herangereift, muß für die practische Erlernung des fremden Idioms wieder zum Kinde werden - so wunderbar es Manchem erscheinen mag - er wird es auch und wird es gerne.“ (Ebd., S. V.). 105 Vgl. Wendt (1909), S. 76. Dabei besteht jede Lektion aus drei Teilen: „Nr. I ist nach der mündlichen Behandlung zu präparieren, d. h. Wort für Wort abzuschreiben und deutsch oder französisch zu übertragen. Nr. II enthält Fragen, welche mündlich und schriftlich in der französischen Sprache selbsttätig zu beantworten sind. Nr. III wird mündlich und teilweise schriftlich aus dem Deutschen übersetzt. Der Übungsstoff ist […] aus der französischen Jugendliteratur gewählt, konzentriert sich nach bestimmten Gruppen, bringt <?page no="180"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 181 Die zweite Stufe des Lehr- und Lesebuchs behandelt die mittelbare „Anschauung im Bilde“ anhand von Bildtafeln. Hierbei nutzt Lehmann selbstentworfene Bilder, die sich an den Winckelmannschen 106 Jahreszeitenbildern orientieren. Lehmann hatte die 8 Xylographien bei der damals bekannten Verlagsbuchhandlung und xylographischen Anstalt Brend’amour in Düsseldorf in Auftrag gegeben, wobei auch sein Sohn Ernst Moritz an den Entwürfen beteiligt war. 107 Die Jahreszeitenbilder stehen in direkter Beziehung zum täglichen Leben, wobei saisonale Tätigkeiten, Berufe und Handlungen dargestellt werden. Lehmanns sechs „Winke zur Beschreibung der Methode“ 108 erklären die Vorgehensweise, wobei ähnlich wie bei der ersten Stufe der direkten Anschauung verfahren wird, aber hierbei nicht anhand von Klassenobjekten, sondern Bildern: Der Lehrer 1. benennt alle Gegenstände des Bilds und beschreibt die Tätigkeiten der Personen, welche Gegenstände vorhanden sind sowie deren Lage und Stellung. Danach sprechen die Schüler die Begriffe nach (einzeln, bank-, klassenweise, im Chor, solange bis diese Gegenstände „eben so geläufig in der französischen, wie in der deutschen Sprache benannt werden können.“ 109 2. Er geht näher ein auf „Kleidung, Theile, Miene […]. Alles so weit, als der Schüler davon durch die Annschauung Kenntniß nehmen kann.“ Dabei wird ausschließlich französisch gesprochen: „Nur wo Mißdeutung oder Nichtverstehen zu fürchten ist, bedient sich der Lehrer der Muttersprache.“ 110 3. Er gibt bei der zweiten Wiederholung weitere Erklärungen und überzeugt sich „durch französische Fragen, ob das Gehörte verstanden und behalten worden“ ist. 4. Er lässt die Fragen im Buch lesen und zuerst mündlich, dann schriftlich beantworten. 5. Er liest mit Schülern bereits längere, zusammenhängende Stücke. Einige Texte der folgenden Stufen werden jetzt bereits angewendet und „der Unterricht bald Geschichten, Briefe und Gedichte, deren Rhythmus und Reim das Gedächtnis wesentlich unterstützen.“ (Ebd., S. 76.). 106 Die Wilke-Tafeln wurden nach 1861 durch die 72 x 95 cm großen Winckelmannschen Wandtafeln in den Hintergrund gedrängt und die Anschaffung diese Bilder durch ministerielle Erlässe den preußischen Lehrerseminaren empfohlen. (Reinfried 1992, S. 105 f.). 107 Lehmann (1868), Vorwort, S. XI. 108 Ebd., S. 57. 109 Ebd. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 110 Ebd. Der Fettdruck wurde vom Originaltext übernommen. <?page no="181"?> 182 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung wechselt zwischen Anschauung im Bilde, Lesestücken und Gesprächen, Grammatik, Gedichten, Liedern und kleinen Aufsätzen ab […].“ 111 6. Er entscheidet über „die Verwendung der Noten und die Bemerkungen zu den durch den Druck ausgezeichneten Wörtern und Formen, sowohl was das Wie, als das Wann und Wieviel betrifft, bleiben dem Ermessen des Lehrers überlassen. Die Gedichte sind zum Theil memoriren zu lassen.“ 112 Hierbei erhalten Lieder erstmals eine (sinntragende) didaktische Funktion im Unterrichtsgang des Lehrer-Schüler-Gesprächs und fungieren parallel zur semantischen Bildfunktion, unterstreichen, illustrieren und festigen die Aussage der Bilder und (Induktions-) Texte. Die „Dritte Stufe. Lectures Graduées et Causeries Enfantines.“ beinhaltet „Leichte, stufenmäßig geordnete Lesestücke und Gespräche. 113 Lehmann schlägt Lesebuchtexte für einen systematischen Leseunterricht 114 vor: „Das Lesestück wird so lange französisch gelesen, bis dies geläufig und ohne Fehler geschieht.“ 115 Allerdings erfolgt danach die (mündliche) Übersetzung ins Deutsche, anschließend „die Umsetzung der Erzählung in eine Conversation oder in Fragen, die der Lehrer oder ein Schüler an den anderen stellt, 116 Umwandlung der Conversation in erzählende Rede, Nachahmung der Briefe.“ 117 111 Ebd., S. 57. Meine Hervorhebung steht in Fettdruck. Die Gedichte und die Liedbeispiele werden in die Erzählungen integriert und beziehen sich auf die jeweilige „gravure“ zu Beginn der Jahreszeitentexte. Die Liedbeispiele werden in der vierten Stufe Poésies de l’Enfance et Morceaux de Chant mit Vokabelerklärungen wieder aufgenommen. (S. 190-192 in der vorliegenden Arbeit.). 112 Lehmann (1868), S. 57. 113 Ebd., S. 145. 114 Lehmann kann als Vorläufer der Lesebuchmethode als zweiter, größerer Säule der direkten Methode neben der Anschauungsmethode gelten. Vgl. dazu S. 246, Fußnote 346. 115 Lehmann (1868), Vorbemerkung, S. 148. 116 Das ist ein Fortschritt gegenüber der Grammatik-Übersetzungs-Methode, da hierdurch die Selbsttätigkeit der Schüler und ein Wechsel der Sozialformen ermöglicht wird. 117 Ebd, S. 149. Ab Text Nr. 113 Die Nibelungen setzen größere Lesestücke ein. Lehmann zeigt an diesem Beispiel, dass auch die modernen Fremdsprachen bildend wirken können und sowohl dem formalen als auch praktischen Zweck dienen: „Jetzt ist es an der Zeit, daß die gewonnene Kenntniß des Französischen noch mehr in’s Schulleben eingreife und zugleich für die gesammte Schulbildung nutzbar gemacht werde. Der Unterricht im Französischen muß, sobald er die Grenze der ersten Elemente verläßt, gleich dem in den alten Sprachen, der eben dadurch so bildend wirkt, nicht mehr blos sprachlichen, sondern auch sachlichen Stoff bieten und dem Unterrichte in den übrigen Lehrgegenständen in die Hände arbeiten. Nur dann wird der Unterricht in den neuern Sprachen wahrhaft bildend wirken, dem formalen und praktischen Zwecke zugleich dienen, in dem Plane unserer Real-, Gewerb- und Handelsschulen den ihm gebührenden Platz einnehmen, wenn durch denselben zugleich die Gesammtbildung gefördert, wenn nicht blos abgerissene, mehr oder <?page no="182"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 183 Die Vierte Stufe. Gedichte und Lieder für Kinder. Poésies de l’Enfance et Morceaux de Chant. 118 stellt Gedichte und Lieder vor, die anhand von Fragen und Gesprächen wie in den vorhergehenden Stufen erarbeitet werden. Die poetischen Stücke sollen „dazu genützt werden, um vorgerücktern Zöglingen die allgemeinsten Grundsätze und Regeln der französischen Dichtkunst anschaulich zu machen.“ 119 Die Gedichte werden „theilweise zum Memoriren, sämmtlich zur Lectüre und zur Conversation und für Gereiftere zum Ausarbeiten oder zur Nachahmung in (deutscher und französischer) Prosa“ 120 empfohlen. Interessanterweise ist der Text des 41. Gedichts Ma Germanie 121 (Abb. 13, S. 184) identisch mit Frédéric Bérats bekanntem Volkslied Ma Normandie, das als prototypisches Lied 122 in vielen Lehrbüchern und Liedersammlungen für den Französischunterricht verwendet wurde. Der Text des 18. Gedichts Le Petit Pierre (Abb. 14, S. 185) ist Teil eines Erzählstranges über ehrliche Arbeit und Fleiß, Tugenden, die im Vorfeld durch die Fabeln von Lafontaine im Text 15. La Cigale et la Fourmi und 16. L’Abeille et la Fourmi illustriert worden sind. In verschiedenen Französischlehrbüchern wurde der beliebte Text mit Melodie abgedruckt. 123 Der zugrunde liegende deutsche Text stammt von Ludwig Höltys Gedicht Der alte Landmann an seinen Sohn, in dem die preußischen Tugenden zusammengefasst wurden. Der Text war als Üb immer Treu und Redlichkeit 124 Teil der obligatorischen Schulgedichte und weniger unterhaltende und belehrende Lesestücke, Anekdoten etc., sondern dem Schulplane entnommene und darin eingreifende Gegenstände mit behandelt werden.“ (Ebd., V-VI, S. 150 f.). Statt der „alten Anekdoten von Heinrich IV., Friedrich II., Napoleon […]“ sollen Realia in Texten behandelt werden, darunter Themen wie „Eisenbahnen, Bahnhof, Telegramm, Leuchtgas […]“. Hier zeigen sich bereits realienkundliche Überlegungen avant la lettre , die vor allem auf technische Inhalte gerichtet sind. (Ebd., VI, S. 151.). 118 Ebd., S. 261. 119 Ebd., Vorbemerkungen, III, S. 263 120 Ebd. 121 Ebd., S. 306. Der Originaltitel wird zwar in der Fußnote angegeben, jedoch ist es verwunderlich, dass im Vers 3 im Originaltext „Sous le ciel de la belle France“, im Vers 7 wie im Titel auch „la Normandie“ durch „la Germanie“ substituiert wurde. 122 Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit S. 184-187. 123 Die bekannte Melodie wurde täglich durch das Glockenspiel der ehemaligen Hof- und Garnisonskirche zu Potsdam, in der Friedrich der Große ursprünglich begraben lag, dargeboten. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz plant gegenwärtig einen Wiederaufbau des Turms der Garnisionsskirche. Vgl. dazu Reinhard a PPel / Andreas k litschke (Hrsg.), Der Wiederaufbau der Potsdamer Garnisionskirche . Köln: Lingen 2006. - Die Melodie stammt aus der Papageno-Arie Ein Männchen und ein Weibchen von Wolfgang Amadeus Mozart und war so populär, dass verschiedene Texte im Kontrafakturverfahren gesungen wurden. Das hat sicherlich zur Verbreitung und Popularität von Le Petit Pierre beigetragen. 124 Vgl. die Melodie als Motiv in der Schluss-Szene des Films Der blaue Engel . <?page no="183"?> 184 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung -lieder. In den preußischen Lesebüchern, wie bei Wetzels für die Volksschule bestimmtem Berliner Schul-Lesebuch , 125 das zehn Jahre vor Lehmanns Lehr- und Lesebuch der Französischen Sprache erschien, wurden die obligatorischen Schullieder mit Asterisk extra hervorgehoben: Die mit * versehenen Stücke sind Texte von Schulliedern, welche nach der Verfügung des Königlichen Schul-Colegii der Provinz Brandenburg vom 20. Juni 1851 in den Schulen gesungen werden sollen. Die anderen Gedichte sind mit † bezeichnet. 126 Abb. 13: 41. Ma Germanie . In: Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868, S. 306. 125 Fritz w etzel (Hrsg.), Schul-Lesebuch . Berlin: Adolph Stubenrauch 1856. - Das Lied erscheint mit Noten unter Höltys Titel bei Friedrich W. s ering , Lieder für die Unter- und Mittelklassen höherer Töchterschulen. Lahr: Schanenburg, 1885, S. 29. 126 Wetzel (1856), S. III. <?page no="184"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 185 Abb. 14: 18. Le Petit Pierre . In: Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868, S. 287. <?page no="185"?> 186 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung wurde dieses Lied in Französischlehrwerken mit anderen Liedern bzw. Texten und dem Frühlingsbild assoziiert. 127 Lehmann verwendet zum Liedeinsatz die dreibändige Liedersammlung von Laurent Delcasso und Pierre Gross. 128 Dabei hat er Auszüge des Avant-propos der Liedersammlung übernommen und, wie auch die Lieder selbst, teilweise adaptiert: Note. L’Allemagne possède, pour les écoles primaires, toute une littérature lyrique du plus grand prix. Des mélodies à la fois simples et riches y sont associées à des paroles tour à tour graves ou légères, gaies ou mélancoliques, mais toujours morales. 129 Les petits poëmes adaptés à la musique naïve et suave ont un charme de sentiment et une élévation de pensée qu’on ne rencontre pas d’ordinaire dans les chansonnettes françaises. 127 Vgl. S. 183, Fußnote 123 zur Kontrafaktur von Üb immer Treu und Redlichkeit in der vorliegenden Arbeit. 128 Laurent d elcasso / Pierre G ross , Recueil de morceaux de chant à une, deux ou trois voix à l’usage des écoles normales et des écoles primaires . Strasbourg: Derivaux 1856, deuxième partie 1859, troisième partie 1869. Lehmann adaptiert Delcassos Vorwort Prospectus des Recueil de morceaux de chant und übernimmt davon einen Teil in seiner Note zu den Morceaux de chant : „M. Delcasso, recteur de l’académie de Strasbourg, et M. g ross , maîtreadjoint à l’école normale, ont essayé de naturaliser en France ces chants populaires de l’Allemagne. Celui-ci s’est chargé de la partie musicale, où il n’a changé qu’une note par ci par là, celui-là a reproduit les petits poëmes. Ce n’est pas une traduction, c’est une imitation, souvent même assez éloignée.“ (Lehmann 1868, S. 307.). Dabei ergänzt Lehmann den Kontext der Kontrafaktur der bekannten Melodie eines deutschsprachigen Volkslieds und den Transfer auf eine französische Version: „M. Delcasso a emprunté aux textes originaux l’idée primaire, la couleur générale, mais non les détails, et encore moins l’expression, qui, cela va sans dire, devait, avant tout, être française. En voici quelques-unes de ces chansons empruntées à notre langue.“ (Ebd., S. 307.). Wie im Rahmen der zweiten Stufe dargestellt, entscheidet der Lehrer, ob die Lieder als Gedichte oder als Lied gelernt werden. Wie in jeder Lektion wird auch hier, obwohl fakultativ, auf Hinübersetzungen zur sprachlichen Festigung und zum Transfer verwiesen. (Reinfried 1992, S. 95.). Siehe außerdem den Hinweis von Lehmann (1868), S. 307: „Dans les écoles où l’on ne pourra ou l’on ne voudra pas faire chanter en français, on fera de ces chansons le même usage que des petites poésies qui les précèdent: on les fera, tour à tour, apprendre par cœur et réciter, traduire en prose ou en allemand, en faire des sujets de conversation ou de composition.“ 129 Da in diesem deutschen Französischlehrbuch keine religiösen Lieder aufgenommen wurden, die bei Delcasso jedoch ein Sechstel des ersten Buchs einnehmen (mit 10 von insgesamt 60 Liedern), verzichtet Lehmann auf den Zusatz „et religieuses“. <?page no="186"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 187 Dans toute l’Allemagne, 130 on entend souvent, dans les villes et dans les campagnes, la jeunesse répéter en chœur, avec un accord remarquable ce couplets qui, sous une forme familière, prêchent l’amour du travail et des vertus privées, le goût des plaisirs champêtres, le dévouement à la patrie, la beauté de la nature, la grandeur et les bienfaits de Dieu. 131 Von den 22 in Partitur unter der Rubrik Morceaux de Chant abgedruckten Volks- und Kinderliedern wurden bei Lehmann 13 Lieder im Rahmen der 2. Stufe im Abschnitt zur Anschauung im Bilde bei der Besprechung der Jahreszeitenbilder verwendet. 132 Im Folgenden soll am Frühlingsbild das Zusammenspiel der verschiedenen Textsorten mit dem Liedeinsatz exemplarisch aufgezeigt werden (Abb. 15, 16, 17). 130 Im französischen Original schreibt Delcasso (1859), S. 1: „Sur les deux rives du Rhin, on entend souvent […] la jeunesse des écoles répéter en chœur […].“ In der französischen Ausgabe wird die Rolle des Gesangs der Jugend (im Kontext der Schule! ) auf beiden Seiten des Rheins, also sowohl für Frankreich als auch für Deutschland hervorgehoben. Diese Ergänzung „la jeunesse des écoles“ fehlt bei Lehmann, der die nature mélomane als Wesenszug besonders Deutschland zuschreibt als Land der Musik. Dieser Kulturvergleich verweist schon auf die Folientheorie im Rahmen der Kulturkunde. Ein weiterer (umgekehrt proportionaler) Bezug zum Transfer des französischen Volkslieds Ma Normandie auf Ma Germanie wird deutlich. In diesem Sinne wird das 1824 geschriebene melancholische, pazifistische Reiters Morgenlied des romantischen schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff umgedeutet auf einen martialisch-kämpferischen Chant martial du guerrier mit der Bezeichnung Mouvement de marche , wobei durch die Kontrafaktur an der Melodie von Friedrich Silcher festgehalten wird. Es ändert sich nur die Interpretation. - Vgl. die erste Strophe bei Hauff und die Übertragung bei Delcasso (meine Hervorhebungen in Fettdruck unterstreichen die gegensätzlichen Konzepte): Lehmann (1868), S. 309, kommentiert diesen Kulturvergleich in einer Fußnote: „Krieger’s Morgenlied von Wilhelm Hauff; mais où est ici la douce mélodie et le sinistre pressentiment du poëte allemand qui rend ce morceau si touchant ? Le Français n’y comprendrait rien, surtout à la veille d’une bataille, c’est pourquoi M. Delcasso, en vrai Français, a dû changer le mélancolique dévouement de notre brave Allemand en un chant de gloire d’un soldat français: Au lieu du cordial (gemüthlich) et mélancolique [sic] Souabe Hauff , il nous donne le fougueux Prussien Koerner.“ 131 Ebd., S. 307. 132 Die Lieder 50 Une matinée de printemps und 51 Chant d’été beziehen sich auf die entsprechenden Jahreszeitenbilder. Die abgedruckte Melodie ist aber die vom Weihnachtslied Ihr Kinderlein kommet , das 1854 vom katholischen Pfarrer und Schriftsteller Christoph von Schmid komponiert wurde. Ein Lied stammt nicht aus dem deutschen Kulturkreis, es handelt sich um Nr. 54 Au Roi und ist eine Kontrafakturversion auf die Melodie von God save the king. <?page no="187"?> 188 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 15: Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868, S. 309. <?page no="188"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 189 Abb. 16: Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868, S. 97. <?page no="189"?> 190 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 17: Ignaz l ehmann , Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache. Nach der Anschauungs-Methode und nach einem ganz neuen Plane, mit Bildern, unter Benützung der neuesten und besten französischen und deutschen Jugendschriften bearbeitet. Mannheim: J. Bensheimer 1868, S. 102. <?page no="190"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 191 Auch das zweite Frühlingsbild (Abb. 15) wird bei Lehmann nach den 6 unterrichtsmethodischen „Winken“ 133 bearbeitet. Der Lehrer benennt dabei alle Gegenstände, Tiere und Tätigkeiten. Die Personen, Tiere, Objekte und Gegenstände sind mit Kennziffern bezeichnet, um im späteren Gespräch darauf einzugehen und nicht den Umweg über die Muttersprache zu nehmen. Als Bildgattung handelt es sich hierbei um einen Vorläufer der Abbildungen in den Bildwörterbüchern und des Bilder-Dudens, der später auch als Duden français herausgegeben wurde. 134 Dadurch wird eine direkte Kommunikation in der Fremdsprache ermöglicht. Die (fremdsprachigen) Erklärungen enthalten Fußnoten mit Paraphrasierungen auf französisch und teilweise auf deutsch, wenn es nicht aus dem Kontext erschließbar ist. Darauf folgen Fragen, die gelesen, dann mündlich und schriftlich beantwortet werden. 135 Die Vermittlung des neuen Vokabulars erfolgt induktiv im Lehrer-Schüler- Gespräch nach den Grundsätzen Vom Nahen zum Fernen , Vom Eigenen zum Fremden 136 , Vom bekannten Vokabular zu neuen Formen . Bei der Beschreibung des Bienenstocks 137 wird beiläufig, gewissermaßen als inzidentelles Lernen, 138 133 Vgl. S. 181 in der vorliegenden Arbeit. 134 Eine Art Vorgänger des Bildwörterbuchs ist der Orbis Sensualium Pictus von Comenius, dessen lateinisch-deutsches Lehrbuch die mnemotechnische Wirkung der Abbildung beim Spracherwerb durch die Verbindung zwischen Bild, Text und Bezifferung ermöglicht. Auguste Pinloche erstellt 1923 das Bildmaterial in seinem Vocabulaire par l’image de la langue française mit einem eigenen Index. Es erfolgt eine Erweiterung mit einem weitgehend abstrakten Vokabular. Das Bildwörterbuch der Reihe „Der Große Duden“ erscheint seit 1935, die fremsprachlichen Ausgaben zunächst in Englisch, Französisch, Italienisch sowie Spanisch mit fremdsprachigem Text. Die Bildtafeln enthalten deutsche und fremdsprachige Register. (Vgl. dazu Werner s cholze -s tuBenrecht , 108. Das Bildwörterbuch. In: Gerold u ngeheuer / Herbert Ernst w iegand , Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft , Bd. 5: Wörterbücher. Berlin, New York: de Gruyter 1990, S. 1103-1112. 135 Vgl. S. 183 in der vorliegenden Arbeit. 136 Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. 137 Im Abschnitt I. verweist die Kennziffer 2 auf „Quatre ruches (f.) en deux étages; on y voit les ouvertures (f.) ou [sic] il y a une foule d’abeilles (f.).“ Vgl. Lehmann (1868), S. 94 und in der vorliegenden Arbeit Abb. 15, S. 188. Lehmann (1868), S. 307. 138 Vgl. dazu S. 146, Fußnote 489 in der vorliegenden Arbeit. So wird beispielsweise das Relativpronomen dont im Lehrer-Schülergespräch über l’abeille imitativ erlernt. Lehmann ist hier précurseur der konsequenten Reformer wie Eugen Hano, da er die intuitive Beherrschung grammatischer Strukturen für die Schüler hervorhebt: „Il n’est pas nécessaire […] de leur enseigner les principes grammaticaux de la langue; il suffit qu’ils puissent exprimer en bon français les idées que leur inspire la vue des différents objets, représentés par le tableau. La connaissance d’un grand nombre d’expressions et de mots français leur facilitera plus tard l’étude des règles grammaticales de la langue.“ Vgl. Eugen h ano , Anleitung zur Erlernung der französischen Umgangssprache auf Grund der Anschauung. Eine Ergänzung zu jedem Lehrbuche der französischen Sprache. Frankfurt a. M.: Carl Jügel 1892, S. III. <?page no="191"?> 192 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung ohne bewusstes Einprägen das Lied Abeille 139 vorgestellt , das den Schülern in deutscher Fassung als Kinderlied Summ, summ, summ bekannt ist. Lehmann gibt hierbei keinen Verweis auf das deutsche Lied. Es erfolgt kein direkter Übersetzungshinweis. Die Onomatopöien Bour, bour, bour und die Beziehung zu Abeille lassen jedoch sofort eine Assoziation 140 zum deutschen, vertrauten, weil bekannten Lied zu. Diese wird durch die Melodie, die unter Stufe IV Morceaux de Chant abgedruckt ist, 141 noch verstärkt. Die internalisierte Melodie des Kinderlieds erleichtert es den Kindern, das Lied im Chor zu singen. Das Chorsingen ersetzt hier das Chorsprechen. Es folgen detaillierte enzyklopädische Informationen 142 zu Abeille, die sowohl auf die Tradition der Enzyklopädisten verweisen als auch an die Philanthropen erinnern, wie beispielsweise die realienkundlichen Lehrbücher von Rochow oder Hauchecornes utilitaristische Verwendung von Realien in seinen Lectures pour la jeunesse . 143 Im Laufe der Beschreibung und Besprechung von Le coq wird eine Verknüpfung mit dem Gesang kreiert und dadurch die Überleitung zum Kinderlied geschaffen: Le coq chante la nuit comme le jour, aussi le regardait-on dans l’antiquité comme le symbole de la vigilance, et il est dans les campagnes encore aujourd’hui l’horloge du matin. Certainement vous entendrez avec plaisir une chansonnette sur un de ces animaux fiers, qui a failli devenir la proie du rusé renard.“ 144 Warum wurde im Kinderlied aber die Gans durch den Fuchs ersetzt? Alle Schüler kennen dieses Volkslied. Es könnte am inoffiziellen National-Symbol des Hahns für Frankreich (coq < lat. GALLUS) liegen. Wahrscheinlicher ist jedoch wohl die Erklärung, dass keine Gans auf dem Bild vorhanden ist. Mit der Übernahme des Kontrafakturverfahrens von deutschen Volksliedmelodien mit französischem Text nach Delcasso / Gross und deren Anwendung 139 Vgl. Abb. 17, S. 190 in der vorliegenden Arbeit. 140 Die Assoziationstheorie wurde von Felix Franke übernommen: „Die Rezeption der Assoziationspsychologie Herbarts und der Sprachpsychologie Steinthals durch Hermann Paul, der 1880 die einzige methodologische Monographie der Junggrammatiker publiziert hat, wurde ihrerseits wieder durch Theoretiker der direkten Methode rezipiert.“ (Reinfried 2007b, S. 265.). Franke gilt als Haupttheoretiker der Anschauungsmethode und damit auch als Kopf der direkten Methode. Er starb sehr früh und hinterließ als einziges Werk das schmale Bändchen Die praktische Spracherlernung auf Grund der Physiologie der Sprache dargestellt . 141 Vgl. Lehmann (1868), S. 186. - Lehmann empfiehlt dem Lehrer in seinen Winken zur Beschreibung der Methode die Verwendung der Noten aus der IV. Stufe. Ebd., S. 57. 142 Vgl. Lehmann (1868), S. 97, und Abb. 16, S. 189 in der vorliegenden Arbeit. 143 Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit S. 102-111. 144 Vgl. Lehmann (1868), S. 102 und Abb. 17, S. 190 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="192"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 193 bei der Bildbesprechung steht Lehmann am Anfang einer Strömung, die im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung eine wichtige Rolle im Methodenstreit 145 einnehmen wird. 145 Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit III. Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz. In der Préface zum 3. Teil ihres Recueil stellen Delcasso und Gross schon 1869 interessante Überlegungen zum Einsatz des Gesangs im Unterricht an, die Parallelen zu den Debatten im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung verweisen. Der Gesang wird mit einer lebenden Fremdsprache verglichen, wohingegen die (theoretische) Musiklehre - le solfège - mit einer toten Sprache wie dem Latein und der klassisch-deduktiven Vermittlung der Grammatik-Übersetzungs-Methode gleichgesetzt wird (meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck): „Le chant est une langue vivante. Les procédés pour l’étude du chant doivent être ceux que l’on suit pour les langues vivantes. Quels sont ces procédés et comment s’appliquent-ils au chant? Le solfège enseigne le chant comme une langue morte.“ Wie es die Vertreter der natürlichen Methode fordern, die Zweitsprache wie die Muttersprache zu erwerben, soll der Gesang als Äquivalent einer modernen Fremdsprache (A) genauso vermittelt werden (B), und zwar durch eine Imitation des Lehrers als Vorbild: „Nous maintenons donc notre principe: pour enseigner le chant comme langue vivante, il faut que le maître chante et que l’élève l’imite, qu’il fasse comme lui pour apprendre à chanter (C).“ Delcasso / Gross erklären dies mit einem Vergleich: „M. X., courrier de cabinet, homme déjà d’un certain âge, possède une belle voix de ténor, qu’il manie avec autant de goût que de justesse. Sa mémoire est excellente, il sait tous les airs remarquables des opéras […]. Un jour, après avoir complimenté cet artiste-amateur, nous lui avons demandé par quelle méthode il avait cultivé son talent musical, par les notes ou par les chiffres? M. X. nous a répondu naïvement qu’il ne connaissait pas toutes ces choses savantes, „je chante“, ditil, „comme j’ai entendu chanter au théâtre, aux concerts et dans d’autres occasions, je ne connais ni note ni chiffre. Ainsi, M. X. a appris le chant comme on apprend une langue vivante; au contact des artistes il a acquis l’expression pathétique de l’âme; la légèreté et l’esprit avec lesquels se dit le couplet jovial, comme la grâce sentimentale qui fait le charme d’une romance.“ (Delcasso / Gross 1869, S. VIII.). Beide Herausgeber warnen aber vor einer Verwechslung zwischen überlegtem Nachahmen und unreflektiertem, monotonem Papageieneffekt: „L’oiseau ne reproduit que des sons; ce qu’il y a de tendre ou de pathétique dans la phrase musicale ne va pas à son intelligence; aussi la répétition, si elle est exacte, elle reste toujours monotone. En est-il la même quand vous chantez devant un élève? Évidemment non: votre imitateur comprend ce qu’il chante; le texte éveille dans son esprit ou dans son cœur des sentiments qu’il traduit par les accents de sa voix.“ (Delcasso / Gross 1869, VIII f.). Die Musiklehre vermittelt den Gesang wie eine tote Sprache (D): „exercices abstraites de vocalisation ou de solmisation, basés sur les règles grammaticales de la notation. Or la notation, chiffres ou notes, est au chant ce que le langage écrit est au langage parlé.“ (Ebd., S. IX.). Un idiôme [sic] parlé, comme nous l’avons vu, s’apprend par l’audition et l’imitation des personnes qui parlent, et l’on acquiert l’usage d’une langue dans toute sa perfection, avec toutes ses richesses de ses tournures et toutes les finesses de ses locutions, sans le secours de la lecture et de l’écriture, pourvu que les personnes de l’entourage parlent avec pureté et distinction. Vient ensuite l’étude du langage écrit, […], en un mot toutes les règles de l’orthographe et de la grammaire. Cette étude, complément de la première, est nécessaire pour transmettre au loin le langage parlé par la correspondance littéraire et pour acquérir dans les livres, les connaissances que l’on n’a pas trouvées dans le milieu où l’on a vécu. Ainsi, <?page no="193"?> 194 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Bereits ein Jahrhundert vor Ignaz Lehmann setzte der französische „reformatorisch angehauchte“ 146 Sprachmeister und „strebsame Lektor“ an der Universität Gießen François Thomas Chastel aus dem Deutschen ins Französische übersetzte Lieder nach dem Kontrafaktur-Verfahren unter Verwendung bekannter Melodien ein: Auf alle Arten suchte er in seinen Schülern Liebe für das Erlernen seiner Muttersprache zu erwecken und zu erhalten, ihnen, vor allem den Anfängern, Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen.[…]. - Sicher auch zur Belebung des Unterrichts - es ist eben alles schon einmal dagewesen - begann er 1785, deutsche Gedichte und eine größere Anzahl Lieder ins Französische zu übertragen, so das „Rheinweinlied“ („Bekränzt mit Laub“) von M. Claudius und den Rundgesang des Grafen von Stollberg („Fröhlich tönt der Becherklang“). Da er „dasselbe Sylbenmaß beybehielt, welches die deutschen Originale haben, können diese Lieder französisch nach ebender Melodie gesungen werden, wie in der deutschen Sprache“. Auf dieselbe Art übersetzte er die „beliebten Kaplieder von Schubart“ („Auf, auf! Ihr Brüder! “ - „Auf, auf! Kameraden! “) und gab sie 1789 mit Noten für Klavier heraus. Ganz folgerichtig führten ihn diese Bestrebungen auch dazu, 1788 eine auserlesene Sammlung französischer Originallieder zu veröffentlichen. 147 Wie schon Alwin Lehmann 1904 feststellte, sind „aber alle diese Bücher Chastels nicht mehr vorhanden“ 148 und konnten auch nach meinen Recherchen nicht gefunden werden. II. 2. 2. 3 Hubert Wingerath Hubert Wingerath steht in der Nachfolge Lehmanns mit den Lectures enfantines d’après la méthode intuitive . 149 Der Direktor der Straßburger Oberrealschule St. Johann führt Gedichte von Rambert, Le Bailly und zeitgenössischen neueren Jugendschriftstellern auf. Wingerath integriert wie Lehmann in der Tradition der Straßburger Delcasso und Gross ins Französische übertragene, original deutsche Kinderlieder in seinem auf Stufentheorie und intuitiver Methode dans une langue vivante, le langage parlé s’acquiert d’abord très rapidement; le langage écrit ne vient qu’en seconde ligne.“ (Ebd., S. IX.). 146 Die Bezeichnung stammt vom Oberlehrer Alwin Lehmann, der auf den Bezug zwischen Reformation, Musik und reformatorischer Arbeitsmoral anspielt. (Alwin l ehmann , Der neusprachliche Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere seine Methode im Lichte der Neuzeit. In: Jahresbericht der Annenschule (Realgymnasium) zu Dresden- Altstadt. Dresden: Teubner 1904, S. 37.). 147 Ebd., S. 37 f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 148 Ebd., S. 38. 149 Hubert H. w ingerath , Lectures enfantines d’après la méthode intuitive. 2. Aufl. Köln: Du Mont-Schauberg 1886. <?page no="194"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 195 aufgebauten Unterricht. Wingerath bezog dabei verschiedene Themenkreise ein, die dem Tagesablauf und dem täglichen Leben der Schüler entsprechen und wie konzentrische Kreise vom persönlichen Lebensumfeld der Kinder ( L’école, la maison, la famille ) zu relativ abstrakten Inhalten ( La division du temps ) führen. Hierbei folgt er einer didaktischen Progression vom Bekannten zum Neuen, dem Prinzip vom Nahen zum Fernen, vom Eigenen zum Fremden. Die Themenkreise umfassen in der Reihenfolge L’école , L’église, La maison, La famille, Les animaux domestiques, Le jardin, Les champs, Les prés et les vignes, La forêt, La ville et le village, La division du temps. Im Themenkreis La famille wird nach dem Induktionstext Les joujoux et les jeux d’enfants der Text von Delcassos Le jeu après le travail angeführt. 150 Im Themenkreis Le jardin, Les champs, Les prés et les vignes wird nach dem gleichnamigen Induktionstext Delcassos Lied Le réveil du laboureur (Abb. 18, S. 196) als Gedicht mit Vokabelhilfen abgedruckt. 151 Beide Lieder sind im ersten Band des Recueil de Morceaux de chant von Delcasso / Gross abgedruckt. 152 Als Untertitel wurde bei beiden Volksliedern vermerkt: Imité de l’allemand par M. Delcasso . Mélodie populaire allemande. Beide deutschsprachige Volkslieder sind aber heute in Vergessenheit geraten. 153 150 Vgl. Wingerath (1886), S. 48. 151 Vgl. ebd., S. 2. 152 Vgl. Delcasso / Gross (1856), S. 2 und 58. 153 Da Delcasso und Gross den Titel des zur Kontrafaktur zugrundeliegenden deutschen Textes nicht angeben, konnte selbst eine umfangreiche Recherche in Archiven nach der Melodie und Textelementen darüber keinen Aufschluss bringen. Mir sind beide bei Delcasso und Gross abgedruckten Melodien unbekannt. <?page no="195"?> 196 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 18: Le réveil du laboureur. In: Hubert H. w ingerath , Lectures enfantines d’après la méthode intuitive. 2. Aufl. Köln: Du Mont-Schauberg 1886, S. 71. <?page no="196"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 197 In seinen auf Lesetexte ausgerichteten Choix de Lectures françaises à l’usage des écoles secondaires 154 bietet Wingerath ein einziges (original französisches) Volkslied an: Bérats Ma Normandie. 155 Im Gegensatz zu Lehmanns Ma Germanie übernimmt Wingerath hier den Originaltitel. 1868 erschien neben Lehmanns Lehrwerk das ebenfalls auf dem Anschauungsprinzip basierte Lehrbuch des Frankfurter Mädchenschullehrers Xavier Ducotterd. 156 Dieser kombiniert Sprech- und Schreibübungen vor Wilke-Bildern mit Übersetzungs- und Grammatikübungen. Ducotterd kritisiert jedoch die alte Grammatik-Übersetzungs-Methode, die das Übersetzen zum Selbstzweck erhoben hatte: Übersetzen, übersetzen und wieder übersetzen, das ist der Kreislauf, in dem man sich unaufhörlich bewegt und wodurch man die Schüler einschläfert. Die Schüler wenigstens von Zeit zu Zeit zu veranlassen, ihre eigenen Gedanken auszudrücken - davon ist 154 Hubert H. w ingerath , Choix de Lectures françaises à l’usage des écoles secondaires. Strasbourg: Du Mont-Schauberg 1893. 155 Ebd., S. 383. Bérats bekanntes Volkslied Ma Normandie wurde in vielen Lehrwerken des Französischen und auch Liedersammlungen als prototypisches Lied verwendet: „Hasberg (Leipzig, Renger), Knaut (Gotha, Perthes), Rennefahrt (Bern, Neukomm), Fischer (Leipzig, Dürr) […] haben es mit Recht in ihre Sammlungen aufgenommen.“ (A. s chenk , „Ma Normandie“. In: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht . 4. Jg. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1905, S. 544-546.) Schenk schreibt dazu in seiner Rezension, dass das 1850 erschienene Lied „in 30000 Exemplaren gedruckt [wurde], eine Zahl, die damals ungeheuer erschien.“ Das Lied wurde „im Nu volkstümlich“ und erfreute sich einer „rasche[n] und grosse[n] Verbreitung.“ Nach Schenks Ansicht „sind aber die Worte von „ Ma Normandie “ der Melodie nicht ebenbürtig; immerhin sind alle drei Strophen nach Form und Inhalt weit über dem Durchschnitt der französischen Chansons.“ (Ebd., S. 545.). Ohne den Autor direkt zu nennen, kritisiert Schenk Hasberg, der als einziger der Herausgeber eine vierte Strophe ergänzt hat: „Nun geben aber einige Herausgeber der oben erwähnten Sammlung dem Liede vier Strophen […].“ (Ebd., S. 35.). Schenk weist detailliert nach, „dass diese [vierte] Strophe weggestrichen werden muss. Jour kommt dreimal im Reim vor; pays dagegen hat kein Reimwort; chanterai à ist ein unstatthafter Hiatus; répétais à chaque jour enthält einen grässlichen Fehler; Rien n’est plus beau que ma Normandie hat eine Silbe zu viel (weshalb Hasberg sich veranlasst gefühlt hat, zu korrigieren: Rien plus beau que …) und endlich, der Sinn dieses ganzen Machwerkes ist nicht zu verstehen.“ (Ebd., S. 546.). Schenk bezeichnet Hasberg, ohne ihn direkt namentlich zu erwähnen, sogar als „Stümper, der die Strophe fabriziert hat, - ursprünglich wohl, um die Schüler durch den ominösen Liebeshauch, der aus der dritten Strophe entgegenweht, nicht zu ‚demoralisieren‘ - scheint ja gerade das Gegenteil von dem auszusprechen, was er hat sagen wollen.“ (Ebd., S. 546.). Der Rezensent weist auch nach einer Recherche in der Bibliothèque nationale und einem Gespräch mit der damaligen Direktorin der Pariser Nationalbibliothek nach, dass in der Originalausgabe der Chansons de Frédéric Bérat das Lied Ma Normandie nur aus den drei zitierten Strophen besteht. 156 Xavier d ucotterd , Die Anschauung auf den Elementarunterricht der französischen Sprache angewendet, nebst „Leseübungen“ als Vorschule. Nach 16 Wilke’schen Anschauungs-Bildern bearbeitet. 3. erw. und verb. Aufl. Wiesbaden: Limbarth 1881 (1. Aufl. 1868). <?page no="197"?> 198 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung nicht die Rede. Und dies nennt man in einer lebenden Sprache unterrichten. Werden unsere Schüler in ihrem späteren praktischen Leben nur zu übersetzen und zu grammatisieren haben? Gewiß werden sie auch sprechen und schreiben sollen. Sprechen und schreiben, das ist es, wohin wir den Schüler zu führen haben. Wer sprechen und schreiben kann, kann auch übersetzen. 157 Deshalb nutzt Ducotterd Wilkes Anschauungsbilder in seinem Unterricht: An ihnen erwerben die achtbis zehnjährigen Schüler den der unmittelbaren Umgebung entnommenen Vokabelschatz, bilden mit diesem Sätze, beantworten Fragen, formen kurze Zusammenfassungen über einen besprochenen Gegenstand und lernen nebenher auch lesen und übersetzen. 158 Ducotterd setzt Lieder erst ab 1902 in Lehrwerken im Rahmen der vermittelnden Methode 159 für die Mittel- und Oberstufe ein. II. 2. 3 Von den Sprechübungen zum Singen Im Jahr 1874 erscheint der Begriff direkte Methode erstmals in einer Jenaer Dissertation von M. Asch, 160 wobei dieser Terminus kaum erklärt oder gründlich definiert wird. Asch unterscheidet „die Sprechmethode, die direkte, natürliche und die Büchermethode, die indirekte, künstliche.“ 161 Für Asch ist die „Büchermethode eine mangelhafte und nur ein Nothbehelf.“ 162 Deshalb unterstützt er den Vorrang des Mündlichen: „Alle Gelehrten sind sich darüber einig und den Laien hat es die Erfahrung gelehrt, dass eine Sprache sich schneller und gründlicher durch Sprechenhören und Selbstsprechen lernen lässt, als durch Mittheilung aus Büchern. […]. Wo daher ein Feld für Sprechübungen geschaffen werden kann, ist der schnellste Fortschritt zu erwarten.“ 163 Für Asch ist eine „wahrhaft gute Methode […] zur Erlernung aller Sprachen gleich anwendbar“ 164 und besteht aus „der harmonischen Verbindung […] zu einer vollständigen, nutzbringenden Methode“ zwischen „zwei von einander streng geschiedene[n] Unterrichtsmethoden […]“; es handelt sich um die „synthetische, vom Einfachen zum Zusammengesetzten gehend, und die analytische, vom Zusammengesetz- 157 Zitiert nach Budde (1908), S. 72 f., und Wendt (1909), S. 74 f. 158 Zitiert nach Budde (1908), S. 73, und Wendt (1909), S. 75. 159 Vgl. dazu S. 420 f. in der vorliegenden Arbeit. 160 Vgl. M. a sch , Fordert der Unterricht in jeder Sprache eine besondere Methode, oder findet darin namentlich bei den neueren Sprachen Gleichheit statt? Diss. Universität Jena 1874. 161 Ebd., S. 11. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 6. 164 Ebd., S. 5. <?page no="198"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 199 ten zum Einfachen schreitend.“ 165 Asch schlägt die Verknüpfung beider Methoden vor, wobei er die Synthese der Analyse voranstellt: 166 Synthese und Analyse müssen Hand in Hand gehen und sich gegenseitig unterstützen; der Prozess ist dreifach: 1. Synthese von Seiten des Lehrers durch Anschauungsmittel. 2. Analyse von demselben durch Zergliedern des in Verbindung gebrachten Stoffes. 3. Reproduction des Gelernten von Seiten des Schülers, ausgeführt an dem vom Lehrer gegebenen Uebungsstoff. 167 Bei Asch „vermischen sich praktische Ideen zu Wortschatz und Thematik mit den Zwängen der lateinischen Grammatik (Deklinationen).“ 168 So werden in der Sprechmethode […] die einzelnen Redetheile praktisch eingeübt und die Regeln der Sprachlehre durch Beispiele und kleine Gespräche erläutert. Die Grammatik wird in Verbindung mit dem neuen Stoff gelernt und der Stoff selbst stets in Formen angewandt, wie sie im täglichen Leben vorkommen. 169 Asch ist einerseits noch der deduktiven Grammatik-Übersetzungs-Methode verpflichtet, zeigt aber durchaus praktikable Vorschläge einer sprechorientierten direkten Methode auf: Der Schüler copirt jede Lection während der Stunde und trägt diese als Häusliche Arbeit in ein Reinheft ein. Regeln für die Aussprache sind ganz unnöthig, denn der Lehrer spricht jedes Einzelne laut vor, dann thun einzelne Schüler dasselbe, dann die ganze Klasse. Ist die Klasse zahlreich, wird sie getheilt, und bei den Wiederholungen der Aussprache bald die eine, bald die andere Hälfte genommen. Um die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse zu prüfen, werden Einzelne ausser der Reihe aufgerufen, die namentlich die schwierigeren Partieen herzusagen haben. 170 Der Autor stellt auch teilweise Elemente einer induktiven Grammatikvermittlung vor: „Man ersieht gleich aus den ersten Lectionen […], wie die Grammatik nicht als ein kahles Skelett erscheint, sondern für jede Regel der Beleg bereits vorhanden ist, und umgekehrt aus den Belegen erst die Grammatik abstrahirt wird.“ 171 165 Ebd., S. 8. 166 Vgl. dazu Friederike k liPPel , Englischlernen im 18. und 19.- Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrrichtsmethoden. Münster: Nodus-Publ. 1994, S. 446. 167 Ebd., S. 8. 168 Ebd., S. 446. 169 Asch (1874), S. 12. 170 Ebd., S. 13. 171 Ebd., S. 14. <?page no="199"?> 200 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Gedanken zur Gesprächsbuch- und Konversationsmethode 172 und der (in der direkten Methode verwendeten) Einsprachigkeit werden dargelegt: Sind erst die gewöhnlichen Ausdrücke bekannt, so kann man den Schülern mit Nutzen ein Gesprächsbuch in die Hand geben, um den erregten Wissensdurst zu befriedigen. Die Gespräche müssen in dem Idiom der fremden Sprache gehalten, einfach, und mit Geschmack geordnet sein. 173 Allerdings ist es keine eindeutig direkte Methode, da häufig der Rückgriff auf den Vergleich mit der Muttersprache und eine systematische Grammatikvermittlung erfolgt: „Damit geht Hand in Hand eine systematische Vermittlung der Grammatik, so dass der Schüler nicht überladen wird, und zwar in rationeller Weise durch Stützen auf und Vergleichen mit der Muttersprache.“ 174 Im Rahmen der Anwendung des Lesebuchs im Unterricht setzt Asch kleine Lesestücke ein, die dem Erfahrungskreis der Schüler entsprechen; sie werden dann „memorirt, hierauf nach dem Gedächtniss aufgeschrieben“. Der Stoff des Gelesenen und Memorirten wird zu kleinen Unterhaltungen benutzt.“ 175 Asch folgt dem Grundsatz vom Eigenen zum Fremden, indem er eine natürliche Progression innerhalb der Konversation nach dem Vorbild des Erstspracherwerbs vorschlägt: In dieser lebendigen Weise, vom Leichten, zum Schweren fortschreitend, wächst mit dem Alter des Kindes das Verständniss für schwierigere Aufgaben und man steht in der That beim Unterricht der fremden Sprachen bald auf derselben Stufe wie in der Muttersprache, deren Methode wir mit Recht als die geistnährende bezeichnen dürfen. 176 Asch fasst seine Konzeption des Fremdsprachenunterrichts am Ende seiner Arbeit zusammen mit dem Motto „Anschauung, Vermittlung des Verständnisses, Reproduction und stufenweises Fortschreiten.“ 177 Zehn Jahre nach Aschs Dissertation erscheint ein bahnbrechender Aufsatz in den Badischen Schulblättern. 178 Der anonyme Autor definiert den Begriffsinhalt sehr ungenau und ex negativo , wobei er diesen in Opposition zur „grammatischen“ oder „indirekten Methode“ 179 setzt. Unter dem vorangestellten Motto „Sprache ist Sprechen“ fordert er eine „hygienische Reform des 172 Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 217, Fußnote 252. 173 Vgl. Asch (1874), S. 14. 174 Ebd., S. 14. 175 Ebd., S. 14 f. 176 Ebd., S. 15. 177 Ebd., S. 17. 178 Anonym, Die Reform des Sprachunterrichts in der Schule auf Grund der direkten Methode. In: Badische Schulblätter 1 , Karlsruhe, 15. 11. 1884, S. 173-190 und 205-213. 179 Ebd., S. 173. <?page no="200"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 201 gesamten Mittelschulwesens, […], Abschaffung der geistigen Ueberbürdung und rationelle Pflege des Körpers ist die Losung. Hier kann nur eine radikale Reform in Frage kommen.“ 180 Es handelt sich um einen schonungslosen état des lieux und eine Kritik an der formalen Bildung sowie der Grammatik-Übersetzungs-Methode. Der Autor propagiert einen Fremdsprachenunterricht „auf dem natürlichen Wege, d. h. durch die Lektüre“ 181 jugendgemäßer Texte und sieht sich in der Tradition „der linguistischen Reformer, der Meidinger, Jacotot, Hamilton, Robertson, bis auf Toussaint-Langenscheidt und Lehmann (Lehr- und Lesebuch der franz. und engl. Sprache nach der Anschauungsmethode mit Bildern).“ 182 Zur Aneignung und Festigung durch die Lektüre tritt als „weiteres Moment […] das dialogische Verfahren oder das gründliche Durchsprechen des Gelesenen“. 183 Dieses dialogische Verfahren unterscheidet sich von der konventionellen Grammatik-Übersetzungs-Methode in der direkten Aneignung der Fremdsprache durch Lesen und Erklärung, in der Beherrschung des Sprachstoffs durch das lebendige Sprechen, wodurch der Lernende befähigt wird, das Gelesene in der Fremdsprache zunächst wörtlich, dann immer freier, mündlich (ohne Buch) zu referieren. Darum heißt diese Methode die direkte, während das Verfahren, den Inhalt eines fremdsprachlichen Textes durch ein Uebersetzen in sogenanntes gutes Deutsch wiederzugeben, ein indirektes ist […]. 184 Schriftliche Übersetzungen und ein systematischer Grammatikunterricht werden abgelehnt und das Sprechen steht im Mittelpunkt: „Das Sprechen ist die Form dieser Methode.“ 185 Das dialogische Verfahren steht in der Tradition der Gesprächsbuchbzw. Konversationsmethode, wobei Georg Stier 186 erwähnt wird. Der Autor stellt sich aber gegen das reine Auswendiglernen und fordert eine zielgerichtete, lebensnahe Konversation: 180 Ebd. - Interessanterweise nimmt Wilhelm Viëtor den Begriff der Überbürdung 1882, also ein Jahr später, in seiner unter Pseudonym veröffentlichten Streitschrift Der Sprachunterricht muß umkehren! Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage wieder auf. Wilhelm v iëtor , unter dem Pseudonym QUOUSQUE TANDEM, Der Sprachunterricht muß umkehren! Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage. 2., um ein Vorwort vermehrte Aufl. Heilbronn: Henninger 1886. (1. Aufl. 1882) . 181 Anonym (1884), S. 175. Aus dieser methodischen Tradition geht die Lesebuchmethode der neusprachlichen Reformbewegung hervor. Erste Formen der Lesebuchmethode existierten bereits ab dem 16. Jahrhundert. Vgl. S. 246, Fußnote 346 in der vorliegenden Arbeit. 182 Ebd., S. 175. - Vgl. zu Ignaz Lehmann S. 179-194 in der vorliegenden Arbeit. 183 Anonym (1884), S. 176. 184 Ebd., S. 176. 185 Ebd., S. 177. 186 Vgl. Georg s tier , Französische Sprechschule. Ein Hülfsbuch zur Einführung in die französische Conversation. Leipzig: Brockhaus 1878. <?page no="201"?> 202 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Bloße Wörter sind Sprachruinen, aus denen niemals frisches Leben erblühen kann. Darum müssen solche Vokabularien gleichsam Konversationsreservoirs werden; sie müssen die Bausteine und das gesamte Baumaterial enthalten zum unmittelbaren Aufbau einer lebendigen Konversation über den betreffenden Gegenstand: dann, und nur dann, haben sie einen Zweck. 187 Bei den „linguistischen Reformern“ wie Jacotot erscheint dem Anonymus „die Konversation wie mit der Scheere aus dem Text geschnitten, also tot, hier ist sie lebendig: dort ist der angehängte Dialog nur eine Seite ihres Lehrverfahrens, hier ist die Durchsprechung des Gelesenen die Hauptform des Lehrverfahrens selbst.“ 188 Zum didaktischen Einsatz der Anschauungsmethode übt der anonyme Autor terminologische und inhaltliche Kritik: Die sogenannte Anschauungsmethode will also das Sprechen auf das Auge basieren, die direkte Methode basiert es auf das Ohr, und es ist jener gegenüber eigentlich die Anhörungsmethode. Sie gründet sich nicht auf wirkliche und bildliche Anschauung, sondern auf die Anschauung der Imagination oder Einbildungskraft, welche bei einer interessanten Erzählung noch mehr in Anspruch genommen wird als bei der anschaulichen Schilderung oder Beschreibung. 189 Für den anonymen Autor der Badischen Schulblätter ist es eine Selbsttäuschung, die unmittelbare gegenständliche oder die bildliche Anschauung zur Grundlage des Sprachunterrichts zu gestalten, Wohl beleben die Bilder den Unterricht; eine Bildgruppe über den Frühling oder den Winter ist gewiß gut geeignet zum Fragen und Antworten; 190 wenn aber dann über Sperlinge, Kohlen, Himmelsystem, christliche Feste u. s. w. gesprochen wird, wo bleibt dann die bildliche oder wirkliche Anschauung? 191 Dabei ist die Konversation und auch das Singen von französischen Liedern durch deutschsprachige Schüler nur eine künstliche Schilderung der Realität: 192 „Und aus jedem Klassenzimmer in Deutschland ein künstliches Stück Frankreich oder England zu machen, das wird der Anschauungsmethode nimmer- 187 Anonym (1884), S. 179. 188 Ebd., S. 207. 189 Ebd., S. 210. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 190 Hier bezieht sich der Autor vermutlicht auf das Hölzelsche Frühlings- und Winterbild. Vgl. auch S. 221 in der vorliegenden Arbeit. 191 Anonym (1884), S. 210. 192 Hier zeigt sich die Modernität des Autors, der auf die Realienkunde avant la lettre verweist. <?page no="202"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 203 mehr gelingen, auch wenn vor jeder Lehrstunde ein französisches oder englisches Lied gesungen wird! “ 193 Allerdings wird hier die Vermeidung der Muttersprache als Unterrichtssprache noch nicht als ein durchgängiges Prinzip dargestellt, denn der Autor empfiehlt das wörtliche Übersetzen als Semantisierungstechnik. 194 Damit befinden sich die methodischen Vorschläge „noch auf halbem Wege zwischen Hamilton-Jacotots wörtlicher Übersetzungsmethode und einer zum Ideal erhobenen konsequenten Einsprachigkeit, die in den neunziger Jahren zum Erkenntniszeichen der ‚radikalen‘ Reformer wurde.“ 195 Der anonyme Autor der Badischen Blätter nimmt u. a. auch Bezug auf die Gesprächsbuchmethode 196 des Direktors der Dresdener Handelslehranstalt Carl Munde, der erkannte, dass „das baldige Sprechen der Sprache“ 197 eine Lücke ausfüllt im Vergleich zu den zahlreichen zeitgenössischen Lehrbüchern. Für Munde ist „Die Methode, welche ich eingeschlagen, die einfache und natürliche des Menschen, der sprechen lernt. Die nöthigsten Wörter zu Sätzen gebildet, und sofort zu Sprechübungen verwendet, bilden den Hauptzug derselben.“ 198 Dabei sollen die Sprechübungen „gleich bei den ersten Lectionen anfangen, und der Schüler soll sofort alle Wörter und Redensarten auswendig lernen und schriftlich, besonders aber mündlich einüben, bis sie ihm vollkommen geläufig geworden sind.“ 199 193 Anonym (1884), S. 210. 194 Ebd., S. 184-190. 195 Reinfried (2007b), S. 263. 196 Die Methode, eine Fremdsprache durch das Auswendiglernen von Mustergesprächen zu lernen, ist sehr alt. Konrad Macht führt unter anderem die Colloquia des Erasmus auf. Jost Doblers Werk Der New Barlamont, oder gemeine Gespräche zu Teutsch und Frantzösisch beschriben , Köln, 1588 gilt als erste in Deutschland erschienene umfangreiche Gesprächssammlung, gefolgt von Gabriel Meuriers La guirlande des jeunes filles . Macht schreibt dazu: „Im 17. und 18. Jahrhundert war es im Sinne der sogenannten Realbildung unumstrittenes Ziel des Lernens neuerer Fremdsprachen, so bald wie möglich die Sprachen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich gebrauchen zu können. Die Versuchung lag nahe, die mühsamen grammatischen Studien dabei stark einzuschränken oder gar wegzulassen, um auf dem Weg des Auswendiglernens von Mustergesprächen bald den Anschein der Fremdsprachenbeherrschung erwecken zu können.“ Konrad m acht , Methodengeschichte des Englischunterrichts. Bd. 1: 1800-1880 . (Augsburger I- & I-Schriften, Bd. 35). Augsburg: Universität Augsburg 1986, S. 279 f. 197 Vgl. Carl m unde , Erster Unterricht im Französisch-Sprechen. Eine praktische Anleitung zur schnellen Erlernung dieser Sprache, für Lehr-Anstalten, Touristen, Militärs, Handlungsbeflissene und alle Solche welche das Bedürfniß fühlen schnell französisch sprechen zu lernen. Leipzig: Arnoldsche Buchhandlung 1874. 198 Ebd., Vorwort, S. III. 199 Ebd., S. III f. <?page no="203"?> 204 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Die im Lehrbuch abgedruckten Fragen, „welche mehrmals wiederholt werden, und die der gewandte Lehrer noch vermehren kann“, dienen am besten „zur Einübung der Wörter, gewöhnen das Ohr an die fremden Laute, und zwingen den Schüler zur augenblicklichen Bildung von Sätzen, ohne daß er es nöthig hat erst deutsch zu denken und eine stolpernde Übersetzung zu liefern.“ 200 Es soll eine möglichst realistische Gesprächssituation geschaffen werden: Hauptsache ist, daß anfangs Fragen und Antworten möglichst kurz seien, dagegen aber auch dem Schüler nicht gestattet werde, sich es mit einem bloßen Oui oder Non allzu bequem zu machen. Wenn also der Lehrer oder die Lehrerin fragt: Avez-vous de l’eau? Soll der Schüler antworten: Non monsieur, je n’ai pas d’eau; oder Oui Madame, j’ai de l’eau. 201 Im Anschluss daran sollen die Schüler eigenverantwortlich in Partnerarbeit die Dialoge fortsetzen: „Sehr zweckmäßig ist es, die Schüler unter einander sich fragen zu lassen; es kommt dadurch Leben in den Unterricht, das der Lehrer auf andere Weise nicht zu schaffen vermag.“ 202 Mundes Sprechmethode war offensichtlich außerordentlich erfolgreich. Das beweist die Rezension des anonymen Autors in den Badischen Blättern: Das Beste, was bisher geschrieben worden ist, um moderne Sprachen sprechen zu lehren (und zwar für Französisch, Englisch und Italienisch) sind Dr. Karl Munde’s Erster Unterricht im Französischen, E. U. im Englischen und E. U. im Italienischen. 203 1878 erschien ein auf Sprechübungen gegründetes Lehrbuch des Bremer Oberrealschullehrers C. Bohm 204 , das gedruckte Fragen und Antworten zur Besprechung der Wilke-Bilder enthielt. Bohm begründet den Einsatz von Sprechübungen im neusprachlichen Unterricht folgendermaßen: Soll der Begriff eines Wortes aus der Anschauung, oder der Umschreibung, Erklärung u. s. w. doch möglichst anschaulich entstehen, so schließt diese Behandlungsweise selbstverständlich das Mittel der Uebersetzung aus. […] Das Uebersetzen, wie 200 Ebd., S. IV. 201 Ebd., S. IV. Die Orthographie von monsieur und Madame folgt dem Originaltext. 202 Ebd., S. IV. 203 Anonym (1884), S. 208. Die erste Ausgabe war allerdings Mundes Erster Unterricht im Englischen. Dieses Lehrbuch wurde zum Bestseller. Die 20. Auflage erreichte 10.000 Exemplare. 204 C. B ohm , Französische Sprachschule. Auf Grundlage der Aussprache und Grammatik nach dem Prinzip der Anschauung mit Benutzung von „Wilke’s Bildertafeln“ . 1. Heft. (zu Tafel 1 bis 4). Braunschweig: Friedrich Wreden 1878. - Die Anschauungsmethode wurde zunächst von „relativ wenigen experimentierfreudigen Real- und Oberschullehrern getragen.“ (Reinfried 1992, S. 89.). <?page no="204"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 205 es nach der herrschenden [Grammatik-Übersetzungs-Methode, A. R.] Methode nothgedrungen besonders im Anfangsunterricht gehandhabt werden muß, ist wesentlich eine Tätigkeit des Auges; die durch die Anschauung unmittelbare Vermittlung der Begriffe geschieht aber wesentlich durch das Ohr: eine nothwendige Folge der Einführung des Prinzips der Anschauung in den fremdsprachlichen Unterricht sind demnach Sprechübungen, und zwar nicht als Anhängsel, sondern als zur methodischen Entwicklung des Lehrganges gehörig. 205 Georg Stier veröffentlichte im selben Jahr seine Französische Sprechschule , 206 die dem Lehrer ein Mittel an die Hand geben [soll], den Schüler auf eine rationelle Weise in die Conversation einzuführen und ihn mit dem nöthigsten Sprachstoff allmählig so vertraut zu machen, daß er sich in den verschiedenen Lagen des Lebens leicht und richtig ausdrücken kann. 207 Im Nachwort stellt Stier dar, wie seine Französische Sprechschule zu gebrauchen ist: „der Schüler lernt am schnellsten und sichersten französisch, wenn er das praktische Leben nachahmt.“ 208 Das kann durch einen Frankreichaufenthalt ermöglicht werden oder durch die Nachahmung des praktischen Lebens. Dabei ist nach Stier dreierlei zu unterscheiden: I. der Sprachstoff an und für sich II. die Anordnung des Sprachstoffs III. die Einübung des Sprachstoffs. 209 Zu Punkt I. stellt Stier richtig fest, dass „man dem Schüler niemals den ganzen Sprachstoff für’s Leben bieten kann, denn da müßte man ein Lexikon schrei- 205 Ebd., S. XII f. 206 Benno Röttgers empfiehlt in seinem Abschnitt zur Anschauungsmethode vor allem „Stier, dessen 1878 erschienene französische Sprechschule (Leipzig, Brockhaus) auch für Lehrer sehr zu empfehlen ist.“ (Benno r öttgers , Methodik des französischen und englischen Unterrichts in höheren Lehranstalten jeder Art ( Methodik des elementaren und höheren Schulunterrichts. Für den Gebrauch in Seminaren und Oberlyzeen, Bd. 3). Hannover / Berlin: Carl Meyer (Gustav Prior) 1913, S. 6.) 207 Vgl. Stier (1878), Vorwort, S. IV. Stier sammelte den Stoff für seine Sprechschule während seines dreijährigen Paris-Aufenthalts von 1868 bis 1870. Er unterrichtete nach dem Plan der Sprechschule Deutsch als Fremdsprache in Paris „mit günstigem Erfolge“, kehrte dann aber wegen des Kriegs 1870 nach Deutschland zurück und „wandte […] diese Methode auch auf die französische Sprache an und wiederum zur größten Zufriedenheit“ seiner Schüler. Stier betont, „daß es bisher kein wirklich praktisches Hülfsbuch [zur Konversation, A. R.] gibt“ und glaubt, „die Veröffentlichung der ,Sprechschule‘ als gerechtfertigt ansehen zu dürfen.“ (Ebd., Nachwort, S. 314.). 208 Ebd., Nachwort, S. 315. Im Original steht das Zitat in Fettdruck. 209 Ebd., S. 315. <?page no="205"?> 206 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung ben.“ 210 Seine Sprechschule soll eine Auswahl treffen und „den Schüler in die Conversation einführen.“ 211 Fritz Tendering 212 lobt Stier, da Ein Konversationsvokabular durchzuarbeiten […] im allgemeinen nicht nur eine mühevolle, sondern auch eine recht undankbare Aufgabe [ist]. Während nun die meisten derartigen Bücher eine unendliche Masse von Vokabeln bieten, welche im gewöhnlichen Verkehr kaum je vorkommen, […] stellt sich das vorliegende Buch eine enger umgrenzte Aufgabe, und was dabei extensiv verloren geht, wird intensiv ersetzt, indem die behandelten Gegenstände, welche […] dem wirklichen Leben angehören, sehr eingehend durchgearbeitet werden.“ 213 Stier betont also das praktische, anwendungsbereite Wissen und nicht das enzyklopädisch-detaillierte Realienwissen, wie es bei den Philanthropen und bei Hauchecorne oder Lehmann vermittelt wurde. Im Punkt II. unterstreicht Stier die Anordnung und dadurch Strukturierung des Lernstoffs. Stier vergleicht die Methode mit dem Hausbau: Wie beim Bau eines Hauses der einzelne Theil fertig zu stellen ist, ehe zum nächsten übergegangen wird, so auch beim Unterricht. Es ist wesentliche Bedingung, daß man mit dem Anfänger die Hauptvokabeln und Wendungen, die sich um einen Mittelpunkt gruppiren, durchnimmt, ehe man zu einem andern Kapitel weiterschreitet. 214 Im Punkt III. stellt Stier Vorschläge zur Einübung des Sprachstoffs vor, wobei wieder auf das praktische Leben und den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken verwiesen wird: „Das praktische Leben führt den Schüler sofort mitten in die Sprache hinein. Der Schüler in Frankreich hört nur französisch, spricht nur französisch und denkt nur französisch. Endresultat: er kann sich fließend und correct ausdrücken.“ 215 Das wirkliche Leben kann ein Schüler aber nur nachahmen, wenn er französisch denken lernt, das heißt für Stier, der Schüler muß sich dessen, was er aussagt, in demselben Moment, wo er es ausspricht, bewußt werden, ohne daß er es übersetzt. - So lange er noch übersetzt, so lange denkt er nicht französisch, und so lange er nicht französisch denkt, so lange lernt er nicht französisch sprechen. 216 210 Ebd. 211 Ebd. 212 Vgl. Fritz t endering , Rezension zu „Stier, Georg, Französische Sprechschule.“ In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Heft 14, 1892, S. 231. 213 Ebd. 214 Stier (1878), S. 317. 215 Ebd., S. 319. 216 Ebd. Wie im Original steht das Zitat in Fettdruck. Stier folgt hier mit der Analogie zwischen Sprache und Denken in Ansätzen Wilhelm von Humboldts idealistischer Sprach- <?page no="206"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 207 Da eine reale Kommunikationssituation aber häufig nicht gegeben ist, meinen manche Lehrer, „daß der Schüler, wenn er Französisch hört, auch bald französisch denken lernt und verlangen daher, daß ein Hülfsbuch nur französischen Text enthalte.“ 217 Weil die Französischlerner in der Praxis nicht genau denselben Weg verfolgen wie der Franzose in Frankreich […], müssen wir wiederum vom praktischen Leben abweichen, so daß am Anfang dem Schüler nicht blos die französische, sondern auch die deutsche Wendung dessen, was er lernen soll, gegeben wird, und zwar das deutsche Wort zuerst, weshalb es in meiner „Sprechschule“ vorangestellt ist. Denn das erste Sprechen - und darum handelt es sich hier - ist doch weiter nichts als ein Uebersetzen, was auch ganz natürlich ist, da der Schüler bis jetzt daran gewöhnt war, nur deutsch zu denken. 218 Stier räumt zwar ein, dass die Schüler manche Wendungen sofort verstehen, „wenn man sie französisch erklärte, viele aber auch nicht oder er könnte sie falsch auffassen, was durch die Praxis hinreichend erwiesen sein dürfte.“ 219 Anstatt auf Semantisierungstechniken einzugehen, gibt er als Beispiel idiomatische Redewendungen an wie „aller prendre qn.“ Stier legt „persönliches Gewicht darauf, daß der Schüler solche Wendungen genau weiß und nicht blos ein nebeliges Bild, eine Ahnung, eine Dämmerung davon hat.“ 220 Nach Stier ist es die theorie. Wilhelm von h umBoldt : Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der sprachlichen Entwicklung. In: Albert l eitzmann (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt: -Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. IV, Berlin 1905 (photomechanischer Nachdruck Berlin 1968), S. 1-34. 217 Ebd., S. 319. 218 Ebd. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. Stier folgt hier Bernhard Schmitz, der in seiner 1875, also drei Jahre vor Stiers Sprechschule, erschienenen Encyclopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen folgende Vorgehensweise zur Konversation vorschlägt: „Das kann ich nicht unterlassen auch hier in Erinnerung zu bringen, daß man immer von der Muttersprache ausgehen muß. Es ist keineswegs einerlei, ob man lernt: das Haus la maison oder la maison das Haus, ebenso wie es nicht einerlei ist, ob man die Pferde vorn oder hinter den Wagen spannt ! - Viele denken in Betreff solcher Phrasen, namentlich auch der bildlichen, sehr lax. Allerdings ist es beim Parliren eine Hauptsache, daß man sich zu helfen weiß, d. h. daß man, wenn der ganz entsprechende Ausdruck nicht zur Hand ist, immer einen ähnlichen anderen schnell finden kann. […]. Wenn ich z. B. französisch ausdrücken soll: „Er ginge für mich durchs Feuer“, so kann ich allenfalls im Nothfall, wenn mir nichts Besseres einfällt, mich damit begnügen, daß ich den nackten Sinn der Phrase gebe: „Il ferait tout pour moi.“ Aber dies ist kein Übersetzen! Ich muß den äquivalenten Ausdruck wissen: „Il passerait dans le feu pour me rendre service, Il se jetterait au feu pour moi.“ (Bernhard s chmitz , Encyclopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen, hauptsächlich der französischen und englischen. Dritter Teil: Methodik des selbständigen Studiums der neueren Sprachen. 2., verbesserte Auflage. Leipzig: Koch’s Verlagsbuchhandlung 1875, S. 67.). 219 Stier (1878), S. 320. 220 Ebd., S. 320. <?page no="207"?> 208 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Aufgabe der Sprechübungen, „den Schüler sobald wie möglich vom Uebersetzen abzulenken und zum Denken in französischer Sprache hinzuleiten.“ Er unterscheidet demgemäß wiederum drei Stufen: 1. Stufe: Der Lehrer spricht dem Schüler in deutscher Sprache indirekt vor, was er französisch sagen soll. 2. Stufe: Der Lehrer spricht dem Schüler in französischer Sprache indirekt vor, was er sagen soll. 3. Stufe: Der Stoff wird gleich in Form einer direkten französischen Conversation eingeübt, wobei man, um das Interesse zu erhöhen, naheliegenden Stoff heranziehen kann und muß, denn es sollen nicht blos Vokabeln und Wendungen gelernt werden, sondern Ohr und Zunge recht fleißig geübt werden. - Etwaige neue Vokabeln gibt der Lehrer einfach voraus. 221 Stier befindet sich mit seiner Sprechschule durch die Hinübersetzung aus dem Deutschen ins Französische einerseits und durch den Fokus auf das Sprechen sowie die Konversation andererseits in einem Spannungsfeld zwischen der klassischen Grammatik-Übersetzungs-Methode und der direkten Methode. Der folgende Auszug aus Stiers Französischer Sprechschule thematisiert die Musikstunde (Abb. 19 auf S. 210). Mithilfe der Fußnoten gibt Stier, ausgehend vom Deutschen, lexikalische, grammatische und (inter-)kulturelle 222 Informationen. Die Bedeutung der Sprechübungen wird von Stier auch in der Vorrede zu seinem 1895 erschienenen Ersten Teil des Lehrbuchs der Französischen Sprache für höhere Mädchenschulen 223 hervorgehoben. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Aussprache gelegt. Stier bezieht sich auf die Preußischen Lehrplanrichtlinien von 1894 für die Höhere Mädchenschule 224 und zitiert die Lehraufgabe für die Mittelstufe (VI-IV): 221 Ebd., S. 320. Wie im Originaltext stehen die Hervorhebungen in Fettdruck. 222 Vgl. Stier (1878), S. 265 und Abb. 19 zur unterschiedlichen Bezeichnung vom Fingersatz im Englischen im Vergleich zum Deutschen und Französischen. 223 Georg s tier , Lehrbuch der Französischen Sprache für höhere Mädchenschulen. Nach den Bestimmungen des Königlich Preußischen Unterrichts-Ministeriums vom 31. Mai 1894 bearbeitet. Erster Teil: Unterrichtsstoff für die sechste Klasse . Leipzig: Brockhaus 1895, Vorrede (Mit besonderer Berücksichtigung der Sprechübungen), S. III. - Das Unterrichtswerk besteht aus fünf Teilen, wobei Lieder und Gedichte ausschließlich im ersten Teil behandelt werden. Ernst Leitsmann unterstreicht in seiner Rezension zu Stiers Lehrbuch die Affinität von Sprechübungen und Liedern für die Mädchenschulen: „Es ist nur natürlich, dass er [Georg Stier, A. R.], da er sein Buch nur für Mädchenschulen bestimmt hat, von vorn herein den Schwerpunkt des Unterrichts auf die den Schülerinnen anzuerziehende Sprechfertigkeit legt, ohne indes das nötige grammatische Verständnis hintanzusetzen.“ (Ernst l eitsmann , Rezension zu „Stier, Georg, Lehrbuch der französischen Sprache für höhere Mädchenschulen. In 5 Teilen.“ In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Heft 19, 1897, S. 242.). 224 Vgl. Bestimmungen über das Mädchenschulwesen, die Lehrerinnenbildung und die Lehrerinnenprüfungen vom 31. Mai 1894. Nebst einem Anhang, enthaltend die Prüfungs- <?page no="208"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 209 Erste Aufgabe ist die Erwerbung einer richtigen Aussprache durch sorgfältige und planmäßige Einübung der fremden Laute zunächst in einem kurzen propädeutischen Kursus (4 bis 6 Wochen) unter Ausschluß von theoretischen Regeln über Lautbildung, und Aussprache und ohne sog. Lautschrift. 225 Dabei wird die Devise der Reformer „Erst der Laut - dann die Schrift“ in den Lehrplan aufgenommen: Hierbei ist stets vom Laut, nicht vom Buchstaben auszugehen. Von vornherein ist neben der richtigen Aussprache des Einzellautes und des Wortes Gewicht zu legen auf die natürliche Trennung der Sprechsilben, die Bildung und Beobachtung der Sprechtakte und auf den Satzaccent. 226 Die Aussprache wird an achtzehn „einfachen, sehr ansprechenden Gesprächen eingeübt, wie überhaupt das Gespräch einen weiten Raum bei den Musterstücken einnimmt.“ 227 Das erfordert auch eine besondere Beachtung in der Lehrerbildung: Laut Lehrplan sollte Der Lehrende selbst […] phonetisch hinreichend geschult sein, um diejenigen Hülfen, welche dem Kinde bei der ersten Aussprache fremder Laute und Lautverbindungen gegeben werden müssen, und diejenigen Uebungsweisen, welche die gelernte Aussprache befestigen sollen, selbständig finden und verwenden zu können. 228 Die Preußischen Lehrplanrichtlinien von 1894 verweisen bereits in den unteren Klassen explizit auf „eine konsequente Artikulationsgymnastik, welche auch Chorsprechen und Chorsingen einzelner Laute und Lautverbindungen berücksichtigt. Einfaches Vor- und Nachsprechenlassen genügt im Klassenunterricht nicht.“ 229 ordnungen (1894). Auszugsweise wieder abgedruckt in Herbert c hrist / Hans-Joachim r ang (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Bd. II: Allgemeine Anweisungen für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr 1985, S. 72-74. und Herbert c hrist / Hans-Joachim r ang (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Bd. III. Neuere Fremdsprachen I, Tübingen: Narr 1985, S. 69-71. 225 Vgl. dazu Christ / Rang (1985), Bd. III, S. 69. Zitiert in Stier (1895), Vorrede, S. III f. Der propädeutische Vorkurs wird dann bei Sines Alge mit einer knappen Einführung in die Lautschrift eingesetzt und bei den frühen Reformern um Viëtor mit der phonetischen Umschrift der API verwendet. 226 Christ / Rang (1985), Bd. III, S. 69. Zitiert in Stier (1895), Vorrede, S. III f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 227 Vgl. Leitsmann (1897), S. 243. - In diesem Zusammenhang verweist Stier auch mehrmals auf seine Sprechschule. 228 Vgl. Christ / Rang (1985) Bd. II, S. 72 f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 229 Ebd., S. 73. <?page no="209"?> 210 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 19: Georg s tier , Französische Sprechschule. Ein Hülfsbuch zur Einführung in die französische Conversation. Leipzig: Brockhaus 1878, S. 264 f. <?page no="210"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 211 Stier zitiert diese Vorgaben in seiner Vorrede zum Lehrbuch der Französischen Sprache 230 und setzt diese in seinem Anhang in die Praxis um. Hierbei wird der von den Richtlinien geforderte didaktische Einsatz von Liedern zur Lautschulung in einem Französischlehrwerk angewendet: Im Anhang seines Lehrwerks für die sechste Klasse nimmt Stier wie Lehmann fünf Lieder aus dem Recueil de morceaux de chants von Delcasso / Gross 231 auf. Stier gibt dazu in Fußnoten die deutsche Melodie an, die Grundlage des Kontrafakturverfahrens war, damit die Schüler den (neuen) französischen Text nach der bekannten Weise singen können . Die Noten sind nur für Delcassos (original französisches) Lied Ma chatte blanche abgedruckt. 232 Stier begründet die kindgemäße, auf sein Publikum der Schülerinnen der sechsten Klasse der höheren Mädchenschulen adaptierte Verwendung der Lieder: „Die Kinder finden da alte Bekannte, denn die Lieder sind deutschen Mustern nachgeahmt. ‚Ma chatte blanche‘ dürfte vielleicht neu, aber deshalb nicht weniger willkommen sein.“ 233 Er betont seine Erfahrung mit dem Liedeinsatz im Französischunterricht und begründet den Stellenwert der Aussprache sowie die dadurch gewonnene Motivierung seiner Schülerinnen in seiner Vorrede: Ich pflege das Singen von Liedern und Chorälen mit französischem Text seit mehr als zwanzig Jahren, nicht bloß, weil es dem Schüler Vergnügen bereitet und seine Lernlust rege erhält, sondern weil es eine ganz vortreffliche Übung zur Erlangung einer guten Aussprache ist. 234 230 Stier (1895), Vorrede, S. XV. 231 Stier (1895), S. 52-57. 232 Ebd., S. 56. Hierbei könnte es sich um eine Adaptation des 1697 erschienen französischen, im Stil von Perrault geschriebenen Märchens La chatte blanche von Marie-Catherine d’Aulnoy handeln, bei dem ein junger Mann eine bezaubernde weiße Katze trifft, die eigentlich eine verzauberte Prinzessin ist. ( Jean P errot (Hrsg.), Les métamorphoses du conte . Bruxelles: Peter Lang 2004, S. 41-60.). Um auf das Kontrafakturverfahren hinzuweisen, druckt Stier in Fußnoten den deutschen Titel ab und wählt aber den französischen Begriff „Mélodie“: Die verwendeten Lieder sind 1. Le retour du printemps (Mélodie: Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald, 2. Le sapin (Mélodie: O Tannenbaum), 3. Chant printanier des oiseaux (Mélodie: Alle Vögel sind schon da), 4. Le renard et le coq (Mélodie: Fuchs, du hast die Gans gestohlen, 5. Ma chatte blanche (Mélodie von Fr. Glasner). Wie schon im Abschnitt über Ignaz Lehmann dargestellt, adaptiert Delcasso die den Schülerinnen bekannte deutsche Melodie an den französischen Text mit einem Transfer in einen französischen Kulturkontext. Gleichzeitig folgt dieser Kulturtransfer dem Konzept Vom Eigenen zum Fremden . (Vgl. Reinfried 1999a, S. 205.). 233 Stier (1895), Vorrede, S. XV. 234 Ebd. Der Phonetiker Karl Quiehl folgt Stiers Analyse und wird die Aussprache anhand eines prototypischen Volkslieds mit einer strukturellen Phonemanalyse detailliert untersuchen. Vgl. Abb. 43, S. 298 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="211"?> 212 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Die Vorteile des Liedeinsatzes im Französischunterricht und die (kontrastiven deutsch-französischen) 235 phonetischen Betrachtungen fasst Stier anhand des Kinderlieds Le retour du printemps (Mélodie Kuckuck, Kuckuck) an zwei Beispielen zusammen: 1. Der Schüler lernt die Vokale „ungetrübt“ aussprechen, was für das Französische bekanntlich charakteristisch ist. Man vergleiche z. B. im Liede 1 die Wörter coucou (nicht cou c -), sou-pi-re (nicht sou p -, auch nicht sou-pi r -), pourquoi ist zu singen: pou-rquoi, d. h. ou ungetrübt und das r zu quoi gezogen, u. s. w. 2. Der Schüler lernt den „Nasallaut“ richtig sprechen. Wer Wörter wie printemps, chante (Lied 1); sapin (Lied 2) u. s. w. richtig singt, wird sie gewiß auch richtig sprechen. 236 Wie in seiner Sprechschule stellt Stier eine Stufenfolge zum Liedeinsatz vor: Um den rechten Nutzen für die Aussprache leicht und sicher zu erzielen, lasse man den Text nicht erst lernen und dann singen, sondern man beginne - nach dem Übersetzen - sofort mit dem Singen. Der Lehrer singt nach Sprechtakten ganz langsam und deutlich vor und läßt ebenso langsam und deutlich nachsingen, bis er, der guten Aussprache sicher, allmählich das richtige Taktmaß einhält. 237 Die Methode des Chorsingens 238 orientiert sich am Chorsprechen und wurde im Methodenstreit von Reformern wie Karl Quiehl und Max Walter 239 sehr empfohlen. Die Gegner der Reformmethode lehnten das Chorsingen meist ab. 240 Bruno Eggert unterstreicht in seinem Werk Der psychologische Zusammenhang in der Didaktik des neusprachlichen Reformunterrichts 241 besonders das Singen als methodisches Mittel zur Ausbildung der Sprechbewegungsvorstellung […]. Ihm schliesst sich im Klassenunterricht das Chorsprechen an, das der Hervorhebung des akustischen Eindrucks dient, eine ausgiebige und allseitige Übung der Schüler ermöglicht und bei geeigneter Anleitung dieselben zur richtigen Verwertung und Behandlung des Atems, zu richtiger Einteilung der 235 Wie in seiner Sprechschule dargestellt, geht Stier immer vom deutschen Text aus. 236 Stier (1895), Vorrede, S. XV. 237 Ebd., Vorrede, S. XV f. 238 Vgl. Christ / Rang (1985) Bd. II, S. 72 f. 239 Vgl. dazu S. 230 f., S. 253, Fußnote 367, S. 276, S. 283 und S. 281 f., Fußnote 448 in der vorliegenden Arbeit. 240 Vgl. Karl s teuerwald , Wesen und Bedeutung der neusprachlichen Reform. Eine historisch-kritische Darstellung ( Mann’s Magazin , Heft 1360) . Langensalza: Beyer & Mann 1932, S. 33. 241 Bruno e ggert , Der psychologische Zusammenhang in der Didaktik des neusprachlichen Reformunterrichts. Berlin: Reuter & Reichard 1904, S. 67 f. <?page no="212"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 213 Sprechtakte und richtigem Wort- und Satzaccent veranlasst, andererseits jedoch die individuelle Kontrolle des Lehrers in Bezug auf die Deutlichkeit und feinere Nuancierung der Laute erschwert. 242 Die Bedeutung des Singens als „vortreffliche Übung zur Erlangung einer guten Aussprache“ 243 durch die Einübung der Laute und das Chorsprechen unterstreicht Stier im Vorwort zu seinem Le Collégien français. Hierbei verweist er wie in seinem Lehrbuch auf die Vorteile der „ungetrübten“ Aussprache der Vokale. Stier entwirft eine Methodik der Lauteinübung und widmet sich dem Chorsprechen, das von der ersten Stunde an fleißig zu üben ist: a) Es zieht die Schüler viel öfter als das Einzelsprechen zur Arbeit heran. b) Es macht auch den Schwachbegabten Mut, sich zu beteiligen. c) Es bringt Lebendigkeit in den Unterricht. d) Das Chorlesen ganzer Sätze oder Satztakte ermöglicht, die richtige Betonung, den französischen Tonfall zu erlernen. 244 Als Illustration des französischen Tonfalls und der Betonung druckt Stier ein Notenbeispiel ab mit sechs Achtelnoten des Tons g’ und einer halben Note des Tons c’ (Abb. 20, S. 215). Damit wird nicht nur der Satztakt und die Satzmelodie als fallende Intonation durch das Sinken der Tonhöhe von g’ zu c’ anschaulich dargestellt. Es handelt sich um eine gelungene Darstellung der Prosodie anhand des den Schülern bekannten Notensystems, was die Parallele von Sprache und Musik illustriert und die Lernenden sensibilisiert, die Sprache als musisches System zu begreifen. Die musikalische Anschauung des Französischunterrichts wird einen zentralen Platz im Methodenstreit im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung einnehmen und ist mit der Frage verbunden, ob der Französischlehrer musikalisch begabt sein und singen können muss oder nicht. 245 Im Anhang druckt Stier acht Lieder ab. Die ersten fünf Lieder sind wieder dem Recueil de morceaux de chant von Delcasso / Gross entnommen und wurden bereits bei Lehmann verwendet. 246 242 Ebd., S. 67. 243 Georg s tier , Le Collégien français. Lehrbuch der französischen Sprache für höhere Lehranstalten. Erster Teil. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1906, Vorwort, S. IV. 244 Georg s tier , Über den Gebrauch von „Le Collégien français“. In: Stier (1906), S. VI f. und Abb. 20, S. 215 in der vorliegenden Arbeit. 245 Vgl. dazu S. 439-444 in der vorliegenden Arbeit, vor allem die Positionen von Thurau, Norlind und Weißmann. 246 Die Reihenfolge der verwendeten Lieder ist 1. L’abeille (Mélodie: Summ, summ, summ, Bienchen summ herum), 2. Le renard et le coq (Mélodie: Fuchs, du hast die Gans gestohlen, 3. Le retour du printemps (Mélodie: Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald, <?page no="213"?> 214 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Beim sechsten Lied Le chasseur des Alpes wird kein Übersetzer angegeben. Die im Kontrafakturverfahren verwendete Melodie stammt vom bekannten Volkslied Mit dem Pfeil, dem Bogen und geht auf das gleichnamige Gedicht von Friedrich Schiller zurück, der es dem mit einer kleinen Armbrust spielenden Sohn Walter des Wilhelm Tell in den Mund legt. Bernhard Anselm Weber vertonte das Gedicht 1805 für eine Berliner Bühnenmusik. 247 4. Chant printanier des oiseaux (Mélodie: Alle Vögel sind schon da, 5. Le sapin (Mélodie: O Tannenbaum), 6. Le chasseur des Alpes (Mélodie: Mit dem Pfeil, dem Bogen), 7. Le bon camarade (Mélodie: Ich hatt einen Kameraden), 8. La Marseillaise (Rouget de l’Isle). 247 Im Deutschen Volksliedarchiv an der Universität Freiburg ist eine Lieddokumentation mit Arbeitsmappen zu mehr als 20000 Liedern vorhanden. Vgl. zur Quelle des Lieds: Anonym (Hrsg.), Der fröhliche Sänger: eine Auswahl der beliebtesten Lieder. Erste Sammlung. Nr. 38: Mit dem Pfeil, dem Bogen. Hamburg: Philippeaux 1815, S. 32 f. und www.liederarchiv.de/ mit_dem_pfeil_dem_bogen-notenblatt_300103.html. <?page no="214"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 215 Abb. 20: Georg s tier , Le Collégien français. Lehrbuch der französischen Sprache für höhere Lehranstalten. Erster Teil. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1906, S. VI f. <?page no="215"?> 216 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Für das siebente Lied Le bon camarade liegt die Übersetzung des Schweizer Schriftstellers Henri-Frédéric Amiel 248 vor (Abb. 21 auf S. 218). Der deutsche Originaltext Der gute Kamerad wurde 1809 von Ludwig Uhland gedichtet und 1825 von Ludwig Silcher vertont. 249 Das Lied wurde in verschiedenen deutschen und französischen Liedersammlungen 250 aufgenommen und als prototypisches Lied wie Bérarts Ma Normandie in zahlreichen Lehrbüchern verwendet. 251 248 Amiel publizierte neben seiner Tätigkeit als Professor für Ästhetik und französische Literatur an der Universität Genf einige von der idealistischen Philosophie Kants beeinflusste Essays, aber auch mehrere Gedichtbände und Liedersammlungen. Das bekannteste und zugleich populärste Lied, das von Amiel veröffentlicht wurde, war das patriotische Roulez, tambours! , das unter anderem von Ducotterd in seinem Lehr- und Lesebuch der Französischen Sprache abgedruckt wurde. Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit S. 421. 249 Friedrich Silcher schuf die heute bekannte Version, indem er ein altes Schweizer Volkslied adaptierte. Uhlands Text entstand 1809 während eines Tiroler Aufstands gegen den Einsatz badischer Truppen unter französischem Befehl. Uhland hatte dabei Kontakte zu beiden Seiten. Später wurde der „Gute Kamerad“ oft zur Verklärung des Heldentods instrumentalisiert. Im Spanienkrieg verwenden politisch verfeindete Parteien das Lied. Besonders im Dritten Reich wurde das Lied im Rahmen eines politisch-agitatorischen Kameradschaftsmythos glorifiziert. Heute spielt das Lied beim Trauerzeremoniell der Bundeswehr eine wichtige Rolle und gehört auch in Frankreich, in der Romania und den angelsächsischen Staaten zum traditionellen Liedgut der Streitkräfte. Vgl. dazu Eginhard k önig / Uli o tto , Ich hatt einen Kameraden… Militär und Kriege in historisch-politischen Liedern in den Jahren von 1740 bis 1914. Regensburg: conBrio Verlag 1999. Thomas k üh ne , Die Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2006. 250 Die Besprechung von Bildern mithilfe von Liedern wird auch von Hartmann (1895), S. 18 begrüßt: „Sehr zweckmässig ist es auch, mit der Besprechung der Bilder das Lernen und Singen kleiner Lieder zu verbinden, von leichtfasslichem Inhalt.“ Dabei können auch die französischen Kontrafakturen deutscher Melodien verwendet werden. Hier kündigt sich bereits die Debatte über den Liedeinsatz im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung an: „Wenn man dazu nicht die französischen Originale nehmen will, so kann man doch wenigstens fremdsprachliche Übertragungen deutscher Volkslieder sehr gut dabei verwerten, und die Augen der Schüler leuchten vor Vergnügen, wenn man sie einmal den ‚Tannenbaum’, oder Frühlingslieder wie das vom Kuckuck oder ‚Alle Vögel sind schon da‘ in der fremden Sprache singen läßt.“ (Ebd., S. 18 f.). Schmeck (1909), S. 81 f. schließt sich Hartmann an und kritisiert dabei die „Forderung einiger Reformer, dass die Melodien ebenfalls nur solche des fremden Landes sein sollen […]. So lässt man z. B. das Lied ‚Le bon camarade‘ nicht singen, weil einmal nur die bekannteste deutsche Gesangsweise dazu vorhanden ist, und weil man andrerseits glaubt, deutsch-vaterländische Lieder nicht mit fremdsprachlichem Text singen zu dürfen. Dieser Patriotismus dürfte denn doch übertrieben sein; wegen einiger Lieder mit deutschen Melodien und französischem Text ist kein Schade für die vaterländische Gesinnung der Knaben zu befürchten, und der Gesamtunterricht erstreckt sich doch nicht nur auf das Französische.“ 251 Der Gesanglehrer Karl Friedrich veröffentlichte das Lied „Der gute Kamerad“ unter der Rubrik „Für König und Vaterland“ als „Volksweise“. Das unterstreicht die außerordentliche Bekanntheit des Lieds. (Karl F riedrich Hrsg., Liederbuch für Mittelschulen. Nebst <?page no="216"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 217 Rouget de Lisles La Marseillaise ist das achte und einzige (typisch) französische Lied mit Noten zum Mitsingen (Abb. 21 auf S. 218). In der Tradition der Gesprächsbücher und des Anschauungsunterrichts steht die Praktische Methode für die Französische Sprache 252 des Erfurter Dolmetschers Bernhard Teichmann und basiert auf der Fähigkeit des intuitiven Lernens. Sie ist ein Vorläufer der Assimil-Methode 253 von Alphonse Chérel. In seinem Sprachlehrbuch Französisch Sprechen und Denken 254 stellt Teichmann seine Methode detailliert vor: Die „Praktische Methode“ zur Erlernung der neuern Sprachen ist das wissenschaftliche Ergebnis der Anwendung der mathematischen Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die neuern Sprachen; daher lehrt dieselbe gerade die wichtigsten Wörter in ihren gebräuchlichsten Formen und Verbindungen in der für das Verständnis und Gedächtnis geeignetste Weise, was man auf anderm Wege niemals erreichen wird, denn die Mathematik ist eine unfehlbare Wissenschaft. 255 einem Anhang französischer und englischer Lieder von Karl Irmer. Halle: Louis Nebert’s Verlag (Albert Neubert) 1909, S. 5.). Im französischen und englischen Teil, der auch separat von Karl Irmer herausgegeben worden ist, findet man jedoch nicht die französische Übersetzung des „Bon camarade“. (Karl i rmer , Sammlung französischer und englischer Volkslieder für den Schulgebrauch. Marburg: Elwer’sche Verlagsbuchhandlung 1909.). Irmer nutzte nur Realia, also Beispiele „aus dem lebenden Liederschatz Frankreichs“. So wird auch die Melodie der ersten beiden Strophen mit Noten von Bérarts Ma Normandie abgedruckt. (Vgl. Irmer 1909, S. 26.). 252 Vgl. Bernhard t eichmann , Praktische Methode für die Französische Sprache. Eine sichere Anleitung zum Sprechen und zum freien Vortrage in französischer Sprache. Erfurt: Verlag von Hugo Güther 1892. 253 Die Assimil-Methode wurde vom Begriff „Assimilation“ abgeleitet. Parallel zum Lehrbuch mit dem fremdsprachigen Text auf der linken Seite und dem muttersprachlichen Text auf der rechten Seite hört der Lerner die Texte in der Fremdsprache, wobei ganze Sätze verwendet werden. Auf eine längere Phase des rezeptiven Lernens mit Hör- und Leseverstehen folgt der aktive Abschnitt mit Bildern, bevor der Lerner beginnt, erste eigene Sätze in der Fremdsprache zu artikulieren. Hierbei handelt sich um einen Vorläufer der audiovisuellen Methode. 254 Bernhard t eichmann , Französisch Sprechen und Denken. Erfurt: Verlag von Hugo Güther 1905. 255 Ebd., S. 3. <?page no="217"?> 218 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 21: Le bon camarade , La Marseillaise . In: Georg s tier , Le Collégien français. Lehrbuch der französischen Sprache für höhere Lehranstalten. Erster Teil. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1906, S. 135. <?page no="218"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 219 Die Methode ist in insgesamt drei Stufen gegliedert und kann als eine Form der direkten Methode gesehen werden, da sie auf eine Übersetzung in die Muttersprache verzichtet: Da die „Praktische Methode“ in fremden Sprachen sprechen und denken zu lernen, von allen andern Unterrichtsweisen für die neuern Sprachen durchaus verschieden ist, und da es deshalb fast unmöglich ist, sich im voraus eine richtige Vorstellung von ihrer Wirkung auf den Lernenden und ihren Erfolgen zu machen, so ist es, um wirklich sicher und schnell Französisch sprechen und denken zu lernen, nötig, genau nach den folgenden Vorschriften zu verfahren. Um die Erfolge der „Praktischen Methode“ nicht zu beeinträchtigen, ist während ihrer Benutzung zu unterlassen: 1. möglichst jeder Gebrauch der Muttersprache 2. Lernen und Abfragen von Vokabeln und Regeln, 3. Deklinieren und Konjugieren, 4. freies Übersetzen in die Muttersprache. 256 In der ersten Stufe soll die Aussprache „in natürlicher Weise, laut sprechend“ eingeübt werden. Der Schüler soll die Wörter, die er nicht versteht, „aus andern Sprachen ab[zu]leiten oder deren Bedeutung aus ihren Zusammenstellungen oder aus dem Inhalte des ganzen Stückes […] erraten […].“ 257 Zur Aussprache soll er „ein Wörterbuch mit Aussprachebezeichnungen“ nutzen. Teichmann verwendet in Anlehnung an die Interlinearversion von Toussaint-Langenscheidt auch deren Transkription. 258 In der zweiten Stufe sollen sich die Schüler in Partnerarbeit gegenseitig Fragen vorlesen und Antworten geben, ohne ins Buch zu schauen. Der Fragende hat dabei durch Worte oder Zeichen anzudeuten, ob die Frage bejaht, dann steht dort ein + oder verneint werden soll, dann steht dort ein - . Eine Frage nach Belieben ist durch ein × angedeutet. […]. Es ist sehr zweckmäßig, daß zwei oder mehrere Lernende sich gegenseitig abwechselnd so oft und so lange im Fragen und Antworten üben, bis sie die Gespräche wie in ihrer Muttersprache führen können. 259 Auf diese Weise wird ein eigenaktives Handeln und ein maximaler Sprechanteil der Schüler ermöglicht. Diese Form ist ein Vorläufer der heutigen Pabo-Partnerbögen. Auf Abb. 22, S. 222 wird ein Textauszug mit Fragen sowie 256 Ebd., S. 7. 257 Ebd. 258 Ebd., S. 8. Vgl. auch S. 162 f. in der vorliegenden Arbeit. 259 Ebd., S. 8 f. Die Hervorhebungen in Fettdruck folgen der Originalversion. <?page no="219"?> 220 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Antworten, Vokabelerklärungen und Toussaint-Langenscheidtscher Transkription am Beispiel eines Gesprächs zum Thema Concert dargestellt. Die Vokabeln und Wortgruppen werden in der Tradition der Interlinearversion Originaltext - Transkription - deutsche Wort-für-Wort-Übersetzung dargestellt. Die dritte Stufe betrifft den Erwerb der Schriftsprache. Teichmanns „praktische Methode“ stimmt nach Andreas Michels Analyse „in vielen Punkten mit der direkten Methode überein. 260 Dies wird deutlich in Teichmanns Definition des Anschauungsunterrichts: Der Anschauungsunterricht ist ein ausgezeichnetes Mittel, fremde Sprachen zu lehren, ohne seine Zuflucht zur Übersetzung zu nehmen. Fast über jeden kleinen Gegenstand kann man die auf den letzten Seiten dieses Buches angegebenen Fragen stellen, die der Lehrer mit lauter Stimme ablesen muß, indem er gleichzeitig mit dem Gegenstand alles, was den Fragen entspricht, ausführt, worauf die Schüler, ohne das Buch zu sehen, antworten müssen, indem sie soviel wie möglich dieselben Worte gebrauchen, aus denen die Frage besteht. Wer die „Praktische Methode“ benutzt hat, wird keine Schwierigkeiten finden, neue Fragen über jeden beliebigen Gegenstand zu stellen. Man kann sprechen über alles, was man bei sich trägt, über alles, was sich im Hause befindet, überhaupt über alles, was besteht, mit Hilfe von Abbildungen und Darstellungen. 261 Teichmann widmet ein Unterkapitel seiner Praktischen Methode dem Singen in französischer Sprache: Ein besonderes Mittel, die Sprachorgane zu üben, sich die fremden Worte ganz zu eigen zu machen und in der fremden Sprache zu fühlen, ist das Singen von Liedern mit Text in der fremden Sprache. Zu diesem Zweck hat der Verfasser der „Praktischen Methode“ fünf Serien, eine jede von drei Liedern, mit deutschem, französischem, englischem, italienischem und spanischem Text herausgegeben, welche bei einigem guten Willen, ohne irgend welche besondere Begabung, von einem Jeden erlernt und gesungen werden können. Die Silbeneintheilung beim Singen ist in den Liedern selbst angegeben. 262 Schon im Titel zu seiner Praktischen Methode wurde Bernhard Teichmann vorgestellt als „Verfasser der preisgekrönten deutschen, französischen, englischen, italienischen und spanischen Lieder mit Klavierbegleitung.“ 263 Im Anhang zu 260 Vgl. Andreas m ichel , Die Didaktik des Französischen, Spanischen und Italienischen in Deutschland einst und heute . Hamburg: Kovač 2006, S. 92. 261 Vgl. Teichmann (1905), S. 13. - Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 262 Teichmann (1892), S. 58. 263 Ebd., S. 1. <?page no="220"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 221 seiner Praktischen Methode gibt Teichmann Hinweise zur Aussprache zu den Konversationstexten aus dem ersten Teil und druckt danach einige Sprichwörter und Gedichte ab in der Interlinearübersetzung (nach dem System Toussaint-Langenscheidt, siehe Abb. 12 auf S. 162). Als Höhepunkt schließt ein Liedbeispiel als vertonte Lyrik das Lehrwerk ab (Abb. 23 auf S. 223). Teichmann reiht sich damit ein in die Gruppe von Französischlehrern, die selbst Lieder zur Illustration ihrer Methode und zur praktischen Anwendung im Unterricht komponieren. Die Anschauungsmethode ist besonders vom Schweizerischen Realschuldirektor der Mädchenrealschule in St. Gallen, Sines Alge, beeinflusst worden. Sein 1887 veröffentlichter Leitfaden für den ersten Unterricht im Französischen 264 ist „das erste auf die Anschauungsmethode gegründete Lehrbuch, das den Forderungen der Reformbewegung völlig entspricht“. 265 Anhand der Besprechung der Jahreszeitenbilder (Abb. 25 auf S. 226), die ab 1885 im Wiener Hölzel-Verlag 266 erschienen, will Alge „Lehrer und Schüler in die Möglichkeit versetzen, […] den gegebenen Wortschatz sicher einzuprägen, auf die Aussprache der Laute und Wörter die peinlichste Sorgfalt zu verwenden […]. 267 264 Vgl. Sines a lge , Leitfaden für den ersten Unterricht im Französischen. Unter Benutzung von „Hölzel’s Wandbildern für den Anschauungs- und Sprachunterricht“ und mit Aufgaben zum Selbstkonstruiren durch die Schüler. 3., wesentliche vermehrte und verbesserte Auflage 1892. 5., wesentlich verbesserte Aufl. 1896 (Alge 1896a). St. Gallen: Verlag von Huber & Cie. (E. Fehr). 265 Reinfried (1992), S. 96. 266 Vgl. Anonym, Eduard Hölzel 1844-1969. Zum 125jährigen Bestand des Hauses am 15. Oktober 1969, o. O. (Wien), o. J. (1969). 267 Alge (1892), IV. <?page no="221"?> 222 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 22: Bernhard t eichmann , Französisch Sprechen und Denken. Erfurt: Hugo Güther 1905, S. 38 und 78. <?page no="222"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 223 Abb. 23: Tout seul . In: Bernhard t eichmann , Praktische Methode für die Französische Sprache. Eine sichere Anleitung zum Sprechen und zum freien Vortrage in französischer Sprache. Erfurt: Hugo Güther 1892, S. 16. <?page no="223"?> 224 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Nach Alge hat der Anfangsunterricht […] in erster Linie eine gute Aussprache zu vermitteln. Der Schüler soll nicht nur in der Lage sein, jeden Laut richtig auszusprechen; sein Gehör muss so weit gebildet werden, dass Abweichungen von der guten Aussprache es verletzen. Ein so vorgebildeter Schüler wird im Verstehen von französisch Gesprochenem raschere Fortschritte machen, als ein in der Aussprache wenig sorgfältig vorbereiteter Schüler […]. 268 Diese phonetische Schulung erfolgt durch einen propädeutischen phonetischen Vorkurs, bei dem die ersten Sprechübungen der Phoneme und einzelner bildbeschreibender Texte ausschließlich in der Lautschrift der Association Phonétique Internationale 269 angegeben wurden (Abb. 24 und 26). 270 Die Texte sind danach in traditioneller Schreibweise abgedruckt (Abb. 27, S. 228). So war es dem Lehrer frei überlassen, ob er die phonetische Umschrift anwendet: Da die phonetische Schrift nicht geschrieben wird, sondern nur zur richtigen Erfassung der Laute dient, ist auch die Befürchtung derjenigen unbegründet, welche glauben, es könnte dadurch die Sicherheit der historischen Rechtschreibung gefährdet werden. 271 Die umfangreichen phonetischen Transkriptionen der Ausgaben von 1887 bis 1896 wurden in Neubearbeitungen des Leitfadens nach 1900 in den hinteren Teil des Lehrwerks platziert (Abb. 24 und Abb. 26). Diese ausführliche Partie phonétique dürfte „aber im 19. Jahrhundert noch kaum Anhänger an den deutschen Schulen gefunden haben, da phonetische Vorkurse bis 1901 in Preußen und auch in den meisten anderen deutschen Ländern verboten waren.“ 272 268 Sines a lge , Über die Erlernung des Französischen. Vortrag, gehalten an der Universität Zürich in den „methodologischen Übungen“ von Prof. Dr. H. Morf. St. Gallen: Verlag der Fehr’schen Buchhandlung 1896 (Alge 1896b), S. 3 f. 269 Vgl. S. 163, Fußnote 15, S. 269, Fußnote 417 und S. 281, Fußnote 448 in der vorliegenden Arbeit. 270 Vgl. Sines a lge / Walther r iPPmann , Leçons de Français basées sur les tableaux de Hölzel. 16. Aufl., St. Gallen: Librairie Fehr 1913. (1. Aufl. der neuen Fassung 1904), S. 134 und S. 152 f. 271 Alge (1896a), S. VIII. 272 Vgl. Reinfried (1992), S. 142, sowie Roden (1898), S. 6. Roden verweist speziell auf die preußischen Lehrpläne von 1891. (ebd., S. 6.). <?page no="224"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 225 Abb. 24: Sines a lge / Walther r iPPmann , Leçons de Français basées sur les tableaux de Hölzel. 16. Aufl. St. Gallen: Librairie Fehr 1913. (1. Aufl. der neuen Fassung 1904), S. 134 f. <?page no="225"?> 226 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 25: Sines a lge / Walther r iPPmann , Leçons de Français basées sur les tableaux de Hölzel. 16. Aufl. St. Gallen: Librairie Fehr 1913. (1. Aufl. der neuen Fassung 1904), S. 1. <?page no="226"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 227 Abb. 26: Sines a lge / Walther r iPPmann , Leçons de Français basées sur les tableaux de Hölzel. <?page no="227"?> 228 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 27: Sines a lge / Walther r iPPmann , Leçons de Français basées sur les tableaux de Hölzel. St. Gallen: Librairie Fehr, 16. Aufl. 1913. (1. Aufl. der neuen Fassung 1904), S. 25 f. <?page no="228"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 229 Alge beschreibt die phonetische Schulung als treffliches Mittel zu einer guten Aussprache […]. Hierbei ist der Lehrer alles. Vor der Klasse stehend, spricht er den ersten Laut, deutlich, mit der denkbar strammsten Artikulation. Bald einzeln, bald im Chore sprechen die Schüler nach; der Lehrer korrigiert, schleift ab und hält mit unerbittlicher Konsequenz die Schüler zu strammer Artikulation an. Wo es von Vorteil ist, teilt er dasjenige mit, was sich über die Mitwirkung und Stellung der einzelnen Sprechwerkzeuge so sagen lässt, dass alle Schüler es begreifen können; alles andere, so sehr es auch ihm persönlich zu statten kommt, lässt er weg. Wenn der Laut richtig erfasst ist, wird dessen phonetisches Zeichen an die Wandtafel geschrieben. Also zuerst der Laut und dann das Zeichen. 273 Hiermit verweist Alge auf eine der Hauptthesen der Reformer: Erst der Laut, dann die Schrift. 274 So wurde auch das bekannte Hölzelsche Frühlingsbild „erarbeitet“ (Abb. 27, S. 228, und Abb. 57, S. 349). Am Schluss der dritten Auflage seines Leitfadens findet der Leser nach einer kurzen Darstellung der Aussprache eine Sammlung von Gedichten „sowie eine Beigabe von 6 Liedertexten, die nach allgemein bekannten Melodien singbar sind.“ 275 Es handelt sich um zeitgenössische Lieder, die im deutschsprachigen Raum als Volkslieder bekannt sind. Wie bei Lehmann und Stier erfolgt bei den sechs Kontrafakturen die Angabe des Titels auf französisch, darunter der Hinweis auf die Melodie und den deutschsprachigen Liedanfang und schließlich die französischsprachigen Strophen. Es wurden keine Noten abgedruckt. 276 Der Schweizer Alge gibt keine Komponisten oder Dichter 277 an. Bei Sines Alge wurde das Prinzip der 273 Alge (1896b), S. 4. Die phonetische Umschrift soll also von den Schülern rezeptiv erfasst werden. 274 Vgl. dazu die Positionen von Viëtor, Quiehl, Hasberg, Walter in der vorliegenden Arbeit. 275 Alge (1887), S. VII und S. 164-166. 276 Als häufiges und typisches Merkmal der Kontrafaktur variiert oft der französische Titel: Für die Melodie „Im Wald und auf der Heide“ gibt Lehmann an 7. Vie du chasseur. Alge verwendet für sein erstes Lied den Titel: 1. En chasse. Die abgedruckten Lieder heißen: 1. En chasse (Melodie: Im Wald und auf der Heide), 2. Chant du soir (Melodie: Würziger Hauch durchweht die Blütenwipfel), 3. Premiers jours du printemps (Melodie: Von Ferne sei herzlich gegrüßet), 4. Dans les Alpes (Melodie: Wo die Berge sich erheben), 5. Le matin de la bataille. (Melodie: Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod). Der Text stammt nach meinen Recherchen von Wilhelm Hauff, die Melodie von Johann Christian Günther, 6. La Suisse est belle (Melodie: Freut euch des Lebens! ). 277 Nach Recherchen im Volkliedarchiv Freiburg konnte ich herausfinden, dass Lied 4 vom Schweizer Dichter und Förderer des Volksgesangs Leonhard Widmer stammt. Die Melodie wurde vom Churer Dichter J. G. Laib verfasst. Der Text von Lied 6 La Suisse est belle mit der Melodie: Freut euch des Lebens! geht wahrscheinlich auf den Schweizer Dichter Johann Martin Usteri zurück, die Melodie stammt von einem Züricher Tischlied in Begleitung von Harfe und Klavier, vertont von Hans Georg Nägeli. <?page no="229"?> 230 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Einsprachigkeit 278 konsequent eingehalten. Dieses Prinzip wurde im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung besonders von den „radikalen“ Reformern Karl Quiehl, Karl Kühn und Karl August Martin Hartmann vertreten. Der Basler Lehrer Peter Schild setzt Alges Werk fort und gliedert den Lehrstoff innerhalb seiner Leçons nach konzentrischen Kreisen. 279 Der unterrichtliche Gang ist dem Wechsel der Jahreszeiten tunlichst angepasst. Der beschreibende Anschauungsunterricht 280 wurde mit dem erzählenden in Verbindung gebracht und zu weiterer Belebung und ethischer Vertiefung des Behandelten eine Menge Lieder, Sprüche und Rätsel herangezogen.“ 281 Dabei soll von Anfang an ein Hauptgewicht auf die Förderung der Sprechfertigkeit gerichtet werden. Schilds Vorgehensweise ist methodisch differenziert und vielseitig. So setzt er im II. Teil seines Elementarbuchs 282 vor die (traditionelle) Besprechung des Hölzelschen Frühlingsbilds in der 1 ère Leçon 278 In den preußischen Lehrplänen für höhere Schulen von 1901 wurde schließlich die französische Sprache als Unterrichtssprache empfohlen: „Daß sich die Lehrer bei dem Unterrichte wesentlich der fremden Sprache bedienen, kann […] als wünschenswert betrachtet werden. […] Für schwierigere und tiefer gehende Erklärungen, namentlich auch bei der grammatischen Unterweisung, wird überall mit Recht auf die Muttersprache zurückgegriffen werden. Dagegen empfiehlt sich die Anwendung der Fremdsprache ganz besonders für litteratur- und kulturgeschichtliche Belehrungen.“ (Lehrplan vom 25. 5. 1901, abgedruckt in Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 85.). In den Lehrplänen von 1892 war die französische Sprache für die grammatische Unterweisung verboten. ( Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen 1893, S. 43, wieder abgedruckt in Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 70.). 279 Der Privatdozent und Lehrer der städtischen Mädchenschule Bern, Louis Gauchat, lobt Schilds Gliederung des Unterrichtsstoffs „nach konzentrischen Kreisen oder sachlichen Gruppen, d. h. es kommen in der ersten Lektion die Gartenblumen, in der zweiten die Waldbäume, in der dritten die Fruchtbäume etc. zur Behandlung.“ (Louis g auchat , Zur Reform des Französischunterrichts nach den Prinzipien der Anschauungsmethode, unter besonderer Bezugnahme auf das Elementarbuch von Dr. P. Schild. In: Schweizerische Lehrerzeitung. Zürich 41. Jg. 1896, Nr. 6, S. 51.). Die Progression nach konzentrischen Kreisen wird in der Kombination der Hölzelschen Bilder mit Texten und Liedern anhand einer spiralcurricularen Progression bei Karl Kühn und Max Walter aufgenommen. (Vgl. S. 344 in der vorliegenden Arbeit.) 280 Gauchat (1896), S. 51, hebt diesen Aspekt in seiner Charakterisierung von Schilds Elementarbuch besonders hervor: „Mit dem beschreibenden Anschauungsunterricht ist möglichst von anfang an Erzählungsstoff, sowie eine Menge von Liedern [sic], Sprüchen und Rätseln verbunden.“ 281 Peter s child , Elementarbuch der französischen Sprache nach den Grundsätzen der Anschauungsmethode und unter Benutzung der Hölzel’schen Wandbilder. Teil I (Schild 1904a). 5. Aufl. Basel: Emil Birkhäuser 1904, Vorwort, S. I. 282 Peter s child , Elementarbuch der französischen Sprache nach den Grundsätzen der Anschauungsmethode und unter Benutzung der Hölzel’schen Wandbilder. Teil II (Schild 1904b). 5. Aufl. Basel: Emil Birkhäuser 1904. Für Louis Gauchat ist Schilds Elementarbuch „unter <?page no="230"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 231 das Lied „Jeunesse et printemps“, das auf das Frühlingsgedicht „Seht, wie die Knospen sprießen“ des Schweizers Eduard Muoth 283 zurückgeht. Als Arbeitsanweisung gibt Schild „Apprendre par cœur et écrire de mémoire“. Er folgt damit, wie auch in den anderen Teilschritten, einer Übungsprogression im Sinne von Lehmanns, Stiers sowie Alges Stufenfolge. Anhand des Frühlingsbilds 284 entwirft Schild eine Methodik des Liedeinsatzes in Analogie zu Erzählungen und favorisiert die Kontrafaktur bekannter deutschsprachiger Melodien: 285 den vorhandenen Reformbüchern das vollkommenste […]“. Vgl. Gauchat (1896), Nr. 6, S. 50-52, Nr. 7, S. 59-61, Nr. 8, S. 67-69. 283 Vgl. dazu http: / / www.annalas.ch/ auturs/ view/ 267 - Das betont auch Gauchat (1896), S. 51: „Aber sein [Schilds, A. R.] Buch ist für Schweizer Verhältnisse geschrieben (was sich unter anderem in der Auswahl der Lieder kundgibt.“ 284 Gauchat berichtet über den Erfolg von Schilds Elementarbuch in einer untersten Klasse der Mädchensekundarschule in Bern: „Fräulein M. S., welche in jener Klasse mit grossem Geschick und tiefem Verständnis für die Reformmethode den Französisch-Unterricht erteilt, hat mit ihrem diesjährigen, glänzenden Examen die Vorteile der Methode einem grössern Publikum zur Evidenz erwiesen. In diesem Examen wurde (nach einem Jahre Unterricht) nur französisch gesprochen und ohne Vorbereitung ein einfaches Wandbild besprochen. Die glänzenden Äuglein der Schülerinnen und der lebendige Frohmut, mit welchem sie antworteten, bewiesen, dass sie diesen neuen Unterricht mit Liebe und Lust genossen hatten“ (Ebd., S. 51). 285 Wie Lehmann, Wingerath, Stier, Alge und Schild favorisiert Gauchat das Singen der (Kontrafaktur-)Versionen deutscher Lieder in französischer Übersetzung, lobt die Motivation und Belebung des Unterrichts durch Lieder und gibt die Vorteile für die Aussprache an. Dafür kombiniert er musiktheoretische Erklärungen mit Hinweisen zur Vermeidung von phonologischen Aussprachefehlern und deren Korrektur anhand von Beispielen aus der kontrastiven deutsch-französischen Phonetik. Durch das Singen ergibt sich das freudvolle Lernen der Aussprache für die Schüler „unbewusst und ganz nebenbei“ als inzidentelles Lernen. „Was jedoch das Singen deutscher Lieder in französischer Übersetzung anbelangt, von welchem Schild einen ausgibigen Gebrauch macht, so halte ich dasselbe für sehr nützlich. Es ist bequem, besonders für die Lehrer, die in der Gesangskunst nicht stark sind, den Gesang als bekannt voraussetzen zu können. Abgesehen davon, dass der Gesang ein sehr belebendes Element des Französisch-Unterrichts werden kann, leistet er für die Aussprache unschätzbare Dienste. Gesungene Aussprachefehler sind wegen der Länge der Noten viel vernehmlicher als bloss rasch gesprochene und können leichter korrigiert werden. Da kommen die fälschlich als offene Laute gesprochenen é und eu (z. B. in feu) zum Vorschein. Wichtig ist auch, dass auf den tönenden oder stimmhaften Konsonanten ( d, b, g, j, etc.) gesungen werden muss, dass z. B. der Schüler gezwungen wird, beim Worte jour mit dem Tone gleich im Anfang des Wortes einzusetzen. Auch wacklige Nasallaute werden durch das Singen befestigt. So kann man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Der Schüler ist ganz stolz darauf, schon nach wenigen Stunden ein französisches Liedchen singen zu können, und hat nicht gemerkt, dass es dabei hauptsächlich auf eine korrekte Aussprache abgesehen war. Das Selbstbewusstsein des Schülers übrigens, der mit dieser Methode bald das Gefühl bekommt, er könne schon etwas, ist ein wichtiger Punkt der Reform.“ (Ebd., S. 52.). Neben dem Chorsingen ist die Frage der Verwendung deutschsprachiger Lieder mit franzö- <?page no="231"?> 232 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung In noch höherem Grade als die erzählenden Stoffe sind die Lieder, im Anschluss an eine verwandte Gedankensphäre behandelt, dazu angetan, das Interesse des Kindes zu fesseln. 286 Aus praktischen Gründen erscheint es geboten, vor allem solche zu wählen, welche nach bekannten Melodien gesungen werden können. Die folgenden Beispiele mögen zeigen, in welcher Weise Lieder dem Sprachunterricht dienstbar 287 zu machen sind. Beim Herannahen des Frühlings behandeln wir unter Anlehnung an Sätze, welche über diese Jahreszeit gemacht werden, das bekannte: „Alle Vögel sind schon da“ in französischer Übersetzung. Diese lautet […] Oui, tous les oiseaux sont là […]. Daran lasse ich anschließen: Le coucou […], Les promesses du printemps. „Schöner Frühling, komm doch wieder.“ Jeunesse et printemps. „Seht wie die Knospen sprießen.“ […] Beschreiben wir die Tanne, oder sprechen wir von der Weihnachtszeit, so stimmen wir die Nationalhymne „Patrie, à ton appel“ an oder das traute „Ade, du mein Heimatland“. Adieu donc, adieu ma patrie […]. Erheben wir bei einer Schilderung der Alpen unsere Augen zu den Bergen, den schneeumpanzerten, so singen wir mit Rambert: „Salut glaciers sublimes“ (Wo Berge sich erheben) oder „Enfant de la montagne“ (Ich bin ein Schweizerknabe). Wenn wir in angedeutetem Sinne die verschiedenen, in ideeller Verwandtschaft stehenden Sprachstoffe mit einander verknüpfen und in solcher Weise den fremdsprachlichen Unterricht in eine ethische Beleuchtung rücken, so muss die tatsächliche Lösung seiner Aufgabe - eben weil er dadurch eine wirksame Belebung und Durchgeistigung empfängt - in hohem Masse gefördert werden. 288 sischer Übersetzung oder französischer Originalmelodien Teil einer Polemik im Methodenstreit im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung. 286 Schild fordert mit dem beschreibenden Anschauungsunterricht ein anschauliches, kindgemäßes Eintauchen in den Unterrichtsstoff, das psychologische Kompetenzen und Empathie bei den Lehrenden voraussetzt: „Die neue Methode verlangt, dass der Lehrer auf das Geistesniveau des Kindes herabsteige, dass er sich in die Seele des Schülers vertiefe, und das ist einer der Punkte, welche das Lehren nach derselben so schwierig machen. Auch die eingestreuten Lieder, Rätsel etc. sind dem Kindesgemüt angepasst, und so soll zwischen Lehrer und Schülern auf Grundlage des Anschauungsmaterials und der Lesestücke ein reger, intellektueller Verkehr entstehen.“ (Gauchat 1896, S. 51 f.). 287 Im Gegensatz zur „alten“ deduktiven Grammatik-Übersetzungs-Methode ermöglicht der Einsatz von Liedern als Form der Realia in der Französischstunde eine Öffnung des konventionellen Französischunterrichts: „Wenn also die alte Methode das Talent der Anregungskraft beim Lehrer nicht ausschaltet, so verlangt die neue Methode dieselbe geradezu. Der Lehrer soll mit den Kindern französische Spiele machen, französische Lieder singen lassen, zu kleinen Dialogen Anleitung geben. Bei alledem ist ein wirklicher Hintergrund vorhanden; der Schüler soll Dinge hören und sagen, die seinem augenblicklichen Interessenkreis entsprechen.“ (Ebd., S. 52.). 288 Peter s child , Wie muss der fremdsprachliche Unterricht umkehren? 2. Teil. Separatdruck aus der Schweizerischen pädagogischen Zeitschrift 4, Heft 1, S. 61-63. <?page no="232"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 233 Nach Bearbeitung des Lieds „Jeunesse et printemps“, das als Induktionstext für die 1 ère Leçon fungiert, folgt die Besprechung des Hölzelbilds „Le printemps“. Allerdings verwendet Schild im Anschluss an die Bildbesprechung kurze Hinübersetzungen (thème) zur Festigung, verbunden mit induktiver Grammatikbehandlung. Im Anhang befinden sich vier Lieder, 289 die wie folgt angeordnet sind: 1. La rose des bois. ( Air 290 : Sah ein Knab’ ein Röslein stehn 291 ), 2. J’avais un camarade. ( Air : Ich hatte einen Kameraden 292 ), 3. Chant guerrier. ( Air: Wer will unter die Soldaten 293 ‚ Ma Normandie. ( Air : Wenn alles wieder sich belebet 294 ). In den Teil 1 seines Lehrbuchs integriert Schild zwei Lieder, die er 289 Schild gibt jeweils nur den französischen Titel und die Melodie an, jedoch weder Autor noch Komponisten. Das könnte ein Indiz für die Bekanntheit und Popularität der deutschsprachigen Lieder sein. 290 Die zugrundeliegende Melodie steht nach der Bezeichnung Air . 291 Sowohl das Volkslied als auch das von Franz Schubert bearbeitete Kunstlied sind den Schülern bestens bekannt. 292 Hier wird als französischer Titel der Liedanfang gegeben und nicht wie in vielen Liedersammlungen und Lehrbüchern Amiels Titel Le bon camarade. 293 Der Text des Kriegslieds stammt von Friedrich Güll, die Musik von Friedrich Kücken: „Das Lied wurde in Preußen vor dem ersten Weltkrieg für den Unterricht in der fünften und sechsten Klasse empfohlen, aber offensichtlich auch in jüngeren Klassen eingesetzt und diente der Kriegserziehung im Kaiserreich. Vgl. Zentralblatt der preußischen Regierung von 1912.“ Zitiert nach Volksliedarchiv: http: / / www.volksliederarchiv.de/ wer-willunter-die-soldaten/ - Vgl. dazu Heinz l emmermann , Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890-1918. Bd. 1: Darstellung. Lilienthal: Eres 1984. 294 In einigen Schweizer Liedersammlungen wird die deutsche Version des Romanisten und Germanisten Adalbert von Keller als Text angegeben. Keller studierte beim Dichter und Literaturwissenschaftler Ludwig Uhland neuere Philosophie. Vgl. dazu Fritz w agner (Hrsg.), Neue deutsche Biographie. Elfter Band: Kafka - Kleinfercher. Berlin: Duncker & Humblot 1977, S. 427. In vorliegendem Fall liegt eine Kontrafaktur in entgegengesetzter Richtung vor: Die französische Melodie von Bérat wurde von Keller in einen romantischen Kontext versetzt und vor allem in Schweizer Liedersammlungen unter dem Titel Heimweh. - Ma Normandie. sehr verbreitet. (W. r enneFahrt / W. M üller / J. s chaFFer , Gesangbuch für die Mittelschulen des Kantons Bern . Bern: Verlag von Neukomm & Zimmermann 1910, S. 103 f.). <?page no="233"?> 234 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung nach dem Lektionstext 20. Voyages et divertissements 295 platziert. 296 Auch hier handelt es sich um Kontrafakturen schweizerischer Volkslieder: 21. Cantique suisse ( Air : Trittst im Morgenrot daher 297 ) und 22. Liberté ( Air : Freiheit, die ich meine 298 ). Gauchat stellt nach seiner Rezension zu Schild vier Thesen auf, die eine Leitlinie für den Französischunterricht vom Anfangsunterricht bis zur Oberstufe bilden sollen: 295 Der Text 20 besteht aus Fragen und Antworten zum Themenschwerpunkt. Er ähnelt Stiers Sprechschule, jedoch findet man keine phonetische Transkription wie bei Stier und Alge. Gauchat kritisiert, dass Schild im Gegensatz zu Alge keinen phonetischen Vorkurs anbietet und unterstreicht das Prinzip der Reformer „Erst der Laut, dann die Schrift“: „Ein phonetischer Kurs findet sich im Schildschen Buche nicht. Lautirübungen sollen vermittelst Tabellenwerk erledigt werden, was allerdings möglich ist. Über die Notwendigkeit der Anwendung transskribirter Texte ist man nicht einig. Ich habe die Texttranskription im Anfangsunterricht mit grossem Erfolg erprobt. Die Angst vor dem Übergang von der phonetischen zur gewöhnlichen Schreibweise hat sich mir als unbegründet erwiesen. Das Lautbild existiert geistig auch bei dem Schüler, der nie transskribierte Texte gesehen hat. Wer das s des Plural vergisst oder bau statt beau schreibt, schreibt eben mehr oder weniger phonetisch. Wer also phonetisch geschriebene Texte zum Ausgangspunkt machen will, wird in dieser Beziehung die Lehrmittel von […] Alge vorziehen. Der Vorteil der Transskription liegt darin, dass die ungeheuren Schwierigkeiten eines fremden Lautsystems und einer barbarischen Orthographie dadurch getrennt werden. Zuerst soll sich der Schüler mit den fremden Lauten vertraut machen, nachher erst soll er die den Lauten entsprechenden französischen Schriftzeichen kennen lernen. […]. Dr. Schild hat, in Ermangelung eines phonetischen Kurses, später auf Wunsch eine Übersicht über das französische Lautsystem beigefügt, die zu repetitorischen Exerzitien bis in die oberste Klasse benutzt werden soll. Ich kann mir nicht recht denken, auf welche Weise diese Übersicht vom Schüler nützlich verwendet werden kann.“ Gauchat (1896), S. 60. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 296 Vgl. Schild (1904), Teil I, S. 30-33. 297 Schild gibt auch hier weder Dichter noch Komponisten an. Es handelt sich bei dem Cantique suisse um den Schweizerpsalm, der (erst) seit 1961 zur provisorischen und 1981 zur offiziellen Nationalhymne der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde. Der deutsche Text stammt von Leonhard Widmer, die Melodie von Alberich Zwyssig und der französische Text vom Schweizer reformierten Pastor Dichter Charles Chatelanat. Vor 1961 wurde mit dem Text des Berner Dichters und Philosophieprofessors Rudolf Johann Wyss „Rufst Du, mein Vaterland“ eine konkurrierende Hymne als Kontrafakturversion der britischen Königshymne „God save the Queen“ gesungen. Vgl. dazu Fritz h unziker (Hrsg.), Leonhard Widmer, der Dichter des Schweizerpsalms. Ein Dichter aus dem Volk für das Volk. Meilen: Ebner 1958. Heinrich m eng / Egon s chwarB / Kassian l auterer (Hrsg.), Pater Alberich Zwyssig, Komponist des Schweizerpsalms. Baden: Baden Verlag 1982. 298 Der deutsche Text stammt vom bekannten Lyriker der Befreiungskriege Max von Schenkendorf, die Melodie wurde vom evangelischen Theologen und Herausgeber von Liedersammlungen Karl August Groos komponiert. Im französischen Titel wurde Liberté in Anspielung auf die Befreiungskriege beibehalten. <?page no="234"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 235 Bis in die oberste Klasse sollen die Anforderungen der Praxis die Richtschnur bilden; die dürre Grammatik, dieser Tummelplatz der Pedanten und unproduktiver Schablonenmenschen, darf zurücktreten, aus der Orthographie soll kein Popanz gemacht werden. […] Die neue Methode verlangt vom Lehrer vierlei, namentlich: 1. Phonetische Schulung; 2. muss er im Französischen ganz zu Hause sein, da man beim gesprächsweisen Unterricht auf alles mögliche kommen kann, das in keinem Lehrbuche steht; 3. Auf jede Stunde muss man sich genau präpariren und 4. sollte der Lehrer ein fast kindliches Gemüt 299 besitzen. Wer diese Eigenschaften in sich spürt, der sich auch im einen oder andern Punkte zu vervollkommnen getraut, der möge das Panier der Reform ergreifen. Es muss ihm gelingen 300 . Das Verfahren, an einem konkreten Sprachinhalt, der der kindlichen Auffassung keine Schwierigkeiten bietet, zunächst Sprachverständnis und Sprachfertigkeit zu treiben, wird von allen Reformern gebilligt. Ebenso stimmen alle darin überein, von der gesprochenen Sprache auszugehen. Erst hören und sprechen, dann lesen und schreiben! Das ist die Losung der Reformer. Auf planmäßige und sorgfältige Ausübung der Aussprache legen alle großes Gewicht 301 . II. 2. 4 Die ersten umfassenden Formen des Liedeinsatzes Wie die Philanthropen betont der Professor an der höheren Mädchenschule Baden-Baden Julius Bierbaum das intuitive Sprachenkönnen vor dem reflektierten Sprachenkennen: „Erst das Sprachgefühl und dann das Bewusstsein! Je mehr man geübt, durchlebt und durchdacht hat, desto leichter wird dann die Auffassung und das Verständnis für die Form erzielt werden.“ 302 Die analytische Kenntnis sprachlicher Regeln soll aus Texten von den Schülern selbst induktiv abgeleitet werden. 1884 - also zwei Jahre vor Bierbaums Schrift - wurde auf der 37. Philologenversammlung in Dessau ein einstimmiger Beschluss zugunsten der induktiv-analytischen Methode gefasst: „Im französischen und englischen Anfangsunterricht ist der Lesestoff zum Ausgangs- 299 Hier bezieht sich Gauchat auf die Forderung eines kindgemäßen Unterrichts, der bereits auf die Philanthropen zurückgeht. 300 Vgl. Gauchat (1896), S. 69. 301 Vgl. W. r attke , Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Leipzig und Berlin: Teubner 1906, S. 21. 302 Julius B ierBaum , Die Reform des fremdsprachlichen Unterrichts. Leipzig und Frankfurt: Kesselring’sche Hofbuchhandlung (E. v. Mayer) 1886, S. 91 f. <?page no="235"?> 236 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung und Mittelpunkt zu machen und die Grammatik ausschließlich induktiv zu behandeln.“ 303 Der Terminus der direkten Methode wird geprägt durch Bierbaums 1887 erschienene Schrift Die analytisch-direkte Methode des neusprachlichen Unterrichts . 304 In der methodischen Anleitung zu seinem Lehrbuch der französischen Sprache kommentiert Bierbaum die „Leitende[n] Prinzipien“ 305 seiner Methode: Die analytisch-direkte Methode ruht auf den naturgemässen Grundlagen, welche den verschiedenen Entwicklungsstufen des kindlichen Geistes entsprechen; sie könnte daher auch mit Recht die natürliche oder naturgemässe Unterrichtsmethode genannt werden. 306 In Analogie zur Entwicklung des Kindes soll auch der Französischunterricht auf natürliche Weise verlaufen: Der Beobachtungsgegenstand sei das Kind. Wie lernt das Kind sprechen? bleibe für das Erlernen jeder Sprache der einzig richtige Weg, wie verschieden, ja oft erschwerender Natur auch die Umstände seien, denen der Unterricht Rechnung tragen müsse. Aus der Grammatik habe noch kein Mensch sprechen oder schreiben gelernt. Hören und Nachahmen, Lesen und Wiederholen, Rede und Gegenrede seien die Mittel, welche zum Ziele führten […]. 307 Dabei ahmt das Kind erst die Laute, dann Silben, Wörter und Sätze nach. Erst die Elemente, dann ihre Zusammensetzung, wie es auch im deutschen Anfangsunterrichte, beim Rechnen, Zeichnen, Singen, […] u. s. w. geschehe. Eine gründliche lautliche Schulung sei die Basis des neusprachlichen Unterrichts; Ausgangspunkt, wenigstens für den Elementarunterricht, sei die Nachahmung, nicht die Regel oder das grammatische Gesetz, welche gleichsam nur Richtschnur und Winkelmaß des Sprachbaues seien. 308 303 Wilhelm v iëtor , Die Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Ein geschichtlicher Überblick in vier Vorträgen (Sammlung neuphilologischer Vorträge und Abhandlungen, Bd. 3). Leipzig: Teubner 1902, S. 38. 304 Julius B ierBaum , Die analytisch-direkte Methode des neusprachlichen Unterrichts. Kassel: Theodor Kay 1887. 305 Julius B ierBaum , Methodische Anleitung zum Lehrbuch der französischen Sprache nach der analytisch-direkten Methode für Höhere Schulen. Leipzig: Verlag der Rossberg’schen Buchhandlung 1892, S. 1. 306 Ebd. 307 Julius B ierBaum , Der Anfangsunterricht im Französischen nach der analytisch-direkten Methode. In: Marie l oePer -h oussele (Hrsg.), Die Lehrerin in Schule und Haus. Centralorgan für die Interessen der Lehrerinnen und Erzieherinnen im In- und Auslande. Gera und Leipzig: Theodor Hofmann 1891, S. 108. 308 Ebd. <?page no="236"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 237 In seiner Methodischen Anleitung kommentiert Bierbaum seine analytischdirekte Methode in sechs Punkten: 309 1. Im Mittelpunkt steht die Aussprache. Bei der Einübung der Aussprache sind Vormachen und Nachsprechen, besonders das Nachsprechen im Chor, 310 die Hauptsache […]. Von physiologischen Erklärungen darf nur das Allernötigste und Einfachste herbeigezogen werden. Alle sprachlichen Erklärungen, z. B. über Stimm- und Geräuschlaute, dunkle und helle Vokale […] werden zuerst von dem Lehrenden vor dem Eröffnen des Buches in der einfachsten Form gegeben, die sich so weit als möglich der kindlichen Denk- und Ausdrucksweise nähert. Ist das Verständnis für die Sache erzielt, dann erst wird zur Bestätigung und Einprägung die knappe Fassung des Buches gelesen, welche dann keinen Schwierigkeiten mehr begegnen wird. 311 Im Gegensatz zu Alge rät Bierbaum von der Lautschrift ab: Von einer lautlichen Umschrift haben wir aus verschiedenen Gründen abgesehen: erstens wird die Aussprache nur in der Schule und unter Leitung des Lehrenden eingeprägt, zweitens sollen die verschiedenen Lautbilder, in welchen der einzelne Laut auftritt, das Auge für die schnelle Auffassung desselben beim Lesen vorbereiten, was durch die Lautschrift gänzlich vereitelt wird; drittens sollen der Orthographie, welche für den Anfänger gerade schon Schwierigkeiten genug besitzt, keine Steine in den Weg gelegt werden, welche, wenn sich das Auge endlich daran gewöhnt hat, wieder weggeräumt werden, um neuen Schwierigkeiten Platz zu machen, viertens ist die Zahl der im Französischen gänzlich vom reinen Deutschen abweichenden Leute eine verhältnismässig so geringe, dass der um ihretwillen herzustellende Apparat umständlicher und mühevoller ist, als die Einübung der Laute selbst, an der auch feinsten Ohren nichts auszusetzen gehabt haben. 312 2. Die Leseübungen erfolgen analog der Vorgehensweise zur Einübung der Aussprache: Im Mittelpunkt steht das Chorlesen, der Lehrer liest satzweise vor und lässt im Chor nachsprechen: 309 Bierbaum (1892), S. 9-18. 310 In Analogie zum Chorsprechen wird auch das Chorsingen angewendet. 311 Ebd., S. 10 f. Bierbaum gibt dabei auch praktisch-artikulatorische Hinweise: „Bei der Einübung der stimmhaften Reibelaute lasse man dieselben längere Zeit anhalten. Durch Anlegen des Fingers an den Kehlkopf oder der beiden Handflächen an die Ohren, oder auch durch Zuhalten der Nase lässt sich das Mitschwingen der Stimmbänder besser verspüren. (Bierbaum 1892, S. 11.). 312 Ebd., S. 11. <?page no="237"?> 238 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Den Lesestücken, welche stets auf die Anschauung gegründet sind, ist eine Interlinearübersetzung 313 beigegeben. Hauptziel des Unterrichts ist jetzt ein gutes, richtig betontes, fließendes Lesen. Vorlesen bei geschlossenen Büchern geht stets voraus, denn die Sprache nimmt ihren Weg durchs Ohr, nicht durchs Auge. 314 Chor- und Einzellesen wechseln miteinander ab; kleine Gedichte werden gelernt. 315 Darauf folgt wiederholtes Lesen und „dann die umgekehrten Übungen des Vorsprechens des Deutschen und Rückübersetzen ins Französische, zuerst einzeln und wortweise, dann satztaktweise im Chor (Retroversion).“ 316 3. Das Verfahren bei den Lese- und Sprechübungen verläuft analog zu den vorherigen Übungen. Hinzu tritt das Syllabieren und das Sprechen, wobei jede Frage zuerst Wort für Wort erklärt und gelernt werden muss. Kurztexte und Questionnaires wechseln einander ab, und als Illustration der Lektionstexte folgt ein Lied. Bierbaum hat sowohl einen Großteil der Gedichttexte verfasst als auch die Lieder selbst komponiert 317 und im Anhang seines Lehrbuchs mit Noten zum Chorsingen (als Form des Chorsprechens) abgedruckt. Hierbei wurde der Text in der Lektion vorgestellt mit einem Verweis auf die Melodie im Anhang. 4. Es folgen die Grammatikübungen und 5. das Schreiben, wobei der „sicherste und natürlichste Weg zur Anbahnung der Rechtschreibung […] das Syllabieren [ist].“ 318 Danach folgen „schriftliche Rückübersetzungen, ‚Retroversions‘ […].“ 319 6. Der letzte Punkt betrifft das Singen. Bierbaum favorisiert das Auswendiglernen der französischen Lieder: 313 Die Interlinearübersetzung erfolgt wie bei Toussaint-Langenscheidt, allerdings ohne phonetische Transkription. 314 Dieser Punkt wird bei vielen Reformern in der Formel „Erst der Laut, dann die Schrift“ wieder aufgenommen. Vgl. Ludwig h asBerg , Praktische Phonetik im Klassenunterricht. Mit besonderer Berücksichtigung des Französischen. Leipzig: Rengersche Buchhandlung 1901, S. 7 und 16. 315 Bierbaum (1891), S. 109. 316 Bierbaum (1892), S. 12. Der Verweis auf eine Absicherung des Leseverstehens durch Übersetzungen und Retroversion bei den Leseübungen zeigt, dass bei Bierbaum noch Spuren der Grammatik- Übersetzungs-Methode vorhanden sind. Es herrscht also keine völlige Einsprachigkeit wie bei Alge oder ein Jahrhundert vorher bei den Philanthropen Wolke und Basedow, die auf jegliche Übersetzung verzichteten. 317 Vgl. Julius B ierBaum , Lehrbuch der Französischen Sprache nach der analytisch-direkten Methode. Neue Bearbeitung. 1. Teil 1916, Leipzig: Roßberg’sche Verlagsbuchhandlung, S. 97-110. 2. Teil 1910, S. 97-110. 3. Teil, 2. Aufl. 1918, S. 234-241. 318 Ebd., S. 17. 319 Ebd. <?page no="238"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 239 Das Singen auswendig gelernter Lieder in der Fremdsprache übt eine nahezu zauberische Wirkung auf das Kindesgemüt aus. Wenn irgend etwas geeignet ist, den Kindern die neue Sprache lieb und angenehm zu machen, so sind es unstreitig in erster Linie die in derselben gesungenen Lieder. Hier lebt und jubelt das Kind gewissermassen schon in der neuen Sprache, und diese Minuten gehören mit zu den schönsten Schul- und Lehrerfreuden, derjenigen gar nicht zu gedenken, welche beim Spiel, auf Spaziergängen und Ausflügen Lehrenden und Schülern daraus erwachsen, ja selbst für das spätere Leben noch erblühen werden. 320 Bierbaum unterstreicht sowohl die mnemotechnische als auch die motivierende Wirkung der Lieder für ein freudvolles Lernen 321 und sieht das Singen als Erweiterung des Sprechens, das Lied als vertonte Lyrik: Dass die gesungene Sprache sich tiefer und inniger dem Ohre und der Aussprache, dem Geist und Gemüte einschmeichelt, als die gesprochene, wird gewiss von niemand bestritten werden. Für den musikkundigen Lehrer 322 werden deshalb die beigegebenen Lieder gewiss willkommen sein; aber auch dem unkundigen dürfte es nicht schwer fallen, mit Hilfe eines gefälligen Kollegen oder einer Kollegin den Kindern diese Lieder zugänglich zu machen und dadurch sich und ihnen viele heitere Freuden zu bereiten. 323 Bierbaum unterstreicht im Vorwort zur 24. Gesamtauflage seines Lehrbuchs der Französischen Sprache die große Bedeutung des durch mich [Bierbaum, A. R.] zum ersten Male in den fremdsprachlichen Unterricht eingeführten Singens, und zwar schon in der ersten Auflage meines französischen Lehrbuchs vom Januar 1889 allgemeine Anerkennung und Nachahmung gefunden haben […]. 324 Er verweist darauf, dass seine in den beiden Reformschriften aus den Jahren 1886 sowie 1887 dargestellten Grundsätze zur analytisch-direkten Methode 325 „endlich zum vollständigen Siege gelangt sind“ 326 und in der „Neuordnung der 320 Ebd., S. 17 f. 321 Vgl. zum Topos des freudvollen Lernens in der vorliegenden Arbeit S. 98, 131, 134 f., 231, 380, 411 und 449. 322 Im Rahmen des Methodenstreits innerhalb der neusprachlichen Reformbewegung spielt die Frage eine wichtige Rolle, ob ein Fremdsprachenlehrer, der Lieder einsetzen will, auch musikalisch sein müsse, musiktheoretische Grundkenntnisse besitzen solle und dies als Vorbild überzeugend vermitteln könne. Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 310 f., Fußnoten 531 und 532, S. 312 f., Fußnote 540. 323 Bierbaum (1892), S. 18. 324 Ders. (1916), Vorwort, S. III. 325 Ders. (1886) und ders. (1887). 326 Ders. (1916), Vorwort, S. III. <?page no="239"?> 240 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung höheren Mädchenschulen in Preußen vom 18. August 1908 die […] offizielle Anerkennung und Bestätigung gefunden haben.“ 327 Die Lieder beziehen sich thematisch auf die Themen der Leseübungen bzw. Lese- und Sprechübungen, wobei die Progression wie bei Schild nach konzentrischen Themenkreisen 328 erfolgt. In Band 1 seines Lehrbuchs der Franzö- 327 Ebd. Die Diskussion um den Liedeinsatz im Französischunterricht spiegelt sich an der Lehrbuch-Debatte zwischen Julius Bierbaum und Hermann Breymann wider. Der Realschullehrer Heinrich Molenaar zeigt in seiner Streitschrift Breymann oder Bierbaum? , dass Breymann als einziger Vertreter der neueren Sprachen im Obersten Schulrat „die Nichtzulassung der Bierbaumschen Lehrbücher an den Staatsschulen in Bayern veranlasste, trotzdem die Einführung dieser Bücher von 27 Lehrern d. n. Spr. an 14 Anstalten (1 Realgymnasium, 3 Gymnasien, 1 Progymnasium, 9 Realschulen) gewünscht und in einer Eingabe an den Obersten Schulrat wärmstens befürwortet war.“ (Heinrich m olenaar , Breymann oder Bierbaum? Eine Denkschrift an den Obersten Schulrat des Königreiches Bayern. München: Selbstverlag des Verfassers 1904, S. 4.). Molenaar widerlegt Breymanns Vorwurf, „die Bierbaum’schen Lehrbücher seien nur […] für Mädchenschulen geeignet“ und „die Sache werde den Schülern bei Bierbaum gar zu sehr erleichtert […]; er treibe ‚ausschliesslich Konversation‘ (! ), seine Methode biete nur eine ‚schale Unterhaltung‘ (! ) und ‚versage am Schluss’“. (Ebd., S. 5.). Breymann hatte im Rückblick seines ersten Bands Die neusprachliche Reformliteratur von 1876-1893 seine Meinungsverschiedenheiten darüber, „wie der lautliche Anfangsunterricht zu erteilen sei“, folgendermaßen im bayrisch derb-ironischen Tonfall dargestellt: „Die Auffindung eines neuen Bildchens, die Verwendung eines neuen Liedchens für Unterrichtszwecke, die minimalste Änderung eines kleinsten Punktes in der Methode, all das nimmt auf diesem jungfräulichen Gebiete den Namen einer epochemachenden Erfindung an, die weit und breit im befreundeten Lager von sich Reden macht. […] Und eben dieses Aufbauschen des Nichtssagenden, das Rühren der Lärmtrommel um so untergeordnete Dinge, kurz, dieses pädagogische Gigerltum ist es, was der Bewegung noch viele unter den Fachgenossen entzieht. (Hermann B reymann , Die neusprachliche Reformliteratur von 1876-1893. Eine bibliographisch-kritische Übersicht. Leipzig: Deichert’sche Verlagsbuchhandlung 1895, S. 104.). Breymann kritisiert die „schablonenhafte Übereinstimmung“ vieler Französischlehrer, das stereotype Festhalten an oberflächlichen Details, das angeblich auch auf Bierbaum zuträfe und dazu führe, dass alle Lehrer mit der Einübung eines französischen Liedchens den Ausspracheunterricht beginnen. (Ebd., S. 109.). 328 Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 230, Fußnote 279, S. 256, 344 und 361, Fußnote 25. <?page no="240"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 241 sischen Sprache betrifft es die Themenfelder À l’école et la retraite 329 , La maison 330 und À travers les champs 331 . Den Schülern wird ein Grundwissen des solfège , d. h. des in den romanischen Sprachen verbreiteten Guidonischen Systems im Rahmen der Musiklehre vermittelt, wozu die französischen Bezeichnungen der Notenschlüssel, das Erlernen der französischen Solmisationssilben nach Guido von Arezzo 332 erfolgen. Bierbaum gibt auch die Notenwerte ( une ronde, une blanche, une noire etc.) und die Pausen auf französisch an. Wie bei Stier werden einige spezifische idiomatische Redewendungen zur Musiklehre kontrastiv französisch-deutsch vermittelt (Abb. 28, S. 243). Julius Bierbaum hat bei allen seinen Liedern neben der Melodie eine Klavierbegleitung kreiert. Das unterstreicht die Polyphonie und auch die Qualität der Bierbaumschen Stücke, die dann als Höhepunkt der Französischstunde gemeinsam gesungen wurden mit Klavierbegleitung des (musikalisch gebildeten) Französischlehrers. Durch die Einbeziehung dieser spezifischen Redemittel fördert Biermann eine Kommunikation seiner Schülerinnen in verschiedenen Sozialformen über das Thema Musik, ermöglicht einen Kulturvergleich und kreiert so einen Sprechanlass in der Fremdsprache. Analog zu Band 1 ist auch Band 2 aufgebaut. Hinzu kommt die Möglichkeit, das Grammophon 333 einzusetzen: Das beste Anschauungsmittel […] ist die Stimme des Lehrers, welcher neuerdings durch das Grammophon in ganz hervorragender Weise dienstbar geworden ist; 329 In der Rubrik À l’école - La retraite wird das Gedicht 1. La retraite von L. Collin mit der Melodie von Bierbaum abgedruckt. Bierbaum hat neben der Melodie eine Klavierbegleitung kreiert. Das unterstreicht die Polyphonie und auch die Qualität der Bierbaumschen Stücke, die dann als Höhepunkt der Französischstunde gemeinsam gesungen wurden mit Klavierbegleitung des (musikalisch gebildeten) Französischlehrers. Die Tempobezeichnungen erfolgen nicht wie üblich auf italienisch oder deutsch, sondern auf französisch, was zweifelsohne auf Biermanns Engagement zurückgeht. Die auch als Kinderlied bekannte comptine „Un, deux, trois, J’irai dans le bois“ wird nur als Gedicht unter der Überschrift Compter aufgeführt. Zur Rubrik gehört auch 2. Bonne nuit , bei dem Text und Melodie von Bierbaum verfasst wurden. Das Kinderlied Quand j’étais petit wird nur als Text mit dem Vermerk Chanson enfantine abgedruckt. 330 Unter dieser Rubrik findet man das Gedicht 3. Le bon vieux chien von L. Collin mit der Melodie von Bierbaum und nach dem Text Dans nos jardins in der Quatrième Leçon das Gedicht La cerise (Text und Melodie stammen von Bierbaum). Es folgen in diesem Themenkreis die von Bierbaum komponierten Lieder und Texte 4. La cerise, 5. Le petit cheval , 6. Cococrico und 7 . Le printemps (Abb. 28). 331 Nach dem gleichnamigen Lektionstext, bei dem der Herbst beschrieben wird, druckt Bierbaum mehrere von ihm textlich und musikalisch adaptierte Kinder- und Volkslieder ab wie 8. Les paysans , 9. La ronde enfantine, 10. Le chant des oiseaux . 332 Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 46-48. 333 Vgl. dazu Kapitel II. 4. 2 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="241"?> 242 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung als weiteres Hilfsmittel gilt auch der Gesang, welcher die Aussprache klärt und festigt. 334 Die Progression nach konzentrischen Themenkreisen wird beibehalten. Die Themenfelder entsprechen dem engen Lebensumfeld der Schülerinnen, d. h. der Natur: La fenaison (Delcasso / Bierbaum), 335 Fleurs que j’aime (Bierbaum), Les vendanges (Delcasso / Bierbaum), Les poissons d’argent (Bierbaum), 336 Aux montagnes (Air populaire / Bierbaum), der Schule: Chant de l’écolier (Bierbaum), Vrais amis (Canon, ohne Autor), L’horloge (Bierbaum). Unter dem Text 41. Le petit guerrier et la petite sœur de charité folgt eine Retroversion Der Krieg gefolgt von 42. Le bon camarade. 337 Es wird in einer Fußnote auf den deutschen Ursprung verwiesen, ohne Uhland zu nennen: Air populaire allemand . Henri-Frédéric Amiel wird erwähnt: Trad. par Amiel. 334 Bierbaum (1910), Vorwort, S. IV. Wie im ersten Band druckt Bierbaum keine Jahreszeitenbilder in seinen Lehrbüchern ab. Er will sich fernhalten von „der sog. Bilderei. Das Anschauungsbild soll ein Abbild des Gegenstandes oder der Sache sein, die gelehrt werden soll. Der Unterrichtsgegenstand des fremdsprachlichen Unterrichts ist aber die fremde Sprache. Bilder und Bilderchen von […] Szenen und Gegenständen […] geben sicher keine Anschauung davon, so unterhaltend sie auch sein mögen. Doch das ist nicht der Zweck des Bildes. Da die Sprache auf zweierlei Weise in Erscheinung tritt, in der hörbaren durch den Klang oder den Laut, in der sichtbaren durch die Schrift (den Druck), so kann sie auch nur in dieser Doppelnatur zur Anschauung gebracht werden, nämlich durch die Stimme und die Schrift selbst. […] Sollen aber die Bilder als Grundlage zu Konversationsübungen dienen, so sind sie erst recht verfehlt, da noch das Hauptmittel dazu fehlt, die Fremdsprache selbst, die erst gelernt werden soll. Bonnenunterricht und die sog. Berlitz-Schoolmethode […] sind im Schulunterrichte zu verwerfen.“ (Ebd., S. III f.). 335 Bierbaum arrangiert zu Delcassos Melodie eine Klavierbegleitung. 336 Im Anschluss an das Lied druckt Bierbaum eine phonetische Übung in Form einer thematisch passenden Devinette und einen Zungenbrecher als Amusette zur Lautschulung ab: Devinette: Ppppppppp. Qu’est-ce que cela veut dire? - Pauvre pêcheur, prenez patience pour prendre pauvre petit poisson. - Amusette: Poisson sans boisson est poison. (Ebd., S. 24.). 337 Ebd., S. 62 f. <?page no="242"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 243 Abb. 28: Julius B ierBaum , Lehrbuch der Französischen Sprache nach der analytischdirekten Methode. Neue Bearbeitung. 1. Teil. Leipzig: Roßberg’sche Verlagsbuchhandlung 1916, S. 105, 110. <?page no="243"?> 244 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Band 3 338 ist der Textarbeit gewidmet und enthält unter dem Abschnitt Lectures françaises 67 kürzere Lesestücke, die Vorläufer der kulturkundlichen Lesebücher 339 darstellen. Bereits um die Jahrhundertwende wurden von Julius Ziehen Argumente gegen die positivistische Realienkunde für eine literaturbezogene Kulturkunde vorgebracht: „Die Realienkunde sei zu utilitaristisch; sie versäume die literarisch-ästhetische Erziehung; sie sei zu fragmentarisch, d. h. nicht genügend auf geistige Zusammenhänge gerichtet.“ 340 Das spiegelt sich auch beim Liedeinsatz wider, da nur ein von Bierbaum bearbeitetes Lied vorhanden ist. Es wurden ausschließlich Realia, hier als original französische Volkslieder und literarische Lieder als kulturhistorisches Gut verwendet. Der Band enthält fünf Lieder, deren Noten mit Klavierbegleitung wie in Band 1 und 2 zum Singen abgedruckt sind. Bis auf das erste Lied (der Canon Frère Jacques ) beziehen sich die vier anderen Lieder auf historische Lesestücke. Das zweite Lied: Le départ pour la Syrie erfüllte die Funktion einer Nationalhymne im Second Empire, da die Marseillaise verboten war . Das von der Romantik beeinflusste Lied ist um 1807 entstanden, die Melodie wird (auch bei Bierbaum) Hortense de Beauharnais, der Mutter von Napoléon III, zugeschrieben. Der eigentliche Komponist war wohl der Flötist am Hofe von Hortense Louis-François-Philippe Drouet. Der Text stammt von Alexandre de Laborde. Die ersten beiden Verse werden in Balzacs Le père Goriot zitiert. Volkslieder und Kunstlieder waren Bestandteil der Romantik, wobei in Frankreich das begleitete Sololied in der Tradition von Franz Schubert als le lied bezeichnet wird. 341 Drouets komplexe Klavierbearbeitungen mit relativ komplizierter Melodie und Rhythmus erinnern an den Charakter des von einem Komponisten geschriebenen begleiteten Sololieds. 342 Auch das dritte Lied Souvenir militaire (Text und Musik: Joseph-Denis Doche) hat eine historisch-romantische Geschichte: ein ehemaliger Offizier der napoleonischen Grande Armée trifft einen bettelnden Kriegsveteranen, der ihm einst das Leben gerettet hatte. Das vierte Lied Marche de Cadets wird im Kontext des (historischen) Textes 30. Les Allemands et les Français behandelt. Es ist das einzige von Bierbaum arrangierte Lied und geht auf den Kadettenmarsch des deutschen Komponisten und Dirigenten Albert Methfessel zurück, der gegen die napoleonische Besatzung 338 Vgl. Bierbaum (1918), S. VIII-X. 339 1925 wurde die Kulturkunde in den Richertschen Richtlinien für Preußen verankert und breitete sich auf die anderen deutschen Länder aus. Die Erklärungen zu den vier kulturkundlichen Liedern beziehen sich auf die kulturkundliche Liedersammlung Joli Tambour . Hanns Heinz e wers / Marc h enry , Joli Tambour. Das französische Volkslied . Berlin: Wilhelm Borngräber 1912. 340 Reinfried (1992), S. 211. 341 Vgl. Rauch (2008), S. 74-76. 342 Ebd., S. 75. <?page no="244"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 245 kämpfte. Auffallend ist Bierbaums anspruchsvolle Klavierbegleitung, die die literarisch-ästhetische Wirkung der Strömung der Kulturkunde widerspiegelt. Bei dem historischen Text 35. La Marseillaise sind die beiden ersten Strophen des chant national abgedruckt, allerdings ohne Noten. Das fünfte Lied ist Frédéric Bérats Ma Normandie , das im Kontext der Regionen und Städte Frankreichs behandelt wird, nach 57. La Touraine et les rives de la Loire , 60. La Corse und 61. Chateaubriands Romance . Die dargestellten Liedbeispiele aus den drei Teilen des Lehrbuchs der Französischen Sprache zeigen die Entwicklung und den Übergang vom Liedeinsatz original deutscher Melodien mit französischem Text durch Kontrafaktur (Band 2: Le bon camarade , Band 3: Marche de cadets ) zu speziell für den Französischunterricht komponierten und mit Klavierbegleitung versehenen anspruchsvollen (Kunst-) Liedern wie bei Teichmanns Ganz allein und Bierbaums Kompositionen und Arrangements, Band 1 und 2 zu original französischen Melodien und Texten mit intellektuellem landeskundlichen und kulturalistischen Schwerpunkt. Bierbaums Werk stellt also einen Mikrokosmos für die Entwicklung des Liedeinsatzes dar! Bei Bierbaum werden die traditionellen Bildbeschreibungen substituiert durch einen sofortigen Einstieg in den Lektionstext, der als Induktionstext fungiert, wobei die thematisch-lexikalische Festigung durch die selbstkomponierten, im Gesamtzusammenhang kontextualisierten und didaktisierten Lieder erfolgt. Der Erfolg der Bierbaumschen Lehrbücher im In- und Ausland (Schweiz, Schweden, Finnland) darf wohl in erster Linie auf die gesunde pädagogische Basis zurückzuführen sein, auf welcher dieselben aufgebaut sind, indem sie sich in Sprache und Inhalt genau dem Entwicklungsgange des kindlichen Geistes anschliessen. Die Sprache schreitet allmählich vom kindlich Einfachen zum Schwierigeren 343 ohne unnatürliche Sprünge vorwärts, indem sie zugleich alle Stilgattungen pflegt; die Stoffe sind stets der Lebenssphäre des kindlichen Geistes entnommen und erweitern und vertiefen sich mit seiner Entwicklung. Die Anschauung ist das Lebenselement der analytisch-direkten Methode. Durch diese wird das Interesse des Schülers stets wach erhalten und naturgemäss auch seine Freude am Lernen. 344 Die Empathie mit der kindlichen Lebenssphäre weist viele Gemeinsamkeiten mit den Philanthropen auf. Hermann Schmeck zieht Parallelen von Wolkes Sprachspielen zum Singen von Liedern: 343 Bierbaum nimmt die Prinzipien der didaktischen Progression Vom Nahen zum Fernen, Vom Eigenen zum Fremden auf. Vgl. Reinfried (1999a), S. 205. 344 Vgl. Bierbaum (1892), Anhang, S. 21 f. <?page no="245"?> 246 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Man denke hier nur daran, wie die Philanthropinisten den Kindern den Anfang leicht zu machen suchten. Welche Mühe gab sich z. B. Wolke, mit seinen Sprachspielen das erste Sprechen zu erleichtern, wenn das auch nicht eigentliche Spiele, sondern mehr von Handlung begleitete Sprechübungen bzw. Dialoge waren! Etwas Spielerei ist in gewissem Masse das Singen der Liedchen, aber eine sehr nützliche, im Hinblick auf den Vorteil, den man daraus für die Aussprache ziehen kann. 345 Hermann Schmeck wurde im Sommer 1904 zur Vertretung eines Oberlehrers an die Oberrealschule zu St. Peter und Paul in Danzig berufen. An dieser Anstalt wurde der Französischunterricht nach der Lesebuchmethode vermittelt 346 „unter Benutzung des Kühn’schen Lesebuchs.“ 347 Schmeck berichtet darüber, dass die kleinen Sextaner, denen er den franz. Anfangsunterricht zu geben hatte, mit wahrer Lust und Liebe ihre Liedchen sangen und sich gerne den wenigen vorhergehenden lautlichen Übungen hingaben, um desto besser, d. i. „französischer“ singen zu können. Welche Freude herrschte, wenn sie das kleine Liedchen singen konnten Meunier, tu dors, Ton moulin va trop vite; Meunier, tu dors, Ton moulin va trop fort! […] und zum Schlusse bei der schönen Übung der Nasalvokale in dem „ton moulin, ton moulin“ das Singen mit mittelstarkem, taktmässigem Händeklatschen begleiten konnten; - oder wenn sie das Liedchen sangen: A Paris, à Paris, Sur mon petit cheval gris; Au pas, au pas, Au trot, au trot, Au galop! mit leisem „Au pas, au pas, au trot au trot“, aber mit starkem „au galop“. 348 345 Vgl. Schmeck (1909), S. 79 f. 346 Die Lesebuchmethode war neben der Anschauungsmethode die zweite Säule der direkten Methode. Vgl. dazu S. 201, Fußnote 181 in der vorliegenden Arbeit. 347 Vgl. Karl k ühn , Französisches Lesebuch. Unterstufe . 2., verbesserte und vermehrte Aufl. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1889. Kühn nimmt neben einigen Volksliedern wie Ma Normandie und Le bon camarade vor allem die von Max Walter komponierten Kinderlieder auf. 348 Vgl. Schmeck (1909), S. 81. Schmeck bezieht sich hier auf Walters Eigenkomposition. Vgl. dazu Abb. 50 auf S. 331 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="246"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 247 Schmeck betont die Wirkung der Musik: „Das Singen, welches den Anfangsunterricht begleitete, übte, indem es Abwechslung und kindliche Freude hervorzauberte, auf den ersten Gang des französischen Unterrichtsbetriebes eine wohltuende und fördernde Wirkung aus.“ 349 Aus dieser Erfahrung heraus vertonte Schmeck - nach Bierbaums und Walters Vorbild - drei Gedichte aus Kühns Lesebuch: Nr. 48: Quand j’étais petit , Nr. 61: Le hanneton und Nr. 81: Noël (Abb. 29, S. 248). Schmeck zitiert zum Liedeinsatz in Frankreich und der deutschsprachigen Schweiz Karl August Martin Hartmann, der eine halbjährige Studienreise „im Auftrage des Kgl. Sächsischen Ministeriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts“ unternommen hatte“. 350 Hartmanns Beschreibung des „deutschen Gesangs in französischen Schulen […]“ beeindruckt Schmeck. Er favorisiert deshalb den Einsatz von Kontrafakturen deutscher Lieder im Französischunterricht in Deutschland: „Was Hartmann da den Franzosen an grossem Gewinn zukommen lässt, das kann in umgekehrter Weise auch den Deutschen gewonnen werden.“ 351 Besonders eindrucksvoll beschreibt Hartmann den Liedeinsatz im Deutschunterricht am Lycée Janson-de-Sailly in Montpellier sowie die daraus resultierende Motivation und Freude der französischen Schüler. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Phonetik, Aussprache und Intonation der auswendig zu lernenden Lieder: Das Lycée Janson ist gerade einer der Mittelpunkte, von denen aus sich der Gesang deutscher Lieder in den deutschen Unterrichtsstunden der Schulen Frankreichs verbreitet hat. An dieser Anstalt ist etwa um das Jahr 1886 die von Tavernier und Adam hergestellte deutsche Liedersammlung 352 entstanden, […], unter Anregung des damaligen Censeur M. Breitling, der jetzt das Lycée Lakanal leitet und ein großer Freund deutschen Gesanges und deutscher Musik ist, insbesonders der Wagnerschen. In ihrer Vorrede weisen die genannten Herausgeber auf die Wichtigkeit des Gesanges für den Sprachunterricht in den unteren Klassen hin: er sei das unentbehrliche Hilfsmittel einer guten, mit richtiger Betonung versehenen Deklamation; er lege das, was die Kinder gelernt haben, so in ihrem Gedächtnisse fest, daß sie es nicht wieder vergessen könnten; er gestatte es, oft und ohne Ermüdung dieselben Stücke vorzutragen; einen Text, von dem die Schüler im voraus wissen, daß er gesungen wird, nehmen sie mit ganz besonderem Vergnügen und Eifer in Angriff. 353 349 Ebd., S. 81. 350 Karl August Martin h artmann , Reiseeindrücke und Beobachtungen eines deutschen Neuphilologen in der Schweiz und in Frankreich. Leipzig: Dr. P. Stolte’s Verlagsbuchhandlung 1897. 351 Schmeck (1909), S. 82. Vgl. S. 216, Fußnote 250 zu Schmeck und „Le bon camarade“. 352 Vgl. t avernier / a dam (Hrsg.), Choix gradué de chansons allemandes avec musique et vocabulaires. Paris: Armand Colin 1896. 353 Vgl. Hartmann (1897), S. 65 f. <?page no="247"?> 248 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 29: Hermann s chmeck , Die natürliche Sprachenerlernung bei den Philanthropisten. Unter Berücksichtigung der modernen Bestrebungen auf neusprachlichem Gebiete. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1909, Anhang, o. S. <?page no="248"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 249 Als methodische Vorgehensweise empfehlen Tavernier und Adam erstens die Worte des Textes durchzugehen, dann mündliche und schriftliche Übungen mit den gelernten Worten vorzunehmen, dann rhythmisches Lesen des Textes, ferner mündliche, sowie schriftliche Übersetzung, sodann Vortrag des Liedes durch einzelne Schüler, Fragen über den Sinn der Worte und Satzglieder, gemeinsamen Vortrag, erst durch Schülergruppen, dann durch die ganze Klasse, hierauf das Singen, und endlich mündliche wie schriftliche Übersetzungen. 354 Die Vorgehensweise entspricht der Methodik des Chorsingens und spiegelt sich wider in den Preußischen Richtlinien für höhere Mädchenschulen vom 12. 12. 1908: 355 […] Aussprache. Erste Aufgabe ist die Erwerbung einer richtigen Aussprache auf Grund eines kurzen propädeutischen Kursus, der vom Laute, nicht vom Buchstaben ausgehen wird. Möglichst bald ist vom Einzellaut zu ganzen Wörtern und kurzen Sätzen zu schreiten, damit vom Anfang an auch die Bildung und Beachtung der Sprechtakte und der Satzakzent zu ihrem Rechte kommen. Es empfiehlt sich häufiges Chorsprechen und Chorsingen der gesamten Klasse oder einzelner Gruppen, wobei die Schülerinnen zur gegenseitigen Kontrolle heranzuziehen sind. 356 Wurden bis in die 1890er Jahre bei Lehmann, Wingerath und Stier noch isolierte Phoneme in Artikulationsübungen verwendet, so wird hier bei der Lautschulung eine Progression zu kurzen didaktisierten Sätzen deutlich. Der Wechsel der Sozialformen zwischen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit im Rahmen des Chorsingens bzw. Chorsprechens und die selbständige, gegenseitige Kontrolle und Hilfe zwischen den Schülern verweisen bereits in nucleo auf den Arbeitsunterricht der 1920er Jahre. Hartmann beschreibt weitere Unterrichtsbeispiele verschiedener Gymnasien (! ) und höherer Töchterschulen und hebt besonders François Jehls Deutschunterricht am Lycée Ampère zu Lyon 357 hervor: „Am Lycée Ampère fand ich eine autographierte deutsche Liedersammlung vor, die von Prof. Jehl hergestellt ist. Die hübschen Originalvignetten, mit denen jedes Lied darin versehen war, verrieten Gemüt und Humor.“ 358 Wie Bierbaum, stellt Jehl als Redemittel „Einige Ausdrücke“ 354 Die Verwendung des in der französischen Germanistik bis heute beliebten Thème oral zeigt, dass die Liedersammlung noch Elemente der deduktiven Grammatik-Übersetzungs-Methode vorhanden sind und keine völlige Einsprachigkeit vorliegt. 355 Bereits Alge hatte einen propädeutischen Vorkurs mit einer knappen Einführung in die Lautschrift eingesetzt. 356 Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 93. - Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 357 Vgl. François J ehl , Chansons allemandes (Deutsche Lieder). Paris: Hachette 1900. 358 Hartmann (1897), S. 66. Jehl (1900), S. 2 stellt ein kindgemäßes Motto als (gereimtes) Programm vor seine romantisch-verklärte Liedersammlung und fügt in seiner dédicace „Aux <?page no="249"?> 250 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung vor die Liedersammlung. Es handelt sich um die Bezeichnungen des deutschen Notensystems im Vergleich zum Guidonischen System der romanischen Sprachen. 359 Die Tempobezeichnungen werden kontrastiv wie in Stiers Sprechschule deutsch-französisch vermittelt, wobei gleichzeitig das Wortfeld für Adjektive zum Sprechanlass genutzt werden kann. Es werden bekannte prototypische Lieder verwendet, die in Deutschland dank Delcasso / Gross in der französischen Kontrafakturversion bei Lehmann, Wingerath, Stier, Alge und Schild ausgewählt worden waren wie das Lied 1. ABC und der Weihnachtsmann (Kontrafaktur 360 von Morgen kommt der Weihnachtsmann und dem ABC-Lied), 4. Der Gänsedieb (Fuchs, du hast die Gans gestohlen), 6. Zu Pferd (Hopp, hopp, hopp! Pferdchen, lauf Galopp), 7. Der Frühlingsbote (Kuckuck, Kuckuck ruft aus dem Wald), 11. Frühlingslied (Alle Vögel sind schon da), 14. Der Alpenjäger (Mit dem Pfeil, dem Bogen), 15. Der Rekrut (Wer will unter die Soldaten von Kücken), 23. Der Kamerad (Ich hatt’ einen Kameraden, siehe Abb. 30, S. 251 361 ), 28. Jägerleben (Im Wald und auf der Heide), 40. Kindermarsch (Rühret, die Trommeln und schwenket die Fahnen). petits élèves français“ ein Zitat aus Victor Hugos Contemplations voran: „Le maître, doux apôtre, incliné sur l’enfant“: Votre maître a pour vous glané ces quelques chants; Pour vous il en a fait une agréable gerbe, Pareille à ces bouquets où le pavot superbe Mêle sa pourpre au cher petit bleuet des champs. L’âme d’un peuple entier vit en ces vers touchants. Celui-ci semble un cri d’oiseau caché dans l’herbe; Cet autre est un vieux Lied naïf comme un proverbe: Vos pères le disaient en des jours moins méchants. Apprenez-les, enfants. La poésie est douce Plus que le bruit de l’eau jaillissant sous la mousse, Et vos voix ont pour nous la fraîcheur des ruisseaux. Ces chants feront pour vous nos leçons plus légères Et vous rappelleront les chansons dont vos mères Vous ont pendant longtemps bercés dans vos berceaux. 359 Vgl. zum Guidonischen System der romanischen Sprachen und dem aus der mittelalterlichen Tradition stammenden, alphabetischen System S. 47 f. in der vorliegenden Arbeit. 360 Im Folgenden wird der Titel der deutschen Originalmelodie recte angegeben und die Kontrafakturversion kursiv . 361 Die Abbildungen in der Tradition der Hölzel-Bilder dienen als Sprechanlass. Besonders die Skizze zu Der Kamerad (Abb. 30) in der mir vorliegenden Jehlschen Ausgabe von 1900 unterstreicht das Grauen des Krieges. Es stellt im romantischen Sinne Uhlands eine Warnung dar vor Elend oder Tod und kontrastiert bewusst mit dem pazifistischen, völkerverbindenden Aspekt der Lieder im Vorwort von Jehl: „Vos pères le disaient en des jours moins méchants“. (Ebd., S. 2.). Ein Bezug auf die Grauen der Guerre franco-prussienne von 1870/ 71 im Sinne von Pierre Noras lieux de mémoire wird im kollektiven Gedächtnis ersichtlich. <?page no="250"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 251 Abb. 30: Ich hatt einen Kameraden. In: François J ehl , Chansons allemandes (Deutsche Lieder). Paris: Hachette 1900, S. 32. <?page no="251"?> 252 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Oft begleitet der (französische) Deutschlehrer seine Schüler auf dem Klavier wie Bierbaum in der Tradition des begleiteten Schubertschen Sololieds der Romantik. Damit wird der Liedeinsatz auch zur kulturellen Folie 362 und verweist auf die Folientherie der Kulturkunde. Hartmann berührt das Singen der ihm bekannten Lieder (seiner Jugend), die für ihn zum Erinnerungsort 363 geworden sind: Die Lieder, die bei uns alle deutschen Kinder erfreuen, das Kuckuckslied, der Tannenbaum, Mit dem Pfeil und Bogen, die Abendsonne, Im Wald und auf der Heide u. a. m. wurden von den Klassen mit wirklicher Freude gesungen. Auf mich selbst wirkte der Gesang manchmal fast elektrisierend und ich ertappte mich mehreremale, wie ich das eine oder andere dieser Lieder leise vor mich hin mitsang. 364 Die Lieder werden vorwiegend in den unteren Klassen eingesetzt und bewegen die Schüler emotional: Was die Klassen anbelangt, in denen man singen läßt, so sind es meistens die untersten, die Neuvième, Huitième oder Septième der Gymnasien, oder die entsprechende Stufe der höheren Töchterschulen. Ich habe untere Gymnasialklassen gefunden, wo die Gesichter der Jungen vor Vergnügen förmlich glänzten, wenn sie Hopp! Hopp! Hopp! Pferdchen lauf Galopp! oder Ähnliches anstimmen durften. In Lyon hat M. Jehl die Gewohnheit, den Schülern 362 Vgl. zur Folientheorie S. 423 f., Fußnote 217 in der vorliegenden Arbeit. 363 Der Begriff des Erinnerungsortes geht auf Pierre Noras siebenbändiges Werk: Les Lieux de mémoire zurück. Für Nora kristallisiert sich das kollektive Gedächtnis der französischen Nation bzw. einer sozialen Gruppe an bestimmten Orten, die prägend für die Erinnerungskultur sind. Dabei kann ein Erinnerungsort nicht nur einen Ort, sondern auch eine historische Persönlichkeit, eine Institution, ein Kunstwerk etc. verkörpern. Die (aufgeladene) symbolische Bedeutung dieser Erinnerungsorte schafft eine identitätsstiftende Wirkung. 2001 erschien in Deutschland das dreibändige Werk Deutsche Erinnerungsorte , für dessen Band 3 Pierre Nora das Nachwort geschrieben hat: „Die Frage, ob das Konzept der lieux de mémoire, das vor zwanzig Jahren in Frankreich erarbeitet wurde, auch auf andere nationale Modelle übertragbar sei, ist fortan überflüssig. Die Frage stellt sich heute nicht mehr, denn unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt - Tatsache ist, daß sich dieses Konzept als übertragbar erwiesen hat. Daß es sich in den Niederlanden, in Spanien, Italien, Israel, Rußland und nun auch in Deutschland als fruchtbar erwiesen hat; daß es als Hebel zur Erneuerung der nationalen Geschichtsschreibung zu dienen scheint - all das beweist, daß es einem Bedürfnis nach einer anderen Sicht der Vergangenheit und der Identifizierung ihrer symbolischen Konstanten nachgekommen ist.“ - Vgl. Pierre n ora , Nachwort. In: Étienne F rançois / Hagen s chulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. III . München: Beck 2001, S. 681. - In diesem Sinne kann Le bon camarade auch als lieu de mémoire im kollektiven Gedächtnis sowohl der Deutschen als auch der Franzosen gelten. 364 Vgl. Hartmann (1897), S. 66. <?page no="252"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 253 seiner Neuvième ein neues Lied zu versprechen, wenn sie gut gelernt haben, und die Jungen freuen sich schon im voraus darauf. 365 Vereinzelt gibt es auch den Liedeinsatz in höheren Klassen: Ganz vereinzelt fand ich den Gesang auf einer höheren Stufe. So erinnere ich mich, in einer Quatrième mod. des Lycée Voltaire in Paris bei M. Weill Uhlands 366 Sänger im Chore singen 367 gehört zu haben, und habe davon den Eindruck einer recht gelungenen Leistung behalten, wenn der Lehrer auch einige Aussprachefehler 368 zu monieren hatte. Hartmann unterstreicht die Sonder- und Vorreiterrolle des (nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 zum Deutschen Reich gehörenden) Elsass bei der Verbreitung des Liedeinsatzes im (französischen) Deutschunterricht: Wenn nicht alles trügt, ist der deutsche Gesang bestimmt, sich noch weiter im deutschen Sprachunterrichte der französischen Schulen zu verbreiten, und die Elsässer sind in dieser wie in vielen anderen Beziehungen die geborenen Vermittler. Daß sie dem deutschen Liede eine Stätte in Frankreich bereitet haben, dafür dürfen wir ihnen wohl dankbar sein. Unser Lied ist eine Macht, deren Zauber sich auch französische Gemüter nicht verschließen können, und die unleugbar einen Zugang in die innersten Tiefen unserer Volksseele eröffnet. Die französische Generation, die in ihrer Kindheit deutsche Lieder gesungen hat, hat dadurch eine auf anderem Wege unerreichbare Kenntnis unseres Volkstums gewonnen. 369 365 Ebd. - Die Klassenstufen sind vergleichbar mit den (heutigen in Deutschland entsprechenden) Klassen der Unterstufe der dritten, vierten und fünften Klasse. 366 Es handelt sich um Uhlands „Guten Kameraden“. 367 Im preußischen Lehrplan für die Mittelschule vom 3. 2. 1910 wird auf die Aneignung einer korrekten Aussprache durch Chorsprechen und Chorsingen verwiesen: „Der Aneignung einer guten Aussprache ist auf allen Unterrichtsstunden die größte Sorgfalt zu widmen. Beständig ist die Aussprache zu überwachen und zu verbessern, wobei in steigendem Maße die Schüler selbst herangezogen werden. Chorsprechen, auch Chorsingen wird fleißig benutzt. Anforderungen an Sicherheit, Fluß und Betonung werden angemessen gesteigert.“ (Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 100.). Die Schüler korrigieren sich dabei auch gegenseitig und werden so für eine korrekte Aussprache sensibilisiert. Die Lieder sollen auswendig gelernt werden und es wird auf eine Kooperation mit dem Gesanglehrer hingewiesen wie schon in Mayers Programmschrift zu Oldenburg. (Mayer 1851, S. 9). Im preußischen Lehrplan für Mittelschulen werden diese Forderungen aufgenommen: „Kurze Prosastücke und Gedichte werden in beschränkter Zahl auswendig gelernt und ausdrucksvoll, aber natürlich vorgetragen, einzelne Lieder, deren Melodien in der Gesangstunde eingeübt werden, auch gesungen“. (Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 100.). 368 Vgl. dazu die Preußischen Richtlinien für höhere Mädchenschulen vom 12. 12. 1908 in Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 93. 369 Vgl. Hartmann (1897), S. 66 f. <?page no="253"?> 254 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Hartmanns Zitat verweist damit bereits auf die Vertreter einer „Landeskunde, die im Gegensatz zur realienkundlichen Konzeption stärker auf das ‚große Kulturleben des Volkes‘ ausgerichtet war“ und die als Kulturkunde „1925 in den Richertschen Richtlinien verankert“ 370 wurde und sich auf alle deutschen Länder ausdehnte. Max Löwisch fasst die Debatte zwischen Realien- und Kulturkunde in der folgenden Frage zusammen: Handelt es sich bei der Zeichnung des französischen Volksbildes mehr um Litteratur, oder um „Realien“, mehr um nationalgefärbte oder um international gefärbte Realien, um Vergangenheit oder um Gegenwart, um das kleine idyllische Volkstum oder um das große Kulturleben des Volkes? Die erste Frage, die zur Entscheidung steht, heißt: Litteratur im engeren Sinne, d. h. schöne Literatur oder Realien? “ 371 Löwisch stellt im Sinne der Folientheorie einen deutsch-französischen Kulturvergleich am Beispiel der Lyrikbehandlung an: Bei einer solchen Betrachtung ist scharf und deutlich zu sehen, wie anders die Stellung der französischen Lyrik zum französischen Volksbild ist, als die Stellung der deutschen Lyrik in unserer nationalen Kultur. Das deutsche Volkslied, die Schiller’sche Gedankenlyrik, die großartige Lyrik der Freiheitskriege (Marseillaise), auch die Uhland’sche Lyrik mit ihrer liebevollen Versenkung in die Vergangenheit des eigenen Volkes [vgl. Uhlands romantisierende Darstellung des „guten Kameraden“, A. R.], unsere herrliche Balladendichtung haben z. T. keine, z. T. keine genaue Entsprechung in der schulmäßigen französischen Litteratur, und das ist auch der Beitrag, der sich nach der negativen Seite für das Volksbild ergibt. 372 Diese Debatte mündete in der Weimarer Republik in folgenden Kompromiss: „die kulturkundliche Variante bestimmte die Arbeit auf der Oberstufe, die soziokulturelle Variante drang in größerem Umfang in die Lehrbücher der Mittelstufe ein.“ 373 370 Vgl. Reinfried (1992), S. 210 f.; Max l öwisch , Das Volksbild im französischen Unterricht. Ein Beitrag zur Wahl und Anordnung des französischen Sachunterrichts. In: Jahres-Bericht des Großherzoglichen Realgymnasiums zu Eisenach . Ostern 1902, Eisenach (Programm 1902, Nr. 754), S. 3-30; Walter a Pelt , Die kulturkundliche Bewegung im Unterricht der neueren Sprachen in Deutschland in den Jahren 1886 bis 1945. Ein Irrweg deutscher Philosophen . Berlin (Ost): Verlag Volk und Wissen 1967, S. 54. 371 Löwisch (1902), S. 3. 372 Ebd., S. 19. 373 Reinfried (1992), S. 210. - Obwohl, wie oben dargestellt, die Ursprünge der direkten Methode von Deutschland ausgegangen sind, gab es dort keine verbindlichen Erlasse. (Reinfried 1992, S. 101.). In Frankreich wurde die direkte Methode durch die Erlasse vom 15. 11. 1901 und 31. 05. 1902 des französischen Ministre de l’Instruction et des Beaux-Arts , Georges Leygues, dekretiert. Der erste Erlass, der an die recteurs de l’Université gerichtet war, unterstreicht, dass „Nos bons élèves font bien les versions et les thèmes, mais peu <?page no="254"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 255 Diese Entwicklung spiegelt sich auch wider in den Veröffentlichungen des Oberlehrers am Vitzthumschen Gymnasium zu Dresden Albrecht Reum. Hartmann zitiert Reum bezüglich des Singens in der Unterstufe: Nicht nur vom Standpunkte des „pueris dant crustula blandi doctores“ ist das gelegentliche Singen von Liedern besonders in der französischen Stunde zu empfehlen, sondern auch unter den sprachlichen Gesichtspunkten, wie der sangeskundige Reum im Vorwort seines Französischen Lehrbuchs für die Unterstufe“ treffend betont. „Das Singen, sagt er, „fördert nicht nur die Deutlichkeit der Aussprache im Allgemeinen dadurch, dass die Schüler den Mund dabei besser öffnen müssen als beim Sprechen, es beweist nicht nur überzeugend den vokalischen Charakter der d’entre eux seraient capables de rédiger sans effort une correspondance ou de soutenir une conversation. Or, le but principal de l’enseignement des langues étrangères est d’apprendre à les parler et à les écrire. […]. Au lycée et au collège, les langues vivantes ne doivent donc pas être enseignées comme les langues mortes […]. Il faut employer une méthode qui donnera le plus rapidement et le plus sûrement à l’élève la possession effective de ces langues [vivantes, A. R.]. Cette méthode, c’est la méthode directe. S’inspirant des moyens naturels par lesquels l’enfant apprend sa langue maternelle, elle comporte peu de syntaxe et moins encore de philologie. Elle consiste surtout en exercices oraux, conversations, récits, lectures, explications d’auteurs et de textes usuels, ces exercices étant les plus propres à mettre à la disposition de l’élève un vocabulaire étendu, à l’habituer à la prononciation et à la construction rapide des phrases. (Eduard k oschwitz , Zwei Erlasse des französischen Kultusministers. In: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht. 1. Jg., 1902, S. 65.). Der zweite Erlass präzisiert die Instructions in 15 Punkten, wobei besonders auf eine korrekte Aussprache hingewiesen wird: „5. La methode orale fait tout d’abord l’éducation de l’oreille et des organes vocaux. Elle se fonde essentiellement sur la prononciation. Donner aux élèves une bonne prononciation sera donc la première tâche du professeur.“ Dabei setzt der Lehrer verstärkt Realia ein: „13. Indépendamment de la langue elle-même, le pays étranger, la vie du peuple qui l’habite, fourniront plus particulièrement la matière de l’enseignement. A cet effet on se servira utilement de cartes géographiques, de vues, de journeaux, de revues, de collections pour bibliothèques scolaires etc.“ Der Unterricht sollte in der Fremdsprache stattfinden: „Dans tout le cours des études, le professeur se servira surtout de la langue étrangère: il s’interdira l’usage de la langue française, sauf dans le cas où elle lui est indispensable pour rendre ses explications plus claires, plus courtes et plus complètes.“ (Koschwitz 1902, S. 67.). Als Vertreter der Reformgegner hofft Koschwitz darauf, dass die direkte Methode in Deutschland nicht gesetzlich verankert wird: „Nun können wir schliesslich nicht den Ausdruck des Bedauerns unterdrücken, dass nunmehr auch die französische Schuljugend zum Experimentierobjekt von allerlei Methodenkünstlern gemacht werden soll […]. Für die direkte Methode bedarf es ja keiner Philologen; im Gegenteil, […] philologische Durchbildung ist für einen neusprachlichen Lehrer, wie sie ihn verlangt, eher ein Hindernis. Zu den deutschen Kultusministern hegen wir aber das Vertrauen, dass keiner von ihnen auf denselben unglücklichen Gedanken kommen wird, gleichzeitig den neusprachlichen Unterricht auf den höheren Lehranstalten bewusst seines bildenden Wertes [zu] berauben […].“ (Koschwitz 1902, S. 67.). <?page no="255"?> 256 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Nasallaute, sondern es verbreitet auch über die Bedeutung und Aussprache der Silben mit dumpfem oder stummem e im französischen Verse gleich auf der untersten Stufe eine Klarheit, die sich durch keine gelehrte Auseinandersetzung so vollkommen erreichen lässt. Dieses musikalische Element der französischen Poesie kann eben nur die Musik dem Verständnisse erschliessen.“ 374 In seinem Vorwort zum Französischen Übungsbuch für die Vorstufe betont Reum speziell für die Quarta der Gymnasien, den Schüler von Anfang an zu veranlassen, französisch zu denken.“ 375 Dafür führt er kurze Lesestücke und Gedichte an wie Tourniers Le ruisseau. Das Gedicht Fleurette des Dichters und Professors für französische Literatur zu Berlin Charles Marelle ist eine Übertragung des Heidenrösleins von Goethe, das so populär war, dass es als deutsches Volkslied auch in französischer Kontrafaktur gesungen wurde. Seit der Romantik verbreitete sich das Volkslied als Kunstlied von Franz Schubert mit veränderter (komplizierterer) Melodie und rhythmisierter Klavierbegleitung. 376 Der kulturkundliche Aspekt in Bezug auf den Liedeinsatz wird in Reums Französischem Übungsbuch für die Unterstufe an Realgymnasien 377 deutlich. Das Übungsbuch beginnt mit dem Schwerpunkt La salle d’école , wobei Sprechübungen, Dictées und Questionnaires einander abwechseln. Der zweite, literarische Teil des Lehrbuchs bezieht sich in seinen Morceaux choisis auf den ersten Teil und folgt wie Schild einer Progression in konzentrischen Kreisen. 378 Nach einem Dialog 1. En allant à l’école wird der Text 2. En classe abgedruckt, wobei Vokabelerklärungen und -semantisierungen auf französisch gegeben werden. Es wechseln sich die aus den Sprechübungen bekannten Dialoge ab mit Kurztexten wie einem Brief an die Eltern und Gedichten von Tournier und Vinet. Aus Louis Ratisbonnes La Comédie des Enfants 379 ist das Gedicht La diligence abgedruckt, das sich auf die Rubrik Voyage im ersten Teil des Lehrbuch bezieht. Louis Tourniers 380 La petite 374 Hartmann (1895), S. 19. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 375 Vgl. Albrecht r eum , Französisches Übungsbuch für die Vorstufe unter Benutzung von vier Hölzelschen Wandbildern für den Anschauungs- und Sprachunterricht. 2., vermehrte und verbesserte Aufl. Bamberg: C. C. Buchner Verlag Rudolf Koch 1899, Vorwort, S. V. Vgl. dazu auch Teichmanns Französisch Sprechen und Denken und S. 217 in der vorliegenden Arbeit. 376 Vgl. Rauch (2008), S. 75. 377 Albrecht r eum , Französisches Übungsbuch für die Unterstufe. Ausgabe für Realgymnasien. Bamberg: Buchner 1911. 378 Vgl. zu Schilds Progression in konzentrischen Kreisen S. 230, Fußnote 279 in der vorliegenden Arbeit. 379 Vgl. dazu die Verwendung von Ratisbonnes Texten bei Louvier in der vorliegenden Arbeit auf S. 178. 380 Der Schweizer reformierte Theologe Louis Tournier verfasste mehrere Gedichte und Lieder in seiner Tätigkeit als Katechet am Auditoire de Calvin . Er trug dabei „viel zur Erneue- <?page no="256"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 257 École 381 ist dabei vollständig auf drei Seiten mit französischen Semantisierungen abgedruckt. 382 Das Gedicht thematisiert den spielerischen Umgang mit Literatur und Poesie und stellt in einer Mise en abyme den Unterricht aus Sicht der Schüler dar, die den Unterricht nachahmen, sich gegenseitig in die Lehrer- und Schülerrolle begeben. Hierbei werden bereits Elemente der Arbeitsschule 383 deutlich. Tourniers bereits typographisch hervorgehobene humoristische Anspielungen werden von Reum in Anmerkungen erklärt. 384 Die von Tournier genutzten „Realia“ der französischen Guidonischen Notation werden dann nach der Folientheorie gewissermaßen als Folie der Perspektive der deutschen Schüler und ihrem musikalischen Vorwissen des germanisch-angelsächsischen Systems verglichen. 385 Reum gibt in einer Anmerkung folgenden Arbeitsauftrag: „Das Lied muß beim Vortrag des Gedichtes wirklich gesungen werden.“ (Abb. 32). rung der Liturgie der ref. Genfer Landeskirche 1861 bei.“ Vgl. Toni c etta , Louis Tournier. In: Historisches Lexikon der Schweiz. URL: www.hls-dhsdss.ch/ textes/ d/ D11237.php 381 Vgl. Louis t ournier , Les Chants de la jeunesse. Poésies. Paris: Meyrueus & Grasset, Genève: Émile Beroud 1865, S. 32-35. In seiner dédicace schreibt Tournier: „Autant et plus que l’âge mûr, peut-être, l’enfance et la jeunesse ont besoin de poésie. C’est à ce besoin que j’ai essayé de répondre, pour ma faible part, en publiant il y a quelques années les Enfantines. Les Chants de la Jeunesse sont une tentative du même genre en vue d’âge un peu plus avancé. Puissent les enfants et les jeunes gens, à qui ces pages sont destinées, trouver à les lire avec autant de bonheur que j’en eus moi-même à les écrire en songeant à eux! “ (Ebd., Préface, S. 1.). 382 Vgl. Reum (1911), S. 80 ff. und Abb. 31 auf S. 258 in der vorliegenden Arbeit. 383 Vgl. zur gegenseitigen arbeitsteiligen Berichtigung unter den Schülern und die Kontrolle der Aussprache Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 93. 384 So verwechselt die Schülerin Henriette in einer Fabel von Lafontaine „en ce pressant besoin“ mit „en ce commun besoin“. (Vgl. Tournier 1865, S. 33; Reum 1911, S. 81 und Abb. 32, S. 259 in der vorliegenden Arbeit.). 385 Reum gibt auch intertextuelle und kulturkundliche Erklärungen zum französischen Notationssystem „d’après la méthode Chevé“: „Chevé empfahl eine vereinfachte Methode im Gesangsunterricht, wobei er den Text durch die Notennamen do, ré, mi, fa, sol, la, si ersetzte.“ (Ebd., S. 128 und S. 47 in der vorliegenden Arbeit.). Émile-Joseph-Maurice Chevé nutzte eine auf Ziffern-Notation ausgelegte Musik, die sich an den von Rousseaus Zahlentonschriften inspirierten Arbeiten des Musikktheoretikers Pierre Galin orientierte. Die Methode Galin-Chevé-Paris wurde von Chevés Sohn Armand unter der als musique chiffrée bekannten Notationsmethode fortgesetzt. (Siehe zur Beschreibung der Methode Émile c hevé , Coup de grâce à la routine musicale. À l’occasion d’un nouveau rapport de la Commission spéciale de surveillance de l’enseignement du chant, dans les écoles communales de la ville de Paris. Paris: chez l’auteur, 5, rue Neuve-des-bons-enfants 1851.). <?page no="257"?> 258 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 31: Albrecht r eum , Französischen Übungsbuch für die Unterstufe. Ausgabe für Realgymnasien. Bamberg: Buchner 1911, S. 80 f. <?page no="258"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 259 Abb. 32: Albrecht r eum , Französischen Übungsbuch für die Unterstufe. Ausgabe für Realgymnasien. Bamberg: Buchner 1911, S. 128. <?page no="259"?> 260 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung „Es ist übrigens kein ‚air nouveau’, sondern das allen bekannte Lied ‚Morgen kommt der Weihnachtsmann.“ 386 Die Verwendung von Melodien, die allen Schülern bekannt sind, ist Grundlage des Kontrafakturverfahrens, das auch hier Anwendung findet. Wie Bierbaum komponiert auch Reum selbst und erstellt komplexe polyphone Klavierbegleitungen, die an die Schubertsche Tradition des begleiteten Sololieds der Romantik erinnert. Dieser komplexe Liedeinsatz unterstreicht die kulturkundlichen Elemente bei Reum. Zum Air populaire 32. Aux montagnes 387 erstellt er eine variationsreiche, rhythmisierte Version. Mit 33. Le petit ruisseau komponiert Reum ein romantisch-emotionales Lied in As-Dur 388 , das durch seinen abwechselnden Rhythmus und das belebte Tempo (Allegretto) die Bewegung des petit ruisseau nachahmt. Durch die Melodie wird das Lied für die Schüler anschaulich und plastisch erfahrbar. Reum ermuntert so seine Schüler, den (Arbeits-) Unterricht aktiv mitzugestalten. Neben Reums Eigenkompositionen wird das Kinderlied L’hirondelle von Claude Augé abgedruckt und Ma Normandie als Air populaire . Reum komponiert zu der bekannten Melodie von Bérat eine zweite Stimme. Das gilt auch für Augés Le réveil , bei dem nicht nur die Bezeichnungen Allegro. Allegremente 389 gegeben werden, sondern eine zur Präzisierung genaue Metronomangabe ♩ = 116. 390 Diese Angaben werden auch bei historischen Stücken der Musikgeschichte gegeben wie in 29. Air und 30. Hymne. Das Air ist ein „Morceau extrait du Devin du village , opéra pastoral de J.-J. Rousseau.“ 391 Reum gibt also den kulturgeschichtlichen Hintergrund seiner Musikbeispiele an, um einen freien Sachunterricht 392 zu ermöglichen. Bei 30. Hymne „Chœur extrait de Judas Macchabée, oratorio de Hændel“ 393 können die Schüler mit musikgeschichtlicher Grundbildung aus der Bezeichnung Moderato Maestoso die majestätisch getragene hymnische Stimmung erfassen, was 386 Das Lied wurde auch von Jehl als erstes Lied in seiner Liedersammlung als ABC-Lied abgedruckt. Vgl. S. 250 in der vorliegenden Arbeit. 387 Vgl. Reum (1911), S. 86-88. 388 Sowohl Tongeschlecht als auch Melodie und Rhythmus ahmen die Bewegung des ruisseau nach. Reums Le petit ruisseau verweist auf die symphonischen Dichtungen, wie Debussys La mer , bei denen versucht wurde, außermusikalische Inhalte mit musikalischen Mitteln zu beschreiben. Hierbei gelingt es Reum, eine Empathie der Schüler für den fremdsprachlichen Unterrichtsgegenstand herzustellen. 389 Die seit dem 17. Jahrhundert angegebenen italienischen Tempobezeichnungen ließen einen relativ großen Interpretationsspielraum. 390 Vgl. Reum (1911), S. 85 f. 391 Ebd., S. 84. Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 107, Fußnote 307 die Parallele zu Rousseaus Le devin du village und Hauchecornes didaktisierter Fortsetzung von Grétrys opéra-ballet Zémire et Azor . 392 Löwisch (1902), S. 21-25. 393 Vgl. Reum (1911), S. 84. <?page no="260"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 261 auch die Metronomangabe unterstreicht: ♩ = 76. Der zweistimmige Chorsatz ist vollständig abgedruckt. Es werden sowohl musikspezifische (wie die Ligatur) als auch sprachspezifische suprasegmentale Elemente wie die Liaison angegeben. Analog zur Anschauungsmethode für den neusprachlichen Unterricht entwickelte die Musiklehrerin Luise Krause aus Schwerin ihre Musik- Anschauungsmethode. 394 Am 20. Oktober 1896 begründete sie unter Mithilfe der ersten Musiker die Schweriner Musikschule unter dem Protektorate der Frau Grossherzogin Marie. Sie machte […] die Methode dem Schulgesange nutzbar, indem sie die Note vergrösserte und hatte die grosse Freude, dass die Erfolge überall, wo die Methode Anwendung findet, durchschlagend sind. 395 „Diese Erfindung besteht aus einem dem heutigen Notenduktus entsprechenden beweglichen Notenmaterial.“ 396 Nun handelt es sich dabei aber nicht nur um einen “Notenspielkasten“: Der Zauber des Neuen liegt in der Anwendung zunächst innerhalb des Klavierunterrichts und in der durch consequente Selbstthätigkeit des Kindes erzielten geistigen Anschauung, ich füge gleich hinzu, mit fabelhaften, überraschenden Erfolgen. Nach dem Pestalozzischen Grundsatz „Anschauung ist die Grundlage aller Erkenntnis“, wird der Schüler mit Hilfe des Apparates herangezogen, alle Uebungen und Stücke durch pädagogische Frageleitung im Bilde wiederzugeben nach der analytischen Methode. 397 Krause verbindet also die von Kant beschriebenen und bei Louvier angewendeten Prinzipien der Anschauung mit Bierbaums Konzept der analytisch-direkten Methode. In Analogie zu den Sprachfertigkeiten leitet sie folgende methodisch-didaktische Forderungen für den (Musik-) Sprachunterricht ab: Nichts als fünf Linien und das lose Material sollen gegeben werden, nur dann wird das Kind fühlen, daß es selbst Musik machen kann und das selbst geschaffene 394 Vgl. Ludwig r iemann , Die Musik-Anschauungsmethode der Frau Dr. Krause. In: Oskar F leischer (Hrsg.), Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft. 3. Jahrgang 1901 / 1902, Heft 3, 1901. Leipzig: Verlag von Breitkopf & Härtel. 395 Sophie P ataky , Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren, nebst Bibliographieen der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme . Pforzheim: Antiquariat Peter Kiefer 1987 (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1898), S. 453. 396 Riemann (1901), S. 147. 397 Riemann (1901), S. 147 f. <?page no="261"?> 262 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Bild mit Freuden auf dem Klavier, der Violine oder mit der Stimme wiederholen. Lehrt es Lesen und Schreiben wie überall, wo ein Lehrgegenstand vorgeführt wird, erklärt ihm seine Musiksprache, die sich aufbaut, wie Alles, was ihm bekannt ist. Es schreibt ja Buchstaben, nun schreibe es Noten; Buchstaben in der Zusammensetzung bringen Laute, Noten Intervalle; Laute werden zu Worten, Intervalle zu Akkorden. Man versuche nur das Interesse zu wecken, und das Kind wird Fragen thun, die man bisher für unmöglich hielt, die aber beredtes Zeugnis geben von seiner Aufmerksamkeit und Fassungsgabe. Es fühlt bald, welche Töne zusammengehören, welche sich ausschließen und empfindet nach kurzer Zeit Freude, das selbständig an neuen Stücken zu erproben 398 . Wenn das Kind weiß, was es zu spielen hat, wird jeder fehlgegriffene Ton von ihm selbst erkannt. 399 Bei jedem Unterrichtsgegenstande ist man bemüht so zu lehren, daß auf der Grundlage später selbsttäthig aufgebaut wird. Verhelfe man doch der Musik zu dem gleichem Rechte! 400 Analog zur direkten Methode, bei der im Rahmen der Anschauungsmethode mit dem Einsatz von Bildern versucht wurde, die klassisch-deduktiven Vermittlungsformen der Grammatik-Übersetzungs-Methode zugunsten einer imitativ-induktiven, anwendungsorientierten Methode zu ersetzen, stellt Krause das (Musik-) Sprachsystem mit ihrer Musik-Anschauungsmethode in einer Form der direkten Methode anhand von rhythmischen Bildern dar: Es ist aber keineswegs der Unterrichtsstoff, der die Schüler ermüdet, vielmehr seine Unfähigkeit, dem Lehrer zu folgen, was die Theorieklassen so vieler Institute leer macht. Es fehlt eben der solide Untergrund. Um die Kleinen durch gründliche musikgrammatikalische Kenntnisse zu fördern, schuf ich verkörperte Notentypen, eine genaue Nachahmung der gesamten Notenschrift, lege den Kindern ein Liniensystem vor und entwickele, ehe ich sie ans Klavier bringe, an Volksliedern orientierte rhythmische Bilder, die sie nachher in ihren Klavierschulen freudig wieder begrüßen. Daß die Kinder dann auf der Leiter in Form des vergrößerten Liniensystems die Töne nach Höhe und Tiefe bestimmen lernen, 401 ist klar 398 Hierbei handelt es sich um das imitative Lernen. 399 Man erkennt Parallelen zur Fehlerkorrektur in der Aussprache: Schüler, die das Lautsystem und die Ausspracheregeln des Französischen beherrschen, werden Fehler vermeiden. 400 Luise k rause , Zum Anschauungsunterricht in der Musik (Krause 1901a). Schwerin: Heuberger. Zitiert in Riemann (1901), S. 148. 401 Wolfgang Froese kreiert in seiner Liedersammlung En chantant neben den Chansons traditionnelles selbst geschriebene Chansons didactiques. Bei der Einführung des französischen Alphabets bedient er sich einer Form der Krauseschen „Musik-Anschauungsmethode“: Die Buchstaben werden kindgemäß auf den T-Shirts von Kindern dargestellt, die auf einem Seil tanzen. Die (Buchstaben-) Kinder, die aus der Reihe tanzen, werden im Französischen anders gesprochen. Dabei entsprechen die Buchstaben-Kinder den vergrö- <?page no="262"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 263 und erregt das lebhafte Interesse der Schüler, die das Gelernte sofort niederzuschreiben vermögen in den quadratierten Notenheften. Auf diese Weise lernt das Kind Sehen und Buchstabieren, ehe es an die technische Ausführung denkt; das einfachste Stück wird in allen seinen Einzelheiten besprochen, und wenn man nun die Technik die ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt, dann wird dieselbe durch nichts Unbekanntes abgelenkt. 402 ßerten Anschauungs-Noten bei Krause. Wie bei Luise Krause folgt erst nach dieser Anschauung die Präsentation des ABC-Lieds Chanson a, b, c mit konventionell-klassischer Notenschrift (Abb. 33, S. 264). Als Höhepunkt der Progression von den Buchstaben-Kindern über das Chanson a, b, c folgt die von Froese geschriebene chanson didactique Salut, ça va? , die mit einem appareil didactique (Bildbeschreibung, Frage-Antwort-Spiel und Angabe der Harmonien für Gitarre zum eigenaktiven Handeln der Schüler anregt (Abb. 34, S. 265). Froeses Salut, ça va? wurde in mehreren Französisch-Lehrwerken abgedruckt wie das im Klett-Verlag erschienene mehrbändige Lehrwerk Découvertes . (Froese 1989, S. 3, und Monika B eutter (Hrsg.), Études françaises - Découvertes 1. Série jaune. Cahier Première langue. Stuttgart: Klett 1996, S. 2.). 402 Luise k rause , Populäre Harmonielehre (Krause 1901b). Leipzig: Junne. o. J. Zitiert nach Riemann (1901), S. 148. <?page no="263"?> 264 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 33: Monika B eutter (Hrsg.), Études françaises-Découvertes 1. Série jaune. Cahier Première langue. Stuttgart: Klett 1996, S. 2. <?page no="264"?> II. 2 Wegbereiter der neusprachlichen Reformmethode 265 Abb. 34: Wolfgang F roese , En chantant. Chansons didactiques et traditionnelles. Begleitheft . Stuttgart: Klett 1989, S. 3. <?page no="265"?> 266 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Riemann fasst die Bedeutung von Luise Krauses Musik-Anschauungsmethode für den modernen Unterricht wie folgt zusammen: Das bewegliche Notenmaterial dient der Jugend zunächst als Spielzeug wie jeder sonstige Spielkasten. 403 Während bei diesem das Kind sich in der Regel selbst überlassen bleibt, erfährt es bei jenem merklos 404 eine spielende Unterweisung und Leitung. Die stete Selbstthätigkeit muß darum bei richtiger Führung derart zu einer Anschaulichkeit der Musiktheorie führen, daß die Anwendung auf das praktische Klavierspiel nicht allein mühelos gelingt, sondern auch zu einer freudigen Tätigkeit gestempelt wird. […] „In die Schule muß es hinein! “ ist das Losungswort aller Freunde dieser Methode. 405 II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ und das Vordringen von Sprech- und Gesangstechniken im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung Viëtors 1882 unter dem Pseudonym Quousque tandem 406 erschienene Streitschrift Der Sprachunterricht muß umkehren 407 stellt einen Paradigmenwechsel dar, der als „début de la Querelle des Anciens et des Modernes en didactique des langues“ 408 für den modernen Fremdsprachenunterricht in die Geschichte eingegangen ist. Viëtors Pamphlet ist von Breymann als „Trompetenstoß der Reform“ 409 bezeichnet worden. Die Schrift „setzte Signale, wie sie in der Fremd- 403 Vgl. zum Einfluss des freudvollen, spielenden Lernens bei den Philanthropen S. 98 und 101 in der vorliegenden Arbeit. 404 Vgl. zum inzidentellen Lernen S. 146, Fußnote 489, S. 191, 231, Fußnote 285 in der vorliegenden Arbeit. 405 Vgl. Riemann (1901), S. 149. 406 Viëtors Pseudonym leitet sich vom Incipit , dem Beginn der ersten vier Reden Ciceros gegen Catilina, ab: „Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? “ („Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld noch missbrauchen? “). 407 Wilhelm v iëtor , unter dem Pseudonym q uousque t andem , Der Sprachunterricht muß umkehren! Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage. 2., um ein Vorwort vermehrte Aufl. Heilbronn: Henninger 1886. (1. Aufl. 1882). 408 Marcus r einFried , La phonétique et le mouvement réformiste dans l’enseignement du français en Allemagne 1878-1910 (Reinfried 1999c). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde , n°19, 1997, S. 184. 409 Breymann zitiert hierbei Münch: „Viëtors Verdienst ist es, die nspr. Reformbewegung, wenn auch nicht veranlasst, so doch ganz wesentlich gefördert zu haben. Seine Schrift, so sagte einmal Münch, wirkte wie ein Trompetenstoss zum Aufrütteln von Schläfern sehr gut geeignet.“ (Breymann 1895, S. 6.). Die mittlerweile zum geflügelten Wort unter Fachdidaktikern avancierte berühmte Metapher stammt aus Wilhelm Münchs Rezension zu Julius Bierbaums Schrift, Die Reform des fremdsprachlichen Unterrichts : „Der <?page no="266"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 267 sprachendidaktik seither wohl nie wieder von einer Publikation im Umfang eines Zeitschriftenaufsatzes gesetzt worden sind.“ 410 „30 Jahre vor Saussures Cours de linguistique générale rückt Quousque Tandem das Sprechen ins Zentrum des Interesses.“ 411 Moritz Trautmann konstatiert in einem Aufsatz: „[…] die aussprache des englischen und französischen, welche bis jetzt in der grossen mehrzahl unserer schulen gehört wird, ist wahrhaft grauenvoll.“ 412 Wie bei Stiers Collégien français dargestellt (Abb. 20, 215), knüpft Trautmann an die Parallele von Sprache und Musik an und erklärt die Lautphysiologie der Vokale anhand von Noten (Abb. 35, S. 271): Die vokale sind eigentümlich gefärbte töne unserer Stimme. Die eigentümliche färbung wird dadurch erzeugt, dass wir bei hervorbringung der verschiedenen vokale unserer mund- und rachenhöhle verschiedene anordnungen geben. […] Die verschiedenen mundstellungen dienen dazu, die mundhöhle auf verschiedene resonanzen ab- Trompetenstoss ‚Quousque tandem‘ war, das muss auch der nur halb Zustimmende sagen, eine tüchtige That; der Gedanke originell und kühn, der Ton so wie er zum Aufrütteln von Schläfern am geeignetsten ist; das Schriftchen hat Bedeutendes gewirkt, alle Ehre dem Verfasser (Viëtor)! “ (Wilhelm m ünch , Rezension zu „Julius B ierBaum , Die Reform des fremdsprachlichen Unterrichts.“ In: Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Litteratur, 8. Jg., 1886, S. 61.). 410 Konrad s chröder , Wilhelm Viëtor, „Der Sprachunterricht muß umkehren“. Ein Pamphlet aus dem 19.-Jahrhundert neu gelesen. München: Hueber 1984, S. 8. 411 Ebd., S. 27. 412 Moritz t rautmann , Besprechung einiger schulbücher, nebst bemerkungen über eine bessere methode für den lautlichen teil des neusprachlichen unterrichts (hierzu eine autobiographische tafel). In: Anglia, 1. Jg., 1878, S. 598. Ein Jahr vor Trautmann charakterisierte der Phonetiker Henry Sweet die „gegenwärtige Methode der Erlernung der Aussprache [als] ‚eine klägliche’: In der That darf es in der planlosen, unwissenschaftlichen Weise wie bisher nicht weiter gehen.“ Zitiert in: Hermann B reymann , Lautphysiologie und deren Bedeutung für den Unterricht . München und Leipzig: Oldenbourg 1884, S. 6. „Wenn unsere gegenwärtige klägliche Methode der Erlernung der neueren Sprachen je umgestaltet werden soll, […], so muß dies auf der Basis einer vorbereitenden Schulung in der allgemeinen Lautlehre geschehen, womit dann zugleich das Fundament zu einem gründlichen, praktischen Studium der Aussprache und des Vortrags unserer eigenen Sprache gelegt würde.“ (Ebd., S. 15.). „Mit diesen Worten wurde zum ersten Male die Forderung ausgesprochen, die Resultate der Lautphysiologie für die Schule und das Leben möglichst zu verwerten.“ (Ebd.). Sweets Originalzitat lautet: „Again, if our present wretched system of studying modern languages is ever to be reformed, it must be on the basis of a preliminary training in general phonetics, which would at the same time lay the foundation for a thorough practical study of the pronunciation und elocution of our own language - subjects which are totally ignored in our present scheme of education.” (Henry s weet , Handbook of Phonetics. Including a popular exposition of the principles of spelling reform . Oxford: Clarendon Press 1877, S. v und vi.). <?page no="267"?> 268 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung zustimmen. […] Die resonanzen der mundhöhle haben den zweck, sich mit den tönen der stimme zu verbinden und auf diese weise vokale zu erzeugen. 413 Viëtor nimmt die Überlegung zu den Hauptresonanzen der Mundhöhle, die Trautmann als F-Dur und dann als G-Dur-Akkord bestimmt hatte, in seinen Überlegungen auf und vereinfacht diese: Ich glaube, wir dürfen aus naheliegenden Gründen für die elementare Lautbehandlung in der Schule dieser Tonhöhenbestimmung einen anderen Wert als den einer gewissen schematischen Veranschaulichung der Resonanzabstände für die obige Vokalreihe nicht beimessen und reichen dann mit dem ganz allgemeinen „Durakkord“ vollkommen aus. 414 Der Phonetiker, Dialektologe und Vater der experimentalen Phonetik Jean- Pierre Rousselot kreiert ebenfalls eine Analogie zwischen Sprache und Musik, zwischen maître de langue und maître de piano : 415 „Le maître lui [à l’élève, A. R.] met le doigt sur la touche qui correspond à la note demandée. Pourquoi le maître de langue ne ferait-il pas de même? “ 416 Adolf Rambeau empfiehlt in seiner Viëtor gewidmeten Schrift Der französische und englische Unterricht in der deutschen Schule : Mit den Lauten, nicht mit den Schriftzeichen muss der französische Unterricht beginnen! Der Lehrer, der natürlich die französischen Laute nicht blos praktisch, sondern auch theoretisch beherrschen muss, thut im Anfangsunterricht am besten, wenn er sofort in den ersten Stunden die Laute in ihrer natürlichen Ordnung ohne Rücksicht auf die jetzt gültige, historisch nur zum Teil richtige Schrift bespricht. Das Gesicht muss das Gehör unterstützen und die Erkenntnis der Verwandtschaft und des Verhältnisses der Laute zueinander, ihrer Ähnlichkeit und Verschiedenheit fördern: die Laute werden den Schülern nicht blos vorgesprochen, sondern auch 413 Trautmann (1878), S. 587 f. 414 Friedrich B angert , Die Phonetik im neusprachlichen Unterricht der höheren Lehranstalten. Referat. In: Verhandlungen der vierten Direktoren-Versammlung in der Provinz Schleswig-Holstein 1889. (Verhandlungen der Direktoren-Versammlungen in den Provinzen des Königreichs Preussen seit dem Jahre 1879, Bd. 31). Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1889, S. 127. - Genau genommen handelt es sich bei Viëtors beschriebenen Akkord um einen D-Dur-Akkord: „Will man […] einen ganz bestimmten, für die Aussprache jener Vocale normativen Durakkord festsetzen, so muss es wohl (wie man sich bei dem Versuch, die Vocale u, ó, ò, a etc. in den Intervallen eines Duraccords hintereinander zu flüstern, überzeugen wird) der d-Duraccord sein.“ - (Walter v iëtor , Schriftlehre oder Sprachlehre? In: Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Litteratur , 2. Jg., 1880, S. 49.). 415 Vgl. dazu Sophie a uBin , Maître de langue, professeur de langue et enseignement de la musique du français. In: Synergies Espagne n°1, 2008, S. 105. 416 Enrica g alazzi , Machines qui apprennent à parler, machines qui parlent: un rêve technologique d’autrefois. In: christ / Coste (1993), S. 74. <?page no="268"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 269 auf Lauttafeln mit grosser, deutlicher Schrift vorgeführt, auf denen sie jeden einzelnen Laut durch ein bestimmtes, nur ihm eigenes Zeichen dargestellt sehen. 417 Franz Beyer nimmt Viëtors D-Durakkord wieder auf und stellt die Vokale als harmonische Klangreihe in einem musikalischen Bild eines zwei Oktaven umfassenden Akkords vom tiefsten („dunklen“) Vokal u zum höchsten („hellen“) Vokal i dar (Abb. 36, S. 272). 418 Beyer kreiert damit den synästhetischen 419 Effekt 417 Adolf r amBeau , Der französische und englische Unterricht in der deutschen Schule, mit besonderer Berücksichtigung des Gymnasiums. Ein Beitrag zur Reform des Sprachunterrichts. Hamburg: Verlag der Herold’schen Buchhandlung 1886, S. 16 f. - Die phonetische Umschrift der Association phonétique internationale wurde in den zeitgenössischen Lehrwerken nicht explizit erwähnt, sondern als „système Viëtor“ bezeichnet. Die 1886 gegründete Association phonétique des professeurs d’anglais wurde 1889 umbenannt in Association phonétique des professeurs de langues vivantes , und ab 1897 besteht der heute gebräuchliche Name der API. Sprachrohr der Association war die international bekannte einflussreiche Zeitschrift Le Maître Phonétique , aus der 1971 das Journal of the International Phonetic Association hervorgegangen ist. (Enrica g alazzi , La méthode phonétique pour l’enseignement du F. L. E. en Italie à travers la lecture du Maître phonétique et du Bollettino di Fililogia Moderna 1894-1910.). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde n° 8, 1991, S. 277-300. - Franz B eyer und Paul P assy haben in ihrem Elementarbuch des gesprochenen Französisch in Anlehnung an den Maître phonétique die Texte, Gedichte, Lieder und sogar die Beispiele im Grammatikteil ausschließlich in phonetischer Umschrift präsentiert. Als prototypisches Lied wird dabei die Kontrafakturversion des Weihnachtslieds Oh Tannebaum (Abb. 37, S. 273) verwendet, das schon bei Ignaz Lehmann mit Noten zum Mitsingen in der Übertragung von Delcasso / Gross als „49. Le sapin“ auftaucht (Lehmann 1868, S. 312 f.). „Die versstücke sind meist singbar. Sollte sich ein bedürfnis herausstellen, so sind wir bereit, die sangesweisen zu liefern. Nr. 36 lässt sich ohne weiteres nach der altgewohnten ‚tannebaum’-melodie singen.“ (Franz B eyer / Paul P assy , Elementarbuch des gesprochenen Französisch . Cöthen: Verlag von Otto Schulze 1893, Vorwort, S. IV.). Wie Delcasso und Gross haben Beyer und Passy die französischen Gedichte im Kontrafakturverfahren adaptiert und an die ursprüngliche Melodie angepasst: „Allgemein ist zu den gedichten zu bemerken, dass manche nicht ganz so gesprächs französisch (kolloquial) sind, als erwartet werden könnte. Daher finden sich hin und wieder theoretische formen; doch liegt dies in der natur sangbarer weisen, und gern haben wir hier etwas geopfert, eben um ihnen den grossen vorteil gesanglicher verwertbarkeit zu erhalten. (Ebd., S. IV.). 418 Vgl. Franz B eyer , Das Lautsystem des Neufranzösischen. Mit einem Kapitel über Aussprachereform und Bemerkungen für die Unterrichtspraxis . Cöthen: Verlag von Otto Schulze 1887, S. 36. 419 Vgl. zu den synästhetischen und musischen Entsprechungen Andreas r auch , Charles Baudelaire: Spleen et idéal (IV) "Correspondances": Programmsonett und ästhetische Konzeption; zugleich ein Beitrag zum Einfluss Emanuel Swedenborgs auf Charles Baudelaire Chemnitz: Selbstverlag des Verfassers 2001 (Rauch 2001a), 30 S. und Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. Swedenborg-Sammlung, Signatur 51Ca/ 80691. <?page no="269"?> 270 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung einer Entsprechung zwischen Klangfarben, Tönen und Lauten: Dabei entspricht die Tonreihe d’-fis’-a’-d’’-fis’’-a’’d’’’ den Vokalreihen u-ò-ó-a-è-é-i. 420 Auch bei den Ausspracheübungen fordert Beyer eine „zielbewusste lautschulung“. 421 So verlangt er von seinen Schülern, der im Deutschen typischen Entsonorisierung der stimmhaften Konsonanten im Auslaut anhand einer kontrastiven Übungstypologie entgegenzuwirken, indem im Französischen „der auslautende stimmton sehr lang ausgehalten werden“ sollte: 420 Das offene o wird mit Gravis ò dargestellt, das geschlossene o mit Akut ó. Ebenso wird das offene e mit dem Gravis è dargestellt, das geschlossene é mit Akut é. Diese Transkription ermöglicht die Nähe zur "normalen" Orthographie und hat den (früher auch aus wirtschaftlichen Gründen wichtigen) Vorteil, dass es drucktechnisch viel einfacher war als die API-Transkription, die eigene Zeichen für die offenen Vokale nutzt. Dieses Transkriptionsmodell mit Gravis und Akut wird im französischen Sprachatlas von Gilliéron, dem ALF, angewandt. (Vgl. Wolfgang d ahmen , Studien zur dialektalen Situation Zentralfrankreichs . Eine Darstellung anhand des "Atlas linguistique et ethnographique du Centre" . Romania Occidentalis 11. Gerbrunn: Lehmann 1983; ders., Étude de la situation dialectale dans le Centre de la France: un exposé basé sur l’‘Atlas linguistique et ethnographique du Centre’ , Paris: CNRS 1985.). 421 Vgl. Franz B eyer , Die Lautschulung in meinem Anfangsunterricht. In: Die neueren Sprachen , Bd. 2, 1894/ 95, S. 138. <?page no="270"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 271 Abb. 35: Moritz t rautmann , Besprechung einiger schulbücher, nebst bemerkungen über eine bessere methode für den lautlichen teil des neusprachlichen unterrichts (hierzu eine autobiographische tafel). In: Anglia, 1. Jg., 1878, S. 590 f. <?page no="271"?> 272 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 36: Franz B eyer , Das Lautsystem des Neufranzösischen. Mit einem Kapitel über Aussprachereform und Bemerkungen für die Unterrichtspraxis . Cöthen: Verlag von Otto Schulze 1887, S. 36. <?page no="272"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 273 Abb. 37: Franz B eyer / Paul P assy , Elementarbuch des gesprochenen Französisch . Cöthen: Otto Schulze Verlag 1893, S. 62 f. <?page no="273"?> 274 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung In wörtern wie ( ka: v, ka: z, ka: ž ) musste daher der auslautende stimmton sehr lang ausgehalten werden ( ka: zzzzz … etc.), weil die schüler gar zu leicht geneigt waren, die laute stimmlos zu schliessen. Dabei wurde der tonstrom in regelmässig abwechselnder wellenbewegung crescendo und decrescendo geübt. 422 Beyer übernimmt die dynamischen Bezeichnungen der gleitenden Veränderung der Lautstärke direkt aus der Musikdynamik und stellt das durch die Tongabeln dar. Der Didaktiker Max Walter zitiert in seiner ausführlichen, dreizehnseitigen Rezension zu Rambeaus Die Phonetik im französischen und englischen Unterricht dessen didaktisch-methodische Vorschläge über den Gebrauch von Lauttafeln […], auf welche Weise man mit Hilfe dieser Tabellen den Schülern allmählich - von Stufe zu Stufe im mehrjährigen Schulunterricht - eine genaue und gründliche Kenntnis der zwei fremden Lautsysteme verschaffen kann - ohne Lehrbuch, und ohne sie im geringsten Grade zu überbürden 423 oder mit unverdaulichen abstrakten Dingen zu belästigen. Den Fachgenossen, welche den phonetischen Studien noch abgeneigt sind, möchte ich ferner beweisen, dass man nach meiner Methode ohne „Regeln“ die Aussprache der Schüler wenn nicht fehlerlos, so doch jedenfalls gleichmässig und der eigenen Aussprache vollkommen gleich machen und dadurch ihren Genuss an der fremden Sprache, die sie lernen, wesentlich heben und ihre Interesse dafür in hohem Grade fördern kann. 424 Rambeau geht kontrastiv vor und „beginnt mit der Einübung der reinen Vokale, die er zunächst auf deutsche Weise, dann mit verstärkter Artikulation auf französische Weise vorspricht.“ 425 Dabei ist die „straffe Artikulationsweise bei allen französischen Vokalen zu betonen und eher zu übertreiben als zu mässigen.“ 426 Von den „reinen Vokalen“ geht Rambeau zu den Nasalvokalen über: „Die Schüler werden in einfacher Weise auf den Unterschied zwischen beiden Arten hingewiesen.“ 427 Rambeau empfiehlt einen Übergang vom Grundvokal zum Nasalvokal durch ein Lesen der einzelnen Laute „mit singender Aussprache.“ 428 422 Beyer (1894/ 5), S. 138. 423 Hier bezieht sich Max Walter auf Viëtors Streitschrift Der Sprachunterricht muß umkehren! Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage von Quousque Tandem. 424 Adolf r amBeau , Die Phonetik im französischen und englischen Klassenunterricht. Hamburg: Otto Meissner 1888, S. 2 f. und Max w alter , Rezension zu „Rambeau, Adolf, Die Phonetik im französischen und englischen Klassenunterricht.“ In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur , Heft 14, 1891, S. 108-119. 425 Walter (1889), S. 109. 426 Ebd., S. 110. 427 Ebd., S. 111. 428 Rambeau (1888), S. 11. <?page no="274"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 275 Max Walter schlägt vor, die „hellen“ Vokale schwarz darzustellen, die „dunklen Vokale“ grün und die „Nasalvokale“ rot. 429 Sollte ein Schüler statt des des Nasalvokals [-] ein [õ] artikulieren, wird „auf den entsprechenden Grundvokal verwiesen, indem er unter Beibehaltung der a-Mund-Stellung den Übergang von a zu - übt.“ 430 Max Walter empfiehlt, 429 Walter (1889), S. 111. Auch in seinem Manuel de français stellt Walter die „französische Lauttafel nach Viëtor“ verschiedenfarbig dar: Die stimmhaften Konsonanten und die Vokale wurden hier rot dargestellt, die Nasalvokale grün und die stimmlosen Konsonanten schwarz (Abb. 38, S. 278). Der Farbdruck der Lauttafel wurde in Walters Unterrichtswerk getrennt gedruckt und separat eingeklebt. Das spiegelt die Bedeutung der Lautschrift für die Reformer wider. (Max w alter , Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Einheits-Ausgabe für Knaben- und Mädchenschulen. Teil I. Frankfurt am Main: Diesterweg 1933, S. 44.). Die farbliche Gestaltung dient nicht nur der klaren Unterscheidung und Einteilung. Es werden vor allem verschiedene Sinneskanäle der Schüler angesprochen. Wie bei Luise Krauses Musik-Anschauungsmethode wurde in den 1920er und 1930er Jahren im Rahmen der Arbeitsschule von Leonhard Ulshöfer der Einsatz von Farben und Symbolen als Lehrmittel eines intuitiven Lehrverfahrens angewendet. Zur praktischen Durchführung des Arbeitsunterrichts mit den Symbolen verwendete er einen besonderen Apparat: „Ein 50 cm breites und 1 m langes weißes Brett ist mit 12 Reihen Nägeln versehen. In jeder Reihe sind 10 Nägel. Die Symbole, die auf dieses Brett gehängt werden, haben einen Durchmesser von 4 cm. Außerdem haben die Schüler einen Apparat aus Pappe in der Größe einer Schiefertafel und entsprechend kleine Symbole, die wie bei einem Lottospiel auf den Karton gelegt werden können. Mit Hilfe dieser Apparate sind die Schüler imstande, selbständig das Farbenbild von Sätzen, Abschnitten, Strophen usw. herzustellen, zu beobachten und zu erfassen.“ (Leonhard u lshöFer , Heft V: Neue Wege im Sprachunterricht. Verwendung symbolischer Farben. In: Theodor g öhl (Hrsg.), Unterrichtsbeispiele aus der Arbeitsschule . Esslingen und München: Verlag von J. F. Schreiber 1928, S. 10.). Die farbigen Symbole wurden in einer ersten Realklasse von Ulshöfer aufgestellt und anhand der paradigmatischen Variation des Mustersatzes „Ich habe ein Lied gesungen.“ angewendet: „Mitwirkend und maßgebend war dabei Urteil und Gefühl der Schüler. Der Ausgangspunkt der Symbole war das Symbol der Gegenwart, das durch eine rote kreisrunde Scheibe dargestellt wurde, denn rot ist die Farbe des Blutes, bedeutet das Leben, die Erregung, das Erleben. Sobald eine Handlung abgeschlossen ist, entfernt sie sich aus unserem Bewußtsein, bald rascher, bald langsamer, kehrt gelegentlich in die Erinnerung zurück, schwingt evtl. je nach Grad der Erregung noch länger nach, doch ihre Hauptbewegung geht stets dem Unterbewußtsein zu, und sie verliert an Erinnerungskraft. Die Farbe wird also dunkler sein müssen und so wähle ich schwarz als Grundfarbe für die Symbole der Vergangenheit. Die Zukunftssymbole sind blau, wie der Himmel, wie die Ferne. Die gesamte Symbolik stellt sich nun folgendermaßen dar: I. Indikativ, bestimmte Redeweise. Scheibe 1-6. Scheibe 1. Ganz schwarz gibt ruhende, abgeschlossene, von dem Erzähler mit ruhiger, innerer Stimmung wiedergegebene Handlung an, also die 2. Vergangenheit. „Ich habe ein Lied gesungen.“ Sehr häufig Verwendung für Einzelhandlung ohne Gefühlsbeeinflussung des Darstellers. […]. Scheibe 2. Schwarz mit schwarzem Anker. Sie gibt die Handlung, die durch die Vorvergangenheit (3. Vergangenheit) ausgedrückt wird, wieder. „nachdem ich gesungen hatte, ging ich … Tritt fast immer als Einzelhandlung auf […].“ (Ebd., S. 7.) 430 Walter (1889), S. 111. <?page no="275"?> 276 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung die vier Nasalvokale an die Tafel zu schreiben und mit den Nummern 1 bis 4 zu versehen. […] Der Lehrer spricht nun reine Vokale und Nasalvokale in beliebiger Reihenfolge vor; sobald ein Nasalvokal an die Reihe kommt, hat dann der Schüler nur die Nummer des betreffenden Vokals anzugeben. 431 Dabei setzt nach Max Walter die Aneignung einer guten Aussprache […] die stetige Wiederholung derselben Lautverbindungen voraus. Diese lassen sich am besten an zusammenhängendem Stoffe üben, der dem Schüler gut eingeprägt und dann häufig wiederholt wird. Hierzu eignen sich vorzüglich kleine Gedichte, welche die erste Sprachstufe des Kindes widerspiegeln und auch in ihrem kindlichen Ton erfahrungsgemäß gern von den Schülern gelernt werden. Der den Gedichten eigene Rhythmus und Reim erleichtert ihre Aneignung in hohem Grade. Ausserdem haften Gedichte besser im Gedächtnis. 432 Das hier beschriebene Einschleifen der Lautverbindungen durch Rhythmus und Reim hilft dem Memorisieren und wird beim Liedeinsatz durch die Melodie noch verstärkt: 433 431 Ebd., S. 111 f. 432 Max w alter , Der französische Klassenunterricht auf der Unterstufe. Entwurf eines Lehrplans. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1888, S. 9. 433 Diese Verstärkung durch Wiederholung erfolgt oft im Refrain der Lieder. Es handelt sich hierbei um einen Vorläufer des Pattern Drill, der auf Harold E. Palmer zurückgeht. Hierbei wurden Mustersätze vom Lehrer vorgegeben und von den Schülern paradigmatisch abgewandelt. (Reinfried 1992, S. 251.). Das mnemotechnische Verfahren dürfte schon viel älter sein. Vgl. dazu S. 49 in der vorliegenden Arbeit. In den 1990er Jahren wenden die Englischlehrer Karl-Heinz Böttcher und Helmut Reisener diese Technik in ihrer bei Lehrern und Schülern äußerst beliebten Sing Grammar an. Die grammatische Regel wurde im Refrain nach Pattern Drill-Muster wiederholt in der bei Luther beschriebenen Tradition des alternierenden Wechsels von Einzel- und Chorsingen. Wie Bierbaum, Reum und Froese komponierte Böttcher gezielt in Hinblick auf ein Grammatikphänomen relevante Lieder. So lässt er die irregular verbs rappen. Die Schüler sollten dann weitere unregelmäßige Verbformen anhand von Reimen singend rappen und sie sich dadurch einprägen (Abb. 39, S. 279.). (Karl-Heinz B öttcher / Helmut r eisener , Sing Grammar. Songs, Exercises, Fun, Activities . Berlin: Cornelsen 1994.). Ende der 1990 Jahre folgten Beispiele für den Französischunterricht speziell zur Aussprachschulung wie Bruno Husars 1, 2, 3 Techno , bei dem Nasalvokale im Rap gegenübergestellt wurden. (Bruno h usar , 1, 2, 3 Techno. Chansons et activités pour la classe de français . Sydney: Bruno Husar 1999). - In den 2000er Jahren wurden diese Formen gesungener Grammatik- oder Ausspracheübungen oft als Eigenproduktionen kleiner Privatverlage angeboten. Vgl. Barbara d avids , Chansons avec verbes. Freiburg: M & M Studios Munzingen 2006. <?page no="276"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 277 Werden kleine Lieder, wie Le bon camarade , 434 Ma Normandie , 435 gesungen, was dem Unterricht angenehme Anregung verschafft und der Aussprache, besonders der Nasalvokale, gute Dienste erweist, so sieht der Schüler, dass die sonst verstummten Endsilben wieder zur Geltung kommen. 436 Bei Rambeau werden nach den ersten „grundlegenden Stunden des Anfangsunterrichts, in dem die Lauttafeln ihre hauptsächliche Verwendung finden, […] diese […] systematisch nur noch selten, je nach Bedürfnis, benutzt.“ 437 Außerdem haben die phonetisch schwächer beanlagten und schwerfälligeren Schüler zu Beginn jeder Stunde vorzutreten und zuerst der Reihe nach alle vier Tabellen […], später nur noch eine mit ihren Lauten und Merkwörtern abzulesen. Die übrigen müssen die Fehler, die etwa noch vorkommen, verbessern. 438 Nach den Ferien, „die bekanntlich in jeder Hinsicht, am meisten aber in phonetischer Beziehung zerstreuend wirken“, erfolgt eine systematische Wiederholung der Lauttabellen. Während des Lesens der französischen Texte verwendet Rambeau die Tafeln als „Mittel zur Verbesserung der Aussprache“ und berichtigt den einen oder anderen falsch gesprochene Laut, indem er „gleich den richtigen an den ihnen gebührenden Stellen“ 439 der Lauttafeln zeigen läßt. 434 Hier zeigt sich, dass sich die Kontrafakturversion des „Guten Kameraden“ als eigenständig französisches prototypisches Lied etabliert hat. 435 Wie Max Walter hat Karl Kühn die beiden prototypischen Lieder in sein Lehrbuch aufgenommen. Vgl. S. 336 f. und S. 343, Fußnote 644 in der vorliegenden Arbeit. 436 Vgl. Walter (1888), S. 7. 437 Vgl. Rambeau (1888), S. 19. 438 Ebd. 439 Rambeau (1888), S. 19. <?page no="277"?> 278 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 38: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Einheits-Ausgabe für Knaben- und Mädchenschulen. Teil I. Frankfurt am Main: Diesterweg 1933, S. 44. <?page no="278"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 279 Abb. 39: Karl-Heinz B öttcher / Helmut r eisener , Sing Grammar. Songs, Exercises, Fun, Activities . Berlin: Cornelsen 1994, S. 21. <?page no="279"?> 280 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Max Walter nimmt den Leitspruch der Reformer „Erst der Laut, dann die Schrift“ 440 auf und zitiert Hermann Klinghardt: „Dem neusprachlichen Unterricht ist nicht die Buchsprache, sondern die lebendige Sprache zu Grunde zu legen: es ist also mit Texten in phonetischer Umschrift zu beginnen. 441 Der Lehrer an der Gewerbeschule zu Saarbrücken Heinrich Wilhelm Glabbach tritt ebenfalls für die Verwertung der „Lautphysiologie im französischen Unterricht“ 442 ein und benutzt Abbildungen sowie Modelle des Sprechapparats 440 Wie Hasberg zitiert Walter das Motto in seiner Einleitung zu Der französische Klassenunterricht : „Ein Vermittlungsverfahren besteht darin, dass die Texte in Lautschrift an die Tafel geschrieben, nicht aber von den Schülern in das Heft eingetragen werden, und dass der Übergang zur gewöhnlichen Schrift nach einigen Wochen erfolgt. Für diejenigen Kollegen, welche sich nicht für den Gebrauch der Lautschrift entschliessen können, wäre der Versuch zu empfehlen, die einzelnen Worte durch die Klasse lautieren, also in die Einzellaute zerlegen zu lassen. Wo aber nach dem bisherigen allgemeinen Verfahren den Schülern das Schriftbild schon im ersten Anfange des Unterrichts dargeboten wird, ist im Interesse einer zu erzielenden guten Aussprache wenigstens daran festzuhalten, dass vor dem Anschauen und Einprägen der Schrift die Worte mündlich vielfach geübt werden. In jedem Falle gilt es, an dem Grundsatze festzuhalten: Erst der Laut, dann die Schrift! “ (Walter 1888, S. 5.). 441 Max w alter , Der Anfangsunterricht im Englischen auf lautlicher Grundlage. In: Jahresbericht der Realschule zu Cassel für das Schuljahr 1886-1887 (Programm Nr. 375). Kassel: C. Landsiedel 1887, S. 8. - Paul Passy, der Vorsitzende der Association phonétique, schreibt an den Phonetiker Hermann Klinghardt: „Seit 4 Jahren habe ich das Englische nie anders als vermittelst einer phonetischen Umschrift gelehrt und den besten Erfolg damit gehabt. Hierzu ist ausdrücklich zu bemerken, dass der Übergang zur gewöhnlichen Orthographie, welchen ich nach 18 Monaten eintreten lasse, gar keine Schwierigkeiten verursacht. Ich brauche dieselben überhaupt nicht zu lehren, die Schüler lernen sie von selbst.“ (Ebd., S. 8.) Die Mehrheit der Sprachlehrer standen diesem Vorgehen jedoch skeptisch gegenüber: Wie Bierbaum lehnt Eidam jegliche phonetische Transkription in Schulbüchern ab und spricht von „grossen Gefahren der phonetischen Schrift“: „Am lautesten aber möchte ich […] den Ruf erheben: Fort aus den Schulbüchern mit der phonetischen Schrift […]. Es bleibt dabei, dass die Lernenden, statt wie bisher eine Schrift, die ihnen schon Schwierigkeiten genug macht, in Zukunft zwei sich aneignen sollen. Und welche unnatürlichen, verzerrten Wortbilder werden ihnen in der phonetischen Schrift vorgelegt! Jedes Buch hat wieder seine besonderen Lautzeichen, ein Punkt, der auch sehr gegen die ganze Sache spricht; denn kommt ein Schüler an eine andere Anstalt mit ihm bisher fremden Lehrbüchern, so findet er sich gar nicht mehr zurecht.“ (Christian e idam , Phonetik in der Schule? Ein Beitrag zum Anfangsunterricht im Französischen und Englischen. Würzburg: Stuber 1887, S. 20.) 442 Heinrich Wilhelm g laBBach , Die Lautphysiologie im französischen Unterricht. In: Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens 15, 1887, S. 213-225. Die gute Aussprache des Lehrers als Vorbild und das imitative Nachahmen sowie Nachsprechen sind unabdingbar für einen erfolgreichen Unterricht: „Die gute Aussprache des Lehrers und beständiges Vor- und Nachsprechen im Anfangsunterricht ist selbstverständlich Hauptsache, aber dies genügt nicht, ganz sicher nicht bei solchen Schülern, die kein „glückliches Gehör“ (average ear, wie Sweet sagt) haben; denn spricht der Lehrer bloß vor, ohne den Schüler über die Bildung der Laute aufzuklären, so ist die Auffassung des Schülers mehr ein unsicheres Ertasten, als ein bewußtes Zugreifen.“ (Ebd., S. 214.). <?page no="280"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 281 aus Papiermaché, während seine Schüler große Lauttafeln herstellen sollten. 443 Dabei vergleicht Glabbach den Sprechapparat mit Musikinstrumenten: Die Lungen vergleicht er mit einem Blasebalg, die Stimmbänder mit den Metallplättchen einer Mundharmonika oder Kindertrompete, die Bildung des u-Lautes mit dem Hineinblasen in eine leere Flasche, die des i-Lautes mit dem Pfeifen auf einem hohlen Schlüssel. Das Funktionieren des Kehlkopfes sucht er mit den zusammengefalteten Händen faßlich darzustellen. Nach dieser physiologischen Einleitung entwickelt er das ganze französische Lautsystem, läßt von den Schülern selbst Lauttafeln anfertigen und dieselben im Klassenzimmer aufhängen 444 und knüpft daran eine strenge Artikulationsgymnastik […]. 445 Die zunehmende Bedeutung der Aussprache in der Unterrichtspraxis der neueren Sprachen wird besonders in einer Umfrage deutlich, die Viëtor im Schuljahr 1890/ 91 durchführte. Der als Rundschreiben an etwa hundert Lehrer verschickte Bogen enthielt 17 Fragen „Zur Methodik des Sprachunterrichts, insbesondere im französischen und englischen“ 446 und wurde von 48 Lehrern beantwortet. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem die Fragen 1, 3 und 6 interessant. Die Frage 1 lautete: „Gehen Sie beim aussprache-unterricht vom laute aus oder von der Schrift? “, Frage 3 hieß: „Welcher lautschrift bedienen Sie sich für das französische und englische? “ Die Frage 6 lautete „Erfolgt der erste aussprache-unterricht an der hand von gedichten, lesestücken oder anschauungsbildern? Welche anschauungsbilder benutzen Sie? “ 447 Nach Reinfried nutzten 17 von 42 Lehrern die phonetische Umschrift, „ces 40 % représentaient certes une part importante, mais elle n’était cependant pas représentative de l’ensemble des professeurs allemands parce que les partisans de la réforme prédominaient parmi les personnes interrogées.“ 448 443 Ebd., S. 214 und 218. 444 Glabbach ist damit ein précurseur des Arbeitsunterrichts. 445 Glabbach (1887), S. 215. Vgl. auch Bangert (1889), S. 169. 446 Vgl. Wilhelm v iëtor , Beantwortung des Fragebogens „Zur Methodik des Sprachunterrichts“. In: Phonetische Studien , Bd. 4, 1891, S. 94. 447 Ebd. 448 Reinfried (1999c), S. 189 f. In den preußischen Lehrplänen von 1892 wurde die phonetische Umschrift verboten: „Auszugehen ist auf der Anfangsstufe für Französisch und Englisch von der Anleitung zu einer richtigen Aussprache unter Vermeidung von allgemeinen Ausspracheregeln und unter Fernhaltung aller theoretischen Lautgesetze und der Lautschrift. Am zweckmäßigsten ist die erste Anleitung in einem kurzen Lautirkursus. Vorsprechen des Lehrers, Nachsprechen des Schülers, Chorsprechen und Chorlesen sind die Mittel zur Erreichung einer richtigen Aussprache in der Schule. Ausbildung der Hör- und Sprechfertigkeit des Schülers ist stets im Auge zu behalten.“ (Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 70.). Es ist jedoch nicht bekannt, inwiefern dieses formelle Verbot seine tatsächliche Anwendung in der Praxis verhindern konnte. (Vgl. dazu Reinfried 1999c, S. 190.). <?page no="281"?> 282 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Wie alle Reformer geht auch Julius Bierbaum vom Laut aus, verwendet Lauttafeln und fordert eine Vermittlung der Grammatik auf induktivem Weg. Er spricht sich jedoch gegen eine Verwendung der Lautschrift aus und favorisiert „Keine übersetzungen, sondern umgestaltete retroversionen im 2. Schuljahre.” (Viëtor 1891, S. 99). Viëtor zitiert bezüglich der geteilten Meinung der Reformer zur Lautschrift ein von Martin Krummbacher gedichtetes Lied zum zehnjährigen Stiftungsfest des Vereins für neuere Sprachen zu Kassel 1896: „Ob sich mit geograph’schen Zügen / Sich der Lehrer darf begnügen, / Die doch fern dem rechten Klang; / Ob der Lautschrift krause Zeichen / Ihm zum Heile mehr gereichen, / Fragt der Zweifel, trüb und bang. / Gar verschieden ist die Meinung, / Kommt nicht immer ganz zur Einung, / Doch, wie auch ein Redner spricht: / Bei den Jungen, bei den Alten / Wird die Regel festgehalten: / ‚Darum keine Feindschaft nicht‘“. (Viëtor 1902, S. 46.). Viëtor fragt sich, warum in den Lehrplänen von 1891 die Lautschrift verboten wurde, denn die von Krummbacher angegebenen „krausen Zeichen“ sind „aber sicherlich nicht krauser als die des deutschen Druck- oder Schreibalphabets und sie wurden zu diesen durchaus konsequent verwendet.“ Auch dem zweiten Vorwurf, „daß es nicht eine einzige Lautschrift, sondern viele verschiedene gebe, muß jetzt als veraltet gelten, denn die Lautschrift der Association phonétique behauptet siegreich das Feld.“ (Ebd., S. 47.). Zum Vorwurf der Überbürdung und vermeintlichen Vermehrung des Lernstoffes durch die phonetische Umschrift gibt Viëtor zwei Gleichnisse von Passy: „Wenn ein Arbeiter einen Haufen Steine zu befördern hat, so nimmt er einen Schiebkarren zu Hilfe. Nun hat er die Steine zu befördern und den Schiebkarren; aber es geht leichter so. Oder: ein Tüncher will ein Haus anstreichen. Was thut er zuerst? Er baut ein Gerüst.“ (Ebd., S. 47.). Viëtor begrüßt, „dass die neuesten Lehrpläne […] diesen seither brennend gebliebenene Fragen eine erneute praktische Bedeutung verliehen [haben], indem auf das doppelte Verbot der theoretischen Lautgesetze und der Lautschrift zur Freude aller Reformer nunmehr verzichtet ist.“ (Ebd., S. 48.). Hierbei bezieht sich Viëtor auf die preußischen Lehrpläne von 1901, in denen der phonetische Vorkurs erwähnt wird und die „Verbotsklausel“ der phonetischen Umschrift fehlt: „Der Erwerbung und Bewahrung einer guten Aussprache ist auf allen Stufen ernste Sorgfalt zu widmen. Nachdem sie zunächst am Anfange des Gesamtunterrichts in einem besonderen kurzen Kursus gelehrt und durch vielfache, genaue Übung angeeignet ist, darf es auf den folgenden Stufen an beständiger Kontrole [sic] nicht fehlen und sind auch die Anforderungen an Sicherheit, Fluß und Betonung angemessen zu steigern.“ (Vgl. Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 82.). Die im gleichen Jahr erschienenen Bayerischen Richtlinien von 1901 verbieten noch den Einsatz der phonetischen Umschrift von zusammenhängenden Texten: „Zu nachdrücklicher Förderung der richtigen Aussprache und Betonung empfiehlt es sich in jeder Klasse einige Gedichte und gehaltvolle Prosastellen auswendig lernen zu lassen. Phonetische Transkriptionen zusammenhängender fremdsprachlicher Texte sind zu vermeiden.“ (Ebd., S. 86.). Weiterhin empfehlen die Bayerischen Richtlinien den Einsatz von Lauttafeln: „Die Aussprache ist in einer den Fortschritten der phonetischen Wissenschaft entsprechenden Weise zu lehren. Die Lehrer müssen daher die sicheren Erkenntnisse der Phonetik im Unterrichte praktisch verwerten, indem sie zunächst in der untersten Klasse die erste Zeit ausschliesslich auf die Einübung der fremden Laute verwenden (Artikulationsübungen, stimmhafte und stimmlose Konsonanten, leiser Vokaleinsatz, energische Lippenbewegung, besonders bei der Bildung der französischen Vokale, Silben- und Wortgrenze u. s. w.). Dabei empfiehlt es sich, die Bücher schliessen zu lassen und eine Lauttafel zu benutzen.“ (Christ / Rang 1985, Bd. II, S. 85 f.). Dies gilt aber nicht für die im gleichen Jahr erschienenen, oben zitierten Preußischen Richtlinien. <?page no="282"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 283 Nach meiner Zählung gehen vier Lehrer von der Schrift aus, die überwältigende Mehrheit vom Laut. Zur Frage 6 spezifiziert nur Karl Quiehl die Textsorte Lied, 449 während andere bekannte Reformer wie Adolf Rambeau, Karl Kühn, Max Walter und Hermann Klinghardt den Einsatz kleine Gedichte und Erzählungen erwähnen. 450 Zur Veranschaulichung der Lautbildung und zur Einübung der Laute entwickelten die Französischdidaktiker zahlreiche Erklärungsmodelle. So läßt Max Walter, um den Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten durch besondere Merkzeichen hervorzuheben, […], die Schüler einen Finger an den Kehlkopf legen und sie dann die verschiedenen Laute wiederholen. Hierbei fanden sie selbst heraus, dass sie bei den ersten Lauten ein Erzittern des Kehlkopfs gemerkt hätten, bei letzteren nicht. 451 Hermann Klinghardt stellte bei seinen Schülern Probleme bei der Artikulation des stimmhaften alveolaren Frikativs [z] fest, anhand einer kontrastiven Interferenz mit dem Deutschen. Das gemeinsame summende Chor-Singen dient als Ergebnissicherung und als Kontrolle für Klinghardt: Hier tritt bereits der mangel des schlesischen dialekts an tönenden consonanten zu tage: kaum einer der schüler ist im stande, nur annähernd ein z hervorzubringen. Ohne mich auf eine physiologisch-genetische auseinandersetzung einzulassen, fordere ich nun einzelne schüler auf, nach meinem beispiel das summen der dicken brummfliegen am fenster nachzuahmen, und wer darin noch schwierigkeiten findet, den veranlasse ich, dieses summen in verschiedener tonhöhe hervorzubringen, es also zu singen. Jetzt dürfte die ganze classe die bildung und den akustischen effect von z wenigstens verstanden haben, wenn auch die fertigkeit darin noch zu gewinnen ist. 452 449 Quiehls Eintrag zum Punkt 6 unterstreicht die thematische Progression: „Erst lied, dann umgebung, dann anschauungsbilder (Hölzel) und lesestücke.“ (Vgl. Viëtor 1891, S. 365.). Viëtor integriert das Singen in eine Übungsprogression: „Beim ‚Vorsprechen des Lehrers‘ wäre u. a. zu verlangen: die Beherrschung der fremden Laute und Artikulationsbasis, aber auch der Satzphonetik, endlich der Schattirung der Aussprache von der täglichen Rede bis zur Sprache des Vortrags; beim ‚Nachsprechen des Schülers’: die Anwendung der phonetischen Hülfen im einzelnen und ganzen; bei der ‚Ausbildung der Hör- und Sprachfähigkeit der Schüler’: das Heranziehen aller ersprießlichen Übungsmittel, wie das Auffassen und Wiedergeben stimmhafter und stimmloser Konsonantenpaare, gerundeter und nichtgerundeter Vokalpaare, auf- und absteigender Vokalreihen u. dgl.m., Chorsprechen, Singen, Deklamiren, Frage und Antwort, Niederschrift von Diktaten […].“ (Vgl. Viëtor 1902, S. 48 f.). 450 Das könnte allerdings auch an Viëtors Fragestellung liegen, da hier zwar die Textsorte Gedicht, aber nicht das Lied (als gesungene, vertonte Lyrik) erwähnt wird. 451 Walter (1887), S. 10. 452 Ebd., S. 308. <?page no="283"?> 284 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Wie beim Beispiel des Summens der Biene verwendet Klinghardt auch bei der stimmlosen Variante des alveolaren Frikativs [s] ein praxis- und lebensnahes Beispiel aus dem täglichen Umfeld der Schüler: Nun fordere ich verschiedene schüler auf, die stillschweigen gebietende interjection „st! “ hervorzubringen und dabei deren ersten bestandtheil möglichst lange auszuhalten, dann, den zweiten bestandtheil überhaupt fallen zu lassen und nur das s recht lange zu zischen. Darauf lasse ich das vorher gefundene z wiederholen und sodann einzelne quintaner, nach meinem beispiel, während ein und derselben expiration mit anhaltendem s und z wechseln. Haben dann die knaben einmal diese fertigkeit erreicht, so ist es leicht, sie darauf hinzuführen, worin der unterschied zwischen beiden sprachlauten liegt: in dem plus eines summenden tones auf seiten des z . Ein fester griff an den während des wechsels von s und z bald ruhenden, bald erzitternden kehlkopf belehrt sie nun leicht, wo der ursprung des das z begleitenden tones liegt - und mit dieser erkenntniss von dem unterschied zwischen s und z nach deren akustischen effect, wie nach ihrer productionsweise ist einstweilen recht viel gewonnen. 453 Max Walter erweitert diesen kontrastiven Vergleich, indem er die Schüler in einer Simulation selbst erkennen läßt, dass man stimmlose Laute nicht singen kann: Die Schüler müssen also, soweit sie es aus dem vorausgegangenen Unterricht des Deutschen noch nicht können, vor allem die stimmhaften und stimmlosen Laute unterscheiden lernen. Fünf Hilfsmittel werden ihnen dazu gegeben: Auflegen der Hände auf den Kopf, auf die Ohren, an die Nase, an den Kehlkopf und Singen der stimmhaften Laute. Sie werden dazu angehalten, aus dem stimmlosen Laut in den stimmhaften überzugehen und die stimmhaften Laute zu singen sowie selbst festzustellen, daß man stimmlose Laute nicht singen kann. 454 Wie Klinghardt zitiert Walter das Beispiel des stimmhaften alveolaren Frikativs [z] am Beispiel des Geräuschs einer großen Schmeißfliege und beschreibt die sich anschließende Artikulationsgymnastik 455 im Französischunterricht: 453 Hermann k linghardt , Lautphysiologie in der Schule. In: Englische Studien. 8. Jg., 1885, S. 307 f. 454 Max w alter , Zur Methodik des neusprachlichen Unterrichts . Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung (G. Braun), 2. Aufl. 1931 (1. Aufl. 1908), S. 7 f. 455 Der Begriff geht auf August Langes Artikel „Artikulationsgymnastik im französischen Elementarunterricht“ zurück. Lange beschreibt bereits zu Beginn seines Aufsatzes den Gesanglehrer als Partner des Sprachlehrers und vergleicht die Artikulationsgymnastik mit dem Einsingen, also einer Art vorbereitender Übungen zum Aufwärmen der Stimme, der Stimmbänder und des Stimmapparats, der wie ein großer Muskel mithilfe der Gesangsgymnastik analog zum Leistungssport täglich trainiert werden sollte. Weiterhin tritt Lange dafür ein, dass Französisch erste Fremdsprache bleibt, um <?page no="284"?> II. 3 Viëtors „Trompetenstoß“ 285 Ich: „Bist du zur heißen Sommerzeit schon einmal in einem geschlossenen Raume gewesen, in dem eine große Schmeißfliege umherschwirrt? “ - Sch.: „Ja.“ - Ich: „Ich nehme nun an, du jagst das Tier, und in dem Bestreben, sich zu befreien, stößt es wiederholt heftig an das Fenster an. Wird es dabei stumm bleiben? “ - Sch.: „Nein, es summt.“ - Ich: „Natürlich, und heftig auch noch. Ahme das Summen nach.“ - Sch.: „[z]. - Ich: „Lauter und länger! “ - Sch.: „[zzz].“ - Ich: „Viel lauter, kräftiger und länger aushalten! “ - Sch.: „[zzzzzzzz].“ - Ich: „Recht so. Und nun sprich recht schön und deutlich [la mɛ'zõ].“ Was denn auch der Schüler tadellos nachspricht. Ich habe nie einen Versager gehabt, selbst nicht bei harthörigen Individuen. Selbstverständlich ist damit nicht gleich feste Gewöhnung erreicht, die erst durch unermüdliche Wiederholung und Übung sicher erarbeitet werden kann. 456 den Schülern eine „reine und ästhetisch schöne Lautbildung beizubringen.“ „Denn während im Englischen sich Lautstand wie Artikulationsweise infolge der Einwirkung des Trägheitsmoments und des stark ausgeprägten exspiratorischen Accents in einem fortlaufenden Degenerationsstadium befinden und nur vereinzelt allmählich wieder reinere Laute ausgebildet werden, steht das Französische gegenwärtig in bezug auf reine und deutliche Artikulation auf einer verhältnismäßig recht hohen Stufe und eignet sich deshalb für dasjenige Schüleralter, in welchem die Sprachwerkzeuge noch geschmeidig sind und leicht an klare, vollkommene Lautbildung gewöhnt werden können, als phonetischer Übungsstoff in ganz eminenter Weise. Dass aber das junge Sprechorgan einer besonderen Ausbildung, einer systematischen Artikulationsgymnastik bedarf, wird ebenso gern theoretisch anerkannt, als praktisch leider nur zu oft vernachlässigt. Träte dagegen Englisch an die Stelle des Französischen, so würde einerseits die Gefahr nahe liegen, dass die deutsche Aussprache des Schülers an der phonetischen Verwahrlosung des Englischen teilnehme, andrerseits würde es ein paar Jahre später nicht mehr leicht sein, eine gute französische Aussprache einzuüben. Phonetische Verwahrlosung sage ich natürlich von einem rein ästhetischen Standpunkte, wie ihn etwa der Gesanglehrer einnehmen wird.“ (August l ange , Artikulationsgymnastik im französischen Elemenarunterricht. In: Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Litteratur 8, 1886, S. 147 f.). August Lange fordert eine kurze physiologische Erläuterung der Sprachwerkzeuge vor dem Beginn der Artikulationsübungen: „Eine flüchtige Skizze an der Wandtafel oder ein passendes Modell mag die Lage d[ies]er Sprechfaktoren verdeutlichen. Nachdem dann noch der Unterschied zwischen Vokalen und Konsonanten, der sich hieraus leicht ergiebt, gefunden ist, beginnt man die Übungen mit den ersteren. Hier, wie bei allen tönenden Dauerlauten, wird man ganz von selbst darauf geführt, den Chor auf einen bestimmten Ton singen zu lassen, da nie so ein einheitliches längeres Aushalten des Lautes möglich ist. Für die Vokale hat dies ausserdem den Vorteil, dass dadurch ein Erschlaffen der Zungenartikulation, wie es bei den deutschen oder englischen sog. kurzen Vokalen in geschlossener Silbe eintritt, vermieden wird, da diese zum Aushalten beim Singen ungeeignet sind.“ (Ebd., S. 151.). August Lange bezieht sich auf Trautmanns (und Viëtors auf zwei Oktaven erstreckenden) Durakkord und schlägt einen „gebrauchsfreundlicheren“ Dreiklang vor: „Vielleicht wird ein besonders musikalisch gebildeter Lehrer sogar mit Vorteil verschiedene Töne verwenden, entsprechend den verschiedenen natürlichen Tonhöhen der Laute, bei Reihen wie i-é-è, also geradezu einen bestimmten Dreiklang singen lassen.“ (Ebd., S. 151.). 456 Vgl. Max Walter (1931), S. 7. <?page no="285"?> 286 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Klinghardt setzt bei der Artikulationsgymnastik kleine Taschenspiegel ein, die er in seiner Klasse verteilt und so eine sofortige, bessere Kontrolle der Artikulation seiner Schüler ermöglicht. Dabei spielt das Vorbild des Lehrers und das imitative Lernen eine wichtige Rolle : Ausserordentlich fand ich mich bei der vorliegenden aufgabe unterstützt durch den gebrauch eines kleinen taschenspiegels, den ich in die klasse mitbrachte. Wenn der schüler im spiegel sofort controlliren kann, ob er wirklich seinen lippen und seinen kiefern die vom lehrer vorgemachte form bzw. senkung gibt, dann lernt er ungemein rasch, diese organe auf bestimmte stufen einzustellen. Kann er aber nicht selbst seinen mund sehn (im spiegel), dann glaubt er nur zu leicht dem vorbild des lehrers, der z. b. seinen kiefer zu weitester a-stellung herabsenkt, bereits völlig zu entsprechen, wenn er thatsächlich die zähne nur um den durchmesser eines bleistifts von einander entfernt. 457 Der Einsatz des Taschenspiegels ist zeiteffektiv und für Klinghardt ein didaktisches Hilfsmittel: „Der gebrauch des spiegels bei lautgymnastischen übungen erspart ganz ausserordentlich viel zeit und mühe.“ 458 II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern II. 4. 1 Die Phonetik und Quiehls musikalische Übungsformen In der zeitgenössischen fachdidaktischen Literatur gab es eine Vielzahl methodischer Ansätze zu Ausspracheübungen, wobei besonders auf das musikalische Gehör verwiesen wird. Die Beispiele des Durakkords von Viëtor, Trautmann und Beyer bzw. des Dreiklangs von Lange haben gezeigt, dass die Phonetiker der Musikalität der Sprache eine besondere Bedeutung zuschreiben und die neusprachliche Reformbewegung meiner Auffassung nach auch als „musikalische Reform“ bezeichnet werden kann: Beim Klassenunterricht kann man - die beste Befähigung des Lehrers vorausgesetzt - nur mit denjenigen Schülern etwas Vortreffliches in der Aussprache leisten, welche ein feinfühlendes musikalisch empfängliches und empfindliches Ohr haben. Dieses Laut-recipierende Organ ist überhaupt viel wichtiger als die Laut- 457 Vgl. Hermann k linghardt , Ein Jahr Erfahrung mit der neuen Methode. Marburg: Ewert 1888, S. 10. 458 Ebd., S. 10. <?page no="286"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 287 producierenden Organe und doch ist von dem Ohre und dessen Schulung bei den Phonetikern kaum die Rede. 459 Marcus Reinfried unterscheidet hierbei „deux approches: une approche atomiste et une approche globaliste, 460 die, „dans la pratique, pouvaient se succéder à l’intérieur d’une seule unité d’enseignement.“ 461 Reinfried definiert beide Ansätze wie folgt: „L’approche atomiste se basait sur la communication de sons isolés ou de mots qui servaient de modèles articulatoires. […]. L’approche globaliste par contre partait d’un texte entier.“ 462 Typisch für den Beginn der neusprachlichen Reformbewegung war eine Ausspracheschulung anhand isolierter Laute. So favorisiert August Lange für den Anfangsunterricht im Französischen die approche atomiste mit der Übung isolierter Laute: Wichtiger ist die Frage, ob zu Anfang bloss isolierte Laute für sich oder gleich ganze Worte geübt oder gar die Übungen sofort an ein zusammenhängendes Lesestück angeknüpft werden sollen. Hier nun bin ich der Ansicht, dass es sich gerade für das Französische sehr empfiehlt, zuerst eine vollständige Analyse der Einzellaute zu geben. Dadurch gewöhnen sich die Schüler am besten daran, einen einfachen Laut auch wirklich als solchen aufzufassen, ohne durch die Vergleichung mit der Orthographie irregeleitet zu werden. 463 Um den Schülern die Lautbildung und den Sprechapparat anschaulich zu präsentieren, begannen die reformorientierten Fremdsprachenlehrer mit einem Laute, bei dessen Hervorbringung die äusserlich sichtbaren Mundteile (Lippen, Unterkiefer, Wangen) in leicht erkenn- und bestimmbare Stellungen gebracht 459 Vgl. Karl s eitz , Die Phonetik im neusprachlichen Unterrichte der höheren Lehranstalten. Korreferat. In: Verhandlungen der vierten Direktoren-Versammlung in der Provinz Schleswig-Holstein 1889. (Verhandlungen der Direktoren-Versammlungen in den Provinzen des Königreichs Preussen seit dem Jahre 1879, 31). Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1889, S. 222 f. 460 Reinfried (1997), S. 190 f. 461 Ebd., S. 190. Vgl. dazu auch Walter (1887) und Klinghardt (1888). 462 Reinfried (1997), S. 190 f. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 463 Lange (1886), S. 150. Lange bezieht sich in seiner Präferenz für die approche atomiste bewusst auf das Französische, denn im Englischen wird die Lautqualität durch die Stellung in Wort und Satz bedingt: „Im Übrigen ist es ja gerade das charakteristische Merkmal des ‚accent français’, dass die Laute überall, ohne Rücksicht auf die Nachbarlaute, unbeeinflusst durch die Quantität, unabhängig von der Betonung, eine und dieselbe Qualität bewahren. Wegen dieses Gesetzes von der Konstanz der Qualität erscheint es durchaus vorteilhaft, diese Qualität erst für sich allein sicher zu stellen. Dann wird es später um so leichter gelingen, bei der Zusammenfügung der Laute zu französischer Rede die einmal eingeübte Qualität stets festzuhalten.“ (Ebd., S. 150.). <?page no="287"?> 288 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung werden. Jede Artikulation muss langsam, bestimmt und energisch, und an einem solchen Standorte vor der Klasse gebildet werden, dass alle Schüler die Bewegungen des Mundes deutlich sehen können. Nachher kann man sich auch einzelnen Schülergruppen besonders nähern, um sie die Bewegungen genau beobachten zu lassen. 464 Nach der Präsentation des Artikulationsortes und der Artikulationsart wurde der Laut vom Lehrer vorgesprochen, „einzelne schüler wiederholen ihn, dann die klasse im chor.“ 465 Im Rahmen des phonetischen Vorkurses wurden in vielen Lehrwerken der neusprachlichen Reformbewegung die Sprechwerkzeuge in einem Schaubild abgedruckt. 466 Karl Quiehl und Max Walter 467 entwickeln dabei 464 Otto B adke , Der Anfangsunterricht im Französischen auf phonetischer Grundlage. In: Programm des Realgymnasiums zu Stralsund. Ostern 1888. Stralsund: Königliche Regierungs-Buchdruckerei, S. 5. 465 Albrecht h arnisch , Die Verwertung der Phonetik beim Unterricht. In: Phonetische Studien. 4. Jg., 1891, S. 340. Harnisch beschreibt den Aufbau und die Funktion des Kehlkopfs kindgemäß und den Lebensalltag der Schüler entsprechend anschaulich anhand einer Analogie der Funktion der Schwingungen der Stimmbänder mit denen der Saiten einer Violine: „Das wichtigste organ, nun, das zur erzeugung von lauten dient, ist leicht zu bestimmen. Jeder junge weiss, dass er schmerzen im hals, d. h. im kehlkopf hatte, wenn er heiser war und nicht sprechen konnte. Den kehlkopf fühlt der schüler, er hat ihn auch schon bei tieren gesehen und definiert ihn als das oberste stück der luftröhre, womit man für die schule zufrieden sein kann. Doch ist der kehlkopf nicht hohl wie die übrigen teile der luftröhre, sondern über ihn sind, als freiliegende spitzwinklige kanten, von beiden seiten hervorspringend, die stimmbänder angespannt, mit der stimmspalte dazwischen. Wie entstehen nun in diesem apparat laute? Nicht anders als wie wir es auf dem spaziergang bei windigem wetter an den telegraphendrähten beobachten, die längs des weges ausgespannt sind. Der wind setzt die drähte in schwingungen, und sie summen, gerade wie die schnur summt, die der junge mit dem finger reisst, gerade wie die violinsaite, die durch den bogen in schwingungen versetzt wird. Nur ist unser kehlkopf viel vollkommener eingerichtet als die telegraphendrähte, da wir die stimmbänder willkürlich nähern und voneinander entfernen, die stimmspalte verengern und erweitern können. Nur bei engenbildung aber kann ein geräusch entstehen; wer pfeifen will, muss den mund spitzen; der dampf zischt, wenn er durch eine möglichst kleine öffnung den kessel verlässt. Trifft also der wind (d. h. der atem) die genäherten stimmbänder, so wird er ein summendes geräusch erzeugen, bei weit geöffneter stimmspalte dagegen wird er ungehindert und geräuschlos als atem durch den luftweg den körper verlassen. (Ebd., S. 340 f.). 466 Vgl. Karl e ngelke / Wilhelm m eyer , Übungs- und Lesebuch für U III und O III. Leipzig: G. Freytag 1929, S. 1. Zur Schulung der französischen Satzmelodie wurden die Intonation und die rhythmisch-metrische Ordnung als ein in Takte unterteiltes Notensystem mit Achtel-, Sechzehntelnoten, halben Noten dargestellt. (Ebd., S. 12 f. und Abb. 41, S. 291.). 467 Max Walter geht folgendermaßen vor: „Um zu prüfen, ob der Lautwert aller Laute richtig vom Gehör der Schüler aufgefasst wird, spreche ich die verschiedenen Laute ausser der Reihe vor und lasse sie von der Klasse bestimmen und an der Lauttafel zeigen. Dasselbe thun dann die Schüler unter sich. Dann werden die Laute nach der auf der Tafel gegebenen Reihenfolge und nach beliebiger Zusammenstellung artikuliert und der Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten stets genau hervorgehoben.“ (Walter 1887, S. 13.). <?page no="288"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 289 das Lautschema im Lehrer-Schüler-Gespräch an der Wandtafel und weisen „an der Lauttafel auf das Zeichen des Lautes“ 468 hin. Nach dem Vor- und Nachsprechen der Laute nutzen Karl Engelke und Wilhelm Meyer zur Festigung und zum Einschleifen der vier Nasalvokale [œ̃ ], [ɔ̃], [ɛ̃], [-] 469 den C-Dur-Akkord c-e-g-c’ und kommentieren „On apprend mieux les voyelles nasales en chantant“. 470 Hierbei werden die vier Nasalvokale als isolierte Laute einzeln gesungen und schließlich im Refrain des bekannten Kanons Frère Jacques den Noten zugeordnet. Jede der in ABCD gegliederten vier Notenzeilen entspricht einer Stimme des Kanons, wobei der Refrain D den Kanon „abrundet“ (Abb. 40, S. 290). Durch den Kanon wird die Technik des Vor- und Nachsingens angewendet, wobei die phonetische Besonderheit im Refrain (gemeinsam) gesungen wird, das Chorsingen übernimmt analog zum Chorsprechen eine Wiederholungs- und Festigungsfunktion. 471 Vom Laut ausgehend wird auch das Alphabet in phonetischer Umschrift 472 präsentiert und dann als Kontrafakturversion von Mozarts Ah! vous dirai-je maman gemeinsam als ABC-Lied im Chor gesungen (Abb. 42, S. 292). 473 468 Karl q uiehl , Der Anfangsunterricht im Französischen. In: Verhandlungen des Zweiten Allgemeinen Deutschen Neuphilologentages. Hannover: Meyer 1887, S. 36. 469 Engelke / Meyer (1929), S. 2 f. Die beiden Lehrbuchautoren geben als Vorentlastung zu jedem der vier Nasalvokale Beispiele zunächst in phonetischer Umschrift, dann in klassischer Orthographie. (Ebd., S. 2 f.). 470 Ebd., S. 2 f. Zur Festigung der Nasalvokale lassen sich Wortgruppen wie „un bon vin blanc“ zur kontrastiven Fehleranalyse gut einsetzen. Der gerundete halboffene Vorderzungennasalvokal [œ̃ ] wird jedoch heute zunehmend durch den ungerundeten halboffenen Vorderzungennasalvokal [ɛ̃ ] ersetzt. - Vgl. das Questionnaire der Schülerin von André Martinet und Ruth Reichstein zu den gefährdeten Oppositionen im heutigen französischen Vokalsystem, zitiert in Annegret a lsdorF -B ollée / Wilhelm P ötters , Sprachwissenschaftlicher Grundkurs für Studienanfänger Französisch. Materialien zur Einführung in die französische Sprachwissenschaft. Tübingen: Narr 1991, S. 148-152, und Ruth r eichstein , Étude des variations sociales et géographiques des faits linguistiques. (Observations faites à Paris en 1956-1957). In: Word 16, 1960, S. 55-99. - Bei sächsischen Lernenden wird oftmals der ungerundete offene Hinterzungenvokal [-] als gerundeter halboffener Hinterzungennasalvokal [ɔ̃ ] realisiert. Eine Bewusstmachung kann dabei durch Artikulationsübungen und den kontrastiven Vergleich mit dem durch fehlerhafte Aussprache entstehenden surrealistischen „blonden Wein“ erfolgen. 471 Das Einschleifen der Regel im Refrain ist in der vorliegenden Arbeit an mehreren Beispielen dargestellt worden, wie bei Böttchers Sing Grammar (Abb. 39, S. 279), aber auch bereits bei Warchouf (S. 148, Fußnote 495), Barthélémy (S. 137) und den Kirchenchorälen. 472 Engelke / Meyer geben zu den französischen Begriffen der Artikulationsart deutsche Entsprechungen, die heute nicht mehr gebräuchlich sind, da sich der lateinische Terminus eingebürgert hat: So werden „Les fricatives“ mit „Reibelaute oder Sauselaute“ übersetzt und die „Les liquides“ mit „Trommellaute“. (Vgl. Engelke / Meyer 1929, S. 4.). 473 Es handelt sich um das von Reum und Jehl aufgenommene ABC-Lied nach der Weise „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. (Vgl. S. 250 in der vorliegenden Arbeit.). <?page no="289"?> 290 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 40: Karl e ngelke / Wilhelm m eyer , Übungs- und Lesebuch für U III und O III. Leipzig: G. Freytag 1929, S. 2 f. <?page no="290"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 291 Abb. 41: Karl e ngelke / Wilhelm m eyer , Übungs- und Lesebuch für U III und O III. Leipzig: G. Freytag 1929, S. 12 f. <?page no="291"?> 292 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 42: Karl e ngelke / Wilhelm m eyer , Übungs- und Lesebuch für U III und O III. Leipzig: G. Freytag 1929, S. 4 f. <?page no="292"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 293 Anhand von Karl Quiehls Veröffentlichungen lässt sich die Entwicklung der approche atomiste anhand des prototypischen Uhlandschen Volkslieds „Ich hatt’ einen Kameraden“ exemplarisch nachvollziehen. Fünf Jahre nach Viëtors „Trompetenstoß“ skizziert Quiehl auf dem Zweiten Allgemeinen Deutschen Neuphilologentag 474 1887 in Frankfurt am Main 475 erstmals nach einer Zusammenfassung der Vorzüge des Liedeinsatzes im französischen Anfangsunterricht den Einsatz der französischen Kontrafakturversion zur Lautschulung und Festigung: Als erstes zusammenhängendes Stück wähle ich ein Gedicht; ein solches prägt sich vermöge der gebundenen Form und des Reims besonders gut ein. Da die genaue Wiedergabe der Einzellaute zunächst die Hauptsache ist, 476 so wird ein Lied singend geübt. Beim Gesange werden die Laute länger gehalten, was besonders den Nasalvokalen zu gute kommt. 477 Quiehl verwendet hier noch nicht die Umschrift der Association phonétique internationale , dies erfolgt erst in der sechsten Auflage seines Werks Französische Aussprache und Sprachfertigkeit. 478 Im Folgenden beschreibt Quiehl seine approche atomiste: Als erstes französisches Gedicht nehme ich die Übertragung des Uhlandschen „Ich hatt einen Kameraden“ . Ich spreche die ersten zusammenhängenden Worte žávè vor, lasse sie nachsprechen und gebe das Deutsche hinzu. Dann werden sämtliche Laute der Reihe nach […] vorgenommen und auf ž und v besonders geachtet. Das 2. Lautganze behandle ich genauso. Die gleichzeitig eingeübte deutsche Übersetzung ist die wörtliche, damit sie beim Wiedervorkommen des Ausdrucks für die Herstellung des Sinnes benutzt werden kann. Doch lasse ich wegen der Verschiedenheit der französischen und deutschen Laute beide Ausdrücke nicht unmittelbar hintereinander von demselben Schüler hersagen. Alsdann wird der ganze Vers 474 Bereits auf dem Ersten Neuphilologentag 1886 in Hannover hatte Friedrich Ahn darauf hingewiesen, dass „Gelehrte Erörterungen über die Phonetik […] dem die fremde Sprache beginnenden Kinde unverständlich [sind], Kinder lernen lediglich durch das Geheimnis der Nachahmung. Der Anfangsunterricht wird sich deshalb darauf beschränken müssen, die in der Muttersprache nicht vorhandenen fremden Laute durch zweckmäßig gewählte Artikulationsübungen geläufig zu machen und das Gelernte in kleinen leichten Sätzen anwenden zu lassen. (Friedrich a hn , Inwieweit können bzw. dürfen die Ergebnisse der Lautphysiologie und Phonetik für das elementare Studium der neueren Sprachen verwertet werden? In: Verhandlungen des Ersten Allgemeinen Deutschen Neuphilologentages zu Hannover. Hannover: Meyer 1886, S. 36.). 475 Vgl. Quiehl (1887), S. 33-45. 476 Das entspricht der Definition der approche atomiste . 477 Quiehl (1887), S. 37. 478 Vgl. Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. 6. Aufl. Leipzig und Berlin: Teubner, 1921. <?page no="293"?> 294 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung nach der bekannten Melodie langsam gesungen und schwierige Laute besonders gedehnt. So wurde anfangs schlecht hervorgebracht und deshalb längere Zeit allein oder in geübt. Auch das stimmhafte d am Ende des Verses bereitete Schwierigkeiten, nicht weniger die a-Laute für Schüler vom Lande; v mußte noch lange mit weggehobener Oberlippe gesungen und bei z und ž immer wieder an den Stimmton erinnert werden. 479 Wie Klinghardt und Walter gibt Quiehl praktische Hinweise zur Artikulation: Ein Sextaner konnte die beiden letzteren lange nicht treffen, alles Vorsprechen half nichts; der Wink, mit dem Zeigefinger am Kehlkopf und mit dem Übergehen aus m zu z den Laut zu versuchen, brachte ihn endlich zu z und noch später zu ž. Andere konnten den Nasalvokal nicht sprechen und gingen jedesmal nach dem Ansetzen des Lautes in deutsches ng über, das durch die Hebung des Zungenrückens bedingt wird. Der Wink, die Zunge niederzuhalten, um sie zu verhindern, aus der Stellung des entsprechenden Vokales (è, à, ò, ö) in die ng-Stellung überzugehen, führte schließlich zur Hervorbringung des reinen Nasalvokals. 480 Auf diese Weise lässt Quiehl seine Schüler nach vierwöchentlichem lautlichen Unterrichte […] leichtere vorgesprochene Sätze im allgemeinen fehlerlos in Lautzeichen nieder[zu]schreiben. Die Lautschrift kann nur in dem Falle verderblich wirken, wenn von Unverständigen durch sie wieder ein anderes Ausgehen von der Schrift einzuführen versucht wird. Sie ist dagegen ein vortreffliches Mittel, die Schüler zu zwingen, sich genau über die Natur der gesprochenen Laute Rechenschaft abzulegen. 481 Quiehl fasst seine Erkenntnisse in vier Thesen zusammen: 1) Bei dem bisher üblichen Verfahren im englischen und französischen Ausspracheunterricht ist die Aussprache nicht genügend zu ihrem Rechte gekommen. 2) Beim englischen und französischen Anfangsunterricht ist ein Ausgehen vom Laute unbedingt notwendig. 3) Die gleichzeitige Einführung der Orthographie erschwert die Aneignung einer guten Aussprache. 479 Quiehl (1887), S. 37 f. 480 Ebd., S. 38. 481 Ebd., S. 39. <?page no="294"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 295 4) Es ist dringend wünschenswert, daß weitere, möglichst zahlreiche Versuche mit der rein lautlichen Vorschulung und der Benutzung einer Lautschrift gemacht werden. 482 Zwei Jahre später erklärt Quiehl in der wissenschaftlichen Beilage zur Programmschrift der Städtischen Realschule zu Kassel, dass er grade dieses Gedicht [wählte], weil es singbar ist, ferner weil der Sinn keine Schwierigkeiten macht und weil die Schüler die dazu gehörige deutsche Melodie schon kannten. Ich verhehle mir nicht, dass man gegen dasselbe anführen kann, es sei eine Übersetzung; aber für den Hauptzweck erwies es sich als passend. 483 Als Begründung zum Einsatz von französischen Übersetzungen deutscher Lieder führt Quiehl an: „Die Auswahl an Liedern, die uns zur Verwendung im Unterricht zu Gebote steht, dürfte nicht allzu reichlich sein. Die den Franzosen eigene Gattung von Volks- und Kinderliedern weicht von unserem Geschmack ab.“ 484 Damit steht Quiehl in der gleichen Tradition wie Lehmann, Wingerath, Stier, Alge und Schild. 485 Quiehl unterstreicht auch hier die wiederholte mündliche Einübung, Zerlegung in die Einzellaute, Wiederzusammenstellung. Viel Chorsprechen. Bei der Zerlegung der Einzellaute deutet anfangs der Lehrer, später ein Schüler auf das Zeichen des zur Zeit hervorgebrachten Lautes an der Lauttafel. 486 Neben dem Vor- und Nachsprechen und Singen des Liedes setzt Quiehl Lautdiktate ein: „Das erste wurde in der dritten Woche geschrieben und enthält 16 einzelne Laute und 15 Wörter; das zweite wurde 18 Tage später geschrieben und enthält fünf kleine Sätze mit 27 Wörtern, welche die Schüler inhaltlich verstanden.“ 487 Auch in Quiehls Monographie Französische Aussprache und Sprech- 482 Ebd., S. 40. 483 Karl q uiehl , Die Einführung in die französische Aussprache. Lautliche Schulung, Lautschrift und Sprechübungen im Klassenunterrichte. In: Wissenschaftliche Beilage zum Programm der Städtischen Realschule zu Cassel. Programm vom Schuljahre 1888/ 89, Cassel: Druck von L. Döll 1889, S. 30. 484 Ebd. 485 Vgl. dazu Kapitel III. Eine nouvelle Querelle des Anciens et Modernes beim Liedeinsatz in der vorliegenden Arbeit. Er empfiehlt aber auch Bérarts Volkslied „Ma Normandie“ und Bierbaums Eigenkompositionen: „Dagegen hat z. B. das Volkslied Ma Normandie eine sehr schöne Melodie und wird von den Schülern gern gesungen. Das soeben erschienene „Lehrbuch der französischen Sprache“ von Julius Bierbaum, 1. Teil […] giebt in einem Anhange 10 französische Lieder mit Noten.“ (Ebd., S. 31.). 486 Ebd. 487 Ebd., S. 33. <?page no="295"?> 296 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung fertigkeit 488 nimmt das Uhlandsche Lied eine zentrale Stellung ein. Neben den bekannten Übungen des Vor- und Nachsprechens, des Einzel- und Chorsingens erfolgt eine gegenseitige Kontrolle im Plenum: „Bei allen mündlichen Übungen haben die Schüler auf die Aussprache der Mitschüler zu achten; sie ‚melden‘ sich, wenn sie Fehler bemerken und verbessern dieselben.“ 489 Quiehl variiert auch seine Übungen an der Lauttafel in Bezug auf 1889: Um mehr Schüler auf einmal zu beschäftigen, werden mehrere vor die Klasse gerufen (etwa vier an zwei Wandtafeln); sie schreiben für die vorgesprochenenen Laute die Zeichen an. Die Lauttafel bleibt den Schreibenden wie den übrigen dabei sichtbar, die Schüler brauchen aber bald nicht mehr auf dieselbe zu sehen. Dieses Verfahren […] nötigt die Schüler sich von der Natur der Laute genau Rechenschaft abzulegen. 490 Den Gegnern der Lautschrift, die meinen, die Schüler müssten zwei Schreibsysteme lernen, antwortet Quiehl mit einer Gegenargumentation: Nichts ist unbegründeter als diese Behauptung. Die lautliche Schreibung wird überhaupt nicht gelernt; nicht sie spielt irgend welche Rolle, sondern die Aussprache. Ein gedächtnismässiges Einlernen der lautlichen Schreibung darf bei richtig betriebenem Laut-Unterricht nicht vorkommen. Der Schüler soll sich niemals durch Anschauen das lautliche Schriftbild als solches einprägen, sondern soll den durchgenommenen Sprachstoff gut französisch aussprechen lernen. Wird er aufgefordert, das Gelernte lautlich anzuschreiben, so geschieht dies in der Absicht zu ermitteln, ob der Schüler die Laute richtig aufgefasst hat und bewusst richtig hervorbringen kann. Er giebt mit den Zeichen, die er anschreibt, nur ein Abbild seiner eigenen Aussprache. Wenn ein Schüler nach dieser Art des Verfahrens einen Fehler macht, so kann der Lehrer sicher sein, der Schüler hat den betreffenden Laut nicht erfasst und kann ihn nicht richtig hervorbringen. Dass so die Lautschrift ein vortrefflicher Prüfstein der Aussprache ist, wird niemand leugnen wollen. 491 Für die Lautdiktate lässt Quiehl seine Schüler ein Heft anlegen: Das Heft liess ich so einrichten, dass ich die Lautschrift auf die linke Seite schreiben liess, mit der wörtlichen deutschen Übersetzung Zeile für Zeile darunter; die rechte bleib frei für die gewöhnliche Rechtschreibung, zu der erst im zweiten Vierteljahr übergegangen wurde. In dem lautlichen Texte deuteten senkrechte Striche ( | ) das 488 Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Phonetik sowie mündliche und schriftliche Übungen im Klassenunterrichte. Auf Grund von Unterrichtsversuchen dargestellt . 2., umgearbeitete und vermehrte Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1893. 489 Ebd., S. 92. 490 Ebd. 491 Ebd., S. 94. <?page no="296"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 297 Ende eines kleinen Lautganzen an. […] Das Lautbild des Gedichtes Le bon camarade, als Gedicht, nicht als Lied geschrieben, sah demnach folgendermassen aus. 492 Quiehl verweist auf die Besonderheit einer neuen Silbe mit dem mittleren Zentralvokal [ə] („schwa“) beim Singen. Die Kontrafakturversion des Uhlandschen „Guten Kameraden“ wird von Quiehl als Artikulationsgymnastik, Festigung und Wiederholung im Unterricht als phonetisches Hilfsmittel benutzt: „Dieses Lied wurde auch später im Laufe des Jahres öfter gesungen. Da es mit besonderer Sorgfalt eingeübt war, stellte sich die Wiederholung desselben als geeignetes Mittel dar, die Schüler am Festhalten der guten Aussprache zu unterstützen.“ 493 Gleichzeitig ist die motivationale Funktion des Liedeinsatzes zu beachten: „Auch diente es vielfach dazu, bei eingetretener Müdigkeit die Lebensgeister wieder etwas anzuregen. Später wurden noch mehrere andere Lieder gesungen.“ 494 492 Ebd., S. 97. Vgl. Abb. 43, S. 298. 493 Ebd., S. 99. 494 Ebd. <?page no="297"?> 298 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 43: Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Phonetik sowie mündliche und schriftliche Übungen im Klassenunterrichte. Auf Grund von Unterrichtsversuchen dargestellt . 2., umgearbeitete und vermehrte Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1893, S. 98. <?page no="298"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 299 Die dritte, 495 vierte 496 und fünfte 497 Auflage zeigen nur einige Variationen in der Formulierung. In der dritten Auflage wird der stimmhafte postalveolare Frikativ durch die (heute gebräuchliche) Darstellung [ʒ] ersetzt und der gerundete halboffene Vorderzungennasalvokal durch [œ̃ ]. Die sechste Auflage 498 weist mehrere Kürzungen auf und beweist, dass der Höhepunkt des Interesses an der approche atomiste überschritten worden ist. Quiehl schreibt deshalb: Wenn der Schüler die fremden Laute soweit beherrscht, daß er nicht mehr ohne weiteres seine deutschen Laute einsetzt und daß er imstande ist, die gegebenen phonetischen Winke selbständig zu befolgen, so darf man ihm ohne Gefahr die Lautzeichen mit nach Hause geben, damit er in der Lage sei, das Gelernte zu befestigen. 499 Der Gesang im fremdsprachlichen Unterricht zur Lautschulung wurde auch in der zeitgenössischen Sekundärliteratur lebhaft diskutiert. Exemplarisch dazu soll Heinrich Schierbaums 500 Rezension zu Quiehl 501 und die darauffolgenden Randbemerkungen zu Schierbaums Aufsatz von Joachim Clasen 502 vorgestellt werden. Schierbaum bezieht sich auf die „ausführungsbestimmungen von 1908 zu dem erlasse über die neuordnung des höheren mädchenschulwesens in Preußen“, die „chorsingen der gesamten klasse oder einzelner gruppen [empfehlen], ‚wobei die schülerinnen zur gegenseitigen kontrolle heranzuziehen sind’, ausdrücklich.“ 503 495 Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Phonetik sowie mündliche und schriftliche Übungen im Klassenunterrichte. Auf Grund von Unterrichtsversuchen dargestellt . 3. Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1899. 496 Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Ein Hilfsbuch zur Einführung in die Phonetik und Methodik des Französischen . 4., umgearbeitete Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1906. 497 Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Ein Hilfsbuch zur Einführung in die Phonetik und Methodik des Französischen . 5. Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1912. 498 Karl q uiehl , Französische Aussprache und Sprechfertigkeit. Ein Hilfsbuch zur Einführung in die Phonetik und Methodik des Französischen . 6. Auflage. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1921. 499 Ebd., S. 152. 500 Heinrich s chierBaum , Der Gesang im fremdsprachlichen Unterricht. In: Die neueren Sprachen , Bd. 21, Heft 7, 1913, S. 433-448. 501 Es handelt sich um die fünfte Auflage von Quiehls Werk Französische Aussprache und Sprachfertigkeit , die 1912 erschienen ist. 502 Joachim c lasen , Einige Randbemerkungen zu Heinrich Schierbaums Aufsatz: Der Gesang im fremdsprachlichen Unterricht ( N. Spr. XXI, 7). In: Die neueren Sprachen , Bd. 22, Heft 2, 1914, S. 113 ff., 190 ff.. 503 Schierbaum (1913), S. 433 f. und Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 93. <?page no="299"?> 300 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Durch den gesang werden nicht allein die sprachwerkzeuge ausgebildet, gestärkt und gekräftigt, sondern auch die klangbildungen nie sonst so rein erzeugt wie beim singen. Nichts unterstützt die phonetischen übungen auf der unterstufe so wirksam wie das absingen besonders solcher fremdsprachlicher lieder, die sowohl für die einübung der reinen aussprache der einzellaute als auch ganzer wörter und wortverbindungen geeignet sind. 504 Wie Quiehl widmet sich Schierbaum der Aussprache der Nasalvokale und favorisiert den Einsatz didaktisierter, prototypischer Lieder zur Ausspracheschulung und zur Memorisierung der korrekten Sprachmuster: Besonders in gegenden, wo die mundnasenvokale nicht rein vokalisch zum vorschein kommen, ist das langanhaltende singen sehr förderlich, wie auch die bindung im gesange leichter erlernt und beachtet wird. Von selbst lernt sie ein schüler freilich nicht, man muß ihn dazu anhalten. Besonders gut eingeübte lieder stellen sich daher als ein recht wirksames und förderndes mittel dar, den schüler in der festhaltung einer guten aussprache zu unterstützen. Haben sie eine lautbildung vergessen, so haben sie nur nötig, sich ein lied mit den betreffenden lauten vorzusingen, um sich die richtige aussprache wieder ins gedächtnis zu rufen. 505 Für die Oberstufe steht der Liedeinsatz im Rahmen der Kulturkunde anhand fremdsprachlicher (Original-) Lieder 506 im Mittelpunkt: Die schüler dieser stufe sollen vor allem in das leben und wesen des fremden volkes eingeführt werden. Nichts aber interpretirt fremdes wesen und volksempfinden besser als der gesang. Nirgends so wie aus dem volksliede spricht die fremde volksseele unmittelbar zu uns. Sie hat keinen besseren dolmetsch. 507 Im Gegensatz zu Karl Quiehl und Max Walter lehnt Schierbaum „den unterricht unter steter verwendung der lauttafel“ 508 ab und verweist auf Emil Hausknechts Vergleich der Phonetik mit der Etymologie als Hilfswissenschaft, die nicht in den Schulunterricht gehört: Ich habe so viel und immer wieder die Gelegenheit, die französische Aussprache der verschiedensten Ausländer kennen zu lernen. Viele sprechen vorzüglich aus, ohne daß sie je eine Lautschulung hätten über sich ergehen lassen. Andere, die eine Lautschulung genossen haben, sprechen so eigenartig affektiert und unnatürlich, daß 504 Vgl. Schierbaum (1913), S. 434. 505 Ebd., S. 434 f. 506 Vgl. dazu Kapitel III in der vorliegenden Arbeit: Eine nouvelle Querelle des Anciens et Modernes beim Liedeinsatz. 507 Schierbaum (1913), S. 436. 508 Ebd., S. 438. <?page no="300"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 301 es eine Qual ist sie anzuhören und anzusehen. Und mehr als einen Phonetiker kenne ich, der weder richtig hört (er hört alles nach seiner angelernten Theorie), noch auch anders denn affektiert verkünstelt spricht. Damit will ich nicht behaupten, daß Lautschulung nicht doch ihren Nutzen hat. Nur darf der Phonetik nicht eine Bedeutung zugemessen werden, die ihr im Schulbetriebe nicht zukommt. Die Phonetik ist wie die Etymologie für Studenten und Lehrer eine nicht nur nützliche, sondern nötige Hilfswissenschaft. In den Schulunterricht gehört sie nimmer. 509 Im Gegensatz zu Quiehl will Schierbaum „die gedichtbehandlung vom gesang trennen: erst die lautliche und inhaltliche einübung des textes, dann die der melodie.“ 510 Um eine Überbürdung des Unterrichts und die daraus resultierende Überforderung der Schüler zu vermeiden, empfiehlt Schierbaum die Einübung von J’avais un camarade erst im fortgeschrittenen Anfangsunterricht: Mit der Amielschen übersetzung des „Guten kameraden“ zu beginnen, wie Quiehl es macht, halte ich aus dem grunde nicht für praktisch, weil man in einer stunde eine ganze strophe davon unmöglich einprägen kann, und etwas großes unfertiges erweckt doch nie den befriedigenden eindruck wie etwas kleines, aber fertiges. Die einübung von J’avais un camarade verspart man sich, wie Kühn und Diehl es anscheinend auch wollen, auf eine spätere zeit des anfangsunterrichts. 511 Schierbaum fasst sein Unterrichtsverfahren einer zehnstufigen Progression zusammen: 1. Zuerst wird das gedicht nur mündlich übermittelt, d. h. der schüler sieht kein schriftbild, der lehrer spricht die worte vor und läßt nachsprechen. 2. Die wörter werden zunächst einzeln behandelt, das ganze wort wird vorgesprochen, im chor und einzeln nachgesprochen. 3. Die einzellaute werden ebenso geübt, besonders die schwierigeren, wie die nasenlaute. 4. Die einzellaute werden wieder zu wörtern zusammengesetzt und nochmals geübt. 5. Die wörter werden zu wortverbindungen zusammengesetzt und geübt. 6. Die wörter eines sinnganzen werden nach ihrem inhalte betrachtet, dem sinn nach erklärt, einzeln und im zusammenhange des sinnes. 7. Der text einer strophe wird erst nach der lautlichen, dann nach der inhaltlichen seite eingeprägt. 8. Rhythmisirtes textsprechen in anlehnung an den text der melodie. 509 Emil h ausknecht , VIII. und IX. Französisch und Englisch. In: Jahresberichte für das höhere Schulwesen XXIV, 1909, S. VIII, IX, 9 f.. 510 Schierbaum (1913), S. 440. 511 Ebd., S. 442. <?page no="301"?> 302 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung 9. Vorsingen der melodie seitens des lehrers. Ist die melodie schwieriger, so singt man am besten abschnittweise vor bei gleichzeitigem taktzählen der kinder. 10. Nachsingen des abschnittes durch die schüler, und zwar anfangs am sichersten klassenweise, mit zunehmender sicherheit auch einzeln. Dann vor- und nachsingen der übrigen abschnitte und zusammenfassen derselben bis zur einheit der melodie. 512 Gegen den Einwand einiger Französischlehrer, dass sie nicht singen können und deshalb auf den Einsatz von Liedern verzichten, favorisiert Schierbaum eine Kooperation mit dem Gesangslehrer und die Übernahme von Unterrichtssequenzen durch musikbegabte Schüler. Die (partielle) Übernahme von (musischen) Lehrfunktionen durch Schüler kündigt in nucleo Jean-Pol Martins handlungsorientierte Methode Lernen durch Lehren 513 an, die in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Das ist nun meines erachtens durchaus kein stichhaltiger grund, sich eines wirksamen hilfsmittels nicht zu bedienen. Ich habe alle möglichkeiten genau durchprobirt. Ich selbst singe nur ganz einfache melodien. Da ich kein instrument spiele, um mir neue einzuüben, bin ich auch häufig auf fremde hilfe angewiesen. Einfachere lieder übe ich mit meiner frau am klavier ein und singe sie dann der klasse vor. Sind die melodien zu schwierig, dann bitte ich den gesangslehrer um die freundlichkeit, die weise mit den schülern einzuüben, natürlich immer erst nach einer gründlichen lautlichen und sprachlichen vorbereitung im unterricht. Der gesangslehrer wird in den seltensten fällen versagen. Manche lieder habe ich auf folgende weise gesanglich eingeübt: fast auf allen klassen, selbst den unteren, sind stets schüler, die schon irgendein instrument leidlich spielen, oder die gut singen und zu hause durch ältere geschwister oder eltern gelegenheit haben, sich das lied einzuüben. Dann läßt man diese in der klasse zusammentreten und die melodie einige male vorsingen, bis die klasse imstande ist zu folgen. Ich lasse auch häufiger schüler, die geige spielen, die melodien zu hause einüben, ihr instrument mitbringen und die weisen der klasse vorspielen. Dieses experiment habe ich schon häufig mit quintanern gemacht, und es gelang stets. Wichtig ist für die klasse beim vorspielen immer, daß sie den takt mitzählt. Man kann das unterstützen, indem man den text an die tafel schreibt und die starken silben entsprechend bezeichnet. Länger als zehn minuten dauert eine solche einübung kaum. Dafür bleibt dann die melodie, wenn sie dann und wann wiederholt wird, ewig haften. Heute besitzen wir außerdem ein großartiges hilfsmittel im phonographen und grammophon, die ich ebenfalls im unterricht 512 Ebd., S. 442 f. 513 Vgl. Jean-Pol m artin , Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts , 33. Jg., 1986, S. 395-403. <?page no="302"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 303 mit bestem erfolg angewandt habe. Dies sind verhältnismäßig noch die einfachsten mittel. Man läßt den apparat die melodie so lange vorspielen, bis die klasse dieselbe beherrscht. 514 II. 4. 2 Lautschulung mit Hilfe von Grammophonen Ab 1905 wurden Sprechplatten zur (fakultativen) Unterstützung der Sprachlehrprogramme verwendet. 515 Vor dem Ersten Weltkrieg wurden Grammophone, sogenannte „Sprechmaschinen“ eingesetzt, um die Lautschulung zu trainieren. Gulio Panconelli-Calzia veröffentlichte von 1905 bis 1911 in der Zeitschrift Die neueren Sprachen die Rubrik „Experimentalphonetische Rundschau“. 516 Der Leiter des Wiener Instituts für Phonetik und Phonographie, Viktor A. Reko, war nach Hanno Schilder „die führende Persönlichkeit in der Erörterung des Wertes der Sprechmaschine für den Unterricht, besonders des Unterrichts in den neueren Sprachen.“ 517 Im Verlag Wilhelm Violet wurden „nahezu alle Materialien (Grammophone, Zusatzgeräte, Plattensammlungen, Lehrwerke etc.) für den Unterricht mit der Sprechmaschine vertrieben. Dem Verlag war eine Zentralstelle für das phonographische Unterrichtswesen angegegliedert.“ 518 Im zweiten Heft Französisch von Violets Sammlung von Sprachplattentexten zum Unterricht mit der Sprechmaschine werden sowohl die approche atomiste (Lautübungen zum accent tonique , liaison , nasales , voyelles etc.) eingesetzt als auch im Rahmen der approche globaliste Gedichte, Fabeln, Monologe und Lieder. Die 39 Lieder und Gesänge sind in den ersten beiden Heften von 1913 enthalten. Damit werden die Früchte und die Aus- und Nachwirkungen der neusprachlichen Reform als musikalische Bewegung deutlich. Es handelt sich in der Spätphase ausschließlich um original französische Lieder. 519 Eine ausführliche Auswahl an „Plattenmaterial für Schule und Selbstunterricht“ bietet das erstmals 1912 erschienene Buch von Ernst Surkamp, der zur Auswahl der Platten bezüglich der 514 Schierbaum (1913), S. 443 f. 515 Vgl. dazu die Methode Toussaint-Langenscheidt, S. 162 f. in der vorliegenden Arbeit. 516 Vgl. zur Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg Schilder (1977). 517 Ebd., S. 184. 518 Ebd., S. 186. 519 Von den bereits besprochenen „prototypischen Liedern“ findet man beispielsweise La Marseillaise im Bd. I, S. 101, auf den Platten Nr. 6009, 7011, 7031, 7035, 7041, 7063, 7064, 7065, 7102 als realienbzw. kulturkundliches Dokument am häufigsten, Ma Normandie zweimal (I, 103, Platte 7062), danach die bekannten Volkslieder Sur le pont d’Avignon (II, 132, Platten 7016 und 7123) und Il était une bergère (II, 137, Platte 7062). Le Bon camarade ist übrigens unter der Rubrik „Gedichte“ aufgeführt: Uhland-Amiel, Le bon camarade (5426, 5456), Bd. II, S. 74. (Vgl. Anonym, Violets Sammlung von Sprachplattentexten zum Unterricht mit der Sprechmaschine. Französisch. 1. und 2. Heft. Stuttgart: Verlag von Wilhelm Violet 1913.). <?page no="303"?> 304 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung approche atomiste und globaliste im Kapitel Das Plattenmaterial für Schule und Selbstunterricht folgende Progression aufstellt: Je nach der Stufe der Klasse, je nach dem Zweck, der im Vordergrund steht, ob zunächst lautliche Schulung oder Gewöhnung an eine dialektfreie Aussprache oder Aneignung des echt nationalen Tonfalles, oder noch darüber hinausgehende Schulung in der Kunst des edlen Vortrages von Dichtungen im Vordergrunde steht. Nicht weniger wichtig ist auch die Vorführung von Liedern des Volkes, dessen Sprache man lehrt. Es kommen da in Betracht zunächst die für das Volk meistens außerordentlich charakteristischen Nationalhymnen, die im Schoße des Volkes entstandenen Volkslieder, die ein unverfälschter Ausdruck seines Wesens 520 sind. Auch an anderen, allgemein verbreiteten und bekannten Liedern sollte man im Interesse der allseitigen Kenntnis eines Volkes und seines Charakters, der sich in hervorragender Weise auch in seinen Liedern ausprägt, nicht vorübergehen. Auch zur sprachlichen Schulung können Lieder nicht selten gute Dienste leisten. 521 Surkamp beginnt im Unterkapitel Französische Platten mit der Beschreibung der „beiden Platten 5011 und 5012 mit Texten zu den so weit verbreiteten Hölzelschen Jahreszeitenbildern“, die „sehr beliebt sind“. Eine besondere Bedeutung kommt auch hier der kulturwissenschaftlichen Perspektive zu: Von hervorragender Wichtigkeit zum Erfassen des Volksgeistes, um das innerste Wesen eines Volkes mit erleben zu können, sind auch gesungene Volks- und Nationallieder. Keine Schule sollte versäumen, ihre Schüler mit diesen Liedern, die der Franzose mit dem ihm eigenen Schwung, mit übersprühender Begeisterung vorträgt, bekannt zu machen. Wohl in keinem Liede, sowohl im Text, als auch in der Melodie, prägt sich der Geist eines Volkes so aus, wie in der Marseillaise. Weitere Kriegslieder und Vaterlandslieder voll echten französischen Geistes sind Le chant du départ, Le rêve passe, Hymne au drapeau. Das auch bei uns sehr bekannte, in viele Schulbücher aufgenommene, herrliche Heimatslied: Ma Normandie (Nr. 7062) legt Zeugnis ab von der innigen Liebe des Bewohners der Normandie zu seinem Lande. Dagegen liegen die innigen Töne unseres deutschen Volksliedes dem französischen Volkscharakter ferner und sind daher nur selten vernehm- 520 Vgl. Reinfried (1999a), S. 199-234 zum Paradigmenwechsel von der Realienzur Kulturkunde bzw. zur terminologischen Differenzierung zwischen Kultur- und Wesenskunde Apelt (1977), S. 84-119, und S. 423, Fußnote 217 in der vorliegenden Arbeit. 521 Vgl. Ernst s urkamP , Die Sprechmaschine als Hilfsmittel für Unterricht und Studium der neuern Sprachen. Mit einem Verzeichnis von etwa 1000 Sprechplattenmaschinen mit Prosavorträgen, Gesprächen, Rezitationen und Liedern in deutscher, englischer, französischer, italienischer, spanischer und russischer Sprache (mit genauem Register aller auf diesen Platten vorkommenden Texte) sowie von Sprechmaschinen für Unterricht und Studium. Stuttgart: Wilhelm Violet. Zentralstelle für das phonographische Unterrichtswesen 1912, S. 23. <?page no="304"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 305 bar. Hübsche, muntere, lebhafte, echt französische Kinderlieder sind auf Platten zu hören von Rachel de Ruy, Frau Zecca und Pauline Bert. (Nr. 7071 bis 7075, 7121-7125, 7015, 7016). 522 1913, also im gleichen Jahr wie Schierbaums Artikel, erschien das Grundlagenwerk von Otto Driesen Das Grammophon im Dienste des Unterrichts und der Wissenschaft , das nach Altersstufen geordnetet war: Band I, Teil 1 widmet sich dem Kindergarten, der Volksschule, der Mittelschule und den höheren Lehranstalten. Das Grammophon wurde sowohl als musikalische Begleitung für Artikulationsübungen und Lieder eingesetzt (Abb. 44a, S. 306) als auch im Musikunterricht zur Rhythmusschulung (Abb. 44b, S. 307), bei öffentlichen Schulveranstaltungen wie dem Schauturnen beispielsweise mit dem dafür komponierten Turnfahrt-Lied (Abb. 44c, S. 308) oder bei Wettbewerben und Spielen. 522 Ebd., S. 24. <?page no="305"?> 306 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 44a: Otto d riesen , Das Grammophon im Dienste des Unterrichts und der Wissenschaft. Bd. I, Teil 1. Berlin: Verlag der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft 1913, S. 17. <?page no="306"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 307 Abb. 44b: Otto d riesen , Das Grammophon im Dienste des Unterrichts und der Wissenschaft. Bd. I, Teil 1. Berlin: Verlag der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft 1913, S. 49. <?page no="307"?> 308 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 44c: Otto d riesen , Das Grammophon im Dienste des Unterrichts und der Wissenschaft. Bd. I, Teil 1. Berlin: Verlag der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft 1913, S. 32. <?page no="308"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 309 Band I, Teil 2 stellt Textproben für Kindergarten, Volksschule, Mittelschule und höhere Lehranstalten dar. Es wurden original französische Volkslieder eingesetzt: Il était une bergère , Il était un petit Navire , Gentil coquelicot , La petite Anesse , La Coquette , La Veille und die kulturspezifischen Werke La Marseillaise , Le Drapeau tricolore. Der geplante Band II ist, wahrscheinlich aufgrund des Kriegsausbruchs 1914, nicht erschienen. 523 Sprechplatten wurden auch als didaktisches Begleitmaterial verwendet und sind damit die Vorläufer der heutigen Schüler- und Lehrer CDs: Zunächst ließen sich die Verleger von sprachlichen Selbstunterrichtswerken bereitfinden, sie zu diesen Platten herauszubringen. Die Methoden Schliemann und Toussaint-Langenscheidt waren die ersten, die die phonographischen Platten in den Dienst ihrer Unterrichtswerke stellten. 524 Als erstes Lehrbuch, zu dem Platten herausgegeben wurden, gilt Bierbaums Lehrbuch der französischen Sprache (5014, 5015). Es folgten die im Rahmen der vermittelnden Methode weit verbreiteten Lehrbücher der französischen und englischen Sprache (2129-2160, 5401-5457) von Boerner und Thiergen sowie die Lehrbücher der französischen und englischen Sprache (2225-2269, 5501-5555) von Dubislav, Boek und Gruber in zahlreichen Ausgaben. 525 II. 5. Ausformung didaktischer und bildungstheoretischer Ideen zum Singen Joachim Clasen begrüßt Heinrich Schierbaums anregende „ausführungen über den zeitgemäßen gegenstand“, die dazu beitragen, „der pflege des gesangs bei allen sangeskundigen neusprachlern mehr aufmerksamkeit zu widmen, als bis jetzt geschehen ist.“ 526 Im Gegensatz zu Schierbaum will Clasen den Gesang in der Fremd-, aber auch Muttersprache nicht nur im Anfangsunterricht sowie in den unteren und mittleren Klassen einsetzen, sondern auf den gesamten Unterricht und alle Klassenstufen im Rahmen der Kulturkunde ausweiten: Wenn auch, dank einzelnen reformern, der englisch-französische gesang in den letzten jahrzehnten mehr in aufnahme gekommen ist, so hat er doch noch lange nicht die wertung gefunden, die ihm vom sprachlichen, ästhetischen und völkerpsy- 523 Vgl. Otto d riesen , Das Grammophon im Dienste des Unterrichts und der Wissenschaft. Bd. I und II. Berlin: Verlag der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft 1913. 524 Ebd., S. 26. 525 Ebd. 526 Clasen (1914), S. 113. <?page no="309"?> 310 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung chologischen standpunkte gebührt. Denn wenn wir unsere jugend mit der tiefe der fremden volksseele bekannt machen, wenn wir sie diese tiefe wollen fühlen lassen, so ist neben der sprache mit ihrer dichtung nichts so sehr dazu geeignet als der nationale gesang. Für diesen zweck genügt aber nicht das singen von kinderreimen und liedchen auf der unterstufe oder gar im anfangsunterricht beim einüben der fremden laute 527 , sondern der fremdsprachliche gesang muß sich auf alle klassen erstrecken, und zwar auf der oberstufe nicht als gelegentliches anhängsel, wie Sch. [Schierbaum, A. R.] will, nein als wesentlicher teil des sprachunterrichts, ebenso wie die pflege des deutschen gesangs durch die ganze schule. 528 Ein weiterer Dissens ist, dass „gegen des verfassers [also Schierbaums, A. R.] ansicht - keineswegs alle schüler am fremden gesang teilnehmen können und dürfen“, „weil es wohl auf allen stufen einige gibt, die ohne musikalisches gehör sind und daher durch ihr eintöniges mitsummen und mitbrummen den ganzen gesang stören und verderben würden.“ 529 Clasen lehnt auch den Einsatz französischer Originallieder zur Lautschulung ab: „Anderseits scheint es mir sehr fraglich, ob es zur einübung der in der muttersprache nicht vorkommenden fremdsprachlichen laute der verwendung fremder volkslieder bedarf.“ 530 Joachim Clasen empfiehlt, französische Lieder erst einzusetzen, wenn die lautschwierigkeiten großenteils überwunden sind; denn an volksliedern lautlehre treiben oder mittels derselben sprachlaute richtig einüben wollen, heißt auf spatzen mit kanonen schießen und andererseits sowohl die muse der dichtung wie die des gesanges schmählich beleidigen. […] Erst wenn die schüler lautrein sprechen und lesen können, darf das lied in seine rechte treten, wobei wiederum tadelfreies vorsingen des lehrers unerläßliche bedingung ist. 531 527 Clasen bezieht sich hier auf die approche atomiste , A. R. 528 Ebd., S. 113. 529 Ebd. - Clasen folgt hierbei Thurau. Vgl. dazu auch S. 436-444 in der vorliegenden Arbeit. 530 Clasen (1914), S. 113. Hierbei spielt sicherlich der zeitgeschichtliche und geopolitische Hintergrund eine wichtige Rolle im Kontext des beginnenden Ersten Weltkriegs und antifranzösischer Ressentiments und verstärkter Besinnung auf die Muttersprache, wie dies in der Folientheorie zum Ausdruck kommt. Das beweist auch der häufige Bezug auf den Muttersprachunterricht: „Welcher deutsche leselehrer bedient sich denn beim üben und einprägen dialektfreier sprachlaute des volksliedes, um mit seiner hilfe eine tadelfreie aussprache zu erzielen? Meines wissens keiner. Vielmehr verwenden sie dazu - oder sollten es wenigstens - die sog. Normalwörter guter fibeln. Vor- und nachsprechen eines solchen wortes, starkes hervorheben des betreffenden lautes, heraushören, isolieren, einzelübung, anwendung in andern wörtern und kleinen sätzen bis zur gewünschten fertigkeit: das ist der weg zur einübung der einzelnen laute im deutschen.“ (Ebd., S. 114.). 531 Ebd., S. 114. Clasen verweist in diesem Zusammenhang auf das Zitat von Comenius: „Quod fieri potest per pauca, non debet per plura, sagt Amos Comenius, wenn ich mich recht erinnere.“ (Ebd., S. 114.) Die deutsche Übersetzung des Zitats lautet: „Was mit weni- <?page no="310"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 311 Clasen führt auch Schierbaums zehnstufige Progression zur Einübung eines Liedes auf die „methode der deutschen liederübung“ zurück, d. h. der lehrer spricht den text vor, läßt ihn darauf lesen und überzeugt sich mittels induktiver fragen, möglichst in französischer sprache, vom verständnis der schüler. Etwaige lesefehler der schwächeren werden von befähigteren verbessert. Diese werden nach vierbis fünfmaligem lesen den kurzen text auswendig können, die anderen lernen ihn durch wiederholtes singen und üben ihn nötigenfalls zu hause vollends ein. Nach dieser vorbereitung des textes tritt der lehrer an die tafel, wo er das lied, natürlich mit noten, im voraus angeschrieben hat, und spielt die melodie auf der geige 532 vor, um sie dann gut vorzusingen. 533 Hierauf bezieht er unter taktzählen mit der bogenspitze die länge der einzelnen noten, deren bedeutung den schülern bereits bekannt ist, wenn sie auch die tonhöhe noch wenig treffen können, weil dazu später vorzunehmende besondere übungen nötig sind. Endlich wird das lied abschnittsweise mit hilfe der geige so eingeübt, daß schließlich der vortrag des ganzen auf jeden musikalisch gebildeten einen angenehmen eindruck macht. 534 Nach Clasen sollten Schierbaums Punkte 3 und 4 bereits „in der lautlehre erledigt sein und gehören nicht in die liederübung.“ 535 Bei Punkt 9 kritisiert Clasen, daß schwierige melodien nicht in den anfangsunterricht gehören, alle lieder aber zu anfang ganz vorgespielt und ebenso vorgesungen werden müssen, damit die gem erreicht werden kann, soll nicht durch größere Mittel erreicht werden.“ Das bedeutet für den Anfangsunterricht und die Einübung neuer Laute, dass der Liedeinsatz für Clasen eine unnötige Überbürdung und einen Umweg im Lernprozess darstellt. 532 Im Gegensatz zu Schierbaums Ansicht sollte nach Clasen jeder Fremdsprachenlehrer „vor allem ein geschulter, guter sänger sein, daneben aber auch die methode beherrschen, ein leidlicher geigenspieler sein, der wenigstens die für den gesang in betracht kommenden töne der ersten lage rein und wohlklingend zu spielen vermag, und endlich gut disziplin halten können.“ (Ebd., S. 190.). 533 Für Clasen ist der Gesang Gradmesser der Qualität des Unterrichts, denn „der mißerfolg eines mangelhaften oder schlechten unterrichts [tritt] nirgends, auch für den laien, so offenbar zutage wie beim gesang. Zwar wirkt auch schlechte instrumentalmusik beleidigend auf musikalische ohren; allein schlechter gesang ist von allen stümperhaften kunstleistungen geradezu der ,schrecklichste der schrecken’, da bei seinem anhören außer dem beleidigten ohr auch das gefühl und gemüt mehr in mitleidenschaft gezogen werden. Lieber wollen wir auf allen fremdsprachlichen gesang verzichten, so sehr er sich immerhin aus phonetischen und ästhetischen gründen sowie für das verstehen der fremden volksseele auch empfiehlt, als uns mit mittelmäßigen oder gar schlechten leistungen zufriedenzugeben.“ (Ebd., S. 190.). 534 Clasen (1914), S. 114 f. 535 Ebd., S. 115. <?page no="311"?> 312 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung schüler den eindruck des ganzen 536 in gehör und gefühl 537 aufnehmen können, und darauf abschnittsweise vorzunehmen sind. Ein „gleichzeitiges taktzählen der kinder“ würde sowohl den gesang stören, wie auch die aufmerksamkeit ablenken, ist also entschieden abzulehnen. 538 Clasen äußert sich zurückhaltend bis ablehnend bezüglich des von Schierbaum favorisierten Grammophoneinsatzes im Fremdsprachenunterricht: Das grammophon freilich, das Sch. [Schierbaum, A. R.], der „den gesangunterricht nach allen seiten erprobt“ haben will, „ein großartiges hilfsmittel“ nennt, wird und kann uns nicht aus der verlegenheit helfen. Es ist meines erachtens nicht einmal zur richtigen einübung der fremden laute geeignet, noch viel weniger zum lehren fremden gesanges. Wenn auch viel daran verbessert worden ist, so daß es gegenwärtig die hineingesprochenen bzw. gesungenen laute, worte und töne besser wiedergibt als früher: es bleibt doch immer eine das menschliche organ nur unvollkommen nachahmende maschine, welcher eben die seele fehlt, und die aus diesem grunde den vorsprechenden oder singenden lehrer, der überdies bei fehlerhafter aussprache wiederholen und verbessern läßt, nun und nimmer ersetzen kann, noch viel weniger als das maschinenklavier den spielenden künstler auch nur annähernd zu vertreten vermag. 539 In Anlehnung an Luthers Schulmeisterzitat 540 unterstreicht Clasen die Bedeutung des Gesangs für den Fremdsprachenunterricht und verbindet seine Ausführungen mit einem Plädoyer für eine Reform der Lehrerbildung: 536 Hier erfolgt der Pendelschlag von der approche atomiste zur ganzheitlichen Betrachtungsweise der approche globaliste . 537 Auch hier erfolgt eine Rückbesinnung auf den Sensualismus und die kindgemäße Empathie der Philanthropen. 538 Clasen (1914), S. 115. 539 Ebd., S. 190 f. 540 Clasen plädiert für eine musikalische Grundbildung aller Fremdsprachenlehrer und folgt damit Martin Luthers bekanntem Diktum: „Einen schulmeister, der nicht singen kann, seh’ ich nicht an.“ Er denkt dabei vor allem an die Elementarlehrer an den Volksschulen, da es seinerzeit fachlich spezialisierte Lehrer (von der Mittel- und Oberstufe an Lateinschulen abgesehen) nur in geringem Umfang gab. Laut Clasen gilt die „gesangschulung […] also dem auch um das schulwesen hochverdienten reformator als ein wesentlicher teil der lehrerbildung, und ich bin der meinung, daß ein neuphilologe sich mit ihr abzufinden hat. Bei ernstem wollen wird er im erstreben der befähigung als fremdsprachlicher gesangslehrer auch nicht auf nennenswerte schwierigkeiten stoßen. Etwas singen hat er bereits auf der schule gelernt, und er würde viel mehr gelernt haben, wenn der bildungswert des gesanges auf unseren höheren schulen allgemein höher eingeschätzt wäre und dementsprechend wirksamer in die hand genommen werden würde. Auf der hochschule müßte ein angestellter, tüchtiger gesangslehrer ihn theoretisch und praktisch weiter ausbilden, während <?page no="312"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 313 Also nur von einem im singen geschulten lehrer können die schüler fremdsprachlichen gesang gehörig lernen, und die reformbewegung kann nicht die aufgabe von der hand weisen, die heranbildung tüchtiger gesanglehrer ernstlich zu erstreben. 541 Konnte Luthers Reformation von „unten“ neben gesellschaftspolitischen, sozialen und theologischen Aspekten aus didaktisch-methodischer Sicht auch als „grassroot movement“ einer Singbewegung 542 verstanden werden, so wird der Gesang zum Leitmotiv der neusprachlichen Reformbewegung als musische Unterrichtsreform: Und nun zur hauptsache. Der gesang ist meines erachtens die feinste, eindrucksvollste der musischen künste, welche unsere schüler kennen lernen, und an gemütsbildung ist kein anderer unterrichtsgegenstand ihm gleich zu achten. Deshalb verdient er eine viel sorgfältigere Pflege, als ihm in den meisten höheren schulen zuteil wird. Zu meinem bedauern kann ich angesichts der vernachlässigung dieses höchst fruchtbaren bildungsmittels die lehrer nicht ganz freisprechen von dem vorwurf, daß sie an der unerfreulichen tatsache selbst schuld sind. Gesang ist eine kunst. Das wort ist präteritalsubstantiv von können . Eine kunst, die ich andere lehren will, muß sich selbst gründlich können, oder der schüler, wenn er kein besonderes talent ist, das sich selbst zu helfen weiß, wird sie nur stümperhaft lernen. 543 Ein Jahr nach Erscheinen der 2. Auflage von Quiehls Werk Französische Aussprache und Sprechfertigkeit widmet sich Hermann Schmidt in seinem gleichder universitätsmusiklehrer ihn in das nötige geigenspiel einzuführen hätte. Beides würde wenig zeit in anspruch nehmen und in den anstrengenden, einseitigen sprachwissenschaftlichen studien eine angenehme, erfrischende abwechslung darbieten.“ (Ebd., S. 191 f.) Clasen schlägt vor, dass diese „anspruchslose, aber unerläßliche musikalische ausbildung […] in der kommenden neuen prüfungsordnung von den neuphilologen verlangt werden“ sollte: „Soll also der fremdsprachliche gesangunterricht im lehrplan der höheren schulen die ihm gebührende stellung einnehmen, dann müssen die betreffenden lehrer befähigt werden, ihn persönlich zu erteilen; denn die jetzigen gesangslehrer dürften wegen mangelnder sprachbildung in der regel nicht geeignet sein.“ (Ebd., S. 192.). Joachim Clasen ist jedoch Realist, denn die Anstellung von Speziallehrern „als zweiter aushilfe […] dürfte meistens schon aus wirtschaftlichen gründen unmöglich sein. Dazu wäre noch zu erwägen, daß sie disziplinarisch einen schweren stand haben würden, da sie wegen zu geringer stundenbei großer schülerzahl die einzelnen schüler nur flüchtig kennen lernen und nicht den persönlichen einfluß zur geltung bringen könnten, der gerade für einen gedeihlichen gesangunterricht unbedingt nötig ist.“ (Ebd., S. 191 f.). 541 Ebd., S. 191. 542 Vgl. S. 60 in der vorliegenden Arbeit und zum Begriff der Singbewegung Block (2002), S. 24. 543 Ebd., S. 115. <?page no="313"?> 314 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung namigen Aufsatz der Einübung der französischen Aussprache unter Verwendung eines Liedes. 544 Schmidt wendet Quiehls approche atomiste im Anfangsunterricht an und beginnt mit einer captatio benevolentiae : ich veröffentliche meine erfahrungen nur deshalb, weil es noch immer erwünscht sein dürfte, neue beweise für die brauchbarkeit jener methode zu sammeln, um dadurch vielleicht die kollegen, die ihr gleichgültig oder gar feindlich gegenüber stehen, zu veranlassen, es doch auch einmal damit zu versuchen. 545 Nach einer Kritik der Ploetzschen 546 Lehrwerke beschreibt Schmidt „den weg […], den [er] […] trotz Ploetz oder vielmehr unter gänzlichem beseitelassen eines lehrbuches einschlug, um die hauptaufgabe des französischen anfangsunterrichts, die übermittlung einer guten aussprache, zu lösen.“ 547 Schmidt beginnt die Einübung der Vokale nach dem Verfahren von Rambeaus 548 Vokalreihen, die „mit den entsprechenden merkwörtern unter fleissiger verwendung des chorlesens eingeübt“ 549 werden. Danach erfolgt nach Rambeau der Übergang vom Grundvokal zum Nasalvokal, und Schmidt lässt seine Schüler „diese mit weiter mundöffnung und singender aussprache 550 lesen.“ 551 Bei der Einübung der Konsonanten unterstreicht Schmidt unter anderem in einer kontrastiven Fehleranalyse (speziell für seine norddeutschen Schüler), wie Klinghardt und Walter „die richtige aussprache der stimmhaften konsonanten im auslaut.“ 552 Schmidt entwirft zusammen mit seinen Schülern als Ergebnissicherung und Festigung eine Lauttabelle mit Beispielen. 553 Als prototypisches Lied zur Ausspracheschulung 554 wählt Schmidt Julius Bierbaums La cerise 555 aus dessen Quatrième Leçon. Wie bei Bierbaum in seiner Methodischen Einleitung 556 zur analytisch-direkten Methode dargestellt, greift auch Schmidt noch auf Elemente der deduktiven Grammatik-Übersetzungs-Methode zur Verständnissicherung 544 Vgl. Hermann s chmidt , Die Einübung der französischen Aussprache unter Verwendung eines Liedes. In: Die neueren Sprachen 1, 1894, S. 501-509. 545 Ebd., S. 501. 546 Vgl. u. a. S. 160, Fußnoten 6 und 7 in der vorliegenden Arbeit. 547 Schmidt (1894), S. 501 548 Vgl. Rambeau (1888), S. 6-8. 549 Schmidt (1894), S. 502. 550 Das Lesen einzelner Laute „mit singender Aussprache“ übernimmt Schmidt wörtlich von Rambeau. Vgl. dazu Rambeau (1888), S. 11. 551 Schmidt (1894), S. 503. 552 Ebd., S. 504. 553 Ebd., S. 506. 554 Ebd., Kapitel II: Einübung des Liedes, S. 506. 555 Vgl. Bierbaum (1916), S. 101 f. 556 Vgl. zur Methodischen Anleitung der analytisch-direkten Methode in sechs Punkten bei Bierbaum in der vorliegenden Arbeit auf S. 237-239. <?page no="314"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 315 zurück, wobei er den Schülern zunächst die wörtliche deutsche Übersetzung diktiert, danach folgt das zeilenweise Vor- und Nachsprechen im Chor ohne Text. Nachdem alle Schüler den Text auswendig gelernt haben, schreibt er den Text an die Tafel: Ich wählte das lied La cerise […] und diktirte den schülern zuerst die wörtliche deutsche übersetzung davon, die sie bald auswendig wussten. Danach sprach ich die einzelnen strophen zeilenweise vor, und die schüler mussten einzeln und in choro nachsprechen. 557 Den text hatten sie natürlich nicht vor augen. Die arbeit ging schnell von statten, da reichlich die hälfte aller wörter ihrer aussprache nach bereits bekannt waren. Als ich das lied schliesslich nach gründlicher einübung französisch an die tafel schrieb, wussten es die schüler fast alle auswendig. 558 Unmusikalische Schüler werden von Hermann Schmidt ausgegrenzt: 559 „ Die einübung der melodie erforderte sehr wenig zeit. Holsatia non cantat, 560 sagt man; aber es waren doch nur wenig schüler (besonders die „von der wasserkante“ ), die nicht singen konnten. Diese mussten natürlich während des singens schweigen und vom zuhören lernen.“ 561 Um den „schülern das auslassen des dem deutschen eigentümlichen kehlkopfverschlusslautes praktisch beizubringen“, empfiehlt Schmidt, „nach Bahlsen ( Der französische unterricht im neuen kurs ) an bekannte deutsche lieder an[zu]knüpfen; z. b. “ 562 „Ohne theoretische erörterungen“ spricht und singt Schmidt vor „mit bemerkungen wie: gleich von einem wort zum andern übergehen, nicht mit der Stimme absetzen- […]. 563 Bahlsen gibt weitere Beispiele deutscher Volkslieder, bei denen der „Knacklaut“ ( coup de glotte ) im Gesang vermieden wird (Abb. 45, S. 317). Die Bindung der chaîne parlée und das vom Deutschen abweichende enchaînement vocalique 564 wird analog zum Notensystem durch eine Legato- 557 Vgl. S. 237 f. in der vorliegenden Arbeit. 558 Vgl. Schmidt (1894), S. 506. 559 Das ist genau der Standpunkt, den zwanzig Jahre später Clasen einnehmen wird. Vgl. Clasen (1914), S. 113. 560 Die deutsche Übersetzung des Spruchs lautet: „Holstein singt nicht.“ 561 Schmidt (1894), S. 506. 562 Ebd., S. 506 f. Schmidt bezieht sich auf Leopold B ahlsen , Der französische Sprachunterricht im neuen Kurs. Berlin: Gaertner 1892, S. 18 f. Bahlsens Veröffentlichung bei Gaertner ist eine Erweiterung der Programmabhandlung der VI. höheren Bürgerschule zu Berlin (Ostern 1892). (Vgl. Leo B ahlsen , Der französische Unterricht nach den Grundsätzen der Reformer. Dargestellt unter Berücksichtigung der neuesten ministeriellen Verfügungen . Wissenschaftliche Beilage zum Programm der Sechsten Höheren Bürgerschule zu Berlin. Ostern 1892. Berlin: Gaertner 1892, S. 12.). 563 Vgl. Schmidt (1894), S. 507. 564 Vgl. zum enchaînement vocalique und den Lernleistungen, die deutschsprachige Lerner des Französischen vollbringen müssen, den Artikel von Peter s cherFer , Überlegungen <?page no="315"?> 316 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Artikulation 565 dargestellt, wie dies bei Streichinstrumenten, beispielsweise der Violine, realisiert wird, indem die betreffenden Noten ohne Absetzen oder Wechsel der Streichrichtung des Bogens (Ab- und Aufstrich) gespielt werden. Schmidt modifiziert (und didaktisiert damit) Bierbaums Lied, um die Laute bzw. Lautverbindungen [ Ø ] (peu), [vwa] (vois), [õ] (garçon) und [ñ] (règne) „in den text hineinzubringen“ und diesen zu üben und festigen: Leider bietet das lied im innern der verse keinen fall von vokalischem auslaut und folgendem vokalischen anlaut. Ich liess deshalb da, wo ein vers vokalisch anlautete ( blanche - au , passe - alors etc.), diese beiden verse ineinander herübersingen und erreichte so, dass die schüler lernten, den kehlkopfverschlusslaut im französischen wegzulassen. Hier ist das lied, wie ich es singen liess: 566 La fleur bien blanche, au doux printemps, pend à la branche; que c’est charmant! Vois , la fleur passe; Alors, dans peu , règne à sa place un fruit précieux. C’est la cerise, au bel été, quelle surprise! enfants, venez! Vite! Je cueille les fruits si doux, parmi les feuilles, garçons pour vous! 567 zum Lernen und Lehren der französischen Aussprache. In: Eynar l euPold / Yvonne P etter (Hrsg.), Interdisziplinäre Sprachforschung und Sprachlehre. Festschrift für Albert Raasch zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr 1990, S. 240, und Klaus J. k ohler , Einführung in die Phonetik des Deutschen. Berlin: Schmidt, 1977, S. 172 f. 565 Die verschiedenen Möglichkeiten, die Töne miteinander zu verbinden bzw. voneinander zu trennen, werden mit dem Begriff Artikulation zusammengefasst. Während legato, im Notenbild mit einem Bogen über (bzw. unter) den Notenköpfen dargestellt, eine eindeutige lückenlose Verbindung der Töne erfordert, gewährt das non legato in seiner Umsetzung weiten Spielraum. Zitiert nach Wieland z iegenrücker , ABC Musik. Leipzig: DVfM 1977, S. 149. 566 Ich folge hier der Schreibung von Schmidt. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 567 Schmidt (1894), S. 507. <?page no="316"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 317 Das prototypische Bierbaumsche Lied dient Schmidt als Aussprachemuster, denn wie Bierbaum verzichtet Schmidt auf die Verwendung der Lautschrift: 568 Abb. 45: Leopold B ahlsen , Der französische Sprachunterricht im neuen Kurs. Berlin: Gaertner 1892, S. 18. 568 Ebd., S. 507. Schmidt rechtfertigt seinen Verzicht auf die Lautschrift und emanzipiert sich damit von seinem „Mentor“ Bierbaum: „Auf die verwendung der lautschrift verzichtete ich aus dem einfachen grunde, weil sie verboten ist; sonst hätte ich den schülern die merkwörter und das lied unbedingt in phonetischer umschrift gegeben, da ich überzeugt bin, dass diese die aneignung einer guten aussprache nur erleichtern kann. Ich glaube auch nicht, dass eine solche umschrift von nachteil für die spätere erlernung der orthographie ist, haben doch mehrere kollegen durch praktische versuche eine dahingehende befürchtung widerlegt, während gegenteilige behauptungen zwar aufgestellt, aber meines wissens nicht bewiesen worden sind.“ (Ebd., S. 507 f.) Zum Verbot der Lautschrift in den preußischen Lehrplänen von 1892, also zwei Jahre vor Erscheinen des Artikels von Schmidt in den Neueren Sprachen, vgl. S. 271, Fußnote 448 in der vorliegenden Arbeit. <?page no="317"?> 318 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung „Der zweck dürfte hier die mittel gut heissen, erreichte ich doch auf diese weise, dass ich später bei der durchnahme neuer texte auf das im gedächtnis der schüler fest haftende lied zwecks feststellung der aussprache stets zurückgreifen konnte.“ 569 Schmidt schließt seinen Artikel mit der Empfehlung zum Einsatz original französischer Lieder zur Ausspracheschulung und Motivierung der Schüler: Zum schluss empfehle ich den kollegen, die nicht allzu stiefmütterlich mit des gesanges gabe von der natur bedacht sind, ihre schüler auch mal gelegentlich mit einem französischen liede zu erfreuen. Ich liess meine sextaner noch einige andere lieder im laufe des jahres lernen und singen. Sie erfüllten einen doppelten zweck, indem sie die aussprache befestigten und den geist der jungen zu neuer arbeit belebten. 570 Wie Bahlsen und Schmidt lobt Ludwig Hasberg die Vorteile des Liedeinsatzes im Französischunterricht bei der Ausspracheschulung, die sich als direkte Folge der Kernforderung der Reformer Erst der Laut, dann die Schrift ergeben: Seit fast zwanzig Jahren ertönt der Ruf: „Der Unterricht in den fremden lebenden Sprachen muß umkehren, muß natürlicher, praktischer werden“ von allen Seiten, von Laien und Gelehrten, von dem praktischen Geschäftsmanne wie von dem erfahrenen Fachmanne. Unter anderem hoben die Reformer immer wieder die Wichtigkeit der Aussprache hervor und deckten die Mängel früherer Methoden rückhaltlos auf. Der Verdienst der Reformer, die den gewaltigen Weckruf 571 ertönen ließen, ist unleugbar ein außerordentliches. Die Parole „Erst der Laut, dann die Schrift! “ führt zu einem leichteren und richtigeren Wege. Beim Lehren und Lernen einer fremden lebenden Sprache muß man mit der Natur gehen und sich der Art nähern, wie das Kind seine Muttersprache erlernt. 572 Das Kind lernt zuerst Laute, allmählich Worte und endlich Sätze. 573 Um die Laute richtig nachahmen zu können, müssen die Hör- und Sprachwerkzeuge geschult werden. 574 „Daß die Nachahmung allein nicht zum Ziele führt“, sagt Quiehl, „sieht man aus der großen Anzahl derer, die im Auslande längere Zeit geweilt haben und doch mit sehr ungenügender Aussprache wiederkommen. Hätten diese in ihrer Jugend auch nur ein 569 Ebd., S. 507. 570 Ebd., S. 509. 571 Hier handelt es sich auf eine Anspielung auf Viëtors „Trompetenstoß“. Vgl. in der vorliegenden Arbeit Abschnitt II. 3. Viëtors „Trompetenstoß“ und der Methodenstreit im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung. 572 Wie der Philanthrop Trapp orientiert sich Hasberg am Erstspracherwerb. 573 Hasberg (1901), S. 7. 574 Ebd., S. 8. <?page no="318"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 319 Vierteljahr lang lautlichen Unterricht genossen, so würden sie sich gewiß eine bessere Aussprache angeeignet haben; so aber merken sie oft gar nicht, daß ihre Aussprache mangelhaft ist.“ 575 Als Antwort auf die Frage „Wie wird der Schüler, die Schülerin gehindert, die deutschen Laute mit in die französische Aussprache hinüberzunehmen? “ 576 schlägt Hasberg die Verwendung französischer und englischer Lieder 577 vor: Zur weiteren Einübung der Laute als Einzellaute 578 und in ihrer Verbindung mit anderen nehme man daher schon nach etwa zwei Stunden das durch, was die Kinder ganz ungemein interessiert - ein kleines französisches Gedicht, das sich womöglich nach einer bekannten deutschen Melodie singen läßt. „Für den ersten Unterricht ist das Singenlassen des französischen Textes von großem Werte. Es unterstützt die Einübung der Laute nicht unerheblich, nicht nur diejenigen der Mund-Nasenvokale, die beim Gesange lange angehalten werden müssen und dadurch besser als reine Vokale zur Geltung kommen, sondern auch für die übrigen Laute. Außerdem dient es zur Belebung des Unterrichtes und empfiehlt sich aus beiden Gründen auch für die übrigen Klassenstufen. 579 Der Lehrer soll bei „geschlossenem Buche […] das Ohr und die Sprechwerkzeuge an die fremden Laute gewöhnen, damit im Anfang das Lautbild nicht durch das Schriftbild gestört wird.“ 580 Hasberg verweist dabei auf sein im Folgejahr herausgegebenes Liederbuch Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch : 581 Ich nehme daher mit Vorliebe nach Einprägung der Einzellaute ein ganz einfaches, kleines singbares französisches Lied aus meinem franz. Liederbuch durch, ohne zunächst die Seite, wo es steht, zu nennen, damit die Schüler zu Hause nicht durch Ansehen der Schriftzeichen die gelernte Aussprache wieder verderben können. Kennt man kein passendes Liedchen, dann nehme man ein singbares Gedicht aus dem französischen Schulbuche, sage den Schülern aber nicht die betreffenden Seiten, wo es steht. Auch dürfen sich die Schüler von ihren Angehörigen nicht bei der Aussprache helfen lassen. Sonst hören sie oft eine ganz andere Aussprache. Erst nachdem die Aussprache der einzelnen Wörter im Zusammenhange ganz festgestellt, nachdem die 575 Ebd., S. 8 f. 576 Ebd., S. 17. 577 Hasberg verwendet in seiner Liedersammlung größtenteils Übersetzungen deutsche Lieder nach dem Kontrafakturprinzip, wie bei Lehmann und Delcasso / Gross dargestellt wurde. Vgl. dazu S. 186 f. in der vorliegenden Arbeit. 578 Vgl. die approche atomiste. 579 Vgl. Hasberg (1901), S. 19. 580 Ebd., S. 46. 581 Vgl. Ludwig h asBerg , Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch herausgegeben . Leipzig: Rengersche Buchhandlung 1902. <?page no="319"?> 320 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Bedeutung der Wörter und die Übersetzung gelernt 582 und das Gedicht aus dem Kopfe öfters gesungen ist, schreite ich dazu, die Schriftzeichen für die einzelnen Laute zu geben und zu erklären. Erst der Laut, dann die Schrift. 583 Neben der Einübung der vier Nasalvokale durch das Singen, der Memorisierungs- und Motivierungsfunktion ermöglicht das gemeinsame Singen als musikalisches Chorsprechen eine unmittelbare Schüleraktivierung: Es gibt kein besseres Mittel, die Mund-Nasenvokale […] einzuüben als das Singen. Das Gesungene prägt sich zudem weit leichter dem Gedächtnis ein und bleibt viel länger im Gedächtnis haften. Das Singen ist gleichsam ein musikalisches Chorsprechen, welches gleichzeitig alle Schüler der Klasse zur regen Teilnahme heranzieht und beschäftigt, und zwar in einer für den Schüler sehr angenehmen und anregenden Weise. Und welch eine Menge von Vokabeln und Redewendungen lernt das Kind beim Singen gleichsam spielend; 584 es erwirbt auf eine recht bequeme und fesselnde Weise einen Vokabelschatz, der ganz besonders fest im Gedächtnis haften bleibt. Auch die Beachtung der „Bindung“ im Französischen wie Englischen wird durch das Singen wirksam gefördert. 585 Wie Bahlsen und Schmidt notiert auch Hasberg als suprasegmentale Hilfe die Legato -Artikulation als Bogen zur Darstellung von liaison und enchaînement vocalique und Überwindung des für deutsche Lerner typischen coup de glotte : In Hasbergs Praktischer Phonetik ist dabei links die französische Kontrafakturversion La Rose de Bruyère des bekannten Goethe-Gedichts Sah ein Knab ein Röslein stehn mit Legatobogen dargestellt und daneben als Interlineartext die phonetische Umschrift (Abb. 46). In Hasbergs Liedersammlung werden sowohl die Noten mit italienischer Tempobezeichnung ( Andante ), die Übergangsbezeichnungen ( crescendo und decrescendo ), die Tonstärkegrade (hier mezzoforte , piano und forte ) dargestellt, damit die Schüler sowohl die artikulatorisch-phonetischen Komponenten als auch die musikdynamischen Gestaltungsmittel beim Gesang als eigenaktivem Handeln anwenden können (Abb. 47). 586 582 Auch Hasberg greift wie Bierbaum, Schmidt und Clasen auf die Übersetzung zurück. 583 Hasberg (1901), S. 46. 584 Hasberg spielt hier auf das inzidentelle Lernen an. Vgl. dazu S. 146 f., Fußnote 489 in der vorliegenden Arbeit. 585 Vgl. Hasberg (1902), S. 4. 586 Ebd., S. 22 f. - Hasberg setzt diese musikdynamischen Gestaltungsmittel bewusst ein in der zweiten und dritten Strophe, um eine semantische und artikulatorische rupture bezüglich der ersten Strophe darzustellen. Diese Zäsur nach der Legato-Artikulation wird durch einen senkrechten Strich ( | ) gekennzeichnet und markiert eine aufsehenerregende Pause (zum Luftholen). <?page no="320"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 321 Abb. 46: Ludwig h asBerg , Praktische Phonetik im Klassenunterricht. Mit besonderer Berücksichtigung des Französischen. Leipzig: Rengersche Buchhandlung 1901, S. 49. <?page no="321"?> 322 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 47: Ludwig h asBerg , Praktische Phonetik im Klassenunterricht. Mit besonderer Berücksichtigung des Französischen. Leipzig: Rengersche Buchhandlung 1901, S. 22 f. <?page no="322"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 323 Die approche atomiste wurde auch in den zeitgenössischen Assessorenarbeiten 587 in der fachdidaktischen Ausbildung thematisiert. Als einzige Assessorin legte Clara Riesner eine Arbeit auf französisch vor: Les premières conversations en sixième. 588 Riesners kulturkundlich geprägte Arbeit beginnt mit einem Verweis auf Viëtors Streitschrift Der Sprachunterricht muss umkehren qui renonça à prendre la grammaire comme point de départ dans l’enseignement des langues. On a reconnu que la langue est quelque chose d’actif, de vivant, qu’elle se développe et qu’elle ne peut être apprise qu’en la parlant. Depuis cette réforme, les exercices de conversation ont repoussé la grammaire au second plan. 589 In diesem Zusammenhang bezieht sich Riesner auf die Richertschen Richtlinien 590 von 1931: „En ce sens les ‚Richtlinien‘ prescrivent ‚die Schüler auf Grund einer allseitig gefestigten Sprachkenntnis durch das Schrifttum einzuführen in die Kultur- und Geisteswelt der fremden Völker‘.“ 591 Clara Riesner vermischt in ihrer Arbeit eklektisch unterschiedliche Ansätze, missachtet den Aufbau einer Lernprogression und setzt einzelne Elemente selektiv zusammen. So unterstreicht die Assessorin etwa die Bedeutung der lautlichen Schulung im Anfangsunterricht und schlägt dazu Lautdiktate vor, ohne deren Funktion genau zu begründen: 587 Eine Quellengattung, die man zwischen den Primär- und Sekundärquellen einordnen kann, sind Abschlussarbeiten im Rahmen des Studienreferendariats: Sie verbinden die Beschreibung der Planung und Durchführung einer Unterrichtseinheit mit fachdidaktischer und eventuell auch erziehungswissenschaftlicher Reflexion und sind bisher noch kaum als Quellen in der historischen fachdidaktischen Forschung genutzt worden. Die Assessorenarbeiten wurden nach dem ersten Staatsexamen und im Rahmen des staatlichen Vorbereitungsdienstes (dem heutigen Referendariat) angefertigt. Diese Pädagogische Prüfungsarbeit (Assessorarbeit) wurde dann von jeweils zwei Gutachtern bewertet, bei denen ein Gutachter den Rang eines Oberstudiendirektors haben musste. Im Archiv des Deutschen Instituts für Pädagogische Forschung der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF Berlin) konnte ich ein Korpus von 146 Abschluss- und Assessorenarbeiten und deren Gutachten im Zeitraum von 1925 bis 1935 aus dem Großraum Berlin untersuchen. Von den 146 untersuchten Arbeiten waren 42 in mittelbarer und unmittelbarer Weise mit dem Thema Musik oder Lied im Französischunterricht verbunden. 588 Clara r iesner , Les premières conversations en sixième. Berlin 1932. BBF/ DIPF/ Archiv: GUTT ASS 1125. 589 Riesner (1932), S. 1. 590 1925 wurde die Kulturkunde in den preußischen Richertschen Richtlinien verankert. Vgl. Reinfried (1992), S. 211. 591 Ebd., S. 1. - Vgl. Hans r ichert , Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens. 1. Teil: Grundsätzliches und Methodisches. (Weidmannsche Taschenausgabe von Verfügungen der Preußischen Unterrichtsverwaltung, Heft 19), 1931, S. 214. Zitiert in Franz-Josef z aPP / Konrad s chröder , Deutsche Lehrpläne für den Fremdsprachenunterricht. 1900-1970. Ein Lesebuch. Augsburg: Universität Augsburg 1983, S. 48. <?page no="323"?> 324 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Si quelques élèves veulent écrire des phrases en écriture phonétique, je les laisse[rai] faire mais je ne l’exige[rai] pas. Je ne donnerai pas de longs devoirs phonétiques [,] mais durant les conversations[,] je ferai écrire une dictée phonétique pour reconnaître les difficultés des élèves. 592 Riesner empfiehlt auch das Singen von Phonemen anhand von Lautreihen. Für die minimalen Phonempaare [i] - [y] scheint das durchaus realisierbar, aber das Singen der labiodentalen und postalveolaren Frikative ist unmöglich. Außerdem wurde im Vergleich zu den Vokalpaaren die Alternanz stimmlos-stimmhaft und dann stimmhaft-stimmlos nicht eingehalten: […] j’ai déjà indiqué comment on peut profiter du son plus clair. Les séries des sons sont chantées par les élèves au cours de chaque leçon. Ce sont à peu près les séries suivantes que j’ai entendues chanter et dont je me servirai aussi dans les leçons que j’aurai à donner […]. 593 In der Evaluation der Arbeit durch Studienrat Rudolf Salewsky wird auch auf den Mangel an Unterrichtspraxis verwiesen und folgender Widerspruch angemerkt: „Auf Erfahrungen der eigenen Praxis konnte offenbar wenig zurückgegriffen werden, Verfasserin hätte sonst wahrscheinlich gemerkt, daß z. B. phonetische Diktate (S. 24), das Singen von f - v - ∫ - ʒ praktisch unmöglich sind.“ 594 592 Vgl. Riesner (1932), S. 24. Die Korrektur des Prüfers steht in eckigen Klammern. 593 Ebd., S. 24 f. Vgl. dazu Abb. 48 auf S. 325. 594 Salewsky kommentiert dies auch mit: „Comment peut-on chanter cela? “ (Ebd., S. 25 und Abb. 48. Riesners Arbeit wurde deshalb nur mit „genügend“ bewertet: „Gezeichnet Salewsky, Studienrat, 23. Januar 1932“. (Riesner 1932, S. 43.). <?page no="324"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 325 Abb. 48: Clara r iesner , Les premières conversations en sixième. Berlin 1932. BBF/ DIPF/ Archiv: GUTT ASS 1125, S. 25. <?page no="325"?> 326 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung II. 6 Intertextuelle, intermediale und kinästhetische Formen des Liedeinsatzes im Rahmen der direkten Methode Max Walter betont im Vorwort zu seinem Grundbuch für Sexta, „daß das Französische eine lebende Sprache ist, die sich an die Schüler persönlich wendet.“ 595 Zu Beginn des Walterschen Lehrwerks ist ein phonetischer Vorkurs mit Hörlehrgang vorausgeschickt […]. Diese Übungen haben den Zweck, das Ohr des Schülers an die ihm noch so fremdartige Lautwelt 596 zu gewöhnen. Dabei wird er unwillkürlich die betreffenden Sprechbewegungen leise nachahmen und so das später erfolgende Nachsprechen vorbereiten, während sofortiges Nachsprechen leicht zu schlechter Aussprache führen kann. 597 So integriert Walter bereits ab der ersten Unterrichtsstunde Musikelemente in seinen Französischunterricht. Unter der Rubrik II. Texte in Lautschrift 598 bzw. II. Ausspracheübungen 599 setzt Walter das von ihm komponierte bə - a-ba- Lied ein (Abb. 49, S. 327). Anhand dieser für die approche atomiste prototypischen chanson didactique entwickelt und illustriert Walter seine sprachpädagogischen Betrachtungen: 595 Max w alter , Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. 1. Teil: Grundbuch für Sexta . Frankfurt am Main: Diesterweg 1927, (Walter 1927a), S. V. Walter favorisiert einen schülerzentrierten, handlungsorientierten Ansatz avant la lettre und gibt dafür eine Erklärung in seiner didaktischen Begleitschrift: „Der Schüler soll beim Durcharbeiten unseres Buches von der ersten Stunde an merken, daß er nicht Objekt, sondern Subjekt ist, daß er den Unterricht nicht erleidet, sondern selbst gestaltet. Alles wendet sich von den Hörübungen an über Gedichte und Handlungsreihen bis zu den den Lektionen angefügten Übungen an ihn persönlich; er fühlt sich als Mittelpunkt. Deshalb fehlen bei uns alle Beschreibungen, sei es des Schulzimmers, der Stadt oder dgl. Nicht die Gegenstände stehen im Vordergrunde des Interesses - sind sie doch dem Schüler längst vertraut und alltäglich geworden und vermögen ihn durch sich selber nicht mehr zu fesseln -, sondern die Handlungen, die er größtenteils selbst ausführt. Vgl. Max w alter , Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. 1. Teil Grundbuch für Sexta. Begleitschrift . Frankfurt am Main: Diesterweg 1927, (Walter 1927b), S. 3. 596 Max Walter dankt Paul Passy, der als „rühmlichst bekannter Führer auf dem Gebiete der Phonetik, die Lautschrift […] [des] Buches sorgsam nachgeprüft“ hat. (Walter 1927a, S. VI.). 597 Ebd., S. VI. 598 Ebd., S. 8-17. 599 Vgl. Walter (1933), S. 45-47. Das Lied ist gleich nach „I. Französische Lauttafel (nach Viëtor“ abgedruckt. Vgl. in der vorliegenden Arbeit Abb. 38, S. 278. <?page no="326"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 327 Abb. 49: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 44. <?page no="327"?> 328 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Das Liedchen wirkt zunächst als solches auf die Kinder sehr drollig und wird von ihnen gerne und rasch aufgenommen. Sechs der einfachen Vokale können hier zu scharfer Erfassung gebracht werden. Wenn der Lehrer mit kurzen Schlägen des Taktstocks in geeigneter Weise taktiert, wird er einmal erreichen, daß die Vokale nicht nach deutscher Gewohnheit zerdehnt, sondern kurz und scharf geschnitten gesungen werden, ferner aber auch die Bindung zwischen Vokalen unter Vermeidung des Knackgeräusches üben können. Seine Hauptrolle spielt dies vielseitig verwendbare Liedchen bei der Einübung des Stimmlauts bei b, d, g. 600 Als kontrastive Übungstypologie sollen die zu differenzierenden Phoneme kommutiert werden: Sitzen aber Melodie und Vokale erst fest, so erklärt man den Schülern die Art des französischen Stimmlauts bei b, d, g möglichst sinnfällig und läßt sie nun das Lied mit den französischen Anfangsbuchstaben singen. Aber hiermit ist die Verwendbarkeit des Liedchens nicht erschöpft. Vor allem müssen nun an die Stelle von b, d, g die stimmhaften Reibelaute treten: v, z, ʒ. Ist auch dies einigermaßen geübt, so kommen die aspirationslosen französischen p, t, k an die Reihe und das wechselvolle Spiel beginnt von vorne. 601 In der Einheitsausgabe für Knaben und Mädchen von Walters Manuel de français wird diese Übung in Partnerarbeit durchgeführt: „Lest den Text und ersetzt dabei [b] durch einen anderen Konsonanten, den euch ein(e) Mitschüler(in) an der Lauttafel zeigt.“ 602 Das ist eine Entwicklung zu mehr Binnendifferenzierung und ein Wechsel der Sozialformen. In den separat erschienenen Einzelausgaben für Mädchen bzw. Knaben zum Teil I des Grundbuchs für Sexta zu Walters Manuel de français wurde nur das Chorsingen und Chorlesen mit Permutation der Phoneme angewendet: Chantez ce texte en remplaçant [b] par: [d] - [g] - [v] - [z] - [ʒ]. Le professeur fait lire à l’élève les mots en orthographe phonétique d’après le modèle suivant. be a - ba, be é - bé, ba - bé, be i - bi, ba - bé - bi, be o - bo, ba - bé - bi - bo be u - bu, ba - bé - bi - bo - bu. 603 600 Walter (1927b), S. 6. 601 Ebd., S. 6. 602 Vgl. Walter (1933), S. 45 und Abb. 49 auf S. 327 in der vorliegenden Arbeit. 603 Vgl. Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Mädchen-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: Diesterweg <?page no="328"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 329 Die Adaptation dieser Reihen 604 sind laut Walter „ein vorzügliches Mittel, nicht nur Wortschatz 605 zu festigen, sondern überhaupt Vorstellungen zu ordnen und zu klären und zum scharfen Beobachten anzuleiten.“ 606 Für Walter liegt ein großer Vorteil des „Gouinschen Verfahrens […] darin, dass der Schüler sich den Verlauf einer Reihe selbst genau vergegenwärtigen, die aufeinanderfolgenden Handlungen feststellen und in sprachliches Gewand kleiden muß.“ 607 In einem dritten Schritt zeigt eine „Schülerin […] einen Konsonanten und einen Vokal an der Lauttafel; die Klasse singt die Silbe nach einer bekannten 1928, S. 20; Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 7 f. 604 Es gibt eine Parallele zur méthode des séries von Gouin. Hierbei sollen die „Schüler […] sich Aktionsketten, die sie bereits vorher im außerschulischen Alltag beobachtet haben, innerlich vergegenwärtigen.“ (Reinfried 1992, S. 127.). Vgl. auch François g ouin , L’art d’enseigner et d’étudier les langues. Essai sur une réforme des méthodes d’enseignement. Exposé d’une nouvelle méthode linguistique. 2. Aufl. Paris: Fischbacher 1894 (1. Aufl. 1880) sowie Claude g ermain , Évolution de l’enseignement des langues: 5000 ans d’histoire. Paris: CLE International, 1993, Chapitre 8: La méthode des séries, S. 113-126. 605 Bei der vorliegenden Übung innerhalb der approche atomiste soll anstelle des Wortschatzes die lautliche Opposition der Phoneme differenziert und verdeutlicht werden. 606 Walter (1927b), S. 11. Eine sehr gute, differenzierte Darstellung bietet Richard k ron , Die Methode Gouin oder das Seriensystem in Theorie und Praxis auf Grund eines Lehrerbildungskurses, eigener sowie fremder Lehrversuche und Wahrnehmungen an öffentlichen Unterrichtsanstalten unter Berücksichtigung der bisher vorliegenden Gouin-Litteratur dargestellt. 2., ergänzte Aufl. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1900. Nach Kron (1900, S. 11 „unterscheidet sich seine [Gouins, A. R.] Methode hinsichtlich des Lehrens auf Grund der Anschauung wesentlich von allem Bisherigen. Während Comenius, Basedow, Lehmann […] u. a. ihr Lehrgebäude auf die direkte bzw. durch Abbildungen vermittelte Anschauung gründen, liegt für Gouin der Urgrund des Gelingens nicht in der mit dem äusseren Auge vermittelnden, sondern in der GEISTIGEN Anschauung , in der représentation intérieure , in der mental visualization , dem mental picture , dem seeing in the mind’s eye , wie die Engländer es ausdrücken. Gouin verschmäht also grundsätzlich, Abbildungen zu geben und diese mit fremdsprachlichen Benennungen zu belegen. Der Lernende soll veranlasst werden, sich selbst ein geistiges Bild von dem in Rede stehenden Gegenstande oder Vorgang zu machen, er soll beim Hören des fremden Lautes sich den Gegenstand oder die Thätigkeit im Geiste , vermittelst des geistigen Auges, so lebhaft und deutlich vorstellen, als ob er den Gegenstand in der Wirklichkeit oder in einer Abbildung vor sich sähe - kurz, er soll in der Fremdsprache DENKEN, ohne sich der Krücke des Deutschen zu bedienen.“ 607 Vgl. Max w alter , Englisch nach dem Frankfurter Reformplan. Lehrgang während der ersten 2 ½ Unterrichtsjahre (II2-- I2) unter Beifügung zahlreicher Schülerarbeiten dargestellt. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1900, S. 23. <?page no="329"?> 330 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Weise, 608 z. B. [za] nach ‚Hänschen klein’, [∫o] nach ‚Alles neu macht der Mai’“. 609 Dabei wechselt die „Klasse beim Singen zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten, z. B. zwischen [z] und [s], [ʒ] und [∫], [d] und [t]“. 610 Walter vergleicht die Lautübungen der approche atomiste mit den (täglichen) Fingerübungen in der Musik beim Lernen eines neuen Instruments: Man wird natürlich alle einzelnen Lautübungen, die meist in Verbindung mit Vokalen so zu gestalten sind, daß der betreffende Laut als Anlaut, Auslaut und Inlaut auftritt (z. B. ba, ab, aba; za, az, aza usw.), nicht allein wochenlang fortsetzen, was ja schließlich langweilig und ermüdend wäre; indessen wird man gerade wie bei der Musik bei den Fingerübungen auch diese so wichtigen Artikulationsübungen in der vielfachsten Abwechslung mit den anderen weiter zu besprechenden Hör- und Sprechübungen während des ganzen Anfangsunterrichts anstellen müssen. 611 Zuweilen wurden sowohl die approche atomiste als auch die approche globaliste innerhalb eines Lehrwerks angewandt. Dieser Kunstgriff gelingt Walter mithilfe seiner selbst komponierten chanson didactique À Paris (Abb. 50). 612 À Paris ist rein zu sprachpädagogischen Zwecken geschaffen und längst in alle Welt gewandert. 613 Seine Melodie soll der Erfassung des französischen Tonfalls eine Hilfe sein. Auch hier ist scharf darauf zu achten und beim Taktieren zu unterstreichen, daß die Vokale knapp und kurz abgehackt herauskommen und jedes Legato vermieden wird. 614 608 Walter wendet hier die Kontrafakturtechnik an, d. h. die Methode des Singens eines neuen Textes, hier einer phonetischen Opposition, auf eine bekannte Melodie zweier deutscher Volkslieder. 609 Walter (1933), S. 44, und Abb. 49, S. 327 in der vorliegenden Arbeit. 610 Ebd. 611 Walter (1931), S. 9. 612 Walter (1933), S. 49 und Abb. 50, S. 331 in der vorliegenden Arbeit. 613 Das Waltersche Kinderlied ist so populär, dass es in Liedersammlungen bis heute verwendet und der Name des Verfassers nicht mehr genannt wird. Es ist nunmehr als Volkslied zum Gemeingut geworden. Der Kinderbuchautor Ernest Pérochon hat „in Anlehnung an das bekannte Kinderlied À Paris […]“ ein Kinderbuch mit dem Titel À Paris tout en gris verfasst: „Voici trois petits contes sans prétentions […] [pour] la jeunesse allemande.“ (Ernest P érochon , À Paris tout en gris. Berlin: Velhagen & Klasing 1930, S. 1 f., 20 f., 31 f. und Abb. 51, S. 332 in der vorliegenden Arbeit.). 614 Walter (1927b), S. 7. <?page no="330"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 331 Abb. 50: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 49. <?page no="331"?> 332 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 51: Ernest P érochon , À Paris tout en gris. Berlin: Velhagen & Klasing 1930, S. 1 und 20. <?page no="332"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 333 Max Walter stellt in seiner didaktischen Begleitschrift eine Methodik des Liedeinsatzes 615 vor: Der Lehrer erklärt - deutsch - so anschaulich und in so kindlicher Form wie nur möglich 616 , was vorgeht, unter Benutzung der beigegebenen Bildchen. 617 Sieht das Kind mit seiner lebhaften Einbildungskraft die Umwelt und den Vorgang des betreffenden Stoffes klar vor sich, so geht es sofort an das Singen des Liedchens. Alles, was daran durch Anschauung 618 verdeutlicht werden kann, wird herangezogen. Die Melodie und der Rhythmus sind mächtige Stützen. Bald wird das Liedchen von der Klasse frei gesungen werden können, falls erforderlich nach der phonetischen Niederschrift an der Wandtafel. 619 Der Lehrer sorgt durch entsprechendes Taktieren für straffe Artikulation und richtiges Tempo. Alles ist auf das anschauliche Erleben und Erfassen einzustellen. Auf keinen Fall wird der Lehrer vom Schüler verlangen, daß er diese Lieder übersetze; 620 er wird ihn auch nicht mit sprachlichen 615 Walter äußert sich in seiner Methodik des neusprachlichen Unterrichts in einer Art captatio benevolentiae über seine ursprüngliche Motivation, eine chanson didactique zur Ausspracheschulung komponieren: „Bei der Zusammenstellung dieser Melodie habe ich nur versucht, die Sprechweise auf die Musik zu übertragen. Das einfache kleine Lied, dessen Einübung von der dritten oder vierten Stunde an beginnt und an dem die Schüler ihren ersten französischen Text studieren, macht ihnen viel Freude.“ (Walter 1931, S. 10.). Max Walter knüpft hier an die Viëtorsche Lesebuchmethode an. 616 Die Anschaulichkeit der Erklärung und die kindgemäße Empathie erinnern an die Philanthropen. 617 Vgl. dazu Walter (1933), S. 49 und Abb. 50 auf S. 331 in der vorliegenden Arbeit. Max Walter steht hier in der Tradition der Anschauungsmethode. Er „vereinigt“ die Lesebuch- und die Anschauungsmethode als (vormals oft konkurrierende) Strömungen der neusprachlichen Reformbewegung „in harmonischem Ausgleich“. (Steuerwald 1932, S. 11.). 618 Für Walter sind neben Bildern die Melodie als Folge von Tönen sowie der Rhythmus als Gliederung in kurze oder lange Tondauer die Eckpfeiler bzw. Stützen seines schüler- und handlungsorientierten Unterrichts. 619 Neben den Bildchen, die die Handlung widerspiegeln, stehen die einzelnen Strophen zunächst in phonetischer Lautumschrift der API. In den meisten zeitgenössischen Lehrwerken wurde der Terminus „système Viëtor“ verwendet. (Walter 1933, S. 40 und Abb. 38, S. 278 in der vorliegenden Arbeit.). Die phonetische Niederschrift an der Tafel favorisieren auch Viëtor, Beyer, Passy, Klinghardt, Lange, Hasberg und Walter. Letzterer präzisiert dazu in seiner Methodik: „Nachdem die Laute erklärt und an der Lauttafel geübt sind, schreibt der Lehrer die einzelnen Verse derart in Lautschrift nieder, daß ein Schüler die Einzellaute der vom Lehrer vorgesprochenen Wörter an der Lauttafel zeigt, während die Klasse diese Einzellaute bzw. Wörter nachspricht und der Lehrer sie an der Tafel zusammenstellt. Somit ergibt sich in ganz einfacher und natürlicher Weise die vielfach noch für so verderblich gehaltene Lautschrift. An der Hand der lautschriftlichen Darstellung wird nun in den folgenden Stunden der Text allmählich mit der Klasse eingeübt. Bei diesem Verfahren kann man also stets leicht auf die Einzellaute zurückgehen und somit gerade bei großen Klassen die Einübung der Laute dem Lehrer wie den Schülern wesentlich erleichtern.“ (Walter 1933, S. 10 f.). 620 Walter folgt detailgetreu dem Einsprachigkeitsprinzip der direkten Methode. Er nuanciert in seiner Methodik des neusprachlichen Unterrichts jedoch: „Bei der Durchnahme des Gedichts <?page no="333"?> 334 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Erläuterungen beschweren. Das Lied ist Selbstzweck. 621 Die Lieder müssen so sehr zum festen Besitz des Schülers werden, daß ihm das Fremdartige 622 daran kaum noch zu Bewußtsein kommt. Dazu ist es erforderlich, daß der Lehrer sich gerne und freudig auf das kindliche Gemüt einstellt und die Kinder nicht zu Antwortautomaten, sondern zu frei und fröhlich mitschaffenden Gefährten erzieht und so vom Spielerischen der Unterstufe eines Tages ganz unmerklich zum freien Arbeitsbetrieb 623 überzuleiten vermag. Man fürchte nicht für die Schulzucht! Der Schüler, der sich so gründlich und vielseitig im Unterricht selbst betätigen kann, hat keine überschüssigen Kräfte oder unausgenutzten Trieb übrig, um Unfug zu treiben. 624 Neben der für die Reformbewegung typischen Ausspracheschulung unterstreicht Max Walter den für die Schüler der Sexta altergemäß „jugendkundlichen Charakter“ des Lehrwerks und leitet daraus einen handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht ab: werden sich zwar schon manche Wörter durch die Anschauung oder Handlung unmittelbar aus der Sprache selbst erklären lassen; im allgemeinen wird man aber im Anfange gerade bei den kleinen singbaren Gedichten noch auf die Muttersprache zurückgehen und darauf achten müssen, daß infolge der vom Deutschen abweichenden Wortstellung den einzelnen Wörtern nicht falsche Bedeutungen beigelegt werden. Ist der Sinn klar, so fällt natürlich das Deutsche fort, und dann lassen sich gleich Übungen, insbesondere Fragen in französischer Sprache, anschließen. Die hierbei auftretenden neuen Wörter werden erklärt und von den Schülern in dem sonst bekannten Satzzusammenhange leicht behalten und durch vielfache Wiederholung eingeprägt.“ (Walter 1931, S. 11 f.). Max Walter (1933, S. 12) wendet zur Übung die Gouinschen Reihen an, gefolgt von Fragen und Antworten zum Text, bei denen das enchaînement vocalique trainiert wird: „ Combien de chevaux y a-t-il ? - Quel cheval va à Paris ? - Quel cheval va à Melun ? Quel cheval va à Montrouge ? “ Weiterhin werden die vier Nasalvokale geübt und der stimmlose bilabiale Plosiv [p] im Gegensatz zur hessischen Realisierung als stimmhafter bilabialer Plosiv [b]: „Denken Sie sich angeschrieben: a pari . Der Schüler spricht nun fälschlicherweise aus: a bari. An der Lauttafel ist ein Schüler aufgestellt, der auf etwaige Versehen zu achten hat. Dieser merkt den Fehler und zeigt mit dem Stabe den falsch gesprochenen Laut an der Tafel und darauf den richtigen an der Lauttafel. Wie an einzelnen Wörtern, so läßt man an ganzen Lauttexten, die allmählich an der Tafel entwickelt werden, durch einen Schüler andauernd die falsch gesprochenen Laute bezeichnen und diesen die richtigen an der Lauttafel gegenüberstellen. So nimmt die ganze Klasse an der Arbeit teil und lernt in fortgesetzter sorgsamer lautlicher Schulung die noch oft vernachlässigten Unterschiede zwischen den einzelnen Lautgruppen allmählich erkennen und behalten.“ (Ebd., S. 11.). Vgl. dazu auch Max w alter : Erziehung der Schüler zur Selbstverwaltung am Reform-Realgymnasium „Musterschule “ Frankfurt am Main. Berlin: Weidmann 1919. 621 Hier bezieht sich Walter auf die Kantsche „Selbstzweckformel“ des kategorischen Imperativs. 622 Vgl. dazu die Folientheorie im Rahmen der Kulturkunde und S. 423, Fußnote 217 in der vorliegenden Arbeit. 623 Hier werden bereits in nucleo Ansätze des Arbeitsunterrichts deutlich. 624 Walter (1927b), S. 7. <?page no="334"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 335 Unser Werk ist in erster Linie jugendkundlich eingestellt. Im Grundbuch für Sexta ist, dem ausgeprägten Bewegungstrieb der Kinder dieses Lebensalters entsprechend: alles Handlung, und zwar solche, die der Schüler leicht ausführen kann, die stark gefühlsbetont ist […] 625 . So sollen die Schüler am Ende der ersten Strophe des Lieds Ainsi font, font, font sich dreimal um sich selbst drehen (Abb. 52, S. 338). Am Ende der zweiten Strophe „stemmen sie die Hände in die Seiten und springen.“ 626 Max Walter kann als précurseur der kinästhetischen Lieder im Fremdsprachenunterricht bezeichnet werden. Diese action songs waren in den 1980er und 1990er Jahren zuerst im Unterricht der Begegnungssprache Englisch 627 für die Klassen 3 und 4 außerordentlich populär, da sie „dem Bedürfnis jüngerer Schüler nach Bewegung und Aktivität“ 628 entsprechen. Anhand des folgenden, allen Schülern bekannten französischen Volkslieds Sur le Pont d’Avignon (Abb. 53a, S. 339) antizipiert Walter bereits die méthode par le mouvement , 629 die zuerst von Harold und Dorothée Palmer 630 beschrieben und von James J. Asher 631 in seiner Methode des TPR ( Total Physical Response ) weiterentwickelt wurde. Dabei wird ein Kommando in der Fremdsprache zuerst vom Lehrer gestisch bzw. mimisch umgesetzt, in späteren Phasen auch von einzelnen Schülern erteilt und anschließend ausgeführt. 632 Im vorliegenden Beispiel 625 Walter (1927a), Vorwort, S. V. Nach Piagets entwicklungspsychologischem Stufenmodell der kognitiven Entwicklung befinden sich die Schüler der Sexta im Übergang von der konkret-operationalen Phase zur formal-operativen Phase. Eine wichtiges Ziel im Sinne Piagets ist es deshalb, die selbständige Entwicklung anzuregen. 626 Walter (1933), S. 46 f. und Abb. 52. 627 Vgl. Karl-Heinz B öttcher , Sing A Rainbow . Stuttgart: Klett 1992, S. 13 f. 628 Rauch (2001b), S. 99 f. 629 Vgl. Germain (1993), S. 261-270. 630 Harold P almer / Dorothée P almer , English Through Actions. Tokio: Institute for Research in English Teaching, 1925 und die detaillierte, zweibändige Dissertationsschrift von Richard C. s mith , An Investigation into the Roots of ELT, with a Particular Focus on the Career and Legacy of Harold E. Palmer (1877-1949). Edinburgh: University of Edinburgh. Department of Theoretical and Applied Linguistics. Bd. 1 und 2. Edinburgh 2004. Auf Palmer geht auch das Verfahren des Pattern Drills zurück. Böttchers Beispiel des Einschleifens der irregular verb forms in seiner Sing Grammar (Abb. 39, S. 279) stehen in dieser Tradition. Das Verfahren ist aber schon älter. Darauf verweist auch Reinfried (1992), S. 251. Dieses rhythmische Lernen geht schon auf die Antike zurück, wie in der vorliegenden Arbeit auf S. 49 gezeigt wurde. 631 Vgl. James J. a sher , Learning another language through Actions. The complete teacher’s guidebook. Los Gatos, Cal.: Sky Oaks Productions 1986. 632 Es handelt sich hier um eine Form des Reiz-Reaktions-Lernens im Rahmen des von John B. Watson und Burrhus F. Skinner beschriebenen Behaviorismus. Beim Liedeinsatz von Si tu as de la joie au cœur klatschen die Schüler „in die Hände, trampeln mit den Füßen, schnippen mit den Fingern, schnalzen mit der Zunge […]. Total Physical Response bietet <?page no="335"?> 336 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung führen die Schüler „bei jeder Strophe die entsprechenden Bewegungen aus (Abb. 53b, S. 340).“ 633 Die von Max Walter vorgezeichnete Entwicklung der neusprachlichen Reformbewegung als musikalische Reform wird besonders im Rahmen des Dritten Allgemeinen Deutschen Neuphilologentages zu Dresden deutlich. Am zweiten Kongresstag, dem 29. 09. 1888, stellte Franz Dörr eine erste Synthese der neusprachlichen Reformbewegung vor, bei der er die motivationale Funktion von Liedern im Fremdsprachenunterricht unterstreicht: Dörr beginnt nicht mehr mit theoretischer Lautlehre, sondern im Englischen wie Französischen mit Sprachstoff, der dem Verständnis der Schüler möglichst wenig Schwierigkeiten bereitet. Er benutzt zur ersten Einführung die Grundzahlen. Da das Verständnis derselben gar keine Schwierigkeiten macht, kann man sich ganz der Einübung der Laute, der Aussprache widmen. Ein paar Verbalformen, ein paar Bindewörter verschaffen die Möglichkeit, mit den vier Grundrechnungsarten zu operieren, womit den Lehrern immer neue Übung und Abwechslung zu Gebote steht. Dann folgen Abzählreimchen, Kindersprüche und Gedichtchen, kurze Erzählungen, Märchen; im ersten Jahre ganz ohne Buch, nachher mit Benutzung von Kühns Lesebuch 634 und einigen Stoffen aus der Hand des Lehrers […]. Die Erfahrung lehrt unden Vorteil, dass Aktionen unmittelbar mit den entsprechenden fremdsprachigen Bezeichnungen verknüpft werden, was der Forderung der direkten Methode entspricht; durch rhythmisches Sprechen oder durch Singen wird außerdem das (bei manchen Schülern schwache) akustische Gedächtnis verbessert, und die Schüler erfahren intensiver die französische Intonation und Prosodie.“ Marcus r einFried , Didaktisch-methodische Prinzipien heute (Reinfried 2017b). In: Andreas n ieweler (Hrsg.), Fachdidaktik Französisch. Das Handbuch für Theorie und Praxis. Stuttgart: Klett Sprachen 2017, S. 81. 633 Walter (1933), S. 48. 634 Karl Kühns Lehrwerke umfassen eine große Anzahl von Max Walters Eigenkompositionen der chansons didactiques , bei denen die Noten parallel zum Text zum Mitsingen abgedruckt wurden. So beginnt Kühns Französisches Lesebuch für Anfänger unter dem Titel 1. À cheval mit Max Walters À Paris. Nach dem zweiten Titel des Volkslieds Meunier, tu dors folgt mit 3. Quand j’étais petit eine zweite Waltersche Eigenkomposition. (Kühn 1889, S. XIV f.). Im Lehrbuch der französischen Sprache für Mittelschulen stammen fünf der neun Lieder von Max Walter. Es handelt sich um die ersten vier Lieder 1. Le réveil ( J’ai bien dormi! ) , 2. À cheval ( À Paris ), 3. Compter ( Un, deux, trois, j’irai dans le bois ). Hierbei handelt es sich um eine Neukomposition mit neuem Text, wobei nur der erste Vers mit dem Kinderlied identisch ist., 4. Quand j’étais petit. Nach den Liedern 5 . Après le travail , 6. Bonsoir Madame la Lune , 7. Je suis le petit Pierre folgt das von Max Walter zum Hölzelschen Frühlingsbild komponierte Le Printemps. Die Sammlung schließt ab mit Bérats Ma Normandie. (Vgl. Karl k ühn / Rudolf d iehl / Wilhelm s chwarzhauPt , Lehrbuch der französischen Sprache an Mittelschulen. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1911, S. XVIII- XXII.). In der Ausgabe des Lehrbuchs der französischen Sprache für höhere Knabenschulen und höhere Mädchenschulen dominieren auch Walters Kompositionen. Es handelt sich um die drei Walterschen Lieder 1. Quand j’étais petit , 2. À cheval und 3. <?page no="336"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 337 widerleglich, daß die analytische 635 (oder direkte, oder Reform-) Methode das Lernen leichter und fröhlicher und das Lehren zwar schwerer und anstrengender, aber auch befriedigender macht. Wie fröhlich hören sich die Kinderliedchen an, wie trübselig blicken grammatische Paradigmata drein! Wie gern versucht der Schüler so ein Auszählreimchen auch einmal auf dem Schulhofe oder singt ein Liedchen auf dem Spaziergange, 636 aber was für ein Gefühl erfüllt ihn, wenn er in der Pause seine Paradigmata hersagt, ehe er drinnen ankommt! 637 Compter ( Un, deux, trois, j’irai dans le bois ). Als viertes Lied wurde die chanson kinesthésique 4. Sur le pont d’Avignon abgedruckt. (Vgl. Karl k ühn / Rudolf d iehl / Karl B auer , Lehrbuch der französischen Sprache. Einheitsausgabe für höhere Knabenschulen und höhere Mädchenschulen. Erster Teil (Erstes Jahr). Hannover: Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior). 1926, S. XIII f.). 635 Vgl. dazu Bierbaums Schrift Die analytisch-direkte Methode des neusprachlichen Unterrichts und S. 236, Fußnote 305 in der vorliegenden Arbeit. 636 Hierbei handelt es sich um eine Form des inzidentellen Lernens . (Vgl. dazu S. 146 f., Fußnote 489.). 637 Vgl. Franz d örr , Reform des neusprachlichen Unterrichts. Erfahrungen und Erwägungen. Vortrag beim Dritten Allgemeinen Deutschen Neuphilologentag 1888 in Dresden. In: Wilhelm k asten (Hrsg.), Neuphilologisches Centralblatt. 3. Jg., 1889, S. 74 f. <?page no="337"?> 338 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 52: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 46 f. <?page no="338"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 339 Abb. 53a: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 47. <?page no="339"?> 340 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 53b: Max w alter (Hrsg.), Manuel de français. Französisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Knaben-Ausgabe Teil I. Grundbuch für Sexta. Frankfurt am Main: 3. Aufl. Diesterweg 1933, S. 48. Eine komplexe Anwendung des Liedeinsatzes stellt folgende Integration verschiedener Medien innerhalb der direkten Methode dar: In Anlehnung an Marcus Reinfrieds Metapher der médias visuels qui devinrent ‚des fenêtres censées supprimer la cloison étanche qui sépare la salle de classe de la vie’ 638 […] [c’est avec] la chanson, qui est la mise en musique de la poésie [que] nous pourrions ajouter que la mélodie en donne son âme.“ 639 638 Vgl. Reinfried (1993), S. 3. 639 Vgl. Andreas r auch , La chanson dans l’enseignement du français en Allemagne (1878- 1930). In: Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde , n°54, 2015, S. 124. - Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="340"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 341 Zur Besprechung des Frühlingsbilds von Eduard Hölzel (Abb. 54, S. 342) 640 stellt Karl Quiehl im Kapitel Mündliche Übungen intertextuelle und intermediale Bezüge vor: Bei der Besprechung von Bildern wird man finden, dass die Einbildungskraft der Kinder sich darin gefällt, Beziehungen zwischen den einzelnen Personen, die auf den Bildern vorkommen, herauszufinden. Der Lehrer darf dieser Neigung nachgeben und wohl erdachte Bestimmungen durch seine Zustimmung festlegen. Die Personen treten den Schülern menschlich näher, wenn ihnen Namen beigelegt, wenn ihr Verwandschafts- und Freundschaftsverhältnis näher bestimmt wird, wenn sie nach Stand, Beschäftigung und Wohnort beschrieben werden. Ja, man kann sie sogar in den nebenher gehenden Lesestücken weiter auftreten lassen. […] Durch solche Verknüpfung gewinnen die Personen und Gegenstände auf dem Bilde an Interesse, und es wird ein einheitliches Band geschaffen, das den ganzen Unterrichtsstoff zusammenhält. 641 640 Vor allem Max Walter favorisierte Sprechübungen vor den Hölzelschen Bildertafeln. (Vgl. Walter 1988, S. 27). Am weitesten verbreitet war das Lehrbuch von Roßmann / Schmidt, in dem die beiden Autoren die vier Jahreszeitenbilder abgedruckt sowie in Übungen eingebettet haben, wobei die Anschauungsmethode in diesem Lehrwerk ihren „Durchbruch erzielte […], das 1894 durch eine ministerielle Verfügung an den preußischen Schulen zugelassen wurde und bis zur Jahrhundertwende 13 Auflagen in einer Gesamthöhe von über 10000 Exemplaren erlebte.“ (Reinfried 1992, S. 100 und Philipp r ossmann / Ferdinand s chmidt , Lehrbuch der französischen Sprache auf Grundlage der Anschauung . Bielefeld und Leipzig: Verlag von Velhagen und Klasing 1892, S. 9.). 641 Vgl. Quiehl (1921), S. 161. <?page no="341"?> 342 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 54: Philipp r ossmann / Ferdinand s chmidt , Lehrbuch der französischen Sprache auf Grundlage der Anschauung . Bielefeld und Leipzig: Velhagen und Klasing 1892, S. 9. <?page no="342"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 343 Auf diese Weise ergeben sich intertextuelle Verknüpfungen zwischen dem Frühlingsbild von Hölzel (Abb. 54), das im Unterricht anhand von Sprechübungen 642 interpretiert wurde, und mehreren fiktionalen narrativen Handlungssträngen. So singen die spielenden Kinder ein Frühlingslied, das in Kühns Lesebuch als Frühlingsgedicht von Charles Marelle: Le voilà, le printemps 643 abgedruckt wurde. Unter der Rubrik: Melodien zu einigen Liedern erscheint Marelles Frühlingsgedicht als von Max Walter komponiertes Frühlingslied mit beigefügter Melodie (Abb. 55, S. 347). 644 Eines der abgebildeten Kinder ist le petit Pierre als Hauptfigur des gleichnamigen Gedichts 645 von Boucher de Perthes (Abb. 14, S. 185) und erscheint als Lied im Kühnschen Lehrbuch für Mittelschulen. 646 Die Geschichte spielt auf dem abgebildeten Schloss eines Edelmanns, das Mittelpunkt der Erzählung 37. Erreur d’un paysan 647 im Kühnschen Lesebuch ist. 642 Hermann Bredtmann hat dazu ein Hilfsbüchlein für französische Sprechübungen herausgegeben. „Dem Schüler soll es die Möglichkeit geben, das in der Klasse Gehörte und Besprochene zu Hause zu wiederholen und zu befestigen.“ (Hermann B redtmann , Hilfsbüchlein für französische Sprechübungen in den unteren Klassen. Methodisch geordnete Übungsstoffe zur Belebung des französischen Unterrichts nebst einer kurzen Besprechung der Hölzelschen Jahresbilder. Düsseldorf: Adolf Schneider 1906, Vorwort, S. IV.). Bredtmann ordnet jedes Jahreszeitbild einer Klassenstufe zu und illustriert dies anhand einer Bildbeschreibung und passender ( Jahreszeiten-) Lieder. So beginnt er mit dem Winterbild in der Sexta und dem Lied Le Sapin (Chanson: O Tannenbaum). In der Quinta werden das Frühlingsbild (Chanson: Le retour du printemps : Kuckuck, Kuckuck, ruft aus dem Wald) und das Maikäferlied ( Le hanneton ) sowie das Sommerbild mit dem Lied L’hôte (Bei einem Wirte wundermild) vorgestellt. Für die Quarta werden in den Rubriken La Géographie und La France landes- und kulturkundliche Aspekte hervorgehoben mit Bérarts Ma Normandie und dem Volkslied Le vaste monde (Chanson: Der Mai ist gekommen). Bredtmann beschreibt das Frühlingsbild im Kapitel 40. Le Tableau du Printemps . Er unterteilt seine Bildanalyse in vier Unterkapitel: I. La maison du paysan , II. Le jardin et la cour , III. Le moulin et le champ , IV. Le fond du tableau (Bredtmann 1906, S. 54-56). Paul Schramm hat zu den Hölzelschen Jahreszeitenbildern ein Französisches Vokabularium erstellt. (Paul s chramm , Französisches Vokabularium zu den Sprechübungen auf Grund der Hölzelschen Bilder (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) für das 1. bis 3.- Jahr. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 2. Aufl. 1908 (1. Aufl. 1904). 643 Vgl. Kühn (1889), S. 27 f. 644 Kühn (1911), S. XX. Walters Komposition erscheint sowohl in Kühn (1911), S. XX (siehe Abb. 55) als auch in Kühn (1926), S. 40. 645 Vgl. das Gedicht 33 . Le Petit Pierre in Kühn (1889), S. 13. 646 Vgl. Kühn (1911), S. XX. - Vgl. auch S. 183, Fußnote 123 und S. 356, Fußnote 20 zur Kontrafaktur von Üb immer Treu und Redlichkeit . 647 Vgl. Kühn (1889), S. 16. <?page no="343"?> 344 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Der intermediale Bezug zwischen Hölzelbildern, Texten, Gedichten und Liedern wird von Paul Schramm durch ein System der Vokabelanordnung in konzentrischen Kreisen 648 dargestellt: Wohl gibt es schon derartige Werkchen, die sogar die Vokabeln „methodisch geordnet“ bieten. Trotz alledem sind sie für den Gebrauch in der Hand des Schülers unpraktisch, da die Vokabeln eines Bildes, zu kleinen Gruppen vereinigt, hintereinander geboten werden, und dem Lehrer nach wie vor die Arbeit nicht erspart bleibt, entweder die betreffenden Vokabeln an die Tafel zu schreiben und dieselben am Schluß der Stunde von den Schülern abschreiben zu lassen […]. Ein Büchlein, welches die Vokabeln nun so brächte, wie sie in den verschiedenen Jahren des französischen Unterrichts nach dem jeweiligen Stande der grammatischen Kenntnisse und nach der geistigen Reife für den Schüler passend wären […], würde […] recht am Platze sein. Diese Lücke ausfüllen zu helfen, soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Sie glaubt die gestellte Aufgabe zu lösen, indem sie für die drei ersten Jahre französischen Unterrichtes die Vokabeln für die vier Jahreszeiten in konzentrischen Kreisen angeordnet bietet, dabei nach Möglichkeit die Schwierigkeit der Wörter, den jeweiligen Stand grammatischer Kenntnisse und den Anschauungskreis der Schüler berücksichtigend. 649 Anhand des Hölzelschen Frühlingsbilds ergibt sich folgende spiralcurriculare Progression des Lernerniveaus im System der konzentrischen Kreise: 1. Als Niveau de base erfolgt in Kühns Lehrbuch der französischen Sprache für Mittelschulen eine einfache Bildbeschreibung anhand von Boucher de Perthes’ Je suis le petit Pierre und Max Walters Le Printemps 650 (Abb. 55, S. 347). 2. Für die première année verwendet Schramm nach der Wortschatzarbeit unter der Überschrift Le printemps 651 das gleichnamige Lied aus Marc Legrands 648 Diese schülerfreundliche Form der spiralcurricularen Progression erinnert an die Gliederung des Unterrichtsstoffs nach konzentrischen Kreisen bei Peter Schild. Vgl. dazu S. 230, Fußnote 279 in der vorliegenden Arbeit. 649 Schramm (1908), Vorwort, S. III. - Zur Wortschatzanordnung siehe Abb. 57, S. 349. 650 Vgl. Kühn (1911), S. XX f. 651 Ebd., S. 5. <?page no="344"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 345 L’âme enfantine 652 (Abb 56, S. 348). Die Melodie wurde vom Gesangslehrer Édouard Gravollet 653 komponiert. 3. In der deuxième année wird nach der Bildbeschreibung das Frühlingsgedicht von Malan 654 behandelt (Abb. 57, S. 349). Darauf folgt Le Moulin (Abb. 58, S. 350), das von Marc Legrand in die Sammlung L’âme enfantine unter der 652 Marc l egrand , L’âme enfantine. 50 chansons pour les écoles. Paris: Armand Colin 1908. Wie Bierbaum ordnet Legrand seine kindgemäße Liedersammlung in sechs Themenkreise, die gleichzeitig der Entwicklung des Kindes entsprechen und den didaktischen Progressionen Vom Nahem zum Fernen und Vom Eigenen zum Fremden folgen. So beginnt die Sammlung mit 1. La Famille im Sinne des Aristotelischen zoon politikon als Kernzelle der Gesellschaft. Es folgt die nähere Umgebung 2. La Nature und 3. Les Animaux , die in die Arbeitswelt einmündet: 4. Le Travail , 5. Les Métiers . Den Höhepunkt bildet 6. La Patrie . Legrand ist es gelungen, 48 zeitgenössische französische Komponisten, wie beispielsweise Charles-Marie Widor, für seine Liedersammlung zu gewinnen. Legrand dichtet den Text zu den Melodien. In seinem Avertissement weist Legrand auf die erzieherische und bildende Wirkung der Musik hin und zitiert unter anderem Platon: „La musique est la partie principale de l’éducation.“ (Ebd., S. 4.). Für den Liedeinsatz empfiehlt Legrand folgende didaktisch-methodische Vorgehensweise: „Nous leur [aux maîtres et écoliers, A. R.] offrons aujourd’hui de petites Chansons pour être chantées également au commencement de la classe. Mieux encore que la lecture, le chant fixe dans les mémoires des images et des pensées. Le chant est ainsi un des plus intéressants facteurs de l’éducation morale. Notre présent recueil contient plus de cinquante chansons groupées selon leur inspiration générale. Les maîtres choisiront à leur gré. Ils liront d’abord le texte de la chanson, l’expliqueront clairement, puis chanteront eux-mêmes en détachant chaque note, jusqu’à ce que les élèves aient retenu la mélodie. Chaque quinzaine ou chaque mois, selon le temps nécessaire pour que la chanson soit sue et chantée sans faute, on passera à une autre et ainsi jusqu’à la fin de l’année.“ (Ebd., S. 4.). 653 Gravollet unterrichtete an mehreren Pariser Schulen und übersetzte Bachkantaten, Kunstlieder von Schubert und Opern wie Carl Maria von Webers Freischütz ins Französische. Der Katalog der Bibliothèque nationale française verzeichnet 30 Einträge zu Gravollets Übersetzungen deutscher Meisterwerke ins Französische wie z. B. Schuberts Lindenbaum. URL: http: / / catalogue.bnf.fr/ ark: / 12148/ cb432634903 654 Vgl. Schramm (1908), S. 13. Dieses Gedicht erscheint als 34. Le Printemps mit dem Untertitel Chanson in der Lieder- und Gedichtesammlung der Instituteurs , also Grundschullehrer, Heintz & Roth. (Ch. h eintz / J. J. r oth , Recueil gradué de poésies morales et religieuses, à l’usage des écoles primaires. 11 ième éd. Paris-Strasbourg: Veuve Berger-Levrault et fils 1869, S. 20.) Die beiden Herausgeber betonen die spiralcurriculare Progression ihrer Sammlung: „ Ce petit Recueil de poésies se distingue des ouvrages du même genre par plusieurs points essentiels. Les plus importants sont la gradation des difficultés, la nature et le choix des poésies adoptées. Au lieu de suivre les divisions et classifications des anthologies, notre recueil, sans avoir égard au genre des poésies choisies, se compose d’abord de pièces extrêmement faciles, et s’élève ensuite, par degrés à des morceaux qui le sont moins, sans atteindre toutefois aux régions supérieures de la poésie. “ (Ebd., Préface, S. 3.). In dieser Liedersammlung erscheint auch das Lied Le petit Pierre von Boucher de Perthes. (Ebd., S. 37.). <?page no="345"?> 346 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Rubrik Les métiers 655 aufgenommen wurde. Die Musik stammt von E. Lalisse. 656 4. Für die troisième année erscheint nach der Bildbescheibung und Wortschatzarbeit das Gedicht Le printemps 657 von Louis Tournier. Im Anschluss daran ist unter dem Titel Renouveau 658 das bretonische Frühlingslied C’est le temps où la bergère aus der preisgekrönten Liedersammlung von Maurice Bouchor und Julien Tiersot 659 abgedruckt. 655 Vgl. Legrand (1908), S. 93. 656 Lalisse war instituteur in Lille und hat „réuni et noté d’anciennes rondes populaires dans le nord de la France.“ (Ebd., S. 7.). 657 Vgl. Schramm (1908), S. 31 f. 658 Ebd., S. 32. 659 Vgl. Maurice B ouchor / Julien t iersot , Chants populaires pour les Écoles . Paris: Librairie Hachette 1895, S. 62. Maurice Bouchor war ein erfolgreicher Dramaturg und Dichter, dessen „poésies […] ont été couronnées à la suite du concours ouvert par la ‚Correspondance générale de l’Instruction primaire‘ pour la composition d’un Recueil de Chants à l’usage des Écoles primaires de France.“ (Ebd., S. I.). Zusammen mit dem Komponisten und Ethnomusikologen Julien Tiersot widmete er sich der Erhaltung und dem Kulturerbe der regionalen Volkslieder Frankreichs. <?page no="346"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 347 Abb. 55: Karl k ühn / Rudolf d iehl / Wilhelm s chwarzhauPt , Lehrbuch der französischen Sprache an Mittelschulen. Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1911, S. XX f. <?page no="347"?> 348 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 56: Marc l egrand , L’âme enfantine. 50 chansons pour les écoles. Paris: Librairie Armand Colin 1908, S. 46. <?page no="348"?> II. 4 Systematische Lauteinführung und -einübung mit Hilfe von Liedern 349 Abb. 57: Paul s chramm , Französisches Vokabularium zu den Sprechübungen auf Grund der Hölzelschen Bilder (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) für das 1. bis 3.- Jahr. 2. Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1908, S. 11, 13 f.. <?page no="349"?> 350 II Der Musikeinsatz im Rahmen der neu sprachlichen Reformbewegung Abb. 58: Paul s chramm , Französisches Vokabularium zu den Sprechübungen auf Grund der Hölzelschen Bilder (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) für das 1. bis 3.- Jahr. 2. Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1908, S. 1 <?page no="350"?> III. Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz In der bisher dargestellten diachronischen Entwicklung zum Einsatz von Liedern im Französischunterricht im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung kristallisieren sich grosso modo zwei Tendenzen heraus, die in der zeitgenössischen fachdidaktischen Literatur in bewegte Debatten mündeten: In der Nachfolge von Ignaz Lehmann wurden seit den 1860er Jahren Kontrafakturen deutscher Lieder in Lehrbüchern und Liedersammlungen verwendet und von französischen Lehrern und Schulmusikern wie Laurent Delcasso und Pierre Gross adaptiert bzw. umgedichtet. 1 Reformer wie Viëtor, Alge, Schild, Beyer, Rambeau, Klinghardt, Quiehl oder Walter nutzten musische Elemente zur Beschreibung und Illustration ihrer Methode, so dass die neusprachliche Reformbewegung als musische Reform bezeichnet werden kann. 2 Um die Jahrhundertwende „setzte sich - als Kompromiß zwischen der Grammatik-Übersetzungs-Methode und den konsequenten Reformbestrebungen - allmählich eine vermittelnde Richtung durch.“ 3 Parallel dazu erschienen verstärkt Liedersammlungen und Französischlehrwerke, die bewusst original französische Lieder einsetzten. Untermauert wurde diese Tendenz durch Aufsätze in zeitgenössischen Fachzeitschriften, die den Einsatz von Kontrafakturen deutschsprachiger Lieder kritisierten. Drei Jahrzehnte nach dem Viëtorschen Trompetenstoß kommt es somit zu einer weiteren Querelle des Anciens et Modernes . Im Folgenden sollen die Hauptvertreter der Anciens und Modernes vorgestellt und in den Kontext des Methodenstreits eingeordnet werden. 1 Vgl. dazu u. a. S. 186, Fußnote 128 in der vorliegenden Arbeit. 2 Ebd., S. 304. 3 Reinfried (1992), S. 140, Anmerkung 186. Nach Reinfried bezieht sich die vermittelnde Methode „auf eine Vielzahl verschiedener Unterrichtsverfahren, die auf Kompromissen zwischen der direkten, weitgehend einsprachigen Methode und der Grammatik-Übersetzungs-Methode basieren. Die Gemeinsamkeiten dieser Unterrichtsverfahren bestehen in folgenden Merkmalen: 1) Ablehnung der Einsprachigkeit oder Beschränkung auf wenige Unterrichtsphasen; 2) Pflege der Herübersetzung, bisweilen auch (in geringem Umfang) der Hinübersetzung im Elementarunterricht (in der Regel allerdings noch selten während des ersten Jahres); 3) Betonung der (überwiegend induktiv gewonnenen) Regelgrammatik.“ (Reinfried 1992, ebd. sowie Klaus Heinrich k öhring / Richard B eilharz , Begriffswörterbuch Fremdsprachendidaktik und -methodik. München: Hueber 1972 (Hueber Hochschulreihe, Bd. 10), S. 171.). <?page no="351"?> 352 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz III. 1 Die Vertreter der „Anciens“ III. 1. 1 Karl Wetzel Als Prototyp und Programm der „Anciens“ erscheint mir die Liedersammlung von Karl Wetzel 45 Französische Lieder mit bekannten deutschen Volksmelodieen für den Gebrauch beim französischen Unterricht , da hier schon im Titel der Bezug zur Kontrafakturtechnik dargestellt wird. 4 Als ordentlicher Lehrer an der Charlottenschule zu Berlin 5 stellt Wetzel eine Sammlung vor, die er ausgewählt, geordnet und mit einem Wörterverzeichnis versehen, also didaktisiert hat. 6 Wetzel lässt in seinem Vorwort eine nationalistisch-überhebliche, weil patriotisch-deutschzentrierte Perspektive erkennen, mit der er den Einsatz der Kontrafakturen deutscher Melodien rechtfertigt: 7 Indem die französischen Dichter durch Lieder nach fremdländischen, besonders deutschen Volksmelodieen den französischen Volksgesang zu heben suchen, geben sie uns ein vorzügliches Mittel an die Hand, den französischen Unterricht in unsern Schulen durch gelegentlichen Vortrag eines französischen Liedes anregend zu unterbrechen und zu beleben. Vorliegende Auswahl will diesem Zwecke zu dienen suchen. 8 Für Wetzel bildet die Motivation der Schüler und die Belebung des Französischunterrichts eine zentrale Funktion des Liedeinsatzes. Im Gegensatz zu Max Walter, Julius Bierbaum oder Albrecht Reum, bei denen Lieder als inte- 4 Vgl. Karl w etzel , 45 Französische Lieder mit bekannten deutschen Volksmelodieen für den Gebrauch beim französischen Unterricht. Ausgewählt und geordnet nebst Wörterverzeichnis . Berlin: Fussingers Buchhandlung 1898. 5 Siehe Titel der Monographie. 6 Siehe ebd., S. 3. 7 Der historisch-biographische Kontext des deutsch-französischen Kriegs 1870/ 71 ist hierbei nicht unerheblich: Der 1851 geborene Wetzel, „vorgebildet auf dem Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, trat im Sommer 1870 als Primaner beim 4. Garderegiment ein, um sich am Feldzuge gegen Frankreich zu beteiligen, und wurde nach seiner Rückkehr Ostern 1873 von dem genannten Gymnasium mit dem Zeugnis der Reife entlassen. Demnächst widmete er sich auf der Universität zu Berlin bis 1876 dem Studium der Geschichte, wurde am 17. Juli 1876 zu Leipzig zum Dr. phil. promoviert, legte dort am 30. Oktober 1877 seine Staatsprüfung ab und war seit Michaelis 1876 als Subrektor an der höheren Stadtschule zu Paswalk angestellt. Aus: Programm Stolp Gymnasium 1879.“ (Franz k össler , Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825-1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen. Band Waag-Wytzes . Vorabdruck im Internet. Stand: 18. 12. 2007.). Universitätsbibliothek Gießen. Gießener Elektronische Bibliothek 2008. URL: http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2008/ 6130/ pdf/ Koessler-Waag-Wytzes.pdf, S. 207. 8 Wetzel (1898), S. 4. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. <?page no="352"?> III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 353 grierender Bestandteil des Unterrichts fungierten, nutzt Karl Wetzel den Liedeinsatz als Lückenfüller im Unterricht und achtet darauf, dass die Lieder als Belohnung nicht zu oft eingesetzt werden. 9 Wetzel zitiert als Quellen u. a. die in der vorliegenden Arbeit besprochenen Liedersammlungen von Delcasso / Gross, Bouchor / Tiersot und Alges Leitfaden für den französischen Unterricht. Auch für die Stoffverteilung gibt Wetzel Hinweise: „Die Auswahl wird für die ersten drei bis vier Jahre des Unterrichts ausreichenden Stoff bieten.“ 10 9 Als Praktiker kämpft Wetzel zweifelsohne um die Legitimierung von Liedern im Französischunterricht. Jedoch besteht hier die Gefahr, eine „Bonbondidaktik“ zu favorisieren, um sich bei den Schülern beliebt zu machen. Der treffende Begriff wurde 1987 von Franz Niermann geprägt. Vgl. Franz n iermann , Rockmusik und Unterricht. Eigene Wege für den Alltag mit Musik . Stuttgart: Metzler 1987, S. 11, und Rauch (2001b), S. 7. 10 Wetzel (1898), S. 4. Wetzel übernimmt bekannte Volks- und Kinderlieder wie 8. Mon beau sapin. (O Tannenbaum), 13. Chant printanier des Oiseaux. (Alle Vögel sind schon da), 14. Le Renard et le Coq. (Fuchs, du hast die Gans gestohlen). Aber auch vier Soldatenlieder sind vorhanden: Interessanterweise druckt Wetzel zwei französische Versionen des Guten Kameraden ab unter 18. Le bon Camarade. (Der gute Kamerad) von Uhland, vertont von Silcher in der bekannten Übersetzung von Henri-Frédéric Amiel (vgl. auch Abb. 21, S. 218) und unter 19. Le bon Camarade (Sur l’air précédent) mit der Übersetzung des Schweizer reformierten Theologen Charles Secrétan. Die Version von Secrétan legt einen stärkeren Wert auf Empathie und christliche Nächstenliebe. So findet man bei Amiel in der ersten Strophe den klassischen „tambour de bataille“, der bei Secrétan zum „tambour [qui] nous rassemble“ wird. Das Gemeinsame und nicht das Trennende wird betont: „Nous avançons ensemble, / Marchant du même pas.“ In der zweiten Strophe kann die tödliche Kugel als Gottesurteil angesehen werden: „Sur lui tombe la foudre“. In der dritten Strophe wird aus der ersten Person Singular je „je faisais feu“ bei Secrétan ein inklusives nous : „Il tend sa main mourante, / Nous allions faire feu.“ Die Soldatentugenden bei Amiel (der in seiner Übersetzung damit näher am Uhlandschen Original ist), wie Treue und Kameradschaft („A bientôt, mon fidèle, / Dans la paix éternelle, / Va, camarade, adieu“), wird bei Secrétan zur Präfiguration des ewigen Lebens mit der Hoffnung eines Wiedersehens des (Glaubens-) Bruders: Aus dem Imperativ „Va, camarade, adieu“ wird „- Autre devoir m’appelle! / Dans la vie éternelle! Au revoir, frère! Adieu.“ Die Tugend der fidélité / Treue erinnert an Hauchecornes Spiritualität in der Hoffnung auf Das neue Leben (vgl. S. 76 f. in der vorliegenden Arbeit und Hauchecornes Lieder-Buch 1814-1820, Abb. 8, S. 104). Wie bei Hauchecornes französischer Übertragung von Rochows Kinderfreund präzisiert und interpretiert Secrétans Version. - Als 20. folgt Anselm Webers Adieu des Soldats au Village . (Mit dem Pfeil und Bogen) und 21. Kückens Le petit Conscrit . (Wer will unter die Soldaten). 29. Le Matin de la Bataille (Hauffs Morgenrot! Morgenrot! in Delcassos Version Bats, tambour! , vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 187 f., Fußnote 130), 30. Dans les Alpes (Mozarts Komm, lieber Mai, und mache), das vom Schweizer Dichter und Gottfried-Keller-Übersetzer Eugène Rambert ins Französische übertragen wurde. Als 31. folgt En Chasse. (Im Wald und auf der Heide). Mit 33. Le Facteur rural wird Friedrich Silchers Vertonung von Heinrich Heines Lied von der Loreley „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten“ durch Delcasso völlig dekontextualisiert und umgedichtet. Vgl. zu dieser Debatte Abb. 59a und 59b, S. 358 f. in der vorliegenden Arbeit. <?page no="353"?> III. 1. 2 Ludwig Hasberg Für den Oberlehrer an der städtischen höheren Mädchenschule in Unter-Barmen Ludwig Hasberg dient der Liedeinsatz vor allem zur Ausspracheschulung und folgt der approche atomiste . 11 Hasbergs Praktische Phonetik im Klassenunterricht 12 knüpft an Karl Quiehls Thesen an und dessen „vorzügliche und höchst empfehlenswerte Arbeit […] „Französische Aussprache und Sprachfertigkeit. Phonetik, sowie mündliche und schriftliche Übungen im Klassenunterrichte. […]“ 13 Ludwig Hasbergs Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch 14 fungieren somit nicht nur als Illustration der Quiehlschen approche atomiste, sondern werden mit der französischen Kontrafaktur des Uhlandschen Guten Kameraden zum Prototyp der Anciens: Das Lesen und Deklamieren fremdsprachlicher Gedichte, das oft Vorgeschritteneren [sic] nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet, wird durch das Singen ganz unerheblich erleichtert. Den etwaigen Einwand, daß der Gesang die sinngemäße Betonung bei der Deklamation beeinträchtigen könne, kann ich nicht gelten lassen. Auch bei der Deklamation deutscher Lieder ist die Betonung oft anders als beim Gesange. Es bedarf nur des nötigen Hinweises und einer sachgemäßen Einübung, um mit geringer Mühe die gute, sinngemäße Deklamation eines durch Gesang eingeübten Liedes oder Gedichtes zu erzielen. Bei richtiger Anleitung lernen die Kinder das Deklamieren eines durch das Singen dem Gedächtnis eingeprägten Gedichtes im Gegenteil erfahrungsgemäß viel leichter. Und welche Freude, welche Lust bereitet den Kindern das flotte, fröhliche Heruntersingen eines schon eingeübten französischen oder englischen Liedes! Die durch die ernste Schularbeit ermüdeten Geister werden wieder frisch und munter, die willkommene Abwechslung wirkt anregend und belebend. Mit welchem Stolze wird dann zu Hause von den Kleinen das in der Schule gelernte französische oder englische Liedchen vorgetragen! 15 11 Vgl. S. 287-289 und S. 323-325 in der vorliegenden Arbeit. 12 Ebd. und Hasberg (1901). 13 Ludwig h asBerg , Welche Vorteile gewährt die praktische Verwertung der Hauptlehren der französischen und englischen Phonetik im Klassenunterrichte? In: Marie l oe - Per -h ousselle (Hrsg.), Die Lehrerin in Schule und Haus. Centralorgan für die Interessen der Lehrerinnen und Erzieherinnen im In- und Auslande. Zugleich Organ des Allgemeinen deutschen Lehrerinnen-Vereins, der Allgemeinen deutschen Krankenkasse für Lehrerinnen und Erzieherinnen, des Landesvereins preußischer Volksschullehrerinnen und des Landesvereins Preußischer Technischer Lehrerinnen. XIX. Jahrgang 1902-1903. Leipzig: Verlag von Theodor Hofmann 1903, Heft 1, S. 6-11, Heft 2, S. 57-61. - Der Titel beweist, dass Lieder im Fremdsprachenunterricht besonders gern an Mädchen- und Realschulen eingesetzt worden sind. 14 Vgl. Hasberg (1902). 15 Hasberg (1902), S. 4. 354 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="354"?> Hasberg favorisiert also die französische Übersetzung bekannter deutscher Melodien und gibt als Begründung, die einem Plädoyer für die Anciens gleicht, als Hauptvorteil die Erleichterung der Unterrichtspraxis für Lehrende und Lernende an: Die Bedeutung des Singens fremdsprachlicher Lieder betonend, sind nun bereits einige Chants d’école und English Songs auf dem deutschen Büchermarkte erschienen. Weit entfernt nun, das Verdienst obiger Liedersammlungen zu schmälern, bin ich indes der unmaßgeblichen Ansicht, daß schon aus Mangel an der für die erhöhten Anforderungen des fremdsprachlichen Unterrichts zur Verfügung stehenden Zeit nur solche Liedersammlungen besonders willkommen sein werden, welche ohne Schwierigkeit für jede Klassenstufe praktisch und bequem verwendbar sind. Diesem rein praktischen Gesichtspunkte Rechnung tragend, habe ich nun im Gegensatze zu manchen andern Herausgebern den allgemeinen bekannten deutschen Melodien den Vorzug gegeben. Ganz abgesehen davon, daß die den Franzosen eigene Gattung von Volks- und Kinderliedchen von unserm deutschen Geschmack abweicht, erfordert das Einüben einer größeren Anzahl von uns gänzlich unbekannten französischen und englischen Melodien zu viel Zeit und ist gewiß nicht jedermanns Sache. Nach einer bekannten, uns liebgewonnenen Melodie dagegen singen die Kinder französische und englische Texte flott, mit Lust und ohne besondere Schwierigkeit, selbst wenn der Sprachlehrer selbst nur wenig oder gar nicht musikalisch ist; 16 es bedarf dazu nur einiger sprachlicher Anleitung, 17 da ja der Rhythmus bekannt ist. Wir dürfen das Ziel ja nicht zu hoch stecken und schon auf der Unter- und Mittelstufe beim Singen ein Nachempfinden fremder Volkslieder und ein tieferes Eindringen in fremdländisches Volkstum verlangen. Man muß sich eben am Erreichbaren halten. 18 16 Die Debatte über die musikalische Begabung wird von Thurau im Methodenstreit aufgenommen. Vgl. S. 437-444 in der vorliegenden Arbeit. Während Schierbaum eine Zusammenarbeit mit dem Gesanglehrer und die Übernahme von Unterrichtssequenzen durch musikbegabte Schüler favorisiert, plädiert Clasen für eine musikalische Grundbildung aller Fremdsprachenlehrer. Vgl. S. 312 f., Fußnote 540 in der vorliegenden Arbeit. 17 Hasberg (1902), S. 10 präzisiert dazu in seinen Vorbemerkungen: „Praktisches Vormachen ist übrigens die Hauptsache! Man verkümmere den Kindern die Lust am Singen nicht durch lange theoretische Erörterungen! Da der Rhythmus und die Melodie der meisten gegebenen Lieder ja bekannt ist, so ist es durchaus kein unbedingtes Erfordernis für den Sprachlehrer, daß er selbst musikalisch ist. Es wäre wohl nicht ganz recht, würde man z. B. sagen: ‚Ich selbst kann nicht singen, deshalb lasse ich meine Schüler auch nicht singen.‘ Weshalb aus diesem Grunde auf die großen und zugleich angenehmen Vorteile, die das Singen fremdsprachlicher Texte tatsächlich gewährt, verzichten! Es geht in der Praxis viel leichter als man glaubt, zumal wenn die Kinder die Singnoten und den Text zur Hand haben! “ 18 Ebd., S. 4 f. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 355 <?page no="355"?> Hasberg deutet eine altersgemäße Verteilung beim Liedeinsatz an. Die französischen Kontrafakturen bekannter deutscher Melodien sollten im Anfangsunterricht bzw. in der Mittelstufe für jüngere Schüler eingesetzt werden. Ihnen ist mit den ersten 50 Liedbeispielen auch die überwiegende Mehrzahl der Hasbergschen Liedersammlung gewidmet. Darauf folgt eine (kleinere) Anzahl von 14 original französischen Liedern, wobei Hasberg - auch zur oben genannten Erleichterung der Unterrichtspraxis - auf den hohen Bekanntsgrad dieser Melodien verweist (Abb. 59a und 59b auf S. 358 f.): 19 Die zum großen Teil von mir zu den Texten gefundenen und angegebenen Melodien entsprechen m. E. auch dem Sinne der fremdsprachlichen Texte; namentlich in der französischen Schweiz werden eine ganze Anzahl französischer Texte tatsächlich nach hübschen, hier angegebenen deutschen Melodien gesungen. Um aber auch denjenigen Lehrenden gerecht zu werden, welche französische und englische Melodien bevorzugen, habe ich solche fremde Melodien mit aufgenommen, welche am meisten bekannt sein dürften ( Ma Normandie , Salut! Glaciers sublimes ! 20 Hasberg verbindet mit jedem Lied eine thematische Wortschatzarbeit, die nach Themenkreisen in champs lexicaux wie Saisons, Liberté, Patrie geordnet sind: Für jedes Lied und Gedicht sind nun hinten im Wörterbuch die Vokabeln jedesmal besonders angegeben, die Verbalformen zum Teil auch als Vokabeln, eine Neuerung, die 19 In der vorliegenden Arbeit ist nachgewiesen worden, dass es sich bei Le Petit Pierre nicht, wie vermutet, um ein original französisches Lied, sondern um die Kontrafaktur von Mozarts Papageno-Arie bzw. Üb immer Treu und Redlichkeit handelt. Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit S. 183, Fußnote 123. 20 Zu einer deutschen Originalmelodie gibt es oft mehrere von Hasberg ausgesuchte bzw. kreierte französische Versionen, die sich, wie schon bei Delcasso, inhaltlich deutlich vom Original unterscheiden. So wird die erste angegebene Melodie O Tannenbaum zuerst als 1. L’arbre de Noël mit „Singnoten“ (wie im Titel der Liedersammlung angegeben) abgedruckt. Danach folgt der zweite Text L’été. Der Text dieser französischen Kontrafaktur verlegt damit den Tannenbaum in den Sommer: „Riant été, riant été! Que j’aime ta présence! Les blés sont mûrs et leur beauté / Nous fait de Dieu voir la bonté. Riant été, riant été, Que j’aime ta présence“ (vgl. Hasberg 1902, S. 15.). Mozarts Üb immer Treu und Redlichkeit wird thematisch unter 8. Le printemps découvert mit Singnoten abgedruckt. Es folgen unter 9. und 10. Le printemps französische Versionen von Malan und Brés sowie Adaptationen von Hasberg mit 11. Les oiseaux des champs und 12. La petite hirondelle . Auffallend ist, dass es sich auch bei den Französischen Melodien 55 bis 62 um 8 französische Kontrafakturen ein und desselben Lieds, nämlich Üb immer treu und Redlichkeit handelt. Damit verringert sich der Anteil von „original französischen“ Melodien von 14 auf 6. 356 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="356"?> mir praktisch, ja notwendig erschien. Den Kindern darf m. E. die Lust am Erlernen und Singen eines Liedchens nicht durch unnötige Schwierigkeiten verkümmert werden. 21 Dabei folgt Hasberg bei der Auswahl der Melodien hier nicht einer linearen Progression vom Einfachen zum Schwierigen, sondern nimmt phonetische und suprasegmentale Elemente der approche atomiste in konzentrischen Kreisen auf. Auf Bekanntes wird aufgebaut, die charnières und Sprachmittel werden ständig aktiviert und komplexe Strukturen werden (wie bei der Analyse des Bon camarade durch Hasbergs Mentor Quiehl) in Teilbereiche zerlegt: 22 Die Lieder habe ich der Bequemlichkeit halber nach den Melodien geordnet, nicht immer nach ihrer größeren oder geringeren Schwierigkeit. Das Zusagende und das für die betr. Klassenstufe Passende läßt sich ja leicht aus dem doppelt, nach Inhalt und Melodie, angegebenen Inhaltsverzeichnis ersehen. In den „Vorbemerkungen“ ist das Notwendigste für das Singen fremder Texte ausgeführt. 23 Um das flotte und richtige Singen zu erleichtern, ist auch die Bindung und Elision jedesmal bezeichnet, eine Hilfe, die ich in Prosastücken für störend halten würde. Bei jedem Liede ist die Melodie angegeben, bei jedem ersten Liede einer Gruppe sind auch jeweils die Singnoten hinzugefügt. 24 21 Ebd., S. 5. 22 Oft gibt Hasberg in Fußnoten artikulatorisch-phonetische Hinweise, die sich auf die Interpretationsprobleme der Lieder als vertonte Lyrik beziehen: So wird bei in den verschiedenen französischen Kontrafakturversionen das zweisilbige forêt und na - ture auf zwei Achtelnoten und eine halbe Note verteilt, also müssen auf eine einzige Silbe fobzw. nazwei Achtelnoten h und c gesungen werden: „Gewöhnlich ist nature, verdure etc. dreisilbig zu singen. Jedoch kommen solche Elisionen wie natur’ auch in Liedern mit echt franz. Melodien hin und wieder vor, namentlich in Liedern heiteren Inhalts. Vgl. Il était un’ bergère. Es sei auch an das poetisch vielfach gebrauchte encor’ statt encore erinnert.“ (Hasberg 1902, S. 18 und Abb. 60 auf S. 360 in der vorliegenden Arbeit.). 23 Unter der Rubrik Kurze Vorbemerkungen , dem Motto der Reformer „Erst der Laut, dann die Schrift“ und den Teilabschnitten Die offenen Laute, Die Mund-Nasenvokale, Tonloses, geschlossenes, offenes e, Stimmhafte und stimmlose Laute, Die Bindung gibt Hasberg in der Tradition von August Langes Artikulationsgymnastik und frühen Reformern wie Quiehl, Beyer, Viëtor, Walter und Klinghardt Hinweise zu Artikulationsübungen. (Ebd., S. 7-10 und S. 209, 229, 234, 238, 280, 318, 320 in der vorliegenden Arbeit.). 24 Hasberg (1902), S. 5. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 357 <?page no="357"?> Abb. 59a: Ludwig h asBerg , Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch herausgegeben . Leipzig: Rengersche Buchhandlung Gebhardt & Wilisch 1902, S. 11. 358 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="358"?> Abb. 59b: Ludwig h asBerg , Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch herausgegeben . Leipzig: Rengersche Buchhandlung Gebhardt & Wilisch 1902, S. 12. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 359 <?page no="359"?> Abb. 60: Ludwig h asBerg , Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch herausgegeben . Leipzig: Rengersche Buchhandlung Gebhardt & Wilisch 1902, S. 18 f. 360 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="360"?> Hasbergs Liedersammlung als Illustration der approche atomiste dient also der Lautschulung und -gymnastik in allen Klassenstufen und fungiert nach Wunsch seines Autors als Schulbuch, ja als Vademecum der angewandten (kontrastiven) Phonetik: „Das Liederbuch ist dazu bestimmt, die Schüler und Schülerinnen als Schulbuch durch alle Klassenstufen hindurch zu begleiten, so daß alle bereits früher eingeübten Liedchen stets zur Hand sein können.“ 25 So nimmt Hasberg den in Viëtors Streitschrift diskutierten Topos der Überbürdungsfrage (des klassischen, traditionell deduktiv geprägten Fremdsprachenunterrichts) auf und gibt mit seiner Liedersammlung eine Replik auf die Angriffe der Reformgegner: „Gesang erfreut des Menschen Herz“, und bei der Überbürdung unserer Schüler und Schülerinnen mit so vielseitigem Lernstoff ist ihnen eine kleine Abwechslung, die ebenso angenehm wie lehrreich und bildend ist, gewiß von Herzen zu gönnen. 26 25 Hierbei handelt es sich um eine Beschreibung der Lernprogression in konzentrischen Kreisen, wie sie bereits bei Schild und Gauchat dargestellt wurde (vgl. Gauchat 1896, S. 51, Schild 1904, Vorwort I und S. 230 in der vorliegenden Arbeit). Dieses didaktische Konzept wurde auch in den 1990er Jahren im Zuge der Ausbildung einer Mehrsprachigkeitsdidaktik (vgl. Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried 1998) mit der Idee eines dreisprachigen Lesebuchs anhand von Themenkreisen erweitert: „Die Idee eines im Kern dreisprachigen Lesebuchs - mit deutschen, englischen und französischen Originaltexten des 20. Jahrhunderts - lädt zu einem fächerverbindenden und fachübergreifenden literarischen Unterricht ein, wie er von neueren Richtlinien für die sprachlichen Fächer empfohlen wird. Da das Europäische Lesebuch nicht nach Sprachen oder Kulturen, sondern thematisch aufgebaut ist, lassen sich die Themenkreise unmittelbar in eine interkulturelle Unterrichtsreihe integrieren. Die Themenkreise (Kindheit, Lernen, Liebe, Alltag, Fremdheit, Krisen, Kunst) sind wie in konzentrischen Kreisen angeordnet und sollen im Sinne mehrsprachiger Lernprogression die Jugendlichen mit einer zunehmend größeren und komplexeren Welt konfrontieren.“ (Franz Rudolf w eller , Über Möglichkeiten und Grenzen praktizierter Mehrsprachigkeit im Unterricht und außerhalb. In: Meißner / Reinfried 1998, S. 77.). 26 Hasberg (1902), S. 6. Das Lernziel, durch den Einsatz von Musik zur Spracherlernung das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, geht auf das geflügelte Wort des „prodesse et delectare” („Nützen und Erfreuen”) zurück und kann aus der Ars poetica des römischen Dichters und Schulautors Horaz abgeleitet werden: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. […]. Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci, lectorem delectando pariterque monendo.” (Horaz, Ars poetica , Vers 333 f. und 343 f.). (In deutscher Sprache lautet der Text: „Entweder die Dichter wollen nützen, oder sie wollen erfreuen, oder aber sie wollen das zur Sprache bringen, was für das Leben zugleich angenehm und nützlich ist. […]. Allen Beifall gewinnt, wer das Nützliche unter das Angenehme mischt / dadurch, dass er den Leser ebenso erfreut wie ermahnt.“) - Der Professor am Königlichen Französischen Gymnasium Berlin, Oskar Weißenfels, hat nachgewiesen, dass Horaz am Ende des 19. Jahrhunderts an den deutschen Gymnasien als Schulschriftsteller eine Renaissance er- III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 361 <?page no="361"?> Damit stellt auch Hasberg als radikaler Reformer die neusprachliche Reformbewegung als musikalische Reform dar. III. 1. 3 Johannes Spelthahn Ludwig Hasbergs Sammlung französischer Lieder wird wiederholt zitiert vom Professor an der Königlichen Kreis-Realschule Regensburg Johannes Spelthahn, der die Vorteile des Singens französischer Lieder im Klassenunterricht unterstreicht: Die Vorteile, welche das Singen französischer Lieder beim Klassenunterricht bietet, werden leider noch vielseitig verkannt. Es wird behauptet, daß einen mit Gesang begleiteten fremdsprachlichen Unterricht nur ein musikalisch gründlich vorgebildeter Lehrer erteilen könne. Aber unbedingt notwendig ist eine musikalische Vorbildung des Lehrers schon aus dem Grunde nicht, weil sehr viele französische Gedichte bekannten Melodien angepaßt sind, die von den Schülern bereits im Gesangsunterrichte erlernt wurden. 27 Spelthahn favorisiert dabei wie Mayer in seiner Programmschrift zu Oldenburg und später Schierbaum eine Zusammenarbeit mit dem Gesangslehrer zur Einübung der (bekannten, deutschen) Melodien: 28 Außerdem könnte letzterer [der Gesangslehrer, A. R.] zum französischen Unterrichte in Beziehung gesetzt werden, wenn dem Gesanglehrer die Aufgabe erteilt würde, die Melodien zu den dem Schüler bekannten französischen Gedichten einzuüben. Eine solche Einrichtung hat sich bereits an einzelnen Schulen bewährt. […] Angesichts so vieler Vorteile haben sogar ganz unmusikalische Neuphilologen ihre Schüler französische Lieder singen lassen, und zwar mit Erfolg, wovon ich mich persönlich zu überzeugen die Gelegenheit hatte. 29 Eine weitere Neuerung innerhalb der Anciens besteht darin, dass Spelthahn nicht nur auf französische Kontrafakturen wie Delcasso oder Moratel zurücklebte. (Vgl. Oskar w eissenFels , Horaz und seine Bedeutung für das Unterrichtsziel des Gymnasiums und die Principien seiner Schulerklärung . Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1885.). 27 Johannes s Pelthahn , Le chansonnier Français. Sammlung französischer Lieder. Für den Schulgebrauch zusammengestellt und mit Klavierbegleitung versehen. Regensburg: Selbstverl. des Autors 1905, Vorwort, S. VI. - Die Frage nach der musikalischen Vorbildung des Französischlehrers, der Einsatz von Kontrafakturen bekannter deutscher Volkslieder sowie die Rezension von Schierbaum und Clasen werden auf S. 312, Fußnote 540 in der vorliegenden Arbeit thematisiert. 28 Vgl. Mayer (1851), S. 9 sowie Schierbaum (1913), S. 442 f. 29 Vgl. Spelthahn (1905), Vorwort, S. VI f. 362 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="362"?> greift beziehungsweise wie Bierbaum, Schmeck und Teichmann französische Eigenkompositionen kreiert und didaktisiert. Spelthahn verbindet diese beiden Tendenzen, indem er die französischen Kontrafakturen adaptiert. 30 So erscheinen die beiden leitmotivisch gestalteten Kinderlieder Ein Männlein steht im Walde und Brüderchen, komm tanz’ mit mir aus Engelbert Humperdincks 1893 geschaffener Märchenoper Hänsel und Gretel unter dem französischen (Kontrafakturen-) Titel 9. Dans la forêt 31 und 39. Jean et Marguerite . 32 Die von Spelthahn adaptierten Texte wurden vom Verfasser mit einem Asterisken * gekennzeichnet: „(*) Le texte changé par J. Spelthahn.“ 33 Wie Hasberg und die frühen Reformer setzt Spelthahn Lieder zur Ausspracheschulung ein: Daß insbesondere zur Erzielung einer phonetisch reinen Aussprache das Singen erhebliche Dienste leistet, ist unzweifelhaft. Zu einer solchen Aussprache gehört auch ein richtiger Akzent, und die richtige Akzentuation verlangt, daß der prosodische Akzent mit dem musikalischen zusammenfällt. 34 Wie Teichmann 35 in Tout seul / Ganz allein und in Anlehnung an die Tradition des Schubertschen begleiteten Sololieds kreiert Spelthahn eine Klavierbegleitung zu anspruchsvollen Kunstliedern: Um die Einübung und den Vortrag der Lieder zu erleichtern, wurde die musikalische Begleitung so eingerichtet, daß fast durchgehends das Klavier auch die Melodie mitspielt. Lieder der großen Meister der Tonkunst, wie Beethoven, Haydn, Mozart 30 Vgl. Abb. 61a auf S. 367 und Abb. 61b auf S. 368 in der vorliegenden Arbeit. 31 Vgl. Spelthahn (1905), S. 6. 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. V. 34 Ebd., S. VII. Zuweilen kritisiert Spelthahn auch Hasbergs Missachtung dieser musikalischen Grundregel: „Während der musikalische Kunstgesang streng an dieser Fundamentalregel festhält (vgl. z. B. die Arie: La dernière rose, No. 42), verstoßen gegen dieselbe sämtliche mir bekannte Sammlungen französischer Volkslieder. Ich entschloß mich daher, eine Liedersammlung ohne sogenannte ‚verrückte Akzente‘ zu veranstalten. Akzente heißen verrückt, wenn sie nicht an die richtige Stelle gerückt sind, d. h., wenn der musikalische Akzent nicht mit dem tonischen Akzent zusammenfällt. Will man z. B. die „Loreley“ nach dem Texte singen, den uns Dr. Hasberg bietet, so muß man mindestens zehnmal den tonischen Akzent verrücken und z. B. das Oxytenon cheveux in ein Paroxytenon cheveux verwandeln. […] Längere Wörter können allerdings zwei Akzente bekommen, aber auch in diesem Falle muß der musikalische mit dem prosodischen Hauptakzent zusammenfallen. […]. Daß sich die falsche Akzentuierung auch in Volksliedern vermeiden läßt, beweist die von mir herausgegebene Liedersammlung.“ (Ebd.). Vgl. dazu auch Schenks Kritik an Hasbergs vierter Strophe zu Bérats Ma Normandie und S. 197, Fußnote 155 in der vorliegenden Arbeit. 35 Vgl. dazu Abb. 23 auf S. 223 in der vorliegenden Arbeit. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 363 <?page no="363"?> etc., wurden mit unveränderter Harmonie aufgenommen (vgl. No. 11, 36 15, 21, 37 25, 38 30, 39 36, 40 40 41 ). Zu dem schönen Mozartschen Liede No. 15 42 schrieb ich die Klavierbegleitung selbst, weil ich eine solche von Mozart nicht besaß. 43 Spelthahn verwendet auch bekannte Volksweisen, zu denen er die französischen Kontrafakturen entwirft wie 3. Avril ( Der Mai ist gekommen ) (Abb. 62, S. 369) oder adaptiert Melodien wie die Volksweise Beau soleil zur Ausspracheschulung des mouillierten L: 36 Das Lied Komm, lieber Mai und mache stammt von Mozart und wird als Kontrafaktur unter 11. Le printemps aufgenommen. 37 Das unter 21. L’amour de la patrie aufgeführte Lied ist eine Kontrafaktur von Haydns Gott erhalte Franz, den Kaiser , das von J. Schulz ins Französische übertragen und durch Spelthahn adaptiert wurde. Am Tag der Weimarer Verfassung, am 11. 8. 1922, also 17 Jahre nach Erscheinen des Spelthahnschen Chansonnier Français wurde das Lied der Deutschen vom Reichspräsidenten Ebert zur Nationalhymne erklärt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde nur die erste Strophe gesungen, gefolgt vom Horst-Wessel-Lied. 1952 wurde in einem offiziellen Briefwechsel zwischen Bundeskanzler und Bundespräsidenten entschieden, dass nur noch die dritte Strophe gesungen werden sollte. Nach der Wiedervereinigung wurde in einem erneuten Briefwechsel zwischen Bundespräsidenten und Bundeskanzler das Lied der Deutschen zur Nationalhymne Deutschlands erklärt. Vgl. dazu Eberhard r ohse , „Das Lied der Deutschen“ in seiner politischen, literarischen und literaturwissenschaftlichen Rezeption. In: Hans-Joachim B ehr / Herbert B lume / Eberhard r ohse (Hrsg.), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998. Festschrift zum 200. Geburtstag ( Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur , Bd. 1). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, S. 51-100. 38 Eichendorffs O Täler weit, o Höhen wurde von Mendelssohn-Bartholdy vertont, von Moratel ins Französische übersetzt und von Spelthahn als französische Kontrafaktur adaptiert. 39 Das Walhallalied Helden, lasst die Waffen ruhn von Josef Hartmann Stuntz wurde von Souvestre ins Französische übertragen und von Spelthahn als 30. La chanson des matelots als Trinklied Chantons et buvons à plein verre aufgenommen. 40 Unter 36. erscheint Rouget de L’Isles La Marseillaise ou La Marche des Marseillais als original französisches Lied. Gleich darauf folgt unter 37. L’ange gardien eine Kontrafaktur von Amable Tastu (dem Pseudonym der femme de lettres Sabine Casimire Amable Voïart), die inhaltlich mit dem chant révolutionnaire nichts gemein hat. 41 In 40. Le Petit Conscrit verwendet Spelthahn Versatzstücke von George Bizets Oper Carmen und adaptiert Delcassos Le Petit Conscrit mit einer neuen Kontrafaktur (Abb. 61a). Bei Delcasso erscheint der Hinweis auf Kücken. Nach meinen Recherchen handelt es sich um eine Kontrafaktur des deutschen Kinder-Kriegslieds von Güll und der Melodie von Kücken: Wer will unter die Soldaten , das auch von Wetzel eingesetzt wurde. (Vgl. dazu S. 353, Fußnote 10 in der vorliegenden Arbeit.) 42 Es handelt sich um Mozarts Version des Volkslieds Alle Vögel sind schon da mit der französischen Kontrafaktur Oui, tous les oiseaux von Delcasso und einer Adaptation von Spelthahn. 43 Spelthahn (1905), S. VII. Spelthahn greift hier wie Foillet, Walter oder Schmidt auf die rhetorische Figur der captatio benevolentiae und das stilistische Mittel der Untertreibung der Herausgeberfiktion zurück. 364 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="364"?> Die Melodie zu No. 4, welche sich dazu eignet, die Aussprache der mouillierten L einzuüben, ist eine Reminiszenz aus einem Liede, welches ich eines Abends in einem Konzert hörte. Als ich am anderen Tage diese Melodie aufs Papier warf, veränderte sich dieselbe allerdings nicht unbedeutend. 44 1908 gibt Spelthahn mit Le Petit Chansonnier 45 eine weitere Liedersammlung heraus und widmet diese wie auch schon Le Chansonnier Français seinem Mentor Hermann Breymann: „Herrn Kgl. Geheimem Hofrat Dr. Hermann Breymann, Kgl. Universitätsprofessor in München, Mitglied des Obersten Schulrates, als Zeichen grösster Hochachtung und innigster Verehrung gewidmet vom Verfasser.“ 46 Im Vorwort zu Le Petit Chansonnier charakterisiert Spelthahn seine Liedersammlung als Manifest der Anciens und stellt zugleich eine methodisch-didaktische Vorgehensweise vor: Diese kleine Liedersammlung besteht aus zwei Abteilungen, welche zu einander in wechselseitiger Beziehung gesetzt sind. Die erste Abteilung des petit chansonnier enthält französische Gedichte, und zwar nur solche, welche wie die deutschen, englischen und italienischen, akzentuierenden Rhythmus mit taktmässiger Hebung und Senkung der Stimme haben. Diese Gedichte eignen sich daher vorzüglich zum Deklamieren, Singen und Auswendiglernen. Die zweite Abteilung ist ein deutsches Liederbuch, welches sangbare poetische Übersetzungen oder sonstige passende Texte zu allen Liedern der ersten Abteilung bietet. Diese deutschen Lieder werden, wenn sie nicht allgemein bekannt sind wie z. B. „Der gute Kamerad“, oder „Das Heidenröslein“, zuerst im Gesangunterrichte durchgenommen. Die einzelnen Melodien schreibt der Gesanglehrer an die Notentafel, wobei er sich, ebenso wie beim Vortrag mit Klavier- oder Harmoniumbegleitung, des Chansonnier français von Spelthahn bedient. […]. Wenn auf diese Weise die Schüler die Melodie irgend eines Liedes erlernt haben, wird der beim französischen Unterricht tüchtig geübte französische Text, nachdem er vorher noch im Chor deklamiert worden ist, eventuell auch gesungen, und zwar gemeinsam unisono, mit oder ohne Begleitung des Klaviers oder Harmoniums. Die Schüler jeweils fünf bis sechs Lieder in jeder Klasse lernen und eventuell auch singen zu lassen, dürfte nicht zuviel sein. 47 44 Ebd., S. VII. 45 Vgl. Johannes s Pelthahn , Le Petit Chansonnier. Liedersammlung für den Unterricht aus der französischen Sprache (Text, Musik, Präparation). Poésies françaises propres à être apprises par cœur (Spelthahn 1908a) . Regensburg: Hermann Bauhof, Königliche bayerische Hofbuchhandlung 1908. 46 Ebd., S. IV. 47 Ebd., Vorwort, S. V. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 365 <?page no="365"?> Im gleichen Jahr veröffentlicht Spelthahn den Aufsatz Über das Singen französischer Lieder beim Schulunterricht , 48 in dem er unter anderem beim Liedeinsatz im Französischunterricht von der deutschen Kontrafaktur der Marseillaise 49 ausgeht. Es handelt es sich hier also um die umgekehrte Richtung des bisher für den Französischunterricht untersuchten Kontrafakturverfahrens, da hier zuerst von der deutschen Übersetzung ausgegangen wird: Aber auch von diesem Nationalliede der Franzosen, gedichtet und komponiert von Rouget de l’Isle 1789, passen nur die erste und letzte Strophe für den Unterricht. Die Mittelstrophen haben sehr geringen poetischen Wert und sind außerdem zu revolutionären Charakters. Die erste und letzte Strophe, allein genommen, bilden ein rein patriotisches Lied, das Begeisterung für das Vaterland zu wecken imstande ist. Mit diesem Liede sollte daher, wegen seiner historischen Bedeutung, jeder Schüler der französischen Sprache auf der höheren Stufe des Unterrichtes bekannt gemacht werden. Wie aber soll ein unmusikalischer Lehrer der französischen Sprache dem Lernenden die Melodie jenes Liedes beibringen? Das geht nur mithilfe des Gesanglehrers, welcher dasselbe zuerst mit deutschem Texte einübt. Es empfiehlt sich dabei die folgende Fassung: 50 48 Johannes s Pelthahn , Über das Singen französischer Lieder beim Schulunterricht (Spelthahn 1908b). In: Bayerische Zeitschrift für das Realschulwesen 16, 1908, S. 203-209. 49 Vgl. zur französischen Originalversion der Marseillaise Abb. 21, S. 218 in der vorliegenden Arbeit. 50 Spelthahn (1908b), S. 207. Die deutsche Kontrafakturversion der Marseillaise ist unter 34. Die Marseillaise in Spelthahns Le Petit Chansonnier, Bd. 2 abgedruckt. Vgl. Johannes s Pelthahn , Le Petit Chansonnier. Liedersammlung für den Unterricht aus der französischen Sprache (Text, Musik, Präparation). Poésies françaises propres à être apprises par cœur , Bd. 2 (Spelthahn 1908c) . Regensburg: Hermann Bauhof, Königliche bayerische Hofbuchhandlung 1908, S. 16. 366 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="366"?> Abb. 61a: Johannes s Pelthahn , Le chansonnier Français. Sammlung französischer Lieder. Für den Schulgebrauch zusammengestellt und mit Klavierbegleitung versehen. Regensburg: Verlag von Bauhof 1905, S. 50. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 367 <?page no="367"?> Abb. 61b: Johannes s Pelthahn , Le chansonnier Français. Sammlung französischer Lieder. Für den Schulgebrauch zusammengestellt und mit Klavierbegleitung versehen. Regensburg: Verlag von Bauhof 1905, S. 51. 368 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="368"?> Abb. 62: Johannes s Pelthahn , Le chansonnier Français. Sammlung französischer Lieder. Für den Schulgebrauch zusammengestellt und mit Klavierbegleitung versehen. Regensburg: Verlag von Bauhof 1905, S. 2. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 369 <?page no="369"?> 1. Frisch auf, ihr Brüder, greift zum Schwerte. Für Freiheit und für Vaterland! Schreitet stolz auf ruhmreicher Fährte! |: Knüpft der Eintracht siegreiches Band! : | Der Feind brüllt an des Landes Toren Und schnaubt grimmig, flammend vor Wut, Er dürstet nach Gut und nach Blut, Will die edlen Herzen durchbohren! Gewaffnet! All voran! Erfüllt der Rache Schwur! |: Marschiert! : | Kein schnödes Blut entweih’ der Heimat Flur! 2. Die Flamme heil’ger Liebe sprühe Für Freiheit und für Vaterland! Der Begeist’rung Feuer erglühe, |: Führ’ zum Sieg die rächende Hand! : | Entrollt im fremden Land die Fahnen, Auf daß sie nach blutiger Schlacht An stolzen Triumphen unsrer Macht Jeden Feind im Tode noch mahnen! Gewaffnet! All voran! Erfüllt der Rache Schwur! |: Marschiert! : | Kein schnödes Blut entweih’ der Heimat Flur! In ähnlicher Weise können alle andern sangbaren Lieder mit Beihilfe des Gesanglehrers erlernt werden, wodurch beim französischen Unterrichte keine Zeit mit der Einübung der Melodie verloren geht. Diejenigen Lehrer, welche dem fremdsprachlichen Singen ganz abhold sind, sollten um so mehr das Deklamieren der Liedertexte im Chore, welches dem gesanglichen Vortrag jedesmal vorausgehen muß, besonders pflegen. Da der Lehrplan für Real- und Oberrealschulen erfreulicherweise auch das Memorieren von Liedern vorschreibt (vgl. S. 349), 51 so wird der Schüler, 51 Steinmüller zitiert aus der bayerischen Lehrordnung für Realschulen vom 27. Juni 1907: „6. Gesang im Unterricht. […]. In der bayr. Lehrordnung für Realschulen vom 27. Juni 1907 heißt es vorsichtig und zurückhaltend: ,Durch alle Klassen sind Gedichte … aus dem Gedächtnis einzuprägen, sinngemäß vorzutragen, eventuell auch zu singen. Andere Lehrpläne, besonders die preußischen, sprechen sich, soweit ich sie übersehen konnte, darüber nicht aus.’“ (Georg s teinmüller , Breymann-Steinmüller Neusprachliche Reformliteratur (Französisch und Englisch. Eine bibliographisch-kritische Übersicht. Viertes Heft (1904-1909). Leipzig: Deichert’sche Verlagsbuchhandlung 1909, S. 162 f.). Im bayerischen Lehrplan 370 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="370"?> wenn ihm eine solche Aufgabe gestellt wird, und er nur einigermaßen musikalisch veranlagt ist, 52 die Einprägung des betreffenden Gedichtes sich durch das Singen desselben zuhause zu erleichtern suchen und so das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. 53 Spelthahn wendet seine in Le Petit Chansonnier und in der Bayerischen Zeitschrift für Realschulwesen beschriebene Methode des Liedeinsatzes bei Maifesten an. Er erreicht durch die Kooperation zwischen verschiedenen Fachlehrern durch die Verwendung von Musik im Unterricht einen Synergieeffekt und nimmt so eine interdisziplinäre Vorreiterrolle ein, die dann zu Beginn der 1990er Jahre in die Entwicklung des CLIL ( Content and Language Integrated Learning ) bzw. des EMILE ( Enseignement d'une Matière par l’Intégration d'une Langue Étrangère ) münden: 54 Von den besseren Sängern der Schule können französische Lieder des Chansonnier bei Maifesten und ähnlichen feierlichen Veranstaltungen vierstimmig aufgeführt werden. So wurden z. B. im Mai 1907 die Lieder Une rouge aurore und Chant printanier vierstimmig von den Chorsängern der K. Kreisrealschule Regensburg vorgetragen und mit grossem Beifall aufgenommen. Um solche öffentliche vierstimmige fremdsprachliche Vorträge zustande zu bringen, ist das Zusammenwirken sämtlicher Neuphilologen der betreffenden Anstalt nötig. Denn die Texte dieser Lieder müssen zuerst in sämtlichen Klassen zu gleicher Zeit von allen Schülern erlernt werden. Sodann werden beim Gesangunterrichte unter Beihülfe eines neusprachlichen Lehrers der Anstalt die einschlägigen Lieder von den besseren Sängern im Chor deklamiert, bevor mit dem fremdsprachlichen Singen begonnen wird. 55 für Realschulen und Oberrealschulen vom 15. Juni 1907 wird für die französische Sprache in der Unterstufe I. und II. Klasse (heute würde man von der 5. und 6. Klasse sprechen) in Verbindung mit dem Memorieren von Texten (im Anfangsunterricht) das Vortragen von Gedichten empfohlen. Dieses kann auch „eventuell“ durch das Singen von Liedern, welches zwar im Lehrplan nicht nachdrücklich empfohlen wird, aber immerhin als „gestattet“ Erwähnung findet, ersetzt werden. Daran sieht man, dass das Singen zur Zeit der ausgehenden Reformbewegung verbreitet war, aber trotzdem nicht von allen Lehrern, sondern wahrscheinlich nur von einer Minderheit geschätzt wurde. Ab der III. Klasse (heute: 7. Klasse) und in den höheren Klassen tauchen Lieder allerdings zumindest im bayerischen Lehrplan von 1907 nicht auf. (Vgl. dazu Christ / Rang 1985, Bd. III, S. 94.). 52 Vgl. dazu Adolf w eissmann , Musikalische Anlage und Erlernung fremder Sprachen. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1903. 53 Spelthahn (1908b), S. 207 f. Wie Hasberg stellt auch Spelthahn einen intertextuellen Bezug zum Horazschen „prodesse et delectare” her. Vgl. dazu S. 361, Fußnote 26 in der vorliegenden Arbeit. 54 Vgl. dazu Einleitung, S.32 f. in der vorliegenden Arbeit, sowie Falkenhagen (2014), Geiger-Jaillet / Schlemminger / Le Pape (2016). 55 Spelthahn (1908a), V f. - Vgl. zur Kooperation mit dem Gesanglehrer und die Übernahme von Unterrichtssequenzen durch musikbegabte Schüler Schierbaum (1913), S. 243 f. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 371 <?page no="371"?> Spelthahn setzt die Tradition des Chorsingens auf dem Maifest 1908 an der Kreis-Oberrealschule Regensburg fort mit französischen Kontrafakturen von Franz Schuberts Heidenröslein und Conradin Kreutzers Chor Schon die Abendglocken klangen aus der Oper in zwei Akten Das Nachtlager von Granada . Hierbei interpretieren die Schüler nicht nur einen vierstimmigen, polyphonen Gesang, sondern übernehmen in den verschiedenen Stimmlagen Sopran, Tenor, Bariton und Bass 56 die Rollen der Akteure einer Oper: „Ebenso wurden auf dem Maifest 1908 der K. Kreis-Oberrealschule Regensburg zwei vierstimmige Chorlieder vorgetragen: La rose de bruyère 57 von Schubert und Chant du soir aus dem Nachtlager von Granada von Kreutzer.“ 58 In der zeitgenössischen fachdidaktischen Literatur zeigt sich, dass bereits im Erscheinungsjahr des Petit Chansonnier 1908, also im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der Einsatz von französischen Kontrafakturen original deutscher Melodien für den Französischunterricht mehrfach abgelehnt wird und der Pendelschlag 59 sich in Richtung original französischer Melodien im Rahmen der sich ankündigenden Bewegung der Kulturkunde verlagert: So schreibt Emil Hausknecht, der bis 1906 die mit dem Reform-Realgymnasium zusammengelegte Oberrealschule Kiel leitete, in seiner 1908 publizierten Rezension zu Gedicht- und Liedersammlungen: Le Petit Chansonnier nennt sich eine Liedersammlung von J. Spelthahn (1908) für den Unterricht in der französischen Sprache, deren 43 französische Lieder samt und sonders nach deutschen Melodien zu singen sind. Ich halte das für verkehrt: zu einem deutschen Liede gehört eine deutsche, zu einem französischen Liede eine französische Melodie! Einzelne Ausnahmen sind gestattet; aber alle 43 französischen Lieder nur nach deutschen Melodien, das ist zu viel. Es gibt doch so reizende französische Lieder für Kinder mit allerliebsten Melodien. Außer dem Petit 56 Die Bass-Stimmen wurden vermutlich von den älteren Schülern oder von Spelthahn selbst und musikbegeisterten Lehrerkollegen übernommen. 57 Die französischen Kontrafakturversionen 34. La rose de bruyère und 26. Chant du soir sind in Spelthahns Le Petit Chansonnier abgedruckt. Vgl. Spelthahn (1908a), S. 12 und S. 9. Spelthahn hat zu allen Melodien des Petit Chansonnier die deutschen (Original-)Texte separat herausgegeben. Johannes s Pelthahn , Deutsche Texte zu allen Melodien des Petit Chansonnier und des Chansonnier français (Spelthahn 1908c). Nürnberg: Koch 1908. In dieser Ausgabe erscheint das Schubertsche Kunstlied unter 32. Heidenröslein und unter 24. Kreutzers Abendgesang. (Ebd., S. 15 und S. 12.). 58 Spelthahn (1908b), S. 209. 59 Die Begriffe „le mouvement de pendule“ bzw. „the swing of the pendulum“ drücken als Sprachbilder die Alternanz von gegenläufigen Bewegungen aus. (Vgl. dazu auch Rauch 2015, S. 126.). 372 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="372"?> Chansonnier liegt eine größere Sammlung vor: Le Chansonnier Français … mit Klavierbegleitung versehen von J. Spelthahn, Regensburg 1908. 60 Georg Steinmüller unterstreicht diese Kritik und vermerkt 1909 in seinem Vierten Heft zur neusprachlichen Reformliteratur: „Bez. der Verwendbarkeit in unseren Mittelschulen verweise ich auf Heft III meiner Reformliteratur.“ 61 In diesem Heft kritisiert Steinmüller den Liedeinsatz zur Lautschulung und das Chorsingen bei älteren Schülern und bei Jungen und wertet diese als „Spielereien“, also gewissermaßen als didaktischen Lückenfüller ab: Wenn auch die Zusammenstellung solcher Lieder, bes. Nationallieder für den Lehrer recht interessant und auch lehrreich sein mag, so hat doch die Kritik die Nützlichkeit und den Wert des Chorsingens zwecks Gewöhnung der Schüler an den fremden Laut und zwecks phonetischer Schulung in höheren Schulen sowohl vom pädagogischen als auch vom musikalischen Standpunkt aus fast durchweg verneint. Der Ernst der Mittelschule verträgt derartige Spielereien nicht. In Erziehungsinstituten und Mädchenschulen mit schwächeren Kursen mögen solche Lieder zur Belebung des Unterrichts und zur Belehrung ganz gute Dienste leisten. 62 Steinmüllers Kritik an Liedeinsatz und Chorsingen wirkt aus heutiger Sicht oberlehrerhaft und sexistisch. Georg Steinmüller stellt hierbei gewissermaßen die Antithese zu Max Walters Schaffen dar, das sich aus der lutherischen Tradition des singenden Schulmeisters speist. Weitere Vertreter der Anciens 63 sind Hubert H. Wingerath, 64 Karl August Friedrich Hartmann, 65 Ge- 60 Emil h ausknecht , VIII. / IX. Französisch und Englisch. II. Französisch. 4. Gedicht- und Liedersammlungen. In: Jahresberichte für das höhere Schulwesen XXIII, 1908, S. 22. 61 Steinmüller (1909), S. 140. - Die ersten beiden Bände wurden von Hermann Breymann herausgegeben. Nach dessen Tod übernahm der Regierungs- und Studienrat im Königlich bayerischen Staatsministerium, Georg Steinmüller, die Herausgabe der Bände 3 und 4. Steinmüller bezieht sich in seiner Rezension in Band 4 auf seinen Kommentar im 1905 erschienenen Band 3. 62 Georg s teinmüller , Hermann Breymann’s Neusprachliche Reformliteratur (Drittes Heft). Eine bibliographisch-kritische Übersicht. Leipzig: Deichert’sche Verlagsbuchhandlung Nachf. (Georg Böhme). 1905, S. 137. 63 Im weiteren Sinne ist damit das von den reformierten Pastoren Hauchecorne und Henry herausgegebene Gesangbuch, das „[…] 40 hymnes und 95 cantiques in französischer Sprache enthielt, die nach deutschen Melodien gesungen wurden“, ein Vorläufer der Kontrafakturtechnik der Anciens. Vgl. dazu S. 87 f. in der vorliegenden Arbeit. 64 Vgl. S. 194-197 in der vorliegenden Arbeit. 65 Ebd., S. 216, Fußnote 250 in der vorliegenden Arbeit zu den Bemerkungen bezüglich französischer Kontrafakturen deutscher Melodien. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 373 <?page no="373"?> org Stier 66 , Hermann Schmeck 67 , Peter Schild 68 und Hermann Bredtmann. 69 Im Rahmen der Lesebuchmethode 70 wurden in den zeitgenössischen Lehr- und Lesebüchern im Anhang vereinzelt französische Kontrafakturen deutschsprachiger Volkslieder verwendet, wobei Lieder verstärkt geschlechtsspezifisch an Realschulen eingesetzt wurden. III. 1. 4 Wilhelm Ricken Ein prototypisches Beispiel für den geschlechtsspezifischen Einsatz von französischen Kontrafakturen deutscher Volkslieder ist Wilhelm Rickens Lehrgang der Französischen Sprache. In der Ausgabe für Mädchenschulen 71 integriert er die französische Kontrafakturversion des Goetheschen Heidenrösleins durch Barbieux. 72 Die Ausgabe enthält auch Uhlands Le bon Camarade in der Amiel- 66 Ebd., S. 201-215. 67 Ebd., S. 216, Fußnote 250. 68 Ebd., S. 230-235. 69 Ebd., S. 343, Fußnote 642. 70 Ebd., S. 333, Fußnote 615. 71 Vgl. Wilhelm r icken , Lehrgang der Französischen Sprache für die ersten drei Jahre des französischen Unterrichts an Realschulen jeder Art, höheren Mädchenschulen und Anstalten zur Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen. 2. und 3.-Jahr. Ausgabe für Mädchenschulen . 4. Aufl. Berlin: Verlag von Wilhelm Gronau 1902. 72 Vgl. dazu Ricken (1902), S. 13, Hasberg (1901), S. 22 f. und S. 49. - Barbieux’ Übersetzungen werden in einer (anonymen) zeitgenössischen Rezension zu dem Gedichtband Poésies Germaniques, choix de pièces lyriques imitées des meilleures poètes de l’Allemagne lobend erwähnt: „Der Verfasser dieser metrischen Uebersetzungen, welcher jetzt Professor am Gymnasium in Hadamar ist, hat mit großem Glücke mehrere lyrische Gedichte von Matthisson, Salis, Hölty, Körner, Goethe, Chamisso, Rückert, Freiligrath und Anderen auf fremden Boden verpflanzt und bereits durch frühere Arbeiten dieser Art wesentlich in Frankreich zur Verbreitung unserer Lyriker beigetragen. Mit großer Zartheit und Treue zugleich sind die Gedanken wiedergegeben, und wir führen als Beispiel ein Lied von Goethe […] an: La Rose de Bruyère.“ (Anonym, Rezension zu Heinrich B arBieux , Poésies Germaniques, choix de pièces lyriques imitées des meilleures poètes de l’Allemagne. Weilburg: Lanz 1844. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 1. Jg., 1846, S. 413.) In Liedersammlungen und Lehrbuchquellen wird der Vorname von Barbieux immer mit H. abgekürzt. Die Programmschrift des Herzoglich Nassauischen Gymnasiums zu Hadamar gibt aus Anlass der Versetzung von Barbieux nach Hadamar 1845 in einer Kurzbiographie den deutschen Vornamen Heinrich an: Barbieux besuchte das Pädagogium zu Weilburg und wurde 1828 als „Lector der französischen und englischen Sprache“ am Gymnasium zu Weilburg angestellt. 1839 wurde er zum „ausserordentlichen Professor ernannt und Ostern 1845 als solcher an das Gymnasium nach Hadamar versetzt“. Die Übertragungen deutscher Gedichte ins Französische erfolgten also während seiner Lehrtätigkeit in Weilburg und Hadamar. Es ist davon auszugehen, dass Barbieux in seinen Kursen der französischen und englischen Sprache auch französische Kontrafakturen deutscher Melodien verwendet hat. (Vgl. Matthias k reizner Hrsg., Programm des Herzoglich Nassauischen Gymnasiums zu 374 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="374"?> schen Übersetzung 73 sowie Bérats Ma Normandie . In der Ausgabe für Knabenschulen ist wie in der Ausgabe für Mädchenschulen unter 16. Le bon Camarade enthalten, gefolgt von 26. Ma Normandie . Darauf folgt mit 27. Napoléon III eine Kurzbiographie und die Fabel 28. Les trois braves . Hier endet der Lehrgang für Knabenschulen. 74 In Rickens Französischem Gymnasialbuch 75 wird als einziges Gedicht 14. Le bon Camarade aufgenommen. 76 Das Lehrwerk ist nach der vermittelnden Methode 77 konzipiert und baut nach jeder Textsequenz grammatische Transformationsübungen ein. Inhalt und Funktion des (Lied-) Texts werden nicht berücksichtigt. Le bon camarade fungiert hier einzig und allein als Induktionstext einer Grammatiksequenz zum betonten Personalpronomen (Abb. 63, S. 376). 78 Hadamar, wodurch zur öffentlichen Prüfung der Schüler am 30. und 31. März 1846 Behörden, Eltern, Bewohner und Freunde des Schulwesens geziehmet einladet . Wiesbaden: Druck der L. Schellenberg’schen Hof-Buchdruckerei 1846, S. 20 und S. 28.). 73 Vgl. Ricken (1902), S. 5. 74 In der Ausgabe für Mädchenschulen folgt ein kurzer deskriptiver historischer Text: 29. Première période de la guerre de 1870 . Danach ist eine kindgemäße Parabel abgedruckt 30. Un plaisir inédit . Es handelt sich um eine Warnung vor der Versuchung am Beispiel verführerischer, aber giftiger Früchte: „Enfants, répondit-il, si vous aviez mangé ces fruits, vous seriez morts tous les deux; car ce sont des baies de belladone, qui renferment du poison. […] A présent vous savez quels sont les plaisirs que je vous interdis.“ Nach der Parabel folgt das Heidenröslein 31. La rose de bruyère , welches im Kontext der zeitgenössischen Mädchenerziehung (und Trennung zwischen Mädchen- und Knabenschulen) als Warnung (vor dem männlichen Geschlecht) interpretiert werden kann: „Fanfan dit: ,Tu es à moi. […]‘ Rose s’opposa, piqua, vains furent ses oh, ses, ah, Vaine fut colère.“ (Ebd. S. 13.). 75 Vgl. Wilhelm r icken , Französisches Gymnasialbuch für den Unterricht bis zum Abschluß der Untersekunda. Auf Grund der preußischen Lehrpläne von 1901 für gymnasiale Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache. 2., (verbesserte) Aufl. Berlin / Chemnitz / Leipzig: Wilhelm Gronau 1905. 76 Ebd., S. 10 f. 77 Vgl. S. 351, Fußnote 3 in der vorliegenden Arbeit. Hierbei trifft das von Reinfried bzw. Köhring / Beilharz herausgearbeitete Merkmal der Betonung der (überwiegend induktiv gewonnenen) Regelgrammatik zu. (Vgl. Reinfried 1992, S. 140, Anmerkung 186.). 78 Dieser sich ausschließlich auf grammatische Phänomene beziehende Verwendung von (Lied-)Texten als Einsetzbzw. Strukturübung wird vom Wuppertaler Mittelschullehrer Friedrich Aab wieder aufgenommen. Hier erscheint Le bon camarade nach einer Darstellung über La journée des écoliers français als Induktionstext der Douzième Leçon (Abb. 64, S. 377). Im appareil didactique wird das Imparfait anhand mehrerer Struktur- und Umformungsübungen nach der klassisch-deduktiven Vermittlung der Grammatik-Übersetzungs-Methode wiederholt und gefestigt. (Vgl. Friedrich a aB , Lehrbuch für Französisch an Mittelschulen . 1. Teil. Für die 3. und 4. Klasse. Bielefeld, Leipzig und Hannover: Verlag von Velhagen & Klasing und Carl Meyer (Gustav Prior) 1939, S. 47 f.). - Vgl. zu den beiden Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts Reinfried (2016), S. 621. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 375 <?page no="375"?> Abb. 63: Wilhelm r icken , Französisches Gymnasialbuch. 2. Aufl. Berlin / Chemnitz / Leipzig: Verlag von Wilhelm Gronau 1905, S. 10 f. 376 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="376"?> Abb. 64: Friedrich a aB , Lehrbuch für Französisch an Mittelschulen. 1. Teil. Für die 3. und 4. Klasse. Bielefeld / Leipzig / Hannover: Verlag von Velhagen & Klasing und Carl Meyer (Gustav Prior) 1939, S. 47 f. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 377 <?page no="377"?> III. 1. 5 Wilhelm Knörich Eine charnière-Stellung im Methodenstreit der Anciens et Modernes nimmt der Direktor der städtischen höheren Mädchenschule und Lehrerinnen-Bildungsanstalt zu Dortmund Wilhelm Knörich ein. So präsentiert er sich noch in der 1. Auflage seines Französischen Lese- und Lehrbuchs 79 als pilier des Anciens : Endlich habe ich als Anhang drei Lieder zum Gesange mitgeteilt. Diese Übung kommt immer mehr in Aufnahme und ist auch für korrekte Lautbildung sehr nützlich. Da nicht von jedem Menschen verlangt werden kann, daß er Melodien einzuüben versteht, habe ich Nachbildungen dreier deutscher Lieder gewählt, deren Melodien hinreichend bekannt sein dürften. 80 Knörichs Zitat bestätigt den verstärkten Einsatz von Liedern im Französischunterricht im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung speziell zur Lautschulung durch die planmäßige Einübung fremder Laute 81 und zur Verbesserung des Aussprache: Das folgende Werkchen ist zur Grundlage für den französischen Anfangsunterricht in solchen Schulen bestimmt, welche das Französische als erste fremde Sprache lehren, im besonderen ist es den Forderungen gemäß bearbeitet worden, welche die Bestimmungen über das Mädchenschulwesen u. s. w. vom 31. Mai 1894 aufstellen. 82 Die Begründung der Präferenz von Kontrafakturen deutscher Lieder wegen ihres Bekanntheitsgrades und die daraus folgende erleichterte Liedvermittlung wird häufig von den Anciens als Argument angegeben. Nach der in Fettdruck herausgehobenen Überschrift V. Anhang und dem kursiv gedruckten Untertitel Drei Lieder zum Singen erscheint als erstes Lied 65. Le bon Camarade 83 in der Version von Amiel, gefolgt von 66. Le retour du printemps 84 von Delcasso. Den Abschluss bildet 67. Delcassos Le Sapin. 85 79 Wilhelm k nörich , Französisches Lese- und Lehrbuch . Ausgabe B. Erster Teil: Erstes Unterrichtsjahr. 1. Aufl. Hannover: Carl Meyer (Gustav Prior) 1895. 80 Ebd., Vorrede, S. VI. 81 Siehe Christ / Rang (1985), Bd. III, S. 69. 82 Knörich (1894), Vorrede, S. III, Christ / Rang (1985), Bd. II, S. 72-74, Bd. III, S. 69-71, und Stier (1895), Vorrede, S. III f. 83 Im Gegensatz zu Wetzel verzichtet Knörich auf die Angabe der deutschsprachigen Originaltitel und der Autoren. Es erfolgt also kein Verweis auf Uhlands Guten Kameraden . 84 Bereits bei Lehmann wurde das Frühlingslied Kuckuck, Kuckuck, ruft aus dem Wald nach Hoffmann von Fallersleben unter dem Titel Le retour du printemps abgedruckt. (Vgl. Lehmann 1868, S. 308.). Die französische Delcasso-Version verwenden Stier und Bredtmann. Vgl. S. 211 und S. 343 in der vorliegenden Arbeit. 85 Vgl. zur Kontrafaktur von O Tannenbaum u. a. Lehmann (1868), S. 312 f. und S. 211, Fußnote 232 in der vorliegenden Arbeit. 378 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="378"?> In der zweiten Auflage seines Lese- und Lehrbuchs 86 ändert Knörich die Reihenfolge und ergänzt zu den drei (ursprünglich deutschen) Melodien mit französischen Kontrafakturen ein original französisches Lied: 69. Salut à l’an nouveau . 87 Knörich hebt (erst) im Vorwort dieser Auflage von 1905 das unter der Rubrik IV. Gedichte abgedruckte 64. La charité besonders hervor 88 und verweist auf die äußerst beliebte französische Liedersammlung von Claude Augé Les chants de l’enfance : Zu Nr. 64 wollte ich die ansprechende und von Kindern gern gesungene Melodie mitteilen, konnte aber die Erlaubnis dazu nicht erhalten. So muß ich es anheimstellen, von der Weise Kenntnis zu nehmen in den chants de l’enfance par Claude Augé (Paris, Larousse, 1 fr.). 89 Bei Augés Les chants de l’enfance handelt es sich nicht nur um eine Liedersammlung im klassischen Sinne. Es stellt vielmehr sein pädagogisch-didaktisches Konzept dar, dem sich Knörich anschließt. Gleichzeitig erfolgt mit dem verstärkten Einsatz französischer Originallieder ein schrittweiser Übergang zu den Modernes. Da es sich bei dieser Entwicklung um eine wichtige Etappe im Methodenstreit handelt, soll hieran die Bedeutung von Augé für den Einsatz von Musik im Französischunterricht herausgearbeitet werden: Wie bei den Philanthropen und Hauchecorne steht hier das kindgemäße, entdeckende und freudvolle Lernen 90 im Vordergrund. Das betont Augé in der dédicace , die seinen drei Kindern gewidmet ist : 86 Vgl. Wilhelm k nörich , Französisches Lese- und Lehrbuch . Erster Teil: Erstes Schuljahr. 2. Aufl. Hannover und Berlin: Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior) 1902. 87 Ebd., S. 25-27. Auch in der mir vorliegenden zweiten Auflage beginnt Knörich mit 67. Le bon camarade . Es folgt 68. Le sapin . (Das Lied bildete in der ersten Auflage den Abschluss der Triade). 69. Salut à l’an nouveau und 70. Le retour du printemps . (Es hat ein Tausch in der Reihenfolge zwischen 68 und 70 stattgefunden). 88 Das Gedicht wurde bereits in der ersten Auflage von 1894 abgedruckt, jedoch nicht explizit im Vorwort erwähnt. 89 Knörich (1902), S. V. (Vgl. dazu auch Claude a ugé , Les chants de l’enfance . Paris: Librairie Larousse. 3. Aufl. 1899.). Claude Augé war instituteur und Komponist. Er verfasste einige bekannte Schulbücher zur französischen Geschichte ( Cours d'histoire de France ), zur Grammatik ( Cours de grammaire en 4 volumes, Grammaire enfantine ) sowie ein Standardwerk zur Schulmusik ( Le livre de musique ), das 1895 erstmals erschien (Abb. 65b, S. 383) und bis 1954 mehrfach aufgelegt wurde. Nachdem er eine Verwandte von Pierre Larousse geheiratet hatte, arbeitete er im Verlag Les Éditions Larousse und leitete als Verleger und Lexikograf wichtige enzyklopädische Projekte wie den Nouveau Larousse illustré en sept grands volumes (supplément en 1907). Augé hat 1905 erstmals den bis heute äußerst erfolgreichen jährlich erscheinenden Petit Larousse illustré herausgegeben. Als Symbol für die Wissensvermittlung steht die von Émile-Auguste Reiber kreierte Personifizierung der Semeuse mit la fleur en pissenlit und dem Wahlspruch „Je sème à tout vent.“ 90 Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 98, 134 f., 266, 411 und 449. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 379 <?page no="379"?> A mes chers enfants, Paul, Berthe & Yvonne. Je voudrais, mes chers enfants, vous dire à la première page de ce livre combien j’ai eu de satisfaction à l’écrire, quelle joie j’éprouve à vous le dédier. […] [Le] […] but, c’est votre plaisir et aussi votre instruction. 91 Auf das praxisorientierte, freudvolle Lernen wird auch bei Knörich Wert gelegt: Die Bestimmungen verordnen das Lernen kleiner Gedichte, Kindersprüche, Rätsel, Spielreime. Rätsel 92 nun habe ich in das vorliegende Büchelchen noch nicht aufgenommen, weil Kinder, die in der Muttersprache kaum ein Rätsel raten können, dies noch viel weniger in einer eben zu erlernen begonnenen Sprache vermögen. Einen Spielreim findet man in Nr. 25; ich hoffe, dies genügt, da diese Spielreime fast immer einen recht minderwertigen Inhalt haben. Desto mehr Gewicht glaubte ich auf Kindersprüche und kleine Gedichte legen zu sollen, von denen eine größere Auswahl im Buche sich befindet. 93 Ein intermedialer Vergleich zwischen den zwei Illustrationen von André Gil 94 (Abb. 65a und 65b) ist hierbei sehr aufschlussreich: Zwischen beiden Darstellungen liegen vier Jahre. In Augés Livre de musique (Abb. 65b, S. 383) wird ein kleiner Junge in Dirigentenhaltung mit erhobenen Taktstock in der rechten Hand zur Eröffnung eines Musikstückes gezeigt. Die Partitur mit Violin- und Bass-Schlüssel ist an einen Baum gelehnt. Es handelt sich offensichtlich um eine Chorprobe. Die Chorsänger werden durch zehn Vögel repräsentiert, die auf einem Baum auf unterschiedlich hohen Ästen sitzen. Der vierstimmige Chor in seinen verschiedenen Tonlagen wird durch die Äste dargestellt. Ein elfter Vogel hat rechts neben dem Dirigenten Platz genommen und stellt das Publikum dar. In der Darstellung von Les chants de l’enfance (Abb. 65a, S. 382) sieht man den Jungen nach der Chorprobe. Die Partitur liegt nun auf einem Notenpult. Offensichtlich hat ein Perspektiv-Wechsel stattgefunden. Der Junge steht nun 91 Augé (1899), S. 2 und Abb. 65a, S. 382 in der vorliegenden Arbeit. 92 Rätsel, Geländespiele und das mit Musik verglichene Schachspiel wurden bereits bei Hauchecorne in seinem realienkundlichen Lehrbuch Lectures pour la jeunesse aufgenommen. Vgl. dazu S. 102 f. in der vorliegenden Arbeit. 93 Vgl. Knörich (1902), S. IV. 94 Hinter dem Pseudonym André Gil verbirgt sich der Karikaturist und Chansonnier Louis-Alexandre Gosset de Guines, der vor allem durch die Karikaturen zeitgenössischer Persönlichkeiten wie Napoléon III, Victor Hugo, Bismarck und der damals sehr populären Café Concert -Sängerin Thérésa mit überdimensionalen Köpfen in Satirezeitschriften wie Le Charivari und La Lune bekannt wurde. Vgl. dazu Ursula E. k och / Pierre-Paul s agave , Le Charivari. Die Geschichte einer Pariser Tageszeitung im Kampf um die Republik (1832-1882) . Köln: Leske 1984, S. 398 f. 380 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="380"?> links im Bild und der Baum mit den Vögeln befindet sich rechts. Auf dem Baum sitzen alle elf Vögel. Durch die Magie der Musik ist der musikinteressierte Zuschauer zum Akteur geworden. Der Dirigent reflektiert in einer Art Stunden-Nachbereitung über die Musikstunde. In der rechten Hand hält er noch seinen Taktstock. Links trägt er einen Köcher für ein Spielzeugschwert. Hier korrespondieren Musik und Spiel, Taktstock und Schwert. Diese beiden Abbildungen illustrieren und resümieren Augés préface zu den Chants de l’enfance , die gleichzeitig eine Kritik des zeitgenössischen frontalen, weil lehrer- und lehrbuchzentrierten Unterrichts bildet: La plupart des ouvrages élémentaires semblent être faits bien plutôt pour le professeur que pour l’élève, et l’auteur s’y décharge sur le maître du soin d’expliquer les choses que l’enfant ne comprend pas. Cette méthode, avantageuse et agréable pour l’auteur, n’a malheureusement rien de pédagogique. Elle dénote un médiocre souci de cette règle fondamentale, à savoir qu’un livre d’enseignement doit contenir tout ce que le public auquel il s’adresse peut comprendre, mais rien de plus. 95 95 Augé (1899), Préface, S. 4. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 381 <?page no="381"?> Abb. 65a: Claude a ugé , Les Chants de l’Enfance . Paris: Librairie Larousse. 3. Aufl. 1899, S. 2. 382 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="382"?> Abb. 65b: Claude a ugé , Le livre de musique . Paris: Librairie Larousse. 1. Aufl. 1895, S. 4. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 383 <?page no="383"?> Abb. 66 Claude a ugé , Les chants de l’enfance . Paris: Librairie Larousse. 3. Aufl. 1899, S. 22 f. 384 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="384"?> Augé will nicht nur eine beliebig angeordnete Liedersammlung abdrucken, sondern versucht sein Publikum, also die Schulkinder für die Sprache und die Kultur, zu begeistern. 96 Das wird durch kindgemäße Kurztexte wie Fabeln, Märchen und Gedichte ermöglicht. Hierbei korrespondieren Themenkreise wie Jahreszeiten, Natur und Tiere sowie Moraltugenden und Exempla. 97 Diese Themenkreise werden anhand prototypischer Lieder wieder aufgenommen: Il ne nous suffisait pas d’avoir proportionné notre travail aux facultés de nos lecteurs: il nous fallait encore le présenter sous une forme aussi claire, aussi attrayante que possible et dissimuler ce que les notions les plus simples peuvent avoir d’aridité. C’est aux fables de La Fontaine, aux contes, au répertoire patriotique, etc., que nous avons emprunté de préférence les sujets de nos Chants. Ces sujets sont très variés: ils comportent des canons , des marches , des romances , des rondes , des ballades , des barcarolles , des chansonnettes , la plupart écrites en duos , beaucoup disposées pour être chantées en chœurs . 98 Auf diese Weise wird das bei Knörich als Gedicht abgedruckte 64. La charité bei Augé als Duo mit der Tempobezeichnung Moderato ( Espressivo ) versehen, wobei die mäßig bewegte, ausdrucksvolle Interpretation im Tonstärkegrad piano die Tugend der Barmherzigkeit widerspiegelt (Abb. 66, S. 384). Das Gedicht folgt der Tradition des Exemplums. In der ersten (hier mit Noten versehenen) Strophe wird die Situation dargestellt: Der einsame Arme friert im kalten Winter. In der zweiten Strophe erscheint die Allegorie der Charité und lindert die Schmerzen der ungerechten Welt. Die dritte Strophe entspricht dem Zitat der Charité, die Brot und Wärme bzw. Geborgenheit spendet. Die vierte Strophe ähnelt der Moral des Exemplums und erinnert an eine zur Lebensweisheit gewordenen 96 Claude Augé kann als der erfolgreichste französische Schulbuchautor des beginnenden 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Michel Jeury widmet sein Kapitel 11. Chantez-lenous den französischen didaktisierten Schulliedern, die er nach Themengruppen alphabetisch ordnet wie Arithmétique, Armée, Canons, Clairon etc. Nach meiner Auszählung stammen 19 der 21 Liedbeispiele von Claude Augé und 2 von Félix Comte. Vgl. Michel J eury , La gloire du certif. Les trésors des livres d’école 1850-1950. Paris: Robert Laffont 1997, S. 189-198. 97 Die Darstellung in Themenkreisen wurde auch von Bierbaum und Legrand eingesetzt. Vgl. S. 345, Fußnote 652 in der vorliegenden Arbeit. Auch Knörich folgt diesem Schema, indem er sein Lese- und Lehrbuch in fünf Kapitel unterteilt, die fünf Themenkreisen entsprechen: „I. Zur Einübung der dem Französischen eigentümlichen Laute. II. Das Kind und seine Umgebung. III. Erzählungen. IV. Gedichte. V. Lieder zum Singen.“ (Knörrich 1902, VII f.). 98 Augé (1899), Préface, S. 4. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 385 <?page no="385"?> Parabel „Celui qui sème pour satisfaire sa nature propre récoltera d’elle la ruine, mais celui qui sème pour l'Esprit récoltera de l'Esprit la vie éternelle.“ 99 Als exercice oral werden zur Ergebnissicherung und -festigung Fragen zur Artikulation speziell bezüglich des Legatobogens gestellt, die vorher unter XX. - Liaison anhand von Notenbeispielen erklärt wurden (Abb. 67, S. 387). An den Beispielen 15. La Libellule und 16. La Petite Douillette wird das Legato am Praxisbeispiel angewendet. Im Themenkreis Saisons wird als Kontrast zum Winter in La Charité die Rolle des pauvre im Sommer dargestellt. So beginnt das Lied L’Été mit „Le pauvre l’adore […]“. 100 Nach der Definition eines Canon folgt sofort die Anwendung und Festigung mithilfe des Canon à deux voix „Dinn din don“, bei dem gleichzeitig die Nasalvokale trainiert werden: „Les élèves seront divisés en deux groupes; un des deux commence, et quand il arrivera à la lettre B, le second groupe prendra à la lettre A.“ 101 Darauf folgt die von Jacques Bonhomme als Gedicht adaptierte Fabel von La Fontaine Le Corbeau et le Renard . Eine Illustration unterstreicht den Inhalt. Die Tempobezeichnung Allegro unterstreicht la ruse des renard. Die schleichende Bewegung des Fuchses wird durch zwei Viertelnoten (auf „un“ und „re-“) und eine halbe Note (auf „-nard“) dargestellt. Die rhythmisierte Reaktion des nach dem Käse schnappenden Fuchses erfolgt durch den Wechsel zwischen Viertel- und Achtelnoten: Sur-vint par l’o-deur al-lé-ché . Mit der 4. Strophe haben die Schüler die Moral der Fabel erkannt und ganz nebenbei durch inzidentelles Lernen 102 die Kenntnisse der Musiklehre vertieft. Eine weitere Gemeinsamkeit im Themenkreis Saisons ist, dass alle vier Notenbeispiele in C-Dur und im Zweivierteltakt angegeben sind und als eine Illustration der Definitionen der Rubrik Ton de „Do“ Majeur: XVIII. - Mesure à deux temps 103 fungieren. 99 Galates 6. 8. In: La Bible Louis Segond (2007), S. 1324. 100 Augé (1899), S. 22. 101 Ebd. 102 Vgl. zum inzidentellen Lernen S. 146, Fußnote 489 in der vorliegenden Arbeit. 103 Vgl. Augé (1899), S. 14 f. - In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff Duo definiert und anhand von Notenbeispielen (natürlich in C-Dur! ) dargestellt: „On appelle duo un morceau de musique fait pour être chanté par deux voix ou joué par deux instruments. Les duos contenus dans cet ouvrage peuvent être exécutés par deux groupes de chanteurs ou deux groupes d’instrumentistes.“ In Kursivschrift folgt dann ein Praxistipp des erfahrenen Schulmusikers Augé: „Avant de chanter un duo, il faut bien étudier séparément chaque partie.“ (Ebd., S. 15.). 386 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="386"?> Abb. 67: Claude a ugé , Les chants de l’enfance . Paris: Librairie Larousse. 3. Aufl. 1899, S. 18 f. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 387 <?page no="387"?> III. 1. 6 W. Kahle Wie Wilhelm Knörichs Lehr- und Lesebuch knüpft das Französische Lesebuch für Mittelschulen von Kahle und Rasch 104 an Viëtors Lesebuchmethode an: Es wird von berufener Seite jetzt allgemein anerkannt, dass der Anfangsunterricht in den modernen Sprachen von kleinen zusammenhängenden Lesestücken ausgehen muss. Durch sie ist es möglich, die Schüler sofort in die wirkliche, lebendige Sprache des fremden Volkes einzuführen. 105 Kahle und Raschs Lesebuch nimmt „Bezug auf die Unterrichtsgebiete der Mittelschule und hat folgende Abschnitte: Religion et morale, Histoire, Géographie, Nature, Connaissances usuelles, Contes et narrations, Chants.“ 106 Die zunehmende Bedeutung von Liedern im Französischunterricht wird auch darin deutlich, dass unter VII. Poésies und VIII. Chants zwei Kapitel der (vertonten) Lyrik gewidmet werden. 107 Innerhalb des Kapitels VIII. spiegelt sich die Entwicklung des Liedeinsatzes im Französischunterricht als eine Verschiebung des Schwerpunkts von französischen Kontrafakturen deutscher Volkslieder wider und illustriert damit den schrittweisen (auch quantitativen) Übergang von den Anciens zu den Modernes : Die Rubrik Chants beginnt mit „171. Le bon Camarade. (Mel.: Ich hatt’ einen Kameraden etc. / Amiel (trad. de Uhland).“ 108 Es folgt 172. La dernière rose (Mel.: Letzte Rose etc. / Arrenaud) und 173. Chanson de Thuringe (Mel.: Ach, wie ist’s möglich dann etc.) / Schuré (traduit de l’allemand). Bei diesen drei Kontrafakturen sind nur die französischen Texte ohne Melodie abgedruckt. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die deutschen Originalmelodien den Schülern allgemein als Volkslieder bekannt waren und das Einüben der Melodie geringe Schwierigkeiten verursachte. Die folgenden fünf ausschließlich original französischen Lieder wurden mit Text und Noten abgedruckt. Das stellt eine Hilfe für die Schüler dar, ein unbekanntes, fremdsprachiges Lied vom Blatt zu singen. Die fünf französischen Lieder wurden in einer thematischen Progression von einfacheren Jahreszeitenliedern 174. Le printemps (Mme C. Brunet) und 176. La bergeronnette (André Theuriet) zu Liedern mit landeskundlichem Schwer- 104 Vgl. W. k ahle / H. r asch , Französisches Lesebuch für Mittelschulen mit sachlichen Anmerkungen und einem Wörterbuche. Cöthen: Verlag von Otto Schulze 1897. 105 Ebd., Vorwort, S. III. 106 Ebd., Vorwort, S. IV. 107 Ebd., Inhalts-Verzeichnis, S. X f. 108 Sowohl die Kontrafakturen als auch die deutschen Originalmelodien werden von den Autoren angegeben und verweisen damit auf die Kategorie der Anciens. 388 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="388"?> punkt aufgenommen. Dazu gehören 175. Rossignolet. (Chant béarnais), 109 177. Ma Normandie (F. Bérat) und 178. Le régiment qui passe (Coppée) (Abb. 68, S. 390). An diesem Beispiel 178. verbinden sich lautspielerische Elemente mit Elementen des Arbeitsunterrichts und der kinästhetischen Lieder eines handlungsorientierten Unterrichts wie bei Max Walter. 110 Der Refrain wird als Duo 111 dargestellt. Die Klasse wird dabei in zwei Gruppen geteilt, wobei die Arbeitsanweisungen auf französisch gegeben werden: „Gruppe 1: Imitez les clairons“ und „Gruppe 2: Imitez les tambours.“ 112 109 In Fußnoten geben die Autoren landeskundliche Informationen auf deutsch: „Bearn, eine ehemalige Provinz im südwestlichen Frankreich, bildet den Hauptbestandteil des jetzigen Departements Niederpyrenäen.“ (Ebd., S. 236.). Schrittweise findet hier ein Übergang zu Kulturkunde statt: „Les Modernes veulent utiliser (en accord avec l’épistémologie de la Kulturkunde allemande […] les chansons comme éléments de la culture française.“ Vgl. Rauch (2015), S. 121. 110 Vgl. u. a. S. 335 in der vorliegenden Arbeit. 111 Vgl. dazu Augés Duo 25 . La charité , Abb. 66, S. 384 in der vorliegenden Arbeit. 112 Das Lied wurde auch von Claude Augé unter 93. Le régiment qui passe aufgenommen. Augés (Arbeits-) Anweisung: „Ce morceau peut être chanté en marquant le pas ou en marchant“ erinnert an Max Walters chansons didactiques et kinesthésiques. (Vgl. Augé 1899, S. 61 und S. 335 in der vorliegenden Arbeit.). III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 389 <?page no="389"?> Abb. 68: W. k ahle / H. r asch , Französisches Lesebuch für Mittelschulen mit sachlichen Anmerkungen und einem Wörterbuche. Cöthen: Verlag von Otto Schulze 1897, S. 239. 390 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="390"?> Der Wechsel zwischen dem Tonstärkegrad ff fortissimo im Refrain (gegenüber von forte f in den vier Strophen) und den Tempobezeichnungen Allegro Brillante im Refrain (im Vergleich zu Con fierezza für die Beschreibung der Tugenden des régiment und Grazioso für deren illustrative Erklärung in den vier Strophen) bietet eine (arbeitsteilige) Rollenverteilung zwischen den Schülern als Sänger an. Der akzentuierte Rhythmus und die Variation der Tondauer zwischen Achtel und Sechzehntelnoten entwickelt eine Dynamik, die den Trommelschlag und den Ruf der Signalhörner plastisch erleben lässt. Dies wird auch durch die lautmalerische Wirkung des Ta ta ra ta ta unterstrichen. Das didaktische Potential dieses Beispiels eignet sich (im Rahmen des Arbeitsunterrichts) für eine Aufführung vor der Klasse oder in der Schule. 113 Wie bei 175. Rossignolet (Chant béarnais) wird im vorliegenden Beispiel eine kulturkundliche Information direkt als Fußnote im Liedtext gegeben. So haben die Schüler beim Singen den landeskundlichen Bezug zur Pariser Porte Saint-Martin direkt und parallel, gewissermaßen als Partitur vor Augen. Der Lied- 113 Kahle war Oberlehrer am Landesseminar zu Cöthen. Sein dreiteiliges Werk Französisches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare behandelt in den ersten beiden Teilen I. La France et les Français und II. La littérature kulturkundliche und literarische Stoffe allgemeinen Inhalts, wohingegen der dritte Teil III. Pédagogie historische pädagogische Texte enthält von 1. Rabelais: Lettre de Gargantua à Pantagruel , 2. Montaigne: Du choix d’un précepteur , 27. Rousseau: Robinson Crusoé , 31. Mirabeau: Basedow à Dessau , 49. Jules Ferry: Instruction morale dans les écoles françaises , 50. Bréal: L’importance de la prononciation pour l’enseignement des langues modernes , 58. Paroz: Sur la méthode Jacotot . (Vgl. W. k ahle , Französisches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare mit erklärenden Anmerkungen und biographischen Notizen. In drei Teilen. Cöthen: Otto Schulze 1895.). Im Teil II. Littérature . erscheint unter 106. Le lied des Allemands ein (kulturkundlicher) Text des Elsässer Philosophen und Musikologen Édouard Schuré über das Volkslied der Deutschen. Nach einem Forschungsaufenthalt in Deutschland, bei dem Schuré Material für seine Recherchen über das deutsche Volks- und Kunstlied sammelte und auch Richard Wagner kennenlernte, veröffentlichte er nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1868 seine erste 500-seitige Monographie Histoire du Lied. In der Appendice druckt Schuré sieben Kontrafakturen deutscher Volkslieder mit Noten ab: I. Le batelier (chanson de Styrie: Wie d’Wolken am Himmel.), II. Le départ (Morgen muss ich fort von hier.), III. Dernier Adieu (So viel Stern’ am Himmel stehn), IV. Serment- - Chanson de la Thuringe (Ach wie ist’s möglich denn), V. L’anneau brisé (In einen kühlen Grunde) Poésie d’Eichendorff, musique de Silcher, VI. Quand souffle la brise (Wenn’s Mailüfterl weht) Musique de Kreipl, VII. La Lorelei (Ich weiss nicht, was soll es bedeuten), ballade de Henri Heine, musique de Silcher. (Édouard s churé , Histoire du Lied ou la chanson populaire en Allemagne. Avec une centaine de traductions en vers et sept mélodies. Paris / Bruxelles / Leipzig / Livourne: Librairie internationale et A. Lacroix, Verboeckhoven et C ie 1868, S. 513-529.). Kahle druckt danach zwei Übertragungen ins Französische von Schuré ab mit 107. Chansons populaires de Thuringe und 108. La rose des bruyères (Goethe; traduit par Schuré). Es folgen 109. L’hôte (Uhland; traduit par Marc-Monnier). Die deutsche Originalversion Einkehr / Bei einem Wirte wundermild wird nicht angegeben) und 110. La charge guerrière de Lutzow (Koerner; traduit par Émile Deschamps. Die deutsche Originalversion: Bundeslied vor der Schlacht fehlt auch hier). III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 391 <?page no="391"?> text entspricht damit den klassischen Lektionstexten in kulturkundlichen Lesebüchern. Im Jahr 1905 gibt Kahle zusammen mit dem Rektor der III. Knaben-Mittelschule in Altona Julius Pünjer das zweiteilige Lehrbuch der französischen Sprache für Lehrerbildungsanstalten heraus. 114 Beide Lehrbuchteile sind äquivalent aufgebaut: Partie A besteht aus drei Kapiteln, Partie B umfasst Grammaire und Partie C Vocabulaire. Im I. Teil: Für Präparandenanstalten entsprechen die ersten drei Kapitel der Partie A den ersten drei Präparandenjahren, während im II. Teil: Für Seminare die ersten drei Kapitel den ersten drei Seminarjahren entsprechen. 115 Im I. Teil Für Präparandenanstalten versuchen Kahle und Pünjer (wie Knörich und Augé) dem Verlangen der allmählichen Erweiterung des Wort- und Phrasenschatzes […] gerecht zu werden, indem es von der nächsten Umgebung des Schülers ausgeht und dann immer weitere Kreise zieht. 116 Es werden behandelt: Schule, Haus, Garten, Familie, Pflanzen, Tiere usw. Eingestreut sind eine Anzahl von Gedichten, Liedern, Erzählungen, Fabeln, einige biblische Stücke, viele Sprüchwörter und Rätsel, die zu dem behandelten Sprachstoffe inhaltliche oder formelle Beziehung haben. Die am Schlusse jeder Lektion befindlichen Schulredensarten (A l’école) können gerade zukünftigen Lehrern einen Dienst erweisen. 117 Wie bei Gauchat und Schild wird eine Lernprogression in konzentrischen Kreisen beschrieben, die sich vom Eigenen (der unmittelbaren Lernumgebung der Schüler) 118 auf das Fremde (die französische Kultur und Wesensart) 119 erweitert: 114 Vgl. W. k ahle / Julius P ünJer , Lehrbuch der französischen Sprache für Lehrerbildungsanstalten. Zwei Teile. I. Teil. Für Präparandenanstalten. Berlin und Hannover 1905 (Kahle / Pünjer 1905a) und W. k ahle / Julius P ünJer , Lehrbuch der Französischen Sprache für Lehrerbildungsanstalten. Zwei Teile. II. Teil. Für Seminare. Berlin und Hannover 1905 (Kahle / Pünjer 1905b). 115 Bis ins beginnende 20. Jahrhundert umfasste die Präparandenanstalt die untere Stufe der Volksschullehrerausbildung, die unmittelbar nach Abschluss der Volksbzw. Mittelschule endete. Die (synonymisch gebrauchte) Präparandie bereitete auf den Besuch der Lehrerseminare vor. Vgl. dazu die Dissertation von Annegret B ruhn : Die Präparanden: Lehrerbildung in Schleswig-Holstein 1867 bis 1918 ( Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte , Bd. 59). Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1995. 116 Vgl. die Gliederung des Lernstoffs nach konzentrischen Kreisen bei Gauchat (1896), S. 51, Schild (1904), Vorwort I und S. 230 in der vorliegenden Arbeit. 117 Kahle / Pünjer (1905a), Vorwort, S. III. 118 Ebd. - Die Beschreibung der unmittelbaren Lernumgebung, also des Eigenen, ist Bestandteil des I. Teils für Präparandenanstalten, wohingegen die Erweiterung auf die (den Schülern noch unbekannte) französische Kultur und Wesensart im II. Teil. Für Seminare in einer kulturkundlichen Perspektive dargeboten wird. 119 Kahle / Pünjer (1905b), Vorwort, S. III. - Vgl. zum didaktischen Konzept Vom Eigenen zum Fremden Reinfried (1999a), S. 205. 392 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="392"?> Die hier dargebotenen Anschauungsstoffe bilden eine Fortsetzung derjenigen des I. Teils. Während dieser besonders Beziehung nahm auf die nächste und nähere Umgebung des Lernenden, werden im vorliegenden II. Teile vorzugsweise französische Verhältnisse berücksichtigt. Der Schüler soll bei der Erweiterung seines französischen Wort- und Phrasenschatzes zugleich seine Kenntnis von „Land und Leuten“ vermehren. Es werden ihm daher Darstellungen aus der Geographie, der politischen Geschichte, der Literaturgeschichte, der Pädagogik Frankreichs, ferner einige Aufsätze über die Verfassung der französischen Republik, über die französische Schule, über Sitten und Gebräuche des Volkes geboten. Dazu kommen eine Anzahl von Stücken allgemeinen Inhalts über Religion, Wissenschaft, Handel, Industrie, Sport u. a. - Zur weiteren Belebung dienen die hinzugefügten Gedichte, Dialoge, Sprichwörter, Briefe. 120 Der Liedeinsatz bei Kahle und Pünjer stellt eine weitere entscheidende Etappe in der Debatte zwischen Anciens et Modernes dar: Offensichtlich handelt es sich um eine komplementäre Verteilung des Liedeinsatzes. Für die Präparandenanstalten werden zwei Kontrafakturen deutscher Lieder 121 und drei original französische 120 Kahle / Pünjer (1905b), Vorwort, S. III. Obwohl im Vorwort nicht explizit erwähnt, werden zwei original französische Lieder eingesetzt. 121 Bei den französischen Kontrafakturen deutscher Volkslieder handelt es sich um Le sapin (Abb. 69, S. 396) und Le bon camarade (Abb. 70, S. 397). Le sapin ist Teil des Themenkreises L’arbre und bildet das sinntragende, zentrale Textdokument der Septième leçon . Als Untertitel werden die Grammatikschwerpunkte angegeben: Répétition, Présent de donner, d’avoir, d’être . Im appareil didactique unter der Rubrik Règles folgt eine (deduktive) Grammatikwiederholung mit Verweis auf Partie B Grammaire und verschiedene Grammatikparagraphen. In der Rubrik Exercices wird die Wortschatzarbeit mit grammatischen Strukturübungen verbunden (Abb. 69): „1. Epelez les mots sapin, verdure, l’hiver, guéret, depuis, anniversaire, Noël, attrait. 3. Conjuguez: J’aime l’arbre de Noël etc. […]. 4. Ecrivez tous les substantifs de notre chanson au singulier et au pluriel et ajoutez un adjectif (p. e. Le beau sapin, les beaux sapins; le bon roi etc.) 4. Ecrivez toute la chanson et apprenez-la par cœur! “ - Um den Wortschatz zu memorisieren und verschiedene Lerntypen zu berücksichtigen, wird auf das Abschreiben des Liedtexts sowie das anschließende Auswendiglernen der Lieder ein besonderer Wert gelegt. Wie bei Stier und Bierbaum werden charnières (mit deutscher Kontrollübersetzung im Lehrbuch) gegeben, um nach dem Einsprachigkeitsprinzip die Unterrichtskommunikation auf französisch zu gewährleisten: „A l’école. Chantez l’air! Singt das Lied! Chantez l’air à une voix, à deux voix! Singt das Lied einstimmig, zweistimmig! Ne chantez pas faux! “ (Kahle / Pünjer 1905a, S. 15.). Vor dem Grammatikteil Partie B ist deshalb ein Unterkapitel Récapitulation des locutions eingefügt, das sowohl den Schülern als auch den (angehenden) Lehrern eine Orientierung und Hilfestellung bietet. (Ebd., S. 170-174.). Die methodische Variation des ein-, zweistimmigen und vor allem korrekten Singens setzt eine musikalische Grundausbildung des (Französisch-) Lehrers voraus. Diese Frage wird für Thurau im Methodenstreit eine wichtige Rolle spielen. (Vgl. dazu S. 436-444 in der vorliegenden Arbeit.). Le bon camarade wurde ans Ende der Vingtième leçon als Lückenfüller gesetzt, denn das Thema des Lektionstexts lautet L’agriculteur diligent . Die Autoren versuchen nun, die Thematik der Kameradschaft durch eine Verknüpfungsfrage herzustellen: „L’agriculteur écrit une III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 393 <?page no="393"?> Lieder 122 angeboten. Das Zielpublikum sind jüngere Schüler und Sprachanfänger. Für die Lehrerseminare sind es original französische Gedichte und Lieder. 123 Es handelt sich um das Komplementaritätsprinzip im Gegensatz zum Exklusionsprinzip, das Vertreter der Modernes wie Hübner im Methodenstreit mit Thiergen favorisieren werden. 124 lettre à un ami et lui fait une description de sa manière de vivre.“ Wie bei Le sapin werden Liedtext und Noten abgedruckt, um auch hier ein zweistimmiges Singen als Form des (vertonten) dialogischen Sprechens zu ermöglichen: „Exercices. 1. Lisez et copiez le poème ci-dessus! 2. Apprenez et écrivez le poème par cœur! 3. Chantez le poème en langue française (à une voix et à deux voix)! “ (Vgl. Kahle / Pünjer 1905a, S. 42 f. und Abb. 70, S. 397.). Auch hier tritt eine Lernerprogression auf: zunächst wird einstimmig im Chor gesungen. Danach erfolgt eine (arbeitsteilige) Aufteilung zur Interpretation des Lieds in zwei Stimmen. 122 Als original französische Lieder erscheinen wie in Kahles französischem Lesebuch Rossignolet. Chant béarnais im Themenkreis Les oiseaux der Vingt-septième leçon , Le printemps. Air populaire . In der Frühlingslektion der Trente-septième leçon folgt La marguerite (Jean et Hugues) . Die Quarantième leçon mit dem Titel Deux sous par jour ist den Zahlen gewidmet und so wurde La dernière rose. Mélodie irlandaise ausgewählt. Die Cinquante-sixième leçon. [Lire, écrire, apprendre, instruire] nimmt bereits in den ersten Zeilen des Lektionstexts L’école Bezug auf das Singen als eine der drei Grundkompetenzen, die ein Maître (Schulmeister) vermittelt und erinnert damit an Luthers Schulmeisterzitat: „(Maître.) Nous allons tous les jours à l’école. Notre maître nous instruit; il nous apprend à lire, à écrire et à chanter.“ Kahle / Pünjer (1905a), S. 144. (Vgl. zum Schulmeisterzitat S. 58, 70 und S. 312 f. in der vorliegenden Arbeit.). Folgerichtig schließt sich der (Themen-) Kreis mit Claude Augés Avant la classe (ebd., S. 148). 123 Der II. Teil. Für Lehrerseminare enthält insgesamt zwei original französische Lieder, die für das Erste Seminarjahr ( Chapitre I ) die wie im I. Teil in Themenkreise eingebettet werden. Im Zweiten und Dritten Seminarjahr werden keine Lieder mehr eingesetzt, an diese Stelle treten längere literarische und landeskundliche Texte. Im Chapitre I wird für das Erste Seminarjahr in der Deuxième leçon als (kulturkundlicher) Lektionstext: La France anhand geographischer Details vorgestellt. Eine topographische Karte von Lyon und der Region Rhône-Alpes dient als Illustration des letzten Satzes: „Lyon est la deuxième ville de France par sa population (467 000 habitants), ses attributions administratives, son industrie et commerce.“ (Kahle / Pünjer 1905 b, S. 6.). Nach historischen Kurztexten folgt Bérats Ma Normandie, das auch mehrstimmig abgedruckt ist. Besonderer Wert wird auch hier auf die Dynamik des musikalischen Vortrags (der vom Blatt singenden Schüler) gelegt: Parallel zur wachsenden Hoffnung „Quand tout renaît à l’espérance“ wächst die Tonstärke (crescendo) von anfangs piano zu mezzoforte . Nach dem Höhepunkt der (erstarkten) Hoffnung (die auch mit der höchsten Note f dargestellt wird) erfolgt eine Abnahme der Tonstärke (decrescendo), wodurch die schwindende Kraft des sich zurückziehenden Winters musikalisch erfahrbar wird: „[…] et que l’hiver fuit loin de nous.“ (Vgl. zum Liedtext Kahle / Pünjer 1905b, S. 8 f.). Das zweite original französische Lied La pluie erscheint in der Onzième leçon nach dem Lektionstext Les eaux. Auch hier ist die Melodie abgedruckt. Der Regen wird durch den tänzelnden Sechsachteltakt, die Tonstärkebezeichnung piano , die Tempobezeichnung Andantino, plastisch erlebbar. Die Musik stammt vom französischen Opernkomponisten Samuel Rousseau. 124 Vgl. dazu S. 407, Fußnote 161 in der vorliegenden Arbeit. 394 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="394"?> III. 1. 7 Ludwig E. Rolfs und Bartel Müller Aus einem neusprachlichen Übungskurs des Französischen unter Leitung des Geheimen Regierungsrats Dr. Wilhelm Münch entstand das Projekt des Neuphilologen Ludwig E. Rolfs und des Gesanglehrers Barthel Müller an der Oberrealschule zu Köln, den Liedeinsatz für den Schulgebrauch in die bekannte Schulbuchreihe Französische und englische Schulbibliothek in die Rubrik B: Poesie zu integrieren. So wird der Stellenwert von Liedern im Französischunterricht als vertonte Lyrik betont und gleichzeitig der Einsatz von Liedern als Unterrichtsgegenstand im Curriculum verankert: Der Plan, eine kleine Sammlung französischer Schul- und Volkslieder zum Gebrauche beim Unterrichte herzustellen, ist gelegentlich des neusprachlichen Übungskursus entstanden, der um Neujahr 1896 unter Leitung des Herrn Geheimen Regierungsrates, Provinz-Schulrats Dr. Münch in Köln abgehalten wurde; an seine Verwirklichung konnte anderweitiger dringender Arbeiten wegen erst vor kurzen begonnen werden. Die vorliegende Sammlung enthält 50 Lieder. […]. Von den 50 Liedern sind 26 ein- und 24 zweistimmige; unter ihnen sind 18 deutsche Melodien mit Übersetzungen der dazu gehörigen deutschen Texte oder mit anderen zu den Melodieen passenden französischen Texten: Bei einem Wirte wundermild (No. 26); 125 O Tannebaum (No. 29); Kommt ein Vogerl geflogen (No. 38); Morgenrot (No. 40); Ich hatt’ einen Kameraden (No. 42); Lützows wilde verwegene Jagd (No. 44); Loreley (No. 45), Der Mai ist gekommen (No. 46); Seht, er kommt mit Preis gekrönet (No. 48); 126 Der Gott, der Eisen wachsen ließ (No. 50) und andere. 127 125 Es handelt sich um die französische Kontrafaktur des Gedichts Einkehr von Uhland. 126 Das unter 38. Victoire aufgeführte Lied geht auf Friedrich Heinrich Rankes umgetextete Chorsätze aus Georg Friedrich Händels Oratorien Judas Maccabäus und Joshua zurück. Der evangelische Theologe Ranke unterlegte die Melodie mit Sacharja 9,9 und kreierte so das bekannte Adventslied Tochter Zion, freue dich . Der Schweizer reformierte Pastor und Komponist Edmond-Louis Budry schuf 1885 die französische Kontrafaktur À toi la gloire , die bis heute in den reformierten und evangelischen Gemeinden der Suisse Romande und Frankreichs als Osterlied zu den beliebtesten Chants Évangeliques gehört. Im evangelischen Gesangbuch Arc en ciel erscheint der Osterhymnus als erstes der 30 österlichen Gesänge unter der Nummer. 471. Vgl. Bergèse / Blanzat (1988), S. 418 f. - Vgl. zu den französischen und schweizerischen Ausgaben https: / / oratoiredulouvre.fr/ bulletin/ 772/ le-chant-A-toi-la-gloire. php. 127 Ludwig E. r olFs / Barthel m üller , Chants d’Écoles. Für den Schulgebrauch herausgegeben. Französische und englische Schulbibliothek. Reihe B: Poesie, Bd. 26, Französisch . Leipzig: Rengersche Buchhandlung Gebhardt & Wilisch 1897, S. V f. Einige weitere bekannte deutsche Melodien mit französischen Kontrafakturen sind 10. Bonne nuit . (Guten Abend, gute Nacht) von Johannes Brahms (deutscher Text von Clemens Brentano), 14. Le petit Pierre (Üb immer Treu und Redlichkeit) von Wolfgang Amadeus Mozart (deutscher Text von Ludwig Hölty), 40. Une rouge Aurore (Morgenrot, Morgenrot) von Friedrich Silcher (deutscher Text von Wilhelm Hauff), 43. La flûte enchantée mit Papagenos Vogelsängerarie: Der Vogelsänger bin ich ja aus Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte (Libretto von Emanuel Schikaneder). III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 395 <?page no="395"?> Abb. 69: Le sapin (L’arbre de Noël) In: W. k ahle / Julius P ünJer , Lehrbuch der Französischen Sprache für Lehrerbildungsanstalten. Zwei Teile. I. Teil. Für Präparandenanstalten. Berlin und Hannover 1905 (1905a), S. 14 f. 396 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="396"?> Abb. 70: Le bon camarade. In: W. k ahle / Julius P ünJer , Lehrbuch der Französischen Sprache für Lehrerbildungsanstalten. Zwei Teile. I. Teil. Für Präparandenanstalten. Berlin und Hannover 1905 (1905a), S. 42 f. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 397 <?page no="397"?> Es fällt eine quantitative Verschiebung zugunsten der französischen Originallieder auf. Mehr als die Hälfte sind original französischen Ursprungs. Deshalb wird darauf bereits im Vorwort verwiesen. Erstmals kritisieren die beiden Autoren die inhaltliche Diskrepanz zwischen der deutschen Originalversion und der französischen Kontrafaktur. 128 Zur (allseits bekannten) deutschen Melodie sollte nicht nur die metrische Kongruenz und die quasi-identische rhythmische Wirkung mit dem Ausgangstext berücksichtigt werden, sondern - und hier zeigt sich die methodisch-didaktische Neuerung - die französische Kontrafakturversion muss auch inhaltlich passend und kongruent sein: Irgend einer deutschen Melodie einen beliebigen gesanglich und rhythmisch vielleicht geeigneten, aber sonst ganz unpassenden Text unterzuschieben - (etwa nach „O Strassburg“ singen zu lassen: „Mon âne, mon âne a bien mal aux pieds, ah la pauvre bête, it [sic! ] lui faudra pour sa fête une paire de souliers [! ! ! ]) 129 - dazu konnten wir uns nicht verstehen. 130 In seiner 1898 erschienenen Rezension in der Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur hebt der Oberlehrer am Realgymnasium zu Elbing John Edward Block 131 die methodisch-didaktischen Bedeutung der Chants d’Écoles für den neusprachlichen Unterricht hervor: 128 Ein Beispiel dafür sind die zeitlichen und inhaltlichen Abweichungen bei Delcasso / Gross vom deutschen Originaltext, die den Kontext völlig verändern. Vgl. dazu S. 186, Fußnote 128 in der vorliegenden Arbeit und das Zitat „Ce n’est pas une traduction, c’est une imitation, souvent même assez éloignée.“ (Vgl. Lehmann 1868, S. 307.). 129 Die Hervorhebung durch die drei Ausrufezeichen sind vom Originaltext übernommen. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 130 Rolfs / Müller (1897), S. VI. 131 Block veröffentlichte unter anderem den umfangreichen, 40-seitigen kulturkundlich geprägten Aufsatz Chanson fin de siècle, in dem er die Verwendung von original französischen Liedern im Unterricht in Deutschland anhand eines panorama und état des lieux des zeitgenössischen Liedeinsatzes vorstellt: „Motto: Ce que l’on chante aujourd’hui, / C’est la rue; / Notre muse; c’est le bruit / De la rue; / Tristesse ou gaîté nous vient / Dans la rue; / Le mal coudoyant le bien: / V’là la rue! “ (Xanrof, Chansons à Rire , S. 71.) - Etwa in derselben Epoche meint Block: „Das französische Volk ist viel weniger sangeslustig als das deutsche und namentlich in unserer Zeit ist das alte französische Volkslied mit Ausnahme einiger weniger Lieder recht wenig volkstümlich und auch Bérangers einst so beliebte chansons gelten bei der jüngeren Generation in Frankreich als sentimental und veraltet und werden nur noch künstlich gepflegt in den wöchentlichen Soirées classiques im Théâtre Eden zu Paris; ja es ist Thatsache, dass die Deutschen, welche auf höheren Schulen Deutschlands Französisch betrieben haben, Béranger zum Teil besser kennen, als dessen eigene Landsleute.“ ( John Edward B lock , Chanson fin de siècle. In: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur , Heft 19, 1897, S. 192.). 398 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="398"?> Als besonders hübsch möchte ich das frische Lied Le Réveil (No. 2) 132 bezeichnen, das entzückende Wiegenlied von Brahms Bonne nuit (No. 10), das humoristische Lied Jean de la Lune (Nr. 13), ferner Le Petit Pierre (No. 14) und für die verschiedenen Jahreszeiten passend, Le Printemps (No. 16), Chanson de Printemps (No. 17), 133 Chanson d’Été (No. 18), Chanson d’Automne (No. 19), Chanson d’Hiver (No. 20); einzelne Blumen 134 werden hübsch charakterisiert in Joli Bouquet (No. 22), und recht wirkungsvoll ist Petit Oiseau (No. 23) mit seiner Abwechslung zwischen Chor- und Sologesang, desgleichen Chante, Petit Oiseau (No. 24) durch einen Wechsel des Rhythmus; 135 dann das kurze, einfache, aber stimmungsvolle Liedchen Promenade Matinale (No. 28) sowie die beiden die Heimat feiernden Lieder Chanson du pays (No. 31) und Le Foyer (No. 32), von denen das letztere nach der englischen Melodie Home, sweet home zu singen ist. 136 Recht munter 132 Es handelt sich um eine „Mélodie populaire suisse arrangée pour marche par Claude Augé.“ (Augé 1895, S. 126.). Allein vom Schullied- und Kinderautor Augé stammen 17 Lieder. Er ist damit der mit Abstand am häufigsten aufgenommene Autor der Liedersammlung, was den methodisch-didaktischen Fokus der Chants d’Écoles unterstreicht. Augés Le Réveil eröffnet den Themenkreis École, der chronologisch nach dem Schema eines Schultags aufgebaut ist: Mit der chanson didactique von Max Walter 3. Entrée en classe beginnt der Schulreigen, wobei Augés Lieder mit Walters Entrée de classe in einer Art Topikkette korrespondieren: Walters Lied beginnt mit „À nos places, / Dans les classes! / À l’ouvrage, / Du courage! “ und wird als Parallelismus von Augé in 4. Avant la classe weitergeführt mit „À l’œuvre, amis, et sans relâche! / Que rien n’arrête notre essor! / Accomplissons bien notre tâche: / Sans le travail point de trésor. (Refrain). Im Refrain wird eine Moral in der Tradition des Exemplums aufgenommen. Der Refrain und Titel 5. Dieu soit en aide aux écoliers von Augé lautet: „|: Tâchons d’être tous les premiers! / À l’ouvrage, / Du courage! / Dieu soit en aide aux écoliers! : |“. So knüpft Augés Refrain thematisch und fast wörtlich an Walters Refrain zur 3. Entrée en classe an: „|: Tâchons tous d’être les premiers! / Dieu soit en aide aux écoliers! : |“ Der Überraschungseffekt und die daraus resultierende Freude und Motivation der Schüler über den Wiedererkennungswert durch die intertextuellen Parallelen ist schon beim Betrachten der thematischen Anordnung der Lieder spürbar. Es folgen 6. Après la classe von Augé, 7. Chant de récréation von Godard, 8. La retraite von Collin, 9. Dormez. von Augé, 10. Bonne nuit von Brahms. Der thematische Zyklus wird auch wieder mit einem Lied von Augé abgeschlossen durch 11. Le sommeil de l’enfant . 133 Die Jahreszeitenlieder 17., 18., 19. und 20. stammen von Claude Augé. 134 Hier wird ein neuer Themenkreis von Naturliedern eröffnet: Das Blumenlied 22. Joli bouquet stammt von Augé. Es folgen thematisch die Volksweise 23. Petit oiseau und Augés 24. Chante, petit oiseau. 135 Die Autoren Rolfs und Müller beziehen sich hier auf Augés Le livre de musique , Deuxième partie, Solfège . In: Augé (1895), S. 27-32. 136 Es handelt sich hier um eine Tendenz, vereinzelt französische Kontrafakturen englischer Originallieder einzusetzen, die sich in den Liedersammlungen der Modernes im Rahmen der Kulturkunde etabliert hat, wohingegen prototypische Kontrafakturen wie Le Bon Camarade nicht mehr als französische Kontrafakturen deutscher Volkslieder wahrgenommen, sondern als französische Lieder ohne Verfasser abgedruckt werden. Damit ist der Kulturtransfer des Fremden durch das Eigene im Rahmen der Folientheorie abgeschlossen. Vgl. dazu S. 423, Fußnote 217 in der vorliegenden Arbeit. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 399 <?page no="399"?> klingt Le- Postillon 137 , an welches sich das auch uns bekannte Joyeux message (No. 38) reiht, das nach der Melodie „Kommt ein Vogel geflogen“ zu singen ist; daran schliesst sich Valse Alsacienne (No. 39) und das auch in andere franz. Lehrbücher aufgenommene Ma Normandie (41) von Bérat. Von alten franz. Volksliedern sind aufgenommen Le Roi Dagobert (No. 47) und Malbrough (No. 49). 138 Zum Abschluss seiner Rezension positioniert sich Block im Methodenstreit: Meine Besprechung des Liederbuches würde unvollständig sein, wenn ich nicht noch einige Worte über die Berechtigung des Liedes im neusprachlichen Unterricht hinzufügte, da es ja immer noch viele Kollegen giebt, welche bei dieser „Spielerei und Zeitvergeudung“ 139 bedenklich das Haupt schütteln! Es ist meiner Ansicht nach eine, und zwar keine der geringsten, Errungenschaften unserer Reformmethode, den neusprachlichen Unterricht durch Einführung des Gesanges belebt 140 und aus der Totenstarre erweckt zu haben, in welche er bei der alten grammatischen Methode versunken war. Wie der Schüler die Sprüche, Geschichten, Literatur des fremden Volkes kennen lernen soll, so soll er auch das fremde Land selbst, seine Sitten und Gebräuche kennen, er soll wissen, „wie es denkt, spricht, lebt, weint und lacht, und wie es singt! “ 141 Der Liedeinsatz ermöglicht eine Empathie und mündet schrittweise in eine Identifikation der Schüler mit dem Lerngegenstand, also der fremden Sprache: „Durch das Lied wird der Schüler mit der fremden Sprache vertrauter, er tritt ihr gewissermassen menschlich näher, er beginnt in ihr zu fühlen und zu empfinden.“ 142 Block fasst die Vorteile des Singens im Französischunterricht 137 Le Postillon stammt von Augé und gehört zum Themenkreis Les métiers , der unter 34. mit der gleichnamigen chanson populaire eingeleitet wird. Es folgen einzelne Berufsgruppen wie 35. Le Forgeron von Philidor, 36. Le Moulin von Pugno, 37. Le Postillon von Augé und bildet mit der chanson populaire 38. Joyeux Message, die eine französische Kontrafaktur des deutschen Volkslieds Kommt ein Vogel geflogen darstellt, einen Rahmen und intertextuelle Bezüge der Brieftaube zu Augés Postillon. 138 Vgl. John Edward B lock , Rezension zu „Rolfs, L. E. und Müller, B., Chants d’Écoles. Für den Schulgebrauch herausgegeben. “ In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Heft 20, 1898, S. 279 f. 139 Mit dem Argument der „Spielerei“ wird der Liedeinsatz von Georg Steinmüller kritisiert. (Vgl. dazu S. 373) in der vorliegenden Arbeit.) 140 Block bestätigt hiermit unsere These der neusprachlichen Reformbewegung als musikalischer Reform. Darüber hinaus zeigt sich beim Einsatz französischer Kontrafakturen deutscher Melodien eine Korrelation zwischen den frühen Reformern wie Quiehl, Beyer, Passy, Klinghardt, Kühn und Reum mit den Anciens. 141 Ebd., S. 280. Block zitiert hier den frühen Reformer Franz B eyer , Der neue Sprachunterricht. Ergebnisse der Lehrpraxis nebst Erörterungen und Leitsätzen. Cöthen: Otto Schulze 1893, S. 38. 142 Block (1898), S. 280. 400 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="400"?> zusammen. Er folgt Quiehls approche atomiste und setzt gleichzeitig Prioritäten für die zeitgenössische Unterrichtspraxis, indem er wie Augé die phonetische Unterweisung als solfège , also als Musik-Lehre versteht: Aber auch ein anderer Vorteil erwächst aus der Pflege des Gesanges: das Singen ist ein vorzügliches Mittel zur Schulung der Aussprache, vielleicht ein besseres als alle phonetischen Unterweisungen, Lauttafeln und Transcriptionen. Die reine Aussprache der Mundvokale, die saubere Artikulation der Konsonanten, die schwierige Aussprache der französischen Nasale und besonders die vokalische Bindung (das Unterlassen des Kehlkopfverschlusslautes), welche noch so häufig in deutschen Schulen vernachlässigt wird, während man die Bindung der Konsonanten mit allzu grosser Pedanterie beobachtet; schliesslich auch noch die Aussprache des dumpfen oder stummen e am Schluss der Wörter, welche in so hohem Masse den Rhythmus der französischen Verse bedingt und nur dann richtig verstanden wird, wenn das sogenannte stumme e als ein musikalisches Element des Verses aufgefasst wird - alle diese Schwierigkeiten, deren möglichst vollständige Ueberwindung mit aller Energie im Unterricht gefordert werden muss, werden verhältnismässig leicht durch das Singen gelöst. 143 143 Ebd., S. 280. Block veröffentlichte auch einen umfangreichen Aufsatz zur Aussprache des Französischen in der Zeitschrift für französische Sprache und Literatur . ( John Edward B lock , Zur Aussprache des Französischen . In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Heft 14, 1892, S. 236-265.). Im Unterkapitel D. Das tonlose e (im Wortauslaut) illustriert Block das Aussprachephänomen anhand der ersten Verse der Marseillaise (Abb. 71, S. 402). III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 401 <?page no="401"?> Abb. 71: John Edward B lock , Zur Aussprache des Französischen . In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Heft 14, 1892, S. 247. 402 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="402"?> Das Singen von Liedern ist nach Block ein didaktisch-methodisches Hilfsmittel und Medium für den Französischlehrer und lässt sich in allen Unterrichtsphasen einsetzen, speziell aber zur Übung und Festigung der Aussprache: „Es ist daher eine glückliche Idee von H. Schmidt in Altona, im französischen Unterricht, gleich nach den ersten Lauteinübungen, mit den Schülern ein französisches Lied zu singen und an demselben die Aussprache zu üben und zu befestigen.“ 144 Die Frage nach der musikalischen Vorbildung und Kompetenz des Französischlehrers bejaht Block und vertritt damit den gleichen Standpunkt wie Clasen, 145 wohingegen für Spelthahn 146 wie für Schierbaum 147 eine Zusammenarbeit mit dem Gesanglehrer ausreicht: Freilich ist dazu erforderlich, dass der Lehrer selbst musikalisch gebildet, oder in der glücklichen Lage ist, wie der Verfasser des besprochenen Buches, 148 einen Gesanglehrer in seinem Kollegium zu haben, der für seine Bestrebungen Verständnis und gefälliges Entgegenkommen zeigt. Während sich sonst der Lehrer begnügen mag, mit seinen Schülern wenigstens einige französische Lieder nach bekannten deutschen Melodien zu singen, so kann in Verbindung mit den Gesangstunden der französische Unterricht von Erfolgen gekrönt sein, die einen wirklichen ästhetischen Genuss bereiten, wie z. B. in der Musterschule zu Frankfurt a. M., wo man im Programm der öffentlichen Schulfeier zu Ostern neben deutschen Chören auch französische und englische Chöre 149 findet. 144 Ebd., S. 280. 145 Vgl. S. 312 f., Fußnote 540 in der vorliegenden Arbeit. 146 Für Spelthahn ist es nicht problematisch, dass auch unmusikalische Neuphilologen ihre Schüler französische Lieder singen lassen, da er eine Kooperation mit dem Gesanglehrer favorisiert. Vgl. S. 371 f. in der vorliegenden Arbeit. 147 Vgl. dazu S. 302 in der vorliegenden Arbeit. 148 Block erinnert daran, dass das Projekt der Liedersammlung Chants d’Écoles gewissermaßen aus der erfolgreichen Zusammenarbeit des Neuphilologen Ludwig E. Rolfs mit dem Gesanglehrer Barthel Müller in der Schulpraxis entstanden ist, d. h. sich aus der Kooperation von musikbegeisterten Lehrern für Lehrer speist. 149 Hier spielt Block auf Max Walters Wirken am Reform-Realgymnasium „Musterschule“ in Frankfurt am Main an. Walter beschreibt in seiner Schrift Erziehung der Schüler zur Selbstverwaltung, wie „bei etwaigen Ungehörigkeiten nicht gleich beim Lehrer oder Direktor Beschwerde zu führen [ist], sondern zunächst zu versuchen, mit den Schülern allein fertig zu werden.“ Es handelt sich hierbei um eine Form von LdL avant la lettre , da hierbei Lehr- und Führungskompetenzen auf die Schüler übertragen werden. So beschreibt Walter detailliert die Einteilung unter C. Ordnungspläne: A) Für Schulfeste und Ausflüge (Sedanfest) I. Vorbereitungen, II. Das Fest selbst, III. Der Rückmarsch: „Zum Schlusse kommen die Chorlieder zum Vortrag. Hierbei steht bei schönem Wetter der Chor auf dem Turnplatz, dahinter die übrige Schule, davor das Publikum. […]. Chor: […] Um 7 Uhr 5 Min. geht der Chor durch II 2 auf die Bühne, zuerst Alt, dann Baß, Sopran, Tenor. Es darf kein Wort gesprochen werden. Der Abgang geschieht wiederum bei geschlossenem Vorhang III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 403 <?page no="403"?> Als Credo seiner Rezension zu den Chants d’Écoles bleibt der Schulpraktiker Block zum Liedeinsatz vorsichtig optimistisch und überlässt dem Französischlehrer die Autonomie, die für seine Klasse adäquate Auswahl zu treffen, denn Allerdings ist, wie überall, so auch hier Masshalten geboten, und ich halte es kaum für angänglich, dass die Schüler neben ihrem deutschen Liederbuch auch noch das 50 Lieder enthaltende französische von Rolfs und Müller in Händen halten. Vielmehr betrachte ich diese Sammlung als ein bequemes und schätzbares Hilfsmittel für den Lehrer, um einige passende Lieder auszuwählen und zur Einübung Text und Noten, vielleicht auf hektographischem Wege, zu kopieren. 150 Die oben beschriebene deutlich erkennbare quantitative Verschiebung zugunsten original französischer Melodien erfolgt parallel zur wachsenden Bedeutung der Kulturkunde: „Auch würde ich dann weniger deutsche Lieder im französischem Gewande bevorzugen, als vielmehr echt französische Lieder mit ihrer eigenen Melodie, da erst dann die Schüler den Geist des fremden Volkes richtig erfassen lernen.“ 151 Damit erfolgt ein Pendelschlag in Richtung der Modernes. III. 1. 8 Oscar Thiergen Der Professor am Königlichen Kadettenkorps zu Dresden Oscar Thiergen integriert in seiner Methodik des neuphilologischen Unterrichts 152 unter der Rubrik Der Wortschatz nicht nur lernpsychologische Aspekte zur Wortschatzarbeit mit (vertonter) Lyrik, sondern nimmt einen Gedanken auf, der sich schon im Komplementaritätsprinzip bei Kahle und Pünjer abzeichnet: Hierbei handelt es sich um eine klare Abgrenzung einer Stufenfolge, die wie in einem Stoffverteilungsplan eine Lernerprogression vom Anfängerunterricht zum Fortgeschrittenenunterricht erkennen lässt. in umgekehrter Reihenfolge in die Obertertia. Nach dem letzten Lied wartet der Chor […], bis das Gedränge […] sich gelegt hat, dann erst geht er.” (Max w alter , Erziehung der Schüler zur Selbstverwaltung. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1910, S. 20-22). 150 Block (1898), S. 281. 151 Ebd., S. 281. Auch in der Wortwahl „Geist des fremden Volkes“ kündigt sich die kulturkundliche Bewegung an, wie der Titel des 1927 erschienen Lesebuchs zur Wesenskunde Frankreichs L’Esprit français beweist . (Vgl. dazu Eduard w echssler / Willy g raBert / Franz W. s child , L’Esprit français. Ein Lesebuch zur Wesenskunde Frankreichs. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1927. 152 Vgl. Oscar t hiergen , Methodik des neuphilologischen Unterrichts. 1. Aufl. Leipzig: Verlag von B. G. Teubner 1903. 404 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="404"?> Als letztes Mittel der Erwerbung, vor allem aber zur Festigung des Wortschatzes möchte ich noch das Auswendiglernen von Gedichten und Prosastücken nennen. Welche treffliche Hilfe zur Stärkung des Gedächtnisses das Auswendiglernen ist, wird jeder Schulmann kennen. […] Auch sollte, ganz wie bei den Vokabeln, nie etwas gelernt werden, weder Poesie noch Prosa, das nicht vorher gründlich in der Stunde besprochen worden ist, das dem Inhalte nach nicht schon geistiges Eigentum des Schülers geworden, das also nur in seiner Form, seinem schönen, fremden Gewande zu seinem dauernden Besitztume werden soll. In dem Worte schön aber liegt das Kriterium für die Auswahl der zu lernenden Stücke, für Prosa kommt noch das inhaltlich Fesselnde, sowie das sprachlich Charakteristische hinzu. Auch die Schwierigkeit spielt für die einzelnen Klassen und Altersstufen eine wichtige Rolle, ein zu schweres Gedicht kann auch Fleißige abschrecken und ihnen die Lust am Lernen nehmen. Werden aber die oben genannten Momente richtig beobachtet, die Schönheit der Form, das Fesselnde des Inhalts und die der Klasse entsprechende Schwierigkeit des Stückes, dann wird das Lernen und Aufsagen eines fremdsprachlichen Stückes von großem Nutzen sein; denn man bedenke, es ist eine kleine Tat, ein Gedicht lautrein, formvollendet und dem Inhalte entsprechend vorgetragen zu haben; das fühlt der kleine Mann auch, wenn er aufgerufen wird und zuerst schüchtern zum Lehrerpulte geht, von wo aus, wegen verschiedener Gründe, längere Stücke immer vorgetragen werden sollten. Das sieht man an seinem strahlenden Gesichte, wenn er vom Lobe des Lehrers geleitet zu seinem Platze geht; man sieht es auch, wenn er, verwirrt durch den Anblick der Klasse oder infolge ungenügenden Lernens, unfähig ist, das Stück aufzusagen und beschämt abtreten muß. 153 Am Beispiel der Verwendung von Lyrik als Gedicht und gesungenem Lied stellt Thiergen eine Lernerprogression in einem gestuften Lehr- und Stoffverteilungsplan vor: Als besonders geeignet zum Auswendiglernen und Recitieren (einige auch zum Singen) sind für Quarta beziehentlich Quinta (Anfangsjahr): 154 1. Le bon Camarade (Trad. par Amiel, auch zum Singen), 2. Le retour du Printemps (auch zum Singen) 153 Ebd., S. 99. Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 154 Thiergens Liste ist ein Angebot an Lehrerstudenten und Anfänger im Lehrerberuf und dient als Fundgrube zur autonomen Auswahl passender Gedichte bzw. Lieder in der jeweilig spezifischen Unterrichtssituation: „Diese Liste soll nur ein Fingerzeig für Anfänger sein. In jedem guten Lesebuche ist eine Anzahl Gedichte im Anhange zu finden; es ist Aufgabe des Lehrers, mit dem rechten Geschick daraus Passendes zu finden.“ (Ebd., S. 100.). III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 405 <?page no="405"?> 3. Dieu voit tout (Ratisbonne); für Unter-Tertia: 1. Ma Normandie (auch zum Singen) (Bérat), 2. Le corbeau et le renard (La Fontaine); 3. La grenouille qui veut se faire aussi gros que le bœuf (La Fontaine) 4. La poule aux œufs d’or (La Fontaine), 5. Le chant des matelots (Souvestre); für Ober-Tertia: 1. Adieux de Marie Stuart (Béranger), 2. Les hirondelles (Béranger), 3. Trois jours de Christophe Colomb (Delavigne), 4. La mère du jeune soldat, 5. Le droit d’aînesse, 6. Ceux qui sont morts pour la patrie; für Unter-Sekunda: La grand’mère (Victor Hugo); für Ober-Sekunda: L’un ou l’autre (Coppée), Pour les pauvres (Victor Hugo); für Unter-Prima: Expiation (Victor Hugo); für Ober-Prima: Einige durch besondere Schönheit ausgezeichnete Stellen aus den Werken, welche gelesen werden. 155 Bei Thiergen lassen sich drei Aufteilungs-Tendenzen für den Einsatz von Musik im Französischunterricht ableiten: 1. Für den Anfängerunterricht (Quarta und Anfangsjahr Quinta) werden französische Kontrafakturen deutscher Volkslieder eingesetzt: Als erste Beispiele empfiehlt Thiergen 1. Le bon Camarade (Uhland, traduit par Amiel) und 2. Le retour du printemps (Hier ohne Verweis auf die deutsche Originalfassung Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald). Thiergen legt bei 155 Ebd., S. 100. 406 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="406"?> den Kontrafakturen der beiden bekannten deutschen Volkslieder besonderen Wert auf die artikulatorisch-akustische Komponente: „Nr. 1 und 2 sind nach den bekannten Weisen zu singen; dabei ist zu beachten, daß die sonst stummen Silben, wenn sie nicht vor Vokal stehen, lautend werden.“ 156 Thiergen markiert deshalb die zu singenden Silben kursiv. Mit dem Bezug auf die suprasegmentalen Eigenschaften sowie die artikulatorisch-akustische Komponente steht Thiergen in der Tradition der approche atomiste und den von Quiehl formulierten vier Thesen zum Bon camarade . 157 Zusammenfassend wird folgende Tendenz deutlich: Die „radikalen“ Reformer wie Quiehl und Hasberg nutzen die französischen Kontrafakturen deutscher Volkslieder als Quelle zur Bewusstmachung für die Schüler anhand von Lautübungen und der Herausarbeitung distinktiver phonologischer Merkmale. Als Begründung wird auf die Zeitersparnis und die größere Motivation der Schüler verwiesen. 158 Sie gehören damit zu den Anciens. 2. Im Unterricht der unteren Mittelstufe (Unter-Tertia) wird (wie beim II. Teil. Für Seminare von Pünjer und Kahle) 159 als prototypisches, original französisches Lied Bérarts Ma Normandie angegeben. 160 Die verstärkte Akzentuierung auf landeskundliche Schwerpunkte (wie die französischen Regionen am Beispiel von Ma Normandie ) und die Verwendung authentischer Textsorten als Realien im Französischunterricht (original französische Volkslieder 161 und kindgemäße Kurztexte wie La Fontaines Fabeln) zeigen eine Entwicklung zur Epistemologie der Kulturkunde. Parallel dazu erfolgt damit der (sich im Kontinuum vollziehende) Übergang zu den Modernes. 156 Ebd. 157 Vgl. S. 293-298 in der vorliegenden Arbeit. 158 Vgl. die Begründung in Hasberg (1902), S. 5. 159 Vgl. S. 393-398 in der vorliegenden Arbeit. 160 Vgl. dazu S. 197, Fußnote 155 in der vorliegenden Arbeit. 161 In seiner Didaktik der neueren Sprachen kritisiert der Oberschulrat Walter Hübner, dass Oscar Thiergen französische Kontrafakturen deutscher Melodien wie den prototypischen Bon Camarade verwendet: „Es ist aber abwegig, wenn man, wie O. Thiergen es empfiehlt, für den Anfang Gedichte auswählt, die nach den deutschen Melodien zu singen sind ( J’avais un camarade), weil hier die musikalische Phrasierung deutsch angelegt ist und das Gefühl für die fremde Tonbewegung geradezu ertötet. Wenn Lieder gesungen werden, darf es sich nur um Originaltexte und Originalmelodien handeln, an denen es auch nicht fehlt. (Walter h üBner , Didaktik der neueren Sprachen. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg 1929, S. 78.). Ein Blick auf Thiergens gestuften Lehr- und Stoffverteilungsplan beweist jedoch, dass Hübners Kritik kurzsichtig ist: Ab der unteren Mittelstufe (Unter-Tertia) verwendet Thiergen in seiner Lernprogression mittels original französischer Lieder authentische Texte mit landeskundlichen und literarischen Schwerpunkten. III. 1 Die Vertreter der „ Anciens “ 407 <?page no="407"?> 408 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz 3. In der Unter- und Ober-Sekunda werden historische literarische Werke sowie epische Dichtungen (von Victor Hugo bzw. François Coppé) mit Exkursen über „die Metrik der fremden Sprache, den Reim und über die verschiedenen Dichtungsarten gegeben.“ 162 Diese Tendenz zum Einsatz literarischer Primärtexte verstärkt sich in der Unter- und vor allem der Ober-Prima 163 mit Thiergens Verweis auf „Einige durch besondere Schönheit ausgezeichnete Stellen aus Werken, die gelesen werden.“ 164 162 Thiergen (1903), S. 120. Thiergen stellt exemplarisch an Coppés „L’un et l’autre“ dar, wie er Gedichte behandelt: „Obwohl ich der Übersetzung einzelner Stellen aus den oben angeführten Gründen nicht abhold bin, so pflege ich doch jedes Jahr eine Anzahl Gedichte nach reformerischer Art zu behandeln und bediene mich in Unter- und Oberprima gerne ausschließlich des fremden Idioms.“ (Ebd., S. 120.). Thiergen steht auch im Zentrum des Methodenstreits zwischen Anhängern und Gegnern der neusprachlichen Reformbewegung, was Uhlemanns Wortwahl in seiner Rezension zu Oscar Thiergens Methodik des neusprachlichen Unterrichts klar widerspiegelt: „Endlich soll das Buch nach des Verfassers Intentionen‚ dem jungen Lehrer und dem, der noch nicht in den Oberklassen unterrichtet hat, ein Ratgeber sein’. Wer von diesen geneigt oder genötigt ist, seine Unterrichtsweise mehr oder weniger den Reformideen anzupassen, der wird Rat und Beispiel des Verfassers gewiss vielfach mit Dank hinnehmen. Wer aber solche Bestrebungen etwas skeptischer in Theorie und Praxis gegenüber steht und gegenüber stehen kann, der wird durch das Studium dieser neuesten Methodik des neusprachlichen Unterrichts in seinen Bedenken eher bestärkt als zum Übergang ins andere Lager bewogen werden.“ (Emil u hlemann , Rezension zu „Thiergen, Oscar, Methodik des neusprachlichen Unterrichts .“ In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur , Heft 26, 1904, S. 83.). Meine Hervorhebungen stehen in Fettdruck. 163 Siehe Thiergen (1903), S. 154: „Über die Auswahl des zu lernenden Stoffes läßt sich nur sagen, daß sie sich am besten an die jeweilige Klassenlektüre anschließt. Die schönsten und lehrreichsten, inhaltlich tiefsten Stellen sollen dem Gedächtnisse eingeprägt werden, damit sie gleichsam als Marksteine des Lektüre- und Studienganges in Kopf und Herzen haften, Marksteine, die auch die tosenden Wellen der Lebensschicksale nicht fortspülen können. Bei Dramen lasse ich eine Scene, in guten Klassen einen Akt eines Stückes lernen und zwar mit verteilten Rollen, den Kräften der Schüler entsprechend. Diesen Akt oder diese Scene läßt man dann in der Klasse oder wenn sich die Gelegenheit bietet, bei einer Schüleraufführung vor geladenen Gästen spielen. Es gibt dies den Schülern dauernde Anregung, gewährt ihnen unendlich viel Freude, und ich glaube, daß eine wohlgelungene Theateraufführung auf Schüler und Eltern nachhaltigen Eindruck macht.“ 164 Thiergen (1903), S. 100. - Die Fokussierung auf die Schönheit der Literatur mündet in musikästhetische Betrachtungen im Methodenstreit bei Thurau, Norlind und Weißmann. Vgl. dazu S. 436-444 in der vorliegenden Arbeit. Diese Tendenz zeigt sich auch in Heinz Wichmanns Veröffentlichung in der Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht und seiner Assessorenarbeit Die Musik in der französischen Kulturkunde. Vgl. dazu Wichmann (1930), S. 249-274, Wichmann (1931). <?page no="408"?> III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 409 III. 2 Die Vertreter der „Modernes“ III. 2. 1 Carl Knaut Zwei Jahre nach Erscheinen der für den Schulgebrauch herausgegebenen Schullieder-Sammlung Chants d’Écoles von Rolfs und Müller veröffentlicht der Oberlehrer an der I. Evangelischen Realschule zu Breslau, Carl Knaut, seine Chants pour les Écoles. 165 Sowohl der fast identische Titel als auch die Herausgabe im bekannten Schulbuchverlag Friedrich Andreas Perthes in Gotha zeigen, dass Knaut der Rolfschen Konzeption der Verankerung von Liedern als vertonter Lyrik im Französischunterricht folgt. Interessanterweise erweitert Knaut den Wirkungskreis von Liedern aus der Schulpraxis für die Schule ( Chants d’Écoles ) auf universell einsetzbare prototypische original französische Lieder für alle Schularten und Klassenstufen, wie im Untertitel Chants pour les Écoles angegeben: „Für den Schulgebrauch und als Ergänzung zu jedem Übungsbuche und zu jeder Gedichtsammlung herausgegeben.“ 166 In seinem Vorwort unterstreicht Knaut die kulturkundliche Ausrichtung 167 der Chants pour les Écoles und setzt der „realienkundlichen Konzeption, die von Gustav Wendt 1898 auf dem 8. Neuphilologentag 1898 proklamiert worden […] [und] vor allem auf die Geschichte, die zeitgenössischen politischen Verhältnisse und die Geographie Frankreichs […] bezogen [war],“ 168 anhand von original französischen historischen Liedern auch kulturgeschichtlich bedeutsame Denkmäler hinzu wie 37. La Belle au bois dormant aus Nicolas 165 Vgl. Carl k naut , Chants pour les Écoles. Für den Schulgebrauch und als Ergänzung zu jedem Übungsbuche und zu jeder Gedichtsammlung herausgegeben . (Perthes’ Schulausgaben englischer und französischer Schriftsteller, Nr. 12). Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1899. 166 Ebd., S. I. 167 Vgl. zur Debatte zwischen Realien- und Kulturkunde Reinfried (1992), S. 210-212, und Löwitsch (1902), S. 3. 168 Reinfried (1992), S. 199. <?page no="409"?> Dezèdes opéra comique Blaise et Babet 169 und Jean-Jacques Rousseaus 43. Mon Dieu c’est toi : 170 Für das Eindringen unserer Schüler in das französische Volkstum, worunter wir nicht allein das weite Gebiet der Realien, sondern auch die naiv-poetischen Äußerungen der Volksseele, die ethischen, in seiner volkstümlichen Kunst zutage tretenden Offenbarungen des Nationalcharakters rechnen, ist das Mitsingen und Nachempfinden französischer Volkslieder ein unschätzbares Hilfsmittel. Wenn man auf dem achten Neuphilologentage in Wien eine einseitige Betonung der Realien im neusprachlichen Unterricht empfahl und die den innersten Kern des fremden Volksgeistes oft in einigen Versen heller als ganze Kurse über Volkstum beleuchtende Poesie fast ganz aus dem Lehrplan der oberen Klassen zu verbannen wünschte, so übersieht man dabei, daß alle sogenannten Realien doch nur die äußeren Formen des bildenden Volksgeistes darstellen, und daß die Poesie uns Einblicke in die eigentliche Werkstatt dieses Geistes gewährt, durch die wir die gemeinsamen Grundzüge jedes fremden Volkscharakters leichter verstehen lernen, als durch das Studium des fertigen, in seiner Vielseitigkeit oft verwirrenden Gebäudes seiner äußeren Lebensformen und Gewohnheiten. 171 Knauts Vorwort zu seinen Chants pour les Écoles kann als Leitartikel und in der Praxis erprobtes Manifest der Modernes 172 interpretiert werden, denn im Gegensatz zu den Chants d’Écoles von Rolfs und Müller werden erstmals französische Kontrafakturen deutscher Melodien konsequent abgelehnt: 169 Der französische Opernkomponist Nicolas Dezède schuf die opéra comique Blaise et Babet 1783. Die Melodie zu La Belle au bois dormant stammt aus der romance „Chantons l’hymen“ und gehörte zum Kanon der bekanntesten Schullieder, was die Aufnahme in die Chants populaires pour les Écoles von Bouchor und Tiersot beweist. Vgl. Bouchor / Tiersot (1895), S. 60 und A. V. a rnault / A. J ay / E. J ouy / J. n orvins , Biographie nouvelle des Contemporains, ou Dictionnaire historique et raisonné de tous les hommes qui, depuis la Révolution française, ont acquis de la célébrité par leurs actions, leurs écrits, leurs erreurs ou leurs crimes, soit en France, soit dans les pays étrangers; précédée d’un Tableau par ordre chronologique des époques célèbres et des événemens remarquables, tant en France qu’à l’étranger, depuis 1787 jusqu’à ce jour, et d’une Table alphabétique des Assemblées législatives, à partir de l’Assemblée constituante jusqu’aux dernières Chambres des Pairs et des Députés. Ornée de 300 portraits. Tome Cinquième. COLL - DIC. Paris: Dufour et C ie , Libraires, rue du Paon, N° 1, Ledentu, Libraire, Quai des Augustins, N° 31. 1827, S. 447 f. 170 Vgl. Knaut (1899), S. 52 f. 171 Ebd., Vorwort, S. III. 172 Knaut schreibt dazu in seinem Vorwort: „Die vorliegende Sammlung ist für die ersten Jahre des französischen Unterrichts bestimmt. Eine große Anzahl daraus ist vom Herausgeber selbst mit gutem Erfolg beim Unterricht erprobt worden. Da eine seinen Wünschen entsprechende gedruckte Sammlung nicht zur Verfügung stand, mußte der sich dazu bequemen, das Gedichtchen an die Tafel zu schreiben, um es zu erklären und nachsprechen zu lassen.“ (Ebd., Vorwort, S. V.). 410 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="410"?> Die vorliegende Auswahl französischer, d. h. vom französischen Volksgeiste geschaffener Schullieder und nicht etwa deutscher Melodien mit Übersetzungen deutscher Texte, die doch auch im französischen Gewande immer nur das deutsche Gemüt und das deutsche Volkstum ausstrahlen können, soll auf der untersten Stufe des französischen Unterrichts dies unmittelbare Erfassen der fremden Volksart vorbereiten helfen. 173 Knaut unterstützt das schon bei den Philanthropen favorisierte spielende, freudvolle Lernen, 174 verbunden mit einer von den Wegbereitern der neusprachlichen Reformbewegung geforderten induktiven Wissensvermittlung: 175 Natürlich sollen die Lieder nicht als integrierender Teil des Unterrichts behandelt werden; sie sollen spielend in den Erholungsminuten eingeübt werden, die in der für Lehrer und Schüler bei der induktiven Methode gleich anstrengenden Lehrstunde notwendig sind. 176 Im Gegensatz zu Spelthahn und Rolfs / Müller schließt Knaut explizit auch Kunstlieder mit ursprünglich deutschen Melodien aus und betont damit die bahnbrechende Pionierfunktion seiner Chants pour les Écoles: Die Schwierigkeit einer solchen Liedersammlung erhellt aus der Thatsache, daß die Franzosen Volkslieder in dem uns Deutschen geläufigen Sinne fast nicht besitzen. Das beweisen die in Frankreich gebrauchten Liederbücher (Augé, Marmontel u. a.), in denen man diesen Mangel teils durch zahlreiche direkt übernommene deutsche und englische Melodien, teils durch ein deutsches Anlehnen der französischen Komponisten an den Charakter des germanischen Liedes zu ersetzen bemüht war. Die echt französischen Schullieder haben durchweg einen nüchternen, didaktischen Charakter und eine klare, leichtfaßliche Rhythmik, der sich die Melodie unterordnet. Und gerade darin äußert sich natürlich der Nationalcharakter. Es galt also, aus dem französischen Liedmaterial dies nationale Element auszuwählen und Melodieen von Händel, Mozart, C. M. v. Weber, Kreutzer, Silcher, Brahms, u. a. auszuschließen. Dieser Forderung entsprechen die bisherigen für deutsche Schulen bestimmten französischen Liedersammlungen, in denen wir die Loreley, Lützows wilde Jagd, Brahms’ Wiegenlied (! ) und eine lange Reihe deutscher Volkslieder mit mehr oder weniger treuen Textübertragungen wiederfinden, nicht. Das sonst im Unterricht verpönte Übersetzen aus dem Deutschen in das Französische 173 Ebd., Vorwort S. III f. 174 Vgl. S. 97 f. in der vorliegenden Arbeit. 175 Vgl. zur induktiven Wissensvermittlung Louviers naturgemäßen Anschauungsmethode und S. 176, Fußnote 80 in der vorliegenden Arbeit. 176 Knaut (1899), Vorwort, S. IV. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 411 <?page no="411"?> wird hier zu einer direkten Fälschung der nationalen Quelle, vor der man sich, auch wenn sie einem vermeintlichen Mangel abhelfen soll, hüten muß. Nur dann kann auch die willkommene Erholung, welche das Singen eines französischen Liedes unseren jüngeren Schülern in der Stunde bietet, im Geiste der alles Heimatliche beim Unterricht möglichst ausschließenden induktiven Methode ausgenutzt werden. 177 Wie Hasberg in seinem Werk Französische Lieder mit Singnoten und Wörterbuch setzt Knaut die Deklamation eines durch Gesang eingeübten Liedes ein. Hierbei ergibt sich eine Parallele zwischen beiden Liedersammlungen: Bei Hasberg wird die französische Kontrafaktur des Uhlandschen Guten Kameraden zum Prototyp der Anciens, wohingegen Knaut schon thematisch seine Chants pour les Écoles als Prototyp der Modernes mit der Deklamation des original französischen Lieds Avant la classe von Augé beginnt: 178 Dabei wurde auf das Hervorheben der metrisch mitzählenden stummen Silben, die beim Gesange ja noch mehr hervortreten als in der Deklamation, besonderes Gewicht gelegt. Hatten die Schüler sich den kurzen Text gedächtnismäßig angeeignet, was immer überraschend schnell geschah, so machte die Einübung der einfachen Melodie keine Schwierigkeiten mehr. 179 Für Knaut ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Französischlehrer auch musikalisch und musikbegabt ist. Wie Schierbaum plädiert er dafür, dass musikbegabte Schüler auf der Violine oder dem Klavier einbezogen werden. Wie Mayer, 180 Lange, 181 Schierbaum, 182 Spelthahn 183 und Rolfs / Müller 184 unterstützt Knaut die Kooperation mit dem Gesangslehrer: Sollte der unterrichtende Kollege nicht genügend musikalisch sein, wird sich überall ein Schüler finden, der, sei es auf der Geige, sei es auf dem Klavier, soweit zu- 177 Ebd., S. IV f. 178 Bei Kahle und Pünjer schließt sich der (Themen-) Kreis L’école mit Claude Augés Avant la classe. (Vgl. S. 394, Fußnote 123 in der vorliegenden Arbeit.) Bei Rolfs und Müller ist Augés Lied chronologisch positioniert und eingerahmt von Walters Entrée en classe und Augés Liedern Dieu soit en aide aux écoliers sowie Après la classe . (Vgl. S. 399, Fußnote 132 in der vorliegenden Arbeit.) 179 Knaut (1899), Vorwort S. V. 180 Vgl. S. 171-173 in der vorliegenden Arbeit. 181 Vgl. S. 284 f., Fußnote 455 in der vorliegenden Arbeit. 182 Vgl. S. 301 in der vorliegenden Arbeit. 183 Vgl. S. 362, Fußnote 27 in der vorliegenden Arbeit. 184 Vgl. S. 403, Fußnote 148 in der vorliegenden Arbeit. 412 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="412"?> hause ist, daß er die Melodie mitspielen kann; im Notfalle wird der Gesangslehrer sich wohl bereit finden lassen, die Einübung in der Gesangstunde zu übernehmen. 185 Knaut verweist auf die motivationale Funktion des Liedeinsatzes und - als Tribut an die Anciens - vernachlässigt er auch die Aussprache nicht. Nur folgt Knauts Ausspracheschulung nicht der Quiehlschen approche atomiste, sondern der kontextualisierten und handlungsorientierten Walterschen approche globaliste. Wie Rolfs / Müller, Block und Walter favorisiert auch Knaut die Präsentation von französischen Liedern bei öffentlichen, repräsentativen Anlässen. So wird der Liedeinsatz zum Aushängeschild der Schule: „Daß die französischen Lieder bei Schulfeiern, ferner auch bei Marschübungen in der Turnstunde und auf den Ausflügen eine oft willkommene Abwechslung bieten, braucht wohl kaum erwähnt zu werden.“ 186 Die Liedersammlung folgt der schon seit Comenius bekannten Progression vom Einfachen zum Komplexen: Die Lieder 1. Avant la classe von Augé bis 26. Le Hanneton von Kurz sind den Schülern vertraute, weil bekannte Kinder-, Jahreszeiten-, Natur- und Volkslieder . 187 Ab 27 . Les Quatre vents von Kern und 28. Le Regard de Dieu von Reich werden komplexere historisch-kulturelle, regionale, religiöse und geistesgeschichtliche Zusammenhänge sowie moralisierende und psychologisierende Fragestellungen in den Liedern thematisiert. 188 Außerdem sind die Form (wie die Ballade alsacienne 44. Le nom béni ), die Tonart (bei 44. steht das 185 Knaut (1899), Vorwort, S. V. 186 Ebd., S. VI. 187 Bei Rolfs / Müller stammt die Mehrzahl der Lieder vom Kinderautor Augé, gefolgt von Collin. Bei Knaut ist es umgekehrt. Die Lieder lauten: 1. Avant la classe (Augé), 2. Les Flambeaux de la nuit (Harder), 3. Jean qui pleure et Jean qui rit (Augé), 4. Il fait jour (Collin), 5. Le petit chat (Collin), 6. L’hiver (Seilz), 7. Le sapin (Reich), 8. Le ruisseau (Kern), 9. Dame Fourmi (Collin), 10. Vous feriez pleurer le bon Dieu (Augé), 11. C’est l’été (Collin), 12. La Laitière (Collin), 13. Le petit bateau (Collin), 14. Malbrough (chanson populaire), 15. En commençant la journée (Seitz), 16. Chanson d’été (Augé), 17. Cocorico! (Colin), 18. Vive la rose (Air d’une ronde populaire française), 19. La chaumière (Danhauser), 20. Lorsque tout dort (Herman), 21. La retraite (Collin), 22. Ma Normandie (Bérat), 23. La fin du Juste (Mélodie populaire bretonne), 24. Le printemps (Collin), 25. Mon village (Wekerlin), 26. Le hanneton (Kurz). Eine Ausnahme bilden folgende Kinderlieder, die ältere Weisen enthalten, regional oder historisch gefärbt sind: 31. Dame Hirondelle (Kern), 32. Petit oiseau (Chanson populaire), 33. Les quatre saisons (Musique ancienne), 34. La sortie de l’école (Musique ancienne), 35. Berceuse (Danhauser), 38. Les petites nuages (Collin), 39. Le nid perdu (Dubois), 40. Le petit ruisseau (Collin), 41. Gentil moulin (Mélodie italienne), 42. L’hirondelle. 188 Die Lieder lauten 27. Les Quatre vents (Kern), 28. Le regard de Dieu (Reich), 29. En prison (Ickel), 30. La Chanson de Roland (Mélodie populaire dans le Pays basque), 36. Où l’on trouve de fées (Air populaire, Languedoc), 37. La Belle au bois dormant (Dezède), 43. Mon Dieu c’est Toi (Rousseau), 44. Le nom béni (Ballade alsacienne). III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 413 <?page no="413"?> Lied im relativ kompliziert zu singenden Es-Dur alternierend mit Auflösungszeichen und zweistimmiger Melodie (mit der Hauptstimme im Vordergrund und der korrespondierenden Nebenstimme) und der Rhythmus (37. La Belle au bois dormant und 44. Le nom béni stehen im Sechsachteltakt), was eine große Empathie sowie verstärkte Hilfestellung durch den Lehrer für eine hohe Sensibilisierung der Schüler erfordert. III. 2. 2 Karl Heine In seiner Einführung in die französische Konversation auf Grund der Anschauung 189 setzt der Lehrer der französischen und englischen Sprache an der Knabenmittelschule und Stadttöchterschule in Hannover-Linden Karl Heine als Vertreter der Modernes ausschließlich original französische Lieder ein. Wie schon im Titel deutlich wird, bezieht sich Heine auf Ignaz Lehmanns Anschauungsmethode. 190 Heines Lehrwerk stellt eine konsequente Anwendung der direkten Methode dar, da sie mit einem Schlage mitten in die Sache hineinführt, Lehrer und Schüler in direkte Verbindung ohne Vermittlung der Muttersprache bringt und durch das Hinlenken der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, sei es in natura, sei es im Bilde, eine Lebendigkeit und Frische der Schüler weckt, die keine andere Methode zu geben vermag. 191 Heine geht also weiter als Lehmann durch einen konsequent(er)en Einsatz der direkten Methode, da die direkte Verbindung zur französischen Kultur ausschließlich durch den Einsatz von Realia, also eine Immersion in die Zielkultur nur anhand original französischer Lieder authentisch ist und nicht etwa über den „Umweg“ französischer Kontrafakturen deutscher Melodien wie bei Delcasso / Gross bzw. Lehmann. Otto Wendt resümiert die Vorzüge des Lehrwerks: 189 Vgl. Karl h eine , Einführung in die französische Konversation auf Grund der Anschauung . Ausgabe A. Nach den Bildern von Strübing-Winckelmann. / Introduction à la conversation française à base d’intuition. Édition A. D’après les tableaux de Strübing-Winckelmann. (Heine 1896a). Hannover und Berlin: Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior), 1896 und Karl h eine , Einführung in die französische Konversation auf Grund der Anschauung. Ausgabe B. Nach den Bildertafeln von Ed. Hölzel / Introduction à la conversation française à base d’intuition. Édition B. D’après les tableaux d’Ed. Hoelzel (Heine 1896b). Hannover und Berlin: Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior), 1896. 190 Vgl. S. 179-182 in der vorliegenden Arbeit. 191 Karl h eine , Methodische Winke für die Introduction à la conversation française à base d’intuition (Heine 1896c). Hannover und Berlin: Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior), 1896, S. 4. 414 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="414"?> Mit den in der Klasse vorhandenen realen Gegenständen beginnend, geht die Einführung allmählich zur Betrachtung der Bilder über. Vorzüge des schnell bekannt und beliebt gewordenen Buches sind die sorgsame, nie überfüllte Abgrenzung der Lektionen, die geschickte Einflechtung grammatischer Formen und die sofort französisch gestellten, dabei aber leichten schriftlichen Aufgaben. Auch die eingestreuten Chansons mit Noten und die beigegebenen Bilder; sowie die Rätsel, Sprichwörter und dergl. erhöhen den Wert des äußerlich gut ausgestatteten billigen Buches. 192 Für den Konversationsunterricht folgt Heine einer Progression, die auch für den Einsatz französischer Lieder gilt, dem Grundsatz: vom Nahen zum Entfernten, vom Bekannten zum Unbekannten, vom Einfachen zum Zusammengesetzten […]. Es erweckt die Lernbegierde der Kinder in hohem Maße, wenn sie die in ihrer Nähe befindlichen sichtbaren Gegenstände französisch benennen können; es lassen sich im Anschluß daran auch leicht die Formen und Wendungen einprägen, die für den späteren Anschauungsunterricht im Anschluß an die Bilder die Grundlage bieten müssen […]. Ein wichtiges Mittel, den Sprechunterricht zu beleben und zu vertiefen, bilden auch die eingestreuten kleinen Gedichte, Rätsel und leicht singbaren Lieder. […]. - Auch das Niederschreiben gelernter Gedichte, Sprüche und Lieder ist eine gute Übung für den schriftlichen Ausdruck. 193 Neben der schon bei Lehmanns sechs „Winken zur Beschreibung der direkten Methode“ skizzierten Progression zur Besprechung der Jahreszeitenbilder 194 bietet Heine eine regionale Binnendifferenzierung: 195 Für den nord- 192 Wendt (1909), S. 224. 193 Heine (1896c), S. 8, 10 f. Neben diesen drei Grundsätzen und dem von Marcus Reinfried beschriebenen didaktischen Prinzip Vom Eigenen zum Fremden unterscheidet der Oberlehrer an der Hamburger Oberrealschule Holstentor Max Prieß folgende sechs Prinzipien: „a) Der aufstieg vom einfachen zum zusammengesetzten. b) Der aufstieg vom unbestimmten zum bestimmten. c) Der aufstieg vom konkreten zum abstrakten. d) Der übergang vom bekannten zum unbekannten. e) ‚Nur die fülle führt zur klarheit! ‘ […] Diesen aufstieg von ausgebreiteter erfahrung zum allgemeinen muß die erziehung festhalten, und man trägt diesem gedanken schon in weiten kreisen rechnung. Die verlegung der grammatik ans ende des sprachunterrichts und die praktische vorbildung der ingenieure gehören hierher. f) Die förderung der selbsttätigkeit.“ Max P riess , Die Grundlagen des neusprachlichen Reformunterrichts. In: Die neueren Sprachen , Bd. 20, Heft 1, 1912, S. 3-10. 194 Vgl. u. a. S. 221 und 344-350 in der vorliegenden Arbeit. 195 Heine ist hier Vorläufer der heute in bekannten Schulbuchverlagen üblichen, nach Bundesländern differenzierten Ausgaben, wie beispielsweise der im Klett-Verlag in den 2000er Jahren herausgegebenen série verte , série bleue oder série jaune des Lehrwerks Découvertes. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 415 <?page no="415"?> deutschen Raum wird 1896 die „Édition A. D’après les tableaux de Strübing-Winckelmann“ herausgegeben. Im selben Jahr erscheint die „Édition B. D’après les tableaux de Hoelzel“: 196 Die Strübing-Winckelmannschen Bilder sind mit Rücksicht darauf gewählt, daß sie für die französische Konversation noch nicht bearbeitet sind und in den Schulen speziell Norddeutschlands bis jetzt am weitesten verbreitet sind. Da in den letzten Jahren auch die Hölzelschen Wandbilder vielfache Einführung gefunden haben, so hat sich der Verfasser, auf mehrfachem Wunsch, entschlossen, auch von diesen Bildern eine ähnliche Verarbeitung zu liefern, die unter dem Titel „Ausgabe B“ in demselben Verlage in den nächsten Wochen erscheint. 197 Beide Ausgaben unterscheiden sich nur in der Auswahl der Bilder und der zugehörigen Induktionstexte. In den Ausgaben A und B werden die gleichen Lieder eingesetzt: Im Anschluss an das Strübing-Winckelmannsche Winterbild folgt die Bildertafel La cour de la ferme. Der Wirtschaftshof mit Induktionstext, Bildbeschreibung und dem von Lehmann übernommenen „sechs Winken“. Als Festigung der (Haus-)Tierlexik erscheint als „Exercice écrit: Les élèves énumèrent les noms des personnes et les animaux du tableau.“ 198 Darauf ist das chanson Quand trois poules mit Noten zum Mitsingen und Auswendiglernen abgedruckt. In der Ausgabe mit den Hölzelbildern steht das Lied nach dem Induktionstext 27. La maison du fermier und dem „Exercice écrit: Écrivez ce que font: Le coq, la poule, le garçon, le fermier, la fermière, la servante, le veau, le poulain, les chevaux etc.“ 199 Analog dazu erfolgt in der Édition A nach dem Induktionstext 31. Le cheval. Das Pferd und dem appareil didactique mit Fragen und aides lexicales Max Walters chanson didactique À cheval ( À Paris sur mon cheval gris ), das mit Noten abgedruckt ist. In der Édition B wird der Fokus auf das Hölzelsche Winterbild gelegt, worauf sich auch der Induktionstext 17. Le traîneau de poste. Der Postschlitten bezieht. Nach den Fragen zum Text und der Wortschatzarbeit erfolgt ein „Exercice écrit: Composition: Le traîneau de poste.“ Das Waltersche Lied erscheint wieder mit abgedruckten Noten. 200 Zwei weitere Lieder erscheinen zum Troisième tableau. L’été. Der Sommer. Hierbei findet ein Perspektivwechsel 196 Heine (1896c), S. 5. 197 Heine (1896a), S. VI. 198 Ebd., S. 30. 199 Heine (1896b), S. 40. 200 Durch die unterschiedlichen Induktionstexte in den Ausgaben A und B ergibt sich eine andere Reihenfolge der Lieder: Édition A beginnt mit dem Kinderlied Quand trois poules und schließt mit Max Walters À cheval ab. Édition B beginnt mit der Walterschen chanson didactique und schließt mit Quand trois poules ab. 416 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="416"?> in der Bildbeschreibung zwischen dem Strübing-Winckelmannschen (Abb. 72, S. 418) und dem Hölzelschen Bild statt: Während sich bei der Ausgabe A das Getreidefeld und das Dorf rechts befinden, ist das Getreidefeld in der Ausgabe B links im Bild. In der Ausgabe A wird rechts ein Flachsfeld mit zwei Kindern gezeigt. In der Ausgabe B befinden sich die Kinder rechts im Bild und baden. Beide Ausgaben setzen damit einen unterschiedlichen Schwerpunkt in Bezug auf die Wortschatzvermittlung. Als Festigung des Wortschatzes folgt das beliebte Kinderlied Le meunier qui dort. In der Ausgabe A ist vorher der Induktionstext 37. Le fond du tableau und als Exercices écrits: Description de la prairie et du champ. Description du fond du tableau abgedruckt. In der Ausgabe B wird mit dem Induktionstext 39. Le fond du tableau. Le village auf die spezifische Infrastruktur in einem prototypischen Dorf verwiesen. Als Exercice écrit folgt die Composition: Le village . Der kurze deskriptive Text Les moulins à vent . bereitet mit dem dazugehörigen Wortfeld auf das gemeinsam zu singende und auswendig zu lernende Kinderlied vor (Abb. 73, S. 419). Analog zu dieser Vorgehensweise leitet sowohl in Ausgabe A der Exercice 38 , in Ausgabe B der Exercice 42 zum (identischen) Text L’été über, der mit den Vokabelhilfen als Vorentlastung in ein Sujet de rédaction (Ausgabe A) bzw. eine Composition zum Thema L’été mündet. Diese fungieren als Überleitung zum gemeinsamen Singen (und Memorieren) des Lieds Les vacances als tâche finale . III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 417 <?page no="417"?> Abb. 72: Karl h eine , Einführung in die französische Konversation auf Grund der Anschauung. Ausgabe A. Nach den Bildern von Strübing-Winckelmann (Heine 1896a). Für die Hand der Schüler bearbeitet. Hannover und Berlin: Carl Meyer 1896, S. 42. 418 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="418"?> Abb. 73: Karl h eine , Einführung in die französische Konversation auf Grund der Anschauung. Ausgabe B. Nach den Bildertafeln von Ed. Hölzel / Introduction à la conversation française à base d’intuition. Édition B. D’après les tableaux d’Ed. Hoelzel (Heine 1896b). Hannover und Berlin: Carl Meyer (Gustav Prior), 1896, S. 49 f. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 419 <?page no="419"?> III. 2. 3 Xavier Ducotterd Xavier Ducotterds Lehr- und Lesebuch der Französischen Sprache 201 bezieht sich im Gegensatz zu Karl Heines Lehrwerken nicht auf die Strübing-Winckelmannschen oder Hölzelschen Jahreszeitenbilder, sondern auf die Wilke-Tafeln. 202 Ducotterds für die Mittelstufe und im Rahmen der vermittelnden Methode eingesetztes Lehrbuch unterstreicht die mündlichen Fertigkeiten schon im Zusatz des Titels „mit besonderer Berücksichtigung des freien Gedankenausdruckes“. Im Vorwort weist der Verfasser darauf hin, dass der fakultative Liedeinsatz und das Singen durch die Transkription und Transposition der Lieder in geeigneter Tonlage altersgemäß und deshalb besonders schülerfreundlich adaptiert wurden: In der vorliegenden zweiten Auflage der „Mittelstufe“ ist der Anfang gemacht worden mit der Durchführung einer Reihe von zum Teil tief eingreifenden Änderungen. […] Um mehrfach laut gewordenen Wünschen nach Vereinfachung des etwas reichlich bemessenen und zum Teil schwierigen Lehrstoffes zu entsprechen, sind in der neuen Auflage neben textlichen Änderungen nicht unbeträchtliche Kürzungen vorgenommen worden; letztere bezogen sich in erster Linie auf Gegenstände, die der Altersstufe der Kinder nicht mehr entsprachen […]. Sollte trotzdem der vorliegende Stoff hin und wieder noch zu umfangreich sein, so wird bei knapp bemessener Zeit eine geeignete Auswahl zu treffen sein. Um auch in dieser Hinsicht den Kollegen und Kolleginnen entgegenzukommen, sind die Stellen, die im Notfalle ohne Störung des Lehrgangs ausgelassen werden können, mit einem † kenntlich gemacht worden. Es soll aber dem Lehrer keineswegs genommen sein, nach eigenem Ermessen und unter Berücksichtigung der für seinen Unterricht maßgebenden Verhältnisse eine von der gegebenen abweichende Auswahl zu treffen. Von sonstigen Änderungen wären außer der Übertragung eines Liedes in eine geeignetere Tonlage noch zu nennen die Ausscheidung der im Vocabulaire enthaltenen Erklärungen. 203 Das Lehr- und Lesebuch beginnt mit dem Wilkeschen Dorfbild: Quatrième tableau. Le village. (Un village de la Normandie). Im (fakultativen und mit einem † versehenen) Titel: Leçon 18 wird wie bei Lehmanns Bienenlied das original französische Volkslied Ma Normandie in die Handlung des Textes A. La dernière soirée à Val-de-Vire als landeskundliches Element der Realia integriert. Auf 201 Xavier d ucotterd , Lehr- und Lesebuch der Französischen Sprache mit besonderer Berücksichtigung des freien Gedankenausdruckes. Mittelstufe mit zwei Bildern und einer Karte. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Carl Jügel 1906. 202 Vgl. dazu S. 181, Fußnote 106 in der vorliegenden Arbeit. 203 Ebd., Vorwort. 420 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="420"?> diese Weise werden Schüler durch ein inklusives nous in die Handlung einbezogen 204 : Le maire nous fit un brillant tableau des industries et du commerce du pays. Le curé et l’instituteur nous charmèrent par leurs récits historiques ayant trait aux Normands. Les jeunes gars qui étaient là ne voulurent pas rester en arrière: ils chantèrent l’hymne de la Normandie avec tant de feu et d’enthousiasme, que nous en fûmes profondément émus. Vous cette célèbre chanson, que nous allons apprendre aussi: Ma Normandie […]. 205 Darauf folgen die drei Strophen 206 des bekannten Volkslieds. Im Abschnitt B. erscheinen Récapitulations , Teil C umfasst eine Conversation über den Text A. La dernière soirée à Val-de-Vire mit Répétition de la conjugaison, particulièrement de celle du Subjonctif. Als fakultativ mit einem † wird eine Dictée angeboten und IV. ist eine Herübersetzung ( Thème ) ins Französische zur Festigung. 207 Im Anhang werden die vier im Lehrgang durch den Erzählstrang integrierten Lieder, die sich auf die jeweiligen Wilke-Bilder beziehen mit Melodie aufgeführt. So können die Lieder von den Schülern auch gesungen werden. Die Anordnung und Besprechung der Lieder folgt der Darstellung der Wilke-Bilder: Wie Heine und im Gegensatz zu Lehmann setzt Ducotterd in Verbindung mit den Bildertafeln original französische Melodien ein, die sich auch an der jeweiligen Region oder einem Beruf orientieren 1. Ma Normandie , 2. Le Petit Pierre , 208 3. Roulez, Tambours , 209 4. Ronde de métiers. 210 Das Lied wurde schon als Gedicht mit insgesamt 11 Strophen unter Choix de poésies 211 abgedruckt. 204 Die Philanthropen und Hauchecorne nutzten schon diese Technik. 205 Ebd., S. 32-34. 206 Es handelt sich also um die Originalversion der drei Strophen, ohne die Zusatzstrophe von Hasberg. Vgl. zur Schenks Kritik an Hasberg S. 197, Fußnote 155 in der vorliegenden Arbeit. 207 Vgl. zur Herübersetzung als Merkmal der vermittelnden Methode S. 351, Fußnote 3 in der vorliegenden Arbeit, und Reinfried (1992), S. 140, Anmerkung 186. 208 Bei Le Petit Pierre erfolgt kein Verweis auf die Mozartsche Originalmelodie und den deutschen Text von Hölty Üb immer Treu und Redlichkeit. Es wird hier als original französisches Lied wahrgenommen. Damit ist der Kulturtransfer vom Eigenen zum Fremden abgeschlossen. 209 Der Text von Roulez, tambours wird im Abschnitt Choix de poésies abgedruckt mit der Information Marche suisse. Es werden also auch Lieder aus der Francophonie eingesetzt. 210 Im Kontext des Themas Les devoirs du soldat, le courage et la discipline folgt das fakultative Gedicht: Tu seras soldat . 211 Ebd., S. 74 f. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 421 <?page no="421"?> III. 2. 4 Karl Irmer Als weiterer Vertreter der Modernes unterstreicht der ordentliche Lehrer an der Städtischen Höheren Mädchenschule und am Lehrerinnen-Seminar Bochum Karl Irmer in seinem Vorwort zur Sammlung französischer und englischer Schullieder für den Schulgebrauch die kulturkundliche Grundlage seines Liedersammlung: […] wenn (wie gegenwärtig wohl von allen Sprachmethodikern anerkannt wird) das gesungene Lied schon von ganz bedeutendem Werte für die Ausbildung der Sprechwerkzeuge und für die Erzeugung reiner Klangbildungen ist, so ist es doch auch vorzüglich geeignet, fremdes Volkswesen zu interpretieren. Spricht doch die Volksseele wohl nirgends so unmittelbar zu uns wie im Volksliede. 212 Für den Einsatz von französischen Kontrafakturen deutscher Melodien verwendet Irmer die ausdrucksstarke Metapher einer Legierung, also das „durch Zusammenschmelzen mehrerer Metalle entstandene[s] Mischmetall“ 213 , während er die original französischen (und englischen) Volkslieder mit dem echten, in der Natur metallisch gediegenen reinen Element Gold adelt: „Daher ist auch eine deutsche Melodie mit untergelegtem französischen oder englischen Text, selbst wenn dieser sich inhaltlich der ersteren anzupassen suchte, immer nur eine Legierung und kein echtes Gold.“ 214 Irmers Liedersammlung wird in zeitgenössischen Rezensionen lobend erwähnt: Die Sammlung (40 französische, 28 englische Lieder) kann empfohlen werden. Wer sich für den Gegenstand interessiert, persönlich oder als Lehrer, findet hier jedenfalls eine Reihe ansprechender Texte und Melodien, aus denen er wählen mag. Der Herausgeber ist ein Gegner der fremdsprachlichen Texte zu deutscher Melodie, wie man sie in einigen Lehrbüchern findet. In Anbetracht dessen, was uns in dieser Beziehung schön zu finden zugemutet wird, kann man auf seine Seite treten. 215 212 Irmer (1909), Vorwort, S. III. 213 Günther d rosdowski (Hrsg.), Duden, Bd.-7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich: Duden-Verlag 1989, S. 411. 214 Irmer (1909), Vorwort, S. III. 215 Wilhelm r icken , Rezension zu „Irmer, Karl, Sammlung französischer und englischer Volkslieder für den Schulgebrauch“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Heft 36, 1912, S. 296 f. Ricken nimmt allerdings im zweiten Teil seiner Rezension einen vermittelnden Standpunkt ein und toleriert auch französische Kontrafakturen deutscher Melodien: „Aber man braucht das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Wenn man erwägt, daß die gesangliche Verwendung von Gedichten in der fremden Sprache viel weniger Schwierigkeiten begegnet, wenn die Melodien den Schülern schon bekannt sind, wird man doch weiter versuchen 422 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="422"?> Neben dem landeskundlichen Aspekt kann Irmers Liedersammlung auch im Sinne von Julius Ziehen als vertontes Monument der literaturbezogenen Kulturkunde 216 angesehen werden: Ich habe mich daher bemüht, nur solche Lieder aufzunehmen, welche tatsächlich im Munde der beiden Völker leben, und in denen sich das Volksleben wiederspiegelt 217 [sic, A. R.]. Hauptaugenmerk ist darum auch darauf gerichtet, möglichst typische Gesänge zu bringen, Lieder, die für ihre Nation, evtl. für ihre engere dürfen, deutsche Weisen fremdsprachlichen Texten besser, als es bisher geschehen, anzupassen, das heißt so, daß ein künstlerisch gebildetes Ohr, auch das Ohr eines französischen oder englischen Künstlers, von dem Vortrage sich befriedigt fühlen könnte.“ (Ebd., S. 297.). Ein Grund für Rickens Toleranz, ja Affinität zu den Anciens ist, dass er in seinen eigenen Lehrbüchern auch vereinzelt französische Kontrafakturen deutscher Volkslieder einsetzt. (Vgl. dazu auch S. 374-377 in der vorliegenden Arbeit.). 216 Vgl. Julius z iehen , Über die Verbindung der sprachlichen mit der sachlichen Belehrung. Betrachtungen zur Methodik des fremdsprachlichen Unterrichts . Leipzig und Frankfurt am Main: Kesselringsche Hofbuchhandlung (E. v. Mayer) 1902, S. 20-48, und Reinfried (1992), S. 211. 217 Diese Spiegelmetapher bezieht sich auf die der Kulturkunde zugrundeliegenden Folientheorie: „L’enseignement du caractère national ( Kultur- und Wesenskunde ), comme nouveau paradigme se fondant sur l’analyse de la littérature, de la peinture et de la langue, était caractérisé par la comparaison entre la culture de départ allemande et la culture cible française“ (Reinfried 1999a: 209-213). „La culture de départ servait de miroir, de ‚transparent‘ ( Folie ), pour améliorer la perception de la culture étrangère et vice versa ( Folientheorie ). La comparaison culturelle avait surtout pour but de mettre en valeur la culture des élèves. L’une des conséquences évidentes fut le renforcement de l’enseignement littéraire et celui de la culture musicale. La métaphore du miroir fut utilisée dans le titre d’un manuel très répandu: Miroir de la France et des Français. Kulturkundliches Lesebuch. […]. Titre prometteur qui évoque déjà le sujet et son contenu comme programme. Les auteurs, le Français Joseph Vernay et l’Allemand Walter Montag, reflètent aussi la comparaison culturelle et l’interdisciplinarité car le manuel établit des parallèles avec d’autres matières et sert ainsi l’objectif culturel global de la classe. Il s’agit d’un panorama à travers des siècles. À la fin de chaque unité sont ajoutées des chansons thématiques sur des sujets de civilisation.“ (Rauch 2015, S. 124 f.). Folgende Gedanken aus dem Vorwort von Vernay / Montag ergänzen und illustrieren Irmers Zitat: „Den schönsten Ausdruck findet der Geist eines Volkes in der Kunst. Daher geben wir euch einige Volkslieder und volkstümliche Lieder mit Musik zum Singen und Spielen. Besonders aber findet ihr zahlreiche Wiedergaben von Kunstwerken der größten Baumeister, Bildner und Maler Frankreichs. Es sind keine Bilder, die zu Lesestücken entworfen worden sind; solches haben große Künstler nur selten getan. Vielmehr gehen sie neben den Texten her und sollen zeigen, wie sich eine Kulturerscheinung oder bedeutsame Epoche, von der ihr lest, in der gleichzeitigen Kunst wiederspiegelt [sic, A. R.]. Sucht ihr so in das Geistesleben des französischen Volkes einzudringen und es mit dem deutschen zu vergleichen, so werdet ihr das fremde achten lernen und dabei zu einem tieferen Verständnis und einer größeren Liebe eures eigenen Volkstums gelangen.“ ( Joseph v ernay / Walter m ontag , III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 423 <?page no="423"?> Heimat (z. B. Normandie, Bretagne, Schottland) charakteristisch sind. Mit dieser Auswahl glaube ich zugleich dem Unterrichte in der Literatur einen kleinen Dienst zu erweisen; denn häufig finden populäre, patriotische und historische Lieder bei den Schriftstellern Erwähnung, und mancher Dichter, der in der Schule behandelt wird, ist Liederdichter […]. 218 Wie Viëtor, Beyer, Passy, Trautmann und Rambeau 219 verweist Irmer auf die Funktion des fremdsprachlichen Gesangs als methodisch-didaktisches Medium und die Affinität zwischen Wortklang, Sprachmelodie und Ausspracheübungen. Auch die Motivation durch den Gesang im Fremdsprachenunterricht und das sich daraus ergebende freudvolle Lernen werden hervorgehoben: In Übereinstimmung mit den führenden Sprachmethodikern halte ich ferner dafür, daß der fremdsprachliche Gesang, besonders auf der Unterstufe, als Hülfsmittel zur Erziehung reiner Klangbildungen nicht zeitraubend, sondern zeitgewinnend wirkt, weil er die phonetischen Übungen ganz wesentlich unterstützt, weil er den Unterricht auch vorteilhaft belebt und im Schüler die Freude am fremdsprachlichen Unterricht erhöht. 220 Wie Thiergen entwirft auch Irmer eine altersspezifische Lernerprogression bezüglich der Klassenstufen: 221 Was die Anordnung dieser Lieder anbetrifft, so hat mich hierbei vor allem das Bestreben geleitet, den verschiedenen Altersstufen Material zu bieten, das inhaltlich und sprachlich ihrem Fassungsvermögen entspricht. Im französischen Teile sind die Lieder No. 1 bis 19 für die Unterstufe, 222 Miroir de la France et des Français. Kulturkundliches Lesebuch. Paderborn: Schöningh 1926, S. VIII.). 218 Irmer (1909), Vorwort, S. III f. 219 Vgl. S. 268-277 in der vorliegenden Arbeit. 220 Irmer (1909), Vorwort, S. IV. 221 Vgl. Thiergen (1903), S. 100. 222 Für den Bereich der Unterstufe werden einfachere Kinder-, Wiegen- und Volkslieder eingesetzt, teilweise mit historischem und regionalgeschichtlichem Bezug. Irmer gibt dazu auch die regionale Verbreitung und den Popularitätsgrad an. Alle Lieder sind zweistimmig notiert und können im (Schul-) Chor gesungen werden. Anhand eines Asterisken (*) gibt der Herausgeber phonetische, linguistische und kulturgeschichtliche Kommentare sowie Informationen. Bei den chansons kinesthésiques (in der Tradition von Max Walter) werden unter dem Hinweis Annotation neben dem Asterisken auch Regieanweisungen gegeben. Das Wörterverzeichnis im Anhang ermöglicht eine Vorentlastung der unbekannten Lexik und gleichzeitig eine möglichst einsprachig-französische Unterrichtskommunikation anhand der angegebenen Redemittel. Das historische Lied 14. La Casquette de Bugeaud ( signal de cor militaire ) wird auch durch eine kulturgeschichtliche 424 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="424"?> No. 20 bis 30 für die Mittelstufe, 223 No. 31 bis 40 für die Oberstufe 224 bestimmt. 222 225 Eine Weiterentwicklung bezüglich der Liedersammlungen von Rolfs / Müller und Knaut ist das alphabetische französische (und englische) Wörter- Erklärung mit einem Asterisk kontextualisiert (Abb. 74, S. 427). Das zweistimmig notierte Lied mit dem Trompetensignal bietet sich für eine Klassenbzw. Schulaufführung an. 223 Für die Mittelstufe wird der regionalgeschichtliche, dialektale und regiolektale Bereich in den Volks- und Kinderliedern unterstrichen. Irmer gibt dazu unter der Rubrik Quellen an: „Soweit die Lieder nicht unmittelbar aus dem Volksmunde aufgenommen sind, habe ich folgende Werke benutzt: Champfleury-Weckerlin, Chansons populaires des Provinces de la France. (Paris 1860), Bujeaud, Chants et Chansons populaires des Provinces de l’Ouest. (Paris 1866), Tiersot, Histoire de la chanson populaire en France (Paris 1889), Tiersot, Chansons populaires, recueillies dans les Alpes, Buchon, Noëls et Chants populaires de la Franche-Comté, Rolland, Rimes et Jeux de l’Enfant […]. Die Lieder No. 26, 29, 30, 33, 35, 36 sind dem in Frankreich allbekannten Werke Bouchor-Tiersot, Chants pour les Écoles (Paris, Hachette) entnommen.“ (Irmer 1909, S. II.). 224 Auch in der Oberstufe werden regionale Volkslieder eingesetzt. Es dominiert hier jedoch die historische Perspektive, in der das kulturgeschichtliche Lied als monument culturel angesehen wird und - gewissermaßen als madeleine de Proust - eine Erinnerungskultur im Sinne von Noras Lieux de mémoire beim Leser (und Sänger) kreiert. Deshalb beginnt der Themenkreis der Oberstufe auch mit 31. Les Souvenirs d’Enfance (Bérat), das in piano und Es-Dur notiert ist und eine (leise, leichte) wehmütige Erinnerung an den (Proustschen) temps perdu evoziert, gefolgt von 32. Le Pauvre Laboureur (Savoie), 33. Chanson Provençale (mélodie populaire provençale), 34. Plantons la Vigne (provinces de l’ouest de France), 35. Chanson de Labour (mélodie populaire française), 36. La Fête au Village (Pâques, Chant d’un ancien noël français), 37. La Marseillaise , 38. Matin (mélodie populaire française), 39. Le Troubadour (Romance française), 40. Malbrough (mélodie populaire). Dieses Lied wird zum prototypischen Lied der kulturkundlichen Bewegung. Ewers und Henry geben eine detaillierte Darstellung der Ursprünge der Melodie und ordnen diese in den kulturgeschichtlichen Kontext ein (Abb. 75, S. 428), was die Veröffentlichungen in der zeitgenössischen (und heutigen) Sekundärliteratur beweisen: Vgl. u. a. Walther k üchler , Malbrough s’en va-t-en guerre. In: Neusprachliche Studien. Festausgabe für Karl Luick zu seinem 60. Geburtstag. ( Die neueren Sprachen , Beiheft 6). Marburg: Diesterweg 1925, S. 242-251; A. k oPP , Der Gassenhauer auf Marlborough. In: Euphorion 6, 1899, S. 276-289; Elizabeth m arriage , Marlbruck. In: The Modern Language Quarterly 3, 1900, S. 128-131; dies., Volkslieder aus der Badischen Pfalz . Halle: Salzwasser Verlag 1902, S. 25-27; John m eier , Kunstlieder im Volksmunde . Halle: Niemeyer 1906, S. 34 f.; Max F riedländer , Das Lied von Marlborough. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Jg. 6, Heft 6, 1923/ 1924, 28 S.; Karl P FeiFFer , Die Verwendung von Volksliedern im französischen Unterricht. In: Die neueren Sprachen, 38, Heft 5, 1930, S. 398-410; Rolf Wilhelm B rednich , Eine frühe schweizerische Fassung des Marlborough-Liedes. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde ( Archives suisses des traditions populaires ) , Bd. 60, Heft 1-2, 1964, S. 73-84; Wolfgang B rückner , „Marlborough“ als Spottlied auf Bilderbogen: ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte und zur Deutung des brauchtümlichen Hintergrundes. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde (Archives suisses des traditions populaires) , Bd. 60, Heft 3-4, 1964, S. 141-163. 225 Irmer (1909), Vorwort, S. IV. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 425 <?page no="425"?> verzeichnis im Anhang 226 mit einer vorangestellten Liste der französischen (grammatischen) Abkürzungen. 227 Diese Liste zeigt, dass bei Irmer neben der Vermittlung phonetischer, landeskundlicher und kulturhistorischer Informationen erstmals auch eine Grammatiksensibilisierung anhand von Lieder(texte)n erfolgt. 226 Schierbaum (1913), S. 445 f. hebt diesen Aspekt bei Irmer in seinem Aufsatz über den Gesang im fremdsprachlichen Unterricht lobend hervor. 227 Als Abkürzungen werden angegeben: f. = féminin, m. = masculin, pl. = pluriel, pron. = pronom, v. = verbe, adj. = adjectif, adv. = adverbe, impér. = impératif, p. p. = participé passé, p. pr. = participe présent, pr. d. S. = présent du Subjonctif, pr. = présent, fut. = futur. 426 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="426"?> Abb. 74: Karl i rmer , Sammlung französischer und englischer Volkslieder für den Schulgebrauch. Marburg: Elwer’sche Verlagsbuchhandlung 1909, S. 11. III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 427 <?page no="427"?> Abb. 75: Hanns Heinz e wers / Marc h enry , Joli Tambour. Das französische Volkslied . Berlin: Verlag bei Wilhelm Borngräber, 1912, S. 89 f. 428 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="428"?> III. 2. 5 Ferdinand Simon und Julius Stockhaus Die Sammlung von Simon und Stockhaus 228 Französische und englische Volkslieder für den Schulgebrauch knüpft nicht nur dank des fast identischen Titels an Karl Irmers Liedersammlung an, sondern übernimmt auch die altersspezifische Lernerprogression der Klassenstufen. Die Autoren gliedern den Teil I. Französische Volkslieder in zwei Stufen: Stufe I. Kinderlieder, 229 Stufe II. A. Vaterlandslieder, 230 B. Heimatlieder, 231 C. Naturlieder, 232 D. Lieder vermischten Inhalts. 233 Symmetrisch dazu ist der Teil II. Englische 228 Vgl. Ferdinand s imon / Julius s tockhaus , Französische und englische Volkslieder für den Schulgebrauch . Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1912. 229 Im Folgenden übernehme ich die (im amerikanischen Englisch verbreitete, aber im Französischen unübliche majusculisation aller Wörter im Titel. Wie bei Irmer wird der Popularitätsgrad, aber nicht die regionale Verbreitung angegeben. Historische und kulturgeschichtliche Hintergrundinformationen werden wie bei Irmer mit Asterisken (*) angegeben. Die Lieder lauten 1. Savez-Vous Planter Des Choux? (Ronde, chanson populaire), 2. Le Pont D’Avignon (Ronde, chanson très populaire), 3. Le Meunier Qui Dort (chanson populaire), 4. Il Était une Bergère (chanson populaire), 5. Marche Des Écoliers (Collin), 6. La Bonne Aventure, O Gué! (chanson populaire), 7a. Cocorico! (Collin), 7b. Cocorico! (Collin) (kontrapunktische Bearbeitung), 8. A La Volette! (chanson populaire), 9. Le Petit Mousse (chanson fort populaire), 10. Le Roi Dagobert (chanson populaire), 11. La Casquette De Bugeaud (signal de cor militaire) (chanson populaire), 12. Au Clair De La Lune ( Jean-Baptiste Lully), 13. Le Mois de Mai (chanson populaire), 14. Fais Dodo! (berceuse) (chanson populaire), 15. L’Harmonie (canon à 2 voix) (M. Laurent de Rillé), 16. Frère Jacques (canon à 4 vois) (chanson populaire), 17. Le Bourdon Et La Clochette (canon à 4 voix) (M. Laurent de Rillé). 230 Die Lieder lauten 18. Le Troubadour (Ancienne romance française) (souvent), 19. Le Clairon (mélodie: Emile André), (paroles: Paul Déroulède), 20. La Retraite Des Clairons (sonnerie d’ordonnance), 21. La Marseillaise (paroles et mélodie de Joseph Rouget de Lisle (1792). 1760-1836. - Mit den präzisen historischen Angaben zur Entstehung der Marseillaise und den Lebensdaten des Komponisten wird die kulturkundliche Komponente unterstrichen. 231 Hierbei werden wie bei Irmer sowohl der Popularitätsgrad als auch die regionale bzw. internationale Verbreitung angegeben. Die Lieder lauten 22. Les Souvenirs D’Enfance (paroles et mélodie de Frédéric Bérat.1801-1855), 23. Ma Normandie (paroles et mélodie de Frédéric Bérat. 1801-1855), 24. Le Montagnard Émigré (chanson populaire) (François René de Chateaubriand. 1768-1848), 25. Soleil De La Provence (chanson populaire provençale), 26. La Brigantine (Air italien), 27. Les Montagnards (paroles et mélodie de Alfred Roland). 232 Wie bei B: Heimatlieder werden auch bei C: Naturlieder der Popularitätsgrad und die regionale Verbreitung angegeben. Die Lieder lauten: 28. Le Printemps Découvert (Air populaire) (Dénéréaz), 29. Le Printemps (chanson populaire), 30. Le Retour Du Printemps (chanson populaire), 31. Chanson De Mai (mélodie populaire alsacienne) (Maurice Bouchor, né 1850), 32. La Fleur (mélodie: Laurent de Rillé) (paroles: Charles-Hubert Millevoye. 1782- 1816), 33. Les Petits Nuages (Célèbre trichordium de Jean-Jacques Rousseau. 1712-1778), 34. L’Orage (Paroles et mélodie de Fabre d’Églantine, né à Carcassonne en 1750, mort sur l’échafaud avec les dantonistes en 1794). 233 Die Lieder lauten: 35. Le Sommeil De L’Enfant (mélodie: Claude Augé) (paroles: A. Carteret), 36. Dors, Mon Gars! (berceuse), (paroles et mélodie de Th. Botrel), 37 a. Do, Do! (berceuse), (mélodie: A. Dannhauser, Paris), (paroles: Arrenaud), 37 b. Do, Do! (kontrapunkti- III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 429 <?page no="429"?> Volkslieder aufgebaut. Bereits aus diesem zweistufigen Aufbau lässt sich die Intention der beiden Autoren ableiten, das kulturgeschichtliche Gut des Volkslieds zu pflegen und in allen Altersstufen, also nicht ausschließlich im Anfangsunterricht zur Lautbildung und Ausspracheschulung oder zur Motivation als Lückenfüller einzusetzen: Der fremdsprachliche Unterricht der Gegenwart schenkt mit vollem Recht dem Liede steigende Beachtung. Gibt es doch für Lehrer und Schüler keinen zuverlässigeren Prüfstein einer reinen Lautbildung als den Gesangston. Dazu kommt der belebende Einfluß des Liedes auf den Unterricht und die hohe Bedeutung desselben als Dolmetsch fremden Volksempfindens. Aus diesen Gründen rechtfertigt sich die Pflege des Liedes auf allen Stufen des fremdsprachlichen Unterrichts. 234 Als Vertreter der Modernes kritisieren die Autoren die Verwendung französischer Kontrafakturen deutscher Melodien in zeitgenössischen Lehrwerken und leiten daraus ihr Plädoyer für den Einsatz von original französischen Liedern ab, da nur diese das kulturelle Eigenleben und die Weltsicht im Rahmen der Kultur- und Wesenskunde widerspiegeln: Viele Lehrbücher der französischen und englischen Sprache tragen aber dieser Forderung entweder gar nicht oder nur in beschränktem Maße Rechnung. Oft findet man unter den wenigen Liedern auch noch solche, die nach der textlichen oder musikalischen Seite gar nicht heimatberechtigt sind. 235 Die vorliegende Sammlung - eine Frucht wiederholter Streifzüge durch Frankreich und England sowie des Studiums der einschlägigen Quellen - vertritt den Standpunkt, daß nur das echte, im Volke lebende Lied ein Recht auf Pflege im fremdsprachlichen Unterricht hat, weil es allein geeignet ist, in den Geist und die Gefühlswelt des fremden Volkes einzuführen. 236 Wie bei Irmer werden die Melodien abgedruckt für einen zweistimmigen, hier manchmal sogar dreistimmigen Chorgesang für die Unterrichtspraxis in der Französischstunde oder auf Schulfeiern: Die Harmonisierung sucht in zweibzw. dreistimmigem Tonsatz der Eigenart der einzelnen Gesänge gerecht zu werden. Selbstverständlich kann der Vortrag sche Bearbeitung), 38. Malbrough (1709, mélodie ancienne, probablement introduite par les croisés sous Godefroi de Bouillon; berceuse préférée par la reine Marie Antoinette et le Dauphin), 40. La Garde Passe (morceau extrait de „Les Deux Avares“, opéra comique de André Ernest Modeste Grétry, 1741-1813. 234 Ebd., Vorwort, S. III. 235 Ebd. 236 Ebd. 430 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="430"?> auch einstimmig, und zwar mit oder ohne Klavierbegleitung erfolgen. Die in einzelnen Fällen zur Auswahl gestellte, kontrapunktisch reichere Bearbeitung wurde in der Numerierung durch ein beigefügtes b angedeutet. 237 Eine Neuerung in Bezug zu Irmer ist das nach dem kurzen Vorwort angefügte Alphabetische Verzeichnis der Liedertexte, das wieder nach A. Französisch und B. Englisch gegliedert ist. Diese Anordnung ist benutzer- und lernerfreundlich. Wie Irmer bieten Simon und Stockhaus im Anhang unter A. ein Französisches Wörterverzeichnis an, das nach den Stufen I und II gegliedert ist und neben der Funktion der Wortschatzhilfe zusätzlich die den Liedern spezifischen idiomatischen Redewendungen hervorhebt. Somit fungiert diese Liedersammlung auch als Lernwortschatz avant la lettre , der anhand des Liedeinsatzes gefestigt wird. Unter B erfolgt symmetrisch zu A das Englische Wörterverzeichnis . Heinrich Schierbaum lobt und favorisiert die Liedersammlung von Simon und Stockhaus im Vergleich zu den Liedersammlungen von Irmer und Knaut: Text und melodie habe ich mit den anderen sammlungen genau verglichen und bin dabei zu dem resultat gekommen, daß die Simon-Stockhaussche auswahl die beste ist, sowohl was inhalt, stoffliche anordnung, musikalische seite wie auch äußere ausstattung angeht. 238 III. 2. 6 Hanns Heinz Ewers und Marc Henry Die bereits erwähnte kulturkundliche Liedersammlung Joli Tambour , 239 die in Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Schriftsteller, Kabarettist sowie Filmemacher Hanns Heinz Ewers 240 und dem französischen Chansonnier, Ka- 237 Ebd., Vorwort, S. IV. - Vgl. 7a. Cocorico! und die kontrapunktisch reichere Bearbeitung 7b sowie äquivalent dazu 37a. Do, Do! und 37b. 238 Schierbaum (1913), S. 445. 239 Die vorliegende Erstausgabe wurde als (kulturkundliches) Sammlerstück im Wilhelm Borngräber Verlag Neues Leben Berlin in 100 Exemplaren „auf Rex Bütten abgezogen und ganz in Leder gebunden.” (Ewers / Henry 1912, S. 4.). 240 Hanns Heinz Ewers war ein äußerst vielseitiger Schriftsteller und gilt in den 1910er und 1920er Jahren als der „gelesenste aller deutschen Autoren“. (Vgl. Wilfried k ugel , Der Unverantwortliche . Das Leben des Hanns Heinz Ewers . Düsseldorf: Grupello Verlag 1992, S. 244.). Als auflagenstärkster und meistübersetzter Verfasser würde er heute als Bestseller-Autor charakterisiert werden. (Zur literarischen Rezeption vgl. Thomas w örtche , Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink . Meitingen: Corian-Verlag Heinrich Wimmer, 1987, S. 63-184.) III. 2 Die Vertreter der „ Modernes “ 431 <?page no="431"?> barettist und Opernlibrettisten Marc Henry 241 entstand, stellt einen (vorläufigen) Höhepunkt in der Entwicklung der Modernes dar. Als Vertreter der literaturbezogenen Kulturkunde 242 haben die beiden Autoren die diachrone Entwicklung des französischen Volkslieds nach dem Vorbild der an der Romantik orientierten dreibändigen Sammlung von Volksliedtexten Des Knaben Wunderhorn 243 zusammengestellt. Der Fokus auf die historische Perspektive und die diachrone Evolution des Liedeinsatzes wird besonders eindrucksvoll mit dem von den Autoren vorangestellten Motto und Zitat 244 des Begründers der französischen Romantik François-René de Chateaubriand unterstrichen: „Les hommes chantent d’abord; ils écrivent ensuite.“ 245 In ihrer bilderreichen dédicace Zum Geleit verwenden Ewers und Henry die in kulturkundlichen Lehrbüchern häufig zur Charakterisierung der Folientheorie 246 gebrauchte Spiegelmetapher: „Tout finit par des chansons“, sagt Brid’oison, der lustige Richter, in Beaumarchais’ „Figaros Hochzeit“; er hätte hinzufügen können: „tout commence aussi par des chansons“. Wie der Rhythmus das Ursprünglichste ist, das bis an die letzten Quellen menschlicher Entwicklung zurückführt, so ist das Lied der natürliche Spiegel, der eines Volkes Psyche uns im Bilde zeigt, besser als es irgendein Kulturhistoriker kann. Denn die Wissenschaft gibt Gründe und zieht Schlüsse, stellt Hypothesen auf, folgert und deduziert, während der Volksdichter ein Unwissender ist, der nur die momentane Stimmung aufnimmt und in Worte faßt - ein Vorgang, der dem Gelehrten gewiß herzlich gleichgültig ist, dem Künstler und Dichter aber 241 Der Chansonnier und Kabarettist Marc Henry ging nach dem Ende des Pariser „Chat Noir“ nach München und wurde Mitbegründer des Kabaretts der „Elf Scharfrichter“. Mit seiner Frau Marya Delvard, welcher das Joli Tambour gewidmet ist, interpretierte er auf seinen zahlreichen Tourneen Balladen, Volkslieder und Eigenkompositionen aus mehreren Jahrhunderten, wobei er sich selbst auf der Laute in klassisch-historischer Kleidung begleitete. Er wird damit zur Personifizierung der Kultur- und Wesenskunde. (Vgl. dazu die historische Abbildung des bayerischen Barockmalers und Rembrandtschülers Christopher Paudiß, Lautenschläger. In: Ewers / Henry (1912), S. 2, Abb. 76, S. 438 und Wilhelm n eeF , Das Chanson. Eine Monographie . Leipzig: Koehler & Amelung 1972, S. 192.). 242 Vgl. dazu auch S. 244, Fußnote 339. 243 Achim von a rnim / Clemens B rentano (Hrsg.), Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder . 3 Bände. Heidelberg: Mohr und Zimmer 1806 -1808. 244 Das Zitat von Chateaubriand wurde der vorliegenden Arbeit als Motto vorangestellt, da es in nucleo einige Kernaussagen zum Thema Musikeinsatz im Französischunterricht. Eine historische Darstellung bis 1914 antizipiert und resümiert. 245 François-René de c hateauBriand , Œuvres complètes, Tome premier (Œuvres historiques). Études ou discours historiques sur la chute de l’Empire romain, la naissance et les progrès du Christianisme, et l’invasion des Barbares. Préface. Paris: Chez Firmin Didot Frères, Libraires, Imprimeurs de l’Institut de France 1839, S. 3. 246 Vgl. dazu S. 423, Fußnote 217 in der vorliegenden Arbeit. 432 III Eine nouvelle Querelle des Anciens et des Modernes beim Liedeinsatz <?page no="432"?> ebenso gewiß sehr viel reizender und künstlerisch wertvoller erscheint. So gibt der Historiker und Kulturhistoriker das wirkliche Leben, das Volkslied aber gibt uns das, was Peter Altenberg so hübsch die „Märchen des Lebens“ nennt. Und wollen wir auch die exakte Forschung beileibe nicht vermissen, so wollen wir doch auf der andern Seite diese „Märchen“ noch weniger entbehren. Das ist der Grund, weshalb jedem künstlerisch empfindenden Deutschen „Des Knaben Wunderhorn“ ein so unentbehrlicher Freund ist, weshalb diese treffliche Sammlung immer von neuem durch die Generationen hindurch auf Musiker, Dichter und Maler anregend und befruchtend wirkt. 247 Die Liedersammlung von Ewers und Henry stellt nach dem Vorbild des dreibändigen Werkes von Arnim und Brentano eine (kulturkundlich geprägte) Anthologie der Vielfalt des französischen Volkslieds dar. Im Gegensatz zu den oben besprochenen Liedersammlungen enthält Le Joli Tambour die französischen Liedertexte, kulturhistorische Informationen und Versübersetzungen ins Deutsche, 248 jedoch wird die Melodie nicht abgedruckt: 249 Ce recueil constitue en effet une véritable anthologie de la chanson et de la poésie folkloriques en France du Moyen Age à la fin du XIX e siècle. Il contient outre des chansons populaires, des chansons enfantines, des chants religieux, patriotiques, révolutionnaires, et jusqu’à La Marseillaise et L’Internationale. 250 Die Sammlung nimmt auch einige zeitgenössische Lieder von Marc Henry auf. Ein Großteil der Lieder wurde von Marya Delvard sowie Marc Henry auf ihren Kabarett-Abenden vorgetragen und mit einem Asterisken* gekennzeichnet. Die „mit zwei ** bezeichneten haben sie außerdem als Musikstücke mit Begleitung zur Laute und zum Klavier im Verlage von Friedrich Hofmeister erscheinen lassen,“ 251 da in der Liedersammlung keine Melodien angegeben sind. 247 Ewers / Henry (1912), S. 9. 248 Die deutschen Nachdichtungen und Kommentare stammen von den acht deutschen Dichtern Richard Dehmel, Ludwig Fulda, Peter Altenberg, Heinrich Lautensack, Sigmar Mehring, Albert Langen, Herbert Eulenberg und Hanns Heinz Ewers selbst. 249 Vgl. zur Darstellung des Liedes Malbrough s’en va-t-en guerre Abb. 75, S. 428 in der vorliegenden Arbeit. 250 Daniel Briolet, Guillaume Apollinaire et Hanns Heinz Ewers. In: Michel d écaudin (Hrsg.), Amis européens d’Apollinaire. Actes du seizi