Transzendierende Immanenz
Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda
0120
2020
978-3-8233-9340-5
978-3-8233-8340-6
Gunter Narr Verlag
Manfred Bös
Aus kritischer Lektüre zentraler Werke der philosophischen Anthropologie und auf der Grundlage einer Ontologie des Lebendigen entwickelt diese Arbeit eine allgemeine Ontologie der Kunst. Sie destilliert aus dem Begriff des Lebendigen die Bedingungen der Möglichkeit der Lockerung der Fesseln des Seins durch Sprache und Kultur, die Möglichkeit transzendierenden Tuns des Menschen in der Immanenz des Daseins und exemplifiziert dies an der poetologischen Denkfigur des impulso rítmico des spanischen Dichters Antonio Gamoneda. Sie bestimmt den Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls der werdenden Form in der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in dichterischer Sprache und behauptet in ihren Textanalysen die epistemologische Qualität und ontologische Dignität der dichterischen Rede Antonio Gamonedas.
<?page no="0"?> Transzendierende Immanenz Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda Manfred Bös <?page no="1"?> Transzendierende Immanenz <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 14 · 2019 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Manfred Bös Transzendierende Immanenz Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Dissertation wurde 2019 unter dem Titel „Transzendierende Immanenz - Die Ontologie der Kunst und das Konzept des ‚Logos poietikos‘ bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda“ von der Philosophischen Fakultät der LMU München angenommen. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8340-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9340-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0201-8 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für Rachel, Antonio u. M a Ángeles, Amelia u. Fernando In tiefer Dankbarkeit Bernhard Teuber, Horst Weich und Christoph Schmidt <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Autoren der philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Das lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Eine Vorausschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST . . . . . . . . 25 Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Das Prinzip der Körperausschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Das Reich des Schönen und die Selbstwerdung des Menschen . . . . . . 31 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die Biologie, eine neue philosophische Modellwissenschaft . . . . . . . . . 34 Der Gefühlsdrang und die Leiter des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Ausdruck, Empfindung, Wirklichkeit und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . 38 Instinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Der Mensch ist weltoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Der Künstler und der Metaphysiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Die Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kunst und Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Der Mensch oder die ontologische Leerstelle auf der philosophischen Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Die Ästhesiologie des Geistes und der Sinn der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die Versinnlichung des Geistes und die Vergeistigung der Sinne . . . . 62 Der Leib und die Gegenwart von Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Bewegung, der seelische Untergrund als Basis des Sinns oder die Verschränkung von Sprache und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Der Modus des Hörens als Verbindung von Geist und Leib . . . . . . . . . 83 Die Gegenständlichkeit der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis Der Mensch und sein Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Unter den seienden Dingen, das Lebendige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Das Reich des Lebendigen und die Lockerung des Seins . . . . . . . . . . . . 93 Der Begriff der Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Das lebendige Ding und die Lockerung der Fesseln des Seins . . . . . . . 98 Ausdrücklichkeit, Eigenbewegung und Dinglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die Ortlosigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Doppelaspektivität der menschlichen Innenwelt: erlebnisbedingend wie erlebnisbedingt und die Möglichkeit von Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Sphäre des Geistes und die Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Vermittelte Unmittelbarkeit oder die Immanenzsituation des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 In der Sprache wird das Ausdrücklichkeitsverhältnis des Menschen ausdrücklich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Erklärung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Der Mensch, das natürliche Kulturwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Der Mensch, das stellungnehmende Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Die Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Kultur als des Menschen eigene Daseinsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Wahrnehmung, Bewegung, Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Das Führungsfeld , elementar schöpferisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die fünf Sprachwurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Der Kreisprozess, das Leben des Lautes und der Rhythmus, Energeia des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Ausdruck , eine rein menschliche Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Das Schwungrad des Gedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Phantasie, das eigentliche Sozialorgan des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 138 Beweglichkeit und Stellungnahme, die große Vernunft des Leibes . 141 Die Institutionen aus dem Geiste des Rituals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 Modell einer Ontologie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die platonische Abspiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ausdruck und Nachahmung, ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die ontologische Rechnung des homo faber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kunst, die andere Seite der vitalen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Der logostransparente Körperleib und die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Kunst, des Menschen überlebenswichtiges Pharmakon . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Die Autorität und ontologische Dignität des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Vom Ursprung der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Kunst und Eindringlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Bild, Tanz, Wort und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Das Ritual, Ursprungsort des menschlichen Ausdrucksverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Expressivität in Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Das lautsteinerne Werkzeug Wort (Paul Alsberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Sprache und Anspruch der Deitas (Max Scheler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Bedingung der Möglichkeit von Sprache beim Menschen (Scheler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Der Mensch, ein Wirbeltier mit innerer Zeitgestalt, ein Spezialist für rhythmische Abläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Wir hören mit dem ganzen Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Sprache: Ausdruck von Ausdrücklichkeit (Helmuth Plessner) . . . . . . 171 Sprache, ein Medium zwischen Konstruktion und Proportion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Logostransparenz und akustomotorische Basis des Körperleibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die Stimme entspricht dem Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Der Rhythmus, die Bewegung des Wortes in seiner Temporalität und die Versammlung des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Metrum und Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Der Körperleib, das Ermöglichungsgefüge rhythmischer wie metrischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Rhythmos , Ordnung in der Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die ontologische Fessel des Altgriechischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Das genaueste Maß, das einzige Maß: das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Das rechte Maß in der möglichst besten Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 <?page no="10"?> 10 Inhaltsverzeichnis Weisen des Eins-seins. Metrum und Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Vom Problem des Rhythmus (Hönigswald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Rhythmus als Einheit von Bewegung und Beharrung . . . . . . . . . . . . . 189 Dem Rhythmus kommt ein sinnbezogener Äußerungswert zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Das rhythmische Geschehen in actu behauptet die Gegenwart des Sinnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Die ontologische Verankerung des Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die Bewegung ist die Bedingung der Möglichkeit für die Versammlung des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Der Rhythmus, ein Phänomen zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Bewegte Bewegung, Bewegung zweiter Ordnung ist ein Phänomen der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Der Sprachton , das Aufmerken und die Versammlung des Sinnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Der Rhythmus und die Idee der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Bewegte Bewegung, eine in sich geborgene Figur . . . . . . . . . . . . . . 205 Handlung, Ausdruck und Sprache, Erscheinungsweisen der Zeitgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Der Gymnast, der Heilige und der Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Quelle des Gedankens oder die Schwere des Seins . . . . . . . . . . 209 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Die Bewegung und die Freiheit des rhythmischen Denkens . . . . . . . . . . . 211 Die Sprache, Amalgam und Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Lesen, ein physisches Erlebnis und die eigene Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 216 Die physisch vermittelte Musikalität der Sprache und die Atmung als Ausdruck der inneren Bewegtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Bedeutung und Genuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Dichterische Realität: el símbolo poético . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Der Tod, die Erinnerung und die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik oder: Das dichterische Denken ist ein Denken, das singt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Das Musikalische, das Charakteristisch-Allgemeine vor dem Vielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Das orphische Idiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Der Akzent, das innere Leben des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Dichtung, Enthusiasmus ohne Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis 11 Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form . . . . . . . . . . . . 235 Cuestión de instrumento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Después de veinte años . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Blues de la escalera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Rhythmus: Werdende Form in der Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Caigo sobre una silla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Die Zeile als dramatische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Lebendig werdende Form und individuelle Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Die Verzukunftung der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Die Zeile auf dem Weg zur Formwerdung des Gedankens . . . . . . . . . . 248 Sartre oder die dunkle Seite des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Mallarmé oder der Heimgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Lezama Lima oder die emanación íntima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Juan Larrea und die abseitige Seite des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Das Haben von Wirklichkeit und der impulso musical . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Von der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols, Träger der selbsteigenen Realität der nichtfiktionalen Dichtung Antonio Gamonedas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Sehen und Sagen und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 ¿Signos? (Lectura parcial de José María Navascués) . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Zeichen und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Textbeispiele und Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Oigo al ciego ruiseñor - Das Licht, ein Evidenzsymbol . . . . . . . . . . . . . . 276 Caigo sobre unas manos - las manos , Symbol der bergenden Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Mamá: ahora eres silenciosa como la ropa … - Symbol der Verschweigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Sucedían cuerdas de prisoneros - Die Orange, Symbol der Milde und des Verschwindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Eran días atravesados por los símbolos - Symbol des beschädigten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Veo el caballo agonizante - Symbol autistischer Menschennatur . . . . 281 Esta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte - Symbol: Lebenskörper Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Das signum Gamonedae (II - IV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Die expressive Plastik: Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 <?page no="12"?> 12 Inhaltsverzeichnis Die Trompete des Kleanthes oder die Selbsteigenheit der dichterischen Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 El óxido se posó en mi lengua … aus Descripción de la mentira . . . . . . 293 Veo el caballo agonizante … aus Lápidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Descripción de la mentira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Bestimmung und Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Der Dichter als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Die Einheit der Sinne und der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Das orphische Idiom und die Hermetik Antonio Gamonedas . . . . . . 316 Lápidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die Inszenierung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Leseverhalten und die Struktur des Sehfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Erinnerungstopologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Menschenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Satzaussage und Sageweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Erinnerung und Epiphanie oder das Wesentlich-Werden der Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Metabolismus und Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Libro del frío . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Die Wirklichkeit, der Tod und das Sinnbild (Symbol) . . . . . . . . . . . . . . 331 Die Musik, Ausgang von Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Das ganz Andere des Seins: der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Arden las pérdidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Inneres und äußeres Brennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Inneres Feuer, Wut und Mut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Die Kraft der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Die tapfere Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Cecilia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Lebendiges Sein und Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Infans und Senex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Der erfüllte Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Libro de los venenos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Metapher und Metabole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Ausdruck und lebendiger Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Versammlung, der Name der transzendierenden Immanenz . . . . . . . . 362 <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 Canción errónea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Ordnung und Irren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Die Wirklichkeit der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Der homo absconditus und die Freiheit des Sängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Das signum Gamonedae und das ontologische Plus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Der Rhythmus als ontologischer Anker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Transzendierende Immanenz oder die Lockerung des Seins . . . . . . . . . . . 381 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Sekundärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 <?page no="15"?> Einleitung Autoren der philosophischen Anthropologie 1928 veröffentlichte der Münchner Philosoph Max Scheler ein Bändchen mit dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos 1 . Diese kleine Schrift wurde zur Geburtsurkunde der modernen philosophischen Anthropologie, obwohl auch noch im selben Jahr die weitaus umfassendere Arbeit Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie 2 Helmut Plessners erschien. Hinsichtlich der Koinzidenz beider Publikationen bzw. der Originalität der dort ausgeführten Ideen gab es zwischen beiden Autoren noch Jahre später Verstimmungen. Zwölf Jahre danach erschien Arnold Gehlens zentrales Werk zur philosophischen Anthropologie Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 3 , womit drei wesentliche Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannt wären. In dem philosophierenden Arzt Paul Alsberg hatten sie einen Vorgänger, der mit seinem Werk Das Menschheitsrätsel 4 1922 zum ersten Mal in neuer stringenter Manier die Heraufkunft des Menschen aus der Natur systematisch darzustellen suchte; desgleichen in dem Biologen Jakob Johann Baron von Uexküll, dem Begründer der Biosemiotik und dem Schöpfer des Begriffs der Umwelt, sowie dem niederländischen Mediziner und Anatom Louis Bolk oder dem Biologen und Anthropologen Frederik Jakobus Johannes Buytendijk. Auch der sich mit Fragen prähistorischer Anthropologie befassende Bonner Physiologe Max Verworn sowie viele andere Naturwie Geisteswissenschaftler gehören zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der Gruppe von Forschern, welche über ihr Fachgebiet hinaus sich die Frage nach dem Menschen und dem Menschlichen stellten. Neben den gerade genannten Autoren gehören zum Kern der damaligen philosophisch-anthropologischen Forschung die Arbeit Einführung in die Philoso- 1 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , (Darmstadt, 1928), hier in der Hg. Von Manfred Frings, 17. Aufl. Bouvier Verlag, Bonn, 2007. 2 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch . Einleitung in die philosophische Anthropologie , (1928), 3. Aufl. Berlin 1975. Hier benutzt: Gesammelte Schriften Bd.: IV, Hg. v. Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung v. Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1627, Frankfurt a. M., 2003. 3 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , Aula Verlag GmbH, Wiesbaden, 1986, 13. Auflage. 4 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung , Dresden, 1922. <?page no="16"?> 16 Einleitung phische Anthropologie 5 des 1944 im Konzentrationslager Oranienburg gestorbenen Philosophen Paul L. Landsberg, dessen Schrift Die Erfahrung des Todes 6 ihn zu einem einflussreichen Vordenker des französischen Personalismus machte, die ob der damaligen politischen Umstände zuerst 1935 in Spanien (Übersetzung von Eugenio Imaz) dann in französischer Fassung und erst 1937 in deutscher Sprache in Luzern erscheinen konnte. Auch der Philosoph Erich Rothacker gehört dazu, der mit seiner Veröffentlichung Probleme der Kulturanthropologie 7 von 1942 sowie seinen Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie von 1966 zum Mitbegründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie wurde. Selbstredend stehen die hier genannten Autoren nicht exklusiv für das Denken über den Menschen, welches als zentrales Substrat des westlichen philosophischen Denkens seit den Vorsokratikern über Protagoras, die athenischen Klassiker Platon und Aristoteles, über die lateinischen Denker zur conditio humana zu Montaigne, Pascal, den Aufklärern, Voltaire etc. sowie Herder und Kant und weiter hinüber bis zum monumentalen postum veröffentlichten Werk Hans Blumenbergs, Die Beschreibung des Menschen 8 , 2006 reicht. Scheler, Plessner und Gehlen scheinen mir jedoch einen bedeutenden Einschnitt in dieser langen Tradition zu markieren, da sie den Versuch unternehmen, den Menschen auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in kosmologischer Perspektive neu zu bestimmen. Wesentliche Begriffe dieser Autoren scheinen bis heute fundamentale Gültigkeit zu besitzen und bei kritischer Revision dieser den Versuch wert, sie auf ein ästhetisches Fühlen und Denken zu beziehen. Eine derart aufgefasste philosophische Anthropologie reiht sich in das Denken der Aufklärung ein. Denn es stellt sich als Wagnis dar, das, was den Menschen wesentlich ausmacht, im Zusammenhang mit dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos sowie jenen Lebewesen - den Tieren, mithin den Pflanzen - zu beschreiben, mit denen er die Erde teilt. Dabei stellt sich zugleich die Aufgabe, in dieser Weltimmanenz einen Zeichenbegriff zu erarbeiten, welcher ästhetisch ausgebeutet und philologisch auf die Dichtung Antonio Gamonedas angewandt, grundlegende Aussagen erwarten lässt, zumal das Werk Antonio Gamonedas dem Versuch eines Denkens der Immanenz entspricht (siehe in Esta luz 9 , S. 28 5 Landsberg, Paul L . , Einführung in die Philosophische Anthropologie, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1962. 6 Landsberg, Paul L., Die Erfahrung des Todes, Matthes & Seitz Berlin, 2009. 7 Rothaker, Erich, Probleme der Kulturanthropologie , H. Bouvier Verlag, Bonn, 1988. 8 Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen , Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006. 9 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , Círculo de Lectores, S. A., Galaxia Gutenberg, S. A., Barcelona, 2004. S. 28: NADIE me ha enseñado una lágrima; no he sentido latir en mi garganta <?page no="17"?> Das lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender Immanenz 17 und 72), der Mensch in seiner Existenz als zentrales Thema seiner Dichtung verstanden werden kann. Die Sichtung der Quellen in der Einleitung breitet das denkerische Panorama der philosophischen Anthropologie jener Zeit in zentralen Schriften aus und versucht die grundlegenden Denkmuster der Autoren darzustellen. Es folgen Überlegungen zu einer Ontologie der Kunst, die Verortung der grundlegenden Begriffe von Bewegung, Rhythmus und Maß im Menschen und mit einem Entwurf zum Zeichenbegriff der Eintritt in die Welt der Dichtung Antonio Gamonedas selbst. Das lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender Immanenz Lebendige Natur ereignet sich dort, wo ein Organismus ausdrücklich wird. Ausdrücklich werden ist ein Prinzip des Lebendigen. Eine der Manifestationen der Natur ist das Organische, und im Organischen wird sie sich selbst ausdrücklich. Indem der Organismus ausdrücklich wird, manifestiert er sich als Pflanze, Tier oder sich selbst ausdrücklich auch als Mensch. Die Kunst exponiert und potenziert dieses dem Lebendigen innewohnende Prinzip der Ausdrücklichkeit. Die Künste sind Ausdruck im emphatischen Sinne. Sie Überhöhen das Prinzip des Ausdrucks in ihren spezifischen äußeren, d. h. objektiven Manifestationen, insbesondere in den Schönen Künsten, doch nicht nur in diesen. Kunst und Leben sind daher keine Gegensätze, sondern eins. Kunst findet statt im Ausdrücklichwerden des Ausdrucks. In ihr wird sich der Mensch in hervorragender Weise seiner selbst gegenwärtig und vermittels ihrer schafft er sich - ein Wesen der Natur - sein Sein. al ruiseñor sangriento de la luz. Una vez dije: “Ven, Dios, ven a mis labios, ven a mis ojos y a mi sed”. Y Dios sólo era verdad en el silencio. S. 72: CIEGO en la luz, absorto en la inexistencia, finge la eternidad. Es un ángel sin dios, es piedra trabajada por gemidos. Bajo las llamas del mercurio, su belleza desciende. (Un ángel gótico) <?page no="18"?> 18 Einleitung Kunst ist die absichtsvoll nach außen gewendete Natur des lebendigen Wesens Mensch, die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks im emphatischen Sinne. Die Form der Ausdrücklichkeit des Lebewesens Mensch heißt transzendierende Immanenz. Transzendierende Immanenz antwortet auf die Alsbergische Frage nach dem Ort des Menschen im Linnéschen System der zoologischen Taxonomie, in dem der Mensch seinen biologischen Platz überschreitet, ohne diesen je verlassen zu können. Sie ist die Antwort auf die Frage nach der Heraufkunft des Menschen als Meister der Negation und Asket, wie Scheler ihn denkt, oder nach der Plessnerschen Dynamik des in der gegensinnigen Grenzvermittlung hervortreibenden Ausdrucks dessen, was schließlich in das sich selbst gegenwärtige Lebewesen Mensch mündet, oder aber wie in einem systemischem Denken als Zusammenhang von sich gegenseitig fordernden Bedingungen à la Arnold Gehlen. Bei ihm bindet sich Erinnerung an Motorik, und Motorik lässt den in Selbststellung stehenden Menschen sich selbst und anderen in Haltung, Handlung und Ausdruck gegenwärtig sein. Transzendierende Immanenz entspricht der Organisation des lebendigen Individuums Mensch, da es sich in seinem Körper verwirklicht, indem er der Forderung entspricht zu bleiben, „was er ist, und überzugehen in das, was er nicht ist und was er ist.“ 10 Transzendierende Immanenz ist der Ursprung für die Plastizität des Sinnlichen und Bedingung der Möglichkeit für die Gegenwart des Geistes. Transzendierende Immanenz ist der Ursprungsort selbsterlebter lebendiger Bewegung und Rhythmus ihr Impuls im Werden. Transzendierende Immanenz entspricht der Schwellnatur des Akustischen 11 , das dem Hören, Atmen und der Artikulation zugrunde liegt. Transzendierende Immanenz ist jene Form von Ausdruck, Haltung und Handlung die, der Gruppe anheim gegeben, von jedem Einzelnen dieser gespiegelt und wiederholt in Tanz, Schrift und Zeichen verwandelt, zur Bedeutung sich verfestigt und es dem Menschen - sich selbst ausdrücklich geworden - erlaubt, aus dem autistischen Schoß der Natur sich zu sich selbst hin aufzuschwingen. 10 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 213. 11 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , (1923), in Gesammelte Schriften Bd.: III, Hg. v. Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung v. Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1626, Frankfurt a. M., 2003, S 235: „Nur weil Zur Förmigkeit des akustischen Stoffs die Schwellfähigkeit gehört, lassen sich Haltung und Geste dem Zug der Töne einschmiegen, glauben wir von ihm getragen zu werden, in ihm zu schwimmen, haben die Taktzäsuren Impulswerte, die Tonhöhen Lagewerte.“ <?page no="19"?> Die Aufgabenstellung 19 Die Aufgabenstellung Denkbarkeit also einer sich selbst fordernden Dynamik aus immanenter Struktur heißt die Aufgabe, der sich diese Studie widmet. Sie besteht demzufolge darin, dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas einen ontologischen Ort aufzuspannen, den es bewohnt und schafft zugleich. Ausgehend also von einer Ontologie des Lebendigen heißt es, eine Ontologie der Kunst am Leitfaden der Begriffe von Bewegung in all ihren Erscheinungsformen von Bewegtheit, Bewegtsein zur Selbstbewegung in Ortsbewegung, Handlung und Haltung sowie in ihrer Spezifizität als Metrum, Zeichen, Rhythmus und Maß zu entwickeln und den gamonedaeischen Logos so im Sein zu verfugen. Diese Arbeit ist keine kritische, auch wenn krinein und legein (teilen und sammeln) darin wesentliche Bewegungen darstellen - rhythmisch wie denkerisch. Es handelt sich letztlich um den Versuch einer Ästhetik auf biokinetischer Grundlage, weder zynisch noch komisch, verzweifelt oder tragisch, euphorisch oder hochfahrend. Sie bewegt sich mittig, sucht die Balance, wenn auch nicht den Ausgleich. Die Arbeit widmet sich der Entschlüsselung und Deutung von Dichtung nicht im Sinne einer Lektürekonstruktion, sondern sie versucht eine Freilegung der ontologischen Fundamente 12 im dichterischen Denken Antonio Gamonedas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie. Dies führt auch zur Betrachtung der Bedeutung seines Denkens, da mit dem ontologischen Ort der dichterischen Rede auch dessen soziale und historische Relevanz erkennbar wird. Denn dieser ontologische Ort kennzeichnet den Platz des Dichterwortes im Gespräch der Gemeinschaft, und sei es auch nur, um diesen im gleichen Atemzug wieder zu bestreiten oder zu verschieben. Das Zurückbeugen der Dichtung auf das Sein führt es an den Kreis menschlichen Tuns wie Rechnen, Messen, Zählen, Sagen, Tanzen, Malen oder Singen heran und lässt seine Bedeutung als eine der wesentlichen welterschließenden Aktivitäten des Menschen sichtbar werden. Darin liegt seine epistemologische Qualität und seine ontologische Dignität. 12 Die Rede von „ontologischen Fundamenten“ im Zusammenhang mit Kunst lässt sogleich an Martin Heideggers berühmten Aufsatz: Der Ursprung des Kunstwerkes (Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M., 1980, 6. Auflage, S. 1-- 72) denken. Dieser ist hier nicht herangezogen worden, da es sich zum einen bei den hießigen Untersuchungen um ein Denken auf der Grundlage der philosophischen Anthropologie, also einer Ontologie des Lebendigen handelt, zum anderen da seine epistemologische Stoßrichtung auf Evidenz zielt, und die Destillierung eines methodischen Fachinstrumentariums zur Werkanalyse dieser entgegenzuarbeiten scheint. <?page no="20"?> 20 Einleitung Der Gedanke Denken und Dichten gerade im Werk Antonio Gamonedas zusammenzubringen, kann sich auf seinen Arbeitsprozess berufen. Dieser orientiert sich am Palimpsest. Jeder Text, alt oder neu, kann zu jeder Zeit der Überarbeitung überantwortet werden. Die allgegenwärtige re-ecriture der Texte überschreibt den historischen Abstand in den Resonanzraum der beständig erneuerten Aktualität des Erinnerns. Denn die Erinnerung atmet mit dem Jetzt, während das Gedächtnis den Speicher des Vergangenen stellt. Damit erstarken die inneren symbolischen Verweisungen der Dichterrede und geben den Blick frei auf ein Sein, das sich nicht in Geschichten, sondern in der Darbietung einer Sonderwelt erschließt, der das Antlitz einer individuellen Existenz eignet. Dabei nimmt der Autor keine Transzendenz in Anspruch. Er hält sich streng in der Immanenz seines Seins als Bewohner dieser einen Welt 13 . Aus dieser Haltung der Immanenz nährt sich die Betrachtung der Sprache als Materie 14 , aus seinem dichterischen Tun das Transzendieren in und am Material. Dementsprechend bieten die hier zugrunde gelegten Schriften der philosophischen Anthropologie ein passendes Rüstzeug, welches den Menschen aus der Immanenz seines Seins wie aus der Gemeinschaft der Lebewesen und ihrer Geschichte 15 zu deuten versucht. Die beharrliche Anpassung des einmal Niedergeschriebenen an die veränderten anatomischen und physiologischen Bedingungen des Körperleibes und der Bewegungen seines Atmens 16 , seines Taktes und Rhythmus zeugt von dessen zentraler Rolle für die Dichtung Antonio Gamonedas 17 . Es zeugt aber auch und 13 Siehe Anmerkung Nr. 9. 14 Gamoneda, Antonio, El cuerop de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Murcia, 1997, S. 180: „Yo tengo una concepción materialista de la poesía, en cierto modo. Sé que construyo objetos con un material físico, con una oralidad que, por convención, se ha hecho silenciosa en el papel; […].“ 15 Misch, Georg, Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys , Verlag G. Schulte-Bulmke, Frankfurt a. M., 1947. In diesem Zusammenhang besonders interessant scheinen mir dort die Ausführungen ab S. 39 ff. zu sein, auf denen Misch Diltheys Projekt zur Zusammenführung von Philosophie und den positiven Wissenschaften spricht, z. B. S. 40: „Dilthey sucht diese Domäne der irrationalistischen Lebensphilosophie für den wissenschaftlichen Geist zu erobern, und der Weg dazu soll eine philosophische Verbindung von Anthropologie und Historie sein.“ 16 Gamoneda, Antonio: El cuerop de los símbolos , S. 84: „Ocurre que mi respiración se ha modificado y que quiero respirar el poema con mi naturalidad de ahora.“ 17 Leyva, José Ángel (2011): „Antonio Gamoneda, creación y liberación“, URL.: http: / / www. jornada.unam.mx/ 2011/ 01/ 16/ sem-jose.html [Stand 16. Januar 2007]: „Aprendí a leer en un libro de poesía. Es decir, a los cinco años arribé a la capacidad de leer y al conocimiento simultáneo de la poesía, de ese otro lenguaje que es la poesía, en medio de aquel horror de la guerra y el cautiverio. Cuento primero la experiencia positiva de tener acceso a la lectura y la escritura, y del conocimiento de ese otro lenguaje; es decir, de ese pensamiento interior que tiene una semántica impredecible y que se corresponde con <?page no="21"?> Die Aufgabenstellung 21 vordem von der zentralen Rolle des Rhythmus selbst als einer geführten Bewegung in der Sprache hin zu einer Beschreibung der Welt im Spiegel der Seele 18 . Der Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls 19 der werdenden Form der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in Sprache teilt und versammelt ( legein kai krinein ) das Sein in ein Vorher und Nachher, ein Davor und Dahinter, ein Hier und Dort. Die Welt erscheint in der werdenden Form von Bewegung und Beharrung 20 . Der Rhythmus, indem er den Körperleib, den Beweger der Sprache bewegt, positioniert diesen gegenüber der Welt und die Welt ihm gegenüber. So ist der Rhythmus in der Dichtung Antonio Gamonedas gleichursprünglich, vorursprünglich gar mit dem Gedanken 21 , und also jener Impuls seines dichterischen Denkens, welches für die werdende Form seiner Sprache maßgeblich verantwortlich zeichnet. Das pulsiv-musikalische Denken Antonio Gamonedas ist notwendiger Weise ein körpernahes Denken. Für die anthropologische Philosophie ist der Körper, insbesondere der Körperleib der Ort, an dem sich das Drama des menschlichen Lebens manifestiert. Daher kann die theoretische Angemessenheit philosophisch-anthropologischer Begriffe auf die dichterische Praxis unseres Autors behauptet werden. Die philosophische Anthropologie eines Helmuth Plessners zum Beispiel entspricht dem Gedanken des Ausdrucks aus der Quelle des Körperleibes mit der Idee der exzentrischen Positionalität und der selbstvermerklichen Bewegung, der Manifestation des Geistes in Körperhaltung, Geste und Musik. Diese Auffassung sieht den Körperleib vermittelst der Bewegungsformen von Haltung, Handlung und Stellungnahme auch in die Welt hineingestellt. Denn die exzentrische Positionalität stellt eine Verortung des Körperleibes in sich selbst und der Welt gegenüber dar. In der Körperhaltung wird eine Stellungnahme zur Welt, un pensamiento articulado rítmicamente, como hacen los niños sus descubrimientos, sin sorprenderse de nada, y yo no me extrañé.“ 18 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 174 oben und S. 216 unten. 19 Gamoneda, Antonio, El cuerop de los símbolos , S. 178: „[…] yo estoy delante de una cuartilla en blanco y he escrito una línea casi al azar; no, no puede ser al azar: tiene un motivo, pero yo lo desconozco; hay una pulsión que yo no sé a dónde va.“ 20 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , Verlag und Druck von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin, 1926, S. 38. 21 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes , Cuadernos del Noroeste, 3. La Biblioteca I. E. S. „Lancia“, 2000, León, S. 15: „El lenguaje poético tiene su desencadenante en un impulso de la especie sensible, en un impulso musical. Dice Eliot que la generación poética consiste en la ‚aprehensión sensorial y directa del pensamiento poético‘ (las cursivas son mías). Humildemente acorde con Eliot, yo defiendo que la música es el estado original del pensamiento poético . Puedo precisar un poco más: el pensamiento poético se genera en la confusión profunda de una causa musical y una causa significativa.“ <?page no="22"?> 22 Einleitung eine Haltung, ein Gedanke erkennbar, die in einer Handlung oder Darstellung, in Tanz, Rede oder Musik münden mögen. In der selbstvermerklichen Bewegung schließlich erscheint die Bedingung der Möglichkeit des darstellenden, mithin symbolischen Verhaltens grundsätzlich gegeben 22 . Hebt der Bürger der platonischen Stadt seinen Fuß zum Dithyrambus oder der Dichter Antonio Gamoneda seine Stimme im Fuß des Verses, so nehmen sie sich selbst gegenüber eine Stellung ein, werden sich, ihrem Milieu und der Welt gegenüber ausdrücklich. Darin finden Bewegung, und in der Folge geführte Bewegung und Rhythmus ihren ontologischen Anker und darin gründet ihre ontologische Dignität. Nun mag der Autor Antonio Gamoneda die philosophische Anthropologie bedacht oder auch nicht bedacht haben. Die Tatsache jedoch, dass ein Werk existiert, dem der Autor sein Denken anvertraut und in dem die menschliche Existenz zentral, Transzendenz jedoch nur innerhalb dieser thematisiert ist, scheint mir eine hinreichende Ausgangsbasis für eine Untersuchung des Logos poietikos Antonio Gamondas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie darzustellen. Wenn die Wahl der Ideen und Erklärungen sich als falsch herausstellen sollte, müssten sie widersprüchliche Ergebnisse zeitigen. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Annahme einer Ideengemeinschaft zwischen philosophischer Anthropologie und dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas scheint sich zu bestätigen. Ausdruck dieser ist der Terminus der transzendierenden Immanenz. Transzendierende Immanenz ist der Begriff für einen Gedanken, der eine Dynamik zu beschreiben sucht, welche den Schritt aus einem Innen allein über dieses selbst hinaus entbirgt. Damit diese Dynamis verstehbar werden kann, bedarf es der Annahme eines gliedrigen Ganzen, einer Komplexion - im Gegensatz zu einem Einfachen. Transzendierende Immanenz ist ein Geschehen der Komplexion, in dem unterschiedliche, einem Ganzen innewohnende Elemente über sich selbst hinaustreiben und die Natur des Ganzen vermittelst interner Prozesse verändern. 22 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , (Bonn 1956), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 167: „Die elementarste Form des darstellenden Verhaltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus: in der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz ahmt ein Handeln sich selbst nach oder es stellt sich in sich selbst dar, und eine Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, erhält damit Symbolfähigkeit . Sie ist weder gewohnheitsmäßig, noch eine glatte, im Sachzweck aufgehende Aktion, noch unmittelbarer Affektausdruck.“ <?page no="23"?> Eine Vorausschau 23 Transzendierende Immanenz bezeichnet also ein Geschehen kategorialer Überschreitung, ohne die rhetorischen Figuren der Metapher oder Metonymie einzubestellen. Transzendierende Immanenz ist eine Form der Ausdrücklichkeit, und das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden ist die gemeinsame Form der Kunst und des lebendigen Seins. Dort, wo sich dieses Geschehen begibt, erscheint Sinn, und der Sinn eignet allein dem Denken und dem Sein, niemals dem Seienden an 23 . Eine Vorausschau auf den Zusammenhang einer Ontologie der Kunst auf Basis der philosophischen Anthropologie mit dem Logos poietikos Antonio Gamonedas und der transzendierenden Immanenz Manifestiert sich in der ontisch gewordenen Grenze des Plessnerschen Modells des lebendigen Seins dessen Abstandnahme wie dessen Verschränkung mit dem „Umfeld“ 24 , so konstituiert sich damit für den Menschen ein Ausdrucksverhältnis 25 zur Welt. In der partiellen Ontologie des lebendigen Seins wird Ausdrücklichkeit damit notwendiger Weise zu seinem gleichursprünglichen Impuls. Ausdrücklichkeit setzt Bewegung voraus, und lebendiges Sein zeichnet sich durch Selbstbewegung aus. In Stellungnahme, Haltung und Handlung verhält sich der Mensch zur Welt und zu sich selbst. Wenn Bewegung also der ontologische Anker lebendigen Seins in der Welt ist, wird Bewegung in der Hand des Menschen zur bewegten Bewegung und zum Mittel des Ausdrucks seines Seins. Schon in der elementarsten Form geführter, also bewegter Bewegung ist diese zu sich selbst in ein Verhältnis gesetzt und in sich selbst ausdrücklich geworden 26 . Im artikulierten Laut, einer geführten, also bewegten Bewegung wird das Ausdrucksverhältnis des Menschen zur Welt in der Sprache ausdrücklich, und die Sprache zum Ausdruck der Ausdrucksbewegung, zur Expression in zweiter Potenz. Wird der Klang damit zum Laut und zum Zeichen (Artefakt), so ergreift das dichterische Denken Antonio Gamonedas dieses und bewegt es zu einer höheren Ausdrücklichkeit und zum Zeichen zweiter, mithin „dritter Ordnung und Potenz“ 27 , indem es die artikulierte, geführte Bewegung des Zeichens (Artefakt) 23 Heidegger, Martin, Sein und Zeit , Max Niemeyer Verlag Tübingen, 2006, S. 151. 24 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 263. 25 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 417ff. 26 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 167. 27 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 3. <?page no="24"?> 24 Einleitung in ein weiteres Verhältnis zu sich selbst führt, und ihm damit eine erweiterte Ausdrücklichkeit zukommen lässt. Die Inanspruchnahme des sprachlichen Zeichens als ein komplexes Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn versetzt es in Bewegung und bringt seine Bedeutung zum Schweben. Mit der geführten, bewegten Bewegung des Zeichens lockert die Dichtung Antonio Gamonedas das Sein im Rang der Sprache, und in dieser Lockerung entdeckt sich die transzendierende Bewegung in der Immanenz des Seins. Der Logos poietikos Antonio Gamonedas bewegt die Schwere des Seins im Rang der Sprache und lässt so dessen abgewandte Seite erkennbar werden. Wenn also Ausdrücklichkeit die Natur des Organischen und Selbstausdrücklichkeit die des Menschen ist, so ist transzendierende Immanenz der Name für den Logos poietikos Antonio Gamonedas, und wenn die Selbststellung des Menschen das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden fordert, so entspricht die Dichtung Antonio Gamonedas diesem mithin mit der Überschreitung der Genregrenzen. Die Überschreitung findet in der Rückbindung der dichterischen Rede auf die individuelle Existenz statt, welche die abseitige Seite des Seins verlautbar werden lässt. <?page no="25"?> PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Eine zusammenfassende Lektüre mit Resümee Es un hombre … Paul Alsberg zitiert Sophokles mit „Viele gibt es der Wunder - kein größeres als den Menschen“ 1 . Das Erstaunen oder Sich-Wundern, das Thaumatzein, verwandelt diese Aussage in einen urphilosophischen Gedanken. Alsberg sucht dieses Rätsel aufzuklären. Doch ein „Wunder“ kann der Mensch nur sein, wenn er „ein Tier im Sinne eines Primus inter pares sei“ 2 wie Alsberg weiter ausführt. Denn als Geschöpf eines Gottes oder einer höheren Macht sei er schon erklärt und bedürfe keiner weiteren. Welchen Namen aber trägt der Mensch als Primus inter pares, als Säugetier/ Primat? Wie also transzendiert der Mensch seine biologische Einordnung im linnéschen System? Wie stellt sich dieses Überschreiten der Immanenz dar? Ist mithin dies seine ihm ureigene Natur: der Mensch, das Lebewesen der transzendierenden Immanenz? Unter den frühen Gedichten Antonio Gamonedas finden wir das folgende: Es un hombre. Va solo por el campo. Oye su corazón, cómo golpea, y, de pronto, el hombre se detiene y se pone a llorar sobre la tierra. Juventud del dolor. Crece la savia verde y amarga de la primavera. Hacia el ocaso va. Un pájaro triste canta entre las ramas negras. Ya el hombre apenas llora. Se pregunta por el sabor a muerto de su lengua. 3 1 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , Sybillen-Verlag, Dresden, 1922. 2 Ebd., S. 11. 3 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , Círculo de Lectores, S. A., Galaxia Gutenberg, S. A., Barcelona, 2004, S. 31. <?page no="26"?> 26 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Einfache Sätze beschreiben eine einfache Szene. Ein Mensch wird benannt. Er geht allein übers Feld, ein alltägliches Geschehen. Im Gehen erfüllt der Mensch seine Bestimmung, denn als aufrechter Bipodes auf dem weiten Feld der Erde begann er seinen Stammbaum. Der aufrechte Gang ist für Hans Blumenberg das wesentliche Merkmal des Menschen und der Ausgang für seine Sonderstellung in der Welt 4 . Doch der nächste Satz führt uns in sein Inneres, zu seinem Herzen und sogleich stockt dieser menschliche Gang. Er bricht in Weinen aus, dort auf dem Acker. Das Weinen stellt nach Plessner gleichsam einen Zusammenbruch der menschlichen Konstitution dar: ein Ausgeliefertsein des Menschen an ein ihn überwältigendes Erlebnis - ein Privileg des Menschen vor allen anderen Lebewesen -, welches diesem die Herrschaft über seinen Körper verlieren lässt und ihn an das Würgende, Schluchzende des Weinens und somit an seine reinen Körperfunktionen ausliefert 5 . Der Leser weiß nichts über das Warum dieses Ausbruchs. Das Gedicht führt uns in den Umkreis des „homo absconditus“ 6 . Die nächste Strophe führt den Leser zu einem Empfinden, welches der Grund des Weinens sein könnte, einem Schmerz, und weiter zu einer Erinnerung oder der Beobachtung einer Umgebung, welche eine Erinnerung entbirgt. Die Möglichkeit des Habens einer Umgebung ist ein Privileg des Menschen vor seinen Lebensgenossen, den Tieren, welche eine Umwelt besitzen, aber keine Umgebung, keinen Horizont. Und weiter zieht der Mensch gegen Westen, dem fernen Horizont des Sonnenuntergangs entgegen, dahin, wo der Tag endet. Schon dunkelt es, die Zweige zeichnen schwarze Linien, und ein Vogel lässt sich hören, ein Bewohner desselben Horizonts, derselben Erde wie der Mensch. Das Weinen erlischt und zurück bleibt die Frage des Menschen nach dem Wissen um seinen Tod, der sich als Geschmack nach dem Tod auf seiner Zunge nieder- 4 Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, S. 143. 5 Plessner, Helmuth, Ausdruck und menschliche Natur , Gesammelte Schriften Bd.: VII, Frankfurt a. M., 2003, S. 234 u. 235: „Lachen und Weinen geben einen anderen Blick auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Leibe. […] Wiewohl vom Menschen aus motiviert, treten sie als unbeherrschte und ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt - ins Lachen, er läßt sich fallen - ins Weinen. […] Er antwortet - mit seinem Körper als Körper wie aus [235] der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können. Und in der verlorenen Beherrschung über sich und seinen Leib erweist er sich als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art, das in Spannung zu seiner physischen Existenz lebt, ganz und gar an sie gebunden.“ 6 Plessner, Helmuth, Conditio humana , Gesammelte Schriften Bd.: VIII, Frankfurt a. M., 2003, S. 357: „Die Schrankenlosigkeit des menschlichen Wesens, die wir gleichwohl in seiner spezifischen Lebensstruktur verankern können, gibt das Recht, vom homo absconditus zu sprechen, weil er die Grenzen seiner Schrankenlosigkeit kennt und sich damit unergründlich weiß. Sich und seiner Welt offen, weiß er um seine Verborgenheit.“ <?page no="27"?> Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel 27 schlägt. Das Wissen um seinen Tod zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, wobei nach Landsberg sich hier schon ein modernes, existenzielles, Bewusstsein von Tod geltend macht und nicht eines, welches den weit überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte bestimmte, nämlich dem vom Tod als einer Verwandlung, entweder in ein anderes Lebewesen, in ein höheres Leben oder in die Rückkehr als anderer Mensch derselben Sippe oder Volkes 7 . Diese Fingerübung zum Thema Mensch möchte vorläufig darauf aufmerksam machen, was aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie auf einen Text Antonio Gamonedas unmittelbar erkennbar werden kann. Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel Paul Alsberg fragt als Kantianer, wenn er fragt, „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? “ 8 . Allein mit dieser Frage bestimmt er den Horizont seiner Arbeit. Denn wie soll es möglich sein, dass ein Naturwesen Mensch „außerhalb und unabhängig von sinnlicher Erfahrung zu allgemeingültigen Urteilen über die Natur gelangen kann? “ 9 Und die Frage findet ihre Zuspitzung, bedenkt man gar, dass im Sinne Linnés „also das Tier den höheren Gattungsbegriff bezeichne, welcher den niederen Begriff des Menschen unter sich hält.“ 10 Kann sich der Mensch aus dieser Systematik heraus zu seinem heutigen Stand graduell entwickelt haben? Wäre etwa der Haeckelsche Pithekanthropus alalus 11 ein möglicher Kandidat für den missing link einer natürlichen Schöpfungsgeschichte, und wie könnte diese aussehen? Alsberg stellt fest, dass kein naturwissenschaftlicher Forscher bis dato dem „genealogischen und dem biologischen Prinzip beim Menschen gerecht zu werden“ 12 vermochte und unterscheidet dabei die zooistischen von den anthropistischen Theorien. Also jene Ansichten, welche den Menschen allein aus dem zoon heraus entstehen lassen wollen von denjenigen, welche einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier postulieren. Fehlen jene darin, dass sie keine Antwort auf die Existenz eines spezifisch- oder prinzipiell-Menschlichen 13 finden, stellt sich diesen die Frage ernstlich überhaupt nicht, und sie müssen, streng genommen, jeder genealo- 7 Landsberg, Paul L . , Einführung in die Philosophische Anthropologie, S. 54. 8 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 13. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 30 f. 11 Ebd., S. 70. 12 Ebd., S. 42. 13 Ebd. S. 52: „[…] das begriffliche, introspektive Bewusstsein ist ja gerade […] der Rubikon des Geistes“, welchen das Tier niemals überschreitet.“ <?page no="28"?> 28 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST gischen Ableitung entbehren. Damit jedoch löst sich die Frage nicht auf. Eine weitere Schwierigkeit der Lösung des Menschheitsrätsels erkennt Alsberg in dem Sachverhalt, dass die Tierpsychologie „mit Ausnahme des Begriffsvermögens alle anderen geistigen Formelemente auch beim Tiere nachgewiesen“ 14 habe, wodurch die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier noch feiner zu bestimmen sei. Er schließt sich jedoch auch nicht H. Spencers Lösung an, die ein „überorganisches Gesellschaftsprinzip“ 15 für die Entwicklung des Menschen verantwortlich machen möchte. Denn dieses Prinzip führt eine neue Entität in die Debatte ein und bedarf weiterer Erklärungen hinsichtlich des Verhältnisses von Gruppe und Individuum. Das Prinzip der Körperausschaltung Alsbergs Dilemma stellt sich also folgendermaßen dar: Wie kann eine stringente Entwicklung des Menschen gedacht werden, die ihn mit all seinen Fähigkeiten als primus erklärlich werden lässt, ohne dass der naturwissenschaftliche Gattungsbegriff nach Linné gesprengt wird, und der Mensch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen, als inter pares , bleibt? In seiner eigenen Frageversion schreibt er: „Was ist es mit dem Menschen, der aus dem Tiere hervorgegangen ist und offensichtlich doch kein Tier ist? “ 16 , bei Erhalt einer gemeinsamen Substanz von Mensch und Tier die differentia specifica erklärlich werden zu lassen. Er löst diese Frage, indem er den Ursprung der Verschiedenheit in den Ursprung einer gemeinsamen Gattung zurückverlegt und Tier wie Mensch unterschiedlichen Entwicklungsprinzipien unterwirft. Er konstatiert, dass die menschliche Entwicklung „unter einem besonderen, einheitlichen Prinzip, welches in den beiden korrespondierenden Symptomen des körperlichen Rückganges und des technisch-geistigen Wachstums seinen greifbaren Ausdruck findet.“ 17 Er bestimmt dann weiterhin, dass die tierische Entwicklung auf den Körper, „die menschliche Entwicklung auf das künstliche Werkzeug gestellt“ 18 sei. Das Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung (Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das Prinzip der Körperausschaltung vermittelst künstlicher Werkzeuge. 19 14 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 84. 15 Ebd., S. 87. 16 Ebd., S. 91. 17 Ebd., S. 96. 18 Ebd., S. 101. 19 Ebd., S. 103. <?page no="29"?> Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel 29 Die Antwort des Tieres auf Anpassungszwänge der Umwelt ist die organische Anpassung, die Antwort des Menschen auf das Andrängen der Umwelt ist die Entwicklung entsprechender Werkzeuge bei grundsätzlicher Beibehaltung seiner physischen Verfassung. Somit ist die Entwicklung des Menschen keine Steigerung der tierischen, sondern ein echtes „Novum“ 20 und der Mensch vom Tiere als wesensverschieden 21 bestimmt. Alsberg versteht unter Organ „jedes anatomisch und funktionell zusammengehörige Teilgebilde des Körpers“ 22 und unter Werkzeug „ein jedes außerkörperliche (künstliche) Mittel, mit welchem eine Ausschaltung des Körpers bewirkt wird.“ 23 Diese Unterscheidung ermöglicht es ihm zwischen „Überorganischem“ und „Außerorganischem“ 24 zu unterscheiden und auch den Tieren Tradition im Sinne überorganischer Weitergabe von Verhalten zu konzedieren, ohne dass der Triebmotor des Entwicklungsprinzip des Menschen, die Körperausschaltung per Werkzeug, dabei in Anschlag gebracht werden muss. In Anwendung seines Werkzeugbegriffs führt Alsberg stringent auch Sprache und Begriff, sowie weiterhin Moral und Ästhetik seinem Menschheitsprinzip der Körperausschaltung zu. Im Wort erkennt er das lautliche oder sprachliche Werkzeug 25 , dessen Stoff geistiger Natur ist und schließt: Wie das stoffliche Werkzeug, so ist auch das Wort ein absolut selbständiges Gebilde, es führt ein Leben für sich und ist in seinem Dasein allein an den Gegenstand gebunden, als dessen Symbol es auftritt. 26 Er präzisiert die Sprache als ein „außerkörperliches (künstliches) Werkzeug, mit welchem der Mensch die Ausschaltung seiner Sinnesorgane bewerkstelligt und damit das Prinzip der Körperausschaltung befolgt.“ 27 Als gegenstandsgebundenes Werkzeug, welches außerkörperliche Wahrnehmung vertritt, sei es ebenfalls ein Novum und keine Steigerung von Bisherigem 28 . 20 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 200. 21 Ebd., S. 205. „Die menschliche Entwicklung ist keine Steigerung der tierischen Entwicklung. […] sie steht unter einem neuen Prinzip.“ 22 Ebd., S. 110. 23 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 110. 24 Ebd., S. 105. 25 Ebd., S. 130: „Das Wort können wir als das ,lautliche‛ oder ,sprachliche‘ Werkzeug bezeichnen.“ 26 Ebd., S. 133. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 215: „Das Wort ist etwas grundsätzlich Neues, ist ein Anfang und keine Steigerung des Bisherigen.“ <?page no="30"?> 30 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST An dieser Stelle konstatiert er jedoch einen „Drang nach Vervollkommnung“ 29 , den er der Technik wie der Sprache zuspricht. Allein die Einführung eines Telos, um Entwicklungen bei Technik und Sprache zu begründen, scheint mir eine überflüssige Zutat, finden wir doch schon beim täglichen Umgang und der Anwendung beider Arten genügend Motive, um diese entsprechend den Notwendigkeiten des Augenblicks weiter zu entwickeln. Hier reicht das Spektrum von zwingender Notwendigkeit bis zum Zufall. Ein wie auch immer geartetes inhärentes Telos dabei scheint mir deshalb entbehrlich. Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung Unter Anwendung der Reihe: „comparatio - abstractio - reflexio“ 30 erklärt Alsberg den Vorgang der Abstraktion mit der „Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Merkmal“ 31 und erreicht somit die Höhe des Begriffs, den er sogleich im Unterschied zum Wort, welches für ihn „Gegenstandssymbol“ 32 ist, als „Beziehungssymbol“ 33 bestimmt. Im Rückgriff auf Schopenhauer erklärt er die Tätigkeit des Verstandes als die Umwandlung der „Sinnesempfindungen in Wahrnehmungen und Vorstellungen“ 34 , während die Vernunft „das Vermögen der Begriffe“ 35 darstellt. Mit Hilfe des Begriffs eröffneten sich dem Menschen ganz neue Perspektiven: Er sieht nicht nur das Heute, sondern auch das Gestern und Morgen; nicht nur das Nahe, sondern auch das Ferne; nicht nur das Einzelne, sondern auch das Ganze in unserem Vorstellungsbereich und schafft auf diese Weise, einen neuen, in die Tiefe und Breite dringenden Lebenszusammenhang. 36 Dann bestimmt er die „Besonnenheit“ 37 als das Werkzeug des Kulturmenschen, die „Wahrheitsidee“ 38 als dasjenige der Wissenschaft und die Idee „des Guten“ 39 29 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 219 f.: „Beim Menschen liegt die Sprachschöpfung in der Richtung seines Entwicklungs- [220]prozesses und bedeutet eine Bereicherung und Vervollkommnung desselben.“ 30 Ebd., S. 145. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 148. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 151. 35 Ebd., S. 140. 36 Ebd., S. 157. 37 Ebd., S. 158. 38 Ebd., S. 161: „In ihr ist die Wahrheitsidee das Werkzeug, mit welchem sie die Körperausschaltung bewirkt“. 39 Ebd., S. 164. <?page no="31"?> Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel 31 als das Werkzeug des Prinzips der Körperausschaltung. Das ästhetische Erlebnis ist für Alsberg subjektiver Art, welches die tätige Anwendung des Entwicklungsprinzips des Menschen, die Köperausschaltung, auf den Akt der Wahrnehmung des Schönen anwendet und somit die tierische Komponente der „begehrlichen Körperlichkeit“ 40 suspendiert. Auf diese Weise entsteht ein der Natur entzogener Raum, in welchem das Schöne erscheinen kann. Wenn wir aber in der ästhetischen Betrachtung alle praktischen Lebenszusammenhänge durchschneiden, so heißt das nichts anderes als den Akt der „Körperausschaltung“ vollziehen. Das „Schöne“, das ästhetische Erlebnis, tritt „an Stelle“ der begehrlichen Körperlichkeit. So erweist sich auch die Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung. 41 Die Körperausschaltung wird als ein Akt der Vernunft deklariert, da sie in „jedes Mal gleicher Art, durch eine gleiche Selbstobjektivierung vermittels abstrakter Ideen herbeigeführt“ 42 wird. Das Reich des Schönen und die Selbstwerdung des Menschen Das Tier, schreibt Alsberg, ermangelt der Ästhetik, weil es „im Zuge seines Entwicklungsprinzips, welches dauernde und intensive Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse und Geschehnisse der Umgebung gebietet“ 43 , die oben genannten Lebenszusammenhänge nicht durchschneiden und sich nicht auf diese Art selbst verobjektivieren kann. Wir erkennen in dieser Beschreibung eine die gesamte Durchführung des Werkzeuggedankens sowie des Prinzips der Körperausschaltung zugrunde liegende Bedingung der dringenden Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt, welche ständig und ununterbrochen von ihnen geleistet werden muss. Allein dem Menschen ist es ob seiner Werkzeugtätigkeit vorbehalten, sich den Begehrlichkeiten der Natur entziehen zu können, und Zeit für die Betrachtung des Schönen zu gewinnen. Das Schöne findet nach Alsberg ein natürliches Arbeitsfeld in der Gattenwahl 44 . Und wie eine moralische Pflicht auf der „Körperaufopferung nach Maßgabe abstrakter Motive“ 45 bestehe, so bestehe eine ästhetische Pflicht in der Ausschaltung der körperlichen Begehrlichkeit und der Gattenwahl nach rein ästhetischen Gesichtspunkten nach Maß- 40 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 166. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 168. 43 Ebd., S. 255. 44 Ebd., S. 486. 45 Ebd., S. 245. <?page no="32"?> 32 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST gabe eines Schönheitsideals vom menschlichen Körper und ist „im Rahmen des Menschenlebens eine naturhafte Aufgabe“ 46 . Danach wandelt auch in seinen ästhetischen Eingebungen der Mensch die vorgezeichneten Wege der Natur. Was das tierische Entwicklungsprinzip durch Instinkt erzwingt, das leistet das Menschheitsprinzip durch bewusste Ideale. 47 Die Idee verkörpert den Werkzeuggedanken und stiftet die Einheit von Menschheitsprinzip und Kulturprinzip 48 . Damit ist auch die Aufgabe der Kultur bezeichnet. Sie besteht in der Pflege - cultura - der Entwicklung der entsprechenden Werkzeuge in Technik, Sprache und Vernunft. Dieser Art wird das Menschheitsprinzip zum sittlichen Prinzip, welches zum „Vollmenschentum“ 49 , seinem Telos hinführt und in der „vollendeten Ablösung des Instinkts durch die Bewusstheit“ 50 mündet. Innerhalb dieser Entwicklung fallen der Ästhetik noch weitere Aufgaben zu, denn so, wie sie mit Hilfe des Schönheitsideals die „Naturzüchtung“ 51 zu leiten übernommen hat, gibt sie in der Erhaltung der Körperlichkeit auch die Richtung für Körperpflege und Kosmetik vor, und dies Alles im Dienste der „Selbstvollendung aller vom Menschheitsprinzip aufgreifbarer Anlagen im relativen Sinn einer höchstmöglichen Entfaltung“ 52 . Metaphysisch interpretiert ist der Mensch für Alsberg „Sinn der Erde“ 53 und doch, so schließt er, ist „Kultur nichts anderes als zum Leben erstandenes Menschheitsprinzip“ 54 und zitiert Pindar mit: Werde, der du bist! Der Geschlechtstrieb ist der Angriffspunkt für das Prinzip der Körperausschaltung, welche diesen Naturtrieb mittels der Idee des Schönen in die Form der Gattenwahl verwandelt. Der Geschlechtstrieb ist der natürliche Grund für die Erotik des Menschen, welche durch deren ideelle Ausgestaltung das Reich des Schönen eröffnet und entwickelt. Es ist das Reich der ästhetischen Freiheit, und es ist durch die es tragende Idee des Schönen bestimmt. Aus dieser Quelle stammen alle weiteren Schönheitsbereiche. Die Kosmetik unterstreicht das Schönheitsideal und erweitert die Macht des Menschen über sich und seine Erotik. Das Unterstreichen von körperlichen 46 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 486. 47 Ebd., S. 434. 48 Ebd., S. 449: „Ist nämlich alle Kultur aus dem Menschheitsprinzip hervorgesprossen, durch das Menschheitsprinzip bedingt, so heißt das nichts anderes, als daß das Menschheitsprinzip das Kulturprinzip ist.“ 49 Ebd., S. 493. 50 Ebd., S. 478. 51 Ebd., S. 434. 52 Ebd., S. 493. 53 Ebd., S. 506. 54 Ebd., S. 508. <?page no="33"?> Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel 33 Schönheitsmerkmalen lässt sich auf das Bild bzw. Abbild, die Plastik, die Sprache mit und ohne Gesang sowie auf Musik und Tanz - als idealtypische Verhältnisse und Bewegungen - übertragen. Auch körperliche Fitness und Körperpflege finden ihren Ursprung in der menschlichen Gattenwahl, des sie leitenden Ideals und dem in der Idee der Körperausschaltung impliziten Telos des Vollmenschentums. Die Fitness zeitigt bestimmte Körperformen und gibt diese der Idealisierung an die Hand. Des Weiteren lässt sich mittels ihrer eine ethologische Idee, wie die der griechischen Spiele in Olympia kultivieren. Sie führt dem Publikum das Ideal des Sportlers mit seinem Körperbau, aber auch mit seiner Askese und seinem agonalen Ethos vor, generiert Ordnung durch Gruppenbildung, unterscheidet Sieger und Verlierer, stiftet Friedenspflichten, einen Kalender unter den griechischen Stämmen und schafft nicht zuletzt Raum und Motiv für Ehrungen, Erzählung, Feste und Meinungsaustausch unter allen Teilnehmern. Die Körperpflege selbst stiftet ihre eigenen Ideale der Schönheit. Indem sie körperliches Wachstum und Erholung unterstützt, gehen aus ihr nicht nur Kenntnisse hervor, sondern auch Verhaltensweisen wie Ruhe, rekreative Bewegung, spezifische Diäten, Moden und Etikette und nicht zuletzt auch Attraktivität. Die Körperpflege erschafft ihre eigene Askese und ein ihr eigenes Ethos, die aus dem Schönheitsideal entstehen und sich in Kunst und Kultur wiederum manifestieren können. Alsberg widmet in seiner Abhandlung dem Ästhetischen nur wenige Zeilen, man kann jedoch, ausgehend von den Stichworten Gattenwahl, Kosmetik und Körperpflege, die uns bekannten künstlerischen Genres angelegt erkennen, und stringent aus dem von Alsberg benannten Prinzip der Körperaussschaltung entwickeln. Resümee Alsberg gelingt es, den Menschen als primus inter pares unter den Lebewesen zu bestimmen, ohne dabei die gemeinsame Substanz der Lebewesen aufzuheben. Der Mensch ist und bleibt ein Lebewesen unter Lebewesen, doch der Werkzeuggedanke und das Prinzip der Körperausschaltung überformen diese gemeinsame Substanz derart, dass der Mensch in ein Gegenüber zur Natur gerät. Unter den Lebewesen findet sich allein der Mensch in einer Position Welt und Natur gegenüber. Das Schöne gehört dabei wesentlich zu seinem Reich der Freiheit. Wie das Wahre und Gute ist - nach Alsberg - auch das Reich des Schönen Ausdruck jener einsamen Stellung des Menschen in der Welt, und es obliegt ihm, selbst das Rätsel dieser Sonderstellung mit der Entwicklung seiner Fähigkeiten einer Lösung zuzuführen. Das Telos dieser Entwicklung ist die Selbstwerdung des Menschen. Es ist der dynamische Substanzbegriff Alsbergs, welcher die <?page no="34"?> 34 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Entwicklung des Dramas dieser Menschheitsaufgabe wie auch das daraus erwachsende geschichtliche Sein des Menschen ermöglicht. Blicken wir von hier aus auf das eingangs zitierte Gedicht Es un hombre zurück, so können wir eine kurze Geschichte des Menschheitsrätsels erzählen: Ein Mann auf dem Weg durch seine Welt: Va solo por el campo . Im Oye su corazón, como golpea , erlebt er einen Akt der Selbstvergegenwärtigung. Sie überwältigt ihn und schlägt ihn nieder: el hombre se detiene/ y se pone a llorar sobre la tierra . In der Gegenwärtigkeit der Erinnerung an seine Jugend erwacht der Schmerz, Umwelt verwandelt sich in Umfeld und Umgebung: Crece la savia/ verde y armaga de la primavera . Der Mensch wird seiner Vergänglichkeit gewahr, doch er richtet sich wieder auf, frei dem Sonnenuntergang zu folgen: Hacia el ocaso va , und er zieht weiter seines Weges, einsam unter den Lebewesen: un pajaro triste/ canta entre las ramas negras. Er nimmt sein Sein an: Ya el hombre apenas llora , und er versetzt sich so in den Stand, danach fragen zu können: Se pregunta por el sabor a muerto de su lengua , und er beginnt auf diese Weise sich selbst zu ergreifen, getreu des schon erwähnten Pindarschen Mottos: Werde, der du bist! Vorwärts im aufrechten Gang, seinen Schwerpunkt in sich selbst tragend wie seiner Geschichte innewerdend, ist der Alsbergische Mensch in Es un hombre allein unter den Lebewesen frei, nach seinen Grenzen zu streben. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos Die Biologie, eine neue philosophische Modellwissenschaft Das Novum des Denkens, welches Max Scheler seit der Zeit seiner Köllner Vorlesungen von 1922 in der philosophischen Skizze Die Stellung des Menschen im Kosmos kundtun konnte und was ihn zu der Behauptung berechtigte, dass die „Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland“ 55 getreten seien, lag in der Heranziehung einer neuen Modellwissenschaft zum philosophischen Denken: der Biologie. In der Zeit einer Krisis des traditionellen Menschenbildes, innerhalb dessen er entweder als Abbild Gottes oder als selbstverständlicher Träger eines Logos bestimmt worden war, war es ob der neuzeitlichen Wissenschaften (wie der Evolutionstheorie, welche den Menschen als ein wohl komplexeres, gar als den Höhepunkt einer Entwicklung jedoch rein natürlicher Lebensformen auffasste) notwendig geworden, Traditionsstränge neu zu überprüfen. Hinzu kam die Tatsache, dass die verschiedenen Wissenschaften „gewaltige 55 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 6. <?page no="35"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 35 Schätze des Einzelwissens“ 56 vom Menschen erarbeitet hatten, so dass die Zeit reif schien, für den Menschen „eine neue Form seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.“ 57 Demnach musste sich der Horizont der zentralen philosophischen Fragestellung verschieben - nach der ersten anthropologischen Wende durch Sokrates, jetzt eine zweite - und das Lebendige den paradigmatischen Rahmen dafür darstellen. Der Mensch musste nun als Forschungsgegenstand notwendig in den Fokus der philosophischen Untersuchungen einrücken, war er doch das einzige lebendige Wesen, dessen Innenleben, dessen „ Fürsich- und Innesein “ 58 , welches Scheler als „das psychische Urphänomen des Lebens“ 59 bestimmte, ihm selber einsichtig werden konnte. Konsequenterweise musste sich der Blick auf den Menschen grundsätzlich neu einstellen. Mit theologischen oder metaphysischen Kriterien allein konnte er nicht mehr zureichend beschrieben werden. Es bedurfte zusätzlicher, neuer Konzepte, die den im Aufschwung befindlichen Lebenswissenschaften wie der Biologie Jakob von Uexkülls entnommen werden konnten - wie z. B. der zentrale Begriff der Umwelt 60 . Damit rückte der Mensch in den Zusammenhang von Tier und Pflanze - seinen Mit-Lebewesen - ein, und es ergab sich zwingend die Frage der modernen Anthropologie nach der Sonderstellung des Menschen in dieser Welt: das Wort „ Mensch in der Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern […] soll auch einen Inbegriff von Dingen bezeichnen, den man dem Begriffe des ‚Tieres überhaupt‘ aufs Schärfste entgegensetzt […]“. 61 Scheler kontrastiert diesen emphatischen Menschenbegriff, den er den „ Wesensbegriff “ 62 des Menschen nennt, mit einem „natursystematischen Begriff“ 63 und fragt: Ob dieser zweite Begriff, der dem Menschen als solchem eine Sonderstellung gibt, die mit jeder anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleichbar ist, überhaupt zu Recht bestehe - das ist unser Thema. 64 Das Verdienst Schelers war es also, als erster grundlegend neue Konzepte für diese neue Situation in das philosophische Denken eingeführt und die Fundamente dieses modernen Zweiges der Philosophie gelegt zu haben. 56 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 7. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 12. 59 Ebd. 60 Uexküll, Jakob von, Umwelt und Innenwelt der Tiere , Berlin, Julius Springer Verlag, 1909. 61 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 11. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. <?page no="36"?> 36 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Die Fragen, welche Konsequenzen sich aus dieser anthropologischen Wende des Denkens für Ästhetik und Poetik ergeben, sollen hier behandelt werden. Der Gefühlsdrang und die Leiter des Lebendigen Schnell beginnt Scheler in der Kosmosschrift mit der Rekonstruktion der lebendigen Welt, auf deren Stufenleiter er den Menschen an oberster Stelle einordnen wird. Die Grenze des Psychischen fällt für ihn mit der Grenze des Lebendigen zusammen 65 , und er bestimmt für diese neben anderen als dessen wesentliches Merkmal ein „ Fürsich- und Innensein “ 66 . Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt - das psychische Urphänomen des Lebens. 67 Dessen unterste Stufe bilde der „bewusstlose, empfindungs- und vorstellungslose ‚ Gefühlsdrang‘. “ 68 Mit dem Kompositum Gefühlsdrang kennzeichnet Scheler im „Gefühl“ 69 das oben genannte Urphänomen des Lebens, jenes Fürsich- und Innensein , und begründet damit ein erstes Sich-gegeben-Sein des Lebendigen. Zugleich verweist jenes Fürsich- und Innensein auf ein Außen und stiftet im selben Atemzug das Gegenüber des Lebewesens seine Welt oder besser seine ihm zughörige Umwelt. Mit dem Rückgriff auf das Wort „Drang“ - in seiner Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert als „innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls“ 70 - verweist er auf einen makrokosmischen Vorgang, welcher sich als solcher eben auch im Lebendigen abbildet und abbilden müsse. Denn die Wesensstufen des Lebendigen befinden sich für den Metaphysiker Scheler eingebettet in ein Weltgeschehen, innerhalb dessen er dem Menschen als Summe des Lebendigen und des Geistes seine ihm spezifische Rolle zuweist. So fragt Scheler, nachdem er die Leiter des Lebendigen bis zum Menschen erklommen hat: 65 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 12. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Wahrig Gerhard, (Hg. Dr. Renate Wahrig-Burfeind), Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1997, S. 529: „Gefühl (n. 11) 1 Tastempfindung, Tastsinn, Empfindungsvermögen; Empfindlichkeit; innere Regung, seel. Empfindung; innere Anteilnahme; Mitleid .“ 70 Pfeifer, Wolfgang (Leitung, Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Deutscher Taschenbuch Verlag, Berlin, 1993, S. 241: „Mit der Bedeutung ‚innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls’ (enwickelt im 18. Jh.) wird Drang rasch zum Modewort (vlg. Die formelhafte Verbindung Sturm und Drang , Klinger 1776).“ <?page no="37"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 37 Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden - um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen? 71 Damit reserviert Scheler dem Menschen ein „ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.“ 72 Dies ist durchaus als eine kritische Replik auf das Menschbild des homo faber aufzufassen. Er distanziert sich damit auch von einem Menschenbild, welches sich in mechanistischen Metaphern von Stoß und Zug erklärt, und zu deren Urvätern auch Descartes oder Kant gehören. Zugleich jedoch verschließt er sich einem Panpsychismus, da er die unbelebte Materie aus dieser Konzeption des Lebendigen verdammt. Schelers metaphysische Weltkonzeption weist dem Menschen eine tragende Rolle zu. Denn dieser ist als Leben und Geist vereinendes Wesen mit seinem Zentrum der Person aktiver Träger der makrokosmischen Entwicklung, welche sich weder pantheistisch noch panentheistisch als creatio continua 73 der Ens a se geschichtlich realisiert. Es ist der allseits bekannte Gedanke eines teleoklinen Weltgeschehens mit dem Menschen als Erfüllungsfigur. Die spezifische Konstruktion dieses Bildes verdankt sich dem metaphysischen Hintergrund, denn das „Sein der Substanz ist ewig; aber das Dasein Gottes als der Identität des Geistes und der Idee ist nur ein Werden“ 74 . Ein Werden, welches durch den Menschen in der Rolle des Ausführenden eines göttlichen Willens - der sich im Geiste manifestiert - ausdrückt: Der Substanzielle Weltgrund hat zwei Attribute: den Geist und das Leben. (Der Geist realisiert sich in forma von Person; das Leben in Form von Organismen). Sein «Werden» besteht in Vergeistigung des Lebens (Bewegung von oben nach unten) und Verlebendigung (Realisierung) des Geistes (Bewegung von unten nach oben). Der Wille Gottes ist nur das «non non fiat» - nicht das fiat. Darum ist 1. die geistige Gottheit nicht verantwortlich für die Welt. Denn ihre «Macht» war nur negativ; 2. ist das «aus Nichts» vermieden; denn der schöpferische Drang schafft das, was er schafft, aus sich selbst. Der Drang als das realisierende Prinzip ist an sich jenseits von Gut und Böse; gut-schlecht. 75 Die Mechanik des „non fiat“ (hemmen) und des „non non fiat“ (enthemmen) findet sich in der Kosmosschrift als „Lenkung“ des metaphysischen Geschehens mittels des Geistes beschrieben 76 und besteht in dem vom Geist und des- 71 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 48. 72 Ebd., S. 40. 73 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 202. 74 Ebd. S., 208. 75 Ebd. S., 221. 76 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 69. <?page no="38"?> 38 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST sen Ideen geleiteten Willen, welcher sich den unerwünschten Triebregungen und Vorstellungen versagt und ideen- und wertangemessene Vorstellungen dem Trieb zur Realisierung vorsetzt. Der Geist realisiere sich in der vom Drang geschaffenen Welt und verlebendige sich, während auf der anderen Seite der an sich machtlose Geist die Energien aus dem Drang erhielte. Scheler schließt sich mit dieser metaphysischen Mechanik den Ideen Nicolai Hartmanns an, der „die höheren Seins- und Wertkategorien“ von Hause aus für die schwächeren erkläre 77 , und kehrt die traditionelle philosophische Anschauung zur Macht und Ohnmacht des Geistes um. Denn die aristotelische Tradition meinte im nous poietikos 78 ein machtvolles metaphysisches Agens ausmachen zu können. Die Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst ist ohne das Mitwerden der Welt nicht möglich. Indem der [209] Drang - drängte, seinen unendlichen Reichtum an Richtungen in Phantasiebildern zu entladen, wäre doch ohne den Geist nur ein bestandloses Chaos entstanden. Er musste sich Ideen des Geistes und seinen Werten unterwerfen, die der Geist aus seinen unendlichen Möglichkeiten also auswählte, das ein bestandfähiges, ja ein sich Vervollkommnendes zustande kam. Auch die anorganische Welt enthält weder quantitative noch qualitative absolute Konstanten. Sie gleichen dem Chaos umso mehr, je älter die Stufe ist, auf der wir sie betrachten. Die Natur ist an zufälligem Sosein nur das Phantasiespiel der Gottheit als Drang - geleitet durch den Eros, der zu Gestalt und zu Schönheit richtet. 79 Das göttliche Wesen realisiere sich in der Welt mittels des Geistes, dessen Träger, der Mensch, an den Ausführungen jenes Prozesses selbst direkt beteiligt sei. Dies sichere ihm eine Sonderstellung im geschichtlichen Werden der Welt zu, und diese Sonderstellung sei das Resultat der direkten Rückbindung des Menschen an einen „Weltgrund“ 80 , - womit sich seine privilegierte Stellung unter den Lebewesen bestätigte. Es handelt sich bei der Schelerschen Konzeption um eine ausgearbeitete „Metaphysik des Menschen“ 81 . Ausdruck, Empfindung, Wirklichkeit und Wahrnehmung Ausdruck besteht bei Scheler in einer Regung, in einer allgemeinen Veränderung und letztlich in einer Bewegung, durch die sich etwas ausdrücklich zu werden anschickt und bemerkbar macht. Aus dem Gesamt der Eindrücke begin- 77 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 72. 78 Aristotle, On the soul, Parva naturalia, On breath, Loeb Classical Library, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London, England, 1995, S. 170, 430a - 430,25. 79 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 208 f. 80 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 40. 81 Ebd. <?page no="39"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 39 nen einzelne sich herauszulösen. Dabei muss deren Ausdrücklichkeit sich noch nicht wirklich im einzelnen kundtun, sondern kann von der Empfindung vorher schon angemahnt worden sein. Der Ausdruck gehe jedoch der Empfindung voraus, denn der Ausdruck sei ein „ Urphänomen des Lebens“ 82 und aufs engste mit dem empfindungs- und vorstellungslosen Gefühlsdrang verbunden - der untersten Stufe des Lebens -, welcher alle seine Formen durchzieht. Schon im pflanzlichen Dasein gebe es ihn, und er drücke „eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm“ 83 , aus. Der Ausdruck scheint derart grundlegend für das gesamte Leben zu sein, dass es dem Menschen noch heute außerordentlich schwer fällt, die Ausdrucksqualitäten dessen, was er betrachtet, bewusst außen vorzulassen. Der nüchterne wissenschaftliche Blick auf die Naturphänomene ist eine Errungenschaft der Neuzeit, und das Erwachen des menschlichen Bewusstseins kennt in allen Kulturen die Projektion der Innenzustände des Lebewesens Mensch in seine Außenwelt, welche sich durch ihn begeistert und sich mit mythischen Wesen erfüllt zeigt. Auch die Empfindung wächst bei Scheler aus der Bewegung. Sie ist erlittene Bewegung, und er definiert ihre allgemeinste Idee als „Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegung kraft dieser Rückmeldung.“ 84 Der Reflexbogen, den Scheler hier beschreibt, äußert sich in der auf die Empfindung folgende Bewegung, wobei in diesem höchst innigen Zusammenhang noch nicht entschieden ist, in wieweit die Bewegung eine geführte oder irgendeine allgemeine, unbestimmte Bewegung ist. Sicher bleibt jedoch, dass sie eine Folge der erlittenen Bewegung, also Empfindung, ist und sich als ein Tun des Lebewesens äußert. Dieses Tun wird alsdann wiederum empfunden. So schließt und öffnet sich zugleich ein Kreis der anlandenden Empfindung; einerlei, ob durch das Tun des Lebewesens selbst provoziert oder willkürlich erlitten. In seiner Konsequenz jedoch eröffnet sich dem Lebewesen ein Raum, ein Dazwischen, ein freier Raum, zwischen sich und Welt, eine kleinste Fraktur, welche es von der Welt scheidet und dieser gegenüberstellt. Empfindung ist in diesem Sinne eine Zustandsempfindung der Selbstbewegung. So verschieden Empfindung und Bewegung scheinen, erwachsen sie gleichursprünglich mit dem Leben. 82 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 16. An dieser Stelle zeigt sich, dass Ausdruck für Scheler schon auf dieser ersten Stufe des Lebendigen eine jedem lebendigen Wesen innewohnende, immanente Regung und Bewegung darstellt. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 14. <?page no="40"?> 40 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Alle Kunst jedoch entsteht aus geführter Bewegung, aus tätigem Empfinden, einer sozusagen zweiten oder dritten Potenz der Empfindungsmöglichkeiten. Die Voraussetzung dafür finden wir mit Scheler bereits auf der untersten Stufe des Lebens, dem Gefühlsdrang. Selbst die einfachsten Empfindungen, seien nämlich „nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“ 85 Sie seien Ausdruck des Gefühlsdrangs, welcher über die Vermittlung seines Drängens auf Widerstand treffe. Dieses Widerstandserlebnis bestimmt Scheler als den Ursprung der Erfahrung von Wirklichkeit: Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von «Realität», von «Wirklichkeit» ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangängigen Eindrucks der Wirklichkeit. 86 Produktiver Antrieb für die Möglichkeit von Vorstellungen im Innenleben des Lebewesens sei die „triebhafte Aufmerksamkeit“ 87 . Sie sei gleichsam verantwortlich für die Schaffung der Anlage der vorstellenden Funktionen aus dem auf diese Weise aus der Widerständigkeit der Welt geschöpften Eindruck. Die Realität ist in ihrer subjektiven Gegebenheit eine Erfahrung des ungeistigen, triebhaften Prinzips in uns : eine Erfahrung des einheitlichen, wie immer sich spezialisierenden Lebensdranges in uns . Und Realität ist als etwas Objektives und unserem Erfahren Transzendentes notwendig Gesetzheit durch das ursprünglich geistblinde dynamische Prinzip des Dranges - des anderen uns noch erkennbaren Prinzips des Urgrundes selbst. 88 Was sich im Mikrokosmos Mensch abspielt, findet seine Parallele im Makrokosmos und vervollständigt so die metaphysische Konzeption des Schelerschen Welt- und Menschenbildes. Der schöpferische Drang als metaphysisches Prinzip und als Prinzip des Lebendigen erschaffe Realität. Dem Geist, dem zweiten 85 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 18. 86 Ebd., Nicht also aus der Perspektive eines je schon konstituierten Subjektes, sondern aus jener, welche die Bedingungen der Möglichkeit von «Wirklichkeit» für lebendige Wesen überhaupt angibt, wird der Gefühlsdrang hier zur Grundlage für das Haben jener. Die vier Formen des Wirklichkeitsbegriffs, die Hans Blumenberg in seinem Werk: Ästhetische und metaphorologische Schriften , auf den Seiten benennt, gehen dabei schon von einem in seiner Geschichte und Kultur eingebetteten und ausgebildeten Subjekt, bzw. einer Person aus (Blumenberg, Hans, Ästhetische und metaphorologische Schriften , suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1513, Frankfurt a. M., 2017, S. 47ff.). 87 Ebd. 88 Scheler, Max, Erkenntnis und Arbeit, Klostermann Texte Philosophie, Frankfurt am Main, 1977, S. 233. <?page no="41"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 41 Attribut des Urgrundes, fällt dann die Rolle zu, dem darunter sich befindenden Chaos seine ordnenden und zur Vergöttlichung der Welt führenden Werte anzubieten. Für die Erkenntnis bedeutet dies, dass Realsein kein Gegenstandssein ist, in welchem sich gleich ein wie auch immer geartetes Sosein der Dinge ausdrückt, sondern zuerst ein „ vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dasselbe ist.“ 89 Desgleichen heißt dies, dass dieses Widerstandserlebnis eine Erfahrung des aktiven Selbst ist und mit den peripheren Sinneserlebnissen nicht verwechselt werden darf, denn „nicht Empfindungen widerstehen, sondern die Dinge selbst .“ 90 Die Betonung der Aktivität eines Selbst bei der Erfahrung der Realität überhaupt, lässt es als plausibel erscheinen, dass das Lebewesen Mensch, die Realität zuerst als Leibsein begreift, da für es gilt: Das Realsein in der Sphäre « Leibsein » und in der Struktur des Urphänomens « Lebendigsein » ist dem Realsein in der Sphäre «Totsein» (= Mangel an Lebendigsein) so vorgegeben, dass primär und ceteris paribus alles in der Sphäre «Außenwelt» überhaupt Gegebene als leibhaft und lebendig gegeben ist - und dies solange als nicht spezifische ent-täuschende positive Erfahrungsinhalte einiges außenweltliche Sosein als nichtleibhaft und -lebendig, sondern als körperhaft und tot (= ohne ein Für-sich- Sein und Innensein Seiendes) zu besonderem Aufweis bringen. 91 Wenn dem Lebewesen Mensch die Welt zuerst all das ist, was es als lebendiges Wesen selbst ist, so entziffert sich ihm die Welt über das Rissig-Werden dieser vorerst natürlichen Haltung. Eine wesentliche Unterscheidung dabei ist die Erkenntnis eines Anderen des Lebens, des Unbelebten, des Toten oder nur Gegenständlichen. Dieser Vorgang illustriert, was man die Tendenz des Wahrnehmens nennen könnte: Wahrnehmung - das ist ursprünglich nur der Begriff einer Richtung : der Richtung einer mehr negativ-kritischen als einer positiven Tätigkeit; nämlich Kritik und der Negation der ‚Tradition‘ kraft vergegenständlichender Erinnerung, der Kritik und Negation ferner der Fikta der Trieb- und Wunschphantasie auf Grund von Erfolg und Misserfolg des praktischen Verhaltens gegenüber den ‚zunächst‘ mit Wahrnehmungscharakter und Ding- und Bildcharakter gegebenen « fiktiven » Gegenständen. Ein Ende und ein Ziel also ist die Wahrnehmung - wahrlich nirgends der Anfang seelisch-geistiger Entwicklung. 92 89 Scheler, Max, Erkenntnis und Arbeit, S. 237. 90 Ebd., S. 239. 91 Ebd., S. 253. 92 Ebd. , S. 170. <?page no="42"?> 42 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Instinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und Wahl Der dissoziierende Vorgang bei der Entfaltung des Geschehens Wahrnehmung findet sich analog in der Abfolge der seelischen Wesensformen des Lebendigen wieder. War der „Gefühlsdrang“ noch weitgehend einheitlich und undifferenziert - das pflanzliche Leben ist fest mit dem Boden verwurzelt, ernährt sich aus dessen chemischer Analyse und differenziert grob wie zum Beispiel zwischen Licht und Dunkel -, so kennzeichnet Scheler die nächste Stufe des Lebendigen durch den Instinkt und bestimmt ihn als eine art-dienliche Zeitfigur 93 . Eine Erweiterung der Fähigkeiten des Lebendigen, derer die Pflanze in ihrer Verwurzeltheit nicht bedarf, da die Seinsveränderung des lebendigen Wesens im Hinblick auf den Ort durch Selbstbewegung ein Privileg der tierischen Lebensform ist. In diesem Sinne nennen wir „instinktiv“ ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muss erstens sinnmäßig sein, d. h. so sein, dass es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger […] teleoklin ist. Und es muss zweitens nach einem festen , unveränderlichen Rhythmus ablaufen. 94 Das Wort „sinngemäß“ im Zusammenhang mit dem Instinktiven verwundert, ist aber der Idee eines teleoklinen Ablaufs geschuldet, dem Zweck der Überlebenssicherung des Individuums durch von der Spezies aufgebaute und bereit gestellte komplexe Verhaltensweisen. An dieser Stelle erscheint zum ersten Mal die Bewegung als Ortsveränderung in den Formen von einem Zu-hin und Von-weg, von Angriff und Flucht, Attraktion und Repulsion. Der gewachsene Aktionskreis des tierischen Lebewesens spiegele sich in seiner Struktur als komplexerer Aufbau wider. Er bedinge ebensolche komplexere Abläufe im Lebewesen selbst. Zum ersten Mal in der Stufenabfolge des Lebendigen erscheint eine Gesamtheit von Tätigkeiten, welche Scheler in die Formulierung eines „ festen , unveränderlichen Rhythmus“ 95 packt. Da es sich um eine mehrgliedrige Tätigkeit handelt, fügt er hinzu: Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung - nach dem Prinzip, das Jennings das von „Versuch und Irrtum“ genannt hat - erworbenen , gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht . 96 93 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 21. 94 Ebd., S. 20. 95 Ebd. 96 Ebd. <?page no="43"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 43 Scheler unterscheidet sie als angeborene und erbliche von den erworbenen Bewegungen. Der Instinkt sei in die Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert 97 und im engsten Zusammenhang mit ihrer physiologischen Struktur tätig. Als ererbt bedinge er das, was ein Tier vorstellen, erinnern und empfinden könne. Der Instinkt umschließe alle diese Tätigkeiten des Tieres. Er sei in seiner arttypischen Anordnung wie eine Melodie 98 , welche wohl geübt und präzisiert werden könne, aber keine strukturelle Abwandlung erlaubte, ohne dass diese zu ihrer Desintegration führe. Zudem sei er zum einen unabhängig vom Individuum der Art und somit Allgemeingut, zum anderen unabhängig von der Anzahl der Versuche. Der Instinkt sei als Vermögen der Art eine von Beginn an vollständige, teleokline Figur, welche in ihrer Struktur immer gleich abläuft. Insofern gehört seine besondere Ausprägung zur Kennzeichnung der Art, welche in ihrer Umwelt mittels seiner agieren kann. Der Instinkt ist die spezifische Figur eines Tuns und in seiner Mehrgliedrigkeit eine Rhythmusgestalt, welche als ein Urphänomen der Zeitgestaltung begriffen werden kann. Damit wäre der Instinkt ein erstes innerlich gegliedertes und gestaltetes Zeitfragment eines Lebewesens, ein festgelegter Rhythmus, ein erstes inneres Zeitmaß, eine erste innerliche Uhr des handelnden Lebens selbst. Als solcher zeugt er aber auch von der innigen Verbindung eines Lebewesens mit seiner Umwelt, und im Weiteren mit den makrokosmischen Vorgängen, welche die Wechsel in der Umwelt eines Lebewesens mitbedingen. Tatsächlich jedoch ist er Teil eines Gesamtvorgangs in der Natur und somit ein Bruchstück, welches als solches nicht selbst abstrahiert und als Zeitmesser verwendet werden könnte, aber als in einem Lebewesen angelegter Vorgang bestätigt er dessen Vermögen zu gegliederter und gestalteter Zeit. So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sog. «Trieb»handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, dass sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z. B. die Sucht nach Rauschgift). 99 Treten wir aus der Instinktschicht heraus und erklimmen die nächsthöhere Stufe des Lebendigen, so stoßen wir auf „jene Fähigkeit […] die wir als ‚assoziatives Gedächtnisʻ (Mneme) bezeichnen.“ 100 Doch bevor Teile assoziativ neu angeordnet werden können, bedürfe es eines aus dem „biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen“ 101 austreibenden Mechanismus der 97 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 22. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 23. 100 Ebd., S. 26. 101 Ebd., S. 24. <?page no="44"?> 44 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Dissoziation, welchen Scheler in der Großhirnrinde lokalisiert. Relative Einzelempfindungen und Einzelvorstellungen sowie einzelne Triebe treten aus dem im Instinkt noch gebundenen komplexen Verband der Regungen heraus. Es handelt sich um den Vorgang der „ schöpferischen Dissoziation “ 102 . Der Instinkt trete zurück, die Spuren, welche die Umwelt im Lebewesen hinterlässt, vertieften sich, würden plastischer und könnten, ja müssten neu geordnet werden. Dies geschehe durch das „ gewohnheitsmäßige “ 103 , Grundlage des assoziativen Gedächtnisses, welches sich über Probierbewegungen lebensdienliche Strategien aufbaue. Die Probierbewegungen führt Scheler auf einen „Wiederholungstrieb“ 104 zurück, so wie er die Gesetze der Assoziation auf die des Pawlowschen „«bedingten Reflexes»“ 105 zurückführt, deren psychische Seite sie darstellten. Die Assoziationsgesetze von „«Berührung und Ähnlichkeit»“ 106 konfigurieren oder rekonfigurieren die aus einem zerfallenen Gesamtkomplex von Vorstellungen einzelnen Teile. Wie schon vorher bei den Empfindungen gibt es auch hier für Scheler keine reinen Assoziationen, sondern die diese determinierenden Kräfte von Trieben, Bedürfnissen oder auch der Dressur 107 . Und wiederum bemüht er eine historische Parallele, indem er das assoziative Gedächtnis der Mythenkritik als ein Spätphänomen der Menschheitsentwicklung hinzufügt. Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit können also neben innerseelischen Vorgängen auch soziale Beziehungen regulieren. Dann nämlich, wenn aufgrund des Ausdrucksvermögens des Lebendigen, der Artgenossen, sowie der damit verbunden Signale, „«Nachahmung» und «Kopieren»“ 108 stattfinden kann. Es handelt sich hier erneut um den Wiederholungstrieb der Lebewesen, diesmal jedoch angewandt auf Fremdverhalten und -erleben, auf dem der Vorgang beruht. An dieser Stelle erscheint nun erstmalig die Tradition. Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der « Tradition », die zu der biologischen «Vererbung» eine ganz neue Dimension der, Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt […]. 109 Diese müsse jedoch aufs Schärfste von der willkürlichen Erinnerung (Anamnesis) aufgrund von Überlieferung getrennt werden. Außerdem bleibt Scheler 102 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 25. 103 Ebd., S. 26. 104 Ebd., S. 27. 105 Ebd., S. 28. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 29. 108 Ebd., S. 31. 109 Ebd., S. 31. <?page no="45"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 45 dabei, dass die Entwicklung des Menschen grundsätzlich auf „einem zunehmenden Abbau der Tradition“ 110 beruht. In den Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit erkennt man unschwer die Figuren der Metonymie und der Metapher, sei es als rhetorische, stilistische oder strukturalistische oder als philosophisch-erkenntnistheoretische Figur wie bei Aristoteles 111 bis hin zu Karl Eibl 112 und Blumenberg 113 . In Kopie und Nachahmung als Mimesis erkennt man weitere für die Ästhetik grundlegende Prinzipien des Intrapsychischen wie Interpsychischen. Durch die zunehmenden dissoziativen Vorgänge bei der Entwicklung und dem Erklimmen der Stufenleiter des Lebendigen lösen sich die assoziativen Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit kompensatorisch heraus. Sie bilden auch unter äußeren Zwängen und innerem Drängen die Bedingung der Möglichkeit für Re- und Neukonfigurationen von Empfindungen, Vorstellungen, Trieben und Bedürfnissen. Berührung und Ähnlichkeit rühren aus dem Gesamtkomplex der instinktiven Verhaltensweisen und sind als das Angrenzend-Dazugehörige: Berührung und das Sich-überschneidend-Dazugehörige: Ähnlichkeit, bestimmbar. Ihre propädeutische erkenntnistheoretische Natur lässt sich vor allem in ihrer das Sein zwar gliedernde, nicht jedoch durch eine ausschließende Funktionen ordnende erkennen. Berührung und Ähnlichkeit kennen kein tertium non datur . Mit dem Dazugehörigen-im-Angrenzenden und dem Dazugehörigen-im-sich-Überschneidenden (in z. B. Gestalt, Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Fühlen oder Größe, Aufenthaltsort, Menge etc.) ist zwar eine Gliederung als innere Grenze, jedoch kein kategorisch ausgrenzendes Kriterium gegeben. Es gibt noch keinen Horos , kein Definiens , das hier Platz greifen könnte. Es ist die Phylé des Lebendigen selbst, welche in dialektischer Bewegung auf jeder neuen Stufe immer komplexere Differenzierungen und somit immer weitere physische wie psychische Verhaltens- und Repräsentationsweisen der Lebewesen hervortreibt. 110 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 32. 111 Aristoteles, Poetik. (Übersetzt und Herausgegeben von Manfred Fuhrmann). Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982. Poetik 67, 1457bff. 112 Eibl, Karl, Kultur als Zwischenwelt. Edition Unseld SV 20, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2009, S. 132: „Bedeutungsverschiebungen oder Bedeutungsübertragungen sind zentrale Leistungen der Sprache bei der Konstruktion von Zwischenwelten. […] Kulturen bestehen ganz wesentlich aus Metaphern. […] Sie sind unvollständige Induktionen (oder unvollständige Abstraktionen) […] Lange bevor die Ähnlichkeitsrede für rhetorische oder poetische Zwecke eingesetzt wurde, war sie vermutlich ein Mittel der pragmatischen Findekunst durch wissens-(gehalts-) erweiternden Analogieschlüsse […]“. 113 Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie . Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1301, Frankfurt a. M., 1998. <?page no="46"?> 46 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Mit dem Erstarken des assoziativen Prinzips geht der Zerfall des Instinktes einher. Ist der Instinkt ein Charakteristikum der Art, so beginne mit den assoziativen Vorgängen die relative „Herauslösung“ 114 des Individuums aus der Erstarrung des Instinktes. Gleiches gelte für „Triebe, Gefühle, Affekte“ 115 . Löst sich z. B. der Sexualtrieb aus seiner natürlichen Umklammerung und folgt nicht mehr dem Rhythmus des Lebens, kann er sich zu einer selbstständigen „ Quelle der Lust “ 116 und zu einem Zweck wandeln. Konterkariert wird die Befreiung des Seelischen mit dem, was Scheler, „ organisch gebundene praktische Intelligenz “ 117 nennt, die „vierte Wesensform des psychischen Lebens.“ 118 Mit ihr erscheint die „organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung“ 119 . Organisch, da alle diese inneren und äußeren Verhaltensweisen im Dienste der Trieberfüllung oder der „Bedürfnisstillung“ 120 stehen. Intelligentes Verhalten definiert Scheler zunächst „ohne Hinblick auf psychische Vorgänge“ wie folgt: Ein Lebewesen verhält sich «intelligent», wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes - sei es «kluges», sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d. h. «törichtes» («töricht» kann nur sein, wer intelligent ist) - Verhalten neuen weder artnoch indivdualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhafte Aufgabe zu lösen. 121 Steht diese Intelligenz im Dienste geistiger Ziele „erhebt sie sich über Schlauheit und List“ 122 . Auf der psychischen Seite bedeute dies die „plötzliche aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt“ 123 . Mit dem Hinweis auf die Köhlerschen Studien zu Schimpansen diskutiert Scheler, ob diese Art der Intelligenz zumindest einigen wenigen Tieren zugeschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass Köhler mit „vollem Recht […] seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen“ 124 zuspreche: 114 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 33. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 34. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 35. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd., S. 35. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 37. <?page no="47"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 47 […] auch nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus - vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehung der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander , welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zu Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas. 125 Der vom Ziel gepackte Trieb verlängere sich sozusagen in die Umwelt des Tieres hinein und verwandele darin befindliche Dinge in Quasi-Gegenstände zu seiner Erreichung: „Die Triebdynamik des Tieres selbst ist es, die sich hier zu ver sachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt.“ 126 Wir beginnen hier - nach Scheler - „das Kausal- oder Wirkphänomen“ in seinen Ursprüngen zu „belauschen“ 127 . Allerdings handele es sich hier nicht um irgendeine reflexive Tätigkeit, sondern um „eine Art anschaulicher Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. […] Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.“ 128 Der Mensch ist weltoffen Bis zu dieser Stelle der Beschreibung des Lebendigen reichen die von Scheler so genannten seelischen oder psychischen Stufen: „Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl“ 129 und es stellt sich ihm nun die Frage, ob zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller oder ein wesentlicher Unterschied bestehe. Eine Gruppe sehe sich gezwungen einen „überquantitativen Unterschied“ 130 zu machen und den Tieren Intelligenz grundsätzlich abzusprechen, die andere verlängere das oben Beschriebene, was zur Theorie des «homo faber» 131 führe. Beiden Seiten versagt Scheler seine Zustimmung und meint: Das Wesen des Menschen und das, was man seine «Sonderstellung» nennen kann, steht hoch über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit nennt, […] Das neue Prinzip steht außerhalb alles dessen, was wir «Leben» im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum «Menschen» macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens - erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der «Psyche» -, sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben 125 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 36. 126 Ebd., S. 38 127 Ebd., S. 39. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 41. 130 Ebd., S. 40. 131 Ebd. <?page no="48"?> 48 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die «natürliche Lebensevolution» zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das «Leben» ist. 132 Die Griechen nannten diese eine echte neue Wesenstatsache , welche allein auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt, «Vernunft» 133 und statteten sie im nous poietikos 134 mit eigener Handlungsenergie aus. Scheler erweitert diese Vorstellung des « Ideendenkens » 135 um „eine bestimmte Art der « Anschauung », die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mit umfasst“ 136 , und nennt sie « Geist » 137 . Dessen Sitz sei die « Person » 138 , welche nicht zu den psychischen Lebenszentren gehöre. Er charakterisiert Geist vor allem durch dessen „ existentielle Entbundenheit vom Organischen , seine Freiheit, Ablösbarkeit […] von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom « Leben » und allem, was zum Leben gehört - also auch von seiner eigenen triebhaften «Intelligenz».“ 139 In der Folge besitzt also ein geistiges Wesen wie der Mensch eine singuläre, diesen von allen anderen Lebewesen unterscheidende Freiheit. Er sei „umweltfrei und, wie wir es nennen wollen, « weltoffen» : Ein solches Wesen hat «Welt» .“ 140 Das mit Geist begabte Lebewesen Mensch gehe nicht wie das Tier ekstatisch in seiner Umwelt auf, sondern könne das „ Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst “ 141 erfassen, weitestgehend ungestört von den Triebsystemen. Deshalb bedeutete die Begabung mit Geist vor allem das Erfassen der Welt als eine sachliche: „Geist ist daher Sachlichkeit , Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst. Geist «hat» daher nur ein zu vollendeter Sachlichkeit fähiges Lebewesen“ 142 . Vollendete Sachlichkeit heißt hier, im Besitze vollständiger Gegenstandskategorien zu sein, welche es dem Menschen erlauben, einen Gegenstand auch unter veränderten Bedingungen, selbst als veränderten Gegenstand noch identi- 132 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 41. 133 Ebd. 134 Aristotle, On the soul, Parva naturalia, On breath, Loeb Classical Library, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London, England, 1995, S. 170, 430a - 430,25. 135 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 41. 136 Ebd., S. 41, 42. 137 Ebd., S. 42. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 43. <?page no="49"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 49 fizieren zu können. Die Welt löst sich dem Menschen nicht in triebbestimmte Beziehungen auf, sondern ihre Gegenstände bleiben isoliert und bestimmbar. Der geistbegabte Mensch kann sozusagen durch sich hindurch, unter Hintanstellung seiner selbst auf die Welt hin blicken. Was er sieht, weise zugleich über sich hinaus in eine Offenheit, welche den Bann der tierischen Umwelt hinter sich gelassen habe. Im Blick des Menschen eröffne sich nun zugleich das, was hier und jetzt nicht zu sehen ist, das Nichtanwesende, die Negation des positiven Teiles der erfahrbaren Welt: Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße «weltoffen» verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes. 143 Der Geist ist das Organ, vermittels welchem der Mensch mit dem Weltengrund direkt und vor allen anderen Lebewesen verbunden sei. Es sei der Geist, der ihm echte Einsicht in den Aufbau der Welt gewährt, da der Geist durch das Handeln des Menschen, seines non non fiat , der Welt als Drang entsagt und so dem Geist die Energie verleihe, den Weltengrund zu erkunden. Im Menschen träfen sich Geist und Leben. Der Mensch ist nach Scheler kein vom andrängenden Leben auf einer ihm sich als Widerstand offenbarenden Welt hin fortgetriebenes Wesen, sondern (anders als bei Alsberg in der Durchführung seiner intelligiblen Instrumentenmacherkunst sich weiterentwickelndes Tier) eines, welches die Einheit dieses und ein dem Leben entgegen gesetzten Prinzips, des asketischen Prinzips des Geistes, der mit Einsicht in den Wesensgrund der Welt jenen Drang so zu regieren wisse, dass er in actio der natura naturans des sich entwickelnden Göttlichen mittue 144 und der Welt auch ihr innerstes Leben ablausche, darstelle. Das Schelersche Lebewesen Mensch ist ein anthropos metaphysikos , ein Wesen also, welches im Unterschied zu allem übrigen Leben als einziges qua seines Geisthabens Einsicht in die Wesenszusammenhänge besitzt. Kein werkzeugintelligentes Tier also, sondern mit Selbstbewusstsein ausgestattet erscheint der Mensch. Dieses Selbstbewusstsein ist das Resultat einer „zweiten Dimension und Stufe des Reflexaktes“ 145 und zugleich der Vollzug des ungegenständlich Geistigen, welcher allein im Akte der Sammlung erreicht werden kann. Sammlung, Selbstbewusstsein und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden eine einzige unzerreißbare Struktur , die als solche erst dem Menschen eigen ist.“ 146 143 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 44. 144 Ebd., S. 102. 145 Ebd., S. 45. 146 Ebd., S. 46. <?page no="50"?> 50 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Mit der Fähigkeit zur Gegenständlichkeit sowohl seinem Körper wie der Welt gegenüber, kann der Mensch die für seine Beziehung zum Weltengrund entscheidende Frage stellen: Warum ist Etwas und nicht viel mehr Nichts? In dieser Frage ließen sich alle Fragen nach den jeweilig einzelnen Wesen zusammenfassen. Es ist die Frage nach dem to ón dem höchsten allgemeinen Seinsbegriff sowie nach dessen umfassender allübergreifender Ordnung 147 . Nichts anderes bedeutet die Schelersche Wesensschau als die Einsicht in diese Ordnung via Reduktion der Vielfalt der Welt auf Exempla dieser und deren Ansicht als Ideen. Der Künstler und der Metaphysiker Zwingend muss Scheler die Existenz eines „ übersingulären Geistes “ 148 annehmen, wenn er „eine in dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom menschlichen Bewusstsein annehmen und dem Urseienden selbst als eines seiner Attribute zuschreiben“ 149 möchte. Da Akt und Idee bei ihm in einem Wesenszusammenhang stehen, resultiert aus dieser Mechanik der „Weltrealisierung“ 150 und dem entsprechenden menschlichen Mitvollzug der Zusammenfall von „Auffinden“ und „Entdecken“ 151 , ein „wahres Mit hervorbringen“ 152 aus dem „Zentrum und Ursprung der Dinge selbst heraus“ 153 . Die Klammer, welche die Welt als drängenden Willen einerseits und ordnenden Geist andererseits zusammenhält, verbürge, dass auch der Mensch als Leben und Geist in sich fassendes Wesen sich auf den Urgrund dieser Dynamik zurückbeugen könne, Einsicht in dessen Entwicklung genieße und es ihm ermöglicht werde, tatkräftig daran mitzuwirken. Die Figur des Künstlers ist demnach eine der sozialen Typen - wie auch der Philosoph etc. -, welche neben Gott diese Einsicht in Werke umzusetzen wisse. Der Mensch als Künstler besitze weit über das übliche Erkenntnisniveau der Menschen allgemein hinaus quasi göttliche Einsicht in den Weltengrund und teile diese durch sein Werk der Menschheit mit. An der Figur des Künstlers bestätigt Scheler in ausgezeichneter Weise seine Ausgangsthese, dass die Wesensbestimmung des Menschen als ein Sonderfall in der Welt des Lebendigen zu Recht bestehe. Denn als homo faber wisse der Künstler zweckgerichtetes Handeln umzusetzen, ein Werk zu erschaffen, und als anthropos aesthetikos metaphysikos besitze er echte Einsicht in die Wesens- 147 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 99. 148 Ebd., S. 54, siehe auch S. 102ff. 149 Ebd., S. 54. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Ebd. <?page no="51"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 51 zusammenhänge. Das berühmte Kantische Diktum des Künstlers als Genie 154 , dessen ingenium der Kunst ihre Gesetze vorzuschreiben wisse, erfährt hier eine der möglichen Auslegungen, denn der Schelersche Künstler lässt die Gesetze der Welt aus einer Einsicht in die Wesenszusammenhänge heraus in sein nach ästhetischen Kriterien erschaffenes Werk einfließen, welches als idealische Einheit zwar selbst keine Welt schafft, sondern nur bildet, „ was nicht da ist, was aber «würdig» wäre, «verdiente», da zu sein nach gewissen ästhetischen Wertideen.“ 155 . Beide, der Künstler und der Metaphysiker bedienen sich zur Erlangung ihrer Einsichten bzw. Ideen - was Scheler für den Künstler „conceptio“ 156 nennt - der Methode der „Daseinsreduktion […] d. h. durch bewusste Zurückhaltung alles «Begehrens», im Verhältnis zu welchem Welt nur als «real» gegeben ist.“ 157 Das Ziel des Metaphysikers sei die Erkenntnis des Ganzen, das des Künstlers das Werk, welches er als „ein kleiner Gott - schafft […] eine Welt - aber im Kleinen […] in der Zeichensprache der Qualitäten der verschiedenen Sinne und nach den Gesetzen dieser Zeichensprache für jede Kunst eine eigene.“ 158 Allerdings leiten den Künstler dabei seine „ästhetischen Wertideen“ 159 . Der Künstler begibt sich also „an eine Werdestelle der Welt“ 160 , wo er dem Grunde der Dinge ansichtig werden konnte, noch bevor „sie das «fiat», der rational undurchdringliche Wille noch nicht so oder anders ins Dasein setzte, da sie nur ihrem Wesen und ihren Ideen nach vor seinem Geiste gleichsam ausgebreitet lag.“ 161 Seine Kunst besteht darin, das Erschaute in der geistigen Objektivierung des Geschauten zur Darstellung zu bringen, sei es als Maler, als Bildhauer oder Dichter etc. Den Prozess der Objektivierung beschreibt Scheler als: 154 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft , Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1974, § 46, S. 160: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage ( ingenium ), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ 155 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 32. 156 Ebd., Bd. 2, S. 37. 157 Ebd. S. 35. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 32 160 Ebd., S. 35. 161 Ebd. <?page no="52"?> 52 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST […] er steigt vom Keime eines gegebenen Urphänomens herab und exemplifiziert das Urphänomen an dieser konkreten Gestalt, die er als ideales Bild frei erschafft. 162 Allerdings erlange der Künstler selbst erst die wirklich volle Einsicht in das ihm in seiner conceptio ursprünglich nur „keimhaft“ 163 Gegebene allein im Prozess und „ kraft des Darstellungsprozesses selbst“ 164 , durch die Arbeit nämlich an der Materie, dem Malen, Bilden oder der „Wortfindung“ 165 . Im Prozess der „darstellenden Exemplifizierung“ 166 gewinnt der Künstler die Gestalten, welche am Ende das Werk ausmachen werden. Nicht also lässt der Künstler im Werk schlicht Wesenheiten anschaulich werden, sondern „ nur die ästhetisch-werthaltigen “ 167 , die ausgewählt werden durch die Führung der „ästhetischen-geistigen Augen unseres Herzens“ 168 . Die Beteiligung unseres Herzens an der Auswahl des ästhetisch Wertvollen deutet schon darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Aufgabe des reinen Geistes oder der Vernunft handelt. Weit davon entfernt, denn schon in der elementaren Anlage des Menschen - der Physiologie seiner Nervenwege - für die natürliche Wahrnehmung spielt die Selektion eine Rolle: Unser inneres Gesetz ästhetisch-triebhafter Aufmerksamkeit «wählt» gleichsam (ohne und vor bewusster Wahl) aus den Empfindungsmöglichkeiten diejenigen zur Realisierung der aktuellen Empfindung aus, die Teilelemente «guter» d. h. prägnanter Gestalten sind. 169 Soweit die physiologische Grundlage der ästhetischen Intervention in das Leben der Lebewesen allgemein. Diese bildet jedoch nur den Hintergrund jedes künstlerischen Umganges mit den Materialien, auch den imaginären, welche die Physis dem Menschen bereitstellt. Der Künstler nimmt - im Sinne Schelers Menschbild - gegenüber diesen eine asketische Haltung als Neinsager zur Triebhaftigkeit ein, um erst aus dieser Distanz heraus, sich ihnen wieder zuzuwenden. Dennoch behauptet Scheler in der Kosmosschrift: Was im Menschen im eigentlichen Sinne schöpferisch mächtig ist, ist nicht das, was wir «Geist» (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewussten Triebmächte der Seele, und dass die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens und der Gruppe vor allem von der Kontinuität dieser Vorgänge und 162 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 37. 163 Ebd., S. 32. 164 Erkenntnislehre und Metaphysik , S. 37. 165 Ebd., S. 38. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 40. 168 Ebd. 169 Ebd. <?page no="53"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 53 ihrer symbolischen Bildkorrelate abhängt - wie auch der dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als vielmehr er den Gang der Geschichte weitgehend bestimmt. 170 Scheler lässt hier die an der Kreativität beteiligten Kräfte im Menschen zwischen der Triebaskese des Geistes und dem ekstatischen Wesen des Drangs hin und her gehen und markiert so den Moment, an dem beide Extreme biologisch wie metaphysisch im Menschen vereinigt als „aufeinander hingeordnet“ 171 betrachtet werden können. Er steht damit in der Nachfolge Nietzsches aus der Geburt der Tragödie , mit dem Unterschied, dass die Kräfte des Apollo und des Dionysios sich nicht im Konflikt begegnen, sondern sich in der teleoklinen Entwicklung der Welt ergänzen. Beide sind es auch, welche dem Menschen strukturellen wie tätigen Anteil an dieser Entwicklung gewähren. Allerdings wird dem Geist abgesprochen Macht zu besitzen. Diese kommt allein den unterbewussten Triebmächten der Seele zu, doch kann der Geist ordnend und lenkend auf diese einwirken, wie wir aus der Dialektik erkennen können, welche Scheler dem Mythos sowohl als Produkt wie als Agens der Geschichte einräumt. In der dialektischen Bewegung beider Prinzipien, dem des Geistes und des Dranges, wird der Kunst als darstellender Erkenntnis und Vermittlung von Scheler auch Geschichtsmächtigkeit zugesprochen. Die Leistung des Geistes nach Scheler besteht darin, dass dieser der „ursprünglichen produktiven Einbildungskraft […] durch das Triebleben der Vitalseele“ 172 angetrieben in kritischer Korrektur und Auslese immer mehr an Reife abgewinnt und dem Menschen so die Möglichkeit eröffnet, der Welt ganz allgemein als Erkennender zu begegnen, ihm andererseits aber auch - indem die noetischen Akte des Geistes in den Dienst der Kunst gestellt werden -, das poietische Schaffen im Dienste künstlerischer Erkenntnis ermöglicht. Der seelische Schauplatz dieser Vorgänge ist das Reich der Phantasie. Die Phantasie Phantasie definiert Scheler als eine ursprünglich produktive Einbildungskraft 173 und „höchste vorstellende Funktion, zu der es die Vitalseele bringt“ 174 , von Trieben angestoßen, vom Geist geleitet. Sie ist ihm als pure Phantasie „eine 170 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 93 u. 94. 171 Ebd., S. 97. 172 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 44 f. 173 Erkenntnislehre und Metaphysik , S. 44. 174 Ebd., S. 42. <?page no="54"?> 54 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST ideen-wert-wahrheit-falschheit-wissens-täuschungsblinde Fähigkeit der Vitalseele“ 175 . Schon die natürliche Wahrnehmung besteht für Scheler aus der Dreiheit „Empfindung + Gedächtnis + Phantasie“ 176 . Durch kritische Intervention des Geistes werde die lebendige Phantasie gezügelt und der Mensch lerne nach und nach unter der von ihr bereit gestellten Bilderflut (auch Gefühlsphantasie, Strebensphantasie 177 ) diejenigen auszuwählen, welche ihn zur Beobachtung, die erst das Resultat eines langen Reifungsprozesses sei, führten. Wir treffen hier wieder auf die These der Dissoziation als des eigentlich für die Menschwerdung entscheidenden evolutionären Vorganges. Das evolutionäre Sonderprodukt Mensch weiß grundsätzlich - im Unterschied zum sich immer ekstatisch verhaltenden Tier -, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die „seltsame Fähigkeit“ 178 des Menschen Gegenstände zu erschaffen, die «ficta» heißen und die, obzwar sie kein anderes Sein haben können als jenes daseinsfreie So-sein, das auch - obzwar nicht nur - bewusstseinsimmanent ist und Bewusstseinsimmanentem immer zukommt, sich doch vom Augenblicksbewusstsein, in dem sie zuerst auftauchten, ja sogar von individuellen Bewusstsein loslösen können, dann durch eine Mehrheit von Akten identifizierbar sind, ja sogar von vielen Individuen identisch gehabt werden können. Die Zahl 3, das Dornröschen, der Gott Apollo als kollektives fictum des griechischen Volkes z. B. sind ficta.“ 179 Die Phantasie schließe den offenen Raum, der „zwischen «Wesenserkenntnis» und «zufälliger Erfahrung» (Sinneserfahrung) gähnt.“ 180 Sie sei indifferent gegenüber Wahr und Falsch. Aber nach Scheler kann man mit Hilfe der Vorstellung durchaus „etwas bemerken“ 181 , was in der akuten Wahrnehmung verborgen bliebe. Die Phantasie sei also unter kritischer Anleitung des Geistes der Erkenntnis förderlich. Doch in ihrer Unabhängigkeit gegenüber Wahrheit und Täuschung sei sie das Reich der Freiheit für die Kunst; sie sei das Agens für die Schau der Ideen, worin wie oben erwähnt die Zahl 3 oder das Dornröschen für alle identisch geistig geschaut werden könne. So hält sie für die Kunst die Möglichkeit parat, ihr Material so zu bilden, dass es sowohl als Identisches wie als Vielfältiges betrachtet werden kann. Das künstlerische Werk könne vermittelst ihrer zwischen Einheit und Vielfalt oszillieren, solange es der Künstler vermag, eine wesentlich erkennbare Identität zu stiften. Diese grundsätzliche Ambivalenz 175 Erkenntnislehre und Metaphysik , S. 42. 176 Ebd. 177 Ebd., S. 44. 178 Ebd., S. 41. 179 Ebd. 180 Ebd., S. 43. 181 Ebd., S. 42. <?page no="55"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 55 des künstlerischen Werkes findet ihre Entsprechung in der Rückbindung bzw. Exemplifizierung der künstlerischen Einsicht in das künstlerische Material, welches per se Vielfalt ist, denn es stammt aus dem bildschaffenden metaphysischen Prinzip des Dranges, der im Grunde nur Chaos 182 und keine Ordnung sowie der damit verbunden Möglichkeit der Identität eines Gegenstandes kennt. Denkt man sich den Schelerschen übersingulären Geist an der Realisierung der Welt durch den Drang und mit Hilfe des Menschen am Werke der Geschichte, so fragt man sich bei der Vielfalt und Kontingenz der Erfahrungswelt nach den unterschiedlichen Aufgaben, welche die Menschheit als unterschiedenes Ganzes dabei übernehmen kann. Dem schafft Scheler durch eine Analyse nach Kriterien sozialer Konvenienz Abhilfe. Er unterscheidet neben der Masse der Menschen, welche immer anonym dazu verdammt sei zu folgen, nach der Kategorie des „Vorbildes“ 183 und der Nachahmung die Typen des „Heiligen, der geistigen Werte, des Edlen, des Nützlichen und des Angenehmen“ 184 und bestimmt sie als Träger apriorischer 185 Wertideen. Diese Typen des Menschlichen stehen jedem einzelnen als Vorbilder zur Verfügung und jeder Typ für sich genommen stelle einen möglichen Weg für den Menschen dar, damit er durch die Nachfolge die Enge seines individuellen Bewusstseins überkomme. Die Vorbilder seien ideale Wertgestalten, in die sich die Einzelnen in der Nachfolge hineinbildeten und sich somit entwickelten. Die unterste Stufe der Übergabe der Vorbilder wäre nach Scheler ein „dunkler physischer Vorgang der Vererbung“ 186 , doch die Geschlechtsliebe - nicht der Geschlechtstrieb - besitzt nach ihm eine teleologische Tendenz und führt den Liebenden zum passenden Partner, um die entsprechend passenden Erbwerte in der Nachkommenschaft zu entwickeln. Die Tradition stehe „zwischen Vererbung und verstehender Aufnahme (Belehrung, Erziehung) in der Mitte“ 187 . Im Tradierten vermeine man, das Eigene zu tun und zu erkennen. Es sei die unwillkürliche nicht bewusste Nachahmung, welche die Tradition als Form bestimme. Der dritte Modus der „Vorbildwirksamkeit heißt geistiges Verstehen und darauf fußender « Glaube an » Personen.“ 188 Erst hier komme ein bewusstes Verwerfen oder Anerkennen der Werte und Akte des 182 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 75. 183 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. I, (Hg. Manfred S. Frings und mit einem Anh. von Maria Scheler), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1986, S. 262. 184 Ebd. 185 Ebd. 186 Ebd., S. 271. 187 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. I, (Hg. Manfred S. Frings und mit einem Anh. von Maria Scheler), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1986, S. 271. 188 Ebd., S. 273. <?page no="56"?> 56 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Vorbilds ins Spiel und erst auf dieser Stufe könne man von „freier Nachfolge “ 189 sprechen, als welche das große Vorbild die Nachfolge Christi 190 benannt wird. Der Künstler schaffe in seinen Werken die Vorbilder für die Nachahmung, wie den Helden im Mythos, und er schaffe damit zugleich auch die Schemata, welche als handlungsleitende Vorbilder eines Volkes oder einer Kulturgemeinschaft rückwirkend auf dessen Geschichte Einfluss nähmen. Dennoch bleibe die freie Nachfolge der künstlerisch angebotenen Vorbilder durch den Werkcharakter der Schöpfungen, welche als solche Symbole der Eigenwelt des Künstlers sind, bestimmend. Kein kollektiver Zwang vermöge es, eine ästhetische Wahl wahrhaftig zu beeinflussen. Die Freiheit der Nachfolge werde durch das Wesen des Werkes garantiert. Ist Eros das „Leben des Lebens“ 191 , so ist der genialische Eros der Geist des Geistigen. Er ist der „ positive Akt einer geistigen Liebe zur Welt “ 192 und das „positive Bewegungsprinzip des Geistes“ 193 , welches dem Fundament der genialischen Anschauung der Welt zugrunde liege. In kritischer Zurückweisung der Schopenhauerschen und Kantischen Interesselosigkeit als Grundlage für die kognitive wie ästhetische Betrachtung, welche nach Scheler schließlich das „Verschwinden aller Inhalte“ 194 zur Folge hätte, gilt für ihn die “Grundgesinnung“ 195 der genialischen Seele als eine der Welt schlechthin zugewandte. Der Metaphysiker und Phänomenologe Max Scheler ist in seinem Inneren ein Erotiker des Lebens und hinsichtlich der Kunst gilt für ihn, dass ihr Ursprung in der Feier des Lebens zu suchen sei 196 und nicht wie von einer Gesellschaft mit „Magenproblemen“ 197 behauptet in der Arbeit. Für Scheler ist es die Überfülle des Lebens, das Fest: Die künstlerische Tätigkeit, die in der Ausdruckstätigkeit wurzelt - schließlich die objektive Ausdruckstätigkeit ist, die in der drängenden Kraft der Selbstrealisierung des Konzeptionsgehaltes liegt -, ist sicherlich zuallerst Ausdruck des erotischen Gefühls. Der « Luxus » der Ausdruckstätigkeit spielt hier zuerst die entscheidende Rolle. Liebeslied, Liebesgesang als Erinnerung und Dauerhaftmachung oder als Erwartung des Festes der Vereinigung mit der Geliebten ist die erste Form der Kunstübung. 198 189 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. I, (Hg. Manfred S. Frings und mit einem Anh. von Maria Scheler), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1986, S.273. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 331. 192 Ebd., S. 307. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Ebd., S. 264. 196 Ebd., S. 333. 197 Ebd. 198 Ebd. <?page no="57"?> Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos 57 Kunst und Realität Die Bestrebungen des Typus Mensch als Genius richteten sich überdurchschnittlich „in geistiger Liebesleidenschaft auf das Wesenhafte und Ideenmäßige der Welt“ 199 . Sie richteten sich auf „den Logos der Welt“ 200 , den Scheler als „die ewigen Gedanken Gottes in der Schöpfung“ 201 beschreibt. In den Händen des Künstlers werde dieser Logos zur „geistgewordenen Form“ 202 . So wird der Künstler ein Vorbild in der Erkundung und Feier des Reichtums der Welt. Er ist nicht deren Maître de cérémonie , sondern ihr erfindungsreicher Ausrichter. Damit lehrt er seine Festteilnehmer das sinnliche und geistige Erfassen der Welt im Symbol seiner - des Künstlers - Schöpfung, seines Werkes und bereichert so auch ihr seelisches Leben im „Nachvollzug seiner Darstellungsprozesse, seiner (des Weisen) Haltung, Lebens- und Seelentechnik.“ 203 Mit der Schaffung neuer Werke vermehre der Künstler das geistige Kulturgut des Menschen, welches „den objektiven Wert der Welt dauernd vermehrt “ 204 . Der natürliche Mensch, schreibt Scheler 205 , ist von den Täuschungen, welche ihn beherrschen und bedrängen, befangen, der Künstler in Gestalt des Dichters jedoch durchbreche diese Schicht, indem er den Drang, der sich in den verkrusteten Formen der Sprache manifestiere, hemmt und zum inneren Sinn 206 der Sprache vorstoße. Die wahre Dichtung lehrt uns - weit hinaus über den Gehalt der Dichtung -, überhaupt formvoll zu erleben, das Unmittelbarste unserer seelischen Betätigung zu ergreifen - die Seele als werdende , als erlebende. 207 Das Anhalten des vorbeiziehenden Lebens in künstlerischen Formen und Gestalten und damit dessen Betrachtungsmöglichkeit sei in der seelischen Vertiefung, welche ein derartiges Erleben mit sich bringe, selbst die höchste Vollendung des Lebens im Augenblick „der Konzeption“ 208 . Im Kunstwerk werde die „Konzeption - als Beispiel für andere“ 209 dargeboten. Und in diesem Augenblick treffe sich der Gipfel des Lebens mit dem Beginn der Kunst: 199 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , S. 325. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 331. 203 Ebd., S. 333. 204 Ebd. 205 Ebd., S. 335. 206 Ebd. 207 Ebd., S. 336. 208 Ebd. 209 Ebd. <?page no="58"?> 58 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Zuerst war die Seele stumm, blind, - mehr die Möglichkeit der Seele als Seele. Die erste künstlerische Tätigkeit - der Liebe entlang gehend - brachte sie zur Realisierung, zum abgegrenzten Erlebnis - wie Bedeutung die Einheit der Wahrnehmung, der Vorstellung ausmacht. 210 Der Künstler sei nur die Spitze einer Funktion, welche im Inneren des Menschen die Tätigkeit eines jeden einzelnen ist und dieses „seelische Geschehen ist - realiter - nur die andere Seite unserer vitalen Tätigkeit.“ 211 Voraussetzung dieser Konstruktion ist die Annahme, dass die Substanz der Welt, das hypokeimenon , eine dynamische ist, welche sich in Form von Geschichte entwickelt. Resümee Noch hängt die Beschreibung des Menschen bei Scheler an einer metaphysischen Konstruktion. Doch der Weg, die Erscheinung des Menschen aus der Immanenz der Welt denkbar werden zu lassen, ist in seinem kurzen Entwurf Die Stellung des Menschen im Kosmos unverkennbar vorgezeichnet. Jenes Sein, welches wir Geist nennen, vollzieht nach Scheler einen asketischen Akt der Entwirklichung oder anders ausgedrückt, einen Akt der Einverweltlichung. Er lockert und bereichert die Welt in ihrer Substanz als eine dynamische. Im Menschen - im Künstler nach seiner Art-- verklammern sich Geist und Leben und arbeiten im Verein an der Welt. Das Haben von Vorstellungen bei Scheler, vom Gefühlsdrang gespeist und Resultante einer vorgängigen triebhaften Aufmerksamkeit wie zudem eines höchst innerlichen Zusammenhangs zwischen Tun und Leiden, wobei Tun das Erstere ist, bezeugt ein für den Menschen mittelbares, durch sich selbst geführtes Weltverhältnis. In der Eigenbewegung des tierischen Lebens verliert dieses das strenge Verhaftetsein der Pflanze an ihrem Ort- - in ihrem Sein. Diese erweiterte Bewegungsform - nicht mehr nur Selbstausdehnung - und Lockerung des Seins verlangt nach einer Veränderung der inneren Struktur. Der Organismus antwortet darauf mit dem Auftreten des Instinktes. Scheler bestimmt ihn als eine teleokline, mehrgliedrige Zeitgestalt, als „Rhythmus“ 212 . Er dient zur Lebenssicherung. Also schon bei den Wurzeln des Lebendigen selbst, erscheint der Rhythmus als gegliederte, teleokline Zeitgestalt, als Figur der geordneten und zielgerichteten bewegten Bewegung und als Anker des Lebenswesens im Sein. 210 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre, S. 337. 211 Ebd. 212 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 20. <?page no="59"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 59 Die Lockerung des lebendigen Seins ist Bedingung und Möglichkeit von Kultur und das Haben von Realität zugleich. Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 213 Der Mensch oder die ontologische Leerstelle auf der philosophischen Bühne Um das Denken Helmuth Plessners auch nur in seinen Grundzügen zu beschreiben, ist es unumgänglich, sich zurück zum Urheber der philosophischen Moderne zu begeben, zu René Descartes. Als dieser die Welt in res cogitans 214 und res extensa unterteilte, musste das lebendige Wesen Mensch dadurch notwendig aus dem Blickfeld der Philosophie geraten. Denn zwischen Geist ( esprit ) und Materie zerfiel das Lebendige in entweder Psyche oder Ding, welche entweder den reinen Gesetzen des immateriellen Daseins, des Denkens, Wollens und Vorstellens, oder den Gesetzen von Stoß und Zug, den Gesetzen der Mechanik allein gehorchten. Zwischen beiden Substanzen entstand eine unüberbrückbare Kluft, eine ontologische Leerstelle, ein Chorismus, welcher keinen Übergang erlaubte. Die Lebewesen, wie auch der Mensch als Körperding, wurden zur unbelebten Materie gerechnet, welche allein mit dem Geist, dem Pneuma verkoppelt-- dies gerann Descartes selber noch zur Substanz 215 - bewegt werden konnte. Damit war das Lebewesen Mensch als Studienobjekt vom philosophischen Denken ausgeschlossen. Die Probe aufs Exempel liefert Kants Schrift zur Anthropologie, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 216 , welche der allgemeinen Welterkenntnis diente, in seine philosophische Systematik jedoch keinen Eingang fand. Für Kant blieb die Anthropologie eine grundsätzlich empirische Wissenschaft und konnte deshalb kein Fundament für systematisches Philosophieren sein 217 . Auch das eine der möglichen Konsequenzen aus dem Descartschen Dualismus. 213 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , Gesammelte Schriften Bd.: III. 214 Descartes, René, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie , Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1986, S. 82/ 83. 215 Landsberg, Paul L., Einführung in die Philosophische Anthropologie , Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1962, S. 175 ff. 216 Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Felix Meiner Verlag, Göttingen, 2000. 217 Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2008, S. 13. <?page no="60"?> 60 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST All dies führte zur Abwesenheit des Menschen auf der philosophischen Bühne. Plessner macht nun den Versuch dies zu ändern. Er findet im Menschen selbst den Schlüssel zur Verklammerung der von Descartes so streng getrennten Welten und vereint ihn wieder mit dieser. Eine Aufgabe, vor der die Philosophie seit dem Dualismus Descartes den Mut verloren zu haben schien 218 . Es geht Plessner also um den Menschen „als Objekt und Subjekt seines Lebens“ 219 und nicht um den Menschen als ein aus res cogitans und res extensa Zusammengesetztes, sondern um jene „psychophysische indifferente oder neutrale Lebenseinheit“ 220 , um den Menschen „»an und für sich«“ 221 . Plessner entwirft eine Anthropologie des Lebendigen als regionale Ontologie des lebendigen Daseins und begründet somit im Weiteren die Bedingungen der Möglichkeit für die Beschreibung des Menschen als Menschen. Er erhält damit zugleich den Ausgangspunkt für eine systematische Philosophie, welche ihrerseits wiederum in einen erweiterten, das allein Menschliche überschreitenden Zusammenhang in einer Ontologie des Lebendigen überhaupt mündet. Auf diese Art gelangt man zu einer Naturphilosophie des Lebendigen sowie dem In-der-Welt-Sein des Lebewesens Mensch. Konstruiert man jedoch den Menschen aus seiner Welt und seinem Milieu heraus, was nichts weniger bedeutet, als die materialen Voraussetzungen - Stoff und Verhalten als Lebewesen - zu den alleinigen Bedingungen seines Seins zu machen, so stellt sich ganz von selbst die Frage nach den Gegenständen des Geistigen, ihrer Gegenwart, Erscheinung und Schöpfung. Es stellt sich die Frage nach dem Geist im Allgemeinen, und im Besonderen nach dessen Verhältnis zur Materie. Antwort auf diese Frage sucht Plessner in seinem Buch Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes von 1923 und später in seiner Die Anthropologie der Sinne von 1970 zu geben. Schon der Titel des 1923 verfassten Buches als Ästhesiologie des Geistes gibt die Richtung der von ihm vorgeschlagenen Lösung des Geist-Körper-Chorismus an. Er erklärt: Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. Sie zeigt, dass zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien nötig und warum keine anderen möglich sind. 222 218 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 14. 219 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch . Einleitung in die philosophische Anthropologie , S. 70. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 278. <?page no="61"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 61 Die Ästhesiologie des Geistes und der Sinn der Sinne Plessner sucht die „Sinnengesetze der Sinnlichkeit“ 223 zu ergründen und, in diesen Gesetzen des Verschränktseins von Geist und Sinnen, den Weg kenntlich zu machen, der das Konjunktum res cogitans - res extensa überwinden soll. Immanuel Kant hatte - darin den Rationalismus des kausativen Schemas der „Affektion“ zwischen Subjekt und Objekt überwindend - in seiner kritischen Philosophie mit der Einführung des Schemas 224 als Brücke zwischen einer Eigengesetzlichkeit der Sinnlichkeit gegenüber Verstand und Vernunft 225 eine neue Beziehung zwischen intuitivem und kognitiven Geltungsbereich 226 gestiftet und das „Geheimnis der gegenständlichen Beziehung des Bewusstseins“ 227 durch die Sinne auf eine neue Basis gestellt. Damit rückte die Anschauung ins Zentrum der erkenntnistheoretischen Betrachtung. Denn die Gesetze, nach denen sich ein Gegenstand dem Bewusstsein gegenüber formiert, mussten nun - als innere oder äußere - notwendig zum Sinn der Gegenständlichkeit selbst gehören, darstellbar in Raum und Zeit oder allein in der Zeit. Damit auch gewann die Vorfindbarkeit des Gegenstandes an Klarheit, beließ jedoch dessen materiale Herkunft im Dunkeln. Das Äußerste, was der kantische Schematismus zu leisten im Stande war, war die rein formale, begriffliche Verbindung des Denkens mit der gegenständlichen Welt, während qualitative Inhalte, wie sie die Sinne mitteilen, darüber keinen Eingang finden konnten. In Die Einheit der Sinne unternimmt Plessner nun den Versuch, diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, und er erklärt den von der philosophischen Tradition bevorzugten Erkenntnisgegenstand - die Frage nach der Wahrheit - zum Spezialfall eines weitaus umfassenderen Erkenntnisinteresses, in dem die Mannigfaltigkeit der Sinne und ihrer geistigen Funktionen in die Aufgabe der Erkenntnis der Welt für das Lebewesen Mensch einbezogen werden. Jeden Typus des Verstehens gilt es zu beachten, nicht nur das begriffliche Erkennen. Denn die Beziehung des Geistes auf ein Objekt im Interesse der Wahrheit ist ein Spezialfall der Beziehung des Geistes auf Inhalte im Interesse des Sinnverständnisses überhaupt. 228 223 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 32. 224 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1990, S. 196 ff. 225 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 75. 226 Ebd. 227 Ebd., S. 65. 228 Ebd., S. 275. <?page no="62"?> 62 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Ort dieses Erkenntnisgeschehens sei der Körperleib, welcher in seiner Sinnesorganisation wie seiner Geschichtlichkeit von der Geistdurchdrungenheit selbst Zeugnis ablege und als solcher in spezifischer Weise belebt erscheine. Die Organisationsweise der Sinne beim Lebewesen Mensch zeugt für Plessner von der „Verbindungsweise von Körper und Seele zum objektiven Sein der Dinge, wenn auch freilich nicht zu ihrem absoluten Sein, weil die Sinnesqualitäten die möglichen Modi der Materie sind.“ 229 Die Sinne binden das Lebewesen Mensch in sein Milieu ein, und zwar als Mittler zwischen diesem und der Person, die er sei. Die Ästhesiologie des Geistes ist demnach der „Versuch einer Strukturtheorie von der menschlichen Person, und zwar zunächst ihrer Fundamentalbeziehung zur Umwelt.“ 230 Die Versinnlichung des Geistes und die Vergeistigung der Sinne Plessner sucht nun die Bedingungen der Möglichkeit dieses Erkenntnisgeschehens aufzudecken und zu explizieren. Die Einheit der Sinne ist der erste Band seiner erkenntnistheoretischen Schriften 231 , mit der er die innere Verschränkung von Körper und Geist (res extensa und res cogitans) am psychophysischen Wesen Mensch aufzeigen möchte und diesen damit wieder ins Zentrum der philosophischen Betrachtung rücken will. Er holt das „philosophische Verständnis der Naturgestaltung, wie sie die sinnliche Organisation des Körperleibes darstellt“ 232 , wieder ins philosophische Denken zurück. Methodisch wie in seiner Fragestellung orientiert er sich an Kant, indem er, wie dieser, dessen indirekte Fragestellung anwendet und sich auf der Suche nach Antworten auf das Erkenntnisproblem an die entsprechenden Wissenschaften wendet, dieses Mal jedoch nicht an die Naturwissenschaften, sondern an die Geisteswissenschaften: Sollte, paradox genug, eine augenscheinlich naturphilosophische Angelegenheit vielleicht durch Orientierung an der Geisteswissenschaft, ja an kulturellen Ausdrucksformen des Geistes selbst entschieden werden müssen? 233 229 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 21. 230 Ebd., S. 19 f. 231 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Macht und menschliche Natur , Gesammelte Schriften V, Hg. v. Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung v. Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1628, Frankfurt a. M., 2003, S. 12. 232 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 76. 233 Ebd. , S. 133. <?page no="63"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 63 Mit dieser Ausrichtung der erkenntnistheoretischen Fragestellung gewinnt Plessner die Fallhöhe für die rechte Justierung seiner Ausgangsfrage nach dem Rätsel des Gegenständlichen im Bewusstsein sowie hinsichtlich ihrer möglichen Zustände und Zuständlichkeiten: der Anschauung und der Auffassung. Damit auch der Körperleib als letzter Gegenstand auf dem Weg zur Einheit Mensch in die von ihm entworfenen Schemata Eintritt finden kann, wird Plessner später die Bewusstseinstafeln 234 mit entsprechenden Haltungen des Körperleibes in Beziehung setzen. Denn letztlich ist es das Ganze des Körperleibes, welches die Gegenwart des Geistes und somit des Sinnes allgemein in der Welt abbildet. Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar […] Die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welcher eine gleich unmittelbare und ursprüngliche Auffassungsgabe des Geistes für den Ausdruckssinn seiner Gestik, Mimik, Physiognomik notwendig entspricht, hat Geltung für jeden Inhalt, mag er seelischer Natur sein, woran wir zunächst denken, oder selbst auch geistigen, gedanklichen, sinnhaften Wesens. 235 Mit der Einarbeitung des Körpers in die von Plessner erweiterte erkenntnistheoretische Fragestellung verlängert er in der Ästhesiologie des Geistes die kantische Analyse in die Materie bzw. in das Sinnenmaterial in Form der Sinnesmodalitäten hinein und gewinnt dem Geist so das Angesicht der Welt zurück. Erst wenn der Mensch auf diese Weise wieder logostransparent geworden ist, wenn die rätselhafte Funktion seines Sinnenapparates und dessen Ergebnisse - die Gegenständlichkeit der Welt - aufgeklärt wurden und in ihrer Einheit als vom Geist durchherrscht bestätigt werden konnten, erst dann können auch wiederum die geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf ihr Vernunftfundament geprüft und darauf aufgebaut werden. Der Gang zur kantischen indirekten Fragestellung über die entsprechenden Wissenschaften gewinnt auf dem Weg zu ihnen deren eigenes Fundament zurück. Diese Hermeneutik der Sinne sollte an ihrem Ziel die Fundamente für die wissenschaftliche Fundierung der Geisteswissenschaften liefern können; soweit die Erwartung, soweit auch der methodische Fortgang der Untersuchung Plessners in Die Einheit der Sinne . Allerdings begegnen sich bei einer solchen Fragestellung Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Denn beide Bereiche menschlicher geistiger Tätigkeit sind Antworten auf Herausforderungen des Milieus an ihn. Zugleich jedoch sind sie für Plessner auch Garanten für den Realitätsgehalt seiner Fragerichtung. Denn sie zeugen vom Tun des Menschen über die Zeit und Generationen hinweg und sind keine Ausgeburten eines einsamen und beschränkten singulären Geistes. Die physi- 234 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne , S. 220. 235 Ebd., S. 288. <?page no="64"?> 64 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST sche Organisation des Körpers, genauer der Sinnesorgane des menschlichen Leibes, und die geistes- oder kulturphilosophische Seite der Problemstellung bedürfen nun der Verbindung, was den oben genannten Bewusstseinszuständen korrespondierte. Das anschauende Bewusstsein muss also gemeinsam mit dem deutenden Bewusstsein zugrunde gelegt werden, um „der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes“ 236 vermitteln zu können. Die methodische Konsequenz der kantischen indirekten Fragestellung führt Plessner zwingend auf seine eigene Methode hin: eine hermeneutische Phänomenologie auf der Basis der kantischen Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. An den Gegenständen der Kultur, der Werke des Menschen werden wir der Gegenständlichkeit der Welt und deren objektiven Natur inne. Denn die Werke zeugten vom Funktionieren unserer Sinne und deren Modi, welche die Erscheinungsweisen der Materie seien. Die normative Wissenschaft der Sinne, Plessners „Normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“ 237 , im Unterschied zu einer „seinswissenschaftlichen Methode der Tatsachenfeststellung […] als eine Kritik der Sinne im Gegensatz zur Physik, zur Physiologie und Psychologie“ 238 , kennzeichnet die Differenz wie auch eine denkbare Komplementarität der Vorgehensweisen. Plessners kritische Studien der Sinne wenden sich also in keiner Weise gegen naturwissenschaftliche Vorgangsweisen. So rücken die Begriffe Anschauung 239 und Verstehen (bzw. Auffassung) ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit: Anschauung ist, ohne an Dasein (wie anschauliche Phantasmen, Phantome beweisen) des Angeschauten gebunden zu sein, das Vergegenwärtigen eines distinkten Inhalts in präsentativer Form. Sie bezeichnet ein Bewusstsein, das in klar umschriebener Weise ein qualitativ in sich Bestimmtes gegeben vorfindet und als Gegebenheit hinnimmt. Das Gegebene steht für nichts, sondern ist bloß da und bringt sich dar in größerer oder geringerer Klarheit und Deutlichkeit. Was sich darbringt hängt ab von der Haltung der Person, die aus der Fülle des Seins die entsprechenden Gehalte gewinnt, weil zu ihnen in entsprechende Einstellung kommt. 240 Anschauungen sind demnach Vergegenwärtigungen eines distinktiven Inhalts in präsentativer Form. Diese müssten notwendiger Weise jemandem gegeben sein. Sie könnten entweder objektiv, also unabhängig vom Subjekt eines Bewusstseins, interindividuell, von einem Individuum loslösbar sein, ohne jedoch 236 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 152. 237 Ebd., S. 31. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 74. 240 Ebd., S. 79. <?page no="65"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 65 gleich eine überindividuelle, z. B. soziale Größe zu bilden, oder subjektiv, d. h. von einem Bewusstsein abhängig sein. Sie könnten jedoch auch intersubjektiv gegeben sein - ohne gleich objektiv zu sein-, was bedeutete, dass sie bis zu einem gewissen Grade in einen Raum zwischen Subjekten eintreten könnten, für die an diesem Raum teilhabenden Subjekte gegenwärtig wären. Daneben hält sich Plessner für die verschiedenen Arten der Anschauung an das traditionelle Menschbild des Trimorphismus aus Geist, Seele und Leib, wobei der Leib auch in der Verbindung mit dem Wort Körper auftritt und zum Körperleib wird. Der Begriff Körperleib vereint eine materielle Seite, den Körper, mit einer psychischen Komponente, der Vorstellung eines Bewusstseins, sozusagen im Futteral eines Körpers zu stecken, sowie den entsprechenden Empfindungen dafür. Für Plessner ist diese Vorstellung eine der Gründe für die platonische Idee des Körpers als Grab der Seele, sie gibt jedoch für ihn auch eines der Motive für seine Bestimmung der menschlichen Subjektivität als exzentrischer Positionalität ab. Den drei Erscheinungsweisen der Einheit Mensch ordnet Plessner nun nicht sofort seine drei Anschauungsarten zu, sondern behält erst einmal nur die abstrakte Dreiteilung bei, welches als Dreier-Schema Anwendung findet: die antreffende Anschauung, welche sich in physischer Materie zeige und darstellbar sei, die innewerdende Anschauung, welche sich in psychischer Materie zeige, nicht darstellbar, sondern nur präzisierbar sei, und schließlich die der füllenden Anschauung, welche sich in der Gestalt aus der Vereinigung von Materie (Hyle) und Form (Eidos) zusammensetze, eine Empfindungs- und Ideenschau, die sich in prägnanten Gehalten zeige. Anschauungen können darstellbar, präzisierbar, prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von solchen Gehalten, die physisch-intersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern oder Leibern oder psychisch-interindividuell erscheinen. Darstellbar ist jede direkt abbildbare ausgebreitete Gestalt, einerlei ob sie wirklich oder imaginiert ist, einem Raum angehört oder nur anzugehören scheint. Indirekt durch Bewegung etwa, Reaktionen irgendwelcher Art (Laute, Zeichen usw.) eindeutig festlegbare und insofern mitteilbare Gehalte, die sich zwar nicht abbilden lassen, ohne aber darum an Bestimmtheit in der Gegenwart und interindividueller Gegebenheit einzubüßen, sind präzisierbare Anschauungsgehalte. 241 Doch selbst wenn der Trimorphismus, wie Plessner sagt, falsch sei, würde sich dennoch bestätigen, dass „wir die unmittelbare Ausdruckshaltung als typische Sinnbezogenheit des Leibes anerkennen“ 242 müssten. Wir stoßen hier wieder 241 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 79. 242 Ebd., S. 214. <?page no="66"?> 66 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST auf ein Leitmotiv des Plessnerschen Denkens, der unmittelbaren Gegenwart des Geistes im Körperleib 243 , der damit entgegen der cartesianischen Deutung der res extensa als Ort der sinnvollen Verschränkung zwischen Geist und Materie erkannt wird. Der sich in der Haltung des Körperleibs spiegelnde geistige Gehalt sei, wenn nicht gleich konkretisierbar oder präzise deutbar, ein Fall der prägnanten Anschauung, in der sich in Form der Gestalt (z. B. Körperhaltung) die Vereinigung materieller und kategorialer Gehalte zeige. Die Anschauung fülle sich mit diesen, mit Bestimmtheit zu identifizierenden, wenn auch nicht gleich zu deutenden Körperbildern an. Im Spiegel der Seele 244 , im Erlebnis 245 , könne sich die präzisierende Funktion der Sprache an der Deutung dieser Körperbilder interpretierend abarbeiten. Plessner hält mit Scheler alles Seelische für interindividuell, „geistige Akte dagegen sind rein individuell und könnten nur immer von einem Individuum erlebt werden.“ 246 Sprache könne die absolute Isoliertheit der Individuen bis zu einem gewissen Grade aufheben. Die über deren Zeichen vermittelten Inhalte jedoch müssten, um voll und ganz verstanden zu werden, von jedem einzelnen Individuum wiederum durchlebt werden. Wenn dieses Durchleben nicht stattfände, gestattete die Vermittlung durch Sprache, deren Bedeutungen „interindividuell präsent“ 247 seien, dem Individuum zwar ein Verstehen, nicht jedoch im vollen Sinne des Wortes. Unter diesem Aspekt gesehen leistet die Sprache durch die Funktion des Meinens eine universelle Interindividualisierung. Sie sucht Darstellbares und Nichtdarstellbares eindeutig fassbar zu machen und durch die Bedeutung von Worten und Sätzen über die Zone interindividuellen seelischen Seins noch hinausgreifend die gesamte Weltfülle in den interindividuellen Besitz zu bekommen. 248 Mit dieser universalisierenden Funktion der Sprache könnten prinzipiell alle Gegenstände und Sachverhalte in den Bereich präzisierbarer Darstellung aufgenommen werden. Der enorme Nutzen für die Menschheit wird sofort einsichtig: Die Individualitätsgrenzen werden überschritten und Inhalte für alle 243 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 286 ff. 244 Ebd., S. 216: „Denn psychisches Sein spiegelt im Erlebnis den Gegenstand und [217] gehorcht der syntagmatischen Form, da es mit ihr die Struktur der Präzisierbarkeit teilt.“ 245 Ebd. S. 217: „Das Erlebnis gewinnt auf diese oder jene Art Ausdruck, hier thematisch durch Formung der leiblichen Haltung, dort syntagmatisch entweder als Gegenstand der Rede oder als vermittelnde Schicht für jede Bedeutung, mag sie betreffen, was immer sie will.“ 246 Ebd. , S. 81. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 82. <?page no="67"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 67 zugänglich, wodurch „die Überwindung der durch Natur und Wesen gesetzten Gemeinschaftsbindung zugunsten einer Befreiung und Erhebung aller in das spielende Leben der Gesellschaft“ 249 ermöglicht werde. Der Gegenstand der antreffenden Anschauung sei in seinen darstellbaren Gehalten der physischen Materie gegeben, derjenige, der innewerdenden Anschauung in den präzisierbaren Gehalten der psychischen Materie. Bliebe für die füllende Anschauung der prägnanten Gehalte die Frage nach ihrer eigentlichen Erscheinung. Sie sei eine Kombination aus „Empfindungsschau und Ideenschau“ 250 . Plessner versucht diese Frage mit Hilfe des Gestaltbegriffes zu lösen, dem er die Aufgabe der Vermittlung eidetischer mit hyletischen Gehalten überträgt. […] daß der hyletische Gehalt der Empfindung und der eidetische Gehalt der Wesensschau zwar strukturlos sind, darum aber doch nicht völlig nackt und formlos sein können, da das Bewusstsein in ihnen selbst die Präzision findet, durch welche sie für die Anschauung qualitative Prägnanz und Unterscheidbarkeit besitzen. […] für alle Gehalte, komplexe und einfache, das Grundschema: sie sind notwendig aufgebaut aus einer Stoff- und einer Formkomponente. Jeder Gehalt hat Stoff und Form. 251 Eidetischer Gehalt und hyletischer Gehalt jedoch haben bei Plessner keine rein ideale oder stoffliche Komponente, sondern tragen Spuren des jeweilig anderen an und in sich: Hier ist die Stofflichkeit luzide, durchsichtig, lauter, dort ist sie undurchsichtig, aufdringlich, trübe.“ 252 Auf jeden Fall aber besäßen komplexe Anschauungsgehalte Struktur, und „das heißt Gestalt“ 253 . Neben den kategorialen Gehalten besteht bei Plessner die quidditas der Scholastik als unabhängige und besondere Einsicht des „eidetischen Tiefblicks“ 254 Vermittelnde. Zu ihr gehöre ein „bestimmtes kontemplatives Training und mehr als Zurückhaltung im Urteil über die Welt“ 255 . Bei ihr sei eher das schauende Bewusstsein als die strenge Beobachtung am Werke, und Plessner beschreibt sie als eine Art „Witterung für die Wesenheit seines Milieus“ 256 , die der Mensch grundsätzlich besitzen müsse. 249 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 83. 250 Ebd., S. 105. 251 Ebd., S. 103. 252 Ebd., S. 104. 253 Ebd. 254 Ebd., S. 86. 255 Ebd. 256 Ebd. <?page no="68"?> 68 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Es muß also eine letzte, alles nur vorkommende Was zu seiner Qualität bestimmende Gehaltfülle, das [87] Rote zum Rot, die Farbe zur Farbe, die Figur zur Figur, das Ding zum Ding, das Wesen selbst zum Wesen machende Formwelt geben, die alles trägt.“ 257 Kategorialer Gehalt ist also demnach „Wesen hinsichtlich des Stoffes“ 258 . Der eidetische Tiefblick , jene Witterung für sein Milieu ist der eigentliche Zugang des Menschen zum Typischen, zur Abstraktion im Konkreten, zu dem, was Formwelt selbst ist. Auf dieser bestimmten Körperlichkeit des Abstrakten im Konkreten kann die Kunst aufbauen, denn die Gesetze der füllenden Anschauung und der prägnanten Gehalte basieren auf dem Eintrag geistiger Gehalte, also idealer Formen im Stoff. Sie stellt eine Mitte dar, welche die Kunst zwischen Sinn und Geist zu ergreifen vermag, sogar wenn sie diese zu fliehen beabsichtigt 259 . Die Wertschätzung des Körperleibes als logostransparenter Ort, an dem sich Körper und Geist mit ihren verschiedenen Anschauungsarten verschränkten, führt eine Skala der Typen der Hinwendung zu diesen ein. „Darstellbare Gehalte treffe ich an , präzisierbarer Gehalte werde ich inne , prägnante Gehalte erfüllen mich. […] und nur das Moment der blickstrahlenden Aufmerksamkeit bleibt in allem Typenwandel unberührt erhalten.“ 260 Mit dieser Unterscheidung verliere die Wahrnehmung ihren aus Empfindungen kombinierten Charakter und wandele sich zu einer „autonomen Bewusstseinsart“ 261 . Gleichzeitig werde sie von der Empfindung klar unterscheidbar. Denn die Gegenstände der Wahrnehmung würden in einem interindividuellen Raum angetroffen, während Empfindungen nicht interindividuell sind. Die blickstrahlende Aufmerksamkeit des Bewusstseins gewahre als innewerdende Anschauung alles Psychische, während die erfüllende Sinnenschau ein eidetisches und empfindungsstoffliches Gegenüber besitze. Überall gebe es dieses Gegenüber des aufmerksam hinschauenden Bewusstseins. Fehlte jedoch dieses Gegenüber, bliebe allein die Schau, könnte ein Gehalt frei sich entfaltend möglicherweise sein Wesen darbieten. Dafür jedoch bedürfe es normalerweise eines Trainings, 257 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 86 u. 87. 258 Ebd., S. 87. 259 Nach der „Mitte“ fragt auch Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte , Otto Müller Verlag, Salzburg, 1948, S. 150: „Der Mensch will fort von der Kunst, die ihrem Wesen nach ‚Mitte‘ zwischen dem Geist und den Sinnen ist. Die Kunst strebt fort von der Kunst, an der sie ebenso wenig Genüge hat wie der Mensch am Menschen. Indem sie zu einer Überkunst strebt, stürzt sie oft in Unterkünstlerisches ab.“ 260 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 87. 261 Ebd., S. 88. <?page no="69"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 69 mit dessen Hilfe das Bewusstsein „die störenden Seinschichten zu durchstoßen“ 262 vermag. Die so geartete Einsicht trüge dann den Charakter der Offenbarung, eines nicht erzwingbaren Erscheinens. Vom Bewusstsein angetroffene Gehalte liehen sich diesem nicht. Sie neigten ob Ihrer Identifizierbarkeit und ihres objektiven Charakters der Beobachtung zu. Prägnante Gehalte liehen sich dieser Art der Betrachtung in ausgezeichneter Weise und deuteten auf eine wesentlich andere Haltung eines Einsicht suchenden Bewusstseins. Sie neigten der Intuition zu. Vor aller Spezialisierung durch die Art des erschauten Gehalts ist Intuition ein offenes, hinnehmendes, zur Sache ohne viele Umstände, ohne die trübenden und abblassenden Zonen des Grübelns, Vergleichens, Abwägens sich aufschwingendes Verhalten. Die Sinne sind geöffnet, um widerstandslos die Fülle des Seins eindringen zu lassen. Der Mensch vertraut dem natürlichen Licht seiner Vernunft nicht weniger wie der Evidenz seines Gewissens und seines Empfindens. […] Rein werden in der Anschauung ist sein Ziel, Mittel dazu das Erkraften des durch alle Sinne, durch Instinkt, Gefühl und Gewissen hindurchtretenden geistigen Blickstrahles. […] Dagegen Beobachtung beherrscht von der Achtsamkeit. Der Beobachtende gibt Obacht auf das Objekt, er nimmt sich in acht, Grenzen, die ihm gezogen sind, nicht zu überschreiten. 263 Während die Beobachtung sich an vorgegebenen Kriterien orientierte, ließe die Intuition „nur die Evidenz sprechen“ 264 . Wir treffen in diesen Modellen grundsätzlich unterschiedliche Arten des Verständnisses der Anwendung menschlicher Einsichtsmöglichkeiten an. Plessner ordnet diese Haltungen denn auch den historischen philosophischen Strömungen des Intuitionismus und des Kritizismus zu. Jedoch weder die „negative Einheit der Sinne im Intuitionismus“ 265 bergsonischer Prägung mit ihrer Wurzel im élan vital , noch der kantische Kritizismus mit seinem Schematismus und seiner „funktionalistischen Erkenntnistheorie“ 266 könnten eine Antwort auf das Rätsel der Gegenständlichkeit der Welt oder der Einheit der Sinne herbeiführen. Nach Plessner liegt dies an deren einseitiger Orientierung an den Naturwissenschaften. Sein Lösungsvorschlag ruft daher die Geisteswissenschaften auf, an deren Erfahrungen im Sinne der schon bekannten indirekten Fragestellung eine Antwort gelingen soll: 262 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 89. 263 Ebd. , S. 91. 264 Ebd., S. 92. 265 Ebd., S. 106. 266 Ebd., S. 131. <?page no="70"?> 70 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Wie lässt sich die kulturphilosophische Seite des Problems so mit der naturphilosophischen innerlich verbinden, daß die Beantwortung in der einen Richtung die Antwort in der anderen von selbst mit sich führt? Das ist nur möglich, wenn wir die bisher geübte einseitige Beurteilung des ganzen Problems nach den Maßstäben des anschauenden Bewusstseins aufgeben und ihm, da auf dem alten Wege ein Weiterkommen unmöglich ist, das deutende Bewußtsein zugrunde legen, der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes. 267 Unser Verhältnis zu den Dingen der Welt lasse sich nicht auf die einfache Gegenwart der Dinge in unserem Bewusstsein reduzieren, sondern es gebe zugleich noch eine andere Weise unserer Verbundenheit mit der Welt, und diese sei das Verständnis. Gleichberechtigt mit dem präsentativen ist das repräsentative Bewusstsein, mit der Richtung auf Phänomene die Richtung auf Sinn und Bedeutung. 268 Mit diesem Schritt verlässt Plessner die schwankenden Untersuchungen der Psyche und unternimmt den Schritt ins Objektive, die „Formen der faktischen Kultur“ 269 , in denen er einen Garant, ein Organon der geistigen Möglichkeiten des Menschen entdeckt. Damit auch tritt methodisch die Untersuchung in eine neue Phase ein und schreitet voran: von der prinzipiellen Beschreibung der Phänomene und deren Einordnung in das sich mitteilende Schema der Dreiteilung, in die Interpretation der vorliegenden Sinngehalte des Verständnisses mit ihrer Verkörperung in den Werken der Kultur. Plessner betritt mit dieser Kombination der wissenschaftlichen Verfahren sein ureigenes Terrain, das der hermeneutischen Phänomenologie: Allerdings wird Plessner dann hier im Rahmen seiner Hermeneutik des Lebens den rein deskriptiven Ansatz im Hinblick auf einen deskriptiv-hermeneutischen Ansatz im Sinne einer ‚hermeneutischen Phänomenologie‘ erweitern. 270 Im Unterschied zu Prietowicz sehe ich allerdings diese methodische Erweiterung schon hier in seiner Die Einheit der Sinne am Werk. Denn was ist die Einarbeitung der „Wesen und Arten des Verstehens“ 271 in das vorher ausgearbeitete Schema der Sinnesmodalitäten anderes, als eine Auslegung, also eine Inter- 267 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 152. 268 Ebd. 269 Ebd. 270 Pietrowicz, Stephan, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens , Verlag Karl Alber Freiburg/ München, 1992, S. 172. 271 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 153. <?page no="71"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 71 pretation, der Bedingungen der Möglichkeit eben jener Schemata, in denen die Gegenstände des Bewusstseins auftreten? Allerdings muss die deutende Phase dieser Analyse den Charakter der Evidenz besitzen, damit sie als Fundament und Bedingung der Möglichkeit des Erkenntnisaktes wirksam werden kann. Von daher bleibt vorerst das methodische Hauptgewicht auf der phänomenologischen Beschreibung des Gegenstandes, ganz im Sinne Plessners: „Unter dem Eindruck der Sache selbst, […] der Wahrnehmung eines Vorgangs muss jede empirische Forschung ihre Arbeit beginnen.“ 272 Nun handelt es sich aber bei der Untersuchung nicht um empirische Forschung, sondern um eine „normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“ 273 , womit auf der einen Seite der korrekten Aufnahme der Tatsachen sowie der kritischen Einordung dieser, auf der anderen der Legitimität der Methode Genüge getan wurde. Verständnis ist, ohne vom Dasein des Verstandenen abhängig zu sein, die Verbundenheit mit einem Sinngehalt durch das Vergegenwärtigen eines wie auch immer gearteten Inhalts in repräsentativer Form. […] Die repräsentative Haltung differenziert sich nach dem gleichen Prinzip wie die präsentative Anschauung. 274 Der antreffenden Anschauung wird nun das Schema als Form des Gehalts zugewiesen, der innewerdenden Anschauung, das Syntagma und der füllenden Anschauung das Thema . Ihnen werden jeweils Wissenschaft, Sprache und Schrift sowie Kunst als die kulturellen Gestalten zugeordnet, welche in ihrer spezifischen Ausprägung Exempla der Anwendung der Anschauungsbzw. Auffassungsreihen darstellen. An ihnen lieβen sich in hervorragender Weise die „Möglichkeitsfundamente des konkreten verstehenden Bewusstseins, nicht Inhaltselemente“ 275 ablesen. In Mathematik, Sprache und Schrift und Musik - genauer: absoluter Musik - als den reinen Ausprägungen für Handeln, Kundgabe und Ausdruck finde die Einteilung des Sinnenverstehens ihre exemplarischen Gegenstände: Stetig verengt sich bei konstant bleibender auffassender Haltung das geistige Blickfeld vom puren Erfassen der Anschauungsgehalte im Licht des bloßen „Als“ zur Auffassung „als etwas“ und zuletzt „als dieses“. 276 272 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 158. 273 Ebd., S. 31. 274 Ebd., S. 153. 275 Ebd., S. 154. 276 Ebd., S. 206. <?page no="72"?> 72 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Thematisch werden Erscheinungen aller Dinge erfasst und „der synoptischen Kraft des Geistes kann nichts in der Welt, nicht er selbst Widerstand leisten.“ 277 Sie treten damit unter die ästhetische Wertgebung des Gegensatzes vom Hässlichen und Schönen, ohne dass damit ein Etwas schon als ein bestimmtes Etwas erfasst wäre. Es bleibt bei der Vereinzelung der Erscheinung, die unterste Stufe der Sinngebung im reinen „Alscharakter“ 278 und der freien Deutung überlassen. Erst wenn die Stellvertretungsfunktion der syntagmatischen Stufe eintritt, Zeichen und Bedeutungen sich bemerkbar machten, werde die Erscheinung präzisiert, stelle zu ihrem Sinn sich ein Meinen mit ein, gehe über sie hinaus und weise doch wieder auf sie zurück. Auf dieser Stufe werde der Streit um Meinungen oder die Einhelligkeit intuitiv erfasst, sei nicht objektiv entscheidbar oder zwingend. Erst wenn die letzte Einschränkung der Beliebigkeit des Meinens auf der schematischen Stufe mit der Bestimmung des Begriffs erreicht sei, würden Urteile bestimmt, gehe die Freiheit der Deutung des Sinnes verloren. Erst dann, mit der Bestimmung des Erlebnisgegenstandes „als dieses“ 279 , werde die Auseinandersetzung über wahr oder falsch objektiv entscheidbar. Diese stetige „Verengung des Blickfeldes der Auffassung des Bewusstseins“ 280 , welche auch auf eine „immer größeren Eindeutigkeit des Sinnes und des Sinnverständnisses zustrebt“ 281 , finde ihre Parallele im „Anwachsen der Gerichtetheit in der Bewegung“ 282 . In thematischer Sinngebung forme der Schauspieler den Körper, verständlich für den Zuschauer, zu einem Ausdruck. Die „proportionierende Formung“ 283 des Leibes vergegenständliche den zu kommunizierenden Sinn. Die „stimmgebende Geste des Verlautens“ 284 stehe am Beginn der „syntagmatischen Sinnform des Bedeutens“ 285 . Doch erst wenn Zeichenhaftigkeit erreicht werde, näherten wir uns der Sprache. Erst wenn mit den Zeichen ein gedachter Sinn verknüpft werden könne, komme Interindividualität ins Spiel, und neben den ursprünglichen Erscheinungen und Erlebnissen könne Sinn unabhängig von diesen kundgetan werden. Es werde eine Zwischenzone erkennbar, in welcher der Übergang vom echten Ausdruck - wie z. B. dem Schreck - in „stimmlicher Entladung einer Erregung“ 286 zum symbolischen Gebrauch eines akustisch geformten Zeichens sich überlappe. Plessner verweist dabei auf Herder 277 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 205. 278 Ebd. 279 Ebd., S. 206. 280 Ebd., S. 212. 281 Ebd. 282 Ebd. 283 Ebd., S. 214. 284 Ebd., S. 215. 285 Ebd. 286 Ebd., S. 216. <?page no="73"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 73 und Humboldt, spricht sich jedoch gegen eine wie auch immer geartete Sprachursprungsthese z. B. aus einer Verlautung des erschrockenen Urmenschen aus. Vielmehr verweist er auf einen physiologisch-haptischen Zusammenhang zwischen Laut - sprich Stimmbänder und Atmung - und Gemütsbewegung hin, welcher sich neben der Geste und ob seiner Glieder- und Formbarkeit der künstlichen Symbolik leihe. Diese Charakteristik des sprachfähigen Materials, also Formbarkeit und Gliederbarkeit, ermögliche erst die präzisierende Funktion von Sprache und Schrift. Denn sie könne dem im „psychischen Sein“ 287 sich spiegelnden Erlebnis angepasst werden. Diese Tätigkeit wiederum, ihrerseits verstanden im Haltungsbild der Handlung, leite zur nächsten Stufe, der schematischen über, auf welcher der Gegenstand „als dieser“ begrifflich bestimmt „motivierte Bewegung“ 288 durch Entschluss ermögliche. Sei es, dass ein sprachlicher Ausdruck gesucht oder dass ein Zweck bestimmt werde, dem dann entsprechend motivierte Handlungen nachfolgten. Im besonderen Maße sei es die Technik, eine „Nutzanwendung wissenschaftlicher Einsichten“ 289 , welche die entsprechende Haltung des Leibes auf einen genauen, in der Zukunft liegenden Gegenstand bestimme. Ermöglicht werde diese klare Zielgerichtetheit durch die Bestimmung dieses Gegenstandes und der Mittel zu seiner Erreichung als ein dieses . Verbindet man die in diesen Reihen zum Ausdruck kommenden Beziehungen „zwischen Sinn und Haltung, Geist und Leib“ 290 , so kann man die „Verschmelzung“ 291 geistiger und sinnlicher Größen konstatieren: „Versinnlichung des Geistes, Vergeistigung des Sinnlichen nach einem neuen Gesetz, das auf unsere Frage nach der sinngemäßen Notwendigkeit unserer Sinnesorgane eine befriedigende Antwort erteilt.“ 292 Der Leib und die Gegenwart von Geist Nach dieser Synthesis widmet sich Plessner der genaueren Betrachtung des Gehörs, des Gesichtssinnes und der zuständlichen Modalitäten. Das Kapitel der Ästhesiologie des Gehörs gehört zu den zentralen Abschnitten der Ästhesiologie des Geistes . Denn Plessner beschreibt hier das Phänomen der „ Adäquation der Ausdrucks bewegung zum Ausdrucks sinn : im Tanz zur Musik“ 293 . Nicht allein die Tatsache, dass beide, Musik und Tanz, Kunstformen 287 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 216. 288 Ebd., S. 218. 289 Ebd., S. 220. 290 Ebd., S. 221. 291 Ebd. 292 Ebd. 293 Ebd., S. 222. <?page no="74"?> 74 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST sind, die in der Zeit sich abspielen, verbinde sie, sondern besondere Aufmerksamkeit verdiene die Tatsache, dass beide Kunstformen im Ablauf bewegter Elemente Sinngehalte darstellten, welche gegenseitig - musikalisch, tänzerisch - vermittelt werden könnten, und zwar nicht nur in der Form einer einfachen Reaktion des einen auf das andere, sondern in der „Angleichung der Leibeshaltung an den Sinngehalt“ 294 . Hier werde in thematischer Form ein „Minimum an Ausdeutbarkeit“ 295 gegeben, welches sich in der Gliederung der Funktion der Ordnung 296 , in Arsis, Thesis und Synesis greifbar darstellt 297 . Gehörte noch die subjektive Zeitbetrachtung in diese Überlegung einbezogen, so stellt sich dringend die Frage: wie kann gegenständliche Form (und das ist jede Tonlinie) einen so bezwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes ausüben, dass er an die Gründe der Seele rührt und aus dieser Erregung seine plastische Kraft zieht? 298 Weder Form noch Bewegung sind nach Plessner für den zwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes verantwortlich, so dass allein noch der Stoff selbst übrig bliebe. Es sei das „Tonhafte am Ton“ 299 , der akustische Stoff selbst, der als „Dauer“ 300 und schwellender Schall - „Nur ein Schall schwillt.“ 301 -, also dessen „voluminöser“ 302 Charakter, der in der Äquivalenz zur Haltung des Leibes, des stimmlichen Raumes: „Kopfton, Brustton, Tiefton“ 303 , die Motivation zur Bewegung verständlich werden lasse. Nur weil zur Förmigkeit des akustischen Stoffs die Schwellfähigkeit gehört, lassen sich Haltung und Geste dem Zug der Töne einschmiegen, glauben wir von ihm getragen zu werden, in ihm zu schwimmen, haben die Taktzäsuren Impulswerte, die Tonhöhen Lagewerte. 304 294 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 224. 295 Ebd., S. 226. 296 Ebd., siehe Tabelle S. 220. 297 Das Schema „Arsis, Thesis, Synesis“ erinnert stark an die Form der musikalischen Kadenz mit „Tonika - Subdominante/ Dominante - Tonika“ und wäre somit als ein grundlegender Aspekt gegliederten, d. h. geformten Materials zu erkennen. Im Kadenzschema läge also eine Art Urgrund der Vermittlung zwischen Geist und Materie hin zu Form und Sinn. 298 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 228. 299 Ebd., S. 229. 300 Ebd. 301 Ebd., S. 231. 302 Ebd. 303 Ebd., S. 233. 304 Ebd., S. 235. <?page no="75"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 75 Wenn in diesem Zusammenhang von Raum, bzw. stimmlichem Raum die Rede ist, gehe es nicht um die physikalische Bedeutung dieses Terminus. Es handele sich um einen phänomenalen Raum, welcher durch die Bewegung des Leibes in seiner sinnausdeutenden Haltung zur Musik von diesem selbst erschaffen werde 305 . Die Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung präzisiert scharf, soweit das in der Sphäre reinen Erlebens angeht, die ästhesiologische Bedingung der Möglichkeit sinnadäquater Gesten zur Musik. Sie ist also im strengsten Sinne die allgemeine Voraussetzung zum Verständnis und zum Ausdruck musikalischer Gehalte, sie ist ganz eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin. 306 Der Plessnersche Ansatz zu den Verstehensbedingungen der Musik steht in einem gewissen Widerspruch zu den Verstehensansprüchen die Adorno, welcher in seinen Ausführungen zu Typen musikalischen Verhaltens den idealen Hörer in jenem Menschen erkennt, der die Ordnungsstrukturen des musikalischen Geschehens im Ablauf - während des Erklingens - strukturell mitvollzieht 307 . Dieser Anspruch geht für Plessner am eigentlich musikalischen Werksinn vorbei. Der adornitische Hörer vergibt sich nach Plessner des Genusses am musikalischen Kunstwerk, denn er ist durch seine mitvollziehende Kenntnisnahme abgelenkt vom eigentlich musikalischen Kunstgeschehen in der Aufführung, dessen Sinngehalte er wohl ergreifend mitvollzieht, jedoch in einer ganz anderen Bewusstseinslage. Der plessnersche Hörer weist die einseitig intellektuelle oder kritische Betrachtung von sich, um sich vom grundsätzlich sinnoffenen - nicht sinnlosen - musikalischen Geschehen der „Sinngefüge“ 308 führen zu lassen. Dieser trifft in seinem Bewusstsein auf eine spezifische Leere, deren Fülle er wohl in der Musik erahnen, jedoch niemals wirklich dingfest machen kann. 305 In diesem Zusammenhang scheinen mir auch die Schriften des Neurologen, Psychiaters und Psychologen Erwin Straus wesentlich, der in seinem Werk Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften , Springer-Verlag, Berlin, Göttingen, Heidelberg, 1960, S. 141 seine Beobachtungen zum Zusammenhang von Tanz und Musik wie folgt ausdrückte: „Als absoluter hatte der Tanz zwar nicht den Boden unter den Füßen, aber den Raum verloren, der ihm gemäß ist. Offenbar muß ein Wesenszusammenhang die tänzerische Bewegung an die Musik und an die durch sie geschaffene Struktur des Raumes binden, eine Verknüpfung, die sich nicht willkürlich beseitigen läßt.“ Ebenso ebd., S. 145: „Die räumliche Daseinsweise des Schalles kommt erst in den Tönen der Musik zur reinen Ausprägung.“ 306 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 236. 307 Adorno, Theodor, W., Einleitung in die Musiksoziologie , Surhkamp Taschenbuch Wissenschaft 142. 308 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 241. <?page no="76"?> 76 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Wenn die These der „Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung die […] Möglichkeit der absoluten Musik und ihrer Ausdeutung im Tanz und Dirigieren“ 309 erklärt, und damit auf ein Sinngeschehen hinweist, verweist sie damit zugleich auf eine innere Affinität von Laut und Bedeutung. Sie verweist also mithin auf eine innere Beziehung zwischen Laut und Sprache, nicht hinsichtlich der Natur der Sprachzeichen, denn bei diesen darf es diese Beziehung nicht geben, da das Zeichen in seiner sprachlichen Funktion der Konvention dienen können muss. Insoweit jedoch, wie „Sprache Ausdruck von Erregung darstellt, fällt sie […] unter die Herrschaft der thematischen Sinngesetzlichkeit, die ihrer Natur nach wohl eine innere Beziehung zwischen dem Sinn und der Art des Ausdrucks kennt“ 310 . Hier zeige sich die „natürliche Bevorzugung der Laute und Töne als Darstellungsmittel des Sinnes“ 311 . Damit jedoch irgendein Tatbestand Gegenstand sprachlicher Darstellung werden könne, müsse er sich als seelischer Inhalt bemerkbar gemacht haben, und dafür bedürfe es eines Minimums an seelischer Erregung. Er müsse als „Stoff meines Erlebens“ 312 auftreten können. Auf der anderen Seite jedoch bedürfe das Bewusstsein zugleich der Abstandnahme zu dieser Erregung, damit ein sprachlicher Ausdruck gestaltet werden könne. Es gibt also einen Hiatus, der beide Sphären trennt, und ein Geschehen in der Sphäre des Geistes, welches sie vereint. In der vermittelnden Schicht des Erlebens spiegelten sich demnach die Inhalte der Welt, und diese wiederum gehorchten der sprachlichen Artikulation wie „Wachs den Händen des Bildhauers“ 313 . Das dieses Sinngeschehen möglich ist, sei dem „Wesen der Präzisierbarkeit“ 314 geschuldet, welche die seelische Mechanik der Verbindung zwischen den materiellen Elementen und den syntaktischen Kategorien im Erleben forme. Präzisierbarkeit ist der Name des Sinngeschehens, nicht Präzision, oder gar Bestimmbarkeit. Es liege in der „Quellnatur“ 315 des Seelischen selbst, welches sich der ontologischen Feststellung im wahrsten Sinne dieses Wortes entziehe, denn seine Gestalten erschienen nur im Werden und verweigerten sich dem Zugriff als ein nur Gewordenes 316 . 309 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 243. 310 Ebd., S. 244 u. 245. 311 Ebd., S. 245. 312 Ebd. 313 Ebd. 314 Ebd., S. 246. 315 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Macht und menschliche Natur , Gesammelte Schriften V, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1628, Frankfurt a. M., 2003, S. 62. 316 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Macht und menschliche Natur , Gesammelte Schriften V, Suhrkamp Taschenbuch Wissen- <?page no="77"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 77 Dieser ontologische Sachverhalt verweist auf ein Verwandtschaftsmerkmal zwischen der präzisierenden Sinngestaltung der Seele und der prägnanten Sinngestaltung eines musikalischen Kunstwerks, welches ob der Natur des akustischen Stoffes, wie die Seele selbst, Gestalten im Werden und niemals im Gewordensein zeigt. Es ist also die Analogie des seelischen Sinngeschehens in Sprache zu den Zeitkünsten, welche den hermeneutischen Zugriff des Bewusstseins auf die Kunstwerke auf der ontologischen Ebene ermöglicht und zugleich eine endgültige Deutung dieser verunmöglicht. Die ästhesiologische Untersuchung des Gesichts müsste eine entsprechende Vermittlungslinie für den hermeneutischen Zugriff des Bewusstseins auf die Dinge der Welt zeigen. Womit dann eine durchgängige Verbindung zwischen thematischen Inhalten im Deuten, den syntagmatischen Inhalten im Bedeuten bzw. Verstehen und den schematischen Inhalten im Bestimmen bzw. Definieren sich zeigte. Diese aufbzw. absteigende Erkenntnisreihe erinnert stark an die der platonischen Politeia , eine Systematik, welche zwischen ontologischen und gnoseologischen Termini changiert. Plessner jedoch bleibt der gnoseologischen Seite treu, indem er das seelische Geschehen mit der Metapher des Spiegels erläutert. Die Bedeutung aber einer derart sich durchziehenden Erkenntnisreihe, der Geistdurchherrschtheit, liegt in der Annahme der Einheit des Menschen als Körper und Geist und bestätigte diese These, was die erklärte Absicht der Plessnerschen Schrift ist. Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muss von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten. 317 Mit dieser Systematik verweigert sich Plessner einer Beziehung seines Denkens zur Annahme einer Sprachentstehungsthese im historischen Sinne, die er den Tatsachenwissenschaften zuschreibt. Zugleich weist er auch die Annahme zurück, dass aus „physischer Organisation“ 318 auf geistige Wesenszüge, wie z. B. der Sprachentstehung mit Sicherheit geschlossen werden könne, welche wiederum tatsachenwissenschaftlich zu klären sei. Die Beweislage der Phylogenese des Menschen jedoch sei einerseits zu dürftig, andererseits die Parallelisierung von ontogenetischem und phylogenetischem Material zu unsicher und nicht beweisfähig genug, um diese Frage entscheidbar zu klären. Allerdings beansprucht Plessner, dass er mit seiner Ästhesiologie des Geistes ganz im Sinne von Herder und Humboldt die Frage nach der Sprache „im Ganzen der menschlichen schaft 1628, Frankfurt a. M., 2003, S. 62.: „Sie [die Seele] ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist.“ 317 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 246. 318 Ebd., S. 247. <?page no="78"?> 78 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Organisation und nicht etwa nur in seiner Physis oder in seiner Vernunft“ 319 zu verankern wisse. Dies ist ein bedeutender Vorteil seines theoretischen Ansatzes spekulativen Spracherklärungstheorien gegenüber. Die Debatte zur Ästhesiologie des Gesichts 320 beginnt Plessner mit der Befragung der neueren malerischen Strömungen der Zeit wie dem französischen Impressionismus oder der Kandinskyschen Idee der Erneuerung der Malerei aus dem Geiste der Musik und konstatiert: „Es gibt also keine Akkordanz des optischen Stoffes weder zur Haltung im allgemeinen noch zur Ausdruckshaltung im speziellen.“ 321 Die Farbqualitäten, behauptet er, hätten einen „Zustandswert“ 322 , keinen Ausdruckswert wie der schwellende Ton. Ihnen ermangele es an Lagewert und Voluminosität, der Möglichkeit der „Akkordanz zur Haltung“ 323 . Er wirft in diesem indirekten Frageverfahren an die modernen Strömungen der Malerei die Frage auf: „Warum ist bildende Kunst in ihrer thematischen Sinngebung an die Dinglichkeit in der Darstellung gebunden? “ 324 Er beantwortet diese Frage ausgehend von der Unwillkürlichkeit der Zeichengestalten und insbesondere der euklidischen Geometrie, denn sie sei „ebenbildlich zum figuralen Sinn der geometrischen Wahrheit“ 325 . Auf diese Figur richte sich der Blick und aus dieser Gerichtetheit des Blicks ergebe sich die Natur des Sehens, die er Strahligkeit nennt: Sondern die Funktion des Blickes enthält als Wesenszug die Strahligkeit, welche nötig ist, um in der Anschauung selbst Sinn auszudrücken und zu verstehen. 326 Keine andere Wahrnehmungsart besitze diese Funktion wie der Blick. „In allen anderen Sinnen präsentiert sich das Ding als Quelle von Zustandsänderungen“ 327 , nur der Blickstrahl erfasse das Ding an dessen Ort selbst. Darauf aufbauend kann er dann den Zusammenhang zwischen Gesichtssinn und Handlung benennen: 319 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 248. 320 Ebd. 321 Ebd., S. 254. 322 Ebd., S. 252. 323 Ebd., S. 254. 324 Ebd., S. 256. 325 Ebd., S. 257. 326 Ebd., S. 259. 327 Ebd., S. 264. <?page no="79"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 79 Griffigkeit des Gehalts, Gerichtetheit der ihn antreffenden Sehfunktion sind die Wesenszüge, auf denen die Akkordanz des Gesichtssinnes zur Handlung beruht. 328 Der Blickstrahl umfasse das ins Auge gefasste Objekt gleichsam wie mit der Hand und isoliere dieses dem Organismus und dem Umfeld gegenüber, so dass dieser in einer bestimmten Beziehung zum Gegenstand, seinen Spielraum hinsichtlich des Gegenstandes ermessen könne. Obwohl es keine Akkordanz des optischen Stoffes zur Haltung, bzw. zum Ausdruck gebe, gebe es eine solche sicherlich zur Handlung, und es sei innerhalb bestimmter Grenzen wohl erlaubt, Redewendungen von der „erstarrten Musik und der flüssigen Architektur“ 329 gelten zu lassen. Allerdings nicht ob der Bewegung des Objekts, z. B. der Malerei - seien es abstrakte Muster oder die Farben allein -, sondern ob der Bewegung des Betrachters angesichts dieser optischen Objekte. Der Betrachter auf der Suche nach Verständnis bewege sich, gehe mit, taste mit den Augen die Objekte ab etc., in einem Worte, verändere seine eigene Haltung, um des Verständnisses Willen. Und an dieser Stelle stoßen wir wiederum auf den Körperleib als letztendliches Maß jeder Verständnisermöglichung. Am Körperleib müssen die Betrachtungsgegenstände einprägsam ab-bildlich werden können, damit ihr Ausdrucksgehalt durch dessen Vermittlung plastisch werden kann: „Stets müssen wir solche Abbildungen auf den eigenen Leib und sein ideales Ausdruckssystem empfinden, um den Sinn eines Gebäudes auszukosten.“ 330 Im Sinne der bisher erarbeiteten Systematik müsse den zuständlichen Modalitäten, welche die Aufgabe der Vergegenwärtigung des eigenen Körpers haben, der seelische Kreis korrespondieren. Für eine ästhesiologische Untersuchung jedoch ergibt sich aus der Unmittelbarkeit des Sinnenstoffes als den Leibeszuständen die Unmöglichkeit einer Objektbetrachtung, wie es bei Auge und Ohr der Fall gewesen ist. Aber, und das ist das Entscheidende, was auch immer wir erleben, wie auch die Weise des Erlebens sein mag, zur Gegebenheit des Psychischen gehört notwendig eine bestimmte sinnliche Erregtheit des Leibes. 331 Gerade dieses Erleben des eigenen Leibes in seiner Erregtheit habe der „Körpertheorie des Leibes“ 332 Nahrung gegeben. Das Erleben finde sich im Leib einge- 328 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne , in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) . 329 Ebd., S. 266. 330 Ebd., S. 267. 331 Ebd., S. 271. 332 Ebd. <?page no="80"?> 80 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST schlossen oder eingebettet wieder. „Seelische Wirklichkeit und Zustandssinne stehen im Verhältnis der Koinzidenz.“ 333 Im Unterschied zu den objektorientierten Sinnen von Auge und Ohr, welche zu diesem in einem Verhältnis der Akkordanz standen, müssten sich die zuständlichen Modalitäten im „Sinne der Einheit der Person“ 334 mit der seelischen Wirklichkeit im Verhältnis der Koinzidenz - einer einfachen Vergegenwärtigung - befinden. Ohne diese zweite Verhältnisform könnten Körper und Geist in der Einheit der Person und als Haltung wie auch als Handlung nicht zusammenkommen. Somit schließt sich auch die Systematik bei der Eigenbetrachtung der drei Arten der Beziehungen des Geistes zum Körper: im Hören, Sehen und Fühlen vermitteln sich Geist und Körper einander. Gerade aus dieser Vermittlungsfunktion von Körper und Geist bestehe also die Grundlage für die Einheit beider in der Person. Denn sie diene nicht allein zur Erklärung der „Beziehung des Geistes auf ein Objekt im Interesse der Wahrheit“ 335 , sondern weit darüber hinaus „im Interesse des Sinnverständnisses überhaupt“ 336 . Deshalb schreibt Plessner: Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. 337 Für ihn sind es gerade die Geisteswissenschaften - wir erinnern uns an die Methodologie des von Kant geliehenen indirekten Frageverfahrens - wie Kunst, Schrift und die Wissenschaften, welche Auskunft zu einer Theorie der sinnlichen Materie gebe und „uns den Sinn für die physische Organisation des Menschen aufschließt“ 338 . Auf diese Weise lässt sich der Versuch wagen, „die Betrachtung der Naturgesetze einer umfassenderen Betrachtung menschlicher Verständnismöglichkeiten ein[zu]ordnen, um die elementaren Darstellungsweisen der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begreifen.“ 339 Die naturphilosophische Absicht der Plessnerschen Ästhesiologie lässt sich klar erkennen. Er sucht die Möglichkeitsbedingungen der Natur des menschlichen Erscheinungsbildes der Welt herauszuarbeiten und bestimmt so die Sinnesmodalitäten weder als Künder subjektiver noch absoluter Gegenstände oder Gegebenheiten, sondern als Möglichkeitsformen der Erscheinung von unabhängigen Gegenständen oder Gegebenheiten für ein Bewusstsein, als objektive 333 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne , S. 272. 334 Ebd., S. 273. 335 Ebd., S. 275. 336 Ebd. 337 Ebd., S. 278. 338 Ebd., S. 284. 339 Ebd. <?page no="81"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 81 Formen der Welt für den Menschen, als Formen des menschlichen Milieus der Welt, und also als „elementare Darstellungsweisen der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begreifen.“ 340 Bewegung, der seelische Untergrund als Basis des Sinns oder die Verschränkung von Sprache und Bewegung Neben die Sinneskreise des Gesichts und Gehörs tritt als dritter der Kreis der Zustandssinne. […] Diese begründen gegenständliche Sinngehalte, theoretische in der Geometrie, ästhetische in der Musik, jene begründen nichts, sondern haben an sich Sinn in dem Bewusstsein, das sie vermitteln. 341 Die Zustandssinne vergegenwärtigten Sein im Erleben. Möglich sei ihnen dies, da der Leib eine zentrale Stellung im Leben der Person einnimmt. Am Körper zeige sich oder bilde sich seelische Wirklichkeit ab, sei es als Reiz, Ausdruck, Reaktion oder eine Aktion, in die sich der Wille ergieße. Zu all dem komme auch noch die Funktion der Sprache, in welcher sich die seelische Wirklichkeit artikuliere. Da diese jedoch nicht auf das Seelische allein beschränkt bleibe, sondern in ihrer präzisierenden Arbeit darüber hinausgreife, Außenwelt wie Ausdruckswelt ebenfalls mit einschließe, ergeben sich „zwei Möglichkeiten der Vergegenwärtigung körperlichen Seins“ 342 . Als Vorstellung, die Dinge allgemein, eigener oder anderer, und als „»Hintergrund« der Seele“ 343 . Nach Plessner bedarf jede geistige Bewegung einer Erregung der Physis. Da die Zustandssinne nun über diesen Hintergrund sowie in der Vorstellung ein körperliches Sein immer mitvermittelten, sei es möglich zu behaupten, dass das leibliche Sein bei jeder seelischen Regung - intellektuell oder affektiv - in jedem Falle einen Anteil an dieser hat. Ausdruck und Handlung nun bilden die beiden anderen Arten des Verhältnisses von Körper und Geist: Die Gegenwart von Körpern erscheine dem Geist als Ausdruck, und es greife das Gesetz der Thematik 344 . Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar, während das künstliche Verfahren jeder Kunst darin besteht, Körper wie: Leinwand, Farbe, Stein zu Ausdrucksfeldern zu machen, mit ihnen Sinn zu verleiblichen. 345 340 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, S. 284. 341 Ebd., S. 285. 342 Ebd., S. 286. 343 Ebd. 344 Siehe ebd., S. 220 Schema. 345 Ebd., S. 288. <?page no="82"?> 82 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Es ist die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welche das Grundschema der Erfahrung von Sinn für den Geist darstelle. Mag der Ausdruck nicht oder noch nicht fassbar oder beschreibbar sein, so geht es um die grundsätzliche Erfahrung der Gegenwart eines im Körperbild gegebenen Sinnes, die prinzipielle Erfahrung von Sinn, von Sinn in der thematischen Schau von Idee und Empfindung. Hier findet sich auch die „ theoretische Garantie “ 346 des Verstehens überhaupt: Sie betrifft die Möglichkeitsgrundlage der Verleiblichung einer Intention und der sinngemäßen Korrespondenz im Auffassen von Seiten des anderen Menschen. Die Antwort lautet: jene gesuchte Garantie ist die mitvollziehbare Haltung, die wir zwar gegenständlich gebunden wahrnehmen, aber […] auf jeden Fall körpergegenständlichen Bindung freimachen und dadurch in Bewegung umsetzen können. 347 Plessner findet diese in der mitvollziehbaren Haltung . Im Körperbild erscheine eine bestimmte Verfassung des Geistes, welche an diesem abgelesen werden könne, und zwar in der Weise, dass es, freigemacht von der Erstarrung des Bildes, innerlich wiederum in Bewegung umgesetzt würde: In Bewegung umgesetzt, bestimmten sie den seelischen Habitus, Gefühlslage, Affektivität, Willensrichtung, Gedankenbildung und erhalten dadurch ihren seelischen Untergrund, ihre spezielle Motiviertheit, ihren bestimmten Sinn.“ 348 Nun ist dieser seelische Untergrund nicht der zu verstehende Gegenstand selbst, dieser muss in Form von Sprache als präziser Sinn - metagrammatisch, grammatisch sowie zeichenhaft - weitergegeben werden. Doch der seelische Untergrund bildet allemal die letzte Basis des bis in die Einzelheiten hinein zu verstehenden Gehalts, an dem sich die präzisierende Arbeit der Sprache abzuarbeiten hat, um zu ihrer Präzision zu gelangen. Im Deutschen spiegelt sich dieser Vorgang auch in der Redewendung des „Nachvollziehens“ als Synonym für das Verstehen. Mit dem Ausdruck dies kann ich nicht nachvollziehen äußert man sein Unverständnis. Die Idee der Nachvollziehbarkeit für die Erkennbarkeit zeigt auf einen inneren Bewegungsablauf als Verständnisgrund für das zu Begreifende und für die Verschränkung von Sprache und Bewegung im Vorgang des Verstehens hin. Körperlich gegründet, wird der Verstehensvorgang unmittelbar plastisch und deutlich. Abstraktion bezeichnet dann eine Art des Verständnisses, das sich von jener Art des Verstehens als Nachvollziehbarkeit, der vollständigen innerlichen Kenntnisnahme und Bekanntschaft mit dem Gedanken entfernt hat. 346 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne , S. 288. 347 Ebd. 348 Ebd., S. 289. <?page no="83"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 83 Der Modus des Hörens als Verbindung von Geist und Leib Die Modalität der Zustandssinne bildet demnach die Grundlage für die Vergegenwärtigung des eigenen leiblichen Seins, und sie ist zugleich die Garantie für die Möglichkeit der mitvollziehbaren Haltung , welche ihrerseits die Möglichkeitsbedingung für das Verstehen anderer ist. Hierin besteht die zentrale Stellung der Zustandssinne im Hinblick auf das Verstehen gegenüber jedem, dessen Kundgabe zum Verständnis aufrufe, sei es eine Person, ein Tier oder selbst eine Landschaft. Geben die Zustandssinne dem Bewusstsein ein sich selbst kund, so bilden sie deshalb die Grundlage für die Erkenntnis einer Kundgabe bzw. das Verständnis Anderer. Plessner betont, dass jene Garantie mitvollziehbarer Haltung nur in einem einzigen Fall fassbar werde, nämlich „im verstehenden Hören“ 349 . Die Natur des akustischen Materials, welches in seiner Voluminosität und Dauer bzw. Vergänglichkeit seine letzte Verortung im Stimmraum des Körpers besitzt, bildet die Basis für die Akkordanz zur Haltung und somit zum unmittelbaren Verständnis der Musik. Also ist der Modus des Hörens diejenige Verbindung von Geist und Leib, in welcher Ausdruck als Haltung realisiert werden kann. Oder abstrakter gesagt: im Modus des Gehörs ist jede Sinngebung dem Körperleib möglicherweise gegenwärtig. […] Er ist mithin diejenige Art des Verständnisses von Geist (Einheit der Sinngebung) und Körperleib, in welcher der Geist dem Leibe sich kundgibt, […]“ 350 Nicht der Körper als Gegenwart, sondern als Mittel ist die dritte Art des Verhältnisses von Körper und Geist. Sie mündet: „in zielgemäß gerichteten Bewegungen der Körper, in Handlungen.“ 351 Der optische Modus und sein wesentliches Element der Sehstrahl, Urbild der Linie auf etwas hin, schließen ihr nicht wie der akustische Modus den Zustand eines phänomenalen Stoffes auf, sondern ergreife in ihr das Ziel des Handelns. In der Geometrie sieht Plessner die reinste Form seiner Funktion materialisiert. Mit ihrer Hilfe erschließt sich der Mensch den Raum und lernt diesen zu beherrschen. Mittels dieser Fähigkeit unterwerfe er sich die Welt, halte sie im Griff, könne sie berechnend ergreifen. Mittels der Funktion des optischen Modus wende sich der Mensch zu einem Gegenstand des Äußeren als Ziel oder Zweck, 349 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), S. 289: „Hier geben einfache Veränderungen in der Linienführung der Tonfolgen, in ihrer akkordischen Verdickung und Verdünnung, in ihrer Verflechtung und Entwirrung deutbare Gehalte. […] Musikalisches Hören stellt […] den reinsten Fall thematischen Verstehens dar. 350 Ebd., S. 290. 351 Ebd., S. 287. <?page no="84"?> 84 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST sogar jenes Äußeren, welches noch in der Zukunft liege. Durch Berechnung lerne er, es zu bestimmen und zu kontrollieren. Der Körperleib und die Kundgabe seines Zustandes spielten hier eine untergeordnete Rolle. Muss der Mensch dafür Sorge tragen, dass jener in seinem Tun weiterhin funktioniere, also zum Beispiel gesund bleiben, so bleibe er jedoch selbst vom berechnenden Zugriff auf die Welt selbst weitgehend ausgeschlossen, oder nur ein Bestandteil, den es zu bedenken gelte, soll der berechnete Zweck erreicht werden. Daher stamme auch die Abstraktion und Universalität der Wissenschaft. Distanz als dessen Art der Abstraktion bezeichne den Charakter des optischen Modus. Trotzdem ist die Ästhesiologie genötigt, den optischen Modus geradezu als die Weise der Aktualisierung ferner Mannigfaltigkeit zu fassen […] Der strahlige Bau dieser Modalität läßt jede Mannigfaltigkeit dem Bewusstsein gegenständlich erscheinen. 352 Allein selbst jene Gegenständlichkeit bleibe auch noch körperlich erlebbar und lasse auch heute noch die Spuren ihrer einst im Körperleib selbst verankerten Maße erkennen, und zwar in alten Bezeichnungen wie Elle oder Fuß . Eine lebendige Beziehung zwischen Maß und zu messendem Gegenstand - im Gegensatz eines von allem Gegenstand abstrahiertem Messsystem -, zeigen bis heute die schottischen Bauern, welche die Größe der Pferde in hands messen. An diesen und anderen Beispielen kann man noch immer die ursprüngliche Beziehung quantitativer Systeme zum Körperleib ausmachen. Wendet sich der Mensch im Modus des Optischen zum gegenständlichen Anderen, so erlebt er sich im Modus des Zuständlichen als ein Selbst und erlebt sich im Modus des Akustischen zu seinem Gegenüber als dessen Gegenüber oder sich selbst als sein eigenes Gegenüber. Der Modus des Akustischen führt die Mitte zwischen dem Unmittelbaren und dem Fernen aus. Er ist der Modus der qualifizierten Distanz per se, des Mittleren und birgt somit auch die Bedingung der Möglichkeit der Vermittelbarkeit. Deshalb auch ist er das bevorzugte - wenn auch nicht einzige - Material der Sprache, welche ob ihrer Kundgabefunktion des Eigenen wie Fremden, des Inneren wie Fernen eine Modalität benötigt, die sich verschiedensten Umständen anpassen lässt. Zwischen der Distanz des optischen Modus, der unmittelbaren Nähe der Zustandssinne und der mittelbaren - über die Bewegung mittelbaren - Gegebenheit des akustischen Modus vermittelt die alles präzisierende Sprache, die Verlautbarung schaffende Rede. 352 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 292 und 293. <?page no="85"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 85 Die Gegenständlichkeit der Sinne Die Frage nach der Gegenständlichkeit der Sinne war eine der Ausgangsfragen für das gesamte Unternehmen der Ästhesiologie des Geistes . Im letzten Kapitel nimmt Plessner das Problem wieder auf und führt es seiner Lösung entgegen. Seine Kritik an den zeitgenössischen Objekt- und Objekterkenntnistheorien richtet sich vor allem gegen die Vorstellung, dass die beiden Pole des Subjekts auf der einen und des Objekts auf der anderen Seite durch vermittelnde Schritte zu überbrücken seien. Vielmehr müsse der sinngebende Teil, der Geist „ein für allemal“ 353 von den physischen Vorgängen abgelöst werden, denn an diese könne sich kein Bewusstseinsvorgang anschließen, ohne dass sich eine metabasis eis allo genos einstellte. Plessners Lösungsvorschlag sieht eine Verschränkung von Subjekt und Objekt vor, und zwar im Sinne der Gegensinnigkeit , des „gegensinnig Aufeinanderbezogenseins von subjektiver Zuwendung im Sinnesfeld des Auges, Ohres, der Haut usw. und objektivem Einströmen des Lichtes, Schalles, Druckes usw.“ 354 . Wie aber, so fragt er, lassen sich diese beiden Pole gegensinnig miteinander verbinden? Es könne „nur die Art und Weise sein, in welcher sowohl Psychisches als Physisches objektiv gegenständlich existieren.“ 355 Zum einen komme Materie in den „Qualitäten der Sinne“ 356 gegenständlich zur Darstellung, zum anderen werde einem Subjekt etwas gegenständlich nur als sinnvolles Verhältnis, als ein vom „Geist als der Einheit der Möglichkeiten“ 357 Gegebenes: Wenn aber das Wort Geist überhaupt eine Berechtigung haben soll, so muss es, da es umfassender ist als Verstand und Vernunft im theoretischen-diskursiven Sinne, die Einheit aller Auffassungsweisen bedeuten, in denen wir verstehen, nach denen wir etwas zum Ausdruck bringen können.“ 358 Der Mensch und sein Milieu In den drei Modi des Optischen, Akustischen und Zuständlichen werden sowohl physische wie psychische Gegenstände für ein Bewusstsein erfahrbar. Die Gegenwart der Erfahrung des Bewusstseins spielt sich im Körperleib ab. Und wieder erkennen wir die zentrale Rolle des Körperleibes bei Plessners erkennt- 353 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 301. 354 Ebd. 355 Ebd., S. 302 356 Ebd. 357 Ebd. 358 Ebd., S. 279. <?page no="86"?> 86 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST nistheoretischen Überlegungen. Denn jeder Bewusstseinsinhalt besitzt danach zwingend „eine Materie, Physisches sowohl wie Psychisches.“ 359 Nur wird physische Materie durch die Sinne erfahrbar, bzw. präsentabel, psychische jedoch zeigt sich dem Bewusstsein durch die innewerdende Betrachtung: Dieses treffen wir an als darstellbaren Gehalt […] als Ding von der Struktur eines Kerns, den Eigenschaften umschließen. Jenes finden wir innewerdend als präzisierbaren Gehalt, als Ineinander von Bestimmbarkeiten. Beide Materien, physische wie psychische, aber unterstehen gleichermaßen der Prägnanz als Inhalte überhaupt. 360 In der Beschreibung des Dinges von der Struktur eines Kernes, den Eigenschaften umschließen finden wir die phänomenologische Objektbeschreibung eines Husserl aufgenommen. Sie wird uns, bereichert um den Plessnerschen Begriff der Grenze , in den ersten Kapiteln der Die Stufen des Organischen und der Mensch 361 wieder begegnen und dann zur Bestimmung des Lebendigen grundlegend werden. Hier bildet der optische Modus die Möglichkeitsbedingung für das In-Erscheinung-Treten des äußeren Gegenstandes - weder subjektiv noch absolut, sondern objektiv. Unsere Theorie rettet die Erscheinung davor und begründet die Objektivität der Modalitäten, die Wirklichkeit des Aussehens der Dinge, die Wahrheit des Antlitzes der Natur. Die Qualitäten sind nicht absolute Seinszustände und sie sind keine subjektiven Zustände. Sie sind vielmehr die Weisen, in denen absolutes, das heißt vom Bewusstsein losgelöst beharrendes Sein, der Stoff, die Materie gegenständlich: für ein Bewusstsein wirklich werden kann. Als solche ermöglichen sie die Natur, während die anderen Theorien sich damit beschäftigen, sie als Bestandteile der Natur, als Produkte der Einwirkung von Dingen auf Seelen zu erklären. Der Modalität nach ist Wahrnehmung für ein leibliches Wesen a priori.“ 362 Mit dieser materiellen Objekterkenntnistheorie stellt Plessner der von Galilei initiierten Methode der quantitativen Erforschung der Dinge eine qualitative mit dem Ziel zur Seite, dass die „Erkenntnis der Natur auch im Bilde ihrer Erscheinung, als objektives Milieu des Menschen“ 363 verständlich werde. Plessner legt damit eine Theorie vor, welche nicht vor dem Angesicht der Welt verzweifeln muss, sondern diese in ihren Qualitäten erkennbar werden lässt. Aufschluss- 359 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 303. 360 Ebd. 361 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 129. 362 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 310. 363 Ebd., S. 311. <?page no="87"?> Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 87 reich scheint hier der Begriff des Milieus zu sein, denn er verweist auf eine dem Menschen angemessene Welt hin. Es handelt sich um die Welt, in der er lebt und der er entspricht. Weder geht es um die Welt als Makronoch als Mikrokosmos, welche die Wissenschaft mit ihren Apparate bedürftigen Hilfsmitteln erforscht, sondern um einen Mesokosmos. Nur diese mittlere Welt bringt sich das Lebewesen Mensch mit seiner spezifischen organischen Ausstattung zur Gegenständlichkeit. Der Mesokosmos ist jener Ausschnitt Welt, welcher ihm die am besten gesicherte Erfahrungsbasis bietet. Dieser Welt entspricht er bestens. Jenes Milieu als seine objektive Welt ist das Angesicht der Welt für den Menschen. Resümee Plessners Ästhesiologie des Geistes ist eine Objekterkenntnistheorie auf phänomenologisch-hermeneutischer Basis sowie eine Werttheorie als Theorie der Bedingungen der Möglichkeiten des Objekts bzw. seiner Gegenständlichkeit im Bewusstsein als eines qualitativ Gegebenen. Als geltungstheoretische Überlegungen stehen ihre Thesen außerhalb der Anwendung und Anatomie des natürlichen Bewusstseins. Die von Plessner vorgeschlagene Systematik schuldet ihr Dasein einer ästhesiologischen Untersuchung des Geistes, deren Zuordnungen sie zwischen geistigen Gehalten (Kunst, Sprache und Wissenschaft) und den Arten ihrer Versinnlichung in notwendig diesen und nicht anderen sinnlichen Materialien durchführt. Nicht in Raum und Zeit als Formen der äußern bzw. inneren Anschauung, sondern in den Modi der Sinnlichkeit nach unterschiedlicher Art der aufmerksamen Zuwendung konstituiert sich Natur. Und da Fühlen, Haltung und Handlung als konkordante Entsprechungen des Leibes den Modi korrespondieren, gilt: „daß der Leib als Einheit der Haltung die qualitative Form und Gestalt ist, in welcher Körper und Seele ineinander verankert existieren.“ 364 Res cogitans und res extensa finden sich im Körperleib verschränkt und vermöge der drei sinnlichen Modi, des optischen, akustischen und zuständlichen Modus, materiell wie formal vermittelt. Die Konstitution des Menschen aus seinem Milieu und ohne Rückgriff auf metaphysische Annahmen findet in ihrem theoretischen Zentrum den menschlichen Körperleib. Plessner widmet sich also jenem Problem der Theorie von Leib und Seele, dessen Lösungsvorschlag die Ästhesiologie des Geistes enthält. 364 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 314. <?page no="88"?> 88 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie 365 Unter den seienden Dingen, das Lebendige Um unter den seienden Dingen das Lebendige zu bestimmen, zieht Plessner den Begriff der “Grenze” 366 heran. Lebendigem Sein, behauptet er, gehöre seine Grenze an, nichtlebendigem Sein sei sie äußerlich und Rand. Das nichtlebendige Sein stoße dort an, wo Anderes beginne. Lebendigem Sein vermittle seine ihm angehörige Grenze das Äußere und diesem das lebendige Sein. Es sei eine gegensinnige Vermittlung, welche sich an und vermöge der Grenze ergebe. Sie verhalte sich wie eine Membran, ein Organ der vermittelnden Trennung. Mit dieser Bestimmung jedoch, wechselt Plessner die Kategorie seiner Betrachtung. Aus einer Idee, der Grenze als doppelter Begriff, einmal als Rand, ein anderes Mal als vermittelnde Trennung, wird ein in der Welt der Dinge bestehender Sachverhalt behauptet, eine Konzeption in einen ontologischen Tatbestand verwandelt. Plessner selbst meint dazu, dass der Grenz-Sachverhalt nicht zu beobachten sei, er bleibe Konzept, biete sich jedoch als schlüssig wie grundlegend für die Konstitution eines ontologischen Sachverhaltes an. Dies müsse sich im Laufe der Untersuchung entsprechend erweisen. Der Fortgang bedarf jedoch noch einer weiteren methodischen Vorüberlegung: Leiht sich die phänomenologische Methode der Betrachtung der Gegenstände, ihrer Vergegenwärtigung und Annäherung an ihren Kern über seine Aspekte, so bleibt ihr jedoch weitgehend der Zugang zur Beschreibung dynamischer Prozesse verwehrt. Aus diesem Grunde wählt Plessner einen methodisch gemischten Zugang zu seinem Gegenstand, dem Lebendigen Ding in der Welt, seiner Entwicklung und zu seinem Unterschied zu den nichtlebendigen Dingen. Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grund- 365 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch . Einleitung in die philosophische Anthropologie , (1928), 3. Aufl. Berlin 1975. Hier benutzt: Gesammelte Schriften Bd.: IV, Hg. v. Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker unter Mitwirkung v. Richard W. Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Zemlin, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1627, Frankfurt a. M., 2003. 366 Ebd., S. 30: „Welches Faktum bildet den Ausgangspunkt für die Theorie der organischen Modale? Die Antwort kann zunächst nur lauten: das Faktum der Begrenzung und der durch sie gewährleisteten Selbständigkeit eines für belebt geltenden physischen Körpers.“ <?page no="89"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 89 sachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen.“ 367 Die Dialektik, die Plessner hier anspricht, ist durch das Wesen des Lebendigen selbst als ein Sich-Veränderndes bestimmt. Ein Gegenstand, welcher sich dem Beobachter als ein solcher darbietet, braucht für die theoretische Beschreibung notwendig eine Methode, welche sich ihm auch anzupassen weiß. In der Kombination von phänomenologisch-hermeneutischer Betrachtung und Dialektik ensteht der theoretische - der erschaute - Gegenstand: das lebendige Ding. Die Stufen basieren als Ontologie des Lebendigen also auf der Funktion der Grenze als Membran. Membranen sind nicht bloße Oberflächen, die jeder Körper je nach seinem Aggregatzustand gegen angrenzende Medien eines anderen Aggregatzustandes hat. Sie sind vermittelnde Oberflächen. An ihnen ist der Körper nicht einfach zu Ende, sondern zu seinem Medium in Beziehung gesetzt. 368 Membranen dienen somit als Definiens des Lebendigen, verlängern die Absicht - wie schon in der Ästhesiologie neben dem kantischen Schematismus der Tagmatismus und Thematismus - der Plessnerschen materiellen Erkenntnistheorie in das allgemein Seiende, genauer: das lebendig Seiende, hinein. Deshalb muss Plessner mit dem Begriff der Grenze zwingend den Sprung aus der ideellen Begrifflichkeit in den ontologischen Sachverhalt wagen. Mit der Grenzhaftigkeit der seienden Dinge allein, in ihren beiden Formen - Rand oder Membran -, ergibt sich die Differenz zwischen dem unbelebten und belebten Ding als ontologischer Tatbestand, ohne dass dafür der Rückgriff auf weiterführende naturwissenschaftliche, metaphysische oder andersgeartete Begrifflichkeit erforderlich wäre. Nicht feststellbar oder darstellbar, jedoch erschaubar, ein intuitiver Tatbestand und erweislich in seiner Anwendung, kommt der Plessnersche Grenzbegriff präzise auf jener Erkenntnisabsicht zu liegen, welche er als phänomenologisch-hermeneutische Methode bestimmt, die sich im Stufenbau des Lebendigen auch mit ihrer Dialektik als tragfähig erweisen muss. Gelänge es, aus diesen methodischen Bausteinen auf der Basis des Begriffs der Grenze die differentia specifica des Lebendigen unter den Seienden Dingen in ihrer Vielfalt herauszuarbeiten, so hätten sich die Idee, ihre Begrifflichkeit wie ihre Methode im Rückblick bestätigt. Was für den Begriff der Grenze gilt, besitzt auch Gültigkeit für weitere Konzepte im Aufbau der Stufen , ob es sich dabei um das Konzept der Doppelaspek- 367 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 167. 368 Ebd., S. 437. <?page no="90"?> 90 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST tivität 369 , der Form in ihren beiden Spielarten der offenen Form 370 und der geschlossenen Form 371 oder ob es sich um die Form der organischen Organisation im engeren Sinne, der dezentralen 372 und zentralen 373 Organisation, handelt. Dasselbe gilt ebenfalls für die zentralen Begriffe der Positionalität 374 und der exzentrischen Positionalität 375 ‒ wesentlich für die Bestimmung des Menschen in Plessners philosophischer Anthropologie. Immer trifft Vokabular, gewonnen aus der theoretischen Anschauung, auf einen ontologischen Sachverhalt. Der Blick des theoretikos ist Entdeckung und Erfindung zugleich. Bewahrheiten muss er sich in der prüfenden Rückschau. 369 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 137: „Der Doppelaspekt konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers, aber als echte Bedingung verliert er sich in dem von ihm Bedingten.“ Ebd., S. 138: „Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig .“ Ebd., S. 308: „Der Doppelaspekt von Körper und Leib, so hieß es, ist der positionale Gegenwert der physischen Trennung in eine das Zentrum mit enthaltende und eine vom Zentrum gebundene Körperzone. In ihm von ihm abgehoben ist der geschlossene Organismus, das Tier, die Einheit des Wechsels der Aspekte, wie sie durch das Hier vermittelt wird.“ 370 Ebd., S. 284: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ 371 Ebd., S. 291: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ 372 Ebd., S. 315: „Bei dezentralistisch organisierten Tieren ersetzt die Einheit des Plans die Einheit des Impulses.“ Ebd., S. 316: „Nicht bloß jedes Organ, sondern auch jeder Muskelstrang mit seinem Zentrum handelt völlig eigenmächtig. Daß dabei doch noch etwas Vernünftiges herauskommt, ist nur das Verdienst des Planes […] Wenn der Hund läuft, so bewegt das Tier die Beine - wenn der Seeigel läuft, so bewegen die Beine das Tier.“ 373 Ebd., S. 317: „Mit der Differenzierung der Rezeptoren hält die Ausgestaltung des motorischen Apparates nur insofern Schritt, als eine immer stärkere Zentralisierung d. h. Subordination der Wirkzentren erfolgt.“ 374 Ebd., S. 184: „In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität . Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht. Wie geschildert, bestimmen die Momente des »über ihm Hinaus« und das »ihm Entgegen, in ihn Hinein« ein spezifisches Sein des belebten Körpers, das im Grenzdurchgang angehoben und dadurch setzbar wird. […] Der unbelebte Körper ist von dieser Komplikation frei. Er ist, soweit er reicht. Wo und wann er zu Ende ist, hört auch sein Sein auf. Er bricht ab. Ihm fehlt die Lockerung in ihm selber.“ 375 Ebd., S. 364: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner formalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“ <?page no="91"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 91 Eine Theorie der konstitutiven Wesensmerkmale oder Modale des Lebens, […] als notwendige Ausprägungen einer bestimmten Seinsgesetzlichkeit zu erkennen, entfernt sich damit zwar unvermeidlich von der Sphäre der konkretsinnlichen Anschauung […] Aber sie stützt sich doch nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe, und sucht unter Vereinigung dieser Sachverhalte die Wesensphänomene des Lebens in ihrer Differenzierung zu begreifen. 376 Der intuitiv gewonnene Sachverhalt kann keinen Bestand haben, wenn er keine Entsprechung in der Welt findet. Hat er Bestand, dann begegnen sich beide Perspektiven vermittelt im sich beobachtenden Beobachter, der Körper hat und zugleich Körper ist. Die sich im Laufe der kritisch theoretischen Betrachtung in den Stufen entwickelte Begrifflichkeit bedarf - um lebendige Prozesse darstellen zu können - jedoch einer dynamischen Charakteristik, welche einzig aus dem Entwicklungsprinzip der Stufen selbst gewonnen werden kann. Zuerst bestimmt Plessner den Begriff der Stufen selbst „als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird.“ 377 Der Begriff der Stufe steht darum in einem gewissen Gegensatz zur Idee, die Plessner erläutert als eine „diskontinuierliche Mannigfaltigkeit gegenseitiger Überhöhungen ohne Möglichkeit, von einer Stufe zur nächsten nach einem Prinzip kontinuierlichen Fortgangs zu gelangen.“ 378 Wir sehen hier den theoretikos am Werk, der mit phänomenologisch geschultem Blick Gegebenheiten erschaut, beschreibt und im Stufenbau dialektisch miteinander vermittelt. Dies ist die Methode der Stufen , mit welcher die „regionale Ontologie des Organischen“ 379 erschaffen und das Reich des Lebendigen vom Reich des Unbelebten, in dem Stoß und Zug regieren, unterschieden werden soll. Doch sowohl Gegenstand wie Wesen dieser Theorie des Lebendigen bedürfen der weiteren Klärung, um möglichen Missverständnissen mit einer naturwissenschaftlichen Methodologie vorzubeugen. Von der Naturwissenschaft betrachtete Gegenstände müssen die Eigenschaft der Darstellbarkeit besitzen, damit sie im Fortgang der Erfahrung bestimmbar bleiben. Darstellbarkeit bedeutet jedoch, dass der dargestellte Sachverhalt in einen weiteren Darstellungsmodus übersetzbar sein muss. Appetit ist erlebbar, zur „Darstellung aber wird der Appetit erst durch den Nachweis verstärkter Sekretion des Magensaftes etwa gebracht“ 380 . Für die jedoch durch Anschauung 376 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 167. 377 Ebd. 378 Ebd., S. 302. 379 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Macht und menschliche Natur , S. 227. 380 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 172. <?page no="92"?> 92 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST gewonnenen Gegenstände gilt: „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzugehen, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“ 381 Für die „Wesenseigentümlichkeiten der organischen Natur“ 382 der biologischen Philosophie Plessners gilt, dass sie zur Klasse der anschauungsmäßig gewonnenen Inhalte gehören. Damit entziehen sie sich jener Darstellbarkeit. Desgleichen können sie weder nach dem Schema der emanatistisch-metaphyischen Logik noch dem der analytischen Logik entwickelt werden, da weder Entitäten noch Begriffe vorgegeben sind, sondern allein der anschauungsmäßig zu gewinnende Sachverhalt 383 . Es muss die Wirklichkeit dieses Sachverhaltes ermittelt werden: Gegeben sind ein erschauter Sachverhalt wie zum Beispiel die Grenze und das Phänomen der Lebendigkeit. Die Wahrheit der Vereinigung der beiden Auffassungen wird nun dadurch erlangt, dass „in allen Bestimmtheiten des wirklichen physischen Dinges die >Forderungen< der Wesenheit Ganzheit erfüllt sind.“ 384 Dies ist ein deduktives Verfahren, welches die Erfüllung der Bedingungen der Möglichkeit für einen Sachverhalt prüft. Eine derartige Deduktion der Kategorien oder Modale - wohlgemerkt nicht aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung, denn den gibt es ja für sich nicht, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner Realisierung - bildet den Zentralteil der Philosophie des Lebens. 385 Wenn sich Plessner nach den allgemein methodologischen Überlegungen dem Lebendigen als Gegenstand zuwendet, so beginnt er seine Untersuchung mit den indikatorischen Wesensmerkmalen 386 , jedoch bloß, um diese gleich wieder einschränkend in ihrer systematischen Stelle und Beweiskraft nach den kategorischen Merkmalen des Lebendigen wie z. B. der Positionalität hintanzustellen. Die Einschränkung bezieht sich vor allem auf den Phänomencharakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit, welcher es nicht zuließe, von phänomenologischen Sachverhalten - wie der Spontaneität, Plastizität, Unstetigkeit im Stetigen oder relativen Variierbarkeit (der Periode) 387 - auf onto- 381 Ebd. 382 Ebd., S. 175. 383 Ebd., S. 174. 384 Ebd. 385 Ebd., S. 175. 386 Ebd., S. 177. 387 Ebd., S. 178. <?page no="93"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 93 logische zu schließen, denn "[das] Sein, das erscheint, ist zwar auch Sein, aber nicht das ganze Sein, wie es an ihm selbst und in ihm selbst west und ist." 388 Der Anschauungsindizien der indikatorischen Wesensmerkmale des Organischen gebe es viele, aber von besonderem Interesse für ästhetische Sachverhalte erscheinen neben der phänomenalen Ähnlichkeit als Erscheinungen von indikatorischen Wesensmerkmalen des Organischen und Ästhetischen der Eindruck des Lebendigen selbst, welcher von diesen ausgehe. Zu den indikatorischen Wesensmerkmalen zählt Plessner: Periodizität, spontane Wechsel innerhalb einer Regel, Unstetigkeit im Stetigen (Rhythmus) und Variierbarkeit sowie Plastizität oder die "Freiheit gegen die Form unter der Form" 389 Doch wichtiger noch für den Eindruck des Lebendigen erscheine das Phänomen der Tendenz: […] lebendig erscheint diejenige Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt und deren reeller Verlauf somit im Charakter der Erfüllung gegeben ist. 390 Erfüllung einer Tendenz setzt Spannung voraus, welche einem in der Zeit sich darstellenden Werk angehört. Das Paar Spannung und Erfüllung ist ebenfalls Grundbestandteil jeder Erzählung und impliziert die weiteren Bausteine jeden erzählerischen Geschehens wie Anfang, Entwicklung und Ende, sei es in Wort, Ton oder Bewegung. Plessner selbst benennt in diesem Kapitel den kategorienüberschreitenden Charakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit, welcher sich bei diesen Phänomenen einstelle. Das Auftreten dieser Merkmale bei toten Gegenständen verursachte unmittelbar den Eindruck des Lebendigen, welcher vom Verstand leicht auch wieder korrigiert werde, wie wenn z. B. ein von einem Gummiball bewegter Tisch, der obzwar kurz, unerwartet den Eindruck von Lebendigkeit erwecke. Das Reich des Lebendigen und die Lockerung des Seins Nach Plessner unterscheidet sich das Reich des Lebendigen vom Reich des Nicht-Lebendigen in einer Lockerung des Seins. Wo das Gesetz von Zug und Stoß regiere, träfen die Gegenstände unmittelbar aufeinander. Es gäbe hier keinen Abstand, keine Zone eines irgendwie gearteten Dazwischen halte die Kräfte auseinander, ordne oder hege sie ein, im Gegenteil: dort, wo der eine ende, beginne auch schon der andere. Beide dringen aufeinander ein, werden von wieder anderen bedrängt, gestoßen, gezogen, und alle bilden ein Zusammen Vieler. Der 388 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 180. 389 Ebd. 390 Ebd., S. 179. <?page no="94"?> 94 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Ort ihres Zusammentreffens sind für Plessner die Ränder. Diese sind undurchdringlich und für sich, es sei denn, die Gegenstände änderten ihre Natur im Ineinander-Übergehen, im Auseinander-Fallen und schließlich in neuen Gebilden. Andere Ränder wären die Folge. Eine allgemeine Dynamik beherrsche die Zustände, und sie gelte für jeden Gegenstand und Gegenstandsteil in gleicher Weise. Denn dort, wo die Gegenstände ohne Grenzen seien, gebe es auch keinen Unterschied zwischen Innen und Außen als unterscheidbare und vereinzelte Räume, sondern allein die bruchlose Fortsetzung eines räumlichen Innen zu seinen Rändern hin als einem Anderen 391 . Dies sei das Reich der Naturwissenschaften, der es allein aus diesem Grunde möglich sei, ihre ehernen Gesetze zu formulieren. Es ist das Reich des Zugs und Stoßes. Es ist ein festes, fest geschnürtes Sein 392 . Im Unterschied zu diesem bestehe das Reich des Lebendigen in einer Lockerung 393 der Verhältnisse. Und diese Lockerung bestehe zuallererst in der Grenze, welche dem lebendigen Ding selbst angehöre. Die Grenze sei ebenfalls ein Ort des Zusammentreffens wie der Rand, doch im Unterschied zu diesem sei 391 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 184: „In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität . […] Der unbelebte Körper ist von dieser Komplikation frei. Er ist, soweit er reicht. Wo und wann er zu Ende ist, hört auch sein Sein auf. Er bricht ab. Ihm fehlt die Lockerung in ihm selber.“ Hier ist auch an eine Bestimmung des Seins nach Parmenides zu denken, wenn er schreibt: „Demnach ist es [das Sein] ganz zusammenhängend: Denn Seiendes stößt an Seiendes.“ In: „Parmenides“, Die Vorsokratiker. Bd. II , Gemelli Marciano, M. Laura (Ausw./ Übers.), Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2007, S. 21. Diesem Zusammenhängenden „fehlt die Lockerung in ihm selber“, wie Plessner es beschreibt. 392 „Parmenides“, in: Die Vorsokratiker. Bd. II , Gemelli Marciano, M. Laura (Ausw./ Übers.), Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2007, S. 21: „Auch nicht trennbar ist es, weil es ganz gleichmäßig ist. Weder ist an dieser Stelle ein Mehr, dass es hindern könne, zusammen zu sein, noch ein Weniger, sondern es ist ganz vom Seienden erfüllt. Demnach ist es unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, ohne Anfang, ohne Ende, da Entstehen und Vergehen in die weiteste Ferne verschlagen worden sind. Der wahre Beweis hat sie vertrieben.“ Ebd. S. 23: „Da es aber eine äußerste Grenze hat, ist es vollendet, gleich der Masse einer von allen Seiten wohlgerundeten Kugel, von der Mitte her überall gleich.“ 393 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 187: „Ein Ding positionalen Charakters kann nur sein, indem es wird; der Prozeß ist die Weise seines Seins. Zum positionalen Charakter gehört, daß das Ding über ihm hinaus, in ihm hinein ist. Um dieser Forderung Rechnung zu tragen, muß das Ding sozusagen in die Lage verstetzt sein, von ihm Abstand zu nehmen. In der Abhebung von ihm, in der Lockerung seines Seins gegen dieses Sein besteht die einzige Möglichkeit, das Übergehen (als den Sinn der Grenze) real an ihm zu haben. Ein [188] Ding wird aber nur dann wirklich in die Lage versetzt, von dem Bereich seines Seins wesenhaft abzustehen, d. h. über ihm hinaus, in ihm hinein zu sein, wenn es nicht in den Begrenzungen bleibt, die ihm - obwohl nicht zufällig - gezogen sind. Sein »Sein« ist damit wesenhaft zum Übergehn bestimmt.“ <?page no="95"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 95 die Grenze transparent und vermittele die vormals aneinanderstoßenden Gegenstände gegensinnig miteinander. Der Begriff der Positionalität Im Begriff der „Positionalität“ 394 konzentriert sich der Unterschied zwischen belebten und unbelebten Dingen. Positionalität bezeichne jene Lockerung des Seins, welche das Lebendige in eine spezifische Ferne zu seinem Umfeld rücke. Es sei der Ausdruck des Inneren eines Organismus. Positionalität sei keine räumliche, sondern eine raumhafte Vorstellung, und die Distanz, welche sie kennzeichne, bestehe in ihrer spezifischen Ferne zu den Grenzen des lebendigen Dinges hin, und darüber hinaus zu den Sinnesorganen, Atmung, Stoffwechsel und Gleichgewichtssinn etc. Die Grenze wiederum vermittle dieses Innen gegensinnig mit seinem Umfeld. Diese Dynamik gestatte es dem seine Grenze habenden Ding, die Festigkeit und Undurchdringlichkeit des unbelebten Seins zu lockern. Es könne zu diesem in Stellung gehen, eine Stellung, eine Position zum Sein einnehmen. Nun erst werde die trennend-verbindende Funktion der Grenze offensichtlich, indem durch sie hindurch ein Innen zu dem es umgebenden Sein, einem Außen, vermittelt werde. Durch die gegensinnige Vermittlung der Grenze sei eine spezifische Ferne zwischen dem Innen des Lebendigen zum Außen entstanden: Positionalität . Im Prozess der Vermittlung „über ihm hinaus“ sowie „in ihm hinein“ drücke sich eine Lockerung des lebendigen Seins aus. Die Grenze verwandele die anstoßenden und ziehenden Verhältnisse in ein Innen und ein Außen 395 . Ein lebendiges Ding ragt aus den Stoß- und Zugverhältnissen des unbelebten Seins durch die Komplikation der Lockerung heraus, kann damit einen Platz im Sein behaupten und nicht nur ausfüllen. Die anstoßenden Verhältnisse sind für es ein Außen. Diese topologische Überlegung gilt ebenso chronologisch. Das lebendige Ding als ein seine Grenze Besitzendes vereinigt Werden und Beharren. Zusammengefaßt: ein lebendiges Ding kann existieren, weil es möglich ist, die grenzbedingten Seiten des Werdens und Beharrens zum Prozeß zu vereinigen, ohne damit die phänomenale Dingkörperlichkeit selbst aufzugeben und dem Prozeß zum Opfer zu bringen. Das Ding hält sich dem Prozeß gegenüber nicht fern, sondern nur in ihm begriffen bleibt es Ding. Wodurch? Durch Abhebung 1. der Dinglichkeitscharaktere, 2. des Typus oder der Formidee von der faktisch in den Prozess hineingezogenen dinglich-körperlichen Form. Um der Konstanz der Dinglichkeit willen, die im Prozess 394 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 28. 395 Ebd., S. 212 ff. <?page no="96"?> 96 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST verloren gehen müsste, ist die Körpergestalt des lebendigen Dinges typisch oder seine Form dynamisch. 396 Der Modus des Prozesses heißt Entwicklung 397 und die Formidee nennt sich das Vorwegseiende. Damit stelle sich für das lebendige Ding Entelechie als Seinsmodus ein 398 , aber nicht als Naturfaktor, sondern allein entsprechend der spezifischen Distanz des lebendigen Dinges zu seinem Umfeld. Entwicklung bedeutet hier eine zweifache Beziehung zum Sein: dem Beharren bleibt ein Sein, es ist dem Werden entzogen, denn „dem Prozess als Entwicklung [ist] das Sein als das Werdende entzogen.“ 399 Da das lebendige Ding „über ihm hinaus“ sei - auch zeitlich -, ergebe sich in diesem Werden Gegenwart, da „das Ding nur insoweit ist, als es kommt.“ 400 Dort, wo die Chronologie des Seins gelockert ist, wo es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, erscheine die Frage nach dem Tod. Plessner konstatiert dem Leben die Schicksalsform von „Jugend, Reife, Alter, weil sie dem Entwicklungsprozess wesentlich sind.“ 401 Doch er sagt auch, „Leben ist nicht Sterben“ 402 . Denn wenn es so wäre, müsste der Tod ein Teil des Lebens selbst sein, das Leben würde mit dem Tod nicht enden. Zwischen Leben und Tod konstatiert Plessner eine „Hiatusgesetzlichkeit“ 403 . Das Leben schaffe nur die Voraussetzungen für seinen Tod, müsse aber schließlich von diesem überwältigt werden: „Tod und Leben sind unvermittelt als absolute Gegensätze im Akt des Sterbens aufeinander bezogen.“ 404 Mit dem Tod sinkt das lebendige Ding ins Sein zurück. Die einstige Lockerung des Seins, welches sein Wesen darstellte, zerfalle, die Grenze verwandelt sich zurück zum Rand. Das von der Grenze Umschlossene ist gelöst. Als ein Ganzes sei das lebendige Ding Körper, als ein in ihm Seiendes könne es Körper haben. Doch „wie gewinnt diese Binnenhaftigkeit des »Kerns« Realität? “ 405 Sie gewinnt diese dadurch, „dass sie als Potenz, als Vermögen, wirkliche Möglichkeit erscheint.“ 406 396 Ebd., S. 192. 397 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 196. 398 Ebd., S. 203. 399 Ebd., S. 197. 400 Ebd. 401 Ebd., S. 211. 402 Ebd., S. 205. 403 Ebd., S. 208. 404 Ebd., S. 210. 405 Ebd., S. 232. 406 Ebd. <?page no="97"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 97 Weil das lebendige Ding ein organisiertes vielfältiges Ganzes sei, sei es in sich selbst mit sich vermittelt und besitze infolgedessen Potenzen. Infolgedessen sind die Potenzen, weil sie das Lebewesen hat; hat sie das Lebewesen, weil sie den Gesamtbestand seines realen Seins bilden. Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen. 407 Das Lebewesen besitze als ein in sich selbst vermitteltes Ganzes die Potenz, und zwar als ein Sich-selbst-voraus-Sein, und es ergibt sich somit eine Perspektive der Umkehrung des physikalischen Zeitverlaufs von der Vergangenheit durch die Gegenwart zur Zukunft. Denn als ein wirklich Seiendes habe das Lebewesen einen erfüllten Bezug zur Zukunft in seinem Sich-selbst-voraus-Sein. Bedingt die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Gegenwart, so ist eine reale Möglichkeit gegeben: unter dieser Bedingung einer Zukunftsbeziehung steht potentielles Sein. 408 In seinem Vorwegsein vermittele sich das Lebewesen der Vergangenheit, doch im Vollzug dieser Dynamik sei ihm damit etwas gegeben, was keinem leblosen Ding eigen sein kann, nämlich Gegenwart. Das Abstraktum Zeit verwandelt sich so in den Augenblick. Das lebendige Sein vermittele sich ununterbrochen und stehe somit im Modus der Gegenwart, wie „eine ruhige Flamme“ 409 . Als Ding sei das lebendige Ding allen Bedingtheiten unterworfen, denen auch Unbelebtes sich beugen müsse. Als Ganzes jedoch, in ihm selbst vermitteltes lebendiges Ding, erlebe es absolute Lagen wie Oben, Unten, Rechts, Links genauso wie ein unumkehrbares Nacheinander. Doch die sonst bedingenden äußerlichen Bestimmungen würden ihm zu bedingten inneren Seinscharakteren 410 . Es sei nicht wie andere vierdimensionale Körper Raum und Zeit ausgesetzt, sondern behaupte seinen Raum - in seiner Größe - und seine Zeit - in seiner Dauer. Es sei eine „absolute Union von Raum und Zeit.“ 411 Damit komme das lebendige Ding nicht irgendwo im Raum zum Liegen, sondern nehme einen Platz ein, seinen natürlichen Ort. Die aristotelische Lehre des natürlichen Ortes, bestätige sich nur für die lebendigen Dinge 412 . 407 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 233. 408 Ebd., S. 237. 409 Ebd., S. 241. 410 Ebd., S. 244: „Der räumlich-zeitliche Körper ist somit ein in ihm selbst vermittelter, d. h. Raumform und Zeitform rücken aus der Stellung bedingender äußerer Formen in die Stellung bedingter »innerer« Seinscharaktere.“ 411 Ebd., S. 245. 412 Ebd. <?page no="98"?> 98 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Das lebendige Ding und die Lockerung der Fesseln des Seins Unter Leben versteht Plessner jenes Sein, welches seine Grenze hat und so ein Innen schafft, dessen spezifische, unräumliche Distanz zu seinem Außen die Zugehörigkeit zu dieser Welt des Stoßes und des Zuges lockert. Daher kann es zur Welt des Außen einen Ort, eine Position einnehmen. Lockerung des Seins meint die Verbindung mit diesem und keine Transzendenz. Nicht über das Sein hinaus, sondern in Beziehung zu diesem, innerhalb des Seins und vermittelt mit diesem ist das lebendige Sein. Allein, es ist ein Standpunkt gewonnen, eine Stellung gelungen, welche gegenüber dem Sein in gegensinniger Vermittlung seine Grenzen habend mit diesem in Verbindung tritt und treten kann. Das lebendige Ding lockert die Fesseln des Seins, doch löst sie nicht. Der physische Leib des Organismus impliziert (und ist schon Niederschlag dieser Implikation) eine gegensinnige zur ursprünglichen Lebensrichtung gerichtete Tendenz, die doch in der Grundgesetzlichkeit des Lebens ihren Ursprung hat. Organisation überwächst das organisierende Leben, das nur in ihr physisch wird. In seiner Selbstvermittlung zur Einheit »begibt« sich der lebendige Körper seiner unmittelbaren Zentralität, er ist sie nur »noch« mit Hilfe seiner Organe. Er begibt sich seiner absoluten Selbstmacht, weil er ohne Organe nicht mehr zu leben vermag. Er verliert seine Selbstständigkeit, weil die Organe, wie sie ihn zur Einheit seiner selbst vermitteln, ihm diese Einheit nur durch Kontakt mit dem, was er nicht ist: mit dem Feld seiner Position ermöglichen. Als Ganzer ist der Organismus daher nur die Hälfte seines Lebens. 413 Im Physischwerden des Lebens gibt sich seine Organisiertheit und damit begebe sich das physisch geworden Leben seiner Zentralität. Es werde Teil eines größeren Ganzen und ist nunmehr nur die Hälfte seines Lebens . Als solcher sei der Organismus in einen Kreislauf von Prozessen eingebunden. Eigenes und Fremdes würden durch ihn hindurch vermittelt und, solange Assimilation und Dissimilation auf dem Gebiet von „Stoff- Energie- und Formwechsel“ 414 sich die Waage halten, existiere das lebendige Ding weiter. Als die Hälfte seines Lebens sei ihm sein „Positionsfeld“ 415 durch seine Organisation gesetzt. Er ist aber auch zugleich in einer Position zu diesem: „Der Organismus ist in Beziehung zum Positionsfeld exzentrischer Mittelpunkt .“ 416 413 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 255. 414 Ebd., S. 260. 415 Ebd., S. 263: „Positionsfeld oder Sphäre (= Gegenwartsfeld) […] Was in diesem Umfeld auftritt, vorhanden, da ist, begegnet dem Organismus, bildet seine Gegenwart. In diesem Gegenfeld existiert der Organismus: er ist mit ihm und gegen es.“ 416 Ebd., S. 265. <?page no="99"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 99 Exzentrischer Mittelpunkt zu sein, bedeute zum einen wie alle anderen Körper den Einwirkungen des Positionsfeldes ausgeliefert zum anderen jedoch gegensinnig zum Positionsfeld in seinen Grenzen immanent geborgen in sich selbst zu sein. Doch erscheint hier die Frage nach dem Verhältnis der Anpassung. Eine grundsätzliche Angepasstheit wäre dabei Voraussetzung für die Existenzmöglichkeit des Organismus, aber seine Entwicklung im Vollzug des Austausches, der gegensinnigen wie der gleichsinnigen, berge immer die Gefahr des Scheiterns, und deshalb „bleibt der Organismus bei aller Geborgenheit gefährdet. […] Deshalb heißt Leben in Gefahr Sein, heißt Existenz Wagnis.“ 417 Dem Wagnis des Nichtseins stelle sich das Individuum, nicht das lebendige Sein. Dem Individuum seien jedoch Grenzen gesetzt, sowohl morphologisch wie chronologisch. Als existierendes Individuum sei es Resultat der Selektion, Voraussetzung seines „realen Stattfindens in körperlicher Wirklichkeit“ 418 . Der Weg, sich der Nichtumkehrbarkeit der Entwicklung entgegenzustellen, heiße Fortpflanzung. Mit ihr werde die Kette der Individuen erneuert und der Sphäre des Nichtseins getrotzt. Im gegensinnigen Miteinander unterwerfe sich das Leben nicht dem Nichtsein, sondern jenes „Widerspiel“ 419 aufeinander bezogenen Seins stelle ein Ganzes dar, und das lebendige Ding behaupte sich darin. Seine „Autonomie verwandelt sich nicht in Heteronomie, sondern bleibt kraft Heteronomie erhalten.“ 420 Leben trete immer in vielfältigen Formen auf, aber sobald der Weg zum Mehrzeller eingeschlagen sei, scheine ein Konflikt aufzutauchen, der durch die Form gelöst werden müsste: „Wählt das Leben einmal den Weg der Mehrzelligkeit, so wählt es den Konflikt zwischen Organisation und Körperlichkeit und muss ihn daher in der Form ausgleichen.“ 421 Plessner stellt nun die Pflanze als jenes lebendige Ding vor, welches sich in offener Form organisiert. Diese Form bestehe in ihrer unmittelbaren Eingliederung in die Umgebung und bedinge damit entsprechend die Unselbstständigkeit dieser Lebensform. Die unmittelbare Eingliederung der Pflanze in ihre Umgebung ermögliche ihr den „Kreislauf des Gesamtstoffwechsels“ 422 , und sie vermag es, aus anorganischen Stoffen „unter dem Einfluss des Sonnenlichts“ 423 komplexe organische Stoffe zu synthetisieren. Alles weitere Leben sei auf die 417 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 270. 418 Ebd., S. 280: „Leben heißt an sich schon blind Ausgewähltsein, Selektiertsein. Leben ist notwendig Versäumnis seiner Möglichkeiten und darin Selektion. […] Für das Leben ist Selektion ein apriorischer Modus seines realen Stattfindens in körperlicher Wirklichkeit.“ 419 Ebd., S. 275. 420 Ebd. 421 Ebd., S. 283. 422 Ebd., S. 287. 423 Ebd. <?page no="100"?> 100 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Existenz von Leben in der offenen Form angewiesen. Tiere wie Menschen bauten ihre Stoffwechsel auf ihm auf. Auch der Ortswechsel, welcher den Pflanzen vorenthalten bleibe, scheine eine Folge dieses parasitären Sachverhaltes zu sein. Sie sei dem Lebewesen der geschlossenen Form vorbehalten. Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ 424 Mit der Bestimmung der geschlossenen Form erreicht die Ontologie des Lebendigen jenes Stadium, welches die Abständigkeit des Lebendigen von der Welt des Stoßes und Zuges endgültig bestätigt. Als Organismus mit seinen Grenzflächen ist der innere Antagonismus sein Organisationsprinzip. Damit bestimme er sich als die „Einheitsform der gesamten Mannigfaltigkeit “ 425 , und es werde die Bildung eines Zentrums notwendig, in dem alle Organe zusammengefasst werden könnten. Der Körper werde so zur „Zwischenschicht zwischen dem Lebendigen und dem Medium“ 426 . Doch mit der Tatsache, dass der Körper im Zentrum verkörpert sei, verdoppele sich dieser, er werde zum „Leib“ 427 . Damit hebe sich das Zentrum, die „raumhafte Mitte, der Kern oder das Selbst“ 428 aus dem Körper heraus. Ausdrücklichkeit, Eigenbewegung und Dinglichkeit Sobald jedoch durch die Bildung eines Zentrums ein realer Unterschied am Körper selbst aufgetreten ist, ändert sich auch positional das Ganze und die Grundlage für alle diejenigen Erscheinungen, die an die Existenz des Bewusstseins geknüpft sind, ist geschaffen. 429 424 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 291. 425 Ebd., S. 293. 426 Ebd. 427 Ebd., S. 297. 428 Ebd.: „Sie [die Mitte] bleibt raumhafte Mitte als Strukturelement der Positionalität des lebendigen Körpers. Aber der Charakter dieses Körpers, welcher sie raumhaft umschließt, hat sich geändert, weil er in ihm real vermittelt, vertreten ist. Er ist von ihm selber abgehoben und abhängig als Körper. Rein physisch schon ist er »sein Leib«. Die raumhafte Mitte, der Kern oder das Selbst »liegt« also nicht mehr unmittelbar »im« Körper. Genauer gesagt, sie nimmt eine doppelte raumhafte Lage zum Körper ein: in ihm (sofern der ganze Körper einschließlich des Zentralorgans nicht sein ist und nicht von ihm abhängt) und außer ihm (sofern der Körper vom Zentralorgan als sein Leib abhängt).“ 429 Ebd., S. 298. <?page no="101"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 101 Zwar besitze ein solches Lebewesen „Wirklichkeit“ 430 , doch bleibe diese doppeldeutig, denn es habe Distanz zu seinem Körper und sei sein Körper, ohne dass diese Verdopplung Eindeutigkeit berge. Ein solches Lebewesen „ist selbst - in ihm“ 431 . In der topologischen Metaphorik Plessners wird das Zentrum nun zum im Körper liegenden ortlosen Hier , einem nicht relativierbaren und wesenhaften Ort, und dieses Selbst nun vermittelt zwischen dem den Körper Habenden und dem Körper Seienden und verwandelt sich somit in ein Selbst besonderer Art, es verwandelt sich in „ein rückbezügliches Selbst oder ein Sich.“ 432 Das Tier merke wohl sich und sei seinem Umfeld ein Gegenüber, doch es sei sich nicht als ein Ganzes dieser beiden Tatbestände gegenwärtig. Es handele aus seiner Mitte heraus, besitze Spontaneität, ein echtes Beginnen, doch es sei sich nicht selbst als ein Beginnendes, Körper Habendes und mit dem Umfeld als ein gegenüber Seiendes gegenwärtig, sich nicht mehr selbst gegeben. Diesen Sachverhalt bezeichnet Plessner als „Frontalität“ 433 . Grenze, Organisiertheit, geschlossene Form, Zentrum oder Selbst und Frontalität treiben eine Bewegung voran, die Plessner mit dem Adjektiv ausdrücklich belegt, und er meint damit eine Dynamik des In-Freiheitsetzens, dem aus der Komplexität eines Ganzen sich entwickelnden Neuen: In dieser Distanz des Kerns seiner Positionalität, in dieser Abgehobenheit seiner raumzeithaften Mitte erkannte die Untersuchung Zug um Zug den Grund für seine Bewußtheit. Kern, Mitte, die positional überhaupt den Wert des Selbst (etwa in der Wendung: die Blume selbst als Trägerin ihrer Eigenschaften), des Subjekts des Habens besitzt, erhält durch die Distanz (in der geschlossenen Organisationsform) nicht etwa einen neuen Wert und Sinn, sondern er wird sozusagen nur in Freiheit gesetzt, er wird, was er an sich ist, ausdrücklich: Blickpunkt für eine Sicht, Subjektspunkt einer Bewußtheit. 434 Ausdrücklich werden heißt dann charakteristisch werden, heißt jene Form zu gewinnen, die in einer Tendenz angelegt sei, diese ausführen, zu steigern, herauszutreiben und damit zu interpretieren. Es handelt sich um eine Dynamik, die durch das Ontisch-Werden der Grenze in Gang gesetzt wurde. Es ist, als interpretiere die Natur selbst das lebendige Ding in seiner Form, seiner Gestalt und als Resultat der Reibungen der gegensinnigen Grenzhaftigkeit. Darin jedoch erkennen wir genau die Absicht des Autors, der eine Philosophie des 430 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 303. 431 Ebd. 432 Ebd., S. 304. 433 Ebd., S. 308. 434 Ebd., S. 309 f. <?page no="102"?> 102 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Lebens sucht, welche unter dem „Gesichtspunkt“ 435 der Grenzhaftigkeit die Phänomene des Lebendigen denkbar werden lässt. Zudem erlaubt die topologische Metaphorik Plessners die Eingliederung des Bewusstseins in das Phänomen des Lebendigen und überwindet so die von Descartes gesetzte Kluft zwischen res cogitans und res extensa . Man darf keinen Wechsel in der Methodik darin sehen, wenn hier, bei den lebendigen Körpern, die geschlossen geformt sind, das Sein ins Bewusstsein sozusagen umschlägt und aus einem Kern ein Aspektzentrum wird. 436 Innerhalb der Lebewesen mit geschlossener Form konstatiert Plessner eine Spaltung in jene, die dezentral oder die zentralistisch organisiert sind. Zwischen Merken, gehemmter Erregung und Wirken, enthemmter Erregung spanne sich die Sphäre des Bewusstseins, eine raumhaft innere Grenze, „der Hiatus, die Leere, die binnenhafte Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt.“ 437 Diese Sphäre gelte es nun, ausdrücklich zu machen. Die Natur scheine zwei Formen entwickelt zu haben, wie diese Kluft zu überbrücken sei. Zum einen vermittelst Einschaltung des Bewusstseins in die Lösung der Aufgabe des Lebens, zum anderen vermittelst der weitgehenden Ausschaltung von jenem. Bei weitgehender Ausschaltung des Bewusstseins erreiche die Natur einen höheren Grad an Sicherheit in den Reaktionen des Lebewesens. Einschaltung des Bewusstseins bedeute den Zwang zu zunehmender Breite der Anschauung und eine entsprechend anwachsende Unsicherheit und Rückstellung der Instinktreaktionen. Die Aufmerksamkeit wird von dem Objekt der Bewegung auf die Bewegung als Objekt herübergezogen. Zersplitterung ist unvermeidliche Folge: Die Unbefangenheit ist dahin, der sichere Ausgang der Handlung, welche die volle Hingabe ans Objekt erfordert, in Frage gestellt. 438 Im Zentralorgan repräsentiere sich mehr und mehr Umfeld, dieses rücke dementsprechend vom Tier ab und gewinne an Struktur, werde zu Merk- und Wirksphäre, zu „Signalfeld und Aktionsfeld in Einem“ 439 . Optische, akustische und taktile Gehalte zeigten sich nicht mehr unkoordiniert, sondern entbergen im Umgang mit dem Gegenstand eine dauerhafte Dingstruktur, indem das Tier die Beziehung zwischen Merken und Wirken am Umfeld erlebe. 435 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 175. 436 Ebd., S. 310. 437 Ebd., S. 312. 438 Ebd., S. 318. 439 Ebd., S. 320. <?page no="103"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 103 Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens, welches das Ding wahrnimmt. In dieser besonderen Schematisiertheit auf die vitale Aktion besteht für ein Zusammen sinnlicher Gehalte seine Dinglichkeit. Lenkbarkeit der Bewegungen mit dem eigenen Körper (auf Grund der Empfindbarkeit der Bewegungen) und dingliche Struktur des Umfeldes entsprechen einander. Zentralistische Organisation eines lebendigen Körpers und Auftreten von Dingen in seinem Merkfeld sind notwendig koexistent. 440 Das geschlossen zentralistisch organisierte Lebewesen könne Dinge haben. Die Organisation des Zentralorgans bedinge die Modalität der Repräsentation, und ein zeitlich und räumlich organisiertes Lebewesen habe Raum und Zeit. Es gibt mithin kein stärkeres Argument für die räumliche Beständigkeit der Welt, für die räumliche Organisation des Gehirns als die Ausbildung der Gleichgewichts- und Raumsinnesorgane, welche den durch die Eigenbewegung des Lebewesens sich ständig verändernden Standpunkt in eine Konstante verwandelt. Das in sein Gleichgewicht gebrachte Innen eines Lebewesens zeigt seine relative Unabhängigkeit, seine relative Ferne zu seinem Umfeld, ohne dieses jedoch tatsächlich zu verlassen, sich ihm zu überheben. Das Lebewesen verbleibt mit diesem in Beziehung, doch es hat sich einen Spielraum, einen Abstand geschaffen, welcher ihm ein Sein und eine Existenz gegenüber dem unbelebten Sein gestattet. Deshalb haben zentralistisch organisierte Lebewesen eine Wahrnehmungswelt, die beim Menschen unter der „Ordnungsform der Dinglichkeit“ 441 stehe. Denn anders als beim Tier, dem der „ Sinn fürs Negative “ 442 fehle, grundiere das Abwesende selbst die Anwesenheit der Gegenstände. Das Negative garantiere die Unabhängigkeit der Gegenstände als solche für unser Bewusstsein, denn es löse sie aus ihrem Zusammenhang heraus und auf dem Hintergrund der Leere könnten sie als Einzelne dem Bewusstsein erscheinen. Dem Tier hingegen erschienen die Gegenstände als Qualitäten in ihrem komplexen Zusammenhang mit anderen Eindrücken. Hierbei zeigt sich, dass jede Stufe des Bewusstseins ein Verhältnis zum Einzelnen und zum Allgemeinen hat, dass sie in primitiver Form nicht voneinander geschieden sind und erst auf der höchsten uns bekannten Stufe menschlichen Bewusstseins gegeneinander treten. 443 Einzelnes im komplexen Zusammenhang mit Anderem ohne eine erweiternde, ins Unerreichbare hinausweisende Öffnung des Wahrnehmungsfeldes kann vom 440 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 322 ff. 441 Ebd., S. 334. 442 Ebd., S. 340. 443 Ebd., S. 345. <?page no="104"?> 104 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Tier begriffen und aktiv - d. h. vom Trieb angestoßen- - angegangen werden. Dieser komplexe Zusammenhang einer relativen Angreifbarkeit ans Einzelne gestatte dem Tier, es auch soweit anzugehen und zu behandeln. Doch bleibe ihm das Einzelne als Individuum verschlossen. Das Ganze der Wahrnehmungswelt des Tieres in seiner Position der Frontalität breche ihm nicht ins viele Einzelne der Dinge, auch nicht ins Typische auseinander 444 . Es bleibe als eine Einheit notwendig bestehen, da dieser Wahrnehmungswelt noch ihr Pendant, die vollständig rückbezüglich gewordene Wahrnehmung der Wahrnehmung des Lebewesens nicht gegeben sei, und somit ebenfalls auch kein Negativum, keine Leere, welche den Raum für die Individuierung der Dinge erst hervorbringe. Die Ortlosigkeit des Menschen Das Tier unterbreche sein vom Trieb bestimmtes Tun nicht. Es kann nicht innehalten, um den Kopf zu heben und in die Ferne zu schauen. Das Tier kann seinen Blick nicht in die Ferne richten. Es sieht die Ferne nicht, sieht nicht den Horizont und die Leere des vor ihm weit ausgebreiteten Raumes. Das Tier sehe Einzelnes für sich 445 , Typisches im Verbund mit seinem Trieb und damit bleibe ihm auch der Aufstieg in die Kategorie verwehrt. Das Tier lebe aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es erlebe sich nicht als Mitte. Der Gesamtkörper sei noch nicht vollkommen reflexiv geworden 446 . Wenn das positionale Moment - „das Hindurch der Vermittlung“ 447 - zur Grundlage der nächst höheren Stufe werde, gewinne das positionale Moment zu sich selbst Abstand. Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben. 448 Die Rückbezüglichkeit der positionalen Mitte als erweiterter Ausdruck seiner ihm selbst eigenen Natur gewinnt der Beschreibung des lebendigen Seins eine neue Dimension: Das sich selbst rückbezüglich habende, geschlossen und zentralistisch organisierte Lebewesen habe sich selbst und „darin ist es Ich “ 449 . Es sei nun vollständig aus sich selbst herausgestellt und nicht mehr objektivierbar, ein absoluter Subjektspol, die „Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewusstsein 444 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 347. 445 Ebd., S. 345. 446 Ebd., S. 360. 447 Ebd.: „Eine positionale Mitte gibt es nur im Vollzug. Sie ist das, wodurch ein Ding zur Einheit einer Gestalt vermittelt wird: das Hindurch der Vermittlung.“ 448 Ebd., S. 362. 449 Ebd., S. 363. <?page no="105"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 105 vollzogen.“ 450 Es sei keine weitere Steigerung der Ausdrücklichkeit der angelegten Strukturen mehr möglich. Das Äußerste ist nun erreicht: „[…] ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit, und so ist der Mensch.“ 451 Im Vollzug der Mitte vermittele das Tier die Pole des Körperseins und Körperhabens im ständigen Hindurch . Ohne diese Zentrizität durchbrechen zu können, werde sie dem Menschen rückbezüglich erlebbar und verliere damit die Absolutheit des Vollzugs im Hier und Jetzt, gelange an einen Ort, der nirgendwo mehr ist, hinter sich selbst. Das „Stehen in sich“ 452 sei Fundament seines Stehens geworden. Diese letzte weitere Lockerung des lebendigen Seins dem Sein selbst gegenüber habe ihren Endpunkt erreicht, da es ab jetzt nur noch ein unendlich fortsetzbares Hinter-sich -Kommen 453 geben könne. Das Leben des Menschen sei aus der Mitte und zugleich aus ihr heraus „exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“ 454 Lebendiger Körper zu sein und im Körper zu sein und außerhalb des Körpers zu sein beschreibe die exzentrische Positionalität des Menschen. Er sei damit Körper, Seele und exzentrischer Blick, der beides erfasse, er sei Individuum und Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmung und seiner Initiative. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist heißt Person . Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt. 455 Der Mensch scheine das einzige Lebewesen zu sein, das seinen Blick auf jenes Nichts richten kann, und er erblicke darin eine Welt - jene Leere seines Herzens von der Scheler zu berichten wusste 456 . Dies ist der Endpunkt der kontinuierlichen Vermittlung zwischen res extensa und res cogitans , Plessners Antwort auf das von Descartes radikal geschiedene Sein. Unter dem Gesichtspunkt des ontologisch Werdens der Grenze treibt die Ontologie des Lebendigen bis zu ihrem absoluten Gegenüber, dem Leben und dem Tod, dem Nichts entgegen. Begreift man die Stufen des Organischen als eine ansteigende Ebene, so ist der Sinn für das Negative, das Nichts - dem Untergrund aller dinglichen Wahrnehmung der Welt -, zu verstehen als die Vorstellung eines sich beständig fortschiebenden und sich schließlich auflösenden Horizontes eines lebendigen Wesens mit auf- 450 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 363. 451 Ebd. 452 Ebd., S. 364. 453 Ebd., S. 362. 454 Ebd., S. 364. 455 Ebd., S. 365. 456 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 50. <?page no="106"?> 106 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST rechtem Gang und erhobenem Haupt, eine in diesem Wesen angelegte und angemessene Art des Seins. Es handelt sich um kein Irren, keine Abartigkeit oder Krankheit einer wie auch immer vorgestellten gesunden Natur, welchen Lebens auch immer. Der Blick erhobenen Hauptes in die Ferne erreicht den Horizont, doch die Ferne reicht darüber hinaus. Der seinen Blick im Auge habende Mensch weiß darum. Die Ferne selbst ist ein Horizont ohne Weiteres, ohne Etwas. Vermittelt die Betrachtung des Horizonts als Grenze noch ein Dahinter , so verschwindet in der Ferne die Grenze selbst und zurück bleibt die Leere. Der Blick weitet sich, bis selbst die Ferne entschwindet und sich in ein Nichts auflöst, dann nämlich, wenn der Blick kein Etwas mehr ergreifen kann, aber der Blickstrahl immer weiter hinauszielt. Der horos selbst verblasst, und es eröffnet sich dem Menschen eine unendliche Weite, eine unendliche Ferne in ein Nichts. Der Übergang vom Sein zum Nichts im Blick ist kein Gegensatz, sondern ein Immer-Weiter-Sehen in die Leere hinein. Unbegreiflich für das Auge, das nach Halt am Gegenständlichen sucht - doch augenscheinlich wahr. In der Verfeinerung - nicht im Abtrag - des Stufengedankens Plessners besteht die Nagelprobe für seine Ontologie des Lebendigen, die auch und gerade mit Hilfe der Naturwissenschaft und nie gegen sie gelingen kann. Der Idee einer wohl dialektischen, jedoch unhegelianischen Vermittlung des Baues der Stufen des Organischen - also ohne Aufhebung in der Vermittlung 457 - mit Rückbindung auf einem von der Erfahrung bestimmten Lebensbegriff 458 und dem Übersteigen im Sinne eines Ausdrücklich-Werdens des Organismus gilt die ganze Aufmerksamkeit und fußt die Innovationskraft der Plessnerschen Gedanken. Die Doppelaspektivität der menschlichen Innenwelt: erlebnisbedingend wie erlebnisbedingt und die Möglichkeit von Kunst Ist mit der vollständigen Rückbezüglichkeit des Erlebens im Erleben die Struktur der exzentrischen Positionalität des Menschen erfüllt, verwandelt sich das von Dingen erfüllte Umfeld des Lebewesens Mensch in die von der Leere grun- 457 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 59: „Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand gehören demselben Leben der einen menschlichen Sphäre an, deren Objektivationen von Taten und Werken nicht von außen gleichsam an sie herangebracht sind und wie Fremdkörper ihr wesensfremd bleiben, sondern aus ihr selbst hervortreiben, weil es zum Wesen des Lebens gehört, sich zu transzendieren und zugleich die Ergebnisse der Selbsttranszendenz wieder in sich hineinzunehmen und aufzulösen.“ 458 Ebd. <?page no="107"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 107 dierte Außenwelt des Kulturwesens Mensch. In dieser sind Raum und Zeit Leerformen, „Manifestationen des Nichts“ 459 . Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhaltsame Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib , als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen. 460 Es handelt sich beim Doppelaspekt um die Beschreibung einer einzigen Welt. Es ist keine Zweiweltenlehre, sondern ein Erleben aufgrund eines inneren Prozesses der Dissimilation und Assimilation in der Einheit des Organismus, welcher notwendig zur Aspektivität der Welt führt. Ohne diese innere Zerfallenheit oder Zwang zur Organisation des Organismus jedoch wäre überhaupt keine Welt, kein Bewusstsein und schon gar kein Selbstbewusstsein. Im Unterschied zu Descartes, welcher der Welt als Körper alle Wahrheit, der Welt als Leib aber einzig den Schein zusprach, wird bei Plessner die Welt als Körper-Leib zur Bedingung der Möglichkeit für die Erscheinung von Welt überhaupt. Wiederum undialektisch heben die Aspekte sich nicht in ein höheres Ganzes auf, sondern bleiben als solche bestehen. Materiell handelt es sich hierbei auch um keine voneinander trennbare Zonen. Die Untersuchungen zur Ontologie des Lebendigen zeigen die Bedingungen der Möglichkeit für das Lebewesen Mensch auf, damit Welt objektiv erscheinen kann. Für den Menschen gelte die Aspektivität der exzentrischen Positionalität, womit sein Erleben mit seiner Existenz nicht mehr identisch bleiben könne 461 . Daraus gebe es für ihn kein Entrinnen. Der Mensch sei nun einmal hinter sich gekommen und könne nicht wieder zurück 462 . Neben der Außenwelt und seinen Mitmenschen erlebe er sein Selbstsein. Der Mensch besitze eine Innenwelt. Die Gesetze der Innenwelt unterschieden sich von denen der Außenwelt insofern, als sie „zugleich erlebnisbedingend und erlebnisbedingt“ 463 seien. Der Seinstypus der Innenwelt sei plastisch. Er reiche von reiner Gegenständlichkeit 459 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 366. 460 Ebd., S. 367. 461 Ebd., S. 371: „In Selbststellung wie in Gegenstandsstellung, als durchzumachende wie als beobachtbare Wirklichkeit erscheine ich mir, indem ich selbst die Wirklichkeit bin. […] Für den Menschen dagegen gilt das Gesetz der Exzentrizität, wonach sein im Hier-Jetzt Sein, d. h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“ 462 Ebd., S. 368: „Das Gesetz der Exzentrizität bestimmt einen Doppelaspekt seiner Existenz als Seele und Erlebnis .“ 463 Ebd., S. 369. <?page no="108"?> 108 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST bis reiner Zuständlichkeit, dem Hingenommen-Sein, Verzückt-Sein von einem Gegenstand. In der Außenwelt gelte letztlich Sein oder Nichtsein als etwas vom Betrachter Unabhängiges. Als plastischer Seinstypus, dessen Grund im graduell unterschiedlichen Erleben liege, gelte für diesen eine Skala des Seins 464 . Eindruck, Erlebnis und Erinnerung seien Intensiva, keine Extensiva und an Akte gebunden. Der Intensitätsgrad der Akte sei entscheidend für die Natur ihrer Existenz in der Innenwelt. Sie könnten wie von alleine dahinströmen oder müssten mit großer Willensanstrengung hervorgerufen werden. Kunst zielt letztlich auf die Innenwelt vermittelst des Erlebens von Kunst. Da die Natur der Innenwelt eine plastische ist und empfänglich für intensive Formen, kann sie ihr Werk verrichten. Die Sphäre des Geistes und die Realität Die Exzentrizität, auf welcher Außenwelt (Natur) und Innenwelt (Seele) beruhen, bestimmt, dass die individuelle Person an sich selbst individuelles und »allgemeines« Ich unterscheiden muss.“ 465 Jene spezifische Lockerung des Seins, das Innenstehen im Kern des Zentrums des Körpers also die positionale Exzentrizität, mache die Unterscheidung zwischen dem individuellen ich und den Anderen notwendig. In der Struktur der Exzentrizität selbst finde man die Begründung für die Gegenwart der anderen Iche. Erfasst der Mensch sich in der Form der eigenen Position, so wisse er deshalb um den anderen Menschen. Deshalb wisse er um seine „ Mitwelt “ 466 . Ihr Kennzeichen sei die Lebendigkeit in ihrer höchsten Form 467 . In dieser Verschränkung sei der Perspektivenwechsel selbst angelegt. Aus der Sicht des Einzelnen gebe es den Anderen, da es ihn selbst gibt. Er selbst sei einer davon, „ein Glied dieser Mitwelt“ 468 . Doch zugleich sei der Einzelne derjenige, der er ist, da er ein Glied der Mitwelt ist. Die Mitwelt trägt ihn. Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird . Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes . 469 464 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 369. 465 Ebd., S. 373. 466 Ebd., S. 375: „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position.“ 467 Ebd.: „Ihr Spezifikum ist die Lebendigkeit und zwar in ihrer höchsten, der exzentrischen Form.“ 468 Ebd., S. 376. 469 Ebd. <?page no="109"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 109 Als natürliche Person sei der Mensch Zentrum einer „sinnbildhaften Sphäre“ 470 , er stelle diese aber auch gleich wieder in Frage. In Selbststellung erschaffe und erlebe die Person ihre Innenwelt, und als geistige sei sie die „Wir-Form des eigenen Ichs“ 471 . Mit der Eigentümlichkeit der exzentrischen Positionalität bestehe die Sphäre des Geistes in Form der Mitwelt, an der das einzelne Ich Anteil habe, nämlich durch seine Teilnahme an ihr. Und nur so ist der Mensch Geist, hat er Geist. Er hat ihn nicht in derselben Weise, wie er einen Körper und eine Seele hat. Diese hat er, weil er sie ist und lebt. Geist dagegen ist die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben, in der wir stehen, gerade weil unsere Positionsform sie erhält. 472 Geist als Sphäre der wahrhaften Gleichgültigkeit von Einzahl und Mehrzahl ist real in der Mitwelt 473 . Die Subjekt-Objekt-Dichotomie sei nicht auf den Geist anwendbar und nur eine „niedere“ 474 Form der Sphäre des Geistes. In der Sphäre des Geistes allein blicke der Mensch ins Angesicht des Menschen - eine ausdrückliche Absage an irgendwelche Ähnlichkeiten mit den Sozialformen der Tiere. In der Sphäre des Geistes erkenne sich der Mensch als Mensch 475 . Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit In drei anthropologischen Grundgesetzen lässt Plessner die Stufen ausklingen. Im ersten formuliert er die „ontische Notwendigkeit“ 476 des Phänomens der Kultur, die der Mensch als exzentrisch organisiertes Lebewesen erschaffe, indem er sein Leben führt. Denn „der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt“ 477 . 470 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 377. 471 Ebd.: „[…] so beruht der geistige Charakter der Person in der Wir-Form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentrizität.“ 472 Ebd., S. 378. 473 Ebd., S. 377.: „Real ist die Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert, weil sie die mit der exzentrischen Positionsform gewährleistete Sphäre darstellt, die jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt.“ 474 Ebd., S. 379. 475 Ebd., S. 378: „Geist ist nicht als Subjektivität oder Bewusstsein oder Intellekt, sondern als Wirsphäre die Voraussetzung der Konstitution einer Wirklichkeit, die wiederum nur dann Wirklichkeit darstellt und ausmacht, wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in einem Bewusstseinsaspekt für sich konstituiert bleibt. […] In der Mitwelt gibt es nur Einen Menschen, genauer ausgedrückt, die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen. […] Sie ist die Sphäre des Einander und der völligen Enthülltheit, in der alle menschlichen Dinge sich begegnen.“ 476 Ebd., S. 396. 477 Ebd., S. 384. <?page no="110"?> 110 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Mensch sein ist die »Abhebung« des Lebendigseins vom Sein und der Vollzug dieser Abhebung, kraft dessen die Schicht der Lebendigkeit als quasi selbstständige Sphäre erscheint, die bei Pflanze und Tier unselbstständiges Moment des Seins, seine Eigenschaft bleibt […] 478 Deshalb bedürfe der Mensch eines Komplements. Immer auf der Suche nach Ausgleich, nach dem, was die Natur ihm versage, erschaffe er sich und müsse sich erschaffen. Die exzentrische Lebensform und die Bedürftigkeit bildeten einen einzigen Tatbestand und darin liege das Movens „für alle spezifisch menschliche, d. h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur .“ 479 Plessner macht die ontologische Struktur der Exzentrizität verantwortlich für die typisch menschlichen Tätigkeiten und verweist die Kulturentstehungstheorien seiner Zeitgenossen zurück. Für das kulturelle Tun des Menschen sei weder Trieb noch Wille oder Verdrängung, sondern allein die aus der exzentrischen Lebensform entspringende Notwendigkeit zum Vorwärtsstreben, zur Selbsterschaffung und Selbstdomestizierung der Ursprungsgrund. Es gebe auch kein verloren gegangenes Paradies oder ein ursprünglich irgendwie harmonischer Zustand, den der Mensch zurückzugewinnen versuche, seien die Ursachen zur Entstehung von Kultur. Der Mensch, dem sich eine Welt auftue, wenn er in die Leere seines Herzens blicke, suche notwendig den Ausgleich und sich selbst in der Schaffung des Irrealen, der Schaffung der Formen des kunstvollen Handelns 480 . Der Mensch folge qua Mensch dem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“. 481 Vermittelte Unmittelbarkeit oder die Immanenzsituation des Subjekts Wenn die Erscheinungen nicht Masken des Erscheinenden sind, sondern sich wie Gesichter zeigen und zugleich verhüllen, eine „verdeckte Offenbarung“ 482 sind, dann sehe sich das Bewusstsein genötigt, das offensichtlich Reale des intendierenden Bewusstseins mit Hilfe der „Evidenz des reflektierenden Bewusstseins“ 483 zu korrigieren. Es entdecke seine Natur als Immanenz. Allein in dieser einzig dem Menschen zugänglichen Abhebung des Seins komme die Welt zur Erscheinung und werde Realität. 478 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 384. 479 Ebd., S. 385. 480 Ebd., S. 383: „Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen .“ 481 Ebd. 482 Ebd., S. 405. 483 Ebd., S. 406. <?page no="111"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 111 Die Stärke des neuen Realitätsbeweises beruht darauf, dass er die Immanenzsituation des Subjekts als die unerläßliche Bedingung für seinen Kontakt mit der Wirklichkeit begreift. 484 Dann ist Wissen Ekstase 485 : das sich selbstvergessene Hinaustreten des Auges, eine indirekt-direkte Beziehung zum Sein. Alles Lebendige besitzt dann die Grundstruktur der „vermittelten Unmittelbarkeit“ 486 . Nur beim Menschen mit seiner exzentrischen Lebensform werde diese Struktur selbst noch einmal reflexiv und gebe ihm so eine Welt in die Hand. Reiche diese hinaus in die Welt, versuche sie die Welt zu gestalten, in Tat, Sage oder Mimus 487 , so suche sie nach ihrem Ausdruck. Ob seiner ontischen Grundstruktur sei der Mensch ein Mensch, insoweit er ein Leben führe, und er suche ein Leben zu führen, indem er nach dem gelingenden Ausdruck strebe. Darum bedürfe er notwendig der Schöpfungen, seiner Erfindungen. In der Bewegung zwischen dem schöpferischen Menschen und den Dingen vermittelt unmittelbar sein Körperleib. Mit dieser Beschreibung erfährt die traditionell negative Bewertung des Körpers als ein zwischen Sein und Bewusstsein Vermittelnder ihre Umwertung. Die Immanenz des Bewusstseins - eine Art der Körpervergessenheit - wird zur Bedingung der Erscheinung der Welt und damit zur Grundlage des wissentlich handelnden Menschen, welcher seine Absichten zu realisieren suche, indem er wiederum reflektierend und korrigierend in sein eigenes Denken und Handeln eingreife und eingreifen könne: „Der schöpferische Griff ist eine Ausdrucks leistung.“ 488 Plessner lässt es hier offen, worauf er die innere Notwendigkeit des Ausdrucksbedürfnisses gründen möchte. Er verweist auf die allgemeinen Erfahrungen des Ausdrucksbedürfnisses eines jeden Menschen, aber er führt auch noch weitere, existentielle Mächte wie beunruhigende Gefühle, Phantasien, Gedanken etc. an, die zum Ausdruck drängen würden. Ihm geht es in diesem Kapitel 484 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 407. 485 Ebd., S. 406. 486 Ebd., S. 400.: „Die bisherigen Analysen haben klarzumachen versucht, daß das Lebendige als solches die Struktur der vermittelten Unmittelbarkeit besitzt. Sie ergibt sich aus dem Wesen der real gesetzten Grenze. Da ihre Realsetzung das Konstiutionsprinzip für alle organische Formung bildet, so nimmt auch die exzentrische Form der Organisation an der Struktur teil.“ 487 Ebd., S. 415.: „Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus faßlich wird ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck , ob sie den Asudruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes.“ 488 Ebd., S. 398. <?page no="112"?> 112 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST um den Zusammenhang der exzentrischen Positionsform und der „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen.“ 489 In der Sprache wird das Ausdrücklichkeitsverhältnis des Menschen ausdrücklich Da die exzentrische Positionsform die Mitweltlichkeit des Menschen bedinge, ist dieser für Plessner ein „ζῷον πολιτικόν“ 490 und damit werde auch eine Form der Ausdrücklichkeit in der Kommunikation untereinander notwendig. Doch noch wesentlicher scheint ihm der Zusammenhang zwischen exzentrischer Lebensform und Expressivität auf die Notwendigkeit der Lebensführung und Lebensgestaltung des Menschen hinzuweisen. Mit der Tatsache, dass der Mensch in seiner Mitte stehe - abständig zu sich - und sich damit auch wiederum auf sich selbst zurückbeugen könne und müsse, und dazu auch noch in dieser Vermittlung er selbst es sei, der dies vollziehe, werde er einer Welt gewahr: „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter.“ 491 In diesem Umfeld mit Weltcharakter schaffe er. Er reiche mit seinem Sprechen und Handeln in das Umfeld hinein. Seine Erfindungen könnten jedoch nur dann Bestand haben, wenn sie ihren Zweck unabhängig von ihm erfüllten: „Der Mensch kann nur erfinden, soweit er entdeckt.“ 492 Er entdecke, dass der Hammer seinen Zweck erfüllt, dass diese oder jene Form der gesellschaftlichen Organisation Erfolg habe etc. Er entdecke aber auch, dass seine Intentionen fehl gehen können, dass neue Versuche notwendig werden und hinterlasse so die Spur seiner Geschichte. Der Prozess, in dem er wesenhaft lebt, ist ein Kontinuum diskontinuierlich sich absetzender, auskristallisierender Ereignisse. […] In der Expressivität liegt der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens. 493 Sprache sei ein Bestandteil der allgemeinen Expressivität des Menschen, aber ein wesentlicher, und nicht zu Unrecht werde sie als eines seiner herausragen- 489 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 399.: „Die exzentrische Positionsform bedingt die Mitweltlichkeit oder Sozialität des Menschen, macht ihm zum ζῷον πολιτικόν, und bedingt gleichursprünglich seine Künstlichkeit, seinen Schaffensdrang. Es fragt sich, ob aus der Exzentrizität ebenso ursprünglich - nicht diese oder jene Art von Ausdrucks bedürfnis , sondern ein Grundzug menschlichen Lebens folge, den man als Expressivität, als Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt bezeichnen muss.“ 490 Ebd. 491 Ebd., S. 403. 492 Ebd., S. 397. 493 Ebd., S. 416. <?page no="113"?> Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 113 den Merkmale genannt. In ihr selbst bilde sich die Struktur der Beziehung der Immanenz mit der Wirklichkeit ab. Sie [die Sprache] macht das Ausdrucks verhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken. 494 Insofern sei sie eine besondere, eine zweite oder potenzierte Form innerhalb der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten. Sprache werde wahrhaft zum Zeugen der in ihrer Mitte stehenden exzentrischen Lebensform. Denn in ihr bzw. in den Bedeutungen werde die oben gezeichnete Struktur selbst sichtbar. Sprache bestätige die exzentrische Perspektive des Menschen, seine ort- und zeitlose Position. In der seltsamen Natur der Aussagebedeutungen ist die Grundstruktur vermittelter Unmittelbarkeit von allem Stofflichen gereinigt und erscheint in ihrem eigenen Element sublimiert. 495 Im dritten und letzten anthropologischen Grundgesetz, dem „Gesetz des utopischen Standortes“ 496 , lotet Plessner das Widerspiel von Transzendenz und Nichtigkeit aus. Er schlägt dabei Religion auf die Seite der Transzendenz und die Kultur zum Geist. Dann konstatiert er beiden eine absolute Feindschaft 497 . Er begründet dies mit der Tatsache, dass der Geist sich notwendig „gegen die Einheit der Welt zu richten“ 498 habe. Denn mit der exzentrischen Lebensform reiße eine Kluft auf zwischen Heimat und Geborgenheit, einer Vorstellung von Mitwelt, in der das Individuum als Individuum aufgehe, und der Form eines Individuums, welches um seine Zufälligkeit, um seine Ersetzbarkeit, „sein Stehen im Nirgendwo“ 499 , seinem utopischen Standort wisse. Dieses so geartete Individuum müsse sich gegen den Weltengrund richten, dem schwankenden gelockerten Sein Raum geben und die Kontingenz austragen. Es kann und muss den Gedanken des Atheismus denken. Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander. 500 494 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 417. 495 Ebd., S. 418. 496 Ebd., S. 419. 497 Ebd., S. 420. 498 Ebd., S. 424. 499 Ebd. 500 Ebd., S. 423. <?page no="114"?> 114 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Resümee Die Formulierung der drei anthropologischen Gesetze ist die Ausformulierung der in der exzentrischen Lebensform angelegten Dynamik. An der vermittelten Unmittelbarkeit, an Immanenz und Expressivität sowie dem utopischen Standort zeigt sich ein weiteres Mal das Gesetz der gegensinnig vermittelnden Grenze. Gegensinnig gibt sich dem Menschen eine Welt unmittelbar als aufgrund der Körperlichkeit vermittelte, gegensinnig zeigt sich Expressivität als notwendiges Mittel zur Heimholung des Menschen zu sich selbst im Heraus aus seiner fundamentalen Situation der Immanenz und gegensinnig vermittelt sich der Mensch sich selbst als einzigartiges, doch zugleich vertretbares und ersetzbares Individuum der Mitwelt. Die Ontologie des Lebendigen beschreibt das Lebendige als eine Lockerung des festen Seins, als ein Abstandnehmen eines Seins zu sich sowie zu einem Sein an sich. Weder löst das lebendige Sein seine Fesseln gänzlich, noch behält es diese, wie sie waren, bei, was in der Denkbewegung der gegensinnigen Vermittlung ohne Aufhebung in ein höheres Sein seinen Ausdruck findet. Das Denken der gegensinnigen Vermittlung führt das lebendige Ding zwar immer weiter und letztlich zu seinem ganz Anderen, zum Geist und zum Nichts, doch es führt bei diesem Stufengang nicht zu einer Auflösung, weder des Seins auf einer wie auch immer höheren Stufe des Seins, noch bleibt es im Materiellen verhaftet. Das Denken der gegensinnigen Vermittlung entwickelt das im Sein selbst angelegte Leben auf dieses hin. Es lässt das lebendige Sein auf der Basis und im Gegenüber des nicht lebendigen Seins denkbar werden. Das ist kein Plädoyer für die Einheit der Welt, sondern für die Argumentation einer regionalen Ontologie des lebendigen Seins, wie Plessner sie in den Stufen vorstellt. Weil die ursprüngliche Erfahrung des Geistes an der Haltung von Leibern ablesbar sei, weil dieser seelische Habitus in Bewegung umgesetzt als innere Bewegung dem Verstehen zugeführt werden könne und weil die Bewegung zwischen Artikulation und Hören ob der Förmigkeit des akustischen Stoffes in Impulswerte umgesetzt werden könne, kann Sprache vermittelst ihrer systematisierbaren Gliederung und zeitlichen, mithin rhythmischen Entfaltung des phonischen Stoffes, die Vermittlung von Haltung und Verstehen in hervorragender Weise antreten. Wenn Ausdrücklichkeit das grundsätzliche Verhältnis des sich organisierenden Organismus zu seinem Werden beschreibt und wenn der Bewegung als Objekt - und nicht mehr dem Objekt der Bewegung - die Vermittlung des Werdens und der Welt abgeschaut wird und wenn dann in der bewegt gelockerten Immanenz dieses Werdens die mögliche Fülle der Leere des Herzens zur Schaffung der Formen künstlichen Handelns hervorgebracht werden, dann kann der Mensch sich und die Welt in der Sphäre des Geistes - in der Sphäre des gelockerten Seins -, die Beständigkeit der Dinge in Sprache und Gesang laut werden lassen. <?page no="115"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 115 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 501 Die Erklärung des Menschen 1940 erscheint Arnold Gehlens Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt . Es wurde vom Autor selbst 1950 grundlegend umgearbeitet. Die Ausgabe, mit welcher hier gearbeitet wurde, erschien zuerst 1986 und war eine Wiederaufnahme des Buches, welches der Aula-Verlag 1976 im Rahmen einer dreibändigen Studienausgabe mit Moral und Hypermoral sowie Urmensch und Spätkultur aus Anlass des zehnten Todesjahres des Autors herausgegeben hat. Im Unterschied zu Plessners Versuch einer Ontologie des Lebendigen, handelt Gehlens Der Mensch von der „Sonderstellung des Menschen im Bereiche des Lebens“ 502 . Gehlen vermeint dem Menschen ob dieser Sonderstellung eine gewisse ontologische Dignität zusprechen zu können 503 , doch gewinnt er grundsätzlich sein Programm ausgehend von Herders Schrift der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) 504 . Er schreibt: Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit. 505 Gehlen bezieht sich dabei auf folgende Stelle der Herderschen Schrift: „Der Unterschied ist nicht in Stufen, oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte“ 506 , worin das Menschliche zu finden sei. Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennden und wollenden Natur; oder vielmehr 501 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , Studienausgabe der Hauptwerke / Arnold Gehlen - Aula Verlag GmbH, Wiesbaden, Verlag für Wissenschaft und Forschung, Nachdruck der 13. Auflage, 1986. 502 Ebd., S. 123. 503 Ebd., S. 37: „Der Grundgedanke ist der, daß die sämtlichen ‚Mängel‘ der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbstätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zur Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruht.“ 504 Herder, Johann Gottfried , Sprachphilosophie, ausgewählte Schriften , Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek Bd. 574, Hamburg 2005. 505 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 84. 506 Herder, Johann Gottfried , Sprachphilosophie, ausgewählte Schriften , S. 21. <?page no="116"?> 116 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST - es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird. 507 Die ganze Haushaltung des Menschen wird in Anschlag gebracht und die Entwicklung des Menschen im Vergleich mit dem Tier nicht aufbauend in der Metapher der Stufen gedacht. Denn bei Herder heißt es, dass „die Menschengattung über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art.“ 508 Ziel also seiner Untersuchung wird sein, das Herdersche Programm auszuarbeiten und unter Zuhilfenahme modernster Forschungen zu fundieren. Die in der Schrift Der Mensch vorausgesetzte Hypothese heißt demnach: „im Menschen liegt ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor.“ 509 Gehlen wird nach den „ Existenzbedingungen “ 510 eben dieses Menschenbildes fragen und einen in der Physis des Menschen angelegten Plan systematisch entwickeln, welcher allumfassend von den biologischen Grundtatsachen bis hin zu Kunst und Kultur alle Gegebenheiten der Menschenwelt umfasst und erklärbar werden lässt. Wir wollen also ein System einleuchtender, wechselseitiger Bedingungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen herstellen, vom aufrechten Gang bis zur Moral, sozusagen, denn alle diese Merkmale bilden ein System, in dem sie sich gegenseitig voraussetzen: ein Fehler, eine Abweichung an einer Stelle würde das Ganze lebensunfähig machen. 511 Für die Erklärung des Phänomens Mensch gibt es bei Gehlen also kein ideales Geschehen wie in der Applikation des homo-faber-Gedankens bei Paul Alsberg noch eine metaphysische Bewandtnis wie bei Scheler oder gar ein geistig-ontologisches Prinzip wie das der gegensinnigen Grenzdynamik bei Plessner. Gehlens Untersuchungsrichtung besitzt eine antimetaphysische Stoßrichtung, und er bedient sich grundsätzlich beobachtbarer Sachverhalte und pragmatischer Wissenschaftsprinzipien. Er entschlägt sich ebenfalls des Begriffs der „Ursache“ 512 , welcher zur experimentellen Wissenschaft gehöre, und beruft sich auf eine aristotelische Wissenschaftsanalyse aus der Nikomachischen Ethik 513 . Er erklärt, dass das Ursachendenken dem Sachverhalt der „‚Ganzheit‘ des Men- 507 Herder, Johann Gottfried , Sprachphilosophie, ausgewählte Schriften , S. 20. 508 Ebd., S. 19. 509 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 14. 510 Ebd., S. 16. 511 Ebd., S. 17. 512 Ebd., S. 18. 513 Aristoteles, Nikomachische Ethik , Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1985, S. 13, 1098bff: „Man darf auch nicht unterschiedslos überall nach der Ursache fragen. Bei ei- <?page no="117"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 117 schen“ 514 nicht adäquat sei. Hinsichtlich der von ihm aufgeworfenen biologischen Fragestellung sei es jedoch richtig zu sagen: daß man auf den Zusammenhang von Bedingungen abhebt . Man formuliert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück - ohne N kein A -, so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen, ohne dass irgendwo die Metaphysik einer einzelnen Ursache Platz hätte. 515 Zur Aufklärung der zu betrachtenden Sachverhalte schlägt Gehlen also ein systemisches Denken vor, welches die Plausibilität der Phänomene in einer Art Dialektik sich gegenseitig ableitender Bedingungen innerhalb eines begrenzten Ganzen beschreibt. Das systemische Denken, welches gegenseitig sich beeinflussende Bedingungen zur Erklärung von Veränderung, sei es Wachstum oder anderer Art, heranzieht, bedient sich einer Dialektik, welche den Bedingungen selbst Rollen zuweisen muss. Dies vollzieht Gehlen zum Beispiel bei dem Begriffspaar von Mittel und Zweck . Sie können ihre Rollen im Geschehen tauschen, um auf diese Weise komplexe Mittel-Zweck-Reihen hervorzubringen 516 . Damit erläutert Gehlen den systemischen Aufbau wie auch zum Beispiel einen Begriff wie den der „sekundären objektiven Zweckmäßigkeit“ 517 . Der Erfolg der Erklärung wird rückwirkend für die Wahrheit des Gedankens in Anspruch genommen - wie auch bei den entsprechenden Gedankengängen Plessners. Als Grundlage für die These der morphologischen Sonderstellung des Menschen beruft sich Gehlen auf den zur Zeit der ersten Veröffentlichung des Werkes aktuellen Stand der Forschung und konstatiert dem Menschen einen „durchgehenden Mangel an hochspezialisierten, d. h. umweltspezifisch angepaßten Organen, und dieses wären die von außen sichtbaren Bedingungen eines handelnden und weltoffenen, also auf sich selbst gestellten Wesens.“ 518 nigem genügt es vielmehr, das ‚Daß‘ [τo oτι] gehörig nachzuweisen, wie auch bei den Prinzipien; das ‚Daß‘ ist ja Erstes und Prinzip.“ 514 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 18. 515 Ebd. 516 Ebd., S. 52. 517 Ebd., S. 398: „Die Untersuchung muß daher jetzt philosophisch verfahren, d. h. sie ist auf ontologische Kategorien angewiesen. Die an dieser Stelle einzuführende ontologische Kategorie heißt ‚sekundäre objektive Zweckmäßigkeit‘. Die bisher beschriebene totemistische Struktur des Verhaltens nämlich könnte, soweit dargestellt, eine bloß vorübergehende Bedeutung gehabt haben. […] Es ist eine in diesem Verhalten immanente und erst dann, wenn es wirklich vollzogen wird, sekundär herausspringende objektive und übergreifende Zweckmäßigkeit gewesen, die aus dem Totemismus für viele Jahrtausende die führende Institution gemacht hat.“ 518 Ebd., S. 86. <?page no="118"?> 118 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Gehlen schließt sich den Forschungen des holländischen Anatomen Louis Bolk an, welcher die ganz „untierische Unspezialisiertheit des Menschen“ 519 , sein „Organprimitivismus“ 520 in seiner These der „ Entwicklungshemmung der Spezies Mensch geliefert“ 521 habe. Die Eigenschaften des menschlichen Organprimitivismus seien demnach: Alle diese Eigenschaften sind Primitivismen in einem sehr besonderen Sinn: permanent gewordene fötale Zustände oder Verhältnisse , […] „Formeigenschaften oder Formverhältnisse, welche beim Fötus der übrigen Primaten vorübergehend sind, sind beim Menschen stabilisiert“. 522 Die Retardationstheorie Bolks findet auch in der Ontogenese des Menschen ihr Gegenüber, z. B. gebe es kein Tier, welches mit den Verlangsamungsschüben bei seiner Entwicklung rechnen könne, wie etwa mit einem extrauterinen Frühjahr nach Adolf Portmann 523 , einer lang ausgedehnten Kindheit bis zum Wachstumsschub der Pubertät, dem Nachlassen der Retardation etc. Diese Charakteristik des menschlichen Wachstums verlange auf der anderen Seite eine soziale Reaktion, welche in der Stabilisierung der Familie und der ausgesprochen langen Pflege der Kinder sowie deren verzögerter Auseinandersetzung mit der Welt sozial und kulturell beantwortet werde. Aus der Bolkschen Analyse leitet sich denn auch die Aufrichtung des Menschen folgerichtig aus den Formverhältnissen ab: „‚Nicht weil der Körper sich aufrichtete, wurde die Menschwerdung vorbereitet, sondern weil die Form sich vermenschlichte, richtete der Körper sich auf.‘“ 524 Dann schließlich münden diese Betrachtungen für Gehlen in die Begründung der Sonderstellung des Menschen, wenn er sagt: Einmal wäre die enorme Gehirnentwicklung des Menschen und die vielleicht damit zusammenhängende Umkonstruktion der gesamten Physis in der Richtung auf ‚Embryonalisierung‘ und ‚Primitivität‘ keineswegs eine Folge des ‚Kampfes ums Dasein‘, nicht das Resultat eines Auslesevorgangs, sondern durch direkte innere Ursachen provoziert. Diese Umstimmung wäre beim Menschen im Gegenteil so radikal, dass sie ihn aus allen ‚natürlichen‘ Lebensbedingungen hinauswarf und auf die sonst nicht vorhandene und neuartige Lebensführung hinwies. 525 519 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 103. 520 Ebd. 521 Ebd. 522 Ebd., S. 102. 523 Ebd., S. 45. 524 Ebd., S. 102. 525 Ebd., S. 114. <?page no="119"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 119 Der Mensch, das natürliche Kulturwesen Wenn die Morphologie des Menschen diesen in einer Art „konstitutionellen Fötalisation“ 526 halte, ihn somit organisch in der Unreife verharren lässt, ihn zudem noch aufrichte - eine höchst gefährliche Position -, dann müsse der Mensch, um sich im Leben zu halten, tätig auf diese Herausforderungen antworten. Er tut dies nach Gehlen als ein handelndes Wesen, das sich und seine Welt tätig umarbeitet und deshalb als natürliches Kulturwesen zu bestimmen sei. Wenn der Mensch, wie hier vertreten wird, ‚von Natur ein Kulturwesen‘ ist, so mag das bedeuten: der Naturkonstruktion eines unspezialisierten, auf die Handlung bezogenen und nicht festgestellten Wesens kann irgendeine besondere Entwicklungsgesetzlichkeit zugrunde liegen, wie Retardation, Proterogenese o. ä. Jedoch so, dass die gesamte innere Organisation auf das Verhalten bezogen wurde, von welchem ja die Existenz desselben abhing, auf die Tätigkeit der Weltveränderung. 527 Letztlich also wäre die organische Unspezialisiertheit des Menschen verantwortlich dafür, dass er nicht wie ein Tier in einer bestimmten Umwelt reaktiv befangen ist, sondern Welt hat. Zudem bedeutet diese Unspezialisiertheit auch, dass seine Bewegungsabläufe höchst variabel, ihm das Handeln wie die Selbstvermerklichkeit des Handelns und des Behandelt-Werdens ermöglichen. Auf der anderen Seite nötigt die Unspezialisiertheit den Menschen zur Tat, damit er sich überhaupt in der Welt halten kann. Die Tatsache der organischen Unspezialisiertheit ziehe also entsprechend eine Reduktion der Instinktanlagen beim Menschen nach sich und löse ihn somit aus der unmittelbaren Reaktivität auf Signale aus der Umwelt aus. Andererseits bestehe nun die Aufgabe, den nicht mehr instinktiv zu beantwortenden, jetzt zu Reizen bzw. zu Wahrnehmungen mutierten Signalen zu entsprechen. Nach Gehlen erlebt ein solches unspezialisiertes Lebewesen eine Reizüberflutung aus der Außenwelt und muss versuchen, diese in eine gewisse Ordnung zu bringen. Die ihres Auslösecharakters verlustig gegangenen, zu Reiz und Wahrnehmung mutierten Signale verlangten notwendig nach Ordnung, nach Auslegung dieser nun zu Dingen gewordenen Inhalte der Außenwelt. Sie hervorzubringen sei einem solchen Lebewesen auch prinzipiell möglich, da auch seine Triebstruktur 526 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 122. 527 Ebd. Bringt man den Begriff der Unspezialisiertheit mit dem der Weltveränderung und den ebenso erwähnten Begriffen des Verhaltens und der Tätigkeit in Zusammenhang, so beginnen die Alsbergischen Termini der Körperausschaltung und des Menschen als Werkzeugmachers durchzuscheinen - allerdings und im Unterschied zu Alsberg auf einem wissenschaftlichen Fundament und auf der Basis der menschlichen Physis selbst. <?page no="120"?> 120 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST aus dem Automatismus: Reiz-Reaktion herausgelöst worden sei. Gehlen bezeichnet diesen Bruch mit dem Begriff des Hiatus : Es ist nun dieselbe Instinktreduktion, die auf der einen Seite den direkten Automatismus abbaut, der bei genügendem inneren Reizspiegel, wenn der zugeordnete Auslöser aufscheint, die angeborene Reaktion enthemmt, und auf der anderen Seite ein neues, vom Instinktdruck entlastetes System von Verhaltensweisen in Freiheit setzt. Dies ist jenes eben erwähnte System, in dem Wahrnehmungen, Sprache, Denken und variable, nicht angeborene, sondern erlernbare Handlungsfiguren auf die Variationen der Außendinge , auf die Variationen des Verhaltens anderer Menschen und, besonders bedeutungsvoll, sogar aufeinander reagieren können. Anders ausgedrückt: es besteht eine weitgehende Unabhängigkeit der Handlungen sowie des wahrnehmenden und denkenden Bewußtseins von den eigenen elementaren Bedürfnissen und Antrieben oder die Fähigkeit, beide Seiten sozusagen ‚auszuhängen‘ oder einen ‚ Hiatus ‘ freizulegen. 528 Die Mechanik des Hiatus sei die Basis für das Erscheinen eines Innenlebens und einer Außenwelt. Eine Differenz, welche bei Lebewesen, die nicht über ein Aushängen des Reiz- Reaktionsmechanismus verfügen, nicht entstehen könne. Zudem erlaube nun diese Differenz die Suspension der Antriebe, die Variation des Verhaltens und sei zudem die vitale Basis des Phänomens Seele : Diese Fähigkeit, die Antriebe ‚bei sich zu behalten‘, das einsichtige Verhalten unabhängig von ihnen zu variieren, legt überhaupt ein ‚Inneres‘ erst bloß , und dieser Hiatus ist, genau gesehen, die vitale Basis des Phänomens Seele. 529 Schon beim kleinsten, hilflosen Kinde bedinge die Bewegungs- und Handlungsunfähigkeit die Totalhemmungen beim Ausleben der Bedürfnisse, staue diese, und mache sie so selbstvermerklich fühlbar. In weiterer Folge sei es notwendig, diese noch unbestimmten Erlebnisse zu ordnen, zu orientieren und zu gestalten. Dies geschehe mit Hilfe der Prägung jener in Bildern: Wenn so die elementaren Bedürfnisse nicht an feste Auslöser angepaßt sind, […] so versteht sich eben daraus die Notwendigkeit, sie an der Erfahrung zu orientieren , sie in ihrer zunächst gestaltlosen Offenheit zu ‚prägen‘ oder mit Bildern zu besetzen. Die Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die ‚Verschiebbarkeit‘ oder Plastizität sind also Seiten desselben Tatbestandes, und in gewöhnlicher Rede nennen wir ‚Seele‘ zunächst die Schicht der in Bildern und Vorstellungen sich meldenden Antriebe, bewußten Bedürfnisse und orientierten Interessen. 530 528 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 53. 529 Ebd., S. 54. 530 Ebd., S. 55. <?page no="121"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 121 Der Mensch, das stellungnehmende Wesen Eine derartige Konstitution und Ausstattung, die das Lebewesen Mensch der Welt und sich selbst nun in Stellung ihm selbst gegenüber bringe, zwinge ihn geradezu zur Stellungnahme, seinem Zweck entsprechend, sich in der Welt zu halten. Der Mensch ist für Gehlen das „stellungnehmende Wesen“ 531 . Ordnung und Orientierung in der Welt seien ihm ob seiner Konstitution auferlegt, zugleich aber auch - will er sich denn in der Welt behaupten - Ordnung, Orientierung sich selbst gegenüber. Die so beschriebene Umorientierung des Organismus des Lebewesens Mensch verändere jedoch nicht grundsätzlich seine organische Struktur als organische, weshalb Gehlen von Antriebsüberschuss und der Notwendigkeit von Führung sprechen muss: Der konstitutionelle Antriebsüberschuss dagegen kann wohl nur als die Innenseite eines nicht spezialisierten Wesens von organischer Mittellosigkeit begriffen werden, das einem chronischen Druck innerer und äußerer Aufgaben ausgesetzt ist. 532 Dieser Antriebsüberschuss leite sich jedoch nicht allein aus der physischen Konstitution des Menschen ab, sondern werde darüber hinaus untermauert durch seine „abnorm verlängerte Entwicklungszeit“ 533 , der langen unfertigen Motorik sowie der erst spät fertigen Sexualität. Es ist nun, nach Gehlen, genau dieser aufgebaute Antriebsüberschuss, welcher für den Aufbau des Menschen verantwortlich zeichne: Es ist eine großartige Teleologie, wie dieser Antriebsüberschuß so lange in ‚unbelasteten‘, spielerischen und unstabilen Betätigungen untergebracht wird, und dies sind genau die, in denen der Mensch die ganze Aufbauleistung des kommunikativen, begierdelosen, aber unspezifisch ‚getriebenen‘ Umgangs mit der Welt und seinem eigenen Können in der tätigen Bewältigung der Reizoffenheit erwirbt […] Der Antriebsüberschuss ist daher ein ‚apriori‘, und er stellt den Menschen von vornherein vor einen Verarbeitungszwang. 534 531 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 32: „Der Mensch ist das handelnde Wesen. Er ist in einem noch näher zu bestimmenden Sinne nicht ‚festgestellt‘, d. h. er ist sich selbst noch Aufgabe - er ist, kann man auch sagen: das stellungnehmende Wesen.“ 532 Ebd., S. 57. 533 Ebd., S. 58. 534 Ebd., S. 59. <?page no="122"?> 122 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Die Institutionen Als instinktreduziertes Wesen sei der Mensch weltoffen und als ein nicht festgestelltes besitze er ein plastisches aber auch instabiles Innenleben, welches der Orientierung bedürfe. Das stelle ihn vor die Aufgabe, langfristige Strategien zu entwerfen, um sich in der Welt zu halten, und zwar nicht als Einzelwesen, sondern als Gruppe. Nach Gehlen beantwortet der Mensch diese Aufgabe mit der Erschaffung der Institutionen: So fragen, heißt das Problem der Institutionen stellen. Man kann geradezu sagen, wie die tierischen Gruppen und Symbiosen durch Auslöser und durch Instinktbewegungen zusammengehalten werden, so die menschlichen durch Institutionen und die darin erst ‚sich feststellenden‘ quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns, die allein als institutionell gefaßt sich vereinseitigen, habitualisieren und stabilisieren. 535 Sensomotorische Variabilität, welche sich bis in die Sprache hinein fortschreibe, plastisches Innenleben und Aushängen des Instinktverhaltens, aber auch der Druck auf die andrängende Welt und auf die Vorsorge zum Dasein zu reagieren, erzeugten im Menschen die Situation zur Selbstkontrolle. Zucht und Askese ermöglichten es dem Menschen, langfristig auf die Herausforderungen des Daseins zu antworten. Er tue dies, indem er aktiv auf seine natürlichen Lebensbedingungen Einfluss nehme, und zwar nicht nur auf die äußeren, sondern auch diejenigen, die sich in seinem Innenleben ergäben. Mit der Kultur erschaffe sich der Mensch seine eigene Form des Daseins: Der Mensch kann das alles, weil er durch planende und voraussehende Veränderung sich aus ganz beliebigen vorgefundenen Umständen seine Kultursphäre schafft, die bei ihm also an Stelle der Umwelt steht, und die nun allerdings zu den natürlichen Lebensbedingungen dieses unspezialisierten und organisch mittellosen Wesens gehört. ‚Kultur‘ ist daher ein anthropo-biologischer Begriff, der Mensch von Natur ein Kulturwesen. […] Kultur ist also in erster Annäherung der Inbegriff der Sachmittel und Vorstellungsmittel, der Sach- und Denktechniken, einschließlich der Institutionen, mittels deren eine bestimmte Gesellschaft ‚sich hält‘, in zweiter Annäherung der Inbegriff aller darauf fundierten Folgeinstitutionen. 536 535 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 79. 536 Ebd., S. 80. <?page no="123"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 123 Kultur als des Menschen eigene Daseinsform Wir kennen den Menschen nur als Kulturwesen 537 . Als ein solches Wesen interpretiere er die Welt. Er könne nicht anders. Kultur als Antwort auf die Aufgabe der Daseinsbewältigung nehme Wahrnehmbares und Nichtwahrnehmbares auf, und das menschliche Verhalten beziehe sich immer auf beides. Der Mensch sei mitunter das einzige Lebewesen, welches somit eine Vorstellung vom Nichts, zumindest als eines seine Gegenwart Überschreitendes oder in Gestalt des negativen Horizontes besitze. Er sei das einzige Lebewesen, in dessen Welt man notwendig und entbunden mit dem Nichts zu rechnen habe. Alle seine Leistungen, seien es sensomotorische oder intellektuelle, dienen nach Gehlen dem alleinigen Zweck der Selbsterhaltung des Menschen im Dasein. Sie seien grundsätzlich Vollzüge der Entlastung vom existenziellen Druck - dem inneren Druck der Antriebe oder dem äußeren Druck der auf ihn eindringenden Welt. Seine Bemühungen mündeten in der Erschaffung einer ihm mehr oder weniger adäquaten Welt in Gestalt von Institutionen aller Art und als Kultur. Wahrnehmung, Bewegung, Sprache „Wahrnehmung, Bewegung, Sprache“ 538 , die Begriffsreihe des Teil II von Der Mensch bezeichnet die Folge eines Aufstiegs, an deren Spitze die Sprache steht. Gehlen entwirft einen systemischen Zusammenhang, der die Sprache bruchlos in die sensomotorischen Leistungen des Lebewesen Mensch einbaut und mit ihr die Geburt des Gedankens, des menschlichen Bewusstseins wie zudem die Entstehung des Geistes darlegt. Wahrnehmung erwächst nach Gehlen aus dem tätigen Umgang des Lebewesens mit seiner Umwelt. Auf dieser Behauptung fußt dann ebenfalls der Primat des Tuns, des Pragmas über das Theoretizein . Tätigkeit setze Bewegung voraus und folgerichtig zeichnet für Gehlen den Menschen eine „ganz untierische Fülle von Bewegungsmöglichkeiten [aus]. Die uns möglichen willkürlichen Bewegungskombinationen sind buchstäblich nicht erschöpfbar, die Feinfühligkeit der Zuordnungen unbegrenzt.“ 539 Dem unspezialisierten Tier Mensch, der sich einer überraschenden Flut von vielfältigen Sinneseindrücken ausgesetzt sehe, sei das Privileg einer außerordentlich reichen Bewegungsvielfalt gegeben. Diese korrespondiere der gegen ihn andringenden Vielfalt der Welt und erlaube es ihm, sich mit ihr auseinan- 537 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 122: „Wenn der Mensch, wie hier vertreten wird, ‚von Natur ein Kulturwesen‘ ist, […]“ 538 Ebd., S. 131. 539 Ebd., S. 132. <?page no="124"?> 124 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST derzusetzen. Gehlen nennt die Bewegungen, mit welchen der Mensch der Welt entgegentritt, „kommunikativ“ 540 , denn sie mündeten in ein Resultat und „dies besteht im eigentätigen Aufbau der gedeuteten und beherrschten Sehwelt, die wir Erwachsene unmittelbar zu haben glauben.“ 541 Seh- und Tastsinn wirkten bei diesem Aufbau gemeinsam und zwar sowohl nach der Außenwelt wie auch nach der Innenwelt des Menschen. Nach außen werde mit den antwortenden Bewegungen Ordnung und Übersicht geschaffen, nach innen werde Beherrschung geübt. Denn der Organismus schaffe sich die Außenwelt in seiner Auseinandersetzung mit dieser ins Innere hinein. Der Bewegung geselle sich eine Bewegungsphantasie hinzu. Die Bewegungen würden selbst wieder empfunden und provozierten begierdelose neue Bewegungen und Bewegungsphantasien. Diese könnten kombiniert und verschoben und an jedem Glied der Kette ein- oder ausgesetzt werden. Die zur Plastizität und zur Selbstführung bestimmte menschliche Motorik müsse sich zunächst einmal in sich selbst ergreifen. Das Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit sei dann die Lustquelle dieser Bewegungen. Ihm würden die dabei auftretenden Empfindungen als ein entfremdetes Selbstgefühl der eigenen Bewegungen vermittelt , und diese Entdeckung sei eine neue, belebende und sofort wiederholte Möglichkeit: „Es ist dieses entfremdete Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit, das den weiteren Ausbau derselben steuert.“ 542 Das Führungsfeld, elementar schöpferisch Das sensorisch zurückempfundene Tun provoziere selbsttätig neue Empfindungen und daraufhin neues Tun etc. Dies gelte im Nahbereich des Lebewesens für Tast- und Sehempfindung, im Fernbereich für Seh- und Hörempfindungen. Ein wichtiger Fall beim aufsteigenden Bau der rückbezüglichen Empfindungssystematik beim Menschen ist für Gehlen das „Sprech-Hör-System“ 543 , da der Laut sowohl als produzierter als auch gehörter Gegenstand ein für den Menschen frei verfügbarer und erweiterbarer einen Sonderfall von Gegenstand darstelle: Die Grundtatsache dieses Sprech-Hör-Systems ist die doppelte Gegebenheit des Lautes, der ebenso motorischer Vollzug des Sprechwerkzeuges wie selbstgehörter, zurückgegebener Klang ist. […] Hier ist die Fähigkeit ‚entfremdeter Eigentätigkeit‘ so auffallend wie sonst nur noch im Tastsystem der Hand . 544 540 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 131. 541 Ebd. 542 Ebd., S. 134. 543 Ebd., S. 135. 544 Ebd. <?page no="125"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 125 Gemeinsam bilden Hand, Auge und Sprache dann auch das, was Gehlen „ Führungsfeld “ 545 nennt. Es trage die Aufgabe, die herausragenden menschlichen Fertigkeiten zu entwickeln. Die besondere Ähnlichkeit von Sprache und Hand liegt nicht nur darin, dass beide Systeme in hohem Grade unabhängig vom Gesamtbewegungszustand leben können: dies hängt mit ihrer Eigenschaft als führende Organe zusammen. Sie liegt vor allem auch darin, dass nur auf diesen beiden Gebieten unsere Eigentätigkeit ganz elementar schöpferisch ist, in dem Sinne einer Vermehrung des sinnlichen Reichtums der Welt. Zu der stummen Welt fügt unsere Sprache die tönende hinzu, und unsere Hand, mit den Dingen umgehend, sie zerbrechend oder bearbeitend, entlockt ihnen immer neue tastbare und auch sichtbare Eigenschaften. 546 Die sensomotorischen Seh- und Tastempfindungen, die rückbezügliche Vorgänge darstellen und auf diese Weise auch wieder weiter hervorrufen - was Gehlen entfremdetes Selbstgefühl oder entfremdete Selbstempfindung nennt -, sowie jene Bewegungsvorgänge, die ob der organischen Unspezialisiertheit des Menschen begierdelos aktiv in Beziehung zu einer noch zu entdeckenden Welt treten, und den darin zu findenden Gegenständen im sensomotorischen Geschehen eine Gestalt geben und noch dazu Bewegungsphantasien entstehen lassen, wie auch die so entstandenen Bewegungsfiguren und Bewegungsreihen und die sie wiederum begleitenden Bewegungsphantasien, welche kombinatorisch in und zu sich vermittelt werden können, immer wieder neue und unerwartete Aspekte der Gegenstandswelt lustvoll offenlegen, auf neue Bewegungen zurückwirken, und so nach und nach zu identifizierbaren Einheiten ausfallen, dies alles noch ganz ohne Sprache, drücken aus, was Gehlen die „Intellektualität der Bewegungsstruktur“ 547 nennt. Dieses System der sich selbst verstärkenden und aufbauenden Einheiten ist in seiner Gesamtstruktur einzig menschlich. Kein Tier kann sich begierdelos auf Gegenstände beziehen, obwohl es sich auf diese in Abwehr oder Angriff etwa sehr wohl beziehen kann. Wir sehen im Funktionieren dieses Systems die gegenseitige Bezugnahme der einzelnen Einheiten zueinander beschrieben, und es ist uns damit zugleich ein weiteres Prinzip einer urmenschlichen Fähigkeit mitgenannt: der Rollentausch oder das sich in ein anderes versetzen nach Mead 548 . 545 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 140. 546 Ebd., S. 140. 547 Ebd. 548 Ebd., S. 168: „Damit versetzt sich das eigene Verhalten in das Verhalten jenes Außendinges hinein, oder es ‚übernimmt die Rolle des anderen‘, genau wie das Kind, das den gehörten Laut nachspricht. G. H. Mead (Mind, Self and Society, 6. Aufl. 1947) hat in seiner Sprachphilosophie die fundamentale Bedeutung dieses ‚to take the role of the other‘ her- <?page no="126"?> 126 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Die strukturelle Vorgabe ist demnach die doppelte Erlebnisweise sensomotorischer Empfindungen als eines äußeren objektiven Datums oder/ und eines inneren subjektiven. Dem Laut, der als ein Äußerer in unser Ohr dringt, oder/ und von uns selbst erzeugt, auch selbst innerlich, wie auch wieder zugleich als ein Äußerer vernommen, ist die doppelte Struktur selbstredend eingeschrieben, und sie gelte so für jeden Gegenstand der Welt, der auf den Menschen einwirkt und auf den dieser in kommunikativer Bewegung reagiert oder auf diesen hin agiert. Alles dies seien Gegenstände, die in subjektiv-objektiver Gestalt vermittelst Handlung in den Kreis der Menschenwelt hineingenommen wurden und innerhalb der er nun mit ihnen lebe. Sie seien ihm also plastisch geworden 549 . Die fünf Sprachwurzeln Schon beim Vorsprachlichen, allein auf Empfindung und Phantasie aufbauend, beschreibt Gehlen die Tendenz des Systems zur Verkürzung der andrängenden Vielfalt der Welt. Er schreibt, dass zum Beispiel das Sehen hochsymbolisch sei, da es sich auf Erfahrungsdaten aus dem Bewegungsapparat wie dem Tasten (Oberfläche, Dichte, Härte, Schwere, Kälte etc. eines Gegenstandes) unmittelbar beziehe und alle diese Erfahrungs- und Umgangsdaten zugleich sehe. Dies gelte genau so auch für das Sprech-Hörsystem und dessen akustische Gegenstände. Mit dieser Feststellung sind wir bei der ersten Sprachwurzel angelangt. Sprachwurzel deshalb, da es sich dabei um „das rein kommunikative, noch gedankenlose offene Leben des Lautes“ 550 handele. Der Laut sei eine sensomotorische Bewegungsleistung, welche mit Inhalten geladen, kommunikativ geworden sei 551 . Als ein solcher sei er ausgewählt oder „spezialisiert“ 552 und erlaube die Präzisierung seelischer Erlebnisse. Da innere Erlebniseinheiten - Phantasien 553 - kombinativ, erinnernd und nach Gehlen vorgehoben; sie trifft schon für Tasterfahrungen zu. Dieser ‚Rollenwechsel‘ liegt in allen kommunikativen Erfahrungen.“ 549 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 165: „Plastizität bedeutet aber: aus einem noch nicht funktionierenden Fächer von Möglichkeiten ist durch Selbsttätigkeit, im Umgang mit den Dingen, eine Auswahl herauszuheben und eine variable Fürungsordnung aufzubauen.“ 550 Ebd., S. 141. 551 Ebd., S. 142. 552 Ebd. 553 Ebd.: S. 181: „Die Entdeckung der virtuellen Bewegungen oder einer besonderen Klasse motorischer Phantasmen durch Palagyi ist von großer theoretischer Bedeutung. Sie führt zuerst zu der allgemeinen Definition der Phantasie als eines nicht weiter auflösbaren Urphänomens im Sinne der Fähigkeit, sich resp. sich und die Dinge, mit denen man ein ‚kommunikatives System‘ bildet, in andere Lagen zu versetzen, als wir selbst und diese Dinge in Wirklichkeit haben. Wir können sozusagen unser real gegenwärtiges Verhalten <?page no="127"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 127 auch schon auf der vorsprachlichen Ebene vorausgreifend sein könnten - in Art einer nicht zu Ende geführten wohl aber innerlich zu Ende erlebten Handlung -, könne der Laut zum Ruf werden. Gehlen erläutert dies am Beispiel des Kleinkindes, welches an einem seiner Laute ein Echo der Anderen im Zusammenhang mit einer bestimmten Gegenwart eines Gegenstandes oder eine Aktion erfahre und diese dann als ein übersehenes Ganzes erkenne und von ihm auch wieder abgerufen werden könne. Zugleich sei dies der Moment für die Entstehung des Gedankens selbst, dann nämlich, wenn sich die Erwartung des Kindes nicht erfülle und aus dem Ausbleiben der Erfüllung in der tatsächlichen Leere allein der Gedanke daran erhalte 554 . Damit dieser Prozess zur Sprache führe, bedarf es nach Gehlen dreier Bedingungen: Denn zur Sprache gehören drei schlechthin wesentliche weitere Eigenschaften: die im Laut gerichtete Erwartung auf Erfüllung in anderen Lauten, die feste Zuordnung prägnanter Lautgestalten zu ebenso prägnanten Dingen, und die Unabhängigkeit der Verfügbarkeit einer echten Sprache vom Jetztgehalt der Situation. 555 Der selbstverfertigte Lautgegenstand werde nun in den Kreisprozess des „sensomotorischen, kommunikativen Selbstausbau“ 556 hineingezogen und ausgestaltet. Am Tanz wird laut Gehlen sichtbar, wie sich der Laut als Musik in „die innere Musik der Bewegung“ 557 der Tänzer hinein fortsetze und die Bewegung, die „raumlose Musik in sich hineinzuziehen und an einem sichtbaren Ort zu verdichten“ 558 vermag. in einer Art inneren Stellungswechsels in ein nächstmögliches Verhalten hinein fortsetzen.“ 554 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 143: „Unter ‚ Intention‘ hat man den Erwartungsvorgriff einer jeden gerichteten Bewegung auf Erfolg, Antwort und Rückschlag zu verstehen, und es ist ein sehr großer Fehler, Intention erst im Seelischen oder gar Geistigen anzunehmen: eine geführte Bewegung intendiert im Ansatz bereits Fortgang und Umgangserfolg. Der im Laut sich fassende gerichtete Vorgriff auf eine Erfüllung in anderen, antwortenden Lauten ist natürlich von besonderer Bedeutung: er ist die vitale Grundlage des Gedankens , nämlich der im Laut sich faßlichen und gerichteten, dabei frei verfügbaren ‚Intention auf etwas‘.“ 555 Ebd. 556 Ebd., S. 144. 557 Ebd. 558 Ebd. <?page no="128"?> 128 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Der Kreisprozess, das Leben des Lautes und der Rhythmus, Energeia des Handelns An dieser Stelle beschreibt Gehlen einen Sachverhalt, welcher mir als fundamental im Aufbau seiner Systematik erscheint, weit wichtiger noch als das, was er selbst zur Grundlage seines Bildes des Menschen ausweist: die Handlung 559 . Gehlen schreibt: Alle hier gemeinten Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs sind rhythmisch oder rhythmisierbar. Es scheint der Rhythmus die ursprüngliche Verlaufsgestalt zu sein, in der solche Bewegungen sich aufbauen. Immer wird das Lebensgefühl durch die sinnlich zurückgegebene und rhythmisch sich fortsetzende Bewegung wie in tiefen Atemzügen sich immer neu wiedergegeben - im Erlebnis entfremdeter und doch intimer Selbsttätigkeit im Umgang. 560 Das Schauspiel der Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs setzt dort an, wo Bewegung stattfindet. Bewegung ist ein in sich selbst gegliedertes Tun und nicht notwendig gerichtet. Bewegung kann als Energeia des Handelns, seiner Dynamis , verstanden werden. Wird ihr ein Telos beigegeben, so wird Bewegung zur Handlung. Handlung ist an Zwecken orientiert, was aber bei einer bewegenden Erkundung der Welt nicht sogleich immer der Fall zu sein braucht, ja sogar nicht immer sogleich erwünscht ist. Deshalb liegt der Erkenntnis nicht die Handlung, sondern die Bewegung selbst zugrunde - auch wenn sie dann in einem Gegenstand zu ihrem Ende kommen sollte. Diese Tatsache würde Gehlen der Behauptung entheben, die Kausalität sei eine heimliche Finalität 561 . Denn nicht gerichtete Bewegungsketten entbehren des Telos. Rhythmisch gegliederte Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs könnten somit - von Zwecken entlastet - im Erlebnis entfremdeter und doch intimer Selbsttätigkeit an der Plastizität der so in das Innere des Organismus hineinwachsenden Welt mitwirken. Um die Anfänge der Sprache im systemischen Entwurf des Menschen einzubetten, bestimmt Gehlen die Sprache grundlegend als Bewegung: Ein tieferes Verständnis der Sprachanfänge ergibt sich nur, wenn man die Sprache genau im Zusammenhang der hier abgehandelten Leistungen betrachtet, also kurz gesagt, innerhalb des Systems Auge-Hand. […] aber man pflegt doch noch die motorische Seite zu übersehen, die die Sprache nun einmal hat. Von daher gesehen, sind Sprachäußerungen in erster Linie Bewegungen wie alle anderen, und sie sind durch- 559 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 37. 560 Ebd., S. 144. 561 Ebd., S. 184: „Aber die Kausalität ist sicher nicht mehr, als die Bedingung der Finalität: es läßt sich nachweisen […] daß in einer nicht kausal determinierten Welt die Fähigkeit des Menschen, sich Zwecke zu setzen, eine Unmöglichkeit wäre.“ <?page no="129"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 129 aus in andere Bewegungsarten transformierbar, wovon die Taubstummenerziehung Gebrauch macht. 562 Die Artikulation des Lautes ist ein Vorgang der körpereigenen Motorik, und das Leben des Lautes ist für Gehlen die erste Sprachwurzel. Ob der Körpermotorik kann der ausgestoßene Laut vom Sprecher selbst gefühlt werden. Er wird - ans Ohr des Sprechers zurückgekehrt - empfunden und kann zudem noch von Anderen beantwortet werden. Die zweite Sprachwurzel nennt Gehlen „Offenheit“ 563 . Es handelt sich dabei um eine Bewegungsmotivation, ein „Anplappern“ 564 beim Kleinkinde, eine kommunikative Bewegung bei der „Weltbegegnung“ 565 . Da dieses Geschehen beim unspezialisierten Lebewesen Mensch geschehe, wirkten die auf ihn einströmenden Reize ebenfalls auf sein Inneres und eröffneten ihm damit auch dieses: „[…] die Selbsterschließung oder Öffnung nach außen ist Grundlage aller seelischen Regungen.“ 566 Ausdruck, eine rein menschliche Tatsache Das Grundphänomen allen Ausdrucks ist daher die Offenheit, die Selbsterlebtheit des Inneren, das sich nur dann selbst fasst, wenn es sich zugleich als Bewegung fasst. „Ausdruck“ ist eine rein menschliche Tatsache, und man muss darin vor allem zwei wesentliche Seiten unterscheiden: eine weltoffene, bedürfnisentlastete Antriebsstruktur überschüssiger, kommunikativer Lebendigkeit; und daraus fließende Bewegungen ohne Erfolgswert, Bewegungen zurückempfundener und sich darin potenzierender Art, die selbst wieder kommunikativ sind. 567 Da das Antriebsleben des Menschen durch den Hiatus dem Handlungsdruck enthoben sei, sei es weltoffen und an Inhalten orientierbar. Damit könne das Handeln in den Händen des Menschen verbleiben und ihm selbst verfügbar werden. Deshalb kann die Wiedererkennung Gehlens dritte Sprachwurzel darstellen: „denn es ist dies ein Grundsatz des Phantasielebens, dass Erinnerungen den motorischen Ansätzen nachströmen, sich in ihren Bahnen öffnen und als Erwartung der Handlung vorgreifen.“ 568 562 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 193. 563 Ebd., S. 194. 564 Ebd. 565 Ebd. 566 Ebd. 567 Ebd., S. 195. 568 Ebd., S. 197. <?page no="130"?> 130 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Gehlen lässt Erinnerung und Erwartung auf der Bewegung fußen. Wobei ihn auch hier die Beobachtung des Kleinkindes - getreu seinem antimetaphysischen Vorsatz, nur beobachtbare Sachverhalte bei seiner Untersuchung zuzulassen - leitet. Schnell erreicht diese Idee der Bewegung nach Gehlen beim Menschen wieder den Grad der Bewegungsverfeinerung auf einem sprachlichen Niveau namens Lautbewegung : Auch beim Menschen bleibt das Wiedererkennen grundsätzlich in solchen motorischen Bahnen. Aber man bemerkt sehr bald: die Reaktion ist nicht mehr eine solche des ganzen Leibes, sondern sie tritt unter Führung der Lautbewegungen . Das ist ein sehr folgenreiches und rein menschliches, wieder typisches Entlastungserlebnis , das genau zu betrachten ist. 569 Systemisch ist bei Gehlen ein für den Menschen typisches Erlebnis das Entlastungserlebnis . Lautbewegungen sind dabei die erfolgreichsten einer ganzen Reihe von Leistungen, welche das Lebewesen Mensch vom Jetzt entlasten. Zudem stecke im bloßen Bennen auch schon ein Erledigen , worin die Grundlage zur Theorie verborgen liege: „ In der Sprache ist eine Aktivität möglich, die in der faktischen Dingwelt nichts verändert . Das ist die Bedingung aller Theorie.“ 570 Motorische Reaktionen entlastender Reaktion spitzten sich in der Sprache zu, und die dort via Assoziation von Eindruck und Laut, dem Zusammenspiel von Auge und Ohr, entstandenen Worte erlaubten es dem Lebewesen Mensch, sich mit Hilfe dieser auf Gegenstände zu richten, erlaubten ihm die Intention 571 . Verläuft dieses Sich-Richten nun in der Sprachbewegung, so erkennt Gehlen darin, die „vitale Basis des Gedankens“ 572 . Im Spiel erlerne das Kind „die Mannigfaltigkeit und Plastizität des eigenen Bewegungskönnens“ 573 . Das besondere Telos des Spiels besteht für Gehlen in der Entwicklung und Bewusstwerdung sowie dem lustvollen Erleben der Phantasieinteressen, die mit Können gepaart der Weltbewältigung dienen. Das Kind übe sich dabei außerdem noch in das Spiel der Rollen und den Rollenwechsel ein. Von hier aus sei es dann nur noch ein kleiner Schritt, um in den Ernst des Lebens einzutreten, dann nämlich, wenn aus der regelgeleiteten Selbstverpflichtung im Spiel die gegenseitige Verpflichtung im Ernste werde. Damit erreichen wir den Charakterzug des Rufes, der vierten Sprachwurzel 574 . Im Ruf beobachteten wir den elementaren Fall einer „Ausgliederung und Präzisierung eines Bedürfniszu- 569 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 198. 570 Ebd., S. 199. 571 Ebd., S. 201. 572 Ebd. 573 Ebd., S. 205. 574 Ebd., S. 209. <?page no="131"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 131 ges in seiner Orientierung an einer äußeren Erfüllung unter Führung des Rufes, in dem das Bedürfnis sich als Aktion durchsetzt und somit selbst erfasst.“ 575 Im Ruf geschehe eine grundsätzliche Orientierung von Bedürfnissen. Dabei beziehe sich der Ruf auf ein Außen, sei es eine Situation oder ein Gegenstand. Es sei eine „allein menschliche Aufgabe“ 576 , seine Bedürfnisse zu orientieren, zu ordnen, zurückzuhalten, mit ihnen umzugehen. Dem Tier sei diese Stellungnahme sich selbst gegenüber verwehrt, da es dem Mechanismus seiner Instinkte und seiner Motorik ausgeliefert sei. Die Sprache biete dem Menschen eine Art Zwischenwelt 577 , zwischen der Welt und ihm selbst, in dem sein Handeln keine unmittelbaren Konsequenzen zeitige, und er seine Auseinandersetzung mit der Welt erproben könne. Es ist nicht mehr so, dass die Unruhe des Bedürfnisses den Laut bloß hervortreibt, sondern dass sie im Laut die Erfüllung erwartet, also sich selbst gefasst hat. 578 Gehlen nimmt an, dass der Ruf anderen sprachlichen Formen, wie zum Beispiel der Mitteilung, vorausgeht und in ihr als eine Art von Behauptung, trotzigem Aushalten und Entgegenhalten noch immer spürbar bleibe. Selbst also im Sprachlaut als Ruf erlebt der Autor die Anstrengung, die Not des Menschen, sich in der Welt erhalten zu müssen, wenn er schreibt: Von dieser vierten Wurzel der Sprache her bleibt in ihr für immer etwas von ‚Durchsetzung‘ erhalten, von Ansteckung oder Befehl, selbst in späteren reinen Mitteilungen. Die rein theoretische, in Form des Urteils sich befestigende Sprachverwendung ist eine sehr späte und Ausnahmeerscheinung. 579 Andere lautliche und strukturelle Sprachelemente wie Tonfall, Rhythmus, Melodie etc. scheinen demnach nötig, um bei den Abschattungen der sprachlichen Äußerung die notwendigen Unterschiede bzw. unterstützende expressive Hilfestellungen geben zu können, damit Ansteckungs-, Anrede-, Aufforderungs-, Befehls-, Versprechens- oder Mitteilungsabsicht unterscheidbar werden. Verlängert man diesen Gedanken bis zur Funktion der Kopula, so wäre bei ihr, etwa bei einer Mitteilung, man befinde sich in der Gegenwart eines Dinges, noch immer jener Anteil einer Durchsetzung mitzudenken, von der Gehlen spricht. Die Aussage, dass etwas sei, ließe den Anteil an Behauptung und Willen erahnen, einen Gegenstand ins Sein zu rufen, ins Sein hinein durchsetzen zu wollen, ihn ins Sein zu befehlen oder ihm Sein anzubefehlen. In jedem Fall aber handelte es sich 575 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 211. 576 Ebd. 577 Ebd., S. 248. 578 Ebd., S. 211. 579 Ebd., S. 212. <?page no="132"?> 132 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST dabei um ein Ansinnen, um einen Versuch zur Durchsetzung einer Seins-Behauptung. Die Kopula läge auf halbem Wege zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Gegenstandsobjekt. Wohl handelte es sich dabei noch um keine Bewegung, um kein wirkliches Verbum, aber auch schon nicht mehr um einen reinen, im Inneren als Wort verborgenen Gedanken mehr. Die Bedeutung der Kopula wäre die einer (Willens-) Bewegung im Stillstand: Das In-die-Gegenwart-Rufen eines dauerhaften Seins, die Behauptung eines Dauerns eines Gegenstandes im Sein. Mit der Kopula hielten sich subjektives Tun - Expressivität im Ruf - und objektive Gegenwart eines Gegenstandes in der Aussage die Waage. Wenn bestimmte Bewegungszusammenhänge eine expressiv-motorische ‚Begleitmusik‘ haben, so scheint es ein rein sinnesphysiologisches Gestaltgesetz zu sein, dass der Präzisierung von Handlungs- und Wahrnehmungsfolgen eine ebensolche Präzisierung der lautmotorischen ‚Begleitmusik‘ zugeordnet ist. Wenn man so annimmt, daß bestimmte Tätigkeiten eine zunächst affektive Lautbegleitung mitbestimmen, so haben wir einen Schlüssel für die selbsterfunden ‚Worte‘, mit denen Kinder ihre Aktionen begleiten. […] also einfache eine mitpräzisierte Lautbegleitung zu einer Aktionsgestalt. In diesem Sinne verwende ich hier das Wort ‚Lautgeste‘. 580 Die Lautgeste ist nach Gehlen die fünfte und letzte Sprachwurzel, und er verweist dabei auf eine Schrift Ludwig Noirés von 1877: „Der Ursprung der Sprache“, in der die These vertreten wird, dass der Sprachlaut seinen Ursprung in der Gemeinschaft der Menschengruppe besitzt: „Der Sprachlaut ist also in seiner Entstehung der die gemeinsame Tätigkeit begleitende Ausdruck des erhöhten Gemeingefühls.“ 581 Hier findet man wiederum ein Hinweis auf eine Art von Ruf in Form eines Singsanges, welcher - sozusagen - das Gemeingefühl herbeiruft . Es handelt sich um einen weiteren Hinweis auf eine Art Urform des Satzes in Gestalt des Rufes, der ob der spezifischen sozialen Situation als Gesang sich kundgibt. Das es einen Situationswert des Lautes gibt, ist ganz außerordentlich wichtig. Die Sprache würde nie zum Satz , als einem Kompositum von Einzelbeziehungen zur Ge- 580 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 228. 581 Ebd., S. 229. Noiré, Ludwig, Der Ursprung der Sprache , Verlag von Victor von Zabern, Mainz, 1877, S. 324 „Der Sprachlaut ist aus der Gemeinsamkeit der Tätigkeit hervorgegangen.“ Sowie S. 332: „Hier ist also der Ursprung des Lautes, der, gemeinsam erklingend, gemeinsam hervorgebracht, gemeinsam verstanden, nachmals zum menschlichen Worte sich entwickelte. Denn seine Eigenthümlichkeit war und mußte bleiben, daß er an eine bestimmte Thätigkeit erinnerte und verstanden wurde. So ist, wie schon früher bemerkt, der Inhalt der Sprache schon auf ihrer ersten Stufe Gedachtes, d. h. nicht die flüchtige Phantasmagorie des Sinnenscheins, der bunten Flucht der Erscheinungen, sondern fest in dem Menschen in seiner eigenen Thätigkeit Gegründetes.“ <?page no="133"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 133 samtheit einer Situationsbezeichnung kommen, wenn nicht an der Wurzel der Sprache schon Situations- und Aktionsbewältigung lägen. 582 Mit dem Agens und der Actio verbinden sich zwei Worte zu einem Satz - ein erkenntnistheoretisch enorm wichtiger Schritt. Bleibe das Wort im „Sich-richten“ 583 auf einen Gegenstand noch im Inneren - dem Ursprungsort des Gedankens - des Sprechenden verschlossen, so werde das Verbum aus „der menschlichen Handlungswelt in Vollzugsphantasmen“ 584 entbunden. Deshalb auch sei es höchst subjektiv. Das Verbum sei kein rein sprachliches Phänomen, sondern Frucht der „kommunikativen Bewegungen“ 585 . Trete der Mensch mit den Dingen in Beziehung, objektivierten sich die Bewegungen im entfremdeten Selbstgefühl. „Diese für unser gesamtes Verhalten entscheidende Tatsache fasst auf dem Gebiet der Sprache das Verbum oder der prädikative Satz nochmals in sich zusammen.“ 586 Die Dramatik des Satzgeschehens verlebendige das Geschehen in der Welt. Drama sei dementsprechend auch der richtige Begriff für die Bezeichnung der Zusammenhänge im Verbalsatz. So ist es der im lautenden Worte liegende Rollenwechsel zwischen Zustand und Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt, der beim Wechsel der Hinsichten die Dinge ihre eigenen Zusammenhänge sich aussprechen lässt, […] dieser Wechsel läuft über die Sache und schlägt sich als deren eigene Dramatik und Lebendigkeit nieder. 587 Das Schwungrad des Gedankens Das Sein gehe mit dem „energischen Prädicate“ 588 in ein Handeln über - zitiert Gehlen Humboldt -, und es werde so „ zum Zustande oder Vorgange in der Wirklichkeit “ 589 . Zwischen Wort und Sache jedoch bestehe ein ontologisches Missverhältnis: ein schnell verklingender Gegenstand treffe auf ein dauerndes Sein. Das im Satz gefesselte Sein löse sich sogleich wieder auf und müsse von der Intention immer wieder erneut verknüpft werden. Dabei liege die Wortbedeutung, der Begriff, „allein in der Ebene der Sprache, nicht über oder hinter der Welt“ 590 . Dennoch ergebe sich ein ähnliches Missverhältnis wie zwischen Sein und Wort auch 582 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 232. 583 Ebd., S. 245. 584 Ebd., S. 244. 585 Ebd. 586 Ebd. 587 Ebd., S. 245. 588 Ebd., S. 245. 589 Ebd. 590 Ebd., S. 248. <?page no="134"?> 134 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST zwischen Wort und Gedanke, welcher „von Ursprung chaotisch, […] gezwungen [ist], sich zu präzisieren, indem er sich auseinanderlegt“ 591 . Dabei komme ihm die Materialität des Wortes als ein flüchtiger Hauch beim Streben nach Exaktheit und Vollständigkeit entgegen und bringe den Gedanken zum Schwingen: So kommt dem Gedanken die Materialdünne und Flüchtigkeit des Lautes unvergleichlich entgegen, aber auch die Rhythmik der Laute, die Möglichkeit fortfließender Zusammenhänge, zerlegbarer Klangmassen sind, als ‚Schwungrad des Gedankens‘ von einzigartiger Zweckmäßigkeit. 592 Doch nicht die Materialität des Wortes allein halte das Schwungrad des Gedankens in Bewegung, sondern auch die Tatsache, dass das Wort ein motorisches Geschehen, eine „wirkliche Aktion “ 593 sei, welche zurückempfunden werde und zu neuer Artikulation reize - ein Zusammenhang zwischen Hand und Sprache, zwischen „Lauten mit - stets kommunikativen - Bewegungen“ 594 , der wohl auch in sehr alten Sprachschichten noch aufzufinden sei. Allerdings entfalle in der Sprache das Sich-Richten auf den Gegenstand selbst, denn in ihr endeten „Intention und Handlung“ 595 im Wort selbst „unmittelbar ‚ineinandergeschoben‘“ 596 . Die Sprache entlaste den Organismus vom tatsächlichen Sich-Ausrichten auf einen gemeinten Gegenstand und mache diesen in ihr selbst verfügbar. Die Tatsache, dass sie in einem Symbol - dem Wort - den Gegenstand ersetze, und es somit erlaube, diesen in ihm selbst als gegenwärtig zu erleben, ermögliche es dem Menschen, die reine Gegenwart zu überschreiten. 591 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 249. Hier zitiert Gehlen Saussure. Im Original heisst es: „Le rôle caractéristique de la langue vis-à-vis de la pensée n’est pas de créer un moyen phonique matériel pour l’expression des idées, mais de servir d’intermédiare entre la pensée et le son, dans des conditions telles que leur union aboutit nécessairement à des délimitations réciproques d’unités. La pensée, chaotique de sa nature, est forcée de se préciser en se décomposant. Il n’y a donc ni matérialisation des pensées, ni spiritualisation des sons, mais il s’agit de ce fait en quelque sorte mystérieux, que la «pensée-son» implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes.“ (Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale , Éditions Payot & Rivages, 106 bd Saint-Germain, Paris VI., S. 156.). Hier wird auf einen fundamental wichtigen Sachverhalt hingewiesen: 1. dass das „Gedanken-Klang“-Ganze Teilungen, divisions , impliziert und 2. dass die Sprache an dieser Stelle ihre Einheiten ständig zwischen zwei amorphen Massen herzustellen habe. An dieser Bruchstelle des Gedanken-Klang-Ganzen im Werden kann die rhythmische Ausfaltung der Wort- und Gedankenreihe ansetzen. Der Rhythmus wird damit zum Beweggrund des Gedanken-Klang-Stroms. 592 Ebd., S. 250. 593 Ebd.: „Das Wort ist also vor allem wirkliche Aktion , und man darf diese Seite der tatsächlichen Motorik niemals übersehen.“ 594 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 250. 595 Ebd., S. 251. 596 Ebd. <?page no="135"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 135 Die immer schon angelegte Entlastung vom Druck der gerade so beschaffenen Gegenwart wird durch die Sprache zur Sprengung der Gegenwart überhaupt. Der Mensch wird vorstellendes Wesen in beliebig ‚vergegenwärtigten‘ Welten, und Zeit und Raum, Zukunft und Ferne tun sich um ihn auf. 597 Zugleich mit der Sphäre der Vorstellung vermittele und präzisiere er mit Hilfe der Sprache seine vergegenwärtigten Welten , rückten Innen- und Außenwelt zueinander auf eine Ebene. Das meint der Begriff der Vermittlung: Verlautbarung der Welt und des Inneren im Wort, Verlautbarung der „äußeren Innenwelt“ 598 und der „inneren Außenwelt“ 599 sowie ihre Verfügbarmachung mittels der Sprache und der daran geketteten Vorstellungen. Die in der Sprache vollendete Aufschließung des Inneren, die Herauswendung desselben nach außen, ist im Kern derselbe Vorgang, wie die Besetzung dieses Inneren mit äußeren Eindrücken - Erinnerung. […] Dieses Hineinwachsen der Welt in uns ist nun in erster Linie ein Werk der Sprache. 600 Dies sei jedoch nicht nur allein ein Werk der Sprache. Die Tatsache, dass die Vermittlung dem Menschen als Lebewesen gelinge, sei „anthropologisch kategorial“ 601 und basiere auf der Idee, dass der Mensch die Außenwelt - belebte wie unbelebte - als grundsätzlich „‚ausdrucksvoll‘“ 602 auffasse. Erst die Stellungnahme seinerseits, das entfremdete Erlebnis, verändere die Natur dieser Art des spontanen Verstehens. Nur eine ausdrucksvolle Außenwelt könne, vermittelt durch kommunikative Bewegung, welche sich in der Sprache in hervorragender Weise manifestiere, in ihm einen Ausdruck hervorrufen. Wir fassen das Lebendige als beseelt, als äußere Innenwelt auf, weil wir uns selbst nach außen, uns ausdrückend, öffnen, und so entäußern wir uns im Innenverhältnis selber, wir sozialisieren uns. In dieser Sphäre realisiert sich Geist. 603 Gehlen referiert an dieser Stelle auf H. Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch und auf G. H. Meads Mind, Self and Society und unterstreicht damit die Zentralität dieses Punktes mit Beiträgen aus ganz verschiedenen Richtungen der anthropologischen Philosophie. 597 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 252. 598 Ebd., S. 260. 599 Ebd., S. 259: „Ist daher das Innere ein sich sprachmäßig Ausdrückendes, so ist es umgekehrt ‚innere Außenwelt‘, d. h. beschreibbar überhaupt nur uneigentlich, mit Bildern, die wir von außen auf es übertragen.“ 600 Ebd., S. 258 u. 259. 601 Ebd., S. 260. 602 Ebd. 603 Ebd., S. 261. <?page no="136"?> 136 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST In den noch verbleibenden Kapiteln des zweiten Teils von Der Mensch baut Gehlen seine Sprachtheorie hinsichtlich des Sprachursprunges und der Sprachentwicklung aus. Getreu seiner Auffassung von der Verfasstheit des Menschen ist ihm die Sprache ein ursprünglicher Bestandteil von ihm, und er meint folgerichtig, dass Kinder auch ohne die Führung von Erwachsenen, „allerdings nur in Kommunikation miteinander, zur Sprache finden würden, also die Vermutung der Ursprünglichkeit der Sprache, die mit dem Wesen des Menschen mitgegeben ist“ 604 somit bestätigt würde. „Höhere Sprachentwicklung“ 605 bedeutet für ihn, eine weitere Situationsentlastung der Sprache und ein Fortschreiten des Abstraktionsgrades der Aussage, mit der Folge, dass bei Abnahme der Situationsgebundenheit der Sprache eine Zunahme der inneren Bezüge - wie zum Beispiel der Ausbau der Wortformen und Syntax - zu beobachten sei: über den Ruf, der deiktischen Bezugnahme, der Aussage im Verbalsatz, hin zu den Erinnerungsform der Erzählung bis schließlich zum Urteil und dem abstrakten Denken mit der Gefahr des „Abstrakt“ 606 -Werdens und dem damit einhergehenden Flexibilitätsverlust von ganzen Sprachen. Das Kraftfeld der Sprache ist ursprünglich ohne Zweifel das Jetzt der vorliegenden Situation. Aber erst in der Entlastung davon lernt die Sprache, sich in sich selbst zu bewegen, und damit dringt der Mechanismus der Assoziationen, der äußerlichen Angleichungen und Analogiebildungen, des bloßen Verständnisses von Formeln in dem Grade in sie ein, wie sie an hinweisender Suggestion, an Affektwert und an Bild- und Gefühlsgehalt verliert. 607 Laute und die Bewegung der Gedanken wie die damit verbundene Aufschließung der Welt vermehrten und konzentrierten den Gehalt der „Phantasmen“ 608 , die in ihnen dargestellt seien. In verdichteter Form, den Symbolen, werde die Welt anschaulich und übersichtlich. Die Lautgestalten, Gehlen nennt sie „Lautphantasmen“ 609 , und die dazugehörigen Bilder der Sache bergen für ihn eine metaphorische Gestalt: In der Tat ist die Sprache durch und durch Metapher, einfach deswegen, weil sie eben nicht die Gegenstände selbst enthält, sondern sie ‚im Widerscheine ausdrückt‘ (Goe- 604 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 270. 605 Ebd., S. 273. 606 Ebd., S. 281. 607 Ebd., S. 283. 608 Ebd. 609 Ebd., S. 285. <?page no="137"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 137 the). Die Metapher im engeren Sinne, der eigentlich phantasievolle Sprachgebrauch, entwickelt nur diese Möglichkeit, A für B zu nehmen. 610 Deshalb scheint Gehlen auch die etymologische Forschung so ungemein aufschlussreich, denn mit ihr lasse sich die Arbeit der Metapher erschließen und auf die „Urphantasmen“ 611 einer Sprache zurückblicken. So nennt er mit dem Beispiel „hoffen“ die ältere Bedeutungsschicht von „Zuflucht nehmen“ 612 und vermutet dahinter wiederum eine ältere Urbedeutung von „sich zurückbewegen“ 613 . Dann schließt er auf ein „ursprüngliches Gestaltphantasma sich krümmen, sich niederbücken“ 614 . In dieser Grundgestalt zeige sich das prägnante Phantasma, jene Hinsicht, unter welcher das Wort seine Beziehung zum Gegenstand noch vor der Scheidung zwischen Bild- und Bewegungsphantasmen bzw. Nomen und Verbum ursprünglich aufgenommen habe. Sie sind durchaus schöpferische Leistungen, denn offensichtlich ist der Akt der Benennung eines Vorgangs oder eines Dinges zugleich die Auswahl einer Hinsicht , welche von der Phantasie als wesentlich im Worte festgehalten wird, und eben diese ‚Abstraktheit‘ des Phantasmas gestattet nun, dasselbe an andere Vorgänge heranzutragen und diese unter der gleichen Hinsicht aufzufassen. Das ist der eigentlich metaphorische Vorgang engeren Sinnes. 615 Unterschiedliche Sprachen besäßen unterschiedliche Formen der Hinsichten auf ihre Gegenstände, was Übersetzungen erleichtern oder auch enorm erschweren könne, und die Übersetzbarkeit grundsätzlich in enge Schranken verweisen würde. Jede Sprache ist nur insofern in jede andere übersetzbar, als sie das ‚Was‘, von dem die Rede ist, übertragen kann, aber nicht in der ursprünglichen Weise, wie sich die Sprachphantasie dieses Sachverhalts bemächtigt. 616 610 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 285. 611 Ebd. 612 Ebd., S. 286. 613 Ebd. 614 Ebd. 615 Ebd. 616 Ebd., S. 288. <?page no="138"?> 138 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Phantasie, das eigentliche Sozialorgan des Menschen Wahrheit bedeutet für Gehlen eine „‚innere Invariante‘, die es uns ermöglicht, mit einem Sachverhalt […] in absentia zu verkehren.“ 617 und nach der Betrachtung der „Irrationalen Erfahrungsgewissheit“ 618 , welche analog der aristotelischen Phronesis Grundlage des alltäglichen Handelns sei, schließt der zweite Teil des Buches mit einer Theorie der Phantasie. Palagyi hat daher in guter Einsicht die Einbildungskraft umschrieben als eine vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen. […] „Dieses Entrücktwerden des Lebensprozesses von dem räumlich-zeitlichen Standort, wo es in Wirklichkeit verharrt, nennt man Phantasie“. 619 Wir finden hier einen Vorgang ausgebildet, der den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichne: den Rollenwechsel oder die Fähigkeit sich aus sich selbst zu setzen. Gehlen schließt dann auch folgerichtig: „In der Tat wäre der Mensch als Phantasiewesen so richtig bezeichnet, wie als Vernunftwesen .“ 620 Meads To take the role of the other , impliziere diese Fähigkeit der Phantasie und sei als „Nachahmung“ 621 schwerlich gut bezeichnet, denn in der Übernahme des fremden Verhaltens entdecke sich im Rückschluss das eigene Selbst: „Daraus folgt offenbar, daß es ein direktes Verhalten zu sich selbst primär gar nicht gibt, sondern daß die Identifikation mit einem anderen die Voraussetzung des Selbsterlebnisses ist“ 622 . Damit komme der Phantasie die Rolle des eigentlichen elementaren Sozialorgans 623 zu. Die Reaktion des Individuums auf Vorgänge und Geschehnisse in unserer Gesellschaft bilde sich im Austausch mit dieser und werde in Rollenspielen und Rollenvorstellungen eingeübt und ausgelebt. Sie bildeten den Resonanzboden, auf dem das eigene Selbstgefühl, selbst ein „‚état imaginaire‘“ 624 , entstehe und lebe. Für Gehlen bedeutet dies: „Die Phantasie als das Vermögen der Gesamtversetzungen ist geradezu das tragende innere Gefüge der Gesellschaften. 625 617 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 293. 618 Ebd., S. 302. 619 Ebd., S. 317. 620 Ebd. 621 Ebd., S. 318. 622 Ebd. 623 Ebd., S. 319. 624 Ebd. 625 Ebd., S. 321. <?page no="139"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 139 Es handele sich dabei sowohl um habitualisierte wie auch um persönliche Haltungen, die sozusagen den Klebstoff der Gruppe bildeten und an denen sich das Individuum bei seinen Reaktionen orientiere. Am Ende des Kapitels wendet sich Gehlen einem Thema zu, das, wie er selbst sagt, „an der Grenze der Denkbarkeit“ 626 stehe und dass er „Urphantasie“ 627 nennt. Wenn wir mit Bolk annehmen, dass die Anatomie des Menschen in der Retardation gründet sei, müsse - im Unterschied zum Tier - eine Art nie wirklich begrifflich zu bestimmender Antriebsüberschuss im Menschen wirken. Zugleich würde damit unser Bewusstsein zu einem reinen Oberflächenphänomen degradiert, da es diesem - ob der Selbstimplikation - nie gelänge, die wirklichen Zwecke zu ermitteln. Nietzsche bediente sich bei der Beschreibung dieser Sachverhalte des Körperbeispiels, von dem das Bewusstsein ja ebenfalls nur einen sehr geringen Teil wirklich wahrnehme 628 . Demnach handele der Mensch aus einem Antrieb, den er prinzipiell nicht ergründen könne. Er hätte sich also als Aufgabe, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, diese Aufgabe wahrhaft identifizieren zu können. Gehlen nennt die nietzscheanischen Formeln des Übermenschen oder des Willens zur Macht als Beispiele für Bestimmungen des Begriffs des Lebens, welche - im Rücken des Bewusstseins - den Menschen antreibe und dem blinden Streben des Lebens nach Mehr ausmachten. Er nennt diese unbestimmbare überschüssige Kraft eben „Urphantasie“ 629 und zählt sie zu einer der „Quellen der Kunst“ 630 . In der Pygmalion-Saga habe er darüber das bisher Aufschlussreichste darüber gefunden: „Wir stehen hier an einer der mehreren Quellen der Kunst. […] Das ist die Urphantasie, und die Weise, sich in ein tätiges Verhältnis dazu zu setzen, die Kunst.“ 631 Mit dieser Vorstellung spricht er den Künsten eine enorm wichtige soziale Funktion zu, denn im Entwurf und der Erstellung idealischer Schönheit wirke die Kunst auf die Gesellschaft ein: Es ist nicht zu bezweifeln, dass die bildenden Künste tief formzüchtende Wirkungen auf die sehr versehrbare Urphantasie des Menschen ausüben können, und schon Lessing sagte, daß der Staat der Alten schönen Bildsäulen schöne Menschen mit zu verdanken hatte (Lakoon). Hohe Kunst hat eine unersetzbare Autorität. 632 626 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 321. 627 Ebd. 628 Ebd., S. 322. 629 Ebd., S. 323. 630 Ebd., S. 325. 631 Ebd. 632 Ebd. <?page no="140"?> 140 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Da wahrhaft instinktives Verhalten beim Menschen kaum zu konstatieren sei - Gehlen nennt das Beispiel das Saugens oder Greifens des Säuglings -, gelte, „daß wir den Menschen nur als Kulturmenschen kennen, also als tätig in unbeschreiblich vielseitigen, sozial vermittelten Handlungen, d. h. solchen, die ohne andere Handlungen anderer Menschen gar nicht zu verstehen sind, und die man gelernt hat.“ 633 Dem sei auch notwendig so, da der Prozess der morphologischen Foetalisierung eine Entdifferenzierung 634 der Antriebsstruktur hervortreibe, die sich durch die Auseinandersetzung mit der Welt an deren Inhalten hefte. Der Mensch arbeite sich so die Welt in sich hinein und erlebe, dass seine Bedürfnisse und Interessen diesem Prozess folgten. Deshalb kann er behaupten: Wir handeln nicht so oder so, weil wir bestimmte Bedürfnisse haben, sondern wir haben diese, weil wir selbst und die Menschen um uns so oder so handeln. 635 Charakter bedeutet demnach ein auf Dauer gestelltes Gefüge von derartig verfestigten Antrieben in Interessen, Bedürfnissen etc. 636 . Die Abtrennbarkeit der Handlungen von Antrieben, deren Aufschieben oder Verschieben auf Anderes, also der Hiatus 637 , zwinge dem Menschen geradezu die kulturellen Leistungen ab, in denen er jene Formen entwickele, welche aus der Stellungnahme seiner selbst zu sich und der Welt resultieren. Auf diese Weise stelle er seine Antriebe auf Dauer. Kultur sei für den Menschen lebensnotwendig . 633 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 329. 634 Ebd., S. 330: „Der Abbau echter Instinkthandlungen vollzieht sich anscheinend im komplementären Verhältnis zur morphologischen Foetalisierung und zur Großhirnentwicklung, bedeutet aber umgekehrt eine Entdifferenzierung der Antriebsstruktur derart, daß nun umgekehrt alle noch so hoch vermittelten und zufälligen Verhaltensweisen, von jeglichem Inhalt der Arbeit oder des Spiels, drangbesetzt und mit Sättigungswert auftreten können.“ 635 Ebd., S. 330. 636 Ebd., S. 332: „. Wir nennen nämlich ein Gefüge von Interessen, Bedürfnissen, Neigungen und Gewohnheiten (in Summa: Antrieben), welche anspruchsvoll, angeeignet, geführt, gegeneinander stellungnehmend ausgelesen und welche auf Dauer gestellt sind - einen Charakter .“ 637 Ebd., S. 335: „Daß also Kultur nicht nur tragbar, sondern lebensnotwendig ist, ist angelegt im Menschen und zuletzt in diesem Hiatus , der Abtrennbarkeit der Handlung von den Antrieben, als der Bedingung der Existenz für ein so beschaffenes Wesen.“ <?page no="141"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 141 Beweglichkeit und Stellungnahme, die große Vernunft des Leibes Das Innere des Menschen, das, was die Einverseelung 638 dem weltoffenen Wesen Mensch eingebracht habe, sei vor allem sinnlicher Natur. Das Medium, aus dem das Mittel stamme, mit dessen Hilfe der Mensch sich in seinem Inneren orientiere, heiße Denken . Und Denken sei nicht ohne ein ursprünglich Äußeres zu fassen: der Sprache 639 . Für Gehlen ist das Denken „ein System, das ganz im sensomotorischen Kreis liegt, als ein nach außen gewendetes System von Deutungen und Beziehungen, ein Organ des Planens und Übersehens, Führungsorgan des Handelns.“ 640 Denken sei eine in den sozialen Körper der Sprache gewendete innere Bewegung. Die Bewegung fuße auf der Motorik des menschlichen Gliederkörpers, der höchst beweglich sei (Gehlen wird nicht müde, dieses im Vergleich zum Tier ungemeine Mehr immer wieder zu betonen 641 ). Mit dieser allgemeinen Beweglichkeit - nicht spezialisiert und in die Umwelt eingepasst wie das Tier - könne er den Herausforderungen der Welt entsprechen. Und es sei diese allgemeine Beweglichkeit, welche den Menschen mit einem so hervorragenden kommunikativen Verhalten zur Welt hin auszeichne. Die Allgemeinheit der Beweglichkeit entspreche seiner Natur als instinktreduziertes Wesen, verbürge den Hiatus des Antriebsdrucks und garantiere die Sachlichkeit. Gegenstände der Welt könnten als Gegenstände eigenen Rechts wahrgenommen werden und dienten nicht als reine Auslöser für Instinktreaktionen wie beim Tier. Zugleich jedoch werde sich der Mensch damit selbst zur Aufgabe. Denn er könne seine Reaktionen 638 Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Carl Hanser Verlag, München, 1955, Bd. II, S. 799: „Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf - ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? […] Daß dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist muß dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegenwirkende Kraft, die der Vergeßlichkeit , vollauf zu würdigen weiß. Vergeßlichkeit ist keine bloße vis inertiae , wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, daß was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn »Einverseelung« nennen) ebensowenig ins Bewußtsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozeß, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte »Einverleibung« abspielt.“ Siehe auch Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 341 unten. 639 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 339. 640 Ebd., S. 339. 641 Ebd., S. 41: „Die menschlichen Bewegungen sind dagegen ausgezeichnet durch eine ganz unvorstellbare mögliche Mannigfaltigkeit, durch einen Kombinationsreichtum, von dem man sich eine annähernde Vorstellung auch dann nicht machen kann, wenn man daran [42] denkt, welche Fülle exakt gesteuerter Bewegungsformen in einem einzigen Handwerk erfordert wird - geschweige in der Kompliziertheit eines ganzen Industriesystems.“ <?page no="142"?> 142 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST nicht den Signalen der Welt anvertrauen. Er müsse sie in sich selbst finden. Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das seine Reaktionen nicht aus der Welt allein erfahre. Er muss „ sie in sich sehen, da es sie außer sich nicht sieht “ 642 . Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das zur Stellungnahme zu sich selbst von Natur aus gezwungen sei. Er sei aber auch das einzige Lebewesen, das eine Stellung zu sich selbst einnehmen könne. Die Sprache sei sein wichtigstes Organon dafür und bilde die Brücke zwischen Außen und Innen, da die Sprache weder Innen noch Außen unterscheide. Sprache und Phantasie bildeten ein sich gegenseitig durchdringendes Amalgam. Damit werde das Beweglichkeitspotenzial der menschlichen Vorstellungswelten noch einmal ungemein gesteigert. Zu sich selbst Stellung nehmen zu können, Beobachter wie Interpret seines eigenen Tuns zu sein, sich das Vorstellen vorstellen können 643 , eröffne dem Menschen die Zeit in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie den weiteren Aufstieg aus den mit Bildern und Antrieben besetzten Sinnen in die Abstraktion bis hin zur Mathematik. Da ihm das Denken tief im sensomotorischen Kreis 644 gründet, sei es eine in die Sprache mit ihren Bezeichnungen und Deutungen gewendete innere Bewegung. Die Sprache kann demnach als eine wiederum in den einzelnen Körper gewendete äußere Bewegung verstanden werden. Ihr antwortet die innere Bewegung des einzelnen Körpers, die Bewegungen des menschlichen Körpers, seines Gliederkörpers. Als Antwort und Entsprechung auf seine Umgebung seien diese Bewegungen in sich selbst intelligent. Sehr leicht macht man den Fehler, die Intelligenz des Menschen in seinem Kopfe zu lokalisieren und die große Vernunft des Leibes zu übersehen, den man den Physiologen und anderen Spezialisten überlässt, im besonderen nochmal, wenn die Triebtheorie die Grundlagen unseres Innenlebens primitivisiert und die Weltläufigkeit, die tiefe Erfahrung und Intelligenz unserer Antriebe vernachlässigt. 645 Die Institutionen aus dem Geiste des Rituals Im letzten Kapitel des Buches behandelt Gehlen Probleme des Geistes 646 und entwickelt darin eine Theorie der Genesis der Institutionen aus dem Geiste des Rituals. Zuerst verwirft er die gängigen Erklärungsversuche des instru- 642 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 341. 643 Ebd., S. 340: „Die von Schopenhauer gefundene Wahrheit ist durchaus festzuhalten: Das Denken ist, ‚Vorstellen des Vorstellens‘, Erweiterung des Vorhandenen in das Zukünftige und Abwesende, durchaus handlungsbezogen: ‚Medium der Motive‘, wie Schopenhauer sagt, Mittel der bewegenden Anregungen.“ 644 Ebd., S. 339. 645 Ebd., S. 352. 646 Ebd., S. 381. <?page no="143"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 143 mentell-technischen Denkens mit seinem Utilitarismus wie auch die des historisch-psychologischen Denkens mit seinem unaufhebbaren Relativismus. Keine der beiden Denktraditionen erreichte ein schlüssiges Erklärungsmodell für Phänomene des Geistes, oder könnte plausibel darlegen, warum „die menschliche Intelligenz den Gesetzen der Materie in so fabelhaft hohem Grade adäquat ist, wie es die endlose Serie der verblüffendsten Erfindungen beweist“ 647 . Auch offensichtlich unpraktische Verhaltensweisen, welche keinen unmittelbaren Nutzen erbrächten, blieben außerhalb ihrer Erklärungskategorien. Derartiges Verhalten manifestiere sich jedoch im Ritual. Es selbst wäre, langsam sich entwickelnd, zum Zentrum der Entstehung des Bewusstseins einer Gruppe - wie deren Mitglieder - geworden, aus der sich wiederum deren Weltbewusstsein wie deren soziale Organisation ableiten lasse. Da das Ritual selbst keinen unmittelbaren praktischen Nutzen habe, bedürfe es der Stützung durch ein weiteres Datum. Der Mensch hält nämlich ein zweckloses Verhalten von sich aus nicht durch, auch kein rituell kultisches. 648 Gelänge eine Begründung der Stabilität des Rituals als Stiftungszentrum sozialer, kultureller und praktischer Verhaltensweisen, welche in illo tempore keine getrennten Lebenssphären darstellten, so wären damit eine rein kulturelle Leistung als Grundlage für die Stabilität und Entwicklung der Gruppe geliefert. Gehlen schreibt: An dieser Stelle und am Schlusse dieses Buches wollen wir uns jedoch auf den Nachweis beschränken, dass es ganz bestimmte nichtinstrumentelle Akte des ideativen Bewusstseins sind, aus denen heraus Institutionen entwickelt werden. 649 Der philosophische Begriff des ideativen Aktes manifestiere sich anthropologisch im Ritual. Im Ritual mit seiner Stilisierung einer lebensweltlichen Einheit - meist einem Tier - zu einem der Gruppe dauerhaft gegenwärtigen Gegenstand (im Bilde oder im Tanz), steigere sich der „[…] Grad des Selbstbewusstseins. Indem der Darstellende sich mimisch verhält, muss er im Akte der Darstellung […] sich von sich selbst unterscheiden, er erlebt in einer gesteigerten Weise sich selbst im Kontraste zu dem, was er verkörpert“ 650 . Mit der Darstellung, also der Ablösung und Dauerhaftmachung z. B. eines Tieres im Bilde oder im darstellenden Tanz, eines allen gemeinsamen Referenz- 647 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 393. 648 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt a. M., 2004, S. 215. 649 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 394. 650 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 168. <?page no="144"?> 144 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST lebewesens für die Gruppe, entferne sich das tatsächliche Tier, und seine Idee oder Wesenheit trete im Ritual in den Erfahrungsraum der Gruppe ein. Damit gewinne eine künstliche Zwischenwelt, zwischen gänzlich uninteressanter und höchst wichtiger Bedeutung für das Überleben - also triebbesetzt - an Bedeutung. Es sei eine moralische Entscheidung, die das primitive Bewusstsein damit fälle. Die Darstellung gerade der in hohem Grade furchtbesetzten Gestalten ist als eine sehr hohe moralische Leistung anzusehen, weil man der eigenen Angst und Gier in den Rachen griff und ihren Gegenstand »festmachte«. Indem sie zur Wesenheit erhoben werden, geht eine Entscheidung zum Dasein in ihre Darstellung ein, die »Herausforderung« wird angenommen, die in der Macht und der menschlichen Abhängigkeit von ihnen liegt. 651 Die ursprünglich moralische Entscheidung, dem Ins-Auge-Sehen-und-Aushalten der Gefahr, münde schließlich in die Manifestation der äußeren gegenständlichen sowie lebendigen Welt als einer eigenen Rechts 652 . Erst in der Darstellung könne ein Gegenstand der Welt Gegenstand eines Bewusstseins werden, könne der dargestellte Gegenstand deshalb als einer eigenen Rechts in der Welt erscheinen, wie denn auch in der Erweiterung eine Welt eigenen Rechts überhaupt. Andererseits deute die moralische Leistung neben der gnoseologischen Seite auch auf eine ethische Konsequenz. Mittels des Rituals, z. B. dem Bezug der Gruppe auf ein bestimmtes Totemtier, schließe sich diese gegen andere Gruppen ab. Es entstehe ein innerer sozial stabiler Raum, welcher sich im Tabu der Anthropophagie der Gruppenmitglieder ausdrücke: Die innere Befriedigung der Gruppe und ihr Abschluss nach außen als eine Einheit ist natürlich die Voraussetzung jeglicher stabiler Tradition, d. h. im Grunde der Kultur, erstrecke sich diese Tradition nun auf kultische, ökonomische oder politische Inhalte. 653 Aus dem Totemismus heraus entsteht nach Gehlen auch die stabile Zuordnung der Geschlechterverhältnisse, der Dauerfamilie und der Heiratsregeln wie die 651 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 177. 652 Ebd., S. 214: „Wenn das ursprüngliche Ritual den »Selbstwert im Dasein« des Tieres artikuliert und sich ihm zu verpflichten jederzeit bereit ist, indem Opfer, Versöhnungs- und Dankeskulte anwachsen, dann ist schließlich das, was im Jagdritual dargestellt wird, das Bewußtsein des Zusammenhangs von Mensch und Tier im Dasein, also der übergreifende Zusammenhang des Daseins selbst, der keiner Zweckfrage mehr untersteht. In der gesteigerten Gegenwärtigkeit des Rituals dringt ein unbestimmtes Bewußtsein dieses übergreifenden Zusammenhangs des Daseins an die Oberfläche, wo es sich sofort in einem einzelnen Gegenstand niederschlagen und verdichten muß - der Wesenheit des Kulttieres.“ 653 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 399. <?page no="145"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 145 des Inzestverbots oder die Exogamieregel 654 . Mit dem Ritual habe die frühe Menschheit eine Form gefunden, in der sie die Welt in ihrem eigenen Inneren - sozial wie individuell-psychisch - für sich lesbar und stabil habe werden lassen können. Aus den moralischen wie praktischen Verpflichtungen, die aus ihm entspringen, stabilisiere sich die Menschengruppe im Dasein und gewinne zudem den zivilisatorischen Schwung zur Weiterentwicklung. So leitet Gehlen auch Ackerbau und Viehzucht 655 aus dem Totemismus bzw. dem Tötungstabu und der Verehrung bestimmter Tiere und Pflanzen ab. Der ökonomische wie zivilisatorische Gewinn einer ideativen Aktivität wie der des Rituals sei evident. Aus diesem Grunde habe sich das Ritual aus einem Knäuel prämagischen Verhaltens nach und nach herauskristallisieren, stabilisieren und seinen eigenen Kern beibehalten können. Der unerwartete reale Erfolg kultureller Handlung, den Gehlen „ sekundäre objektive Zweckmäßigkeit “ 656 nennt, stabilisiere und legitimiere retroaktiv eine ursprünglich unzweckmäßige wie nicht zu ergründende ideative Tat. Es ist ein kreativer Akt, den Gehlen zum Ursprung und zur Grundlage der Institution im Sinne erklärter idées directrices und damit zur Basis der menschlichen Gesellschaft macht, und sie besitzen ihren Ursprung auch und besonders im Rhythmischen. Die elementarste Form des darstellenden Verhaltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus: in der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz ahmt ein Handeln sich selbst nach oder es stellt sich in sich selbst dar, und eine Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, erhält damit Symbolfähigkeit . Sie ist weder gewohnheitsmäßig, noch eine glatte, im Sachzweck aufgehende Aktion, noch unmittelbarer Affektausdruck. 657 Gehlen beschreibt ein junges, ein erstes symbolisches Verhalten in der großen Schrift der Bewegung 658 des menschlichen Gliederkörpers im Ritual: Die der Ordnung unterworfene - rhythmisierte - Nachahmung belebter oder unbelebter Natur stifte ein inneres Zerwürfnis, da der Körper mit sich selbst in eine spezifische wie geordnete Beziehung treten müsse: Die Ordnung distanziere den Körper von sich selbst genauso wie vom Was seiner Darstellung. Der Körper 654 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 399. 655 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 213. 656 Ebd. S. 181, sowie: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 401. 657 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 167. 658 Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Carl Hanser Verlag, München, 1956, Bd. III, S. 475: „Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.“ <?page no="146"?> 146 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST werde sich selbst zu einem befremdlichen, zu beobachtenden, in spezifischer Weise gefühlten und erlebten Leib. Damit könne das Was der Darstellung aus ihm entlassen und zum Symbol werden. Neben dem Tanz entließen auch das Bild oder der Klang als in spezifischer Weise gefühlte und erlebte den wirklichen Gegenstand aus sich und damit die Möglichkeit für diesen, ins Bewusstsein zu treten. Das Wort Auch ein Wort halte, dem Bilde ähnlich, seinen Gegenstand fest und stelle ihn auf eine gewisse Dauer, zumindest so lange, wie das Drama der Artikulation andauere. Einen Hinweis darauf gebe uns die etymologische Verwandtschaft zwischen bannen und benennen. 659 Auf der anderen Seite teile die Sprache das Fließen und Vergehen, die Veränderung im Fortgang mit der Bewegung und dem Tanz. Wie der Körper besitze auch die Sprache einen Körper: den Körper des Klangs. Der Klang besitzt nach Plessner den phänomenalen Eindruck des Volumens . Körperlichkeit ist die Grundlage für Bewegung - etwas muss sich bewegen -, und wie die Bewegung des Tanzes ist auch die Sprache der Gliederung fähig. Sie leiht sich dem gegliederten Ablauf, dem Rhythmus und der Artikulation. 660 Sie hält damit die Werkzeuge parat, um überprägnant erlebt werden zu können. Mit der Dynamis der Überprägnanz leiht sich die Sprache als Material der kunstvollen Verarbeitung und kann somit in eine besondere Beziehung zu sich selbst gebracht werden. Die Auseinander-Setzung mit sich selbst lässt sie auch in die Formen des Alltagsgebrauchs und den kunstvollen Gebrauch auseinandertreten. Sie ist dann weder gewöhnlich noch kommunikativ oder unmittelbar effektiv. Das Wort kann auf diese Weise zum Träger von erweiternder Bedeutung werden. Es ist symbolfähig geworden. Es kann das Bild des Totemtieres in sich aufnehmen und es aufführen . 659 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 246: „Wenn ein Ding im Wort intendiert wird, so wird es in sich selbst gemeint, herausgehoben aus der Welt und festgenagelt, und damit allerdings erst für unser Bewußtsein zu einem gegenstehenden ‚es selbst‘. Es wird, ‚gebannt‘ - wie denn die Grundbedeutung von ‚bannen‘ war: bezeichnen, ein Zeichen geben (Grimm, DWB. I, 1115).“ 660 Ebd., S. 250: „Auf der einen Seite, denkt Saussure, haben wir die amorphe Masse unpräziser Gedankenkeime, auf der anderen die Masse schon beweglicher Lautphantasmen, und die Sprache arbeitet sich heraus, indem diese Massen aneinander zerlegt werden. In ganz ähnlichem Sinne sagt Humboldt: ‚Das sich im Laute äußernde Gefühl enthält alles im Keime, im Laute selbst ist nicht alles zugleich sichtbar. Nur wie das Gefühl sich klarer entwickelt, die Artikulation Freiheit und Bestimmtheit gewinnt, und das mit Glück versuchte gegenseitige Verständnis den Mut erhöht, werden die erst dunkel eingeschlossenen Teile nach und nach sichtbar und treten in einzelnen Lauten hervor.‘“ <?page no="147"?> Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 147 Indem das Wort auf der einen Seite das Bild, auf der anderen Seite die Bewegung, den körperlichen bzw. klangkörperlichen Vollzug in sich aufnehmen kann, entlastet es den menschlichen Körper. Die Sprache, obwohl immer auch motorisches Geschehen, transportiert das physische Geschehen auf ein anderes motorisches und materiales Niveau. Die sensomotorische Produktion der Sprache und ihr Klang verbürgen die körperliche Gegenwart des Wortes wie seinen verklingenden - verba fugit - Charakter: den Ausdruck in der Ausführung. An der Spitze des aus dem kommunikativen Verhalten des menschlichen Organismus kommenden Ausdrucks bzw. seiner Expressivität stehe die Sprache bzw. das Wort. Die Sprache berge alle gröberen mechanischen Vorgänge in sich und transportiere sie auf ein neues Niveau der materiellen Feinheit im Klang (oder Schrift), potenziere sie in ihrer Kombinationsmöglichkeit, intensiviere diese durch das innerliche Selbsterlebnis im so empfindbaren Symbol und erlöse sie von der realen Ausführung bzw. der Handlung. Die Sprache könne so bei sich selbst bleiben. 661 Das Wort erfasse den gesamten Menschen und ermögliche ihm die Gegenwart des Gedankens: Diese sehr besondere und voraussetzungsvolle, die ganze menschliche Sinnes- und Bewegungsstruktur enthaltende Tat ist das Wort, und die darin erreichte Form des Bewusstseins heißt Gedanke, der zunächst, wie allgemein zugestanden, vom Wort untrennbar, eben das Wort selbst ist. 662 Resümee Sowohl der Schelersche Stufengang des Psychischen wie die Plessnersche phänomenologisch-hermeneutische Dialektik der gegensinnigen Grenzdynamik und auch die vom Kreisprozess getriebene schöpferische Führungsdynamik Gehlenscher Provenienz bürgen für die Bewegung, mithin für den Rhythmus als geregelter, bewegter Bewegung und ontologischer Anker für das In-der- Welt-Sein des Menschen. Dessen außerordentliche Bewegungsfähigkeit und Bewegungsvielfalt drückt sich letztlich in sprachlichen Verlautbarungen aus und darf zusammen mit dem Musikalischen zu den artikulatorischen Größen gerechnet werden. Bewegung, Rhythmus und Sprache zeugen von der ontologischen Dignität seines Ausdrucks. Das mittelbare Weltverhältnis des Menschen nach Scheler - befeuert von einer triebhaften Aufmerksamkeit -, die Erfahrung des Geistes an Haltung und 661 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 242: „Damit, daß der Mensch die Dinge benennt, hat er bereits gehandelt.“ 662 Ebd. <?page no="148"?> 148 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST Bewegung nach Plessner sowie die Ausdrücklichkeit als grundsätzliches Verhältnis des Menschen zur Welt und die im Wort enthaltene Sinnes- und Bewegungsstruktur nach Gehlen zeugen von der Lockerung der Fesseln des Seins durch Sprache und Kultur. Sie erzählen von der tatsächlichen Möglichkeit der Grenzüberschreitung und bürgen für das transzendierende Tun des Menschen in der Immanenz seines Daseins 663 . 663 Dieser Begriff des Daseins bezieht sich auf die oben angegebene Fußnote, Nr. 678, in der das Dasein als eine moralische Tat des Wesens Mensch begriffen wurde, der sich damit in der Welt zu halten sucht, sich um sein In-der-Welt-Sein sorgt. Nicht als moralische Tat, aber als Sorge lässt sich hier die von Heidegger vorgebrachte Bestimmung eines Daseins mitverstehen, auch wenn Sorge schon als weit zu intellektualistisch verstanden werden kann: „Das Dasein ist ontologisch grundsätzlich von allem Vorhandenen und Realen verschieden. Sein »Bestand« gründet nicht in der Substanzialität einer Substanz, sondern in der » Selbständigkeit « des existierenden Selbst, dessen Sein als Sorge begriffen wurde.“ (Heidegger, Martin, Sein und Zeit , Max Niemeyer Verlag Tübingen, 2006, S. 303.) Allerdings dominiert im Dasein als moralischer Tat gegenüber dem Begriff der Sorge die Möglichkeit des Handelns, das Pragma. <?page no="149"?> Modell einer Ontologie der Kunst Die platonische Abspiegelung In Unkenntnis der Wahrheit abgespiegelte Welt 1 . Dies ist das Diktum in Platons Politeia über das Verhältnis der Kunst zum Seienden. Der Primat ontologischer Dignität gehört dem Sein. Dem folgen die Dinge der Herstellung, die Artefakte und erst danach erscheinen die Gegenstände im Spiegel der Kunst. Der Spiegel zeigt nie mehr als das, worauf er blickt. Was er zeigt, besitzt kein eigenes Sein, keine eigene Wirklichkeit. Er beleiht sich bei dem, was durch ihn erscheint. Wendet man ihn ab, verschwindet der Gegenstand, ersetzt durch ein Anderes, während die Artefakte eine eigene Körperlichkeit und eine Dauer besitzen, auch wenn sie erst ins Leben gerufen werden mussten. Die Herstellung verlangt daneben auch Kenntnisse. Denn die Artefakte erfüllen einen Zweck und stehen mit dem Sein in einer funktionalen Beziehung. Sie haben darin ihren Platz und füllen diesen auch entsprechend aus. Sie besitzen eine Brauchbarkeit. Demgegenüber eignet dem abgespiegelten Gegenstand weder Brauchbarkeit noch eine Funktion. Er kann weder verbessert noch als solcher erinnert werden, denn er besitzt nur Flüchtigkeit und löst sich auf, ohne Spuren zu hinterlassen, sobald die Position des Spiegels verändert wird. Deshalb kann aus dem Spiegelbild auch keine Kenntnis gewonnen werden. Seine Beziehung zum Sein ist reiner Schein. Ist der Handwerker, der einen Gegenstand herstellt, dem Seienden hinzufügt, ein menschlicher Demiurg, so ist der Künstler nur ein Demiurg des Scheins, der nicht zu einem seienden Ding hinreicht. Die Kunst bedeutet einen zweifachen ontologischen Abstieg. Der Künstler ist ein Meister der Täuschung über die seienden Dinge, sein Werk ein Taschenspielertrick. Dass die Kunst dennoch eine wichtige bis gefährliche Funktion im Staate ausüben kann, beweist die Verbannung der unerwünschten Künstler aus dem Staat. 1 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe , Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 4, Politeia , S. 811ff., (600e, ff.). <?page no="150"?> 150 Modell einer Ontologie der Kunst Ausdruck und Nachahmung, ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis Ist die Abspiegelung der Welt das Bild einer simplen mechanischen Verdopplung des Seienden ohne Dauer, so ändert sich die Beziehung der Kunst zum Sein bei Aristoteles. Im Konzept der Mimesis, Nachahmung, erfährt die Kunst eine entscheidende ontologische Aufwertung. Weit entfernt von einer Abspiegelung des Seienden, beschreibt die aristotelische Mimesis einen spezifischen Abstand des Darstellens vom Dargestellten. Die Mimesis ist ein echtes Anthropinon 2 , denn der Mensch ist das Lebewesen, welches vor allen anderen auf ausgezeichnete Weise ein nachahmendes sei 3 . Mittels Instinktes und Freude ist dem Menschen diese Verhaltensweise gegeben. Zudem ist die Nachahmung Quelle des frühesten Verständnisses und entbirgt demnach auch Erkenntnis. Die Nachahmung als Prinzip - Arche - aller Kunst in ihrer Beziehung zum Seienden wie in ihrer Abständigkeit zu ihm beschreibt die Quelle des menschlichen Handelns aus ureigenem Antrieb mit dem Ergebnis des Lust- und Erkenntnisgewinns. Ein hedonistisches und ein gnoseologisches Motiv vereinen sich hier zum künstlichen bzw. künstlerischen Akt der Nachahmung der Natur aus natürlichem Antrieb. Gegenüber der platonischen Abspiegelungstheorie mit ihrem gnoseologischen Minus nimmt die aristotelische Mimesistheorie die anthropologischen Grundlagen der Kunst in Betracht und konstatiert ihr ein gnoseologisches, medizinisches wie hedonistisches Plus. Das ontologische Plus der Kunst via Mimesis besteht in ihrem vermittelnden Charakter. Anders als die Abspiegelung übersetzt sie das Nachzuahmende in ein diesem ursprünglich fremdes System - in das Tun des Menschen -, aus dem die Nachahmung ihrerseits ihre systematischen Rahmenbedingungen er- 2 Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch , (Hg. & übersetzt von Manfred Fuhrmann) Philipp Reclam Jun. Stuttgart, Stuttgart, 1982, S. 11 (1448b, ff.): „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren - […] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat.“ Sowie Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur , S. 167/ 8: „Die Nachahmung (Darstellung in vivo) ist daher eine Leistung von hoher [168] innerer Mannigfaltigkeit, denn sie ist ein Verhalten, das durch ein wahrgenommenes hindurch zu sich selbst in ein Verhältnis tritt. Vierkandt (Gesellschaftslehre, 1923, p. 129f.) nennt dies daher die »Nachahmung wegen der Form des Tuns« und die eigentlich echte Nachahmung […] Die echte Nachahmung »wegen der Form des Tuns« ist wahrscheinlich überhaupt nur menschlich.“ 3 Aristotle. Poetics , Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts, London, England, 1995, S. 37: “For it is an instinct of human beings, from childhood, to engage in mimesis (indeed, this distinguishes them from other animals: man is the most mimetic of all, and it is through mimesis that he develops his earliest understanding); ” <?page no="151"?> Ausdruck und Nachahmung, ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis 151 hält. Deshalb ist Nachahmung auch niemals identisch mit dem Nachgeahmten, nur ähnlich - wenn auch oft täuschend ähnlich. Die körperliche Konstitution des Menschen, z. B. in der tanzenden Nachahmung, setzt der Ähnlichkeit ihre Bedingungen; die Physiologie der Stimme desgleichen usw. Zudem treten beim Menschen noch kulturelle wie epistemologische Tatbestände hinzu, welche sich aus der Tradition, der Medizin, Naturbetrachtung oder gar rein geographisch etc. ableiten lassen 4 . Die Grenze, welche die physische Welt der Nachahmung zieht, ist zugleich Ausgangspunkt und Quelle der Kreativität. Das Wie der nachahmenden Darstellung ist der Transmissionsriemen und der Ursprung von Künstlichkeit, Kunst und Tradition. Da wir den Menschen nur als ein kulturelles Wesen kennen, schließt dieses Gesetz auch die historische Welt mit ein: Die Grenze, welche die physische wie die historische Welt der Nachahmung ziehen, ist Ausgangspunkt und Quelle der Kreativität. Bleibt bei der platonischen Betrachtung der ontologischen Beziehung der Kunst in der Metapher des Artefaktes Spiegel die Frage nach dem Ursprung ausgeklammert, so bestimmt die aristotelische Mimesis den Menschen selbst als Träger und Autor dieser Beziehung. Der Mensch vollzieht die mimetischen Akte aus ureigenem Antrieb und notwendig als er selbst, als ein Bewohner seines Körpers. Die Mimesis ist dem Menschen zugehörig und entspringt seiner Fähigkeit zum Ausdruck. Ausdruck und Nachahmung - Mimesis und Expressivität - verhalten sich zueinander wie Feuer und Licht. Sie sind zwei Seiten derselben Erscheinung. Sie stehen in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zueinander. Das Verhältnis markiert die Abständigkeit - der Ausdruck das Ausgedrückte - wie das Aufeinander-Verwiesensein - keines ohne das andere - beider und bezeichnet zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Selbstbezugs. In der Nachahmung bedenkt der Mensch sich selbst in der Gegenwart des Nachgeahmten und schafft sich eine Geschichte, Kunst, Religion und Wissenschaft. Indem er dies tut, offenbart er sich als von Natur aus künstliches Wesen. Die platonische Nachahmung rechnet mit dem Ausdruck als einer das Sein deformierenden Abweichung des Ästhetischen, die aristotelische Mimesistheorie bestimmt den Ausdruck als Grundlage der ästhetischen Seinsvermittlung via Nachahmung. Auch in der Nachahmung muss sich der ästhetische Gegenstand am Sein messen lassen. Daraus leiten sich die Bestimmungen der dichterischen Genres, der Tragödie oder der Komödie, ab 5 . Hinzu setzt Aristoteles auch noch die Darstellung der Menschen, wie sie seien, die realistische Perspektive. Man 4 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 31. 5 Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch , (Hg. & übersetzt von Manfred Fuhrmann), 1448a ff. <?page no="152"?> 152 Modell einer Ontologie der Kunst erkennt, wie die Nachahmung - die ästhetische Beziehung zur Welt - das Sein in Bewegung versetzt. Das lässt sich auch bei der Beschreibung der Konstruktion der Erzählung bei Aristoteles beobachten. Indem er dem Wunderbaren doch Unwahrscheinlichen 6 den Vorzug vor dem Wahrscheinlichen gibt, bevorzugt er als ästhetische Qualität ein prägnantes, auffällig bewegtes vor dem unauffälligen Sein - welches notwendig der Langeweile näher wäre. Auch die traditionell zwischen eher ontologischer oder grammatischer Auffassung schwankende Auslegung der aristotelischen Kategorienschrift 7 legt Zeugnis von der unsicheren oder schwankenden Wiedergabe des Seins in der Sprache ab, es sei denn, man schlägt sich auf die Seite jener, die diese Schrift als rein grammatikalische oder linguistische Abhandlung lesen. Sieht man in der Kategorienschrift aber einen Versuch der ontologischen Annäherung an das Sein, so ergibt sich ein gefährdeter Zugang zu diesem, was am Objekt der Betrachtung selbst liegt, der Sprache. Denn Sprache ist eine Art des Ausdrucks und zugleich eine Ausdrücklichkeit des Ausdrucks. Das durch diese Ausdrücklichkeit vermittelte Sein jedoch steht ob seiner Abständigkeit und Vermitteltheit notwendig auf schwankendem Boden. Wie ist es möglich, dass ein im Ausdruck vermitteltes, also notwendig bewegtes, gar schwankendes Sein ein ontologisches Plus bedeuten kann? Es kann ein ontologisches Plus bedeuten, wenn die Ausdrucksfähigkeit des Menschen jene Abständigkeit zum Sein bezeichnet, die ihm das Sein selbst zur Erscheinung bringt. Das Sein bedarf der Vermittlung durch den Ausdruck bzw. der Nachahmung, damit es in Erscheinung treten kann. Der Seinsstatus der Nachahmung ist die vermittelnde Vermittlung. Diese Vermittlung schafft die Werke der Kultur, in denen das Sein erscheinen kann. Mithin ist Nachahmung ein im Ausdruck vermitteltes Sein. Die ontologische Rechnung des homo faber Werde, der du bist 8 . Dieser Satz des Pindar gilt bei Paul Alsberg auch für die der Ästhetik zugedachte Funktion bei der Arbeit seines Menschheitsprinzips bzw. seines Gedankens der Köperausschaltung. Wie das Wahre und das Gute wird auch das Schöne in den Dienst der Erfüllung des Prinzips genommen. 6 Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch , (Hg. & übersetzt von Manfred Fuhrmann), 1460a ff. 7 Jonathan Barnes, Aristoteles. Eine Einführung . Philipp reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 1992, S. 64 ff. Siehe auch Harald Weinrich, Über das Haben , C. H. Beck, München, 2012, Kapitel 1 & 11. 8 Pindar, Oden , (Hg. und übersetzt von Eugen Dönt) Reclam Stuttgart 1986, S. 99. <?page no="153"?> Die ontologische Rechnung des homo faber 153 Dort, wo ein Prinzip gesetzt, ist auch ein Ziel bestimmt. Denn ein Prinzip ist immer ein Prinzip von etwas. Dieses Etwas enthält dasjenige, wovon das Prinzip der Ausgang ist. Es ist sein Telos. Bei Alsberg heißt das Telos: Vollmenschentum oder vollständige Entwicklung des Prinzips der Körperausschaltung. Ästhetische Betrachtung nach Alsberg bedeutet das Durchschneiden der praktischen Lebenszusammenhänge 9 . Der Mensch macht dabei nichts anderes, als dem Prinzip der Körperausschaltung auf dem Gebiet des Schönen Geltung zu verschaffen. Anstelle der „begehrlichen Körperlichkeit“ 10 tritt das Schöne, das ästhetische Erlebnis. Doch der vermeintlich hiatische, zweckfreie Raum des Schönen wird sogleich wieder instrumentalisiert und in den Dienst des Alsbergschen Menschheitsprinzips genommen. Denn das Schöne soll den Menschen zum Vollmenschentum führen. Vitale Basis ist die Erotik, welche sich in der Gattenwahl ausdrückt. Diese wird mit Hilfe des Schönen entsprechend instrumentalisiert und auf das Ideal des vollständig entfalteten Prinzips der Körperausschaltung hin in die Zucht genommen. Körperpflege, Kosmetik und Leibesertüchtigung dienen demselben Zweck. Die Kosmetik unterstreicht das Schönheitsideal und lässt es vorausahnen. Die Körperpflege und die Leibesertüchtigung dienen der asketischen Zucht auf das Schönheitsideal hin. Leibesertüchtigung, Kosmetik und Körperpflege überformen die natürliche Substanz des Lebewesens Mensch. Dieser bestätigt damit seinen Ursprung aus der Natur und entfernt sich gleichzeitig von ihr, um seinem Telos der Selbstwerdung zu folgen. Der Mensch erfüllt auf diese Weise die in der lebendigen Substanz - der Spezies - selbst enthaltene Sonderung der Erfüllung des Prinzips der Körperausschaltung und bringt sich damit in ein Gegenüber zur Natur wie zur Welt im Allgemeinen. Das Schöne vermittelt dem Menschen das Telos der Selbstwerdung, indem es ein Ideal zeigt und zu seiner Pflege, seinem Kultus aufruft. Im Schönen vermittelt sich dem Menschen die Idee des Vollmenschentums. Was beim Tier die Natur durch den „Instinkt erzwingt“ 11 , das leisten hier des Menschen „ästhetische Eingebungen“ 12 . Wer bei Alsberg dieser selbstgewordene Mensch wäre, bleibt im Dunkeln wie auch dessen Position im Weltganzen. Allein der instrumentelle Bezug zu diesem Ganzen als einem seiner Teile - als Spezies - wird bei Alsberg bestimmt. Damit rückt das Seinsverhältnis des homo faber in den Mittelpunkt der Frage nach der Beziehung der Kunst zum Sein. Zum Wesen des Instrumentes gehört es, dass es einem bestimmten Zweck dient. Ein allgemeines Instrument ist ein Unding. Der homo faber entwirft sei- 9 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , S. 166. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 434. 12 Ebd. <?page no="154"?> 154 Modell einer Ontologie der Kunst ne Instrumente mit dem Ziel, einer zu erfüllenden Aufgabe zu begegnen. Die Intention des homo faber zielt auf einen ganz bestimmten Ausschnitt des Seins und niemals auf das Ganze. Seine Intention ist teleologisch. Aus dem Ganzen des Seins baut er sein Werkzeug, indem er Teile der seienden Dinge auf einen Zweck hin neu zusammenfügt. Die archaischen Muster auf einem Messer aus Knochen sind zwecklose Gestaltungen. Mit ihnen lässt sich keine handwerkliche Aufgabe ausführen. Die Kratzmuster auf dem Messer entfernen sich vom Zweck des Werkzeuges, auf dem man sie fand. Sie sehen von der Funktion ihres Trägers ab, verweisen auf ein Anderes des Werkzeugzwecks. Kunst wäre so mithin das Andere des Zwecks. Abwesenheit des Zwecks hieße der Ort der Kunst. Abwesenheit des Zwecks bedeutet jedoch nicht sogleich Zweckfreiheit. Es heißt nur, dass der durch den Zweck dem Instrument zugemessene Ort nicht sogleich erkennbar ist. Das Knochenmesser schneidet. Seine Funktion ist mit seinem Einsatzort erkennbar. Die Muster auf seinem Griff zeigen nicht diese direkte Art der Verbindung zum Sein. Eine andere Art der Beziehung zum Sein ist für den homo faber jedoch nicht denkbar. Das instrumentelle Denken kennt den Blick auf das Ganze des Seins nicht, sucht diesen auch nicht, sondern ist immer auf einen Seinsausschnitt gerichtet. Eben jenen Teil des Ganzen, der die Aufgabe stellt, welche mit dem Instrument, mit dem Gerät gelöst werden soll. So blickt die Kunst des homo faber wohl auf die von den Zwecken abgewendete Seite des Seins, nicht jedoch auf das Sein selbst. Die Perspektive des homo faber auf die Welt bleibt partiell, eingespannt im instrumentellen Geschirr. Die Kunst wird damit zur Übung, zur Erholung, Unterhaltung, Verführung, zum Lustgewinn etc. Für den homo faber ist nur die Betrachtung des Fragments im Zusammenhang der Lösung einer Aufgabe intelligibles Geschehen. Eine Kunst, welche das Ganze ins Blickfeld rücken möchte, muss ihm unverständlich bleiben. Dass Kunst dies und alles andere auch noch kann, davon kann er nichts wissen. Die hephaistische Beziehung des homo faber zum Sein erfasst auch das Schöne und unterwirft es dem Reich der Zwecke. Damit ist dessen Beziehung zum Sein weder Abspiegelung noch mimetisch vermittelt, sondern zeughaft. Im Geschirr von Mittel und Zweck wird das Schöne zum Instrument für den Erfolg. Das Schöne wird zum Erfüllungsgehilfen des Menschheitsprinzips. Weder ontologisches Minus, noch ontologisches Plus, kein Taschenspielertrick und auch kein vermitteltes Sein, sondern Gewinn oder Verlust heißt die ontologische Rechnung des homo faber . <?page no="155"?> Kunst, die andere Seite der vitalen Tätigkeit 155 Kunst, die andere Seite der vitalen Tätigkeit Der Künstler ist nur die Spitze einer Funktion, welche im Inneren des Menschen die Tätigkeit eines jeden einzelnen ist, und dieses „seelische Geschehen ist - realiter - nur die andere Seite unserer vitalen Tätigkeit.“ 13 Der Künstler befindet sich nach Scheler auf der anderen Seite unserer vitalen Tätigkeit . Die künstlerische Seite eines jeden Menschen ist ein seelisches Geschehen, welches die „Einheit der Wahrnehmung, der Vorstellung ausmacht“ 14 . Es ist jene Seite, die mit Einsicht in das große Weltgeschehen Formen erschafft, die als Werk in einer Mischung aus Idee und Materie Einheit und Vielfalt miteinander zu einer intelligiblen und offenbarenden Ganzheit mit Bedeutung verarbeitet. Ganz allgemein besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, aus der Vielfalt der auf ihn eindringenden Wahrnehmungen, bedeutende Einheiten herauszuarbeiten. Diese bleiben jedoch flüchtige, fliehende Bedeutungen, wenn sie vom Künstler nicht in bleibende, zur Kontemplation fähige Werke geformt werden. Im Werk manifestiert sich der Künstler als ein „kleiner Gott“ 15 , der in der Zeichensprache der Qualitäten der Sinne 16 eine Welt erschafft. Mit dem Werk erschafft er eine prägnante Form, an der die Erfahrung der Form selbst erfahrbar wird. In ihr erlebt sich die Seele zum einen als eine erlebende selbst, zum anderen aber auch als die im Werk - als ein exemplarisches - gebannte künstlerische Schau des „Logos der Welt“ 17 . Die künstlerische Seele erlebt dort ihre „ästhetischen Wertideen“ 18 an der „Werdestelle der Welt“ 19 , und die allgemein menschliche Seele erfährt dann die asketische Kraft des Geistes in der Kunst. Diese nimmt mit ihrem Tun aktiv am metaphysischen Weltgeschehen teil und bringt die Welt mit ihrer Arbeit voran. Im Menschen vereinigen sich nach Scheler Geist und Drang, und 13 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. I, (Hg. Manfred S. Frings und mit einem Anh. von Maria Scheler), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1986, S. 337. 14 Ebd. 15 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 35. 16 Ebd. 17 Scheler, Max, Zur Ethik und Erkenntnislehre , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. I, (Hg. Manfred S. Frings und mit einem Anh. von Maria Scheler), Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn, 1986, S. 325. 18 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 32: “Wissen ist Erfassen dessen, was ist - das gilt auch für die metaphysische Erkenntnis. Kunst ist Bilden, was nicht da ist , was aber ‚würdig‘ wäre, ‚verdiente‘ , da zu sein nach gewissen ästhetischen Wertideen.“ 19 Ebd., S. 35. <?page no="156"?> 156 Modell einer Ontologie der Kunst im Künstler vereinigen sich Geist und Drang in hervorragender Weise als eine Form der Einsicht ins Weltgeschehen mittels der „ästhetisch-geistigen Augen unseres Herzens“ 20 in der „Zeichensprache der Qualitäten der verschiedenen Sinne“ 21 , welche die unterschiedlichen Gesetze der verschiedenen Künste ausmachen. Bedingung dafür, dass der Künstler mit seinem Werk aktiv ins metaphysische Weltgeschehen eingreifen kann, ist seine partielle Identität mit dem Weltengrund, dem Sein an sich, in dem auch Geist und Drang wurzeln. Die Substanz ist ewig. Das ontische Geschehen jedoch wird in das metaphysische Geschehen aufgesogen. Im Drama der „Verlebendigung des Geistes“ 22 und der „Vergeistigung des Lebens“ 23 , in dem der Mensch durch seine Teilhabe an beiden verantwortlich mitarbeitet, verwandelt sich - im Mitwerden der Welt - der substanzielle Weltengrund als immer Gleicher, immer Anderer in Richtung zur „Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst“ 24 . Die Kunst ist in das Werden des Weltgrundes eingespannt. Das ontische Geschehen - die Wirklichkeit - wird zur Metapher des metaphysischen Dramas. Der Künstler hat mit seinem Wirken durch das Werk demiurgischen Anteil an der Entwicklung des Weltgeschehens. Der logostransparente Körperleib und die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks Das Plessnersche Denken der ontisch gewordenen Grenze - als Bedingung sine qua non des Lebendigen -, die mittels der gegensinnigen Vermittlung das im Sein selbst angelegte Leben zu sich hin entwickelt, lässt das lebendige Sein auf der Basis und im Gegenüber des nicht lebendigen Seins denkbar werden. Der Mensch mit seiner exzentrischen Positionalität, als das sich selbst vollständig reflexiv gewordene lebendige Sein, blickt aus der Position des Nichts, des utopischen Standortes, auf das Sein. Im Nirgendwo als Körper zwischen Körpern und zugleich sich der Immanenz seines Bewusstseins im Leib bewusst, ist er darauf angewiesen, sich in diesem ihm gegebenen Sein - seinem natürlichen Ort - mit künstlichen Mitteln weiter zu helfen. Er hat ob seines natürlichen Ortes, des Nirgendwos, die Aufgabe, sich selbst zu erschaffen. Qua der exzentrischen Positionalität ist ihm aber auch als einziges Lebewesen der Augenblick als möglicher 20 Erkenntnislehre und Metaphysik , in: „Schriften aus dem Nachlass“, Bd. II, (Hg. und mit Anh. von Manfred S. Frings), Francke Verlag Bern und München, 1979, S. 40. 21 Ebd., S. 36. 22 Ebd., S. 221. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 208. <?page no="157"?> Der logostransparente Körperleib und die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks 157 Ort des Handelns in der Zeit gegeben. Der Mensch hat einen erfüllten Bezug zum „Modus der Zukunft“ 25 und somit Gegenwart. Er ist sich selbst „wirkliche Möglichkeit“ 26 , denn er ist als Ganzes, komplexes lebendiges Ding in sich selbst vermittelt und gewinnt damit die Kraft und die Potenz sich selber vorweg zu sein; damit auch zugleich, dem Sein sich gegenüber zu befinden und die ontische Fessel weiter zu lockern. Andererseits jedoch tut sich ihm ob seiner spezifischen Abständigkeit zum Sein der Abgrund des Nichts auf. Dem die Waage zu halten, ist seine Aufgabe und sein Wagnis. Plessner entwickelt in der Ästhesiologie des Geistes jenen Erkenntnisapparat, der den Menschen als lebendiges Ding die Werkzeuge an die Hand gibt, um sich seiner Aufgabe gewachsen zeigen zu können. Der Sinn des Sinnesapparates im logostransparenten Leib des Menschen ist der Spiegel der ihm gegensinnig vermittelten Welt in seiner Seele. Im inneren Erlebnis spiegelt sich dem Menschen die Welt, wird sie ihm Gegenstand und Form. Das innere Erlebnis aber ist Bewegtheit und Bewegt-Sein zugleich. Es ist der Ausdruck des Lebendigen selbst, für Plessner 27 wie für Scheler 28 . Mittels des Ausdrucks in Tat, Sage und Mimus 29 hält sich der Mensch im Sein und greift in die Welt hinein. Die Tat schafft sich das Werkzeug, die Sprache präzisiert und der Mimus bedeutet. Erfüllt das Werkzeug seine Funktion, so hat der Mensch erfunden und zugleich einen Weltenteil entdeckt. Die Sprache übersteigt alle inneren und äußeren Grenzen. Sie präzisiert etwas als ein etwas. Im Mimus erscheint die Haltung als Sinn. In der Haltung wird eine Form gegenwärtig. Die ausdrückliche Gegenwart der Form ist Aufgabe der Kunst. Ausdrücklich werden heißt erkennbar werden, in Stoff und Form. In der Musik wird Bewegtheit akustisch, im Tanz körperlich, in der Skulptur plastisch und im Bilde optisch. Die Form arbeitet an der Prägnanz des Erlebnisses im Spiegel der Seele und die Kunst arbeitet an den Formen der Form unserer Sinne. In der Kunst greift der Mensch nach den Formen, die ihm Welt - vermittelt unmittelbar - im Spiegel seiner Seele darstellen. 25 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV ,Frankfurt a. M., 2003, S. 237. 26 Ebd., S. 232. 27 Ebd., S. 309: „Kern, Mitte, die positional überhaupt den Wert des Selbst […], des Subjekts des Habens besitzt, erhält durch die Distanz (in der geschlossenen Organisationsform) nicht etwa einen neuen Wert und Sinn, sondern er wird sozusagen nur in Freiheit gesetzt, er wird, was er an sich ist, ausdrücklich: Blickpunkt für eine Sicht, Subjektspunkt einer Bewußtheit.“ 28 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 16: „. Der «Ausdruck» ist eben ein Urphänomen des Lebens - keineswegs, wie Darwin meinte, ein Inbegriff atavistischer Zweckhandlungen.“ 29 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 399 & 415. <?page no="158"?> 158 Modell einer Ontologie der Kunst Im logostransparenten Körperleib des Menschen spiegelt sich gegensinnig vermittelt die Welt in der Seele. Im Werkzeug greift der Mensch hinaus in die Welt und erfindet das, was die Welt ihn entdecken lässt. In der Kunst erfindet er das, was sich für ihn in der Welt entdecken lässt: die grundsätzliche Ausdrücklichkeit des Ausdrucks, die Schaffung der Form der Form, der Erlebnisspiegel des Erlebnisses, der Spiegel der Welt im Erlebnis, im Erlebnis der prägnanten Formen der Kunst. In der Ausdrücklichkeit des Ausdrucks, der künstlerischen Form, greift der Mensch nach sich selbst im Spiegel seiner Seele, in dem er sich zugleich mit seiner Welt zeigt 30 . Indem er sich im Spiegel ergreift, ergreift er auch seine Welt, die objektive Welt und zugleich darüber hinaus die absolute Welt. Er ist der Asket, der nach sich selbst strebt, und er hat als einziges Wesen Gegenwart, also die Möglichkeit der Zukunft, die Macht und die Aufgabe, das Wagnis der Zukunft und dafür braucht er die Kenntnis der Formen des Ausdrucks der Welt im Spiegel seiner Seele. Darin unterstützt ihn die Kunst als der Ausdruck der Formen des Ausdrucks. Darin ist er der ewige Asket, der das Wagnis seiner existenziellen Kondition auf sich nimmt und ausübt. Weder Taschenspieler noch Mime noch hephaistischer homo faber noch demiurgischer Erotiker, sondern der Asket, der nach sich selbst - und damit zugleich nach der Welt - greift. Nicht werde, der du bist , sondern: die wirkliche Möglichkeit Mensch möge wirklich werden , benennt den Weg, den Plessner für den Menschen und seine Kunst vorsah. Kunst, des Menschen überlebenswichtiges Pharmakon Mit dem scholastischen argumentum ad verecundiam führt Gehlen die Herdersche Anthropologie an und entwickelt aus ihr seinen systemischen Ansatz, wenn er die „ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte“ 31 als ein ineinander greifendes Ganzes deutet, das sich beim Menschen zur Vernunft entwickelt, während dem Tier von der Natur der Instinkt gegeben wurde. Er unterstreicht die Herdersche Autorität noch zusätzlich, indem er behauptet, die Anthropologie habe seit Herder keinen Fortschritt gemacht. Die These vom Menschen als einem neuen, bisher nicht gekannten Versuch der Natur interpretiert er wesentlich als Mangel und definiert den Menschen als Mängelwesen. Ihm fehlten auf der einen Seite die beim Tier vorhandenen spezialisierten Organe und Instinkte, auf der anderen stelle sich für dieses Lebewesen Mensch damit ein 30 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 411: „Jede Lebensregung, an welcher das geistige Aktzentrum oder die Person beteiligt ist muß ausdruckshaft sein.“ 31 Herder, Johann Gottfried , Sprachphilosophie, ausgewählte Schriften , S. 20. <?page no="159"?> Kunst, des Menschen überlebenswichtiges Pharmakon 159 „konstitutioneller Antriebsüberschuss“ 32 ein. So stürzt er den Menschen in eine Situation der Prekarietät. Aus der Not, sich als Mängelwesen im Leben zu halten, entwickele der Mensch nach Gehlen seine Fähigkeiten. Er handele aus Not und aus Not erschaffe er sich seine Welt. Dies sei seine Antwort auf die Herausforderungen, die das Leben an ihn richte. Der Mensch müsse sich seine Welt erschaffen, um in ihr überleben zu können. Er ist schließlich ein aus der Not geborenes Kulturwesen. Das Gehlensche Mängelwesen Mensch ist einer andrängenden Außenwelt wie einer ihn bedrängenden Innenwelt ausgesetzt und muss nach Entlastung suchen. Mit dem Mängelwesen Mensch erzeugt Gehlen den Dampf, der die systemische Maschinerie zwischen Druck und Entlastung funktionieren lässt. Die Antwort auf diese Mechanik sind die Institutionen, die vom Menschen selbst erschaffenen Mittel für seinen eigenen Erhalt im Dasein. Das systemische Denken Gehlens wird auf der einen Seite Grundlage seiner forschenden Haltung bzw. seines Blicks. In seiner Stoßrichtung gegen die Metaphysik richtet sich dieser auf die Abläufe des Systems wie in einer Art Laboratorium, ohne jedoch wirklich an die experimentelle Keimfreiheit im Labor heran zu reichen. Auf der anderen Seite steht der Blick des Phänomenologen, der in der Schau der Ideen mündet und immer auch das große Ganze mit in Betracht zieht. Die wissenschaftliche Haltung Gehlens konzentriert sich jedoch auf das systemisch Beobachtbare, orientiert sich an der Durchführung des systemischen Programms. Die Einführung eines Begriffs wie der des „ideativen Bewusstseins“ 33 scheint damit jedoch schwierig, da die Mechanik von Druck und Entlastung wohl einen Zuwachs der Mittel und Zwecke, auch einen Aufstieg in der Feinheit dieser innerhalb der Führungssysteme von Auge und Hand oder Sprechen und Hören erklärt, nicht aber ein auf längere Sicht planendes Festhalten an vordergründig unzweckmäßigen Vorstellungen und Ideen. Es ist aber gerade dieses ideative Bewusstsein , das Gehlen zur Grundlage der „sekundären Zweckmäßigkeit“ 34 erklärt, und damit zur Grundlage der zivilisatorischen Leistungen aus dem Ritual. Es scheint sich also bei jenem ideativen Bewusstsein nicht um eine eindeutig vorausschauende, kontemplative Haltung oder 32 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 57. 33 Ebd., S. 394. 34 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 401. Gehlen spricht hier von der „sekundären objektiven Zweckmäßigkeit“, während er in Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 181 von der „sekundären Zweckmäßigkeit“ allein spricht. Das Objektive an den sekundären objektiven Zweckmäßigkeiten besteht darin, „daß potentielle objektive Zweckmäßigkeiten durch die Konsequenzketten eines ideativen Verhaltens überhaupt erst entwickelt werden.“ Dies scheint mir eine höchst bedeutsame Präzisierung, da die sekundären objektiven Zweckmäßigkeiten sich nur in der Menschengruppe, im Kollektiv befestigen können. <?page no="160"?> 160 Modell einer Ontologie der Kunst gar Ideenschau zu handeln, sondern um einen mehr oder weniger von der Not getriebenen, gleichsam blinden Wurf, der im Ritual sich manifestiert, und der nur so vom Menschen festgehalten werden kann. Darauf weist auch die Insistenz auf der Macht des Körpers hin 35 , von dessen Abläufen wir wenig wissen können, die uns aber zu einem großen Teil bestimmten. Stabilisiert sich im Ritual nach Gehlen die Welt, so müssen wir schließen, dass dies einem mehr oder weniger zufälligen Anrufen oder Beschwören eines Totems geschuldet sein muss, welches so manifest geworden dem kollektiven Bewusstsein der Menschgruppe an diesem einen festen Halt verleiht. Auf der anderen Seite zeitigt die Anrufung der Gegenwart des Totems eine stabile kollektiv verbürgte Gegenwart. Die soziale Stabilität der Gruppe garantiert damit auch die für alle gültige Stabilität der Außenwelt. Diese manifestiert sich nun in allen geistfähigen Materialien wie der Sprache, dem Tanz, Bild, Skulptur, Wissenschaft etc. In dieser zwischen Außen und Innen vermittelnden Schicht entscheidet sich der zivilisatorische wie kulturelle Fortgang des Menschen. Deshalb kann Gehlen der Kunst eine große soziale Bedeutung zusprechen, da er ihr „tief formzüchtende Wirkungen“ 36 zugesteht. An der Kunst muss sich der kulturelle und zivilisatorische Fortschritt abarbeiten. Bei der Genesis der Institutionen durch das Ritual entscheidet sich der primitive Mensch nach Gehlen im emphatischen Sinne für das Dasein 37 . Im Ritual befinde sich die Keimzelle einer stabilen Welt wie auch der Traditionen. Auch die Kunst erfahre ihre Geburt aus dem Ritual. Es seien die totemischen Darstellungen, die es dem Menschen erlaubten, die eigenen Angst und Gier 38 zu einer festen Einheit zu erheben und ihnen in den Rachen greifen zu können. Damit werde dem Menschen die Welt erträglicher und er verschaffe sich die notwendige Entlastung für sein Handeln. Die Kunst ist nach Gehlen ein eminent moralischer Akt, mit dem die Welt fixiert wird und so in die Hände des Menschen geraten kann. Mit Hilfe der Kunst lerne der Mensch die furchtbesetzten Gestalten 39 auszuhalten - sich selbst wie auch die Furcht erregenden Naturmächte. Die Kunst ist für Gehlen das Pharmakon , das es dem Menschen erlaubt, der Welt in den Rachen zu blicken. Mit ihr lindert der Mensch jene Wunde - den Mangel -, welche die Natur ihm schlug, als sie ihn auf den Weg des Bewusstseins schickte. 35 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 352. 36 Ebd., S. 325. 37 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 177. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 177. <?page no="161"?> Vom Ursprung der Künste 161 Die Autorität und ontologische Dignität des Schönen Ob ontischer Schein wie bei Platon oder im Ausdruck vermitteltes Sein bei Aristoteles, zeughafte Vermittlung wie bei Alsberg oder gar eingespannt in die dramatische Entwicklung des Weltgeschehens wie bei Scheler, vermittelte Unmittelbarkeit im Spiegel des Kunstwerks bei Plessner oder Pharmakon für den Eigenerhalt im Dasein, Kunst ist immer ein ontisch Abständiges. Sie ist ein Zweites oder Drittes in Beziehung zu den seienden Dingen oder dem metaphysischen Weltgeschehen. Mit ihrer Nähe zum Menschen jedoch ist die Kunst ein Erstes. Sie geht ihm unter die Haut. Er sieht die Welt mit Ausdruck begabt, und er erkennt darin sich und seine Mitmenschen. Der Ausdruck ist ihm ein unmittelbar Erstes und damit auch die Kunst. Darin liegt die Autorität des Schönen oder ihre ontologische Dignität. Vom Ursprung der Künste Kunst und Eindringlichkeit Der Mensch ist das zu sich selbst Stellung nehmende Wesen. Er hat diese Abständigkeit zu sich selbst gewonnen. In der Kunst führt er diese Abständigkeit in spezifischer Weise aus. In der Kunst bedient er sich der erworbenen Fähigkeiten aus der Form seiner Sinne mit dem Ziel, diese eindringlich werden zu lassen. Mithin arbeitet er dabei an der Eindrücklichkeit der Welt, und im Versuch sie einvermerklich werden zu lassen, arbeitet er an ihrem Bild. Die Kunst entspricht der existenziellen Situation des Lebewesens Mensch. Sich selbst gegenüber Abstand zu haben, ermöglicht und erfordert den Umgang mit sich und seinen Anlagen. Kunst ist eine Antwort darauf. Der nicht festgestellte Mensch bedarf, um sein Leben führen zu können, der Kultur. Er ist das Lebewesen, das von Natur aus Kulturwesen ist. Unter Kultur versammeln sich alle Haltungen, Künste und Gerätschaften, die es dem Menschen erlauben, die Welt zu gestalten. Unter Kunst verstehen wir jenes Tun des Menschen, das sich seiner Fähigkeiten aus der Form seiner Sinne mit dem Ziel bedient, diese vermittels entsprechender Werke ihm selbst eindringlich werden zu lassen. Kunstfähig ist deshalb alles, was sich dem Menschen in prägnanter Form eindringlich darstellen kann. Kulturfähig ist alles, was sich dem Menschen in unterschiedlichen Formen, Gegenständen und Gedanken zum Zwecke der Führung seines Daseins leiht. <?page no="162"?> 162 Modell einer Ontologie der Kunst Bild, Tanz, Wort und Musik Die Organisation des Organismus und sein Zerfall in Zentrum und Peripherie bedingen die Repräsentation der Abläufe. Dort liegt der Ursprung der inneren Bilder 40 . Gespeist aus dem energetischen Zentrum, der Urphantasie 41 , und parallel zur Bewegung bzw. zur Bewegungsphantasie erscheinen sie zuerst reaktiv, dann aber auch aktiv hervorgebracht. Das äußere Bild in Malerei und Photographie steht der arretierten Bewegung bzw. Bewegungsphantasie gegenüber. Die dargestellte Geste ist extensiv, sie ahmt Größenverhältnisse nach. In ihr stellt sich ein Körper in spezifischer Haltung dar, ein zum Zeichen geronnener Ausdruck. Demgegenüber ist der Tanz expressiv, da er innere Bewegung in äußere wendet. Sein Ausdruck ist von kurzer Dauer und bedarf daher der ständigen Erneuerung. Der Tanz bedient sich der Größenverhältnisse der Körper im Fluss zum Zwecke des Ausdrucks. Der Tanzeindruck ist intensiv, indem er den Körper zur Plastik der Bewegungen formt. Das Wort ist wie der Tanz eine Leistung der Körpermotorik. Es ist eine Körperplastik im Kleinen, von der Feinmechanik geschaffen und aus dem dünnen Material von Hauch in Bewegung. Die Feinmechanik des Körpers erzeugt die Modulationen für den bewegten Hauch: den Laut. Das Wort ist das Resultat des Dramas der Artikulation. Es ist expressiv und wendet innere Bewegung nach außen, es lässt innere Vorgänge verlauten. Die phonetische Schrift ist eine Partitur, eine ins optische gewendete innere Bewegung des Dramas der Artikulation. Damit jedoch das Wort zum Wort wird, bedarf des neben seiner Hervorbringung noch der Intentionalität - des Gerichtet-Seins auf etwas hin - sowie jenes im entfremdeten Selbstgefühl 42 erlebten Lebens des Lautes 43 , das jeder erfährt, der Worte ausspricht, und sie von anderen vernimmt. Der Worteindruck ist intensiv, indem es den Körper zur Plastik des Hauches formt. Die Musik ist wie Wort und Tanz eine Leistung der Körpermotorik. Sie ist die nach außen gewendete Mechanik der körperlichen Klangproduktion, die sich in den Instrumenten manifestiert. Der Instrumentalklang wie der geschulte Gesang sind Abstraktionen innerer körperlicher Abläufe der Klangproduktion. Sie vergrößern die Feinmechanik der Produktion des Hauchs zum Klang des Instruments, machen die inneren Bewegungen explizit und intensivieren die Bewegungen des Körpers zur großen Plastik des Klangs. 40 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 54. 41 Ebd., S. 323. 42 Ebd., S. 134. 43 Ebd., S. 141. <?page no="163"?> Vom Ursprung der Künste 163 Das Ritual, Ursprungsort des menschlichen Ausdrucksverhaltens Aus dem Ritual erstehen die Künste in ihrer Gesamtheit. Zugleich und zu Beginn schon des menschlichen Ausdrucksverhaltens sind alle Künste (Malerei, Plastik, Sprache, Tanz, Musik) zugegen. Im Ritual sind sie versammelt. Ihre Ausdifferenzierung bedarf langer und umständlicher Praktiken, welche allein im Zusammenhang mit der sie umgebenden Lebenswelt verständlich werden können. Die Malerei vergegenwärtigt das Totem der Menschengruppe, indem sie die Figur des Totems im Bilde bannt. Es erlöst die Menschen von der Gegenwart derselben und versetzt sie in die Lage, dieser Gegenwart standzuhalten. Schutz und Geborgenheit, Schrecken und Entsetzen sind gebannt und zum Ritual erlöst. Als Abbild kann die furchterregende Gegenwart des Totems verwandelt in den Menschenkreis eintreten und in den lebensspendenden Zusammenhang des Rituals aufgenommen werden. Das Totem in der Plastik kann auch haptisch in das Ritual einbezogen werden. Die Sprache vergegenwärtigt das Totem der Menschengruppe, indem sie es im Worte verdichtet und im Klange bannt. Es versetzt die Menschen in die Lage, sich das Totem einander gegenwärtig werden zu lassen, indem der Einzelne es ausrufen und zurufen kann. Die furchterregende Gegenwart des Totems wird in Klang verwandelt und dem Tun der Mitglieder freigegeben. Es kann in den Menschkreis eintreten und in den lebensspenden Zusammenhang des Rituals aufgenommen werden. Der Tanz vergegenwärtigt das Totem der Menschengruppe, indem er die allgemeine Bewegung des Gliederkörpers des Menschen zu einer nachahmenden Figur konfiguriert. Damit wird das Totem dem Einzelnen innerlich und der Gruppe gegenwärtig. Im Tanz kann das getanzte Totem in seiner Ganzheit gehandhabt werden. Es ist dem Tun der Mitglieder freigegeben. Es kann in den Menschenkreis eintreten und in den lebensspendenden Zusammenhang des Rituals aufgenommen werden. Die Musik vergegenwärtigt das Totem der Menschengruppe, indem sie dieses klanglich nachahmt und so auch noch das Gebaren der Gruppe in die Nachahmung mit aufnehmen kann. Damit wird das Totem dem Einzelnen innerlich und der Gruppe gegenwärtig. Die Musik unterstützt und begleitet, pointiert, illustriert, zitiert, ahmt das überprägnante Wort und den Tanz, insgesamt die Bewegung nach, eilt ihnen voraus, verweilt länger etc. Da das Wort vom Bilde die Kraft der Benennung, des Bannens und vom Tanz den Ablauf im Verklingen und Anklingen besitzt, teilt es ebenfalls deren Eigenschaften. Als ein auf seine reine Materialität als Klang entäußertes Wort, als reiner Klang, steigen seine Kombinationsmöglichkeiten exponentiell. Als reiner Klang gelöst, gliedert sich <?page no="164"?> 164 Modell einer Ontologie der Kunst die Musik leicht in das kommunikative Tun des Menschen mit der Welt. Die Musik besitzt ihre Reinheit nicht wie Tanz oder Bild in der Darstellung, sondern in ihrer Materialität als entäußerter Klang. Als plastischer Stoff in Bewegung ist der Klang in minderem Maße mit der Welt in hinweisender Art verbunden als Tanz oder Bild. Die Sprache Expressivität in Potenz Der apophantische Logos der aristotelischen Kategorienschrift spaltet die Substanz in erste und zweite Substanz und diese weiter in Gattung und Art. Unter dem Aspekt des ausgeschlossenen Dritten entwickelt Aristoteles den wissenschaftlichen Logos in den analytischen Schriften, in denen er diesen in die unterschiedlichen Beweisverfahren aufspaltet. In der Topik schreitet die Aufspaltung des Logos ein weiteres Mal voran. Dort werden die Schlussverfahren aus wahrscheinlichen Sätzen gebildet. Aristoteles nennt sie dialektische Schlüsse 44 . Des Weitern behandelt er die eristischen und die sophistischen Scheinschlüsse in den noch verbleibenden analytischen Schriften. Behandeln diese Bücher das wissenschaftliche und das scheinwissenschaftliche Gespräch unter wenigen Teilnehmern, so erweitert Aristoteles die Aufgaben des Logos in den Schriften der Rhetorik , wo das „an jeder Sache Glaubwürdige“ 45 untersucht wird, und der Poetik 46 . Werden in der Rhetorik die Beratungs- und Beschlussverfahren der Rede mit vielen Teilnehmern bzw. einem Redner vor vielen Teilnehmern verhandelt, so betrachtet er in der Poetik die fachmännische Verfertigung bzw. den Umgang mit dem Logos als Mythos in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen. Mimetisch wird der poietische Logos an die Welt rückgebunden, dem unmöglichen Wahrscheinlichen der Vorrang vor dem möglichen Unglaubwürdigen 47 eingeräumt, die drei Einheiten von Handlung, Ort und Zeit als weitere Charakteristika des poietischen Logos festgehalten und dieser zum philosophischeren 48 44 Aristoteles, Topik (Organon V) , Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1992, S. 1, 100a18f. 45 Aristoteles, Rhetorik, Wilhelm Fink Verlag, München, 1980, S. 11, 1355b 9. 46 Aristoteles, Poetik, Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982, S. 5: „Von der Dichtkunst selbst und von Ihren Gattungen, welche Wirkungen eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll […].“ 47 Ebd., S. 85, 1460a 26 f.: „Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient en Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.“ 48 Ebd., S. 29, 1451b 5 f.: „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch <?page no="165"?> Die Sprache 165 gegenüber der Geschichtsschreibung erklärt, da der Logos poietikos eine größere Allgemeinheit als diese besäße. Wir sind Zeuge einer wahren Explosion unterschiedlicher Methoden der Verfahrensweisen des einen und allgemeinen Logos . Und während der Hyperrealist Platon in der Politeia die erkenntnistheoretische Kraft der Sprache im Bild eines trüben Flusses 49 , in dem sich die ewigen Ideen nur ungenügend spiegeln, in Frage stellen muss, modelliert Aristoteles seine logoi dem Gegenstand entsprechend und kann so die in ihnen eingefangene Substanz in ihrer ganzen Vielfalt abspiegeln. Ein derartiges Verständnis der Rede lässt die Sprache dem Ritual entgleiten und eine ungeheure Plastizität entfalten, mit welcher sie dem Sein gegenübertreten kann. Die Sprache der Kunst heißt Mimesis. Sie leistet die Rückbindung des poietischen Logos ans Sein und garantiert seinen Gehalt. Doch die Modellierung der Sprache nach ihrem Gegenstand bedeutet die Öffnung der Seele hin zum Sein. Damit jedoch gewinnt die Sprache an Plastizität bzw. an mimetischem Potential. In den Büchern der Rhetorik und Poetik wird die Arbeit an der Sprache selbst in Hinsicht auf die rednerische Absicht und d. h. in Hinsicht auf ihre Wirkkraft verhandelt. Ihre Wirkung entfaltet die Sprache aber mittels der gewonnenen Plastizität oder ihres mimetischen Potentials. Und während in den analytischen Schriften die strenge Suche nach wahr oder falsch das Ziel der Rede ist, gibt Aristoteles in der Poetik der Suche nach dem Potential der Sprache den Vorzug, indem er dem Unmöglichen Wahrscheinlichen den Vorrang vor dem Möglichen Unglaubwürdigen einräumt. Der Vorzug des Unmöglichen Wahrscheinlichen wirkt als Brandverstärker für die Entfaltung des mimetischen Potentials der Sprache und öffnet der Kreativität die Tür. Denn die Wirkungen des Schaudererregenden und Jammervollen erscheinen besonders dann, wenn „die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren.“ 50 Was das Erlebnis des Wunderbaren hervorruft ist die Suggestion einer Schicht des tieferen - nicht oberflächlichen - Verständnisses oder die Ahnung einer Existenz als solcher. von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut - eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennahmen gibt.“ 49 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe , Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 4, Politeia , S. 509c - 511e. 50 Aristoteles, Poetik , Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982, S. 33, 1452a. <?page no="166"?> 166 Modell einer Ontologie der Kunst Das Dringen des Aristoteles auf die „Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung“ 51 mit Anfang, Mitte und Ende, wie deren Parallelisierung mit einem wohlgegliederten Ganzen als einem Schönen, dem to kalon 52 , zeugt und unterstreicht die Wichtigkeit der Betrachtbarkeit des schönen Gegenstandes. Der Einheitsgedanke unterstreicht den Sinn, und das Schöne kennzeichnet das Sinnganze als die Wohlordnung der Teile. Dabei unterstützen sich Teil und Ganzes gegenseitig mit dem Ziel einer erhöhten Gegenwart des Schönen für die Kontemplation. Aristoteles erweitert so die Abständigkeit der poietischen Rede vom Sein und entfernt sich von den Kategorien der Nachahmung wie des Wahrscheinlichen im Sinne einer strengen Abbildung des Seins wie einer objektiven, mathematisch zu berechnenden Wahrscheinlichkeit - obwohl diese notwendig zugrunde liegt. Er eröffnet der Artikulation der poietischen Rede den notwendigen Raum für die Steigerung hin zur Gestaltung des Dramas ihres expressiven Potentials. Expressivität allgemein ist die reaktive Öffnung des Organismus auf seine Umwelt. Die Expressivität des Menschen ist seine reaktive Öffnung auf die Welt durch ihre Einverseelung vermittelst Sprache, Tanz, Musik und Malerei. Expression ist die Antwort der Öffnung des Menschen auf die Welt in Sprache, Tanz, Musik und Malerei. Das lautsteinerne Werkzeug Wort (Paul Alsberg) Die Idee der Sprache als Organon bestimmt auch die Auffassung von Paul Alsberg, doch nicht im Sinne eines Instrumentes zur Erschließung der Welt, sondern als Mittel zur Erfüllung des Prinzips der Körperausschaltung und als eines der künstlichen Werkzeuge des Menschen. Das Wort, schreibt er, ist „genauer gesagt, ein außerkörperliches (künstliches) Werkzeug, mit welchem der Mensch die Ausschaltung seiner Sinnesorgane bewerkstelligt und damit das Prinzip der Körperausschaltung befolgt.“ 53 Das Wort als Werkzeug liegt auf der Entwicklungslinie des Menschen und ist Grundlage der Vernunft. Denn indem es bedeutet, gewinnt es seine geistige Natur und ermöglicht dem Menschen die Abstraktion. Mittels seiner befreit sich der Mensch von der unmittelbaren Gegenwart der Dinge, kann sie in Begriffen und Klassen zusammenfassen und überschreitet seine eigene Wahrnehmung, beschränkte Körperlichkeit genauso wie Raum und Zeit. 51 Aristoteles, Poetik , Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982, S. 25, 1450b 24 ff. 52 Ebd., S. 25, 1450b 34 ff., 53 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , Sybillen-Verlag, Dresden, 1922, S. 133. <?page no="167"?> Die Sprache 167 Im Worte ist der Laut zu einem außerkörperlichen, mit dem Gegenstand verbundenen Wertfaktor geworden und vermag nunmehr die persönliche Wahrnehmung zu vertreten, die Sinnesorgane auszuschalten […] Das Wort ist etwas grundsätzlich Neues, ist ein Anfang und keine Steigerung des Bisherigen. 54 So wie für den Kenner Werkzeuge „versteinerte Ideen“ 55 sind, sind Wort und Begriff für Alsberg „geistige Werkzeuge“ 56 , vermittelst welcher der Mensch zur Selbstobjektivierung und zur Besonnenheit gelangt - seiner Entwicklungslinie, dem Prinzip der Körperausschaltung folgend. Dabei habe er mit dem Wort eine vollständig neue Situation geschaffen, in der dann auch das sprachlich Schöne von der reinen begehrlichen Körperlichkeit abgehoben und auf die Lautlichkeit bzw. Schriftlichkeit der Sprache Anwendung finden könne. Im Sinne dieses hephaistischen Werkzeugverständnisses und dem neuen lautsteinernen Werkzeug Wort würde der schaffende Umgang mit ihm wohl die Entwicklung der Körperausschaltung weiter beschleunigen und den Menschen in seiner geistigen Entwicklung fördern. Allerdings bleibt hier im Ungewissen, wohin diese Entwicklung führen soll und ob nicht mit der vollständigen Neuheit Wort und Begriff eine Situation herbeigeführt wurde, die sich nicht allein zum Fortschritt hin, sondern eventuell auch gegen diesen richten könnte. Zudem scheint die Entwicklungsreihe vom Laut zum Wort und zur Abstraktion bzw. Begriff zwar folgerichtig, doch ist ausschließlich formal gedacht und bei näherer Betrachtung wird dieser Aufstieg zum Abstrakten unklar. Denn wenn man das Werken mit dem Zeug dabei zugrunde legt, ist dies empirisch, dem körperlichen Umgang und im Besonderen der Hand geschuldet. Wie aber soll aus der Empirie die Abstraktion ersteigen, ohne dass diese dabei schon vorausgesetzt werden muss. Koinzidenzen und Zufallsentdeckungen sind dabei vielleicht denkbar, ob diese sich aber verstetigen können, ohne dass positive Begriffsarbeit bzw. die Arbeit des Geistes nicht schon vorausgesetzt werden muss, scheint ebenfalls unwahrscheinlich. Allein aus dem negativen Befund des Prinzips der Körperausschaltung wird die „Erfassung des gemeinsamen Merkmals“ 57 zur Bildung von Begrifflichkeit nicht erkennbar. 54 Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel, Versuch einer prinzipiellen Lösung , Sybillen-Verlag, Dresden, 1922, S. 215. 55 Ebd., S. 174. 56 Ebd., S. 169. 57 Ebd., S. 145. <?page no="168"?> 168 Modell einer Ontologie der Kunst Sprache und Anspruch der Deitas (Max Scheler) Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie Schelers besteht darin, die Monopole und Leistungen des Menschen 58 , unter denen auch die Sprache rangiert, verstehbar werden zu lassen. Nun steht auch die Sprache inmitten einer „unzerreißbaren Struktureinheit “ 59 von „ Welt-, Selbst-, und Gottesbewußtsein “ 60 . Denn es war dem Menschen auch, und in besonderer Weise durch die Sprache möglich, sich aus der Natur zu lösen und sein „vorhergehendes tierisches Leben“ 61 hinter sich zu lassen. Der Mensch stellte sich aus der Natur heraus und sie wurde ihm so zum Gegenstand seines „neuen Kunst- und Zeichenprinzips“ 62 . Und da sein Verhältnis zum Weltgrund darin bestimmt ist, dass sich dieser im Menschen selbst „unmittelbar erfasst und verwirklicht “ 63 , stehen die Leistungsmonopole des Menschen in seiner Pflicht und Aufgabe. Die Attribute des Ens per se - Drang und Geist - sind im Menschen „lebendig aufeinander bezogen“ 64 . In ihm wird der „Logos, «nach» dem die Welt gebildet ist, mit vollziehbarer Akt“ 65 . Aus dem Munde des aus der Welt herausgestellten Lebewesen Mensch spricht sich die Antwort auf den Anspruch der Deitas aus. Der Mensch greift aktiv in das metaphysische Geschehen des „ werdenden «Gottes»“ 66 ein. Die Bedingung der Möglichkeit von Sprache beim Menschen (Scheler) Die Bedingung der Möglichkeit der Sprache beim Menschen erklärt sich evolutionstheoretisch aus seiner Physis. In seinen noch wenigen verbliebenen Instinktresiduen zeige er sich als Träger von teleoklinen Vollzügen, die rhythmisch gegliedert nach einem festgelegten Schema ablaufen. Er zeige sich als Träger zeitlich gegliederter Abläufe, als Träger von Zeitgestalten. Nun ist die artdienliche und arttypische Zeitgestalt Instinkt starr - unmittelbar in der Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert -, werde aber bei den höheren Lebewesen, also auch beim Menschen, durch „ schöpferische Dissoziation “ 67 durchbrochen. Die auf diese Weise entstehende Freigabe des Gedächtnisses bilde wiederum die Grundlage für sein assoziatives Funktionieren und ermögliche intelligentes Verhalten. Zu diesem tritt nach Scheler das nun möglich gewordene „gewohn- 58 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 98. 59 Ebd., S. 100. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 102. 64 Ebd., S. 103. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 102. 67 Ebd., S. 25. <?page no="169"?> Die Sprache 169 heitsmäßige“ 68 Verhalten hinzu. Dies ist Wiederum eine weitere Lockerung der festen Bindung der Lebewesen an das Sein ihrer Umwelt. Die Prinzipien des assoziativen Gedächtnisses seien bei allen „ Tieren “ 69 vorhanden und die Folge ihrer eigenen Physis - Trennung von sensorischen und motorischen Systemen - im Reflexbogen 70 . Nun zeigten dies die Tiere - Wirbeltiere - mit geringer starren „Organisation und breiter immer neuen Bewegungen aus Teilbewegungen am schärfsten“ 71 . Im Menschen mit seiner unendlichen Vielfalt von Bewegungskombinationen sei das Gedächtnis am intensivsten ausgeprägt. Dies ermögliche ihm die Außenwelt in einem weit größeren Umfange in sich hineinzunehmen als anderen Lebewesen, es ermögliche ihm eine größere Plastizität aus größerer Bewegungsfreiheit 72 . Der Mensch, ein Wirbeltier mit innerer Zeitgestalt, ein Spezialist für rhythmische Abläufe Der Mensch, ein Wirbeltier mit inneren Zeitgestalten schon auf dem Niveau der Instinkte und als Gliederwesen mit großer Plastizität der Eindrücke und des Gedächtnisses - einer hohen Fähigkeit der Einverseelung der Welt -, ist ein Spezialist für rhythmische Abläufe. Der Rhythmus erklärt sich aus dem Gebrauch der Glieder als koordiniertes Verhalten. Dies ist der gesamten Spezies gegeben, aber der individuell unterschiedliche Körperbau eröffnet eine enorme Bandbreite des Rhythmuserlebens und -fühlens. Zwar sind mittlere Größe, Körperbau und Körpersymmetrie der Spezies Garant für die Kompatibilität dieses Fühlens in den realen Körperleibern und somit für die grundsätzliche allgemeine Verständlichkeit des Rhythmus, doch lässt der komplexe und nicht einfache Zusammenhang zwischen Körperbau und Bewegungsabläufen einen großen Spielraum für die individuelle Taktung der Körper bzw. des Körpererlebnisses Rhythmus , also für die Körpertaktung, zu. Wir können die unterschiedlichen Arten und die Vielfalt rhythmischer 68 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 26. 69 Ebd., S. 31. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Montaigne, Michel de, Les Essais, Classiques Modernes, La Pochothèque, Librairie Générale Française, 2001, S. 718-: „Quant aux armes, nous en avons plus de naturelles que la plupart des autres animaux, plus de divers mouvements de membres, et en tirons plus de service, naturellement et sans leçon […].“ Die außerordentliche Bewegungsfähigkeit des Menschen stellt auch Montaigne fest. Doch erst die Autoren der philosophischen Anthropologie verbinden diese Tatsache mit den geistigen Fähigkeiten des Menschen, respektive seiner ob der Bewegungsvielfalt außerordentlich erweiterten Möglichkeiten der Einverseelung der Welt, und damit mit der Plastizität des inneren seelischen Erlebens - der Fähigkeit des Menschen die Welt im Spiegel seiner Seele zu erfassen. <?page no="170"?> 170 Modell einer Ontologie der Kunst Abläufe in der körperlichen Darstellung besonders gut beim musikalischen Dirigieren beobachten. Bei allen unterschiedlichen Körpern , die sich im Orchester zusammenfinden, ist es diesem jedoch möglich, einen allen gemeinsamen rhythmischen Fluss zu gestalten. Die Betrachtung zielt hier auf eine Schicht, in der Physiologie, Kulturtechniken und Kunst eine Schnittmenge bilden. Die historisch erworbenen Kulturtechniken, wie sie sich für den Spracherwerb, die Rezitationstechniken, den Tanz oder die Rezeptionstechniken etc. bewährt haben, besitzen einen außerordentlichen Einfluss. Doch trotz ihrer Dominanz z. B. in den romantischen Rezeptionsformen des passiven Zuhörens und Stillsitzens, machen sich Rhythmus und vor allem der Beat als pulsvermittelte Sprech- und Bewegungsart immer wieder bemerkbar. Dies kann man heute in der Rap- oder in der Slampoetrybewegung beobachten, welche sich neben der sublimierten Rezeptionsfigur der Hochkultur einen Platz im Bewusstsein der Öffentlichkeit verschafft hat. Schließlich und endlich ist der Puls die Minimalform, in der Bewegung und Rhythmus zusammenfallen, und er ist eine der eindringlichsten akustomotorischen Phänomene überhaupt. Im sich darüber erhebenden Rhythmus sind Volumen und Impuls miteinander verschmolzen 73 . Wir hören mit dem ganzen Körper Mit der Körpertaktung korrespondiert das Sprechen als gegliederte Körperbewegung im Drama der Artikulation wie in der entsprechenden Gliederung der geistigen Gehalte der Sprache als Bedeutungen, Abfolge von Bildern und linguistischer Struktur, aber auch als notwendiger Ablauf in der Zeit bei der sprechenden Entfaltung der Gedanken, bis hin zur Großgliederung des Körpers in rhythmischer Bewegung in Tanz, Gang, Marschieren, Hüpfen, Dirigieren etc. Die Körpertaktung ist die Erlebnisbasis für das entfremdete Selbstgefühl bei der gegliederten Bewegung des Körperleibes. Sie entspricht einer tiefen Frequenz, unhörbar, doch spürbar, wohl noch keine Vibration, aber als Abfolge von Impulsen, die bei höherer Frequenz in Töne umschlagen. Der Übergang ist physikalisch betrachtet graduell, ideell jedoch kategorisch. Der Mensch erfährt das Hörerlebnis mit dem ganzen Körper. Der Körperleib mit Knochen, Sehnen, Muskeln, Bändern und Haut ist der Ort der Vermittlung der Impulse. Diese physiologische Gemengelage unterliegt der Erfahrung des Hörens, auch im Hochfrequenzbereich und ist Bedingung der Möglichkeit für die umgekehrte Vermittlung des Gehörten in die Bewegung des Körpers hinein - z. B. aus der Musik in den Tanz. 73 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , (1923), in Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 345. <?page no="171"?> Die Sprache 171 Diese korrespondierende Verbindung zwischen Klang und Körper schwingt bei der Dichtung mit, da bei ihr die Vermittlung der Inhalte im besonderen Maße durch die rhythmischen Impulse des poetischen Duktus erreicht werden. Es entsteht ein Tanz der besonderen Art, eine dramatische Aufführung der Rede, die durch den gesamten Körperleib mitvermittelt und miterlebt wird. An dieser Stelle leisten die Überlegungen der philosophischen Anthropologie als Naturphilosophie einen Beitrag zum Projekt der Geschichtsphilosophie Diltheys, insofern sie das Verhältnis Mensch: Dichtung in der Erfahrung des Rhythmus als Körpererlebnis wesentlich aufklären. Ich blicke in die Menschenwelt. In ihr treten die Dichter auf. Sie ist ihr eigentlicher Gegenstand. […] So finde ich, dass das große Rätsel des Dichters, der über dem Leben eine neue Realität hinstellt, […] nur aufgelöst werden kann, wenn die Beziehungen dieser Menschenwelt und ihrer Grundeigenschaften zu der Poesie aufgeklärt werden. So kann doch auch erst eine Theorie entstehen, welche Geschichte der Dichtung zu einer historischen Wissenschaft macht. 74 Wir hören mit dem ganzen Körper. Bändern, Muskeln, Haut und Knochen sind die Verstärker des Dramas der Artikulation. Der gesamte Körperleib ist Resonanzboden der Intelligibilität des Hörens. Sprache: Ausdruck von Ausdrücklichkeit (Helmuth Plessner) Der Sprachbegriff Plessners ist ein wesentlich anderer. Nicht nur, dass Plessner der Sprache einen festen Platz innerhalb seines Erkenntnisschemas in der Ästhesiologie des Geistes zuweist, sondern auch ob der Tatsache, dass für Plessner die Sprache unmittelbar mit dem Menschen selbst als Möglichkeit geben ist 75 , und gerade nicht Frucht einer evolutiven Entwicklung, angelehnt an Darwin oder Spencer. Plessner lässt die Sprache im Wesen der Expressivität wurzeln. Diese selbst ist Ausdruck des Verhältnisses des Lebewesens Mensch zur Welt, seiner exzentrischen Positionalität . Sprache macht dies explizit, drückt dieses Verhältnis in Ausdrücken aus. Denn nur da der Mensch hinter sich gekommen sei, ortlos im Nichts stehend, komme ihm die Welt in den Blick. Nur deshalb kenne er sich selbst und die Welt. Diese Abständigkeit ist Bedingung der Möglichkeit des Ausdrucks, und Expressivität bezeichnet jenes Welt- und Selbstverhältnis - jene Distanz zur Welt und zu sich selbst -, die der Mensch schöpferisch, kultur- 74 Dilthey, Wilhelm , Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften , Gesammelte Schriften, Bd.: VII, B. Teubner Verlagsgesellschaft Stuttgart, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, 1973, S. 228. 75 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , (1923), in Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 244. <?page no="172"?> 172 Modell einer Ontologie der Kunst schaffend aufgefordert ist zurückzulegen, um sein Leben zu leben, ihm Gestalt zu geben. Sprache und Schrift seien Ausdruck dieses Verhältnisses. Sprache, ein Medium zwischen Konstruktion und Proportion Im dreigeteilten Menschenbild Plessners von Körper, Seele und Geist habe die Sprache ihren Sitz im mittleren Teil: der Seele. Mit ihr teile sie die Struktur der Gliederung. Zwar könne psychische Wirklichkeit niemals dargestellt werden 76 - man werde ihrer inne -, aber sie bringe „das Bedeuten in Sprache und Schrift die besondere Art des innewerdenden Verstehens hervor.“ 77 Der psychische Seinskreis ist nur die Zwischenschicht, welche die Auffassung der Welten in den Redeformen dadurch möglich macht, daß in ihr die erlebte Welt nach allen ihren Bezügen inhaltlich-stofflich und zugleich der Sinn in der Mannigfaltigkeit seiner syntagmatischen Formen vertreten sind. 78 Im dreigeteilten materiellen Erkenntnisschema der Ästhesiologie des Geistes , nehmen Sprache und Schrift ebenfalls eine mittlere Stellung ein. Sie stehen zwischen Auge und Hand 79 , zwischen fixierender Berechnung und sinnstiftendem Ausdruck, zwischen Konstruktion und Proportion als ein gegliedertes und präzisierendes Medium. Die Sprache überschreite die Grenze von Außen und Innen, indem sie ein milieu externe 80 schaffe. Sie sei das Organ des Menschen, welches in seiner unmittelbaren Vermittlung dem Menschen helfe, die Welt in den Griff zu bekommen, indem sie diesen Kontakt virtualisiere 81 . Durch Sprache und Schrift würden die Menschen Bewohner eines mittleren und vermittelnden Milieus, welches es ihnen erlaube, die Sphäre eines Füreinander miteinander zu teilen. Sprache und Schrift schafften einen Raum, der nicht wie die Geste wieder verschwinde, sondern fortdauere 82 . In diesem Raum gebe es kein „ solus 76 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, S. 190: „Syntagmatisches Bedeuten verfährt gliedernd nur durch Sprache und Schrift. Bedeutungen beziehen sich zwar auf alle Anschauungs- und Sinngehalte, fassen aber erst da, wo Gliederung möglich ist. Nun läßt sich die psychische Wirklichkeit niemals darstellen, sondern man kann ihrer unmittelbar nur innewerden und ihre Gehalte präzis bezeichnen. Also fällt die Form des Gehalts mit der Funktion der Gliederung restlos zusammen, syntagmatisches Bedeuten deckt sich in der Form mit Bezeichnen von seelischem Gehalt. Erst durch Spiegelung in der Schicht des Erlebns gewinnt die Sprache Ausdehnung über alle Gegenstände der Welt und nur durch Sprache (und Schrift) weiß der Geist in Bedeutungen zu gliedern.“ 77 Ebd., S. 163. 78 Ebd., S. 216. 79 Plessner, Helmuth, Conditio humana , Gesammelte Schriften Bd.: VIII, Frankfurt a. M., 2003, S. 176 f. 80 Ebd., S. 178. 81 Ebd., S. 179 f. 82 Ebd. <?page no="173"?> Die Sprache 173 ipse “ 83 . Der Mensch bewohne diesen Mesokosmos seines „ milieu externe “ 84 und spreche sich in ihm aus. Als Ausdruck seelischen Seins stehen Sprache und Schrift auf der einen Seite mit dem begrifflichen Denken - einem Minimum an Ausdruck und einem Maximum an Bestimmtheit, der Konstruktion - in Verbindung, auf der anderen Seite aber auch mit dem rein deutenden Sinn - einem Minimum an Bestimmtheit und einem Maximum an Ausdruck, der Proportion - in Verbindung. Ihr bedeutendes Meinen übersteige jede Grenze und versuche nicht nur die „universelle Interindividualisierung“ 85 , sondern jedwedes Gegebene, auch das Objektive zu ergreifen. Dabei werde oft vergessen, dass der Bereich der Sprache auf „akustomotorischer Basis“ 86 aufbaue. Sie habe ihre Basis in Bewegung, Klang und Laut. Das wesentlich menschlich Motorische sei die Aufrichtung und sein Gang auf zwei Beinen, bzw. die Notwendigkeit des ständigen Balancierens. Der Mensch erlernt seine natürliche Fortbewegung. Als zoon bipodos wird er dabei unweigerlich zu einem Spezialisten der Mitte. Sprache und Schrift sind Ausdruck des Die-Mitte-Haltens. Sie sind Vermittler der Mitte zwischen Konstruktion und Proportion. Das Die-Mitte-Halten manifestiert des Menschen Raum, seine Stellung gegenüber der Welt. Sprache und Schrift als alles übersteigende, ergreifende Mittel zwischen Hand und Auge halten den Menschen in der Mitte und spannen sich als ein dauerhaftes Medium über Vergangenheit, Gegenwart und in die Zukunft hinein. Logostransparenz und akustomotorische Basis des Körperleibes Grundlage des laut- und logostransparenten Körperleibes des Lebewesen Mensch ist die akustomotorische Basis als Ausdruck eines sich in seinen Bewegungen selbst in den Griff bekommen habenden Wesens. Dieses Wesen ist ein lautproduzierendes, das mit seinem aufrechten Gang die Kehlkopffreiheit gewonnen hat, die ihm die Ergebnisse seiner Stimmbandproduktion in Laut und Klang zurückerstattet. Wie in Sprache und Schrift Ausdruck und Begriff zu einem neuen Ganzen verschmelzen, so verschmelzen in der menschlichen Stimme auch Erregung und bewusste Artikulation. Reflektiere die Stimme Emotion und gehörten „Stimme und Stimmung […] nicht nur als Worte zueinander“ 87 , so gehörten auch Phonem und Sinn zusammen. Dabei muss die Stimme selbst frei von Bedeutungen sein, 83 Plessner, Helmuth, Conditio humana , S. 176 f. 84 Ebd. 85 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , (1923), in Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 82. 86 Ebd., S. 344. 87 Ebd., S. 361. <?page no="174"?> 174 Modell einer Ontologie der Kunst denn als Mittel - als Phonem - müsse mit ihr ja ein Was aussagbar sein. Als reine Modulation jedoch ist die Stimme die Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks und damit die Sprache des Wie . In ihr können innere, seelische und artikulatorische Bewegtheit 88 zugleich ihren Ausdruck finden. Wenn die physiologische Tatsache wahr ist, dass es einen Mindesterregungszustand geben muss, damit einem Lebewesen etwas ins Bewusstsein tritt, dann verfügt die Sprache in ihrer Freiheit zum Wie über die Möglichkeit, jene Schwelle zum Bewusstsein hin zu überschreiten. Dies ist die Bedingung der Möglichkeit für ein Bedeuten, lässt die Aussage eines Was erst möglich werden. Die Stimme als reine Modulation birgt den Klebstoff für die soziale Welt von Sprache und Schrift. Sie trägt das Aufmerken des Signals als Basis des Ausdrucks und darin zugleich den Grund ihrer Freiheit zum Zeichen 89 , da sie - in die Verfügungsgewalt des Subjekts gebracht - der Stoff für das Phonem werden konnte. Doch nicht physiologische Ermöglichung der Stimme und des aufrechten Ganges (der Vestibularapparat) seien es, sondern die Tatsache, dass der Mensch zur Balance, zur inneren Mitte bei gleichzeitiger Abständigkeit zur Welt gezwungen sei, habe Sprache möglich werden lassen. Das Drama der Artikulation zwischen Begriff und Ausdruck ermögliche aber nun die Präzisierung und das Verstehen der im Spiegel der Seele erlebten Welt. Im Unterschied zur Musik, mit der die Sprache das tönende Substrat teile, besitze die Sprache noch eine weitere, eine zweite Schicht, die Bedeutung: „Sprache meint immer etwas.“ 90 In diesem Meinen vermittele sie ein Etwas, bedeute ein Seiendes. Mittels der Sprache bezeichne der Mensch ein Seiendes und vergegenwärtige es: „Im Mittel sprachlichen Ausdrucks wird die Sache vergegenwärtigt, gefunden wie erfunden, gemacht wie entdeckt.“ 91 Damit präge wie entdecke die Sprache ihre Gegenstände, symbolisiere und verschleiere zugleich. Deshalb auch sei die Metapher ihre spezifische Leistung 92 . Die Metapher rufe die Welt auf und verkläre sie zugleich. Sie bilde die Brücke, die Mitte und Vermittlungsleistung im „labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt“ 93 . Um ihren Gegenstand zu fixieren, bedürfe sie der Verfahren der Gram- 88 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 272: „Seelische Wirklichkeit und Zustandssinne stehen im Verhältnis der Koinzidenz.“ Stimme kann dieses Verhältnis verlauten lassen. 89 Ebd., S. 361: „Musik steht der Gefühlserregung nicht näher als der Sprache. Sie ähnelt beiden, wahrt aber zu beiden Abstand, weil die Stimme Substrat des Sprechens und Klangkörper in einem ist, der jede Emotion reflektiert.“ 90 Ebd., S. 355. 91 Plessner, Helmuth, Conditio humana , Gesammelte Schriften Bd.: VIII, Frankfurt a. M., 2003, S. 176. 92 Ebd., S. 177. 93 Ebd. <?page no="175"?> Die Sprache 175 matik und Syntax, einer festen Struktur, die es ihr ermögliche, wieder auf das Gesagte zurück kommen zu können, doch flexibel genug, um fortzufahren, zu korrigieren und weiter zu spekulieren. Die Stimme entspricht dem Menschen Ohne Anfang und Ende, doch mit einer spezifischen Starre und Konkretion vermitteln Sprache und Schrift zwischen Kalkül und Ausdruck, zwischen zupackender manipulierender Hand und fixierendem Auge dem Menschen die Welt. Die tönende Materie ist eine Bewegung vermittelst eines Stoffes. Der Ton ist eine Bewegung im Medium der Luft. Geräusch, Laut, Musik und Sprache sind sein natürlicher Ausdruck. Die Stimme ist der physiologische Ausdruck des aufrechten Ganges und des aus der balancierenden Mitte gewonnen Ortes des sich selbst auf zwei Beinen haltenden Menschen. Ihr physiologischer Ort ist das Ohr. Als inneres Hochfrequenztastorgan vermittelt das Ohr die Bewegung des Mediums ins Bewusstsein. Der voluminöse, körperliche Charakter des Tones manifestiert sich in seiner Fähigkeit zur Berührung und Durchdringung. Er ist abstandslos, auch wenn seine Quelle weit entfernt ist. Sie kann jedoch auch im Inneren des hörenden Körpers selbst liegen. Im Unterschied der zur Härte gespannten Oberfläche des Auges (extensiv) ist das Hören auf Elastizität und Schwingung angewiesen (intensiv). Die Modulation der Stimme, das gesamte Drama der Artikulation wie der selbstobjektivierende Kreislauf des Sprechens und Hörens bedarf der Fähigkeit zur Reaktion. Sprechen und Hören sind sich dialektisch vermittelt. Das Gewebe, welches diese Vermittlung austrägt, muss federnd beweglich sein, muss respondieren können. In der Bewegung zwischen Erregung und Phonem entfaltet sich das Drama der Artikulation. Die Stimme ist die ausgespannte Mitte, der Träger der Balance zwischen erregtem Gewebe und gezielter Mitteilung. Sie ist Organ jenes Mediums, welches sich der Mensch erschaffen hat, um es zu bewohnen. Sie ist Trägerin des milieu externe Sprache. Sie entspricht dem menschlichen Sein, und mit ihr hält er sich in der Welt, spricht sich in ihr aus, entspricht sich selbst. Der Mensch ist ein Künstler der Mitte. Er ist ein Artist der Balance und steht im Nirgendwo. Diese ortlose Mitte ist komplex und gefährdet, er muss sie ständig neu zu erlangen suchen. Den Weg zu dieser, seiner Existenz, den er dabei zurück zu legen hat, heißt Expressivität. Sie ist der Ursprungsort seiner Schöpfungen wie seiner Geschichte, und er ist aufgefordert sie auszuführen, sein Leben zu leben, indem er sich der eigenen Leere stellt und seine Mitte hält - gegenüber der Welt wie sich selbst gegenüber. <?page no="177"?> Der Rhythmus, die Bewegung des Wortes in seiner Temporalität und die Versammlung des Seins Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist. 1 Metrum und Rhythmus Metrum und Rhythmus sind Gestalten der Bewegung. Dasjenige, was in Bewegung gerät, verändert seine Lage, zeigt sich in vielerlei Ansichten, gewinnt an Wirklichkeit, kann erwogen werden und eine Einschätzung im Sein erfahren 2 . Dasjenige, was die Veränderung seiner Lage selbst bewirken kann, gewinnt an Ansichten, an Wirklichkeiten, an Möglichkeiten seine Lage im Sein zu verändern 3 . Dasjenige jedoch, das die Veränderung seiner Lage selbst bewirken kann und dabei zugleich in eine Lage zu sich selbst gerät, gewinnt an Ansichten, an Wirklichkeit, kann erwägen und einschätzen, wird zur Person, gewinnt die 1 Nietzsche, Friedrich. Werke in drei Bänden , Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Carl Hanser Verlag, München, 1955, Bd.: III, S. 475. 2 Aristoteles, Aristoteles’ Physik . Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1987, Buch III, S. 101ff (Γ. 200b12 ff), S. 103: „Indem nun in jeder Gattung genau getrennt sind das eine als »in angestrebter Wirklichkeit da«, das andere als »der Möglichkeit nach vorhanden«, so (gilt): Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhadenen, insofern es eben ein solches ist - das ist (entwickelnde) Veränderung; “ für die Begrifflichkeit siehe auch: Aristoteles, The Categories. On Interpretation. Prior Analytics , Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London, England, 1996, S. 17 f. (1b 25 f.). 3 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch . Einleitung in die philosophische Anthropologie , (1928), 3. Aufl. Berlin 1975, S. 304: „Als Einheit von Subjekt und Objekt läßt das Selbst zugleich das Subjekt vom Objekt geschieden, indem es zwischen ihnen im reinen Hier vermittelt. So ist das lebendige Ding, dessen Organisation geschlossene Form zeigt, nicht nur ein Selbst, das »hat«, sondern ein Selbst von besonderer Art, ein rückbezügliches Selbst oder ein Sich. Von dem lebendigen Ding solcher Art darf man als von einem ihm selbst gegenwärtigen sprechen, das auf Grund seiner Abgehobenheit von ihm den unverrückbaren Punkt bildet (noch nicht hat, weshalb es eben noch kein Ich geworden ist! ), auf den es rückbezogen als Ein Ding lebt. In jener unaufhebbaren Oszillation von Insein und Außensein, die auf dem Untergrund des schlichten der Körper selbst Seins die Positionalität des geschlossenen Organismus kennzeichnet, liegt die Grenze für die Rückbezogenheit des Dinges auf es selber.“ <?page no="178"?> 178 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Frage nach dem Sein und nach der Wahrheit, kann diesem Ausdruck und Gestalt in Wissenschaft, Kultur und Kunst verleihen 4 . Der Rhythmus zeigt sich sinnlich oder losgelöst von seinem Gegenstand in Notation und Zahl. Er gehorcht dem Willen, Brauch und Übung oder gar dem Zufall. Die Möglichkeit seiner Übertragbarkeit lässt ihn zum Stifter von Folge und Ordnung werden. In der Hand von Willen, Brauch und Übung ist er kulturfähig. Im Medium der Bewegungen seines Körperleibes sind dem Menschen Rhythmus und Maß selbst innerlich. Der Körperleib, das Ermöglichungsgefüge rhythmischer wie metrischer Erfahrung Das Metrum gibt sich organisch in der Viszerozeption, im Puls, im Herzschlag, der Rhythmus anatomisch in der Propriozeption, der Wahrnehmung von Stellung und Veränderung des Körpers im Raum, der kinästhetischen Selbstwahrnehmung. Das innerliche metrische oder rhythmische Sein findet seine Eindrücklichkeit als Ordnungsgefüge der physiologischen Figur im Gehen, im Marschieren … und im Tanz, in der artikulatorischen Figur 5 in Sprechen und 4 Ebd., S. 364: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“ & S. 365: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person . Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ 5 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 2003, S. 332: „Die Articulation beruht auf der Gewalt des Geistes über die Sprachwerkzeuge, sie zu einer der Form seines Wirkens entsprechenden Behandlung des Lautes zu nöthigen. Dasjenige, worin sich diese Form und die Articulation, wie in einem verknüpfenden Mittel begegnen, ist, dass beide ihr Gebiet in Grundtheile zerlegen, deren Zusammenfügung lauter solche Ganze bildet, welche das Streben in sich tragen, Theile neuer Ganze zu werden. Das Denken fordert ausserdem Zusammenfassung des Mannigfaltigen in Einheit. Die nothwendigen Merkmale des articulirten Lautes sind daher scharf zu vernehmende Einheit und eine Beschaffenheit, die sich mit andren und allen denkbaren articulirten Lauten in ein bestimmtes Verhältniss zu stellen vermag.“ Dies entspricht der Bestimmung des Rhythmus bei Combarieu, der es unmittelbar mit dem Denken, welches zur Komposition führt, verbindet, d. h., der Zusammenstellung von Gedanken zu einem Ganzen.: Combarieu, Jules, La Musique. Ses Lois son Évolution. Ernest Flammarion, Paris, 1926, S. 149: „En musique, avons-nous dit, le rythme proprement dit, dans le sens technique du mot, se confond avec le plan de la composition. Il est constitué par les éléments suivants, qui forment comme des ondulations de plus en plus considérables : le <?page no="179"?> Metrum und Rhythmus 179 Singen, in der auf ein Instrument übertragenen physiologischen Figur beim Musizieren, bei der Arbeit und bei Sport und Spiel etc., also bei den Formen des Ausdrucks von Kunst und Kultur. Das Ermöglichungsgefüge rhythmischer wie metrischer Erfahrung liegt im Körperleib des Menschen selbst. Zuerst trägt er als Wirbeltier ein inneres Gerüst bedeckt mit weicherem Gewebe unterschiedlicher Natur (Organe, Fleisch, Muskel, Sehnen …). Im Verbund von innerem Gerüst, Muskel, Sehne und Gelenk fügen sich Stabilität und Mobilität zur Einheit von Beharrung und Bewegung. Danach ist er ein Ort des Maßes und der Symmetrie: links, rechts, Mitte; oben, unten, Mitte; vorne hinten, Mitte; innen, außen und Mitte, die Peripherie der Haut und der Gliedmaßen, ein Außen und ein Innen und das Gleichgewicht als Mitte aller. Die Bedingung der Möglichkeit für Rhythmus und Maß liegt in der spezifischen Verfasstheit des menschlichen Körpers als Gliederkörperleib. Die Wirklichkeit von Rhythmus und Maß wurzelt in ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit dem Leben des Gliederkörperleibes des Wirbeltieres Mensch und mithin in seinen Bewegungen in Wissenschaft, Kultur und Kunst. Auch wenn bei der Beobachtung der Natur oft Eindringlichkeit 6 durch Fülle und Impuls als wesentliches Element des Rhythmischen für den akustischen Modus der Wahrnehmung fehlt, ist es üblich geworden, makrokosmische Abläufe mit dem Begriff des Rhythmus zu belegen. So spricht man zwar vom „Wechsel der Jahreszeiten“ und doch genau so auch vom „Rhythmus“ jener 7 . Durch den Begriff des Wechsels im Zusammenhang mit Rhythmus wird sogleich ein wichtiges Merkmal des Rhythmus selbst genannt. Jeder Rhythmus pied , identique à la mesure ou élément composant de la mesure (à 3, à 4, à 6 ou à 5 temps); le membre de phrase ; la phrase ; la période (qu’on peut définir, conventionnellement: une phrase composée de plus de deux membres); la strophe , et les systèmes de strophes . Bien que la question soit obscure sur quelques points. On peut affirmer que les caractéristiques du rythme musical, comme celles de la mesure, ont paru à l’origine dans des mouvements réels et socialisés, étrangers à l’art, pour passer ensuite dans la poésie chantée, enfin dans la musique pure, en vertu d’abstractions de plus en plus hautes. [150] La mesure vient d’être expliquée. La phrase musicale est construite, nous l’avons vue, comme la phrase verbale.“ 6 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , S. 345: „Eindringlichkeit - nicht im Sinne von Intensität und Nachdrücklichkeit - ist ein Strukturmerkmal des akustischen Modus. Sie manifestiert sich in Volumen und Impuls, wobei das Moment des Voluminösen auch zu anderen Sinnesbezirken paßt, denn Fülle läßt sich nur intermodal erleben. Im notwendigen Konnex aber mit dem Moment der Impulsivität charakterisiert Fülle nur den akustischen Modus.“ 7 Neue Anthropologie , (Hg.) Gadamer, Hans-Georg und Vogler, Paul, Dtv Wissenschaftliche Reihe, Stuttgart 1972, Bd. I - IV, Bd. 1: S. 120. <?page no="180"?> 180 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins bedarf des Wechsels, um überhaupt als ein solcher identifiziert werden zu können. Ein weiteres Merkmal für das Verständnis von Rhythmus besteht in der Sequenzbildung, in diesem Falle der Wiederholung der jahreszeitlichen Abläufe. Neben Einsatz und Ende können Wechsel und Wiederholung als die Glieder jener Abläufe betrachtet werden, welche das Phänomen des Rhythmus ausmachen. Einsatz, Ende, Wechsel und Wiederholung deuten notwendig auf eine gewisse Dauer des als Rhythmus zu identifizierenden Phänomens hin. Damit wird Gegenwart als wirkende Wirklichkeit unumgänglich Teil des Phänomens Rhythmus. Wirkende Wirklichkeit überspannt den Augenblick und bindet das Noch-immer-Wirkende-Vergangene an ein Noch-zu-Erwartendes im Jetzt. Die Elemente der Dauer - Anfang, Ende, Wechsel, Wiederholung - wie der Gegenwart von Vergangenem und Zukünftigem im Jetzt bilden also eine in sich gegliederte Einheit. Rhythmus als ein in sich gegliedertes Ganzes birgt somit Vielfalt und Einheit als Maß in sich selbst. Vielfalt als Ganzes ist das Verhältnis seiner Teile zueinander. Rhythmus ist ein vielfältiges, gegliedertes Ganzes in der Zeit mit einem in sich selbst geborgenen Maß. Die Feststellung eines Rhythmus ist mit der Erinnerung an ihn einerlei. Rhythmos, Ordnung in der Erscheinung Rhythmos bezeichnete ursprünglich ein mikrokosmisches Geschehen, mit dem kosmogone Abläufe in ihrem Erscheinen von den Physiologoi wie z. B. von Demokrit beschrieben wurden. Rhythmos bezeichnete die Zusammenkunft kleinster unteilbarer Einheiten, der Atome, zu einem größeren physikalischen Ganzen, das dem Vergehen für eine gewisse Dauer Widerstand bot und sich so zu einem Gegenstand verfestigt hatte. Die Konfiguration der atomischen Elemente formierte sich zu etwas Größerem - zumindest für eine gewisse Zeit. Unter dem Diktum des Heraklitischen „panta rhei“ gewinnt die Materie für eine gewisse Zeit Bestimmtheit, Individualität und Gegenwart 8 . […] so behaupten auch diese [Leukipp und Demokrit], dass die Unterschiede die Ursachen für alles Übrige seien. Es seien, wie sie sagen, drei: Form, Anordnung und Lage. Sie behaupten nämlich, das Seiende unterscheide sich nur durch die Gestaltung [rhysmó], die Art der Berührung [diaethigé] und die Art der Wendung [tropé]; 8 Maldiney, Henri, Regard, Parole, Espace, Éditions l’Age d’Homme. Collection „Amers“ dirigée par J.-P. Charcosset, H. Maldiney et Bernard Rordorf. Lausanne, 1973, S. 157-: „E. Benveniste montre et démontre que, malgré le sens du radical ῥυ (= couler) sur lequel il a été formé le mot ῥυθμός ne désigne pas un phénomène d’écoulement, de flux, mais la configuration assumée à chaque instant détérminé par un «mouvant». ῥυθμός donc veut dire forme, comme σχῆμα (= schéma). Mais une autre espèce de forme.“ <?page no="181"?> Metrum und Rhythmus 181 hiervon bedeutet aber Gestaltung die Form, Berührung die Anordnung, Wendung die Lage. 9 Die Veränderungen der Materie entstünden aus der Mischung durch die Prinzipien des „Lockeren“ und des „Dichten“ 10 . Was durch sie hervorgebracht werde, unterscheide sich in Form, Anordnung und Lage und bestimme so das Sein der Materie. Anordnung bezeichnet ihr Sein als Ordnung von Teilen, Lage ihr Sein als Ordnung des Ortes und Form ihr Sein als Ordnung in der Erscheinung. Ordnung in der Erscheinung heißt also die Gestaltung des Seienden, ihr Rhythmus. Wesentlich für diese Bestimmung des Rhythmus ist die Unterscheidung von Gestalt und Gestaltung: Or entre Gestalt et Gestaltung, entre la forme thématisée en structure et la forme en acte, il y a toute la différence du rythme. 11 Im Rhythmus gewinnt demnach die immerzu bewegte Materie ihre Gegenwart als Gestaltung des Fließens: L’ancienne calligraphie chinoise connaissait une « écriture d’herbe » se mouvant comme l’herbe sous le vent. Ce sens de la forme en formation, en transformation perpétuelle dans le retour du même, est proprement le sens du rythme. Il est à placer sous le signe d’Héraclite. Mais il n’est pas dans le « tout s’écoule »-; il est dans l’alliance surprise du « temps enfant qui joue » et du « gouvernement de tout à travers tout » 18 [Heraclite, Fragment 41]. Le rythme est dans les remous de l’eau, non dans le cours du fleuve. 12 Die ontologische Fessel des Altgriechischen Im Rhythmus werde die Welt plastisch 13 , Substanz „in Leiblichkeit konzentriert“ 14 . In dieser „Leiblichkeit“, so Hegel, zeige sich die antike Grundhaltung: daß der Gott selber in den Tempel eintritt und mitten in uns wohnt. Die Substanz wird jetzt in Leiblichkeit konzentriert; sie wird den Sinnen greifbar. Und umgekehrt: der 9 „Die antiken Atomisten-: Leukipp und Demokrit“, in-: Die Vorsokratiker, (Ausw./ Übers.), Gemelli Marciano, M. Laura, Bd. I - III , Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2007, Bd.: III, S. 321. 10 Ebd. 11 Maldiney, Henri, Regard, Parole, Espace, Éditions l’Age d’Homme. Collection „Amers“ dirigée par J.-P. Charcosset, H. Maldiney et Bernard Rordorf. Lausanne, 1973, S. 156. 12 Ebd., S. 157 & 158. 13 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache , Hans Schneider, Tutzingen, 1977, S. 130 f. 14 Ebd. <?page no="182"?> 182 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Gegenstand der Sinne ist nicht ein bloßes Erscheinen einer an sich unzugänglichen Substanz, sondern das Sein selbst. ‚Der Gott wohnt seiner Äußerlichkeit inne‘ (Einleitung in die Ästhetik, Meiners, Ausg. 128). Es ist das Zeitalter der Plastik. 15 Kein Weltenteil, der nicht von Gestaltung, Berührung und Wendung berührt werde, so auch die Sprache, ihr Klang, die akustische Materie. Sie hat ebenfalls Anteil an der fließend sich gestaltenden Materie, der Schwere und Fülle, der Leiblichkeit der Welt. Auch das altgriechische Wort tritt uns als eine sozusagen rundplastische Wirklichkeit entgegen. Es steht da als ein mit Händen greifbarer fester Körper. Beim Aufnehmen einer altgriechischen Wortschöpfung werden wir gleichsam gesteinigt […] Hier wird die Wirklichkeit selbst als Wort gedichtet. 16 In der Sinnlichkeit des Wortkörpers, des Wortleibes spricht sich die griechische Welt selbst aus 17 . Das Wort war ein Sinnbild: Das zwar sinnbildliche aber als Zeichen unbestimmte Element der Musik bildet mit dem zwar bestimmten aber nicht sinnbildlichen Element der Sprache eine Einheit, eine eigenartige Wirklichkeit, die Zeichenbestimmtheit und Symbolmacht in sich vereint. […] Es war ein mit Zeichenmacht begabtes Sinnbild, und dadurch war es nicht bloß ein Kunstträger im abendländischen Sinn, sondern es besaß darüber hinaus die Fähigkeit zur substantiellen Verdichtung. Da das altgriechische Wort als Erklingendes nicht nur eine durch den Sprachvorgang und die Bedeutung bedingte Gestalt ist, sondern auch eine eigenständige rhythmisch-musikalische Wesenheit, die nicht dem Bezeichnungsvermögen des Menschen, seinem Willen unterliegt, die aber andererseits unlösbar mit dem Wort verknüpft ist, ihm innewohnt, hat man den Eindruck, dass nicht der Mensch die Sache benennt, sondern dass die Sache von selbst klingend sich substantiell bekundet. 18 Die Einheit von Name und Gegenstand in der klingenden Aussage des Altgriechischen als rhythmisch-musikalischer Wesenheit schlägt Welt und Sprecher in 15 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache , S. 130 f. 16 Ebd., S. 131. 17 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe, Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 3, Kratylos , S. 519, 423b: „Das Wort also ist, wie es scheint, eine ‚Nachahmung der Stimme‘ dessen, was es nachahmt, und derjenige benennt etwas, der, was er nachahmt, mit der Stimme nachahmt.“ 18 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache , S. 133. <?page no="183"?> Metrum und Rhythmus 183 eine ontologische Fessel, und selbst das aus ihr erwachsende Denken, die Logik, bleibt auch nach der „Tat Homers […] eine ontologische Logik“ 19 . Der autonome, ontologisch erfüllte Klangleib des altgriechischen Wortes birgt auch seine eigene Zeit: Die Quantität der gesondert artikulierten Bestandteile, der Silben, oder genauer: die zwischen zwei Artikulationsvorgänge eingeschobene Dauer des Ertönens, […] ist ein Faktor, der um seiner selbst willen da ist, auf nichts sonst zurückführbar, wie eine Substanz, der Faktor der ‚erfüllten Zeit‘. 20 Die Silbe, also die Dauer des Ertönens zwischen zwei Artikulationsvorgängen , mit ihrer Einteilung in Arsis (Hebung) und Thesis (Senkung) im Bilde dessen, was der Gesamtgliederkörper im Tanz artikuliert, wenn er seinen Fuß hebt oder senkt 21 , ist Darstellung jener ontologisch erfüllten Zeit, Darstellung der rhythmisch erscheinenden Substanz. Die Metrik des Altgriechischen operierte mit ihnen wie mit „festen Körpern“ 22 . Noch bei Platon und Aristoteles war die Rhythmik nicht selbstständig 23 . Die altgriechische Dichtkunst und Sprache basierte auf einer uns modernen Sprechern fremden Operation, denn die Wörter, als statisch-rhythmische Quantitäten frei komponiert, gelangten zu ihrem Sinnzusammenhang allein durch die geistige Anstrengung, „die in gewissem Sinn frei hingeworfenen Wörter, durch das Band des bedeutungsfreien, statischen Quantitätsrhythmus zusammenzuhalten“ 24 . 19 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache , S. 134. 20 Ebd., S. 52. 21 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , Éditions Verdier, 11220 Lagrasse, 1982, S. 133- : „Le conventionnel de la métrique est une codification originellement, et fonctionnellement, propre au chanté, et au dansé, comme la terminologie même en garde la trace - étymologie, pour une fois le vrai sens , du pied à la scansion , de scandere , « monter, gravier; dans la langue de la grammaire, ‚scander‘ les vers, par allusion aux mouvements du pied qu’on levait et baissait pour marquer la mesure » (cf. En gr. ἄρσις et θέσις).“ 22 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache , S. 43. 23 Ebd., S. 51. 24 Ebd., S. 137.: „Die altgriechische Haltung kommt aber gerade durch das Vorhandensein der selbständigen musikalischen Komponente zustande, durch den autonomen, also nicht bedeutungsbedingten sondern musikalischen Sinn der Quantität, durch den Symbolcharakter des Klangleibs, der nicht von der Bedeutung abgeleitet wird. So steht die musikalisch-statische, «monotone» [138] Vortragsweise des altgriechischen Wortes nicht in Widerspruch zu seiner Wirklichkeitsbedeutung. Im Gegenteil: je mehr das Wort objektiv, substantiell gebunden ist, um so weniger subjektiv, um so mehr architektonisch-musikalisch, «leiernd»-objektiv wird es erklingen. Zwar kann es gleichzeitig kräftig, tierisch, <?page no="184"?> 184 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Durch diese eigentümliche Verbindung des Ontologischen mit dem Klanglichen im Altgriechischen war es der Musik 25 - dem Teil der Substanz als „hylé“ - nicht möglich, Eigenständigkeit als Kunstform zu erlangen, wie dies in den modernen exspiratorischen Sprachen der Fall ist. Gerade deshalb jedoch konnte die Musik als Musiké so bedeutend werden: […] wird die Musiké nicht nur als Kunst, sondern darüber hinaus als die das Gesamt- Menschliche (das Tierische als solches plus das eigentlich Geistig-Künstlerische) beanspruchende und folglich dafür verbindliche Macht wirksam. 26 Die Sprache umgreift vom Triebhaften bis zum höchsten Logos den gesamten Menschen. Das in ontologische Fesseln geschlagene Denken und Sinnengeschehen in Sprache und Dichtkunst lässt im Altgriechischen die Unterscheidung zwischen Ästhetik und Ethik ausbleichen. Deshalb konnte die Musik (als Musiké) in der Antike „als der Inbegriff der Erziehung, als die das Ethos bestimmende Macht“ 27 gelten. Das genaueste Maß, das einzige Maß: das Gute Sowohl der sich im Altgriechischen zeigende Verbund zwischen Ontologie, Ästhetik und Ethik wie auch die mikro- oder makrokosmische Bedeutung der in der akustischen Materie sich zeigende Gestaltung von Sinn ist zu bedenken, will man die platonische Bestimmung des Begriffs Rhythmus einordnen. Verquickt Platon den Rhythmus mit dem Maß 28 , so deshalb, weil die Sprache als sinnlich-geistige Klangplastik den ganzen Menschen als geistiges und sinndämonisch, beschwörend ertönen, aber nicht im abendländischen Sinn subjektiv, dynamisch, innig; nicht im einzelnen ausdrucksvoll abschattiert, «deklamiert».“ 25 Ebd., S. 134, siehe Anmerkung 134 zum Begriff der Musiké : „Es ergibt keinen Sinn, wenn man dieses Wort, z. B. bei Platon, Staat 376e, mit «Tonkunst» oder «Dichtung» übersetzt. […] Vielleicht ließe sich folgendes sagen: Das der eigenartigen altgriechischen Wortkunst entsprechende Seelenvermögen heißt Musiké. Unter ποίησις (Póiesis = «Verfertigung») dürfte man die Handlung verstehen, wodurch dies Vermögen sich Gegenstände schafft, sich objektiv festlegt. So weisen μουσικὴ und ποιητική τέχνη (= «Verfertigungskunst») auf das gleiche hin, mit dem Unterschied, dass sich Musiké mehr auf die menschliche Anlage, d. h. die apriorische Wurzel, den göttlichen Ursprung (Musiké = «Kunst der Musen »), Póiesis dagegen mehr auf die menschliche Verwirklichungshandlung bezieht. Somit weist Musiké im besonderen auch auf diejenige Seite des Wortes hin, die ihm die ontologische Kraft verleiht (so durch die Harmonia; vgl. etwa Platon, Timaios 47), also auf seine musikalische Komponente; Póiesis hingegen wird eher zum Bedeutungszusammenhang, zur Zusammenstellung der Begebenheiten in Beziehung gebracht.“ 26 Ebd., S. 139. 27 Ebd. 28 Benveniste, Émile, Problèmes de linguistique générale, NRF Éditions Gallimard, Paris, 1968, S. 331 ff.-: „Chez Platon, on relève, entre autres, le ῥυθμός, la «-disposition propor- <?page no="185"?> Metrum und Rhythmus 185 liches Wesen erfasst. Als ein solches ist er, ob Bürger der Politeia oder der Nomoi - der zweitbesten Stadt 29 -, Teil eines größeren sozialen Verbandes, welcher seinerseits in seiner Verfassung wiederum auf das kosmische Ganze verweist. Es war die feste Überzeugung Platons, dass Seele, Staat und Kosmos in einem ontologisch begründeten Zusammenhang stehen und dass daher die Erkenntnis dieser Bereiche einheitlich aus denselben Prinzipien zu gewinnen ist. Einheit der Seele, Einheit des Staates und Einheit der Welt bedeuten unmittelbar auch das Gutsein des betreffenden Bereichs. Das positive Prinzip des Einen-Guten und das negative der Unbestimmtheit finden sich in allen ‚Mischungen‘, die die Dinge dieser Welt ausmachen. 30 Wenn der Demiurgos („der δημι-ουργός ist etymologisch der Arbeiter für das Volk“ 31 ) mit Blick auf das Gute die Welt erschafft, indem er das Gute als Einheit in der Gestalt des Maßes und der Proportion, im Ausdruck der Zahl gar 32 in der Vielheit realisiert, unternimmt er dies als kosmischer Handwerker, der die chaotischen Teile zu einer Einheit, einem Ganzen, zu einem kosmischen Ganzen zusammenbindet: Dass sich zwei Bestandteile allein ohne einen dritten wohl verbinden, ist nicht möglich; denn ein bestimmtes Band in der Mitte muss die Verbindung zwischen beiden schaffen. Das schönste aller Bänder ist aber das, welches sich selbst und das Verbundene, soweit möglich, zu einem macht. Das aber vermag ihrer Natur nach am besten die Proportion zu bewirken. 33 tionnée- » entre l’opulence et le dénuement ( Lois, 728 e ) […] 3° que le sens constant est «- forme distinctive- ; figure proportionnée- ; disposition- », dans les conditions d’empoli d’ailleurs les plus variées. […] Au contraire ῥυθμός, d’après les contextes où il est donné, désigne la forme dans l’instant qu’elle est assumée par ce qui est mouvant, mobile, fluide, la forme de ce qui n’a pas consistance organique : il convient au pattern d’un élément fluide, à une lettre arbitrairement modelée, à un péplos qu’on arrange à son gré, à la disposition particulière du caractère ou de l’humeur. C’est la forme improvisée, momentanée, modifiable. […] On peut alors comprendre que ῥυθμός, signifiant littéralement « manière particulière de fluer », ait été le terme le plus propre à décrire des «- dispositions- » ou des «- configurations- » sans fixité ni nécessité naturelle et résultant d’un arrangement toujours sujet à changer.“ 29 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe, Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 8/ 2, Nomoi , S. 243 875d. 30 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1996, S. 41. 31 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1996, S. 137. 32 Ebd., S. 17. 33 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe , Günther Eigler (Hg.), Bd. 7, Timaios , S. 41, 31c. <?page no="186"?> 186 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Durch die Proportion (logos, analogos) „ ergeben sich alle Dinge als Einheit .“ 34 Der Demiurgos orientiert sich bei seiner Arbeit am genauesten aller Maße, am Guten selbst („Das Gute ist das genaueste Maß.“ 35 ). Aber, mein Freund, ein Maß solcher Dinge, das auch nur im geringsten hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, kann unter keiner Bedingung ‚angemessen‘ sein; denn ein unvollständiges Maß für etwas ist überhaupt kein Maß dafür. 36 Ausführlicher wird dieser Begriff des Maßes im Philebos gefasst, wenn Platon sagt: Wir können also das Gute nicht in einer einzigen Idee, sondern nur mit dreien zusammenfassen, der Schönheit, der Proportion und der Wahrheit, und sagen, dass wir dieses wie ein Eines (οἷον ἕν) am richtigsten als Ursache für das in der Mischung Enthaltene anerkennen, und dass die Mischung aufgrund dessen, insofern es gut ist (ως ἀγαθόν), eine solche wird. 37 Das Gute zeigt sich also im Schönen, in der Proportion und in der Wahrheit. Es ist demnach die Proportion, welche als sinnlich erfahrbares Maßverhältnis am Schönen die Wahrheit aufscheinen lässt. Das Maß vermittelt am sinnlich Erfassbaren das Gute. Makro- und Mikrokosmos werden vermittelst des Maßes - der Proportion, mithin der Zahl als deren Ausdruck - zusammengebunden. In der Verhältnismäßigkeit der Bindung besteht das immer wieder zu erstrebende Gute - handele es sich dabei um das ethisch, ontologisch oder epistemologisch Gute. Das rechte Maß in der möglichst besten Stadt Wie der Demiurgos bei der Verfertigung des Kosmos, so wendet der Athener in den Nomoi die Gesetze für die Erschaffung einer möglichst besten Stadt an. Er hat seinen Blick auf das Gute der kosmischen Ordnung gerichtet. Allein, er muss mit einem Material arbeiten, dem nicht nur Gutes eignet: dem Menschen. Dieser muss in allen seinen Teilen und unterschiedlichen Stadien bedacht werden, wie z. B. sozial als Freund oder Ehepartner oder biologisch-biographisch in Kindheit, Jugend, Alter etc. Der Staatenbauer kann dabei, wie der Handwerker auf sein Werkzeug, auf das, was das Ganze des Kosmos zusammenhält und bindet, auf 34 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), S. 19. 35 Ebd., S. 11. 36 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe , Günther Eigler (Hg.), Bd. 4, Politeia , S. 529, 504c 1-- 3. 37 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), S. 12, Philebos, 65a. <?page no="187"?> Metrum und Rhythmus 187 Proportion und Maß bauen. Der Erbauer der Stadt vermittelt wie der Erbauer der Welt die verschiedenen Teile dieser durch das Maß, durch Proportion und Zahl, um die richtigen Verhältnisse von Bindung und Lösung hervorzubringen. Im Gespräch über die richtigen Verhältnisse innerhalb der Einzelseele - wie deren Verhältnis zur Stadt allgemein - spiele die Erziehung zur Arete, der besten der möglichen seelischen Haltungen bei den Symposien - ein Experimentierfeld für die Möglichkeit des rechten Maßes in den dabei zu vollziehenden Handlungen und Haltungen - eine enorme Rolle. Und unter den dafür in Anschlag genommenen gesellschaftlichen Binde- und Lösemitteln befindet sich auch der Wein, der die Alten wieder zu Jungen mache und unter Anleitung göttlicher - oder in derer Vertretung kenntnisreicher - Führung das rechte Verhalten bei den Symposien und dionysischen Umzügen erreichbar werden lasse, das rechte Maß des Handelns im Verhältnis zu sich selbst wie zur Stadt ermögliche. Im maßvollen wie angemessenen Verhalten bei den Symposien würden die Bürger in die Lage versetzt, die Tugend für sich zu gewinnen, den Wein zu genießen, sich freier zu bewegen, sich beherrschen zu lassen und dabei dennoch nicht die Herrschaft über sich zu verlieren. Einheit und Dignität der Person würden so bewahrt: Im Fluss der Bewegungen, im Strudel des Tuns als Tanz zu herrschen und sich beherrschen zu lassen 38 . Damit bleibe der ontologische Zusammenhang zwischen Seele, Staat und Kosmos gewahrt, ihre Einheit garantiert. Weisen des Eins-seins. Metrum und Rhythmus „Platon setzt den Seinsgrund mit Parmenides als Eins an.“ 39 Das Eins ist dabei von Beginn an metron 40 . Doch im Unterschied zu Parmenides suche Platon die „Einheit des Seinsgrundes in der Vielheit des einzelnen Seienden auf.“ 41 Dabei verwandele sich der absolute Begriff des Einen zu einem „relativen, bedingten“ 42 . Es fänden sich „Proportion, Harmonie, Ordnung und Sympathie […] auch 38 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe, Günther Eigler (Hg.), Bd. 8/ 1, Nomoi , S. 57, 643e ff.: „Die jetztige Ausdrucksweise rührt nämlich von Leuten her, die anscheinend nicht dies letztere unter Erziehung verstehen, sondern die Erziehung zur Tugend vom Knabenalter an, welche die Lust und Liebe erweckt, ein vollkommener Staatsbürger zu werden, der es versteht, der Gerechtigkeit gemäß zu herrschen und sich beherrschen zu lassen. D i e s e Art der Bildung sondert unsere Rede heraus, wie mir scheint, und nur diese möchte sie jetzt als Erziehung bezeichnen […].“ 39 Krämer, Hans, Arete bei Platon und Aristoteles , Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 1959, S. 535. 40 Ebd., S. 547. 41 Ebd., S. 536. 42 Ebd. <?page no="188"?> 188 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Mitte und Maß […] als Weisen des Eins-seins […] 43 “ wieder. Und wenn es stimme, dass die Begriffe hen und metron „ins Zentrum der platonischen Philosophie führen“ 44 , da sie in jedem Fall die Vielheit der seienden Dinge zum Transzendenten hen zurückbänden, so müsse der rhythmes als Gestaltung der im Fluss seienden Dinge notwendig ebenfalls seine Teilhabe am hen offenbaren können. In der Zweiheit des Schnellen und Langsamen stifte das Metrum Ordnung und Einheit in der Vielheit 45 . Und um der Ordnung der Bewegung willen bindet Platon den Rhythmus an das Metrum 46 zurück. Das Metrum ( métron ) ist platonisch das Antlitz des Einen ( hén ) in der Vielfalt der Gestalten ( rythmós ) im Fluss des Seins. Das Metrum ist das Echo des Einen in der Vielfalt der Gestalten - des Rhythmus-- im Fluss der Sprache. Es ist die Fessel, die der akustischen Materie Sprache - der musiké - ihre ontologische Dignität, epistemologische Kraft und ethische Autorität garantiert. Was bedeutet dies für den Begriff des Rhythmus? Wie das Eine - hen -- bei seiner Einlassung mit dem Vielen seinen absoluten Charakter ändert und sich zum bedingten und relativen Begriff wandelt, indem es das Eine in seinen Gestalten des Maßes, Ausgleichs, Verhältnisses und der Mitte aus sich entlässt, so wäre es sicherlich verfehlt, dem platonischen Metrum einen absoluten, einen eindeutigen Charakter verleihen zu wollen. Auch das platonische Metrum nehme als Maßstab ( métron ) des Begrenzten und Maßhaften ( métrion ) 47 entsprechend an den begrenzten Dingen selbst Maß. Stehe es doch in einem Verhältnis zu dem zu messen Seienden - also auch der Rede. Allein, je kunstvoller der Vortrag der Rede, desto deutlicher rückt das Metrum ins Zentrum der Aufmerksamkeit und bindet es an das Eine zurück. Das Maß der Quantitätsrhythmik wird dann strenger ausgelegt und die Unterscheidung zwischen Hebung (Arsis) und Senkung (Thesis) formalisiert, dem rechnenden Verstand unterworfen 48 . Das vielgestaltige, nur spärlich formalisierte alltägliche Sprechen steht dann notwendig zurück. Rückt das Metrum ins Zentrum der Rede, gewinnt das Allgemeine, das Ideelle an Platz und das Individuelle tritt in den Hintergrund. Es gelingt Platon, das Eine mit dem Vielen zu vermitteln, makromeso- und mikrokosmisches Geschehen mit Hilfe des Maßes denkbar, einsehbar und damit 43 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe, S. 536. 44 Ebd., S. 547. 45 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), S. 12. 46 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe, Günther Eigler (Hg.), Bd. 3, Gastmahl , S. 257 ff., 186aff., & Bd. 7, Philebos , S. 275, 17df f., & Bd. 8/ 1, S. 113, 665a ff. 47 Krämer, Hans, Arete bei Platon und Aristoteles , Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 1959, S. 548 48 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, Hans Schneider, Tutzingen, 1977, S. 12, 54, 55, 74, 75. <?page no="189"?> Metrum und Rhythmus 189 wirklich werden zu lassen, weil er das absolute Maß des hén bei der Gestaltung des Vielen im Demokritischen rhysmós über das métron zusammenbindet. Er vermeidet so die atomistischen Grundannahmen des Vollen und des Leeren 49 und gewinnt an Weltverständnis. Vermittelst des Metrums wird die Sprache näher an die Idealität des hén herangerückt, Vielfalt und Unvermitteltheit treten in den Hintergrund. Vom Problem des Rhythmus (Hönigswald) Rhythmus als Einheit von Bewegung und Beharrung Nachdem wir den Begriff des Rhythmus in der Welt der onta und in der durch die Quantitätsrhythmik in ontologische Fesseln geschlagenen, altgriechischen Sprache aufgesucht haben, wenden wir uns nun seiner Betrachtung in der Psyche des modernen Subjekts zu. Lebendige Wesen besitzen eine Psyche. Neben Ludwig Klage ist nach Henri Maldiney Richard Hönigswald der einzige Philosoph 50 , der sich in seiner Schrift Vom Problem des Rhythmus-- Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie 51 wesentlich mit dem Rhythmus auseinandergesetzt hat. Wie sich aus dem Titel erkennen lässt, eröffnet sich für Hönigswald durch die Betrachtung des Begriffs des Rhythmus die Wissenschaft der Psychologie selbst. Am Ende seiner Betrachtung schreibt er: In allem dem aber wird doch schließlich immer nur die e i n e Frage nach dem eigentümlichen Sinn der Konkretheit des Psychischen abgewandelt. Sie fällt aus naheliegenden Gründen zusammen mit derjenigen nach der Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften. 52 Die Frage nach dem Ort der Psychologie im Wissenschaftssystem wird den ontologischen Status ihrer Gegenstände beantworten. Hönigswald präzisiert sein Verständnis der Psychologie in diesem System der Wissenschaft wiefolgt: Philosophie ist, das Wort im weitesten und strengst definierten Sinn verstanden, Theorie des Gegenstandes, Psychologie ein Moment dieser Theorie, die Analyse des 49 „Die antiken Atomisten-: Leukipp und Demokrit“, in-: Die Vorsokratiker, (Ausw./ Übers.), Gemelli Marciano, M. Laura, Bd. I - III , Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2007, Bd.: III, S. 321. 50 Maldiney, Henri, Regard, Parole, Espace, Éditions l’Age d’Homme. Collection „Amers“ dirigée par J.-P. Charcosset, H. Maldiney et Bernard Rordorf. Lausanne, 1973, S. 159. 51 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , Verlag und Druck von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin, 1926. 52 Ebd., S. 89. <?page no="190"?> 190 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Rhythmuserlebnisses aber ein besonders ausgezeichneter Anlaß, sich des Begriffs der Psychologie zu versichern. 53 Die Gegenstandskonzeption im Psychischen spielt sich für Hönigswald im Erleben des Subjekts ab. Deshalb stellt sich für ihn in der Analyse des Rhythmuserlebnisses das „Gefüge des Erlebens selbst dar.“ 54 Zu diesem gehöre die Intentionalität „Ein Rhythmus aber muss, um überhaupt zu ‚sein‘, ‚gemeint‘ sein.“ 55 Er müsse aber auch produziert sein, solle er denn erlebt werden können: So heißt denn Erleben überhaupt so viel wie ‚Produzieren‘; sinnliches Erleben, lokalisierend-überschauendes Empfinden, so viel wie ‚Gestalten‘. 56 Mit dem Erlebnis einer Gestalt gehe ihre Überschaubarkeit einher, welche erst den Gegenstand als Ganzen in Blick bringe, und somit der Begriff der Präsenz in Erscheinung tritt: Das Erlebnis der Gestalt schließt als Erlebnis der Ganzheit den eigentümlichen Zeitwert in sich, der oben als „Überschaubarkeit“ der Gestalt bezeichnet wurde. […] Jene erlebte Zeit nun als Erlebnis des Zeitlichen, diese Einheit von Bewegung und Beharrung im Erleben der Zeit, heißt als Bedingung möglichen Erlebens überhaupt „P-r-ä-s-e-n-z“. 57 Womit als ein vorläufiges Resümee des Rhythmusbegriffs nach Hönigswald dieser als Einheit von Bewegung und Beharrung verstanden werden kann. Bewegung und Beharrung aber gliedern Zeit, und das Spezifische des Rhythmuserlebnisses nach Hönigswald besteht in: Das Erlebnis der gegliederten Zeit fällt mit dem gliedernden Erleben der Zeit zusammen. Das nun ist der Zusammenhang, der sich […] im Rhythmuserlebnis darbietet. 58 Der ontologische Charakter des Rhythmus wird nach Hönigswald augenfällig, vergleicht man diesen mit dem des Begriffs: „Der Begriff ist im Sinne der Wahrheit, der Rhythmus im Sinne des Erlebtseins gegenständlich.“ 59 53 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 89. 54 Ebd., S. 59. 55 Ebd., S. 53. 56 Ebd., S. 36. 57 Ebd., S. 38. 58 Ebd., S. 5. 59 Ebd., S. 15. <?page no="191"?> Metrum und Rhythmus 191 Dem Rhythmus kommt ein sinnbezogener Äußerungswert zu Die psychologische Gegenständlichkeit als Tatsache verweise auf das Konzept der Monadizität , aufgrund derer ihr erst Wirklichkeit und Bestimmtheit gegeben sei: Gerade die analytische Behandlung des Problems hatte gelehrt, daß das im Rhythmuserlebnis vorliegende Beziehungsgefüge seine psychologische Tatsächlichkeit erst in der Besonderung des Erlebens, daß es erst in seiner ‚Monadizität‘ wirkliche Bestimmtheit gewinnt: ‚jemand‘ muss den Rhythmus ‚jetzt‘ und ‚hier‘ so und nicht anders erleben, beziehungsweise erlebt haben und wissen, erlebt zu haben. 60 Die Monas verweist auf Leibniz. Seine Monaden seien „vorstellende Wesen“ 61 und kommunizierten vermittelst des Austausches ihrer Vorstellungen im „Medium des Verstehens“ 62 und des Meinens gemäß „der Norm und dem Zeitwert des Psychischen“ 63 . Jeder dieser Jemande stelle ein biologisches System dar, welches die Referenz auf ein mein und ein dein unterscheide. Im Austausch der Vorstellungen besitze jeder der Jemande seine eigene Zeitlichkeit in der Entfaltung der Mitteilungen als Reflexe der Vorstellungen. Entfaltung aber bedeute notwendig Zeit, und Entfaltung eines Gegenstandes in der Zeit notwendig die Einheit von Bewegung und Beharrung , also der rhythmischen Gestaltung einschließlich aller Idiosynkrasien jeder einzelnen Monade, der Individualität ihres Verstehens- und Ausdrucksvermögens, welches sich im Begriff der optimalen Zeit niederschlage. Der Rhythmus bedeutet eine notwendige, weil in dem Begriff der Zeit selbst gelegene Art der Bestimmung solcher Einzigartigkeit. Denn er bedeutet „P-r-o-d-u-k-t-i-o-n“. […] Es ließe sich zeigen, wie der Rhythmus in allen seinen möglichen Daseinsformen und Schattierungen ausdrucksbezogen sein muss; […] Die optimale Zeit ist die individuelle Zeitform des Verstehens und Gliederns; sie ist derjenige Zeitwert, dem der Erlebende in einem gegebenen Fall des verstehenden Überschauens allen anderen möglichen Zeitwerten gegenüber den Vorzug gibt; der individuelle Zeitwert, auf den er jeweils eingestellt und „abgestimmt“, der „seinem“ Erleben als solchem angemessen ist. Er bedeutet die Zeitform, unter deren Bedingung er im besonderen Fall zu sich „ich“ sagt, im Hinblick auf welche er sich im gegebenen Fall selbst „meint“, kurz gemäß deren er jeweils, d. h. angesichts bestimmter Erlebnisse, um sich „weiß“. 64 60 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 59. 61 Ebd., S. 60. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 78. <?page no="192"?> 192 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Das Optimale spiegelt die Einzigartigkeit der Psyche und sei „ebenso einziger Art, wie das ‚Ich‘ selbst“ 65 . Dementsprechend bleibe keine Äußerung davon unberührt: Der Rhythmus, so sagen wir kurz, ist die Form, in der sich Äußerungen gliedern. Er ist geradezu der Gliederungswert des sich in Äußerungen offenbarenden Sinns selbst. Und so kommt dem Rhythmus sinnbezogener Äußerungswert zu. 66 Das rhythmische Geschehen in actu behauptet die Gegenwart des Sinnes Sinn jedoch sei immer ein gestaltetes Ganzes, und wie das Kunstwerk, so sei auch die sinnvolle Äußerung „eine gestaltete Einheit; sie ist ‚Ganzheit‘“ 67 . Denn alle Rede sei mit ihm vergleichbar. Das Frühere und Spätere der Rede, das, was im Gedächtnis beharrt, das, was vorausgenommen werden kann, und das, was im Jetzt die Verbindung ermöglicht, stifte ein Verhältnis der Teile, die wie bei einer Melodie mehr sei als die einfache Reihe von Abfolgen, nämlich die Entfaltung eines Ganzen, die Entfaltung „wechselbezogener Erlebnisse“ 68 als geschlossener Einheit. Und so heiße die Bestimmung des Rhythmuserlebnisses: Daher ist das Rhythmuserlebnis das Erlebnis m-e-h-r-e-r-e-r aufeinander folgender und in dieser ihrer Aufeinanderfolge aufeinander bezogener, mit Bezug aufeinander gegebener und durch diesen Bezug auf bezeichnende Weise v-e-r-e-i-n-h-e-i-t-l-i-c-h-t-e-r Zeitstrecken. 69 Aus der ontologischen Perspektive betrachtet waren rhysmos und metron Gestalten des Maßes und Garanten für die intelligible Entfaltung des hen in die Vielfalt der Welt wie der Rückbindung des Vielen an es als oberstes und absolutes Maß. Das Maß selbst in seinen Weisen des Eins-Seins - als Proportion, Harmonie, Ordnung und Sympathie … auch Mitte und Maß - erhielt dabei die vermittelnde Rolle. Aus der Perspektive der Psychologie besteht der Rhythmus nach Hönigswald im Erlebnis aufeinander bezogener und durch diesen Bezug zu einer charakteristisch vereinheitlichten Zeitstrecke zusammengezogenen Ganzen. Bezogenheit und dadurch Einheitlichkeit erlangende aufeinander folgende Zeitstrecken 65 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 84. 66 Ebd., S. 76. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 4. <?page no="193"?> Metrum und Rhythmus 193 lassen in seiner Sprache das schönste aller Bänder 70 , die platonische Idee der Proportion erkennen. Durch die Proportion - „logos“ oder analogia“ 71 - ergeben sich die Dinge als eine Einheit 72 . Überschaubarkeit im Sinne des Erlebtseins aufgrund der Produktion eines jeweiligen Jemanden , dessen Intention , ist die Bedingung der Möglichkeit für die Präsenz des psychischen Gegenstandes: Rhythmus. Seine Gliederungsform heißt Einheit von Bewegung und Beharrung . Diese Gliederungsform als Einheit birgt desgleichen auch die Erklärung der Sinnhaftigkeit einer Äußerung. Einheit von Bewegung und Beharrung mit ihren Spezifika des Erlebnisses, der Überschaubarkeit und Präsenz spiegeln in den psychologischen Termini Hönigwalds, was am Anfang des Kapitels ohne weitere Spezifizierung des ontologischen Status, als die Bestimmung des Phänomens Rhythmus dargestellt wurde: Einsatz, Ende, Wechsel und Wiederholung sowie eine gewisse Dauer und die innere Vielfalt als das Verhältnis der Teile zueinander im Sinne eines Ganzen. Einsatz, Ende, Wechsel und Wiederholung können als Bewegung, eine gewisse Dauer als Beharrung und die innere Vielfalt als Einheit gelesen werden. Allerdings stimmt das, was zu Beginn des Kapitels mit wirkender Wirklichkeit bezeichnet wurde, nicht vollständig mit der Hönigwaldschen Vorstellung von Zeit überein. Wähnt man sich in seiner Schrift den ontologischen Betrachtungen der Atomisten wohl weit entfernt, so täuscht der Eindruck. Schon in den ersten Sätzen trifft man auf einen uralten wissenschaftlichen Grundsatz: die Annahme eines leeren Raumes 73 , in dem die Idee des Rhythmus auf eine imaginäre Strecke aufgespannt, in ein wissenschaftliches Gehäuse transportiert, zu einem Objekt des Raumes mutiert. Das Rhythmuserlebnis stellt sich, wenigstens fürs erste, als ein durchaus anderes dar, wie das einfache Erlebnis einer Zeit-s-t-r-e-c-k-e [eigene Hervorhebung]. Wohl aber scheint es an die Voraussetzung des Erlebens einer Zeit-s-t-r-e-c-k-e [sic] gebunden. Das Rhythmuserlebnis, so darf man sagen, entfaltet sich an diesem Erleben. Oder genauer: 70 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe , Günther Eigler (Hg.), Bd. 7, Timaios , S. 41, 31c. 71 Langenscheidts Taschenwörterbuch Altgriechisch , (Hg.) Prof. Dr. Hermann Menge, Karl- Heinz Schäfer & Dr. Bernhard Zimmermann, Langenscheidt KG, Berlin und München, 1990. 72 Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon , Rudolph, Enno (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1996, S. 19. 73 „Die antiken Atomisten-: Leukipp und Demokrit“, in-: Die Vorsokratiker, (Ausw./ Übers.), Gemelli Marciano, M. Laura, Bd. I - III , Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2007, Bd.: III, S. 321. <?page no="194"?> 194 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Die Zeit- s-t-r- e- c-k- e [sic] gliedert sich im Rhythmus. Das Rhythmuserlebnis ist das Erlebnis der Gliederung einer Zeit-s-t-r-e-c-k-e [sic.]. 74 Mit dieser Operation verkehrt sich die Zeiterfahrung des Rhythmuserlebnisses zumindest bis zu einem gewissen Grade: das immer jeweilige Jetzt mit seinem erfüllten Bezug zur Zukunft 75 als Brücke in das noch immer Wirkende Vergangene - das gegen das Verklingen erklingende und verhallende Ansprechen des Sprachstromes - verliert den Charakter seiner Gegenwärtigkeit und damit auch seine Individualität, den Moment des Rhythmischen selbst. Wenn Henri Maldiney recht hat, und es stimmt, dass: E. Benveniste montre et démontre que, malgré le sens du radical ῥυ (= couler) sur lequel il a été formé, le mot ῥυθμός ne désigne pas un phénomène d’écoulement, de flux, mais la configuration assumée à chaque instant déterminé par un «mouvant» 76 , kann der Überschaubarkeitscharakter des Rhythmischen nur im Beharren bestehen, einer Art von Insistenz, einer Bewegung des Verbleibens, nicht jedoch im Stillgestellten. Stillstand und Anhalt, Verdinglichung also kann es immer nur in der Rückschau geben, dann, wenn die Artikulation eines Sinnes zu ihrem Ende gekommen angehalten wurde. Das rhythmische Geschehen in actu behauptet die Gegenwart des Sinnes in der sich entwickelnden Rede. Solange Wechsel und Wiederholung sich verfolgen, entfaltet sich das Sinngeschehen: Le rythme est fait de paradigmes, et il est la syntagmatisation de ces paradigmes. C’est a dire que l’opposition du continu au discontinu s’y neutralise. 77 74 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , 1926, S. 4. 75 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 236: „Eine reale Potenz ist somit dann gegeben, wenn die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft der Erfüllung des Bezugs zum [237] Modus der Gegenwart vorweg ist oder sie bedingt. […] In seinen Potenzen ist das Sein des lebendigen Körpers ihm selber vorweg. Reale Potenz ist ein vermitteltes Sein, welches nicht mehr seine Fundierung in sich als dem Gegenwärtigen, sondern als dem Zukünftigen hat. Bedingt die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Gegenwart, so ist eine reale Möglichkeit gegeben: unter dieser Bedingung einer Zukunftsfundierung steht potentielles Sein.“ Die Beschreibung der realen Potenz oder Seiende Möglichkeit (ebd., S. 236) des lebendigen Körpers ließe sich sozusagen eins zu eins auch auf die Erfahrung des Rhythmuserlebnisses übertragen, was von dessen Verwurzelung, der Wirklichkeit dieses Erlebnisses im lebendigen Körper selbst Zeugnis ablegt. 76 Maldiney, Henri, Regard, Parole, Espace. Éditions l’Age d’Homme. Collection „Amers“ dirigée par J.-P. Charcosset, H. Maldiney et Bernard Rordorf. Lausanne, 1973, S. 157. Siehe auch Fußnote-: 791. 77 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , Éditions Verdier, 11220 Lagrasse, 1982, S. 226. <?page no="195"?> Metrum und Rhythmus 195 Der Rhythmus erscheint innerhalb eines Kontinuums als ein Umschlagen 78 , sei es durch die Wechsel oder Wiederholungen von sinnlichen Phänomenen wie Intensität, Länge, Tonhöhe, Tonfarbe etc. oder ideell, hier leicht, dort schwer, hier lang, dort kurz, hier hoch, dort tief, hier offen, dort geschlossen etc. Endet die Abfolge der durch Umschlag gekennzeichneten sprachlichen Elemente, so endet auch das Sinngeschehen. Wenn Rhythmus die Gegenwart des Sinngeschehens bedeutet, so verneigt sich die Kadenz vor dem Vergangenen und stellt das Ergebnis der Gemeinschaft der Hörer und Sprecher anheim. Die Zeiterfahrung des immer jeweiligen Jetzt als Augenblick des Handelns, die Gegenwart in der Hand des Menschen sei ihm als Wesen der exzentrischen Positionalität gegeben, denn er besitzt ja einen erfüllten Bezug zum Modus der Zukunft. In exzentrischer Position zu sich selbst steht er in Selbststellung zu sich und hat sich somit selbst in der Gegenwart. Das Abstraktum Zeit verwandelt sich für ihn in den Augenblick 79 . Damit ist dem Menschen das Beharren auf einer Bewegung sich in der Artikulation der verhallenden Rede entfaltender Vielfalt gegeben. Er kann sich, sich selbst vermitteln, in seinem Sich-selbst-vorweg-Sein handelnd in der Gegenwart verharren, die Bewegung des Verbleibens im Augenblick ausführen, seine Rede artikulierend entfalten. In seinem sich selbst Vorwegsein gewinnt das Ich der exzentrischen Positionalität seinen Augenblick, seine Gegenwart zur Handlung. Im Fluss der Rede artikuliert sich à chaque instant déterminé ihre rhythmische Gestaltung. Im 78 Hier scheint mir besonders die Betrachtung des Begriffs der Betonung interessant, die Hönigswald in Verbindung mit der Frage nach dem Zusammenhangs von Gliederung und Rhythmus stellt: Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , auf S. 50 sagt er: „‚Betonung‘ v e r a n l a ß t Rhythmuserlebnisse, sie ist ‚rhythmogen‘, weil und sofern sie Ausdruck eines Zeiterlebenisses ist. Das aber ist sie als Moment für die Gliederung der Zeit selbst. Denn alles, was diese Bedinung erfüllt, ist rhythmogen. Auch Dehnungen können es sein, auch das Auftreten neuer Modalbestimmtheiten in der Erlebniseinheit […].“ Zudem schließt er auf der Seite 52: „Als Gestalt ist der Rhythmus ein ‚Ganzes‘, als Ganzes aber entbehrt er, trotz seiner zeitlichen Erstreckung, extensiver Maßbestimmungen. Er hat als Rhythmus streng genommen weder Anfang noch Ende: Wie wesentlich für ihn auch der Bezug zur Zeit, die ‚über‘ ihn verstreicht, sein mag - die Uhr liefert der Durchdringung seines i n n e r e n Gefüges kein Kriterium.“ 79 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 240: „Das »Ihm selbst Vorweg« und das lebendige Sein besagen ein und dasselbe. Also ist lebendiges Sein ebensosehr ihm selbst nach oder Erfüllung seiner selbst. Dieser Wesenszug sichert dem lebendigen Ding, was keinem leblosen Ding gegeben ist, Gegenwart . In Rückbindung von der Zukunft her steht der lebendige Körper, ihm selber vorweg d. h. Zweck, seinem dauernden Übergehen vom Noch nicht ins Nicht mehr entgegen oder beharrt. Das abstrakte Jetzt zwischen Zukunft und Vergangenheit eignet sich nicht mehr [241] zum Schema seiner Existenz, sondern nur die konkrete Gegenwart, deren Differential der Augenblick ist, Einheit von Zukunft und Vergangenheit.“ <?page no="196"?> 196 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Sprechen, einem der Zukunft entgegen, der Vergangenheit bedenkenden artikulierenden Atmen, entfaltet sich der Satz. Mit ihm vermittelt der Mensch sich der Welt wie auch sich selbst: Da das intellctuelle Streben nicht bloss den Verstand beschäftigt, sondern den ganzen Menschen anregt, so wird auch dies vorzugsweise durch den Laut der Stimme befördert. Denn sie geht, als lebendiger Klang, wie das athmende Daseyn selbst, aus der Brust hervor, begleitet, auch ohne Sprache, Schmerz und Freude, Abscheu und Begierde, und haucht also das Leben, aus dem sie hervorströmt, in den Sinn, der sie aufnimmt, so wie auch die Sprache selbst immer zugleich mit dem dargestellten Object die dadurch hervorgebrachte Empfindung wiedergiebt und in immer wiederholten Acten die Welt mit dem Menschen oder, anders ausgedrückt, seine Selbstthätigkeit mit seiner Empfänglichkeit in sich zusammenknüpft. 80 Die ontologische Verankerung des Rhythmus Die ontologische Verankerung des Rhythmus besteht in seiner Gemeinschaft mit dem lebendigen Sein Mensch 81 . Im lebendigen Organismus selbst liegt die Anlage für die Initialerfahrung rhythmischer Abläufe 82 wie deren Funktion als elementarste Form darstellenden Verhaltens 83 beschlossen. Der sich in Selbst- 80 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 2003, S. 322. 81 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , Éditions Verdier, 11220 Lagrasse, 1982, S. 651: „Le rythme est commun au langage et au corps. […] Le rythme a été un trait d’union, au lieu d’une dialectique, entre l’individu et la collection humaine, pour une certaine sociologisation. […] Le rythme, gardien du corps dans le langage, […] « entre le 35 ème et le 20 ème millénaire l’homme avait sûrement déjà maîtrisé la figuration du rythme » […] Le rythme est peut-être le lien fondamental [652] entre l’ordre de l’histoire et celui du cosmique sacré. […] Le rythme est en état de métaphore par rapport à ce que Dumézil appelle le « cadre ritual du temps» (ibid.) . C’est pourquoi le temps du poème est un temps favorable. Il accomplit la métaphore, l’ordre. […] C’est la poésie effort pour reconnaître le rythme des choses, dans le langage.“ 82 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 20: „In diesem Sinne nennen wir «instinktiv» ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muß erstens sinngemäß sein, d. h. so sein, daß es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger (d. h. eigendienlich oder fremddienlich) teleoklin ist. Und es muß zweitens nach einem festen , unveränderlichen Rhythmus ablaufen. Auf den festen Rhythmus kommt es an, nicht etwa auf die Organe, die zu diesem Verhalten benutzt werden […].“ 83 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , (Bonn 1956), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 167: „Die elementarste Form des darstellenden Ver- <?page no="197"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 197 stellung befindliche Organismus kann aus den unmittelbaren Gliederkörperleiberfahrungen rhythmisches Erleben direkt kennenlernen. Leib- oder Körperlosigkeit verunmöglichen die Erfahrung des Rhythmus, denn sie kennen weder Bewegung noch Bewegung sich entfaltender Vielfalt und also auch keine artikulierende Entfaltung des Tanzes oder der Rede. Die Bewegung ist die Bedingung der Möglichkeit für die Versammlung des Seins Schon die Bewegung allein teilt die endlose Gleichförmigkeit des Seins in ein Vorher und Nachher, ein Davor und Dahinter, richtet ihren Träger im Sein ein und aus. Damit gibt sie dem Sein selbst eine Richtung. Sie versammelt das Sein in ein Dieses und ein Jenes, ein Vorher und Nachher. Die Versammlung des Seins im Augenblick der Sonderung durch die Bewegung des lebendigen Organismus bildet es dabei zur Qualität heran, stattet es mithin mit Sinn aus. Durch die lebendige Bewegung also, die ob ihres Tuns das Sein zugleich trennt und versammelt, wird seine endlose Bedeutungslosigkeit aufgebrochen. Die Bewegung ist die Bedingung der Möglichkeit für die Versammlung des Seins. Sie ist ein legein und krinein zugleich. Mit jeder Bewegung bewerkstelligt der Organismus eine Veränderung seiner Position der Welt gegenüber. Er trifft Unterscheidungen vermittels Bewegung und Haltung. Er vollzieht eine Stellungnahme gegenüber der Welt. Er wird ausdrücklich. In seiner Bewegung drückt der lebendige Organismus seine Stellung zur Welt aus. Im Ausdrücklich-Werden erscheinen Maßnehmen und Maßnahmen des Organismus als Bewegung und Haltung. Deshalb ist der Körperleib ein Ort der Versammlung, der Einheit und der Vielfalt zugleich. Der menschliche Körperleib ist der Versammlungsort der Erfahrung der gegliederten Zeit, auch und mit den Unterschieden seiner individuellen Anatomie und Körpertaktung, doch grundsätzlich gleichem Körperbau. Mit ihm ist der Garant für die Möglichkeit einer gemeinsamen Erfahrungsgrundlage für alle gegeben. Das Erlebnis der gegliederten Zeit fällt mit dem gliedernden Erleben der Zeit zusammen. Das nun ist der Zusammenhang, der sich […] im Rhythmuserlebnis darbietet. 84 haltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus: in der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz ahmt ein Handeln sich selbst nach oder es stellt sich in sich selbst dar, und eine Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, erhält damit Symbolfähigkeit . Sie ist weder gewohnheitsmäßig, noch eine glatte, im Sachzweck aufgehende Aktion, noch unmittelbarer Affektausdruck.“ 84 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 5. <?page no="198"?> 198 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Teilen und Versammeln - eine Art der Gliederung - des Seins vermittelst Bewegung ist die lebendige Form des Rhythmischen und die Quelle seiner Ausdrücklichkeit. Es ist die gemeinsame Quelle von Tanzen, Sagen und Singen 85 . Die der Welt entsprechenden Bewegungen des in einem Körperleib sich findenden Lebewesens Mensch ist der Ursprungsort der Erfahrung des Rhythmus und die Quelle seiner Ausdrucksfähigkeit. Bewegung ist die Bedingung der Möglichkeit des Handelns, Tanzens, Sagens und Singens. Allen diesen dem Menschen eigenen Tätigkeiten liegt die Bewegung seines Gliederkörperleibes zugrunde. Er ist ihr ontologischer Anker im Sein. Denken abstrahiert von der lebendigen Form des Rhythmus, behält jedoch dessen teilend-versammelnden Charakter bei und artikuliert ihn als Begriff - im Sinne der Frage nach der Wahrheit 86 . Handeln artikuliert die gegliederte Bewegung zu einem Zweck. Der Tanz artikuliert die Glieder des menschlichen Körpers zur Figur. Die Sprache artikuliert den Atem zum Laut 87 und das Singen artikuliert den Laut und zum Klang. Beim Singen wird die Einwirkung der Artikulation, d. h. der „Lage und Bewegung [der] … Sprachwerkzeuge“ 88 , minimiert, so dass der Atem für die Stimmgabe, die Verlautung zwischen der Artikulation der Konsonanten, die bei den Bindungen zwischen den Vokalen an Gewicht verlieren, frei wird. Der Atem 85 Harding, D. W., Words into rhythm. English speech rhythm in verse and prose, Cambridge University Press, Cambridge, 1976, S. 153: „The literary significance of rhythm and rhythms can best be understood by regarding language movement (created by muscles at work in speech or imagined in silent reading) as comparable to such systems of bodily movement as walking, gesture, and patterns of changing posture. Like these it can be described in terms of broad characteristics - flowing, jerky, patterned, disjointed, and so on - which give rise to similarly broad aesthetic appraisals, the total effect being in some degree pleasing or unpleasing […]“ 86 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 15: „Der Begriff ist im Sinne der Wahrheit, der Rhythmus im Sinne des Erlebtseins gegenständlich.“ 87 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 321: „Wie der Gedanke das ganze Gemüth ergreift, so besitzt der Laut vorzugsweise eine eindringende, alle Nerven erschütternde Kraft. Dies ihn von allen übrigen sinnlichen Eindrücken Unterscheidende beruht sichtbar darauf, dass das Ohr (was bei den übrigen Sinnen nicht immer oder anders der Fall ist) den Eindruck einer Bewegung, ja ein dem der Stimme entschallenden Laut einer wirklichen Handlung empfängt, und diese Handlung hier aus dem Innern eines lebenden Geschöpfs, im articulirten Laut eines denkenden, im unarticulirten eines empfindenden, hervorgeht. Wie das Denken in seinen menschlichsten Beziehungen eine Sehnsucht aus dem Dunkel nach dem Licht, aus der Beschränkung nach der Unendlichkeit ist, so strömt der Laut aus der Tiefe der Brust nach aussen und findet einen ihm wundervoll angemessenen, vermittelnden Stoff in der Luft, dem feinsten und am leichtesten bewegbaren aller Elemente, dessen scheinbare Unkörperlichkeit dem Geiste auch sinnlich entspricht.“ 88 Ebd., S. 331 ff. <?page no="199"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 199 verleiht der Artikulation die Stimme, ihre Phone . Sie verkörpert beim Singen und Sprechen den Körperleib. Die Stimme ist der Fingerabdruck des Körperleibes im Klang von Sprache und Lied 89 . Dichtung hält die Mitte zwischen Sprechen und Singen, indem es auch die klanglichen Elemente des Lautes - wie Intensität, Dauer, Klangfarbe, Tonhöhe, Tempo etc. in die Verfertigung der Rede einbindet 90 . In diesem Sinne ist Dichtung grundsätzlich die Verfertigung der Rede in ihrer jeweiligen individuellen Gestaltung 91 . Die Einbindung der klanglichen Sprachelemente erhält jedoch in der Dichtung als Kunst entscheidende Bedeutung, denn sie ist ihr Element der Form. Denn der Klang ist dem Verlöschen anheim gegeben und führt so das 89 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 294-: „La voix unifie, rassemble le sujet; son âge, son sexe, ses états. C’est un portrait oral. […] Il y a une force de la voix. Et la voix est une force, autant qu’une matière, un milieu. Elle a une efficacité. Comme la significance du rythme et de la prosodie.“ - 90 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 294- : „Comme dans le discours, il y a dans la voix plus de signifiant que de signifié: un débordement de la signication par la signifiance.“ Verbindet man den Reichtum der Klangelemente des Stimmlautes mit der Bestimmung, die Meschonnic dem Rhythmus gibt, läßt sich das enorme Modulationspotenzial der Stimme zwischen Sagen und Singen und darüber hinaus erahnen. Ebd., S. 216-: „ Je défins le rythme dans la langage comme l’organisation des [217] marques par lesquelles les signifiants, linguistiques et extralinguistiques (dans le cas de la communication orale surtout) produisent une sémantique spécifique, distincte du sens lexical, et que j’appelle la signifiance : c’est-à-dire les valeurs, propres à un discours et à un seul. Ces marques peuvent se situer à tous les «niveaux» du langage: accentuelles, prosodiques, lexicales, syntaxiques.“ 91 Analog der Überlegung, dass sich die Spezies allein im Individuum realisiert, kann das Verhältnis des Sprechens des Einzelnen mit der Gemeinschaft mit Humboldts Überlegungen gedeutet werden. Darüber hinaus bildet der Dichter sein Sprechen und sein Werk im Schaffen weiter. Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 310: „Die erste und natürlichste von diesen ist, dass jener Zusammenhang des Einzelnen mit seiner Nation gerade in dem Mittelpunkt ruht, von welchem aus die gesammte geistige Kraft alles Denken, Empfinden und Wollen bestimmt. Denn die Sprache ist mit Allem in ihr, dem Ganzen wie dem Einzelnen verwandt, nichts davon ist oder bleibt ihr je fremd. Sie ist zugleich nicht bloss passiv, Eindrücke empfangend, sondern folgt aus der unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher intellectueller Richtungen Einer bestimmten und modificirt durch innre Selbstthätigkeit jede auf sie geübte äussre Einwirkung. Sie kann aber gegen die Geisteseigenthümlichkeit gar nicht als etwas von ihr äusserlich Geschiedenes angesehen werden und lässt sich daher, wenn es auch auf den ersten Anblick anders erscheint, nicht eigentlich lehren, sondern nur im Gemüthe wecken, man kann ihr nur den Faden hingeben, an dem sie sich von selbst entwickelt. Indem die Sprachen nun also in dem von allem Misverständniss befreiten Sinne des Wortes Schöpfungen der Nationen sind, bleiben sie doch Selbstschöpfungen der Individuen, indem sie sich nur in jedem Einzelnen, in ihm aber nur so erzeugen können, dass jeder das Verständniss aller voraussetzt und alle dieser Erwartung genügen.“ <?page no="200"?> 200 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Moment der Zeit ein. Ohne Klang wäre Dichtung reine Form, wäre Bild oder Mathematik. Der Rhythmus, ein Phänomen zweiter Ordnung Die Gliederung des Seins, seine Teilung und Versammlung eröffnet sich durch eine Bewegung, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie sich dem Sein gegenüber in einer gewissen Abständigkeit befindet. Diese Komplikation im Verhältnis zum Sein, seine Lockerung durch das „Stehen in sich“ 92 , der „Seinsform der Exzentrizität“ 93 des Menschen, gestattet es ihm und verpflichtet ihn zugleich das, was er durch seine „Bewegungsmöglichkeiten“ 94 und „Bewegungsbeherrschung“ 95 teilt und versammelt, gliedert und in Bewegung versetzt, seinerseits wiederum in Bewegung zu versetzen, es zu gestalten, zu begreifen, zu verhandeln, zu bilden und auszudrücken: darzustellen, was ihn bewegt und durch ihn bewegt wird. Er greift damit in die endlose Gleichförmigkeit des Seins ein und überführt sein Bewegtsein in Begriff, Handlung, Sprache, Bild und Tanz. Der Aufbau der Mitwelt hat ihren ontologischen Ort in der bewegten Bewegung des menschlichen Seins, und diese Art zu sein, besitzt ihre Gestaltung, ihren Rhythmus. Ausgehend von der Beschreibung des Rhythmus durch Maldiney 96 lässt sich sagen, dass der Rhythmus eine Art bewegter Bewegung, einer Bewegung zweiter Ordnung ist. Daher auch seine Vielgestaltigkeit, seine Komplexität. L’analyse du rythme est donc la prise en compte du non-linéaire dans le linéaire, de la prosodie constante, - la surscansion qui annule la scansion minimale par excès-: la rythmique du discours, non plus la métrique […] La rythmique est cumulative, sérielle, non linéaire. 97 Die Beobachtungen Henri Meschonnics bestätigen diese Feststellung des Rhythmus als eines Phänomens zweiter Ordnung: Im Exzess zeigt sich eine Bewegung, die sowohl über die strömende Gleichförmigkeit hinaus als auch in den beständigen Wechsel hineinragt - eine Bewegung des Nichtlinearen. In der menschlichen Psyche wiederum spiegelt sich der Rhythmus ebenfalls als Bewegung zweiter Ordnung bei Richard Hönigswald wider, wenn er schreibt: 92 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 364. 93 Ebd., S. 373. 94 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 132. 95 Ebd. 96 Siehe Fußnote Nr. 8, Seite 180. 97 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 246. <?page no="201"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 201 Jene erlebte Zeit nun als Erlebnis des Zeitlichen, diese Einheit von Bewegung und Beharrung im Erleben der Zeit, heißt als Bedingung möglichen Erlebens überhaupt ‚P r ä s e n z‘. 98 Präsenz, also die psychische Gegenwart der rhythmischen Gestalt, ist das Resultat aus dem Zusammenschluss zweier entgegen gesetzter Strebungen: Bewegung und Beharrung. In diesem Sinne ist der Rhythmus auch hier eine Bewegung zweiter Ordnung, nämlich jene, die diese beiden widerstrebenden Kräfte zu einer Einheit zusammenbindet. 99 In den kosmogonischen Termini der Atomisten erschien der Status des Rhythmus als Phänomen zweiter Ordnung als das Erscheinen einer Bewegung in den ordnungslosen Mischungsverhältnissen des Leeren und des Vollen hin zu geordneten Mischungsverhältnissen, welche das Seiende durch Gestaltung , Berührung und Wendung hervorbringen - desgleichen also eine Bewegung zweiter Ordnung. Bewegte Bewegung, Bewegung zweiter Ordnung ist ein Phänomen der Organisation Bewegte Bewegung, Bewegung zweiter Ordnung ist ein Phänomen der Organisation . Die Bewegung zweiter Ordnung oder der Rhythmus ist von dem Phänomen, an dem er sich zeigt, ablösbar und kann auch als solche beschrieben werden. Anders als der Begriff, welcher seinen Gegenstand vertritt, besitze der 98 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 38. 99 Wie auf einer physiologischen Beschreibungsebene der rhythm of speech vom Zusammenwirken zweier systems of pulses ausgeht beschreibt Harding und zitiert dabei David Abercrombie: „David Abercrombie (“1965 A phonetician’s view of verse structure’ : […] mechanism of stress is explained […] The air stream producing sounds comes in chest pulses (dependent on the intercostal muscles), each pulse constituting a syllable; in addition there occur less frequent stress pulses, more powerful contractions of the breathing muscles which coincide with one of the chest pulses and cause a greater and more sudden rise in air pressure.”) in the paper already quoted […] develops the implications of the physical facts. Having noted that the chest pulses, each making a syllable, are every now and then reinforced to give the stronger stress pulse, he goes on, ‘The rhythm of speech is a rhythm of these two systems of pulses […] the rhythm is already in the air stream, in fact, before the actual vowels and consonants which make up words are superimposed on it’ (p. 17). He adds that our perception of speech largely depends on our grasping what the speaker is doing : ‘As we listen to the sounds of speech, we perceive them not simply as sounds, but as clues to mouvements’. It is, moreover, because speech rhythm is primarily muscular rhythm that ‘verse can be immediately recognized and felt as verse in silent reading, which otherwise would not be easy to explain’.” In: Harding, D. W., Words into rhythm. English speech rhythm in verse and prose, Cambridge University Press, Cambridge, 1976, S. 93. <?page no="202"?> 202 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Rhythmus die Eigenschaften der Ablösbarkeit und Transponierbarkeit 100 . Davon zeugen seine unterschiedlichen Notationsverfahren. Das Ganze der Sprache vom Willen zur Artikulation bis zum Gedanken - vom artikulierten Laut, den Mitteln seiner Verknüpfung zum Wort und den Regeln der Kombination dieser - bilden den Fundus jener ersten Ordnung, auf den sich der jeweilig Sprechende für die Verfertigung seiner Rede berufe 101 . Gedanke, Laut und Wort verschmelzen in einer Bewegung zweiter Ordnung zu einem immer wieder neuen Ganzen in der Rede 102 . Dabei ist die Verlautung des Wortes, sein Klang oder Ton der Körper des Begriffs und ein wesentliches Element der Mousiké in der Sprache 103 . Der Sprachton, das Aufmerken und die Versammlung des Sinnes Die Silbe, deren Bestandteile Humboldt in die drei Elemente der Geltung , des Zeitmaßes und der Betonung 104 gliedert, gebe dem jeweilig Sprechenden im letzteren das Werkzeug an die Hand, mittels dessen dieser sich in der Rede aus- 100 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 15. 101 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 332 ff., 337 ff. 102 Ebd., S. 254 ff. 103 Ebd., S. 356 f: „ Genauere Darlegung des Sprachverfahrens […] Dies führt uns wieder, aber in andrer Beziehung zur Bezeichnung der Begriffe und zur Verknüpfung des Gedanken im Satze. Beide fliessen aus dem Zwecke der inneren Vollendung des Gedanken und des äusseren Verständnisses. Gewissermassen unabhängig hiervon bildet sich in ihr zugleich ein künstlerisch schaffendes Princip aus, das ganz eigentlich ihr selbst angehört. Denn die Begriffe werden in ihr von Tönen getragen und der Zusammenklang aller geistigen Kräfte verbindet sich also mit einem musikalischen Element, das, in sie eintretend, seine Natur nicht aufgiebt, sondern nur modificirt. Die künstlerische Schönheit der Sprache wird ihr daher nicht als ein zufälliger Schmuck verliehen; sie ist, gerade im Gegentheil, eine in sich nothwendige Folge ihres übrigen Wesens, ein untrüglicher Prüfstein ihrer inneren und allgemeinen Vollendung. Denn die innere Arbeit des Geistes hat sich erst dann auf die kühnste Höhe geschwungen, wenn das Schönheitsgefühl seine Klarheit darüber ausgiesst.“ 104 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 390f.: „ Bezeichnungsmittel der Worteinheit. Accent 28. Eine andere, der Natur der Sache nach allen Sprachen gemeinschaftliche, in den todten aber uns nur da noch kenntliche Worteinheit, wo die Flüchtigkeit der Aussprache durch uns verständliche Zeichen festgehalten wird, liegt im Accent. Man kann nemlich an der Sylbe dreierlei phonetische Eigenschaften unterscheiden: die eigenthümliche Geltung ihrer Laute, ihr Zeitmass und ihre Betonung. Die beiden ersten werden durch ihre eigne Natur bestimmt und machen gleichsam ihre körperliche Gestalt aus; der Ton aber (unter welchem ich hier immer den Sprachton, nicht die metrische Arsis verstehe) hängt von der Freiheit des Redenden ab, ist eine ihr von ihm mitgetheilte Kraft und gleicht einem ihr eingehauchten fremden Geist. Er schwebt, wie ein noch seelenvolleres Princip, als die materielle Sprache selbst ist, über der Rede und ist der unmittelbare Ausdruck der Geltung welche der Sprechende ihr und jedem ihrer Theile <?page no="203"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 203 drücklich machen könne. Geltung und Zeitmass seien objektive, der Akzent oder Sprachton - nicht der metrische - aber sei der „unmittelbare Ausdruck der Geltung, welche der Sprechende ihr und jedem ihrer Theile aufprägen will.“ 105 Da sich kein selbständiges Wort ohne Akzent denken lasse, und ein selbständiges Wort auch nur einen Hauptakzent besitzen könne, binde die Betonung das Wort unmittelbar an die Bedeutung und verorte im Weiteren seine Bedeutsamkeit innerhalb der Rede 106 . In der Folge heißt dies, dass der akustische Bau der Rede - der sich in der Abfolge der Betonungen manifestiere - für die Plastizität, die Eingänglichkeit des Gedankens verantwortlich ist und ihre ästhetische Qualität mit der „Stärke des Gedankens“ 107 einhergeht. Während der Wortakzent objektiv, die jeweilige Organisation der Rede jedoch notwendig subjektiv ist, kann sich der Sprecher, indem er die Sprachtöne nach seinen Vorstellungen ordnet und diese Markierungen des Sinnes zu einem Ganzen ausformt, seiner Rede in jener spezifischen Gestalt Geltung verschaffen. Das Subjekt der Aussage manifestiert sich in der spezifischen Bewegung zweiter Ordnung, dem Rhythmus der Rede 108 . aufprägen will. An sich ist jede Sylbe der Betonung fähig. Wenn aber unter mehreren nur Eine den Ton wirklich [391] erhält, wird dadurch die Betonung der sie unmittelbar begleitenden, wenn der Sprechende nicht auch unter diesen eine ausdrücklich vorlauten lässt, aufgehoben und diese Aufhebung bringt eine Verbindung der tonlos werdenden mit der betonten und dadurch vorwaltenden und sie beherrschenden hervor. Beide Erscheinungen, die Tonaufhebung und die Sylbenverbindung bedingen einander und jede zieht unmittelbar und von selbst die andre nach sich. So entsteht der Wortaccent und die durch ihn bewirkte Worteinheit. Kein selbstständiges Wort lässt sich ohne einen Accent denken und jedes Wort kann nicht mehr als Einen Hauptaccent haben. Es zerfiele mit zweien in zwei Ganze und würde mithin zu zwei Wörtern. Dagegen kann es allerdings in einem Worte Nebenaccente geben, die entweder aus der rhythmischen Beschaffenheit des Wortes oder aus Nüancirungen der Bedeutung entspringen. Die Betonung unterliegt mehr, als irgend ein anderer Theil der Sprache dem doppelten Einfluss der Bedeutsamkeit der Rede und der metrischen Beschaffenheit der Laute.“ 105 Ebd. 106 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 76: „Der Rhythmus, so sagen wir kurz ist die Form, in der sich Äußerungen gliedern. Er ist geradezu der Gliederungswert des sich in Äußerungen offenbarenden Sinns selbst.“ & Ebd., S. 77: „Die Sinngliederung, die unter dem Gesichtspunkt der Sprache Stil genannt wird, ist unter dem des Zeiterlebenisses betrachtet Rhythmus. Der Rhythmus ist daher gleich dem Stil Sprache als Träger der ungeschmälerten und individuellen Fülle des Gedankens. Der Rhythmus ist, wir unterschreichen es noch einmal, die Form der Entfaltung des Stils und damit des Sinns. Er offenbart das Einzigartige an dem Gedanken, das, was man gern das ‚Intuitive‘ an ihm nennt, was jeder sprachlichen Darstellung zunächst zu spotten scheint, kurz seinen affektiven- oder Gefühlswert.“ 107 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 391. 108 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 217-: „Ainsi les signifiants sont autant syntaxiques que prosodiques. Le « sens » n’est plus dans les <?page no="204"?> 204 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Schon bei der Verfertigung einer beliebigen Rede gibt es für Humboldt ein künstlerisch schaffendes Prinzip 109 . Für die Kunstrede jedoch bedeutet diese Freiheit der Kombination von sprachlicher Bewegung zweiter Ordnung die Bedingung der Möglichkeit ihres Seins. Was aber bedeutet die Aussage, dass ein selbstständiges Wort 110 nur einen einzigen Akzent oder Hauptakzent besitzen kann? Es bedeutet, dass der Akzent ein Aufmerken auslöst und jenen sinnlichen Anhalt darstellt, der den Sinn auf sich versammelt, ihn ordnet und der Rede so einen individuellen Ausdruck verleiht. Die physiologische Verbindung von Atmung und Artikulation versammelt im Akzent die Intensität des Atems auf einer Silbe, sie versammelt die vielfältig dahinströmende Lautfolge in der größeren Stärke der Silbe, auf die der Sprachton fällt; sie teilt und versammelt, gliedert die willkürliche Wortfolge der Rede zu einem jeweilig neuen, zu einem rhythmisch gestalteten Ganzen. Der Rhythmus und die Idee der Form Doch nicht nur der Akzent, sondern auch Intonation oder Prosodie stehen dem Urheber zur Verfertigung seiner Rede zur Verfügung. Si le rythme et le sens sont consubstantiels l’un à l’autre dans le discours, l’ intonation fait partie du rythme, la prosodie (l’organisation consonantique-vocalique) fait partie du rythme - tout ce que la métrique excluait. La signifiance inclut l’interférence de la prosodie et du rythme accentuel du discours, avec ses paradigmes propres, annulant la distinction traditionnelle entre le son et le sens et l’ « hésitation » de Valéry. 111 Damit gerät neben dem Rhythmus als akustischem, der Rhythmus als ein Phänomen zweiter Ordnung anderer Art ins Zentrum der Betrachtung. Die Gliederung, also das Versammeln und Teilen, der Materie Sprache gilt nämlich sowohl für das Vorher und Nachher der Rede als auch für all dasjenige, was in der gegen das Verklingen anklingenden Rede als Gegenwart beharrt, ihre Verfassung als syntaktisches, syntagmatisch-paradigmatisches und semantisches Phänomen, ihre historische Gestalt im Augenblick der Verlautbarung. mots, lexicalement. Dans son acception restreinte, le rythme est l’accentuel, distinct de la prosodie - organisation vocalique, consonantique. Dans son acception large, celle que j’implique ici le plus souvent, le rythme englobe la prosodie. Et, en parlant, l’intonation. Organisant ensemble la signifiance et la signification du discours, le rythme est l’organisation même du sens dans le discours. Et le sens étant l’activité du sujet de l’énonciation, le rythme est l’organisation du sujet comme discours dans et par son discours.“ 109 Siehe Fußnote Nr. 103. 110 Siehe Fußnote Nr. 104. 111 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 147. <?page no="205"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 205 Die Organisation dieser Elemente zu einem neuen sprachlichen Ganzen nennt Henri Meschonnic: signifiance 112 , und ihr Agent ist der Rhythmus. Der Rhythmus organisiert nach H. Meschonnic auf allen Ebenen der Sprache diese zu einer einmaligen, jeweiligen besonderen Aussage, wobei die unterschiedlichen sinnlichen und semantischen Komponenten der Sprache zu einem Ganzen zusammengebunden, ihre Komponenten und Hierarchien in den Dienst der Aussage gestellt werden. In einer engen Bedeutung des Wortes Rhythmus konstatiert Meschonnic seinen Charakter als Akzent, in einer erweiterten Bedeutung werden Intonation und Prosodie, mithin auch eine rein ordnungsstiftende Funktion in seine Bestimmung eingeschlossen. Damit erschließt sich ein Konzept des Rhythmus, das sich der Idee der Form annähert 113 . Wenn der Rhythmus die Organisation der Aussage selbst ist, dann ist er auch bei H. Meschonnic das Einfallstor für die activité du sujet de l’énonciation und le rythme est l’organisation du sujet comme discours dans et par son discours 114 . An jener Stelle, an der das Individuum zum handelnden Subjekt wird, hält es mit dem Rhythmus als bewegter Bewegung und Phänomen zweiter Ordnung ein Werkzeug in Händen, welches es ihm erlaubt, seine Handlungen - auch die sprachlichen - nach außen zu wenden, zu objektivieren und zu individualisieren, sich den von Kunst, Wissenschaft und Kultur zur Verfügung gestellten Ressourcen einzuschreiben. Bewegte Bewegung und Einheit von Bewegung und Beharrung sind Ordnungsphänomene zweiter Natur und stellen jene Ermöglichungsstruktur dar, vermittels derer das Individuum sich wie anderen gegenüber ausdrücklich werden kann und zu einem Gegenüber der Gemeinschaft, mithin zur Person sich wandeln kann. Als solches nimmt es teil an der Gestaltung der Mitwelt in Form von Kunst, Wissenschaft und Kultur. Bewegte Bewegung, eine in sich geborgene Figur Bewegte Bewegung ist eine in sich geborgene Bewegung - sie läuft nicht in Handlung aus - und mit ihr besitzt der nicht festgestellte Mensch jene Figur, welche in der Gemeinschaft der frühen Menschengruppe zu dem wird, worauf bewegt, produktiv, wiederholend und zeigend verwiesen werden kann: die Bedeutung. Bewegung ist Veränderung und Veränderung bedeutet Übergang zu einem Anderen, ist eine Abfolge und birgt den Verlauf von Zeit. Handlung, Ausdruck und Sprache eignen unterschiedliche Zeitgestalten an. Während Handlung ihre charakteristische Zeit aus dem „Schwergewicht der 112 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 216, siehe auch Fußnote Nr. 90. 113 Siehe auch Fußnote Nr. 106. Hier äußert sich Hönigswald diesem Sachverhalt gegenüber analog. 114 Siehe Fußnote Nr. 108. <?page no="206"?> 206 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins ganzen Weltexistenz“ 115 erhält, die uns ihr Gewicht und ihren Widerstand vermittelt, die ihr Entgegensein auf uns zuhält und am Ende den gesetzten, den glücklichen gar 116 , den gelingenden Griff führt, hat der Ausdruck seine Zeit als Qualität, die er aus dem erscheinenden Sinn gewinnt. Der Ausdruck erklingt und verklingt, erscheint und verscheint. Will er Gegenwart und nicht in die Erinnerung zurücksinken, bedarf er der beständigen Erneuerung, des Willens zur Insistenz. Sprache hält zwischen beiden Zeitgestalten die Mitte. Auf der einen Seite vermittelt sie in der Entfaltung des Satzes Ausdruck und unterliegt dem Gesetz des Er- und Verklingens, des Er- und Verscheinens. Sie muss dem Verklingen entgegenarbeiten, und dies gibt ihr die Richtung der Zeitlichkeit vor. Auf der anderen Seite kommt sie im Bedeuten dem, was die Welt auf uns zuhält, entgegen. Im Hinweis des Sprechens auf die uns entgegengehaltenen Dinge und Situationen drängt deren Schwere in die Sprache hinein. In der Entfaltung des Satzes werden Erneuerung und Insistenz des Ausdrucks mit der Schwere der Welt im Bedeuten vermittelt - und in der Gemeinschaft der Sprechenden eingeübt. Die Interpunktion gliedert und akzentuiert das Klingen und Verklingen, während der Sprachstrom zwischen Gegenwärtigen und zu Vergegenwärtigendem vorantreibt, im Drama der Artikulation - Atmung, Artikulation, Gedanke - wie im Durchlauf von Zeichen und Zeile. Handlung, Ausdruck und Sprache, Erscheinungsweisen der Zeitgestalt Handlung, Ausdruck und Sprache eignen der übergestalthaften 117 organischen Einheitsform 118 des Lebewesens Mensch an. Diese Eigenschaften zeugen von seiner ontologischen Stellung als eines Wesens, das seinen Ort in der Welt nicht einfach hat - es befindet sich nicht einfach irgendwo -, sondern diesen be- 115 Plessner, Helmuth, Ausdruck und menschliche Natur , Gesammelte Schriften Bd.: VII, Frankfurt a. M., 2003, S. 38. 116 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 413: „Die ursprüngliche Begegnung des Menschen mit der Welt, die nicht zuvor verabredet ist, das Gelingen der Bestrebung im glücklichen Griff, Einheit von Vorgriff und Anpassung, darf allein echte Erfüllung heißen.“ 117 Ebd., S. 153: Plessners Grenzbegriff, der die Doppelaspektivität nach sich zieht verlangt zwingend nach der Übergestalthaftigkeit der lebendigen Form: „ Verlangt wird aber eine gegenständlich als Eigenschaft aufweisbare Grenze, welche zugleich Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz ist . Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in wlecher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. Aus dieser Forderung geht hervor, daß die organische Formgrenze als Gestalt einen übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muß.“ 118 Ebd., S. 155: „Zur Kennzeichnung der spezifisch organischen Einheitsform reicht der Begriff Gestalt nicht aus. Er vermag nicht die Eigengegründetheit, Selbständigkeit, das In <?page no="207"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 207 haupten muss. Als eine solche übergestalthafte Lebensform habe der organische Körper sein Maß an sich selbst 119 ; er besitze in ihm selber absolute Union von Raum und Zeit . Handlung, Ausdruck und Sprache als drei Erscheinungsweisen der Zeitgestalt des Gefügtseins mit der Welt und des ihr Entgegenstehens zeugen von der Loslösung und der Verschränkung des Menschen mit ihr. Sie sind Grundlage der Gestaltung von Bedeutung. Der Gymnast, der Heilige und der Denker Doch noch weit vor der Sprache vollzieht der Körperleib die Schaffung von Bedeutung, indem er sich zur Welt sowie zu sich und sich selbst im Merken und im Handeln verhält. Denn jede seiner Bewegungen ist ein Entsprechen zur Welt. Der Körperleib unterscheidet durch Bewegung, Ausdrucksbewegung und Haltung. Doch nicht allein zur Welt verhält sich der Organismus. Er verhält sich gleichermaßen zu Anderen seiner Art, stiftet Gemeinschaft, nun aber auch selbst als einer, der etwas bedeutet, nicht nur in Flucht oder Angriff, sondern in einer in sich selbst geborgenen Bewegung. Dann nämlich, wenn z. B. der Gang zum Tanz, die Flucht zum Reigen oder der Griff zur Haltung und Figur, zur Darstellung sich fügt. So zeigt sich allen Wesen seiner Art, allen also, die sich zur Welt sowie zu sich und sich selbst verhalten können, unmittelbar vermittelt Bedeutung, dessen Sinn im Miteinander sich alsbald Anderen mitteilt 120 . Uns kann es ihm selber Sein und Aus ihm selber Sein eines lebendigen Dinges ohne Anleihen bei anderen Begriffen verständlich zu machen.“ 119 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 243: „Der lebendige Körper ist nicht in diesem Sinne gleichgültig gegen den Raum und die Zeit: er wächst und er altert. Sein Irgendwo-Gelegensein, sein Irgendwann-Verändertwerden kann allerdings die bloße relative Bestimmtheitsbedeutung haben, wie sie allen Körpern wesentlich ist. […] Der wachsende Körper hat an seiner Grenzzunahme ein absolutes Raummaß, an seinem Älterwerden ein absolutes Zeitmaß. […] An ihm selber hat der organische Körper sein Maß, sind ihm Raum und Zeit bemessen .“ Ebd., S. 244: „Der räumlich-zeitliche Körper ist somit ein in ihm selbst vermittelter, d .h. Raumform und Zeitform rücken aus der Stellung bedingender äußerer Formen in die Stellung bedingter »innerer« Seinscharaktere.“ Ebd., S. 245: „Organischer Körper ist nicht bloß wie jeder physische Körper ein vierdimensionales Gebilde, sondern in seiner Wesenseigenschaft, Raum und Zeit positional zu behaupten, in ihm selber absolute Union von Raum und Zeit. Das ist der Sinn jener auf Aristoteles zurückgehender Lehre vom natürlichen Ort, vom wesenhaften Ort der Dinge, die sich nur für die lebendigen Dinge bestätigen läßt.“ 120 Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie , Hg.: Accariano, Bruno und Schloßberger, Matthias, in: „Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie Bd. 1“, Akademie Verlag GmbH, Berlin, 2008, S. 215: „Nicht durch die Sprache ist der Mensch Mensch, sondern durch eine Form von Intersubjektivität und spezifisch menschliches Ausdrucksverhalten, die Sprache erst ermöglichen. […] [216] <?page no="208"?> 208 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins zwar schwindeln, doch zeigt dies bloß, dass der aufrecht gehende Mensch als Künstler der Mitte seine Balance ständig neu zu finden, sein eigenes Zentrum unablässig neu zu schaffen hat, gegenüber der Welt, gegenüber seiner Mitwelt und im Konzert mit den Anderen. So ist denn der Tanz eine Verpriesterlichung des unfassbar Großen und Kleinen, des unendlich Vielen, unglaublich Mächtigen - besonders der Tiere, so ähnlich und so fremd - auch immerzu Fließenden, denn er gibt all dem Grenze und Kontur. Der priesterliche Tänzer ist der erste Denker der frühen Menschengruppe. Er verkörpert die fassbare Welt mit seinem ganzen Körper, für alle gemeinsam und damit zugleich auch für sich selbst. Er ist Gymnast, Heiliger und Denker in einer Person. Im Gymnasten verbergen sich der Könner und Künstler, im Heiligen Mut, Anmaßung und Verzweiflung des Menschen, während im Denker sich der Sammler und Merker zu erkennen geben. Im Versuch dieser Kräfte Herr zu werden, greift der Mensch in seine Sinnenwelt ein. Er wird sich selbst inmitten Sinnlichem bemerkbar. Er lockert den Verbund des Sinnlichen und rückt mit Gedanke und Idee in die Lücken ein. Zwischen Sinnlichem und Sinnlichem liegt die Quelle des Gedankens: das Sinnhafte. Denn wenn die Ähnlichkeiten aufhören augenfällig zu sein, müssen sie vom Gedanken überbrückt werden. Wenn in des Menschen Sprung der Vogelflug, der Satz des Tigers, das Hüpfen der Gazelle oder der Bogensprung des Delphins steckt, wird er zum Sprunghaften überformt, wird sinnhaft sinnlich. Wenn die Ähnlichkeit der Sprünge auseinanderdriftet, erfüllt […] Sein, das nicht Sprache ist, aber dennoch verstanden werden kann, - und das ist ein weiterer wichtiger Punkt, den Plessner gegen den sprachphilosophischen Imperialismus anführt - ist nicht unbedingt primitives Sein. Nicht auf Konvention beruhendes Ausdrucksverhalten ermöglicht nicht nur den Eintritt in die Sphäre der Intersubjektivität, sondern bleibt ja immer ein Moment im menschlichen Miteinander. Auch die Sprache […] verdrängt das über das leibliche Ausdrucksverhalten hergestellte Miteinander nicht völlig, wenngleich ein Einfluss auf das Ausdrucksverhalten sicher nicht zu leugnen ist. Dieses Verdrängen des Ausdrucksverhaltens, das weniger notwendig scheint, wenn sprachlich Differenzierung von Sinn die Kommunikation regelt, ist aber nicht nur positiv zu bewerten: ‚Wer will leugnen‘, so Plessner, ‚dass, je geringer der lebendige Wortschatz ist, desto größerer Spielraum den Gesprächspartnern bleibt, um in unausgesprochenem Künden und Verstehen die reine syntagmatische Kraft des Geistes zu üben? ‘ […].“ <?page no="209"?> Die ontologische Verankerung des Rhythmus 209 die Lücke das Sinnhafte allein, das Unähnlich-Ähnliche 121 und markiert so den Ursprung der Idee, die eigentliche Quelle des Gedankens 122 . Die Quelle des Gedankens oder die Schwere des Seins Die prosodische Sprachschicht mit ihrer Nähe zu Atmung und Artikulation indiziert ein derart vorsprachliches Miteinander im Verbund mit den Anderen, in der Ganzkörperbewegung als Tanz und der Physis selbst als ein allen gemeinsames Fundament. Sie ist die Schwere des lebendigen Seins Mensch, vermittelst derer er sich und der Welt inne wird. Die Prosodie - dichter noch und schwerer als das innere Bild - hält fest am Widerstand des Stoffes, seiner notwendig spezifischen Schwere im Sein, damit Natur und Geschichte ihre Ablagerungen in der Sprache hinterlassen können. In dieser Materialität der Sprache und des Sprechens vollzieht sich das Drama der Artikulation. Insoweit das Drama der Artikulation in der Stofflichkeit von Sprechen und Sprache sich abspielt, ist es nicht nur Sujet der Wissenschaft des Körpers - also der Anatomie und seiner Kinetik -, sondern auch der Körper selbst, also der Physik, und so kann mit Recht die Behauptung gelten: „La poesía de Gamoneda es una física donde la palabra se impone como materia.“ 123 Sie wird bestätigt vom Dichter selbst, der seine Dichtungskonzeption einmal als eine materialistische bezeichnete: 121 Dionysius Areopagita, Über mystische Theologie , „[…] V. Daß der Grund par excellence von allem Intelligiblen mitnichten zum Intelligiblen gehört. Wiederum sagen wir, indem wir aufsteigen: er ist weder Seele noch Geist. Er hat weder Vorstellungskraft noch Meinung noch Verstand noch Vernunft. Er ist nicht Sprache und nicht Verständnis. Weder wird er gesagt noch wird er gedacht. Er ist nicht Zahl und nicht Ordnung, weder Größe noch Kleinigkeit, weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit. Weder steht er noch bewegt er sich, […]“ Zitiert hier beispielhaft für den Aufstieg aus dem Sinnlichen in die Abstraktion via Negation. 122 Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie , Bd. 1, S. 173: „Plessner bricht mit dem Dogma, dass „Handlung, Sprache und variable Gestaltung an den Modus des sinnlichen Materials, in welchem sie sich realisieren und auf welches sie als ihren Stoff insofern Rücksicht nehmen müssen, nicht gebunden seien“ (P, Bd III, 378). Dass dem Husserl’schen präsentativen Bewusstsein das Medium fehlt, in dem hyletische und eidetische Prägnanz (im Sinne des reinen Empfindens und der reinen Idee) zusammenhängen, wird von Plessner durch die Einführung der Kategorie der thematischen Sinngebung behoben, in der sich die Durchdringung von Empfindungsstoff und Idee vollzieht. Diese aber ist keine reine Bewusstseinsleistung mehr, sondern Vollzug des Körperleibes in Form eines spezifisch leiblichen Haltungsgebildes, in dem seine Sinnbezogenheit zum Ausdruck kommt. Mit dieser Erklärungsfigur wird ein für die Kommunikations- und Zeichentheorie grundlegendes Problem einer Lösung zugeführt.“ 123 Narbona, Rafael, Una poética de la finitud , Revista de Libros, secunda época, n° 79-80, 01.08.2003. <?page no="210"?> 210 DerRhythmus,dieBewegungdesWortesinseinerTemporalitätunddieVersammlungdesSeins Yo tengo una concepción materialista de la poesía, en cierto modo. Sé que construyo objetos con un material físico, con una oralidad que por convenio, se ha hecho silenciosa en papel; […] 124 Der dichterische Logos Antonio Gamonedas erfasst hier sein artikulatorisches Verhaftetsein in der Schwere des Seins der Sprache und des Sprechens und lauscht ihr Rhythmus, Klang und Bild im Spiegel ihrer selbst ab. 124 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 180. <?page no="211"?> Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen 1 «El arte que imita sólo con el lenguaje (…) carece de nombre», «Todos los géneros son poéticos», «Es plausible la hipótesis de una obra no adscribible a género alguno…». Toda mi teoría sobre el asunto no consiste en otra cosa que en escarceos en torno a estas tres propuestas magistrales. 2 Die Bewegung und die Freiheit des rhythmischen Denkens Bewegung, selbstgeführte Bewegung ist die erste Manifestation einer Lockerung des Seins. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit der Abstandnahme dem Sein gegenüber, der Stellungnahme des lebendigen Organismus gegenüber dem Sein. Mithin ist sie die erste Abstraktionsleistung selbst. Bewegung ist ob ihrer Abstandnahme eine Abstraktionsleistung des lebendigen Körpers und Lockerung des Seins. Mittels ihrer vollzieht der Körper seine Stellungnahme zur Welt. Selbstgeführte, rückempfundene Bewegung ist die Voraussetzung aller weiteren Lockerungen des Seins, mithin auch aller weiteren Abstraktionsleistungen. Der Gliederkörperleib des Menschen ist der Ort jener Bewegung, die sich selbst führt und dabei zugleich selbst empfindet, und zwar im Spiegel seiner Seele 3 . Selbstempfundene, seelisch gespiegelte Bewegung ist eine Figur des Verständigwerdens, des Sich-selbst-verständig-Werdens. In den Manifestationen der Seele bleibt die Bewegung das Verbindende. Denn Bewegung zeigt sich als Natur (Angriff und Flucht), kultivierte Natur (aufrechter Gang) und Kultur (Künste). Sie markiert die Schnittstelle zwischen dem physiologischen, etholo- 1 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 50: „Y esta rítmica y la del cuerpo físico han de integrarse, y por ello son dos estructuras musicales - la sensible y la de las significaciones - las simultáneamente activas en el lenguaje artístico, y, según domine una u otra, y según se suceda la imaginería y la especie de los signifcados, y según que la actividad del autor se exhiba o tienda a ocultarse, así creemos estar en un género o en otro. Pero no; se trata únicamente de diferencias de grado y de posición; entre los presuntos géneros no hay diferencia esencial. O, mejor aún: estamos siempre en el mismo género; un género «más allá» de los convenios literarios.“ 2 Ebd., S. 41. 3 Siehe Fußnote Nr. 76, Seite 172. <?page no="212"?> 212 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen gischen und kulturellen Fundament. Sie ist der Anker der Kultur und vermittelt das Lebewesen Mensch mit seinem Ort in der Welt. An der Schnittstelle von Natur und Kultur ist Bewegung der Transmissionsriemen, der die Freiheit von sowie den Verbund mit der Natur ermöglicht. Denn ihr Rhythmus als Natur ist einerseits ein Echo unseres Wirbeltiergliederkörpers, andererseits ist eben dieser selbe Rhythmus objektivierbar und transponierbar und kann dem Kollektiv in Tanz, Musik und Sprache anheimgestellt werden. Der Rhythmus ist also in des Menschen Hand und kulturfähig. Der Rhythmus, Echo unseres physischen, psychischen und geistigen Seins, ist ein Instrument der Möglichkeit. In der Hand des Menschen ist der Rhythmus jene Figur der Freiheit, die als Phänomen zweiter Ordnung, als bewegte Bewegung und Konfigurierung von Bewegung - einem Vorgang der sich an sinnlichem Material manifestiert und gegen das Verlöschen den Augenblick ergreift -, in der Natur gründende doch kulturelle Abläufe gestaltet. Der Dichter Antonio Gamoneda spricht diese Freiheit aus, wenn er sagt: „Las significaciones poéticas son creadas por la rítmica. El pensamiento poético es pensamiento rítmico.” 4 In dem kurzen Essay zur Hominisation und Dichtung Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético erläutert Antonio Gamoneda, wie der aufrechte Gang die kontrollierte Stimmgabe ermöglichte, und somit die Voraussetzung für das Wort schuf. Diese Lautäußerung sei nun ihrerseits die Blaupause für den durch sie erweckten Gedanken geworden, so dass das Wort zum Auslöser für den darin gedachten Inhalt habe werden können. Porque nombrar por primera vez una realidad y originar, al nombrarla, su presencia mental, constituyó - no tengo de ello ninguna duda - un acto de creación y revelación , es decir, un pronunciamiento (primario y fundamental) poético (otra vez tendrá que acudir aquí, para un prescindible, quiero pensar, realismo conceptual, a la aborrecible, aunque pudiera ser necesaria, noción de una «prepoesía»). 5 Für Antonio Gamoneda ist dieses Geschehen ein poetisches Geschehen, denn in der Dichtung werde gedacht, was gesagt wird: „ en poesía, el lenguaje es pensamiento . […] Concreto un poco más la que yo pienso «mecánica» cierta de la poesía: en poesía, «se piensa lo que se dice» , al contrario que en la expresión convencional veraz (o en la poesía «procurada»), en la que se dice lo que se piensa .“ 6 4 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , Editorial Trifolium, Lugami Artes Gráficas, Galicia, Spain, 2013, S. 21. 5 Ebd., S. 18 f. 6 Ebd., S. 24 f. <?page no="213"?> Die Bewegung und die Freiheit des rhythmischen Denkens 213 Und dieses pensar lo que se dice geschieht in der Begegnung mit einer rhythmischen bzw. musikalischen Phantasie, die ihm aus der Sprache erwuchs und die der Abc-Schütze Antonio Gamoneda wie folgt beschreibt: Con aquel libro, limosneando ayudas hasta crear cansancio en mi ocasional profesor o profesora, yo empecé a identificar signos y fonemas, luego palabras, luego líneas: ciertamente, estaba aprendiendo a leer. Me sentía excitado en el umbral de un espacio en cuyo interior presentía una existencia grande y misteriosa. […] El libro, con independencia de la autoridad que le proporcionaba haber sido escrito por mi padre, era un libro de poesía, y yo, de manera primaria y confusa pero intensa, empecé a advertir en él que las palabras comportaban un cuerpo musical, y esta advertencia me hacía sentir (sí; sentir es la palabra), con una emoción hasta entonces desconocida, que las expresiones, casi siempre incomprendidas pero recibidas en su valor musical, activaban en modo visionario mi pensamiento. / Nunca eché de menos las representaciones convencionales, normalizadas y reconocibles. Lo desconocido, presente en aquellas palabras, era, en mí, una realidad que no necesitaba explicaciones, como no las necesita la presencia, ya aludida, de la música o la percepción de luz. 7 In direkter Umkehrung also der konventionellen Sprachverwendung, in der man das sagt, was man denkt, geht das dichterische Wort dem Gedanken voraus: Naturalmente, lo que se piensa / dice no es aleatorio ni casual porque el poeta sabe aunque no sepa que sabe . […] Según todo esto, el poeta no será plenamente consciente de la significación de sus palabras, afectadas, como están, por una semántica imprevista ligada al ritmo y no a la deliberación, pero sí habrá de ser consciente de que se le están «apareciendo», de que está creando realidades intelectuales y poéticamente instantáneas y, finalmente, adquirirá conciencia de la unidad de sentido del poema, unidad de sentido que en su valor existencial ha de ser acorde con su sentimentalidad y con sus convicciones, incluidas ideológicas. 8 Antonio Gamoneda stellt sich mit dieser Ausführung in die Tradition - seine Interpretation der Tradition - der Dichtung von „Juan de Yepes, el huérfano de Fontiveros, el monaguillo, limosnero y curandero de bubas en Medina del Campo, el frailecico hambriento, apaleado en Toledo por otros frailes menos hambrientos. «No saber sabiendo».“ 9 Wegen dieser Leitfunktion des Rhythmischen können semantische Inhalte entscheidende Verwandlungen erfahren, neue noch unerhörte mentale Repräsentationen erkennbar werden. Dichtung ist dann die Arbeit an einer Art des 7 Gamoneda, Antonio, Un armario lleno de sombra. Círculo de Lectores S. A., Galaxia Gutenberg, Barcelona, 2009, S. 69. 8 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 25 ff. 9 Ebd. S. 26. <?page no="214"?> 214 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Hapaxlegomenon und zielt auf die Erneuerung des schon sprachlich Kodifizierten. Der Dichter wiederholt darin sozusagen immer und immer wieder die Geschichte der Hominisation, wie auch seiner Ontogenese bei der Sprachaneignung, seiner Entwicklung vom Infant zum Orator. Die Dichtung Antonio Gamonedas spricht die Freiheit des Rhythmus als Phänomen zweiter Ordnung, als bewegte Bewegung aus, indem sie die Verwandlung des Menschen vom Infant zum Orator immer und immer wieder wiederholt, auf der schöpferischen und Welt erschließenden - acto de creación y revelación - Kraft der Sprache insistiert. Die Sprache, Amalgam und Erscheinung Über die Bewegung ist das Wort mit dem Körper vermittelt. Zwischen die Kundgabe einer Bedeutung und die Aufnahme einer Kundgabe treten die an diesem Prozess beteiligten Teile des Körpers durch Bewegung. Bedeutung ist ein Einverständnis durch Nachvollzug. Die Verständigung auf einen gemeinsamen Inhalt ist die Bedingung der Möglichkeit für seine Weitergabe, und Übung ist der Transmissionsriemen für dessen Verbreitung. Wiederum ist die Bewegung - Nachvollzug, Zustimmung, Ablehnung, Abwandlung - Bedingung für das Erreichen des Einverständnisses bzw. von Bedeutung und Intention und ihrer Weitergabe. Der Mensch ist ein zur Bewegung in besonderer Weise befähigtes Lebewesen. Die Vielfalt seiner Bewegungsmöglichkeiten reicht an die Grenze der Abstraktion, wo sie sich mit der Sprache selbst berührt. Lückenlos geht die physische Bewegung in die geistige über. Hyle und Eidos verschmelzen in diesem Prozess zu einem Ganzen 10 . Die figurale bzw. kategoriale Gestalt 11 als Erscheinung der Verbindung von Laut und Idee - das Wort oder der Begriff - ist das Ergebnis stetigen, absichtsvollen, gemeinschaftlichen menschlichen Handelns. Bewegungsfähigkeit, Bewegungsvielfalt, das Einüben von Einverständnissen und die Wendung dieser Intentionen und Bedeutungen nach außen in die 10 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes , S. 103: „Jeder Gehalt hat Stoff und Form. Die einfachen prägnanten Anschauungsgehalte, Hyle in der Empfindung, Eidos in der reinen Schau haben durch die Form individuelle Prägnanz, durch den Stoff den Charakter als Hyle oder als Eidos. [104] Hier ist die Stofflichkeit luzide, durchsichtig, lauter, dort ist sie undurchsichtig, aufdringlich, trübe. Also hat die Idee als erschauter Gehalt in sich Stoffmoment und Formmoment und ist keineswegs die Form an sich, ebensowenig wie der empfundene Stoff Stoff an sich ist.“ 11 Ebd., S. 104: „Darstellbare und präzisierbare Gehalte haben also kategoriale und figurale Verfassung […].“ <?page no="215"?> Die Sprache, Amalgam und Erscheinung 215 Formensprache von Laut, Schrift, Bild, Tanz, Musik und Mathematik etc. sind Voraussetzungen für Sprache und Kultur. Jenes Amalgam also aus äußeren und inneren Bedeutungen und Regeln, äußeren und inneren Bewegungen, Lauten, Zeichen, Intonation und Intensitäten, Gesten und Gebärden, Erwartungen und Erinnerungen heißt Sprache. Wir meinen damit ein Geschehen, das uns natürlich erscheint, doch in Wahrheit hoch artifiziell ist, ein Geschehen, das ererbt wie erlernt werden muss. Dieses Amalgam ist das Material des Dichters. In einer ersten Wendung der Einverseelung 12 der Sprache suchten sich die Worte das Kind Antonio Gamoneda. Als ihn dann die Bücher aufsuchten und er lesen zu lernen begann, potenzierte sich die Wendung der Sprache nach innen um ein Vielfaches. «Siempre la Virgen se aparece a los pastores». El dicho es malicioso y sirve en muchas aplicaciones; para mi caso, tiene también algún aprovechamiento. A mí, algunos libros «se me han aparecido» precisamente mientras que, como los pastores, permanecí inocente y pobre, conservando en buen estado mi credulidad. Ahora, naturalmente, hablo del asunto con alguna ironía, pero las cosas fueron como fueron: las apariciones casi siempre llevan consigo revelación y de esto quiero hablar. 13 In der Familienbibliothek befand sich damals ein einziges Buch, das seines Vaters, Antonio Gamoneda, Otra más alta vida ; mit Hilfe seiner Verwandten begann er, sich aus diesem Buch das Lesen anzueignen. Beim ersten Radebrechen beschreibt er folgenden Vorgang: Aquí, en mi primera y quebradiza lectura, que no sé durante cuanto tiempo se extendió, se produjo algo (esa revelación que sigue a las apariciones) que ha sido muy importante para mí. El libro, con independencia de hubiera sido escrito por mi padre, era además un libro de versos; las líneas eran versos. Yo, de manera confusa pero suficiente, sentía que aquellas líneas comportaban un cuerpo musical, y esta virtud desconocida hacía emocionantes las, para mí, imprecisas significaciones, más sensibles que inteligibles, extrañamente gozables. 14 12 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 259: „Es war Novalis, der - wohl unter Fichtes Einfluß - zuerst sagte, ‚daß es auch eine Außenwelt in uns gibt, die mit unserem Inneren in einer analogen Verbindung steht, wie die Außenwelt außer uns mit unserem Äußeren‘ (II, 181). Dieses Hineinwachsen der Welt in uns ist nun in erster Linie ein Werk der Sprache.“ Zum Begriff der Einverseelung , siehe Fußnote Nr. 638, Seite 141. 13 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 60. 14 Ebd., S. 62 f. <?page no="216"?> 216 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Die äußeren Zeichen der Sprache verwandelten sich in innere Bewegung und ihre Musikalität erschütterte das Kind weit heftiger als die undeutlich wahrgenommenen Bedeutungen. Die Einverseelung der Sprache geschah entscheidend vermittelst der Empfindsamkeit für die den Körper erschütternden Klang der Sprache, und dies war mit Genuss verbunden. Yo estaba aprendiendo a leer en modo dificultoso, pero también privilegiado. Hacía un doble descubrimiento: la primera experiencia de poesía se me proporcionaba, de manera rudimentaria, al tiempo que el, también rudimentario, conocimiento de signos de la escritura; yo quedé «tocado» en mi sensibilidad, y creo que ya entonces fui condenado - afortunadamente condenado - a ser poeta en la vida. 15 Lesen, ein physisches Erlebnis und die eigene Wirklichkeit Die kindliche Entdeckung der musikalischen Energie der Worte erlaubt es dem Autor, von aparición y revelación-Erscheinung und Offenbarung zu sprechen, um dann aber noch hinzuzufügen, dass von diesem Augenblick an eben jene Worte es ihm gestatteten, sein Leben intensiver zu erleben. Die der Dichtung seines Vaters geschuldete semantische Schwierigkeit, welche des Knaben Verständnisfähigkeiten weit überstiegen, steigerten sein Erstaunen nur, und seine empfindsame Reaktion auf den Klang der Sprache ließen ihn weitere Geheimnisse darin vermuten. Die Veranlassung, ein Gedicht vor einem Fremden laut vorzulesen, potenzierte ferner die Wendung der Sprache in sein Inneres hinein, in diesem Falle jedoch, indem er sie selbst hervorbrachte und so erfuhr, wie sie sich nach außen wenden lasse. Der Kreis des selbstvermerklichen Tuns Sprache schließt sich. Me sentí crear el cuerpo musical de las palabras. La poesía se hizo en mí más activa y real porque la poseí físicamente al comprometerme con su oralidad. También ésta fue una revelación. 16 Als er dann damit begann, Bücher, seine Bücher zu suchen, bestätigten sich seine Erfahrungen, und seine Empfindsamkeit für die Poetizität der Sprache erweiterte sich wiederum. Die gesuchte Lektüre erlangte gar erotischen Status: „La lectura es una causa erótica.“ 17 Wenn sich die Intensivierung seines Lebensgefühls über den Text herstellte, konnte sich sein Lektüreerlebnis auch in der 15 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 63. 16 Ebd., S. 70. 17 Ebd., S. 77. <?page no="217"?> Die physisch vermittelte Musikalität der Sprache und die Atmung 217 Prosa bemerkbar machen. Er erfuhr, dass das Lesegeschehen, wenn sein Sujet nur spezifisch physisch genug inszeniert worden war, Realität hinter sich lassen und seine eigene Wirklichkeit erschaffen konnte: „la aceptación profunda del engaño lo convierte en verdad.“ 18 Die physisch vermittelte Musikalität der Sprache und die Atmung als Ausdruck der inneren Bewegtheit Der nordamerikanische Blues ließ ihn, gerade wegen seiner ungenügenden Sprachkenntnisse des Englischen, diese spezifische Rhythmik von Wiederholungen intensiver erleben und veranlasste ihn zu dem Versuch, sie sich in seiner Sprache zu eigen zu machen. Diese rhythmisch-semantische Attraktivität veranlasste ihn auch, den türkischen Dichter Nazim Hikmet mit Mühe aus dem Türkischen ins Spanische zu übersetzen, und wiederum, wie beim Blues , sind diese Übersetzungen Antonio Gamonedas eine Art der Aneignung oder eine Inbesitznahme des vernommenen unverstandenen Wortes, der „palabra oída y no comprendida.“ 19 Wiederum bleibt festzuhalten, dass die Körperlichkeit des Sprachklanges entscheidender Träger und Fundament jenes Ausdrucks ist, der auf der Basis der nachgespürten Bewegung von Gamoneda ins Spanische übertragen werden konnte, denn die Dichtung teile sich auch ohne Semantik als eine Art der Wortmusik mit, denn sie sei eine Art von „cuerpo musical, y esta virtud desconocida hacía emocionantes las, para mí, imprecisas significaciones, más sensibles que inteligibles, extrañamente gozables.” 20 Die physisch sich vermittelnde Musikalität der Sprache wird zum Ursprung der poetischen Energie 21 . Als Gamoneda viele Jahre später seine Übersetzungen von Nazim Hikmet einer Revision unterwirft, stellt er fest, dass nur wenig geändert werden müsse, dasjenige aber, was des Umbaus bedürfe, seiner veränderten Atmung geschuldet sei: 18 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 80. 19 Ebd., S. 83. 20 Ebd., S. 62 f. 21 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich die poetische Energie auch vom Text, bzw. der Lektüre physisch vermittelt. Siehe: Prado, Alicia, „Antonio Gamoneda: La poesía no es un adorno que se pone a la vida, es la vida misma, un hecho biológico‟ , in: La Opinión A Coruña , vom 18.02.2018: „Yo entiendo que la poesía no es un adorno que se pone a la vida, es la vida misma. […] Hay poetas al que un poema los ha matado. Yo, más modestamente, sé que mi presión arterial sube cuando estoy peleando con un poema. Todo esto me parecen datos comprobados que identifican el acto poético como una experiencia viva.‟ <?page no="218"?> 218 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Ocurre que mi respiración se ha modificado y que quiero respirar el poema con mi naturalidad de ahora. 22 Weit mehr noch als nur der Wunsch des Übersetzers zeigt sich in dieser Bemerkung das Fundament der gamonedaeischen Dichtung selbst. Denn in dem Gedicht Hablo con mi madre schreibt er: Mamá: quiero olvidar todas las cosas en el fondo de una respiración que canta. 23 Die respiratorisch bewegte Artikulation mit ihrer Entsprechung zur inneren Bewegtheit des Trägers sucht und manifestiert sich schließlich in der Dichtung des Autors. Bedeutung und Genuss Die Anziehungskraft von Nazim Hikmet ging von der Intuition aus, sich wahrer Dichtung gegenüber zu sehen - wie auch beim Blues. Yo sentía los significados, no los comprendía. Supe que estaba en el corazón de la poesía. 24 In ihnen fand Gamoneda eine Poetizität vor, die eine gelungene Metrik und Rhythmik des Gedankens, paradoxe Realität und eine energetische Bildwelt aus dem Ausdruck des Leides hervorbrachte und in Genuss - placer - verwandelte. Deshalb wollte er diese Texte in seiner Sprache spüren können: […] sentirle en mi lengua. Sentir es una palabra muy fuerte. No excluye audición ni lectura ni comprensión, pero no implica necesariamente a cada una de ellas. 25 Subtrahiert man in der Begegnung mit Dichtung Hör- und Leseerlebnis wie auch das Verständnis, so bleibt, eine - sozusagen - vollständig verinnerlichte, physisch gewordene Präsenz des Dichterwortes zurück. Auf der Grundlage dieser Rezeptions- und Erfahrungshaltung ist schließlich das Gerüst der traditionellen Genreunterscheidungen kaum aufrecht zu erhalten. Deshalb kann Antonio Gamoneda auch der Kategorisierung der La Celestina als dramatischen Text seine Zustimmung nicht geben. Es ist die Sensibilität 22 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 84. 23 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , Círculo de Lectores, S. A., Galaxia Gutenberg, S. A., Barcelona, 2004, S. 125. 24 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 92. 25 Ebd., S. 89. <?page no="219"?> Bedeutung und Genuss 219 für den spürbaren musikalischen Duktus, der in seiner Konsequenz Verstehen fühlbar werden lässt und Bedeutung in Genuss verwandelt: Consiste en una particular enjundia de la palabra, que se hace sensible precisamente por la corporeidad musical del discurso. [44] Es por tanto, algo sutilmente físico. En casos como éste, no sólo comprendemos intelectualmente la significación, sino que la sentimos: la comprensión es sensible, la significación es placer. 26 Es ist genau diese Qualität der Sprache als Poetizität, welche die Grenzen der Genreeinteilung sprengt: „Esta es una calidad «más allá de los géneros».“ 27 Auch für die semantischen Abfolgen lasse sich ein musikalischer Sprachkörper konstatieren. So schreibt Antonio Gamoneda über seine Lektüre von Valle Incláns La corte de los milagros : […] advertí que, muy en primer término, la prosa se manifestaba musical; había un discurso rítmico implicado en el discurso narrativo o dialogístico; la significación léxica es también significación musical; 28 Das Spracherleben Antonio Gamonedas bestätigt demnach die aristotelische Bemerkung zu Beginn von Peri poietikes : „Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen - in Versen, indem sie entweder mehrere Maße miteinander vermischt oder sich mit einem einzigen Maß begnügt -, verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten.“ 29 Die Überzeugung Antonio Gamonedas, Dichtung nicht für einen Genrebegriff zu erachten, ist dahingehend zu präzisieren, dass es sich dabei nicht um die Bedeutung handelt, die das Derivationsmorphem “-ung” als Nomen actionis bezeichnet, sondern um dasjenige, was eine Aussage in Dichtung verwandelt, also um das Wesen der Dichtung, um das Dichterische selbst. Der Wille, jenes Dichterische zu erkennen und sichtbar zu machen, manifestiert sich auch in seiner Entscheidung, den El Dioscórides de Laguna als Dichtung zu interpretieren. Das Werk eines Renaissancearztes und Wissenschaftlers für Dichtung zu erklären, unterstreicht das Genre sprengende Paradigma der Poetizität wie Antonio Gamoneda es versteht, und veranlasst ihn, den Arzt Laguna zwar zu einem mittelmäßigen Versesetzer, aber zu einem von der Wissenschaft begeisterten großen Dichter zu erklären: 26 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 43. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 46. 29 Aristoteles, Poetik , (Übersetzt und Hg. Manfred Fuhrmann). Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982, S. 5. <?page no="220"?> 220 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Tengo para mí que el tiempo convierte el lenguaje simple y natural (tanto el culto como el popular) en lenguaje artístico; pienso que la lectura actual de un discurso arcaico se carga, en alguna medida, de función estética. […] Lo que, quizá, simple y contundentemente acontece, es que Laguna, versificador mediano, fue un gran poeta poseído por la ciencia. El, que denostó la alquimia, practicó transustanciaciones en que las palabras sutilizaron su comunal sustancia y accedieron al hermetismo de la poesía: «Fuimos constreñidos en todo nuestro discurso a usar de algunos vocablos obscuros». Así dice Laguna, al final de su libro con sospechosa humildad, por cierto… 30 Und unser Dichter fügt noch hinzu: “pero con la añadidura con una incandescente virtud estética, que trascendía de la noble prosodia renacentista.” 31 Doch diese Erklärungen gründet A. Gamoneda weder auf einer Willensentscheidung noch einem logischen Urteil, sondern im Wesentlichen intuitiv, nämlich im Vorzug, preferencia , den er als eine inclinación de la sensibilidad y movimiento de ánimo, eine Empfindung und Gemütsbewegung 32 definiert. Beide inneren Bewegungen, die der Empfindung und die des Gemütes, verweisen darauf, dass für A. Gamoneda der logos poietikos kein methodisch vorbereitetes Denken besitzt 33 . Es ist die Rezeptivität der Physis und des sensitiven Apparates des Körperleibes als Reaktion auf die materiale Präsens eines Wortes, welche über die Ausdrucksdignität und damit über dessen Poetizität entscheidet: Escribir es una tarea alquímica, es decir, hermética. Pero es hermética, sobre todo, porque el poeta no conoce en modo metódico la ciencia de su trabajo. Se activan las palabras y son ellas (con tu fuerza musical y tu vértigo intelectual, pero ellas ) las que extraen tu lucidez, tu mucha o poca lucidez. 34 30 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 125. 31 Ebd., S. 122. 32 Ebd., S. 121. 33 Rodríguez, Iván Gonzálo, Antonio Gamoneda: «Los premios no han definido un canon literario nunca» , in https: / / www.ocultalit.com/ entrevistas/ antonio-gamoneda-premios-definido-canon-literario/ , vom 12.06.2018. Gefragt in diesem Interview, wie er, Antonio Gamoneda, zur poesía de la experiencia stünde, äußert er sich zum Zusammenhang von Alltagssprache, Idee und Dichtung. Er weißt damit auf das eigentliche Terrain des Dichtens hin: „Yo tengo la opinión de que no es apenas nada. Pero no exactamente por las ideas porque ideas, como se suele tener idea cuando se anda por la vida, tampoco se tiene en la poesía. […] Creo que desconocen completamente la consistencia de los lenguajes poéticos y que tienen una empresa imposible en querer ser poeta con el mismo lenguaje que anda por la calle y por la casa. El problema de la poesía no es de lucidez, ni de sentimientos si no de lenguaje.“ 34 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 183. Es handelt sich also keineswegs um eine Hermetik wie diejenige des Hermes Trismegistos , um also einen geheimgehaltenen Wissenschatz, sondern um die Abwesenheit von Methode an sich. Denn Methode bringt eine wegzeichnende Einschränkung für die Arbeit am Wort zwingend mit sich. <?page no="221"?> Dichterische Realität: el símbolo poético 221 Dichterische Realität: el símbolo poético Wenn wir also davon ausgehen, dass die Dichtung Literatur ohne Genregrenze ist, gibt es auch keinen vorgängigen Modus Operandi. Zugleich jedoch bedeutet dies auch, dass es in dieser Art der Dichtung nicht mehr um Ausschnitte des Seins gehen kann, um Elegie, Enkomion, Apologie, Pathos oder Hymnus etc., sondern um etwas weit Umfassenderes. Das, was in der Dichtung als Literatur ohne Genregrenze statthat, ist die aufmerksame Wachheit eines spezifisch sensiblen Bewusstseins - nicht notwendig subjektiv - seiner Welt gegenüber, womit das Movens der Dichtung Antonio Gamonedas benannt wäre: die Erschließung von Welt durch die Dichtung und damit auch die Frage nach der ästhetischen Verantwortung um die menschliche Existenz. Im Falle des El Dioscórides de Laguna handelt es sich dabei um den Versuch der Seinserschließung der menschlichen Existenz als Arzt. Dichtung schafft: Conocimiento de ‚algo que no existía‘: por ello es creación ; conocimiento también de algo que pertenecía a lo desconocido: por ello es revelación . 35 Erschaffen wird nichts mehr und nichts weniger als eine dichterische Realität selbst. Darum auch sei das dichterische Sprachmaterial, el símbolo poético , eines, welches ausschließlich sich selbst symbolisiere. Seine dichterische Energie erhalte es aus der Überhöhung des alltäglichen Sprachgebrauches: Si yo digo: “Esta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte”, cabe sospechar una carga simbólica en las palabras, porque se advierte algo relacionado con la energía poética del símbolo. Es verdad, pero también ocurre (y téngase en cuenta que la poesía no es ficción ) que “esta casa estuvo histórica y realmente dedicada a la labranza y la muerte.” Me parece interesante reparar en esta doble potencia, porque es un componente básico del lenguaje creador . 36 Der Einschub, dass es sich bei Dichtung nicht um ficción handele, ist alles andere als eine Polemik dem Genre gegenüber. Es handelt sich um den Hinweis darauf, dass der Anspruch der gamonedaeischen Dichtung nicht in einer Erzählung mündet, die der Realität sozusagen noch einen Parallelgedanken hinzufügt. Die Dichtung Antonio Gamonedas ist selbst Vorschlag eines möglichen, von ihr ausgehenden Realitätserlebnisses. In der Auto- oder Intrareferenzialität des dichterischen Zeichens vollzieht sich eine Erweiterung des vom konventionellen Sprachgebrauch als real Be- 35 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes. Cuadernos del Noroeste, 3. La Biblioteca I. E. S. „Lancia“, 2000, León, S. 19. 36 Ebd. , S. 17. <?page no="222"?> 222 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen stimmten, die Gamoneda als „ existencia intelectual“ 37 bezeichnet. Dem Dichter ist es um eine creación de realidad en el lenguaje zu tun. Handelt es sich um gelungene Dichtung, schlägt die Erweiterung in Qualität um und Dichtung: „sea también una amplificación y hasta una intensificación de la vida.“ 38 Der Tod, die Erinnerung und die Musik Intensivierung des Lebens aber heißt Bestätigung des Lebens. Das Leben selbst dringt auf sein Dasein, das Leben feiert sich in der Dichtung selbst. Ihre Spuren hinterlässt die Feier in der Erinnerung. Deshalb ist Dichtung für Antonio Gamoneda „un arte de la memoria“. 39 Erinnerung ist immer auch Erinnerung an Verlorenes und somit Bewusstsein des Verlustes. Der Verlust führe uns das Vergehen vor Augen. Er ist deshalb Bewusstsein von Vergangenem und somit Bewusstsein der Zeit. Bewusstsein vom Vergehen der Zeit, vom Vergehen des Lebens und vom Nahen des Todes. Und dennoch meint Antonio Gamoneda: Sin embargo, la poesía tiene su causa y su fin en la generación de placer, con independencia de que pueda o no estar fundamentada en sufrimiento y en la conciencia moral. […] La poesía, arte de la memoria, es, sí, conciencia mortal; lo es [25] hasta hacerme pensar que la poesía no existiría si no supiésemos que vamos a morir, pero, perdóneseme la machaconería, esta concreta forma de conciencia mortal intensifica nuestra vida, activa neurotransmisores que levantan placer en los actos de creación (al parecer, son los mismos que se activan en el amor y que los encargados de la defensa ante el dolor) y, de alguna manera, este placer es una forma de reparación de la conciencia desdichada. 40 37 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes , S. 13: „La palabra tiene siempre un significado. El que el significado poético sea un imposible en el ,exterior‛ del lenguaje, el que carezca de referente, conlleva -y esto puede ser, yo lo creo así, un valor- que la palabra sea autorreferente o intrarreferente ; que su realidad sea efectiva en el cuerpo de la palabra misma; que comporte una amplificación de la realidad y que esa amplificación de la realidad, que es una existencia intelectual , sea también una intensificación de la vida.“ 38 Ebd. 39 Ebd. , S. 23: „Ya hace tiempo que vengo diciendo que la poesía es un arte de la memoria, que lo es necesariamente incluso a los efectos de su existencia física.“ 40 Ebd., S. 24 f. <?page no="223"?> Der Tod, die Erinnerung und die Musik 223 In dem Augenblick, in dem die Menschheit den Tod entdeckt, verwandelt sich Sprache in sakrale Handlung 41 zur Feier des Lebens und zur Abwehr des Todes. Dieser Augenblick war ein guter Augenblick für die Dichtung, da sie just in dem Moment Inbegriff des Sprechens wurde, in dem der Mensch gelernt habe, seine eigene Existenz als sakral zu empfinden. Die Erinnerung an diesen Augenblick habe sich bis heute erhalten und lebe im dichterischen Wort fort. Dichtung nun als Feier des Lebens im Eingedenken des allgegenwärtigen Vergehens und als Kunst der Erinnerung an eine die Realität erweiternde Realität - eine Realität, die der Erinnerung noch harrt - teilt ihre Natur bis in die Physis hinein mit der Musik. Denn die musikalische Melodie könne nicht existieren ohne die Erinnerung an ihre Teile: De la misma manera (y no estoy abogando por la preceptiva tradicional aunque sea cierto -lo dijo Eliot- que en toda [24] organización poética “habita una métrica”) la sensibilidad a las simetrías internas de un endecasílabo se potencia porque tenemos “memoria” del endecasílabo anterior. 42 Und wie in der Musik fordere dieses Geschehen das dichterische Subjekt auf, den so erfahrenen Impuls am Leben zu erhalten, ihn in die Zukunft hinein fortzuführen. 43 Die Komposition der Sprache zu einem prosodisch geordneten Ganzen heiße Dichtung und erschaffe die dichterische Realität: Pero y pretendo levantar la verdad de otro nivel, de otra realidad posible a partir del lenguaje-pensamiento-conocimiento (recuérdese: creación-revelación ); tengo que hablar de la realidad poética. El lenguaje poético tiene su desencadenante en un impulso de la especie sensible, en un impulso musical. Dice Eliot que la generación poética consiste en la “aprehensión sensorial y directa del pensamiento poético” (las cursivas son mías). Humildemente acorde con Eliot, yo defiendo que la música es el estado original del pensamiento poético . Puedo precisar un poco más: el pensamiento poético se genera en la confusión [16] profunda de una causa musical y una causa significativa. 44 41 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 31: „En este escrito alcanzaremos tiempos en que el mundo ya no es sagrado . Para éstos, mi convicción se modifica parcialmente y afirmo que la poesía es un lenguaje aprendido cuando el mundo era sagrado.“ 42 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 23 f. 43 Ebd.: „Quiero decir con esto que, ese impulso musical de que antes he hablado, organiza el lenguaje y el pensamiento poético en un acto de composición, y es muy fácil comprender que la composición, no sólo en la poesía sino en todas las artes, es memoria de partes : es imposible la sensibilidad, es decir la comprensión, de una melodía sin tener memoria de sus partes.“ 44 Ebd., S. 15 f. <?page no="224"?> 224 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Die Körperlichkeit des Musikalischen 45 nährt die Überzeugung des Dichters, dass die herausragende Qualität der dichterischen Sprache sich noch vor dem Intelligiblen im Sensiblen finden lassen müsse: De esta convicción mía conviene retener que el lenguaje poético es antes sensible que inteligible bajo condiciones de sensibilidad. De sensibilidad musical (lo reconoce para siempre Aristóteles al vincular el origen de las formas poéticas a la intuición de los ritmos). Nosotros, de manera un punto sobrecargada de lirismo, pero sugeridora de una verdad básica, podemos convenir en que el pensamiento poético es un “pensamiento que canta .” 46 Der logos poietikos des Antonio Gamoneda ist durch sein Ausgelöstwerden vermittelst des musikalischen Impulses im Drama der Artikulation charakterisiert. Es handelt sich dabei um ein körperliches, mithin leibliches Geschehen, welches dem Subjekt, das diesen Impuls erfährt, selbst befremdlich erscheinen mag. Im musikalischen Impuls des Denkens, das singt , bringt sich der Dichter seinem Körperleib gegenüber in Stellung und überlässt sich zugleich diesem, seinem Leitfaden des Leibes . Am Leitfaden des Leibes . - Gesetzt, daß die » Seele « ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben. - vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib , an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«. 47 Nur im Individuum wird die Spezies wirklich, und der individuelle Körperleib ist der Ort, an dem sich Genesis und Geschichte begegnen. Damit jedoch überlässt sich der Dichter einer ihn selbst überschreitenden Erfahrung des Seins, einer Erfahrung, die sein Ich übersteigt und dennoch als ein ihm Ureigenes verbleibt, denn sein Körperleib ist schließlich ein Auch-Ich und kein Anderer. Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes! 48 45 Siehe Fußnote Nr. 6, S. 179, in welcher Plessner den Charakter des Akustischen im Volumen und Impuls erkennt, einem Modus des Körperlichen. 46 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes , S. 16. 47 Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Carl Hanser Verlag, München, 1955, Bd. III, S. 453. 48 Ebd., S. 454. <?page no="225"?> Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik 225 Am Leitfaden des Leibes , an dem, was er erleidet, werden die Bedingungen des Daseins erfahren und er ist es, dem die unmittelbarste Zeugenschaft des Seins zugestanden werden kann. Ohne ihn gibt es kein Sein und deshalb ist er mit dem Sein aufs innigste verbunden. Nichts ist ohne den Körperleib. Mit ihm ist der Mensch sich, und die Welt ihm gegeben in Lust und in Leid. Der musikalische Impuls ist Ausdruck dieser Gegebenheit, und der Dichter wendet diese innere Bewegtheit in die Sprache und objektiviert sie im Werk. Am Befremden und am Erstaunen, an der einfachen Tatsache dieses Geschehens entzündet sich die Dichtung Antonio Gamonedas, und er kann sagen: „todo arte va hacia «una realidad» bajo condiciones de irrealidad. Este es, sustantivamente, el único mecanismo estético.“ 49 Der Auslöser für diese Art der Lockerung des Seins durch die transzendierende Immanenz des gamonedaeischen Idioms ist der musikalische Impuls, el impulso musical . Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik oder: Das dichterische Denken ist ein Denken, das singt. In Lebensfluten, im Tatensturm Wall ich auf und ab, Webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben, So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. 50 Humildemente acorde con Eliot, yo defiendo que la música es el estado original del pensamiento poético . Puedo precisar un poco más: el pensamiento poético se genera en la confusión profunda de una causa musical y una causa significativa. 51 Im Menschwerdungsgeschehen verkehrt sich seine Naturausstattung zur Kultur: das Maul zum Mund, das Auge zum Begriff, zum Wort, die Hand zur Schrift, zum Instrument, der Fuß zum Tanz, das Ohr zur Sprache, zur Musik, Zunge und 49 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 203. 50 Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Der Tragödie erster Teil , Reclam Universal-Bibliothek, Nr. 1, Philipp Reclam jun. GmbH & Co, KG, Stuttgart, 2000, S. 17, Vers: 501 - 509. 51 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 15 f. <?page no="226"?> 226 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Nase zur Kulinarik und die nackte Haut zur Liebe. Der Sinn der so gewandelten Sinne ist die Welt im Verständnis. Die Künste arbeiten an der Eindrücklichkeit der Welt, indem sie sich an ihrer Selbstvermerklichkeit versuchen. Ob der Selbstvermerklichkeit der menschlichen Existenz schaffen die Künste demnach auch am Bild der Welt. Mit diesem Tun besetzt der Mensch seinen Platz in der Welt. Er ist zum Künstler der Mitte, zum Künstler der Balance in seinem Mesokosmos geworden. Es ist ein Ort in ständiger Gefahr, durch die Natur und durch den Menschen selbst. Er muss an ihm festhalten, ihn immer wieder beschwören und erneuern. In der Tragödie erkannte Friedrich Nietzsche eines jener Rituale, mit deren Hilfe sich der Mensch die Welt für sich erhält. In der Vision des Chores erscheint sein Gott wie auch die Welt. Aus dem Singsang der visionären Choreuten entsteht das Bild auf der Bühne mit seinen Protagonisten. In der Tragödie findet die Synthese zwischen den unsterblichen, ständig vergehenden und ständig sich erneuernden dionysischen Elementen des Gesanges und des Tanzes und den unsterblichen, immerwährenden apollinischen Elementen des Bildes und des Traums statt. In dieser Mitte hält sich der Mensch in der Welt. Zwischen Bild und Traum sowie Tanz und der Musik steht die Sprache. Sie vermittelt Ruhe mit Bewegung, das Wort mit der Musik, das Jetzt mit dem, was war und kommt, die Grenze mit ihrem Übergang. Das Herausgelöstsein des Gegenstandes aus dem Ganzen des Seins ist der Natur des Sehens und dem Zupacken, dem Ins-Auge-Fassen des Gegenstandes, geschuldet. Aus der Natur des Auges heraus ergibt sich die Semantik, denn wie der Begriff oder das Wort seinen Gegenstand begrenzt und festhält, so das Auge sein Objekt im Akt des Sehens - und so auch das Bild. Aus der Natur des Hörens heraus und der Bewegung, dem Hinhören geschuldet, ergibt sich, dass der Körperleib zur Welt sich wendet. Ob der Natur des <?page no="227"?> Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik 227 Ohres ergibt sich die in die Zeit hinein gespannte Kette von Worten, Lauten 52 , Syntax, Grammatik und die Prosodie 53 - und so auch der Tanz 54 . Sprache ist ohne Anfang und ohne Ende. Um etwas feststellen zu können, bedarf sie einer spezifischen Starre und Konstanz in Wort, Wortformen und Wortformkombinationen. Deshalb muss sie von innen her befestigt sein, ein Gerüst in sich selbst besitzen. Dieses Gerüst besteht neben der oben genannten Semantik, Grammatik und Syntax auch in der Artikulation des atmenden Klanges. Im klanglich-bildhaften Wort fängt Sprache ihren Gegenstand ein. In der Grammatik werden die Worte, Wortformen und Wortfunktionen geordnet, und die Syntax spannt sie in den Lauf der Zeit hinein. Im Drama der Artikulation widerstrebt der Klang dem Verlöschen in der Zeit und bringt die Prosodie hervor. Grammatik und Syntax verbinden Wort und Prosodie. Garantiert die Bildhaftigkeit bzw. die Wortbedeutungsgrenze in der Sprache die Arretierung des Gedankens, fängt ihn in eine Grenze ein, so bieten sich Syntax, Grammatik und Prosodie der Bewegung, dem Fluss und somit dem sinnlich-körperlichen Ausdruck dar. Das Erstarren in der semantischen Eindeutigkeit - dem Wort als Bild, eingefasst in seinen Rahmen, seine Grenze - widersteht der Veränderung. Metapher und Metonymie nutzen diese Starre oder Bildhaftigkeit des Wortes für ihren Mechanismus der Übertragung und Verschiebung, während rhythmische oder prosodische Mittel, die Semantik dadurch in Fluss bringen, dass sie die Worte 52 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 2003, S. 307: „Der einzelne Mensch hängt immer mit einem Ganzen zusammen, mit dem seiner Nation, des Stammes, zu welchem diese gehört, und des gesammten Geschlechts. Sein Leben, von welcher Seite man es betrachten mag, ist nothwendig an Geselligkeit geknüpft, und die äussere untergeordnete und innere höhere Ansicht führen auch hier, wie wir es in einem ähnlichen Falle weiter oben gesehen haben, auf denselben Punkt hin. In dem gleichsam nur vegetativen Daseyn des Menschen auf dem Erdboden treibt die Hülfsbedürftigkeit des Einzelnen zur Verbindung mit Anderen und fordert zur Möglichkeit gemeinschaftlicher Unternehmungen das Verständniss durch Sprache. Ebenso aber ist die geistige Ausbildung, auch in der einsamsten Abgeschlossenheit des Gemüths, [308] nur durch diese letztere möglich, und die Sprache verlangt, an ein äusseres, sie verstehendes Wesen gerichtet zu werden. Der articulierte Laut reisst sich aus der Brust los, um in einem andren Individuum einen zum Ohre zurückkehrenden Anklang zu wecken. Zugleich macht dadurch der Mensch die Entdeckung, dass es Wesen gleicher innerer Bedürfnisse und daher fähig, der in seinen Empfindungen liegenden mannigfachen Sehnsucht zu begegnen, um ihn her giebt.“ 53 Zur Bestimmung von Prosodie siehe: Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , Éditions Verdier, 11220 Lagrasse, 1982, S. 217. 54 Zu Metrik, Tanz und Skansion siehe auch Fußnote, Nr. 21, Seite 183. <?page no="228"?> 228 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen in neue und unerwartete Kontexte einbetten, sie metrisch, rhythmisch oder euphonisch einhegen und so Einheit und Kohärenz eines Textes garantieren 55 . Mit Hilfe rhythmischer Figuren und Formen, metrisch unterstrichen und so herausgehoben und gewichtiger - da mit der Aura der Signifikanz umgeben - gewinnt das Wort an konnotativer Ausstrahlung. Es gerät in unerwartete Nachbarschaft, ohne dass der Text darum an Kohärenz einbüßt, denn eurythmische und euphonische Elemente der Sprache unterstützen ihn. Das metrische, rhythmische und euphonische Gerüst kann - zumindest bis zu einem gewissen Grade - die semantische Gewagtheit einhegen und seine Richtigkeit suggerieren . Erstarrte Sprachstrukturen können mit ihrer Hilfe deshalb aufgebrochen werden und der Dichtung des noch Unerhörten dienlich sein. Semantik und Grammatik wie Syntax können wieder in Fluss geraten. Das Musikalische - sprachlich, das Prosodische - ist Einfallstor von Bewegung und Veränderung. Das Musikalische, das Charakteristisch-Allgemeine vor dem Vielen Musik ist kein Abstraktum. Die Abstraktion ist erst nach dem Vielen und scheidet die vielen Dinge voneinander, bestimmt diese, indem sie durch die Schaffung einer Grenze, einer Definition ausbzw. eingrenzt. Demgegenüber ist die Darstellung durch Musik vor dem Vielen . Sie errichtet keine äußere Grenze. Sie ist eine Darstellung, die sich durch ihre semantische Unterbestimmtheit charakterisiert. Daher rührt ihre Polyvalenz. So kann langsames Tempo Gelassenheit oder Schwere, Trauer, Stärke oder Zurückhaltung etc. konnotieren. Zudem errichten die verschiedenen Traditionen Felder unterschiedlicher Lesarten gleicher oder ähnlicher akustischer Phänomene. Musik ist semantisch nur fragmentarisch bestimmt, eine Art des pars pro toto , deshalb immer auf Charakteristisches angewiesen, im Sinne der Logik jedoch nie vollständig erfüllt. Daher auch kann sie der vielgestaltige Weg oder die Methode für noch Unerhörtes sein 56 . 55 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 180: „Antes he recordado una formulación de Jacques Ancet relativa a textos de Lápidas y del Libro del frío : «prosa en poema». Debe de tratarse de bloques de lenguaje que, al tiempo, son bloques de sentido y de sonido. 1 Yo tengo una concepción materialista de la poesía, en cierto modo. Sé que construyo objetos con un material físico, con una oralidad que, por convenio, se ha hecho silenciosa en el papel; no distingo ni versículos ni prosa poética, sino bloques rítmicos. Nada más sé de ellos.“ 56 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 187: „Teilweise hat auch die Musik, vor allem als Textkomposition, diese Rücksichten zu nehmen. Aber ihre Möglichkeiten reichen weiter, sie begründen eben die alle Anschauungs- und Verständnisweisen des Bewußtseins hinter sich lassende <?page no="229"?> Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik 229 Das Musikalische als das Charakteristisch-Allgemeine vor dem Vielen , das im Fluss befindliche Dionysische der Sprache ist das Einfallstor von Bewegung und Veränderung: dem Ausdrucksleben, der dionysischen Inspiration. Das Musikalische ist wie der gliederlösende Schlaf 57 , der die in Semantik, Grammatik und Syntax fest gefügten Glieder der Sprache lockert. In der Prosodie erhört der Dichter das Charakteristisch-Allgemeine . Er begibt sich in einen hypnotischen Zustand, dorthin, wo die festen sprachlichen Formen sich aufzulösen beginnen, in ein vormorphematisches Gefüge, in dem die prosodischen bzw. die musikalischen Elemente der Sprache hervortreten und mit der eidetischen ihre hyletische Beschaffenheit und Lebendigkeit zeigen. Damit werden neue, unerhörte, vergessene oder ahnungsvolle Verbindungen begünstigt. In diesem Reich des vormorphematischen Geschehens der Sprache wird das Individuelle, welches seine eidetische Identität noch nicht erlangt hat, ins Hyletische eingelassen. Musik sei eine Universale ante rem 58 . Doch sie ist eigentlich gar keine Universalie, sondern ein charakteristisch Unerfülltes; ein charakteristisch Unerfülltes reine Musik, die den Ton nur in seiner hyletischen, die Idee in ihrer eidetischen Prägnanz nimmt und die beiden gleichartigen Richtungen im Thema sinnvoll verschmilzt.“ Siehe auch ebd., S. 191: „Empfindung und Idee müssen verschmelzen, wenn ein Kunstwerk werden soll, und sie können nur verschmolzen werden durch - nicht mehr bloß mit - thematischer Formung. […] Dieser Thematismus der Kunst beruht darauf, daß Ideen prägnante (nicht darstellbare) Gestalt 54 haben, solche Art von Gestalt aber nur in der Bedingung zu konkreten darstellbaren Gestalten bestehen kann, weshalb Platon sie Urbilder nennt, an denen die Erscheinungen teilnehmen. Nun ist, was zur Formung in den Künsten überhaupt gehört und nie selbst für sich erscheint, ebenfalls bloße Bedingung zu jeder konkreten Modellierung, Prägung, Rhythmisierung. Also kommen Idee und thematische Formung darin überein, Bedingungen konkreter, künstlerischer Gestalten in allen Sinnesgebieten zu sein.“ 57 Homer, Odyssee , Vossische Übersetzung, Verlag von Alphons Dürr, Leipzig, 1878, S. 385, 23.243: „Und kaum hatt’ er das letzte gesagt, da beschlich ihn der süße / Sanft auflösende Schlummer, den Gram der Seele vertilgend.“ (οἱ γλυκὺς ὕπνος / λυσιμελὴς ἐπόρουσε, λύων μελεδήματα θυμοῦ). 58 Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Carl Hanser Verlag, München, 1955, Bd. I, S. 91: „Denn die Melodien sind gewissermaßen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstraktum der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber in gewiser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahierten Formen, gleichsam die abgezogene äußere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstrakta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge gibt. Dies Verhältnis ließe sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem , die Musik aber gibt die universalia ante rem , und die Wirklichkeit die universalia in re .“ <?page no="230"?> 230 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen ante rem . Musik ist ein charakteristisches Analogon eines noch Darzustellenden oder eines noch zu entdeckenden Darzustellenden, einer Darstellung, die ihrem Gegenstand vorauseilt, ihn vorwegnimmt oder anders gesagt: werden lässt. So ist die dionysische Kunst „die ewig schöpferische“ 59 , die ewig lösende und webende vor der Manifestation der Erscheinung wirkende, das Leben feiernde Kunst. Aber sie ist eine immer nur werdende, dem Verfall entgegen werdende Kunst. Mit ihr besetzt das Lebendige seinen Platz im Sein und perpetuiert sich bis zu seinem Untergang. In den begeisterten Tänzern, in den bis zur Trunkenheit erregten, visionären Choreuten, die ihren Gott überall in der Natur erahnen, zeigt sich eine Welt im ewigen Beginnen. Der Gott beginnt zu sprechen, wird zum Protagonisten, der für eine Welt einsteht. Über den sich äußernden Gott, über die weiteren Protagonisten und aus ihren Dialogen und Mythen ersteht nach und nach ein stabileres Ganzes, welches schließlich im Begriff sich arretiert und so ans Ende seiner Bewegtheit gelangt: eine Welt ist entstanden, angefüllt mit Bedeutung. Die begeisterten Tänzer und die von ihren Visionen trunkenen Choreuten wenden sich in der Tragödie von ihrer Bewegtheit ab hin zum Stillstand des Bildes und des Begriffes. Aus diesem Vorgang erwächst eine zivilisierte Natur und der Mesokosmos - Habitat des Menschen. Das orphische Idiom Der musikalisch bewegte Dichter sucht die Heimkehr ins Stadium des Choreuten. Er sucht die visionäre Begeisterung und Trunkenheit zu kultivieren, weder um der Manifestation eines Geistes habhaft zu werden, noch mit dem Ziel eine Realität - ein Schon-Geschehenes - zu stabilisieren, sondern um der Begeisterung selbst willen oder, um aus dem Entsetzen an der Welt nicht zurück zum Idyll, sondern zur tragischen Weltsicht fortzuschreiten, der Welt entgegen zu singen wie Orpheus 60 , bis er von den Mänaden zerrissen wurde. Letztlich aber 59 Ebd., S. 93: „In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: »Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter! «“ 60 Von der Bedeutung des Orphischen für Antonio Gamoneda zeugt das folgende Textfragment: „La rebeldía linguística, lo que algunos llaman irracionalismo, es el único medio de implicar creación y sentido, insisto, en una escritura que ha de ser inseparable del vivir y el morir en un mundo cruelmente manipulado. Esta rebeldía es el espacio actualmente natural y necesario de la escritura poética, de la escritura de creación y revelación , la escritura que se deduce del que, sin grandes reparos, podemos llamar lenguaje órfico . Reparen en que el que digo “lenguaje órfico” es el único relacionable con el “pensamiento que canta”, y que uno y otro sólo puden originarse y percibirse en los cauces de la sensibilidad, <?page no="231"?> Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik 231 ist sein Tun dem Leben und dem Lebendigen geweiht, indem er singend auf den Tod zugeht: cesar 61 , sagt Antonio Gamoneda. Zwischen dem domestizierten Apollon - dem Herrn des arretierten Bildes - und dem naturerfüllten Dionysos - dem Herrn der Bewegung in Tanz, Gesang und Musik - sucht Orpheus die wildbewegte Welt der Choreuten zu kultivieren, ohne die Naturbindung, die grenzüberscheitende Begeisterung - er selbst kennt die Welt der Sterblichen und den Hades - zu zerstören, ja sie beizubehalten und zu intensivieren - nach Innen hin zu übersteigen. Sie ist ihm Quelle des Wissens und der Weisheit, spricht sie sich doch gegen jeden Verfall durch begriffliche Befestigung als empirische Individuation aus. Das ist der Grund, weswegen seine Sprache hermetisch und bedeutend zugleich erscheinen kann. Dass der Dichter als dieses besondere Individuum Zugang zu jenem vorindividuellen, charakteristisch Allgemeinen der choreutischen Begeisterung hat, ist ein Privileg. Dass es ihm geschieht, ist verwunderlich: sucede 62 , pflegt Antonio Gamoneda lapidar zu sagen. Beugt sich der Dichter zu jenem Charakteristisch-Allgemeinen der Musik zurück, entwickelt er eine Disziplin und kultiviert sein Erscheinen, geschieht es ihm wie Orpheus mit den wilden Tieren und den Felsen, die kommen, um aunque ésta pueda y deba estar asistida por potencias intelectuales (acúdase aquí a la breve cita que, páginas atrás, he hecho de Eliot).“ In: Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, Cuadernos del Noroeste, 3. La Biblioteca I. E. S. „Lancia“, 2000, León, S. 22. 61 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , Círculo de Lectores, S. A., Galaxia Gutenberg, S. A., Barcelona, 2004, S. 404, im Libro del frío ENTRA en tu cuerpo y tu cansancio se llena de pétalos. Laten en ti bestias felices: música al borde del abismo. Es la agonía y la serenidad. Aún sientes como un perfume la existencia. Este placer sin esperanza, ¿qué significa finalmente en ti? ¿Es que va a cesar también la música? Ebenso in: Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 16: […] Lo deseable sería, efectivamente, no tener pensamiento; descansar en la [falsedad, y después, efectivamente, sin miedo ni esperanza, cesar. 62 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 26: „Yo no poseo mi pensamiento hasta que no me lo hace sensible/ inteligible mi propia escritura, o, dicho de otra manera: sólo sé lo que digo cuando ya está dicho .” <?page no="232"?> 232 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen ihm zu lauschen. Er selbst weiß nicht um das Warum, kann jedoch vorbringen, dass sein Gesang in diesem Geschehen wirkt und bewirkt wird. Es handelt sich demnach um eine besondere Art des Wissens, um ein Kennen und Bekanntsein mit den dionysischen Kräften. Die dionysische Musik ist in diesem Sinne ein: no saber sabiendo . Was aber kann gewusst werden von einem Sein, das ewig im Fluss ist, sich ständig erschafft und erneuert? In welcher Weise kann von einem derartigen Sein gewusst oder etwas ausgesagt werden? Der musikalisch bewegte Dichter entspricht dem dionysisch bewegten Sein mit seinem Gesang, der musikalisch bewegten Sprache. Im Gesang des Dichters entfaltet sich die Rede des Seins als ein no saber sabiendo . Der Akzent, das innere Leben des Begriffs In der Musik ist das Allgemeine als das Besondere im Fluss. Dasjenige, dessen Grenze - Horos - nicht festgestellt ist, lässt sich im Fluss durch Akzentuierung einzelner Einheiten und durch Rhythmisierung wie in einer Spur erkennbar machen. Im Sprachton 63 besitzt es eine Art der inneren Grenze, in der die Akzentuierung die Aufmerksamkeit versammelt und Gemeinschaft durch Hervorhebung stiftet. Durch die Akzentuierung lässt sich eine Spur des Gemeinsamen legen. Die Rhythmik erscheint als eine Reihe von Markierungen, als innere Grenze von einem zu erlauschenden Etwas - und im Nachsinnen, im Nachhören kann man die Kognition bei der Arbeit belauschen, wie sie sich am Wort ohne äußere Grenze und ohne Stillstellung abarbeitet. Der sprachliche Akzent, die Rhythmik oder die Verszeile sind eine andere Art des Horos , eine andere Art der Definition und eine innere Grenze und Spur auf dem Weg zum Wort, oder anders ausgedrückt: das innere Leben des Begriffs. Wollen wir erfahren, was Dichtung ist, lesen wir Petrarca „del vario stile in ch’io piango y ragiono“ 64 , und lernen damit etwas über das Leben der Dichtung; wir haben deshalb jedoch noch keinen Begriff von ihr. Nur die Definition sagt uns, was Dichtung ist und was nicht. Dieses Was Nicht kann uns die Lektüre Petrarcas selbst letztlich nicht sagen. Der Akzent, der Rhythmus oder die Verszeile sind das Ausdrucksleben des Begriffs. Schreiben wir eine Definition auf, sehen wir von den Dingen selbst ab und wenden uns zu ihrem Allgemeinen als äußerer Grenze des Definiens, wobei die Definition immer länger ist als das Definiens. 63 Siehe Fußnote, Nr. 104, Seite 202. 64 Petrarca, Francesco, Canzoniere , Arnoldo Mondadori Editore S.p. A., Milano, 1985, S. 53. <?page no="233"?> Die Geburt der Dichtung aus dem Geiste der Musik 233 Schreiben wir eine Gedichtzeile auf, so wenden wir uns den Dingen selbst zu, ihrem Partikularen und Besonderen als der inneren Grenze, wobei die Gedichtzeile immer kürzer ist als das zu benennende Ding. Sie - die Zeile - ist durch Akzentuierung charakterisiert. Dichtung, Enthusiasmus ohne Begriff Die Doppelgesichtigkeit der Sprache zwischen Bild und Klang, Begriff und Musik ist das Tätigkeitsfeld des Dichters. Das Musikalische, das, was aus dem konkreten Charakteristisch-Allgemeinen der Musik in die Sprache eingeht, ist die Pforte für den Eintritt der Begeisterung, des impulso musical , des inneren Bewegtseins des Dichters. Sein Werk besteht in der Kultivierung dieser Schwelle des Enthusiasmus ohne Begriff 65 . Beim orphischen Idiom des Dichters Antonio Gamoneda ist das Musikalische als Enthusiasmus ohne Begriff Ausdruck der transzendierenden Immanenz und der Lockerung des Seins durch die Rhythmik des Charakteristisch-Allgemeinen vor dem Vielen. Wie durch ein Schwingen - Rhythmus und Klang - werden wir im Text von der Atmung zur Artikulation und zum Gedanken geleitet. Wir werden bewegt und bewegen uns. Das ist das Musikalische und das Lebendige zugleich. An den Kulturtechniken des Umgangs mit einem Text, dem Wort und der Sprache erschließt sich ein Umgang mit sich als Individuum und als Person, als Mitglied einer Gemeinschaft. Ein nach außen gewendetes inneres Tun, welches zugleich von außen ins Innere hinein wirkt und waltet. Seine Materialität - Atmung, Artikulation bzw. Bewegung oder Rhythmus, Klang, Farbe und Kontur - manifestiert sich unvergleichbar mit den inneren Vorgängen, ohne dass diese sich jedoch jemals von jenen ablösen ließen. Die Wendung nach außen aber ermöglicht die Vergegenständlichung dieser Phänomene der Sinne und des Sinnes in einem weit höheren Maße, als es die innere Einkehr allein jemals würde gestatten können. Und dennoch wäre all das Außen ohne innere Einsicht nichts. Was der orphische Dichter Antonio Gamoneda uns, seinem Leser, aus dem Graben der Orchestra singt, bewegt - und folgen wir seiner Prosodie, bewegen 65 Gamoneda, Antonio, Libro del frío. Germania Gràfics, s.l. Valencia, 2000, mit einem Prolog von Jacques Ancet, S. 21: „Sí, a pesar de la angustia que expresa, esta poesía está poseída por una irresistible energía vital. O lo que es lo mismo en este caso: una energía musical. No en el sentido banalmente sonoro del término -eso ya se sobreentiende-, sino en el sentido de que soledad y silencio, angustia y agonía están transfiguradas por la intensidad de un deseo que no quiere rendirse y que continúa, en sentido estricto, cantando -ardiendo- en el corazón mismo de la oscuridad: ” <?page no="234"?> 234 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen sie -, versetzt uns in uns selbst. Darin liegt seine Bedeutung. Er selbst hat dieses Bewegtsein vollzogen, indem er sein dichterisches Tun mit allen seinen Texten beharrlich jenen Wendungen unterzog, die das Innere nach außen und das Äußere nach innen kehrten. Die unablässige Wiederaufnahme jedes einzelnen einmal verfassten Textes, deren beständige mögliche Umschrift, die unbeirrte Arbeit an einer präzisen Metaphernwelt, das Insistieren auf wiederkehrenden Bildern etc., all dies weist den Dichter Antonio Gamoneda als den Schöpfer einer einzigen großen Klangskulptur aus Stimme, Stille und Rhythmus vom ersten bis zum letzten Text aus - einer stillen Musik, eines enormen Apollons im Fluss unablässiger Bearbeitung des orphischen Gesangs. Denn nur das Eigene birgt den Kern einer Zukunft für den Menschen und legitimiert so den höchst personalisierten Entwurf einer ursprungskohärenten Vision der Welt: einer Weltenplastik aus Klang und Stille 66 . Wie durch ein Schwingen führt uns die Hand des Dichters durch die flussgewordene Klangskulptur seines enormen Apollons, nehmen wir Stimme, Stille und Rhythmus in uns hinein und entsprechen ihrer Kunde im Vollzug jener Bewegungen, die in unserem Körperleib ihren Resonanzboden finden, indem er sie erzeugt. So treten wir ins Werk Antonio Gamonedas, in seine Weltenplastiksprache ein. En mi libro Descripción de la mentira hay un renglón que viene a decir que toda mi actividad poética se deduce de «la contemplación de mis actos en el espejo de la muerte». Y cabe una segunda deducción (verificable, por otra parte): mi poesía estuvo siempre en la perspectiva de la muerte. 67 Alles Lebendige besitzt ob seiner schlichten Existenz Ausdruck. Die Hinwendung des Lebewesens Mensch zur Kultur, der Hand zur Schrift, eröffnete dem 66 Gamoneda, Antonio, Libro del frío. Germania Gràfics, s.l. Valencia, 2000, mit einem Prolog von Jacques Ancet, S. 16: „La práctica tenaz y fascinante de la imagen cuya carga -enigmática a menudo, alucinante a veces- es una constante de esta escritura, ha sido calificada de ,surrealista‘ por la crítica con demasiado apresuramiento, porque lo cierto es que el carácter repetitivo de algunas imágenes, ligado a términos presentes de manera obsesiva -el animal, las madres, el abismo, el llanto, los líquidos, la luz, los ancianos, el amarillo, el corazón, la nieve etc. - muestra claramente que tales imágenes no son fruto ni del automatismo ni siquiera incluso del onirismo, sino de un profundo enraizamiento existencial. Dicho de otra manera, la relación con lo real no está eliminada como en el caso de los surrealistas […] sino únicamente eludida.” 67 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 24. <?page no="235"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 235 Menschen den Weg in seine Eigentlichkeit 68 . Die dichterische Plastik Antonio Gamonedas ist ein Beitrag zur Humanisierung 69 dieses Weges. Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form Cuestión de instrumento Si de mi baja lira tanto pudiese el son que en un momento aplacase la ira del animoso viento y la furia del mar y el movimiento; (Garcilaso de la Vega, Canción V, Ode ad florem Gnidi) 70 Ustedes saben ya que una sartén da un sonido a madre por el hierro y yo sé que una celesta suena a tierra feliz, pero si ustedes tienen a su madre en el fregadero, no toquen, por favor, la celesta. (Antonio Gamoneda, Blues castellano: Cuestión de instrumento ) 71 68 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 399: „Die exzentrische Positionsform bedingt die Mitweltlichkeit oder Sozialität des Menschen, macht ihm zum ζῷον πολιτικόν, und bedingt gleichursprünglich seine Künstlichkeit, seinen Schaffensdrang. Es fragt sich, ob aus der Exzentrizität ebenso ursprünglich - nicht diese oder jene Art von Ausdrucks bedürfnis , sondern ein Grundzug menschlichen Lebens folge, den man als Expressivität, als Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt bezeichnen muß. Ein derartiger Grundzug macht sich natürlich für den Menschen auch als Zwang geltend, der nicht nur in seinem Leben aufgeht, sondern darin gegen sein Leben angeht, lebend sein Leben führt.“ 69 Vento Villate, Ignacio: „El logos poéticos en Antonio Gamoneda“, in: Tropelías. Revista de Teoría de la Literatura y Literatura Comparada , n° 21 (2014), S. 183 f.: „Así, en Gamoneda existe una constante en la construcción de su poética que, referida a su conciencia, le constituye singularmente como un hombre que va perfilando su dimensión humana y ética.“ (URL: https: / / papiro.unizar.es/ ojs/ index.php/ tropelias/ issue/ view/ 66 [Frühjahr 2017]) 70 Rico, Francisco, Mil años de poesía española. Antología comentada, Editorial Planeta, S. A., Barcelona, 1996, S. 231, Beginn. 71 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 97. <?page no="236"?> 236 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Die Sehnsucht des Renaissancesängers nach orphischer Macht über die Natur und das meteorologische Geschehen verwandelt sich im Gedichtzyklus Blues castellano von Antonio Gamoneda zum einen in die Frage nach dem Instrument: lira garcilasiana bzw. música celesta 72 oder sonido a madre und zum anderen in die Verwandlung der Sehnsucht nach wohl eher moderater orphischer Macht - Mi canto está mal hecho - über das Geschehen in der Menschenwelt - La desgracia de los otros entró en mi carne 73 . Dem modernen Orpheus bleibt wohl nicht mehr als die Denunziation des menschlichen Leides sowie die verwunderliche Erfahrung einer dennoch vorhandenen beglückenden Schönheit in der Natur in Paisaje 74 und in der Empathie in Tú 75 mit der unmittelbaren Lebenswelt, die sich in den Figuren der Mutter in Caigo sobre unas manos 76 und Hablo con mi madre 77 , der Kameraden in Sabor a legumbres 78 und der Freunde in El río de los amigos 79 oder in Caigo sobre una silla 80 manifestiert. Selbst rein zufällige Zusammentreffen mit Fremden wie in Blues del mostrador 81 und Blues de la escalera 82 öffnen sich vermittelst der Empathie zu einer Begegnung mit dem menschlichen Antlitz des Anderen 83 . 72 Die Instrumentenwahl mit Namen celesta (franz.: „céleste“ adj. - fin XI e ; lat. Caelestis, de caelum «ciel» 1. Relatif au ciel“ aus: Le Nouveau Petit Robert , (Hg. Josette Rey-Debove et Alain Rey), Dictionnaires Le Robert, Paris, 1996, S. 326) scheint mir eine Auslegung des Klanges der tierra feliz sein zu sein (der Dichter selbst „bedient“ so ein „Instrument“ in Form eines klassischen Sonetts in Música de cámara ( Esta luz , S. 59) und zitiert sich im Gedicht selbst) und auf einen glücklichen Zustand anzuspielen - unangebracht für die Küche und die erschöpfte Mutter. Daher möchte ich meinen Hinweis auf die Lyra als klassisches Instrument des „hohen Tones“ und großen Prestiges, verbunden auch dem Orpheus mit seiner naturbeherrschenden Macht, als einen Kontrapunkt, der den Unterschied zum sonido a madre unterstreicht, verstanden wissen. Im Gedicht Cuestión de instrumento , dem ersten des Zyklus, zeugt die Wahl des Klangkörpers und dessen realitätsstiftende Wirkung der sarten vom Abstieg der dichterischen Ambitionen und von seinem Rückgang ins Eigene: einst war es die Beherrschung der Naturgewalten, jetzt das Tun in Küche und am Herd. Mit der Wahl seines Instruments entspricht der Dichter dieser, seiner Lebenswelt. 73 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 93, Zitat von Simone Weil, das den Gedichtzyklus Blues castellano anführt. 74 Ebd., S. 112. 75 Ebd., S. 131. 76 Ebd., S. 104. 77 Ebd., S. 125. 78 Ebd., S. 106. 79 Ebd., S. 129. 80 Ebd., S. 141. 81 Ebd., S. 120. 82 Ebd., S. 122. 83 Casado, Miguel, Epílogo. El curso de la edad , in Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 594: „En Blues castellano , la vida está determinada por la condición del trabajador de quien habla: el sufrimiento sigue manifestándose de continuo, pero ahora lo generan la obliga- <?page no="237"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 237 Diese Schönheit jedoch erschließt sich erst dadurch, dass der Text sich auf die individuelle Existenz des Dichters hin öffnet und der vereinzelten Erfahrung in Inhalt und Form Ausdruck gibt. Erst dann kann die so erneuerte orphische Macht, ihre künstlerische Kraft entfalten, erst dann auch erhält die Frage nach der, der existenziellen Vereinzelung antwortenden ästhetischen Form ihren Daseinsgrund. Der Import frischer metrischer Formen entspricht also dem Bedürfnis des Dichters, neue noch unerhörte Vorstellungswelten zu entwerfen. Dafür zieht Antonio Gamoneda in seiner Addenda das Beispiel Garcilasos Égloga primera heran, wenn er sagt: Antes que nada, dejo afirmado que, ateniéndonos sólo a España y, en principio, sólo a Garcilaso, el realismo ya no prevalece en la poesía; la poesía, como tengo dicho, es ya un lenguaje otro y es una realidad en si misma . Una realidad subjetiva. 84 Für die Antwort jedoch auf die Frage nach einer der modernen individuellen Existenz antwortenden Form von Dichtung scheint der Import metrischer Formen aus anderen Sprachräumen allein nicht mehr zu genügen. Für die Erfahrung der Daseinswelt des Dichters Antonio Gamoneda wird daher der Rückgriff auf die transatlantische musikalische Form des Blues notwendig, und die Einstimmung des Lesers darauf zwingend. Blues castellano beginnt deshalb folgerichtig mit der Kundgabe eines ethischen Aufmerkens in Form eines Zitates von Simone Weil La desgracia de los otros entró en mi carne 85 und mit einem ästhetischen Aufmerken, dem Stimmen des dichterischen Instrumentes in Cuestión de instrumento , seiner neuen „Lyra“, der sartén , die auch sogleich auf die Arbeitswelt (worksongs), in welcher der Blues geboren wird, und deren bescheidene lautproduzierende Mittel verweist. Zurückgewiesen wird in dem Gedicht Cuestión de instrumento die Sonettform von Música de cámara aus dem Zyklus Sublevación inmóvil von 1959, die der Kunsthandwerker Antonio Gamoneda verfasste und die auch sein formales Können zeigt 86 , nicht mehr jedoch seiner Haltung und der ethischen Maßgabe entspricht 87 , welcher der in seine Existenz verstrickte Autor in Blues castellano Ausdruck geben möchte. ción y la práctica laboral. La mirada sigue la guía de una conciencia, la de pertencer a un mundo explotado, la de estar padeciendo una aguda injusticia: una conciencia de clase.“ 84 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 61. 85 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 93, siehe auch Fußnote Nr. 978. 86 Ebd., S. 97: „Yo bien podría. Comprueben/ la densidad y transparencia: / «Si pudiera tener su nacimiento/ en los ojos la música, sería/ en los tuyos. El tiempo sonaría/ a tensa oscuridad, a mundo lento».“ Siehe auch Fußnote Nr. 71, Seite 235. 87 Ebd.: „Lo escribí yo con estas mismas manos/ pero no lo escribí con la misma conciencia.“ <?page no="238"?> 238 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Was aber bedeutet es, wenn die formale Erfülltheit der Dichtung, die sich durch densidad y transparencia , den Klang der celesta zu erkennen gibt, durch den Gesang des Dichters, durch das Scheppern der Pfannen, dem sonido de la sartén ersetzt wird? Dann wandelt sich der ontologische Status des Gedichtes. Das ästhetische Gefüge wird zum Werk als Zeuge für das Leben, mit der folgerichtigen Anweisung: no toquen, por favor, la celesta . Formerfüllung verwandelt sich in Haltung und in ästhetische Verantwortung, in conciencia , Gattungsmerkmale werden zu Zeichen individueller Existenz und Metrum und Maß zu Rhythmus, zur „respiración que canta“ 88 . Die ästhetische Verantwortung der zum Ausdruck Bestimmten individuellen Existenz - der „emanación de mi vida“ 89 - gibt die Erscheinungsweise des dichterischen Wortes vor. Das Dichterwort fügt sich nicht mehr dem Metrum, gerät in Bewegung und in den Strudel des individuellen Seins mit all seinen unvorhersehbaren Gestalten 90 . Ob seiner Vereinzelung, seiner Anbindung an dieses partikulare Sein, erfährt es eine Entstellung in Rhythmus und Semantik. Es wird zur „palabra transfigurada“ 91 und schließt so das dichterische Denken zur Existenz hin auf. Was es ausspricht, ist in Worten Antonio Gamonedas „ intrínsecamente poético, […] un lenguaje otro “ 92 . Es ist die Manifestation eines Denkens 93 , welches die individuelle Existenz - die Situation des Idiotes - an die Sprache der Gemeinschaft anzubinden, die Sprache der Gemeinschaft auf die Idiosynkrasie des Einzelnen hin zu verwandeln sich vornimmt: Koine und Idioma zu verbinden sucht. 88 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 125. 89 Rodríguez Marcos, Javier: „Gamoneda por Gamoneda“, in: Cultura. El Pais , vom 18.05.2009, URL.: https: / / elpais.com/ cultura/ 2009/ 05/ 18/ actualidad/ 1242597609_850215.html: „Al principio intenté hacer un largo listado denotativo y frío, pero me di cuenta de que el pensamiento poético no es en mí un ornamento, sino una emanación de mi vida.“ 90 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , Editorial Trifolium, Lugami Artes Gráficas, Galicia, Spain, 2013, S. 28: „Recuerden: la rítmica creará una semántica imprevisible, pero esta semántica imprevisible ha de tener —y el mencionado conjunto neuronal «censor» ha de respetarla— una seria y veraz connotación existencial.“ 91 Ebd., S. 49 f.: „¿De qué voy a decir pues? Pues voy a decir de lo que habla el título de este librillo; de la fonación, de la palabra, de la escritura y del pensamiento, pero entendidos ya únicamente como partes del «cosmos» poético, casi como milagros, que no lo son pero lo parecen. Hablaré de [50] la palabra transfigurada que, como en el sapiens primario, parece ser dicha por primera vez; de los que, desde mi punto de vista, son fenómenos creadores precisamente de grandes variantes en el devenir de la poesía .“ 92 Ebd., S. 63: „El lenguaje ya no es objetivo y realista, ya es intrinsecamente poético, ya es un lenguaje otro .“ 93 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 97, im Gedicht Cuestión de instrumento die Zeile: „Lo escribí yo con estas mismas manos/ pero no lo escribí con la misma conciencia.“ <?page no="239"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 239 Mittel, die bis dato nicht zum Handapparat der Metrik gehörten 94 , erlangen Eintritt in die Werkstatt des Dichters und bereichern die Gestaltungstiefe. Wesentlich jedoch ist die Unvorhersehbarkeit der individuellen Existenz, deren Ausdruck gesucht wird. Wesentlich ist deshalb nicht der Dichter als Kunsthandwerker, sondern als Werkgestalter im Bewusstsein seiner einsamen Aufgabe. Im nordamerikanischen Blues findet die verschleppte, entrechtete und gequälte menschliche Existenz ihren musikalischen Ausdruck. Seinen Ursprung besitzt der Blues in den „negerischen Volksgesängen […], die teils auf afrikanische, teils auf europäische Wurzeln zurückgehen.“ 95 Diese Gesänge haben, ihrem vokalen Wesen entsprechend meist ein langsames Tempo, sind lyrischen Charakters und gliedern sich in „Anrufung“ und „Antwort“ (call and response) 96 . Der Blues sei unter Beibehaltung einiger negroider Züge entstanden 97 . Diese Volkslieder seien ursprünglich Nachbildungen oder Adaptierungen der methodistischen Erweckungshymnen gewesen 98 , die sich mit den aus der Heimat mitgebrachten Sangesbräuchen mischten, bei denen kurze Strophen aus Ketten- und Kurzmotiven mit 3- und 2-teiligem, ineinander verflochtenem Aufbau variiert wiederholt oder in Sequenzen fortgeführt worden seien. Tempo und Dynamik seien durch den Wechsel von Chor- und Sologesang kontrastreich 99 . Im Ausdruck und Gesangsstil näherten sie sich zuweilen der Gattung der Rufe (Holler; Street cry) mit deren wichtigen melodischen und intonatorischen Bedingungen der blue notes wie der Hot-Intonation oder der emphatisch gesteigerten Singweise des Shout an 100 . Da es sich beim Blues oft um Ad-Hoc-Dichtung handele, werden kurze, griffige und sanglich einprägsame Phrasen aus der unmittelbaren Lebenswelt bevorzugt. Die Entstehungszeit von Blues castellano (1961-- 1966) fällt in die Hochphase der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Martin Luther King: Marsch nach Washington und Rede I had a dream , 1963; Billie Holliday war gerade 1959 gestorben, ihre Lied wie z. B. Strange Fruit waren wohlbekannt) und der historische wie thematische Zusammenhang wird vom Dichter in der Wahl des Titels offenbart. Die musikalische Anmutung für den des Englischen nicht mächtigen Dichters spülten die Elemente des Rhythmus und der Gesangsstimme in den Vordergrund. Der bedrückend schleppende Rhythmus des Blues wie sein vom 94 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 147. 95 Riemann Musik Lexikon . Sachteil , (Hg. Wilibald Gurlitt & Hans Heinrich Eggebrecht), B. Schott’s Söhne, Mainz, 1967, S. 114. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 626. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 1068. <?page no="240"?> 240 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Gospel der schwarzen Südstaatengemeinden inspirierte Gesang trugen die Inhalte und Forderungen der Bewegung in die Wohnzimmer der Welt und bildeten einen wesentlichen Stein im Mosaik der damaligen sozialen Emanzipationsbewegungen. Soziales Bewusstsein, Bürgerrechtsbewegungen wie Rassen- und Klassenbewusstsein fanden hier ihr Passepartout 101 . Después de veinte años Das zweite Gedicht des Zyklus Después de veinte años erläutert biographisch authentisch die Lebensumstände des jungen Dichters: das familiäre Schicksal, welches sich in der schwierigen ökonomischen Situation der Familie spiegelt, das daraus resultierende geschärfte Unrechtsbewusstsein, den emotionalen Rückhalt durch die Mutter, den erfahrenen Spott an der Arbeitsstelle usf. Das Gedicht endet mit der Deklaration einer inneren Wertehaltung und schließt dann in einer Art Anrufung an die Scholle, das Land, dem der Dichter sich angehörig fühlt. Zum ersten Mal wird hier von Antonio Gamoneda die Zeile gebrochen 102 . 101 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 98: „Si acaso, que en los días de mi Blues castellano y de la aparición de sus padres , pesaban también en mi dos libros muy concretos, además de la vida y su memoria: los Ensayos sobre la condición obrera , de Simone Weil, que explica cómo «el sufrimiento de los otros entró en su carne» y Orfeo negro , de Sartre, que me convenció (con el espejo de los poetas negros de lengua francesa, antillanos y malgaches) de que cuando el oprimido sólo puede expresarse en la lengua del opresor, ésta se torna una lengua revoluncionaria.“ 102 Es gibt eine Vorläufersituation im Gedichtband Sublevación inmóvil : DE LA quietud, un pájaro, a impulso de su canto, pensativo se alza. Y, de pronto, ya no hay pájaro: lluvia, cristal vivo, hacia arriba crece.Alguien tiende su mano silenciosa, alugien está diciendo adiós, adiós sin palabras. (For Children, Bela Bartok ) In Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 70. Auch hier handelt es sich um einen Eingriff in die Gestaltung des Verses. Auch hier wird der Vers unterbrochen und gedehnt, wird dramatisch inszeniert. Es handelt sich hier um keinen Eingriff in <?page no="241"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 241 […] Entraba en el trabajo. La oficina olía mal y daba pena. Luego, llegaban las mujeres. Se ponían a fregar en silencio. […] 103 Sie wird nicht beendet, führt in die Leere, in den Suspens, ins Nichts. Was mit meist regelmäßigem Zeilenbau (endecasílabo) und schlicht strukturierter anaphorische Strophenkonstruktion begann, erfährt seine Brüchigkeit in einem Schweigen, welches formal durch die nicht erfüllte Zeilenform markiert wird. Der Einbruch eines Schweigens in die Zeile, eine plötzliche Stille, eine Leere, ein unerfülltes Schweigen stellt sich ein. Dieser überraschende Einbruch der Zeile erzeugt Spannung. Die Vereinzelung, welche die in der Zeile übrig gebliebenen Worte erfahren, unterstreichen ihre existenzielle Bedeutung und kulminieren in den Zeilen: […] Veinte años. He sido escarnecido y olvidado. […] 104 Die darauffolgenden Zeilen der Selbstvergewisserung zeigen die größte Zeilenvielfalt innerhalb des Gedichts und kommen dabei der Sprechsprache am Nächsten. Sie enden mit einer Metapher, welche auf den zentralen Rückhalt des einen Dialog, sei es als Stichomythie oder Antilabe, aber um einen Eingriff in das Geschehen. Aus der sprichwörtlichen Leere der Verszeile erscheint unvorhergesehen eine Hand, jemand winkt ein Adios. Aus der Zuschreibung zu Bela Bartoks Kinderstücken ließe sich an ein Musikstück denken, das nach seinem Anheben als canto eine Verwandlung zum prasselnden Regen in lluvia/ cristal vivo erfährt und sich schließlich in die Stille verabschiedet - in jene Stille, die schon in der Leere der Verszeilen aufgetreten war. 103 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 99 f. 104 Ebd., S. 100. <?page no="242"?> 242 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Individuums verweist, das, was den Menschen aufrecht und widerständig hält: die huesos , um dann durch den Doppelpunkt eine lange Stille anzukündigen, welche die Versammlung auf die kommenden Worte vorbereitet. Das angekündigte Erscheinen eines Schweigens am Zeilenende erzeugt eine erwartete, eine erfüllte Stille, eine Versammlung und einen Übergang zugleich, der in der darauffolgenden gebetsartigen Anrufung seinen Ausdruck findet. Dieses erfüllte Schweigen erfährt seine formale Dichte noch zusätzlich, da es zugleich auch den Übergang von einer Strophe zur nächsten darstellt. Dieses Schweigen ist reine, versammelte Zeit, konzentrierte Aufmerksamkeit, pures Bewusstsein: conciencia , die dann in der Anrufung Tierra incansable wieder ausdrücklich wird, wie ein wieder aus dem Boden tretender Strom. Zerstückelung der Zeile und provozierte Leere hier, markierte Stille und Sammlung dort. Die sammelnde Vorbereitung des Bewusstseins in der Stille ist eine Umkehr der Stille als Leere in den vorangegangenen gebrochenen Zeilen. Es ist eine sinnvolle, somit erfüllte Stille, die dann auch in einer Art Gebet an das Land, mit einer Anrufung an eine erfüllte Existenz mündet. Die Nichterfüllung der Zeilenform - leere Stille - wird zum formalen Reflex der unerfüllten und durch Unrecht beschädigten individuellen Existenz. Die formal erfüllte Stille - eingeführt durch einen Doppelpunkt - wird zum Spiegel der sich selbst vergewissernden, widerständigen individuellen Existenz, die ihren Ort und ihre Gemeinschaft an- und auszusprechen sucht. Wird in den ersten Strophen des Gedichts ein eher regelmäßiger, die Erzählung voranbringender Rhythmus angespielt, so ändert sich diese Situation, sobald das Drama der Stille in die Zeilengestaltung einbricht. Der Rhythmus der Lebenserzählung wird ausgesetzt, der Sprachrhythmus unterbrochen, das Auge fällt in die leere Seite, die Atmung stockt und der angedeutete Sinn bleibt in der Schwebe, bis die Selbstvergewisserung einsetzt und in einer Bestätigung endet: […] Danos nuestra existencia a nosotros mismos. […] 105 105 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 100. <?page no="243"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 243 Das Drama der individuellen Existenz hat seine formale Entsprechung in diesem Ablauf: metrisch geprägter Sprachrhythmus, gebrochener, in Leere endender Sprachrhythmus, metrische Zeilenvielfalt und in Stille konzentrierter Sprachrhythmus. Das Individuum escarnecido y olvidado kann sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft, hier im Spiegel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und im proletarischen Klassenbewusstsein, erfahren, erkennen und benennen. Es hat die rhythmische Stille als Leere in eine rhythmische Stille des Schweigens und der Einkehr verwandeln können. Eine Metamorphose hat stattgefunden. Das Individuum blickt über die Leere des Abgrundes hinweg und nimmt Maß an seiner Existenz, versammelt sich auf sie hin. Blues de la escalera Im Blues steht Einfachheit und Einfalt für Authentizität und Unmittelbarkeit des Ausdrucks jener Menschen, die nach ihrer Verschleppung und Versklavung nicht mehr von ihren kulturellen Schätzen retten konnten, als was sie auf dem Körper und im Herzen trugen. Daher auch die Minimalistik in der Wahl der Mittel. Ein spanischer Dichter, der in der Manier des Blues schreiben will, hat dies auf seine Situation und sein Material abzubilden. Im Gedicht Blues de la escalera wird dies augenfällig: Signifikante Unterschiede werden mit einfachsten Mitteln hergestellt, mit der Wiederholung der Phrase und dem Wechsel vom unbestimmten zum bestimmten Artikel - una/ la mujer; de penas/ de las penas -. Signifikante Zeilen oder Zeilenabschnitte werden durch Einmaligkeit gekennzeichnet - y ella bajó sus ojos ante mí. / Ya nunca tendré paz … -, auch durch einen einzigen antirhythmischen Akzent - … tendré paz … -. Alltagsgeschehen wie eine zufällige Begegnung auf der Haustreppe werden durch einfachste Darstellung in den Rang des Allgemeinen erhoben. Die vielen Liquide und besonders die Vokalabfolgen der Halbzeilenphrasen wirken auf musikalische Art melodisch und wie Variationen eines Themas. Drei Halbzeilen bestreiten fast den gesamten Text, wohingegen die Kernaussagen des demütig niedergeschlagenen Blicks wie der Verlust der Ruhe nur ein einziges Mal auftauchen. Liquide, Vokalvariation der Halbzeilenmotive und Wiederholungen ergeben ähnlich wie im Blues eine Struktur des Call-Response-Gesangs, der die Symbolik des Alltäglichen intensiviert und mit seiner Echostruktur nicht nur Textdichte herstellt, sondern auch Empathie und Solidarität verkörpert, da im Echo der Klang des Eigenen im Anderen erkennbar wird. Diese Welt der hilfsbedürftigen menschlichen Einzelexistenz, fordert in der rhetorischen Figur der Verschweigung (Aposiopese) zur ethisch-politischen Stellungnahme auf. <?page no="244"?> 244 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Blues de la escalera 106 106 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 122. <?page no="245"?> Der Blues, die música celeste und lebendig werdende Form 245 Rhythmus: Werdende Form in der Erscheinung Im Unterschied zum Altgriechischen, das mit artikulierten lautplastischen Gegenständen 107 operiert und „die Wirklichkeit selbst als Wort“ 108 erscheinen lässt, arbeiten die modernen exspiratorischen Sprachen mit artikulierten Lautausdrucksbewegungen, die den Atemstrom entsprechend einer inneren Bewegtheit gestalten. Der Gott, von dem Hegel spricht 109 , wohnt dieser Art der Ausdrücklichkeit nicht mehr ein. Ihre Quelle ist das in seiner Existenz berührte und bewegte Individuum. Im ersten Falle ist die Dauer die ontologisch erfüllte Zeit 110 , die Form des vergegenständlichten Lautes, während im zweiten Falle es die Bewegung ist, welche die verstreichende Zeit ontologisch erfüllt. Die innere Bewegtheit wird im lauttragenden artikulierten Atem ausdrücklich. Die Form dieser Bewegung ist notwendig subjektiv, eine emanación íntima und eine lenguaje otro 111 . Sie ist werdende Form in der Erscheinung: Rhythmus. Der Wortakzent ist einer der Protagonisten in diesem Drama des Ausdrücklich-Werdens. Er kennzeichnet und kanalisiert den Sprachstrom, er ist das Mittel für das Maß der Worte in ihrem Verhältnis zueinander und versammelt mit der Kadenz Gedanken zu einer Einheit (hier in der Halbzeile). Als solcher umfasst der Rhythmus, denn er gliedert den Sprachstrom sinnlich-individuell, ebenfalls die Prosodie. Caigo sobre una silla 112 Im letzten Gedicht des Zyklus Caigo sobre una silla bereitet die Nichterfüllung der Zeilenform (sowohl metrisch wie optisch) in einem einzigen Fall - ansonsten gruppieren sich die Zeilen um den decasílabo - die entscheidende Aussage vor, indem sie, nach dem Ende eines Sirremas - de la tristeza - und eines weiteren syntaktischen Einschnittes, bezeichnet durch ein Komma, das einsilbige enklitische Hilfsverb es anschließt und dann die Zeile mit einem encabalgamiento abbrechen lässt. Dadurch entsteht, bevor notwendig, ein erwartungsvolles Schweigen, welches jedoch erst in der nächsten und letzten Zeile des Gedichtes seine Erfüllung erfährt. In ähnlicher Weise findet in Caigo sobre una silla das, was durch einen dreifachen anaphorischen Beginn cuando anhebt und in fast regelmäßiger Silbenver- 107 Georgiades, Thrasybulos, Der Griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, Hans Schneider, Tutzingen, 1977, S. 130 f. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 29 u. 52. 111 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , Editorial Trifolium, Lugami Artes Gráficas, Galicia, Spain, 2013, S. 63. 112 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 141. <?page no="246"?> 246 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen teilung (20, 18, 20, mit unterschiedlicher Zeilenverteilung) sich aufbaut, ebenfalls in der vorletzten, nicht vollständig erfüllten Zeile seinen Abschluss - de la tristeza -. Dieser erfährt im Folgenden es einen Antiklimax, um dann - nach dem Schweigen der vorletzten Zeile, folgend eine Anakrusis von zwei Silben mit Sinalefa - in der letzten endlich seine Auflösung im ersten Akzent mit amistad erlebt, um danach im relativischen Anschluss seinen logischen und semantischen Abschluss zu finden. Dabei wird dem Nomen amistad durch das Relativpronomen quien 113 eine Eigenschaftlichkeit zugesprochen, die das Abstraktum amistad zu einem echten Agens erhebt. Die Zeile als dramatische Form Paradigmatisch kann an den Gedichten Después de veinte años , Blues de la escalera und Caigo sobre una silla die Bedeutung der Zeile für die Inszenierung des Sinns beobachtet werden. Nun nicht mehr als Teil eines vorgegebenen metrischen Ganzen, sondern als Element der Gestaltung eines Idioms, das die existenzielle Situation des Sprechers veranschaulicht. In der Art der Pause eines musikalischen Taktes wird in der unerfüllten Zeilenform ein sprechendes Schweigen inszeniert. Sie erfährt einen Bruch, ein Sichins-Wort-fallen, ein Versprengen, eine Lücke oder Leere. Die erfüllte Zeilenform demgegenüber inszeniert ein Sich-Aussprechen, Versammlung, eine Dichte oder Fülle. Damit wird die Zeile selbst dramatisch inszeniert und sprechend, Stille deutbar, einbezogen in das Sinngeschehen und selbst als Form zur Aussage befähigt. Aus dem metrischen Gerüst der Gedichtform herausgelöst ist sie dem Atem des Dichters - dem Kadenzgeschehen-- unterstellt. Ihre Brüchigkeit wird so beredt, und das Widerspiel von Leere und Fülle in die Sinngestaltung gliedernd, ordnend einbezogen 114 . Mit der Verselbstständigung der Zeile können Bruch und Versprengen wie Versammlung und Fülle als Form erscheinen und zur Darstellung gebracht werden. 113 Nach der Konstruktion, die Jaques de Bruyne in seiner Grammatik nennt als constructio ad sensum, in: Bruyne, Jaques de, Spanische Grammatik , übersetzt von Dirko-J. Gütschow, Mas Niemeyer Tübingen, 1993, S. 193, 401. Und S. 194, 403. 114 Die Zeile wird in der Figur der Stichomythie in die dramatische Rede hinein komponiert, mit dem Ziel, der inneren Erregtheit von Rede und Gegenrede in nur einem Vers Ausdruck zu geben - also zu verdichten. D. h. aber auch, dass die Zeile zum einen als ein dramatisches Ganzes, das aufgebrochen und neue zugeordnet werden kann, betrachtet wird (siehe: Metzler Literatur Lexikon, (Hg. Günther und Irmgard Schweikle), M. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttagrt, 1990, S. 443). Es findet eine dialektische Bewegung statt: Die als ein Ganzes aufgefasste Zeile kann gerade ob ihrer Ganzheit in Teile aufgebrochen und unterschiedlichen dramatischen Aktionen zugewiesen werden. <?page no="247"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 247 In der Inszenierung der Zeile als dramatische Form zeigt sich die Dynamis der transzendierenden Immanenz des gamonedaeischen Idioms und die Lockerung des biographischen Seins. Lebendig werdende Form und individuelle Existenz Zehn Jahre Schweigen liegen zwischen Blues Castellano und Descripción de la mentira , zehn Jahre, bis sich die Sprache in der Freiheit der Zeile gänzlich Bahn bricht. Hier ist der Ort, an dem individuelle Existenz und lebendig werdende Form ineinander aufgehen können. Denn die Zeile markiert die Atemspur des seiner individuellen Existenz verantwortlichen Dichters. Atem, Rhythmus und Zeile, leibliche, sinnhafte und formale Figur finden in der Zeile den Ort ihrer Erscheinung. Die werdende Form ist orphischer Natur und besteht im beharrlichen Ansingen gegen die zergliedernde dionysische Kraft des Verklingens und der Auflösung. Als bewegte Bewegung stemmt sie sich jedoch genau so gegen die apollinische Lähmung und Erstarrung im Affirmativen. Sie hält die Mitte zwischen Auflösung und Erstarrung und ist darum einerseits offen für die Unvorhersehbarkeiten der individuellen Existenz wie andererseits gefeit gegen die Überbestimmtheit durch die überlieferten Formen. Nähert sich die Sprache der Gemeinschaft, die Koine , ob ihrer festen Regeln und Bedeutungen der apollinischen Erstarrung, so hat sich das Idioma , die Sprache des Idiotes , schon der Zergliederung und der Auflösung geöffnet, nähert sich der Natur der Selbstäußerung. Wird sie deshalb der Gemeinschaft rätselhafter, so gerade darum den Wesen der Natur umso begreiflicher. Die Entgrenzung des dichterischen Idioms auf die Welt hin entfremdet es der Gemeinsprache. Es wird hermetisch. Der dichterische Zugriff auf seine Existenz meint letztlich eine Transformation der Koine. Die Verzukunftung der Erinnerung Der Griff nach dem ureigenen Sein ist der Versuch, der Erinnerung Zukunft abzulauschen. Er zielt auf die Verzukunftung der Erinnerung. Denn des Menschen allernächste Zukunft liegt in seiner Erinnerung. Aus ihr speisen sich die Erwartungen an die Zukunft, wird im Sich-der-Gegenwart-der-Sprache-Anheimgeben Neues aus Erinnerung und Erwartung gemischt. Das also meint der Satz Antonio Gamonedas, dass in Dichtung gedacht werde, was man sage 115 , oder in 115 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , Editorial Trifolium, Lugami Artes Gráficas, Galicia, Spain, 2013, S. 24. <?page no="248"?> 248 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen den Worten von Juan de Yepes: Dichtung sei ein no saber sabiendo 116 . Deshalb auch der Rückzug ins Eigene, in die Provinzstadt León in Después de veinte años und vor allem ins eigene Heim in Caigo sobre unas manos 117 . Es ist ein Heimgang zu dem Ort, der Sicherheit und Beginn markiert, ein επανιειναι . Der Griff nach der Erinnerung ist ein Heimgang, eine retracción 118 des Dichters zu den Quellen seiner Zukunft, zu den Quellen seines Seins und zugleich eine nicht endende Aufgabe, oder eher eine immer wieder unerfüllte und mithin brüchige Form. Die Zeile auf dem Weg zur Formwerdung des Gedankens In der Erinnerung und im Eingedenken der Erinnerung an den Glanz der Worte 119 wie in Fortgang und Bemaßung des Lebens lebendiger Erfahrung wird Rhythmus, und wird im Wort das Gedicht: werdende Form in der Erscheinung. Der Ort dieses Ausdrucksgeschehens ist die Zeile. Als metrisches Gebilde steht sie zwischen Wort und Gedicht. Dem Satz gegenüber besitzt sie die Freiheit des Unvollständigen, dem einfachen Wort gegenüber ihre Gliedrigkeit ( hemistiquio, censura, anakrusis, período interior und período de enlace ) und kann so ein Behältnis für den Gedanken darstellen. Diese Komplexität bildet das Passepartout für die Verteilung der Akzente des werdenden Gedankens. Mit dem Ort ihrer Erscheinung ist sie eine ideelle Einheit des Gedichts, eingängig und ausgängig umgriffen von der Leere des Blattes, im Vorher und Nachher von der Stille, vor dem Einsatz der Rede und nach ihrem Ende - mit Ausnahme des encabalgamiento . Dieses aber verlängert die Zeile nur bis in die nächste Stille der nächsten Zeile. Als formaler Bestandteil des größeren Ganzen - dem Gedicht - ist sie unvollendet oder offen, also auch offen für die Inszenierung existenzieller, prinzipiell kontingenter Ereignisse. 116 Ebd., S. 26. 117 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 104. 118 Miguel Casado spricht in seinem Essayband. El curso de la edad (Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , Abada Editores, Madrid, 2009, S. 35) im Zusammenhang von Descripción de la mentira von retracción : „Ahora, contradictoriamente, sin que lo anterior quede anulado, hay que constatar el brote de otra palabra, cuyo origen está en la retracción : «tú descansabas en sus brazos y la escritura penetró en tu vientre»; conlleva desbloqueo y libertad; es la culminación de un fermento interior que, cuando llega a aflorar, habla de la profundidad de la vida, del valor primitivo y originario que se esconde dentro del sujeto.“ Einverstanden mit Casado, scheinen mir die primitiven und ursprünglichen Werte in Blues castellano vorgezeichnet. 119 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 90: „¿Y si estas palabras me llegan, aún menos comprensibles, oralmente poderosas y unidas a una brevísima centella inteligible, en una lengua apenas conocida, por ejemplo? Yo sí sé lo que ocurre.“ <?page no="249"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 249 So wie die Körperbewegung grundsätzlich eine kognitive Kompetenz birgt, so birgt sie die spezifische Bewegung des Rhythmus in der Diktion des Dichters. Sie erlaubt ihm die Erschaffung eines personalen Kosmos, die Erschaffung eines eigenen Idioms. Im so entstehenden Werk wird das wiederholte Wort zur identifizierbaren Entität. Es wird zum Symbol. Daher die Wichtigkeit der ständigen und unablässigen Überarbeitung der Texte. Mit der Wiederholung wird das Wort im Œuvre mit spezifischer Gewichtigkeit - öfter betont - angereichert, erfährt so seine Beschwerung im Dichterkosmos, und es wird so auch als Einheit wahrnehmbar zu einem wesentlichen Bestandteil des dichterischen Idioms im Ganzen. Auf diesem Ausdruck versammelt sich die Aufmerksamkeit des Lebewesens Mensch, versammelt sich seine Erinnerung sinnlich. Die Bewegung des Aufmerkens beginnt sich in sich selbst zu erleben, und das dazugehörige Wort ist also auf dem Wege zum Symbol. Im Symbol vermisst der Dichter seinen spezifischen Abstand zur Welt. Im Symbol zeigt sich eine Chiffre zur Bemaßung des dichterischen Kosmos 120 . Die Zeile ist brüchig, komplex, unerfüllt, lebendig und wandelbar auf dem Weg zur Formwerdung des Gedankens. Sie kann den Reflex auf die Kontingenz des bewegten, des ausgesetzten, des individuellen Seins, weder Nichts oder Auflösung, noch Erfüllung oder Erstarrung aufnehmen. Sie stellt jenes Gerüst dar, das der werdenden Form - dem Rhythmus - Aufnahme bieten kann. Semantisch unbestimmt, formal komplex, doch offen für den Atem des Dichters und diesem unterstellt 121 , ist sie auf dem Weg zur Artikulation des Gedankens. In dieser Konstellation kann sie die ästhetische Verantwortung des Dichters für seine existenzielle Situation, für sein individuelles Sein abbilden. Im Reflex des Atems erscheint der spezifische Zustand des Subjekts, dessen existenzielle Situation physiologisch. Er stellt jenes dynamische Geschehen dar, welches den Gedanken in seine Artikulation übersetzt. Die Zeile ist das Behältnis für dieses unabgeschlossene Geschehen - ist Atemspur. Das physiologische Geschehen Atmen, jener von Organen produzierte Lufthauch, in dem sich der psychische Zustand physiologisch niederschlägt, ist ein körperleibliches Geschehen, ein materielles Substrat des vom Gedanken bewegten Individuums. Der artikulierte Atem ist der Gedanke des Subjekts in Bewegung, ist ein von Geist modelliertes somatisches Geschehen, ist geistfähiges, logosfähiges Körperleibgeschehen. Der 120 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 11: „Y ¿por qué «de los símbolos»? Lo diré de una manera también primaria: todo es símbolo; todas las formas de lenguaje artístico son de naturaleza simbólica. Así lo creo a fuerza de sentirlo . […] El signo es el resultado de un convenio; el símbolo (al menos el símbolo de la especie que a mí me interesa) es él mismo una realidad .“ 121 Ebd., S. 84: „Ocurre que mi respiración se ha modificado y que quiero respirar el poema con mi naturalidad de ahora.“ <?page no="250"?> 250 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen artikulierte Atem ist die Schnittstelle zwischen Soma und Pneuma. Die Zeile als formal offenes Geschehen bietet jenen seelischen Regungen, die sich in dem die Artikulation regierenden Lufthauch kundtun, einen Ort der Erscheinung. Als unabgeschlossene Form, kann sie ganzen Erzählungen Raum geben, indem sie zu größeren Zeilenverbänden sich versammelt. Sartre oder die dunkle Seite des Seins Die Emanzipation der Zeile von ihrem Prokrustesbett der Gedichtmetrik erlaubt dem kontingenten individuellen Sein die Formwerdung, denn sie selbst ist unerfüllte, werdende Form. Die Zeile ist orphischer Natur, denn sie ist im ständigen Werden. Sie ist lebendige Erscheinung des werdenden Gedankens vor seiner Feststellung in vollendeter Form. Zwischen dem Einen und Einfachen und dem vielfältigen Ganzen, stellt sie jene Mitte dar, von der aus die Grenzen der lebendigen Bewegung bedeutet werden können. Orpheus rührt mit seinem Gesang Unbelebtes wie die Götter, überschreitet die dem Menschen gesetzten Grenzen. Für diese bleibt der orphische Kosmos sichtbar unsichtbar, bleibt Ahnung und Erleben: „‚On soutient mal la vue des dieux qui se montrent en pleine lumière.‘“ 122 Aus diesem Grunde zeigten sich die homerischen Götter verhüllt im Nebel, als Täuschungen, menschliche Doppelgänger, selbst als trügerische Landschaften tauchten sie auf. Ainsi l’univers des Grecs homériques et post-homériques, imprégné de présences constamment soupçonnées, offre par-delà sa face perceptible aux sens et pour le logos , une dimension cachée dont l’exploration et la découverte requièrent des qualités intuitives ou le rituel d’une révélation. 123 Der Ahnung eröffnet, der Erkenntnis verborgen. So stellt sich dem Menschen die Natur des Göttlichen dar. Er bedarf der besonderen Vorbereitung, um dieser Überwelt ansichtig zu werden. Der Orphismus gestattet einen Blick darauf, gestattet eine εποπτεια , indem er dem Neophyten die bekannte Welt hinter dem mystischen Schweigen der zu durchschreitenden Schleier zum Verschwinden bringt, auf seine Physis wie auf seine Sinne einwirkt und so dessen Aufmerksamkeit aufstachelt und zugleich entwurzelt. Dem Neophyten bleibt nur die Ahnung als Instrument seiner Wahrnehmung: zu dünn für das Ergreifen einer Wirklichkeit, zu dicht für den Sturz ins Nichts. Eine Zwischenwelt tut sich auf als Überwelt: 122 Les Présocratiques , Hg., Y. Battistini & O. Battistini, Éditions Nathan, Paris, 1990, S. 31: 1. Orphisme . 123 Ebd. <?page no="251"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 251 marches inquiétantes à travers les ténèbres, révélation dramatique du mythe, apparitions divines, lumière, couleur et musique se combinant pour déclencher l’ εποπτεια ; puis l’initié, qui enfin a vu et contemplé est couronné et célèbre les mystères, regardant désormais la foule des non-initiés qui se presse dans le bourbier. 124 Die formalisierten Handlungen der orphischen Priester provozieren die physiologischen Anlagen des Aufmerkens, der Angst und der Erwartung - Angriff oder Flucht -, überformen und verstetigen sie als Haltungen, lassen sie zum Ethos gerinnen. Sie transformieren die Natur des lebendigen Wesens Mensch hin zur Übernatur des Göttlichen. Der Aufstieg (ἀνάβασις) des Mysten zu seiner ihm dann zur Heimstatt gewordenen göttlichen Welt lässt ihn auf die Menge der Nichtgeweihten in ihrer Erdigkeit zurückblicken. Orpheus, dem Sänger allein war es gestattet, diese Grenzen zu überschreiten, ohne seine Natur dahingeben zu müssen. Er öffnete sein Lied hin zu dem der Erde Gehörigen wie zu dem, was sie übersteigt. Die orphische Natur behauptet mit ihrem Gesang eine Brücke zwischen den Welten - auch für das Menschenwesen, für seinen Kosmos. Orphisch nennt Jean-Paul Sartre in seinem Vorwort zur Anthologie Orphée noir die Dichtung der jungen schwarzen Dichter der Francophonie: Et je nommerai «-orphique-» cette poésie parce que cette inlassable descente du nègre en soi-même me fait songer à Orphée allant réclamer Eurydice à Pluton. 125 Und in seinem Essay werden oft Gegensätze zur Bildung einheitlicher Vorstellungen herangezogen, die oxymoronische Figur zur Beschreibung mystischer Übersteigung für die heftige Bewegung gestaltet, welcher eine revolutionäre Dichtung schließlich bedarf: Personne n’a mieux dit que la poésie est une tentative incantatoire pour sugegérer l’être dans et par la disparition vibratoire du mot-: en renchérissant sur son impuissance verbale, en rendant les mot fous, le poète nous fait soupçonner par-delà ce tohu-bohu qui s’annule de lui-même d’énorme densités silencieuses-; puisque nous ne pouvons pas nous taire, il faut faire du silence avec le langage. De Mallarmé aux Surréalistes, le but profond de la poésie française me paraît avoir été cette autodestruction du langage. Le poème est une chambre obscure où les mots se cognent en rondes, fous. Collision dans les airs-: ils s’allument réciproquement de leurs incendies et tombent en flammes. 126 124 Les Présocratiques , Hg., Y. Battistini & O. Battistini, Éditions Nathan, Paris, 1990, S. 32. 125 Sarte, Jean-Paul, „Orphée Noir“ in: Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de la langue française , (Hg.) Léopold Sédar Senghor, Editeur PUF Collection, Paris, 2015, S. XVII. 126 Ebd., S. XX. <?page no="252"?> 252 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen Um zum Lichte der Selbsterkenntnis aufzusteigen, steigt der Dichter Césaire à reculons 127 zu sich selbst herab, um, allein auf sein taktiles Erkenntnisvermögen vertrauend, sich mit der Welt der Träume und des Verlangens zu befeuchten. Man betreibt einen Abstieg in die physiologische Gegenwelt idealer platonischer Provenienz. Zum existenziellen Amalgam gerinnen Sympathie, Erkenntnis, Schmerz, Sexualität und Fruchtbarkeit im Blues aus Harlem, „ qui sont les airs les plus douloureux du monde. “ 128 Dies alles offenbart sich im dionysischen Rhythmus, im „ rythme - tam-tam, jazz, bondissement de ces poèmes - qui figure la temporalité de l’existence du nègre. “ 129 Dem dionysischen Delirium jedoch widersetzt sich die lebendige Natur. Das Leiden und der Schmerz sperren sich der Attraktivität: la souffrance comporte en elle-même son propre refus-; el est par essence refus de souffrir, elle est la face d’ombre de la négativité, elle s’ouvre sur la révolte et sur la liberté. 130 Das Ingenium wird auf die Spitze getrieben: Il faut aller plus loin encore-; la Négritude, triomphe du Narcissisme et suicide de Narcisse, [XLIV] tension de l’âme au-delà de la culture, des mots et de tous les faits psychiques, nuit lumineuse du non-savoir, choix délibéré de l’impossible et de ce que Bataille nomme le «supplice», acceptation intuitive du monde et refus du monde au nom de la «-loi du cœur-», double postulation contradictoire, rétraction revendiquante, expansion de générosité, est, en son essence, Poésie. 131 Zeichnet Sartre den Césairischen Abstieg ins Nass seiner Selbst als einen revolutionären Akt, eine rétraction revendiquante , so ist der gamonedaeische Heimgang zu den großen Händen seiner Mutter ein politischer, ein über die Familie - der Keimzelle des Staates - sich erklärender, doch auf das Ganze der Polis zielender Akt, eine retracción ins eigene Sein. Die daraus entspringende Sprache ist dennoch nicht weniger allumée oder incendie et tombent en flammes 132 . Sie ist eine lenguaje otro, una realidad en si misma 133 , eine subjektive Realität, inti- 127 Sarte, Jean-Paul, „Orphée Noir“ in: Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de la langue française , (Hg.) Léopold Sédar Senghor, Editeur PUF Collection, Paris, 2015, S.-XXIV: „Césaire a choisi, au contraire, de rentrer chez soi à reculons.“ 128 Ebd., S. XXXV. 129 Ebd. 130 Ebd., S. XXXVIII. 131 Ebd., S. XLIII f. 132 Ebd., S. XX. 133 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 61 ff. Siehe dazu auch: Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 22. Dort spricht der Autor über die rebeldía linguística und sagt dazu: „Esta rebeldía es el espacio actualmente natural y necesario de la escritura poética, de la escritura de creación y revealción , <?page no="253"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 253 me Emanation. Spricht der Orphée noir , der Dichter der Negritude die Sprache eines empirischen Faktums, der schwarzen Haut, so der Dichter der Provinz die Sprache der sprachlosen Klasse, der stimmlosen Bevölkerung. Es ist die Sprache der Menschen der Vorstädte, der sprichwörtlichen Randbevölkerung, in deren Straßen, Gärten und Häusern er groß geworden ist und zu deren Niedrigkeit er wie Orpheus 134 in den Hades herabgestiegen ist 135 . Es ist die Sprache derer, die niemals ein Echo auf ihr Lautwerden haben erleben dürfen, denen der gesellschaftliche Reflex auf das Eigene versagt geblieben ist, und der deshalb auch keine Klarheit beschieden sein kann. Diese Sprache muss die Dinge von den Rändern, von der dunklen Seite des Seins her betrachten, und sie äußert sich darum in der Art einer Übertragung des Eigentlichen als Verzerrung oder Entstellung der Koine . Sie wird hermetisch, sie wird orphisch. Es handelt sich um eine transformierte, um eine transfigurierte Sprache 136 , welche jedoch die existenzielle Situation des Sprechers, unseres Dichters, authentisch transportiert - realistisch, wie er selbst sagt 137 -, denn sie stützt sich auf die „cauces de la sensibilidad […] asistida por potencias intelectuales […]“ 138 . Mallarmé oder der Heimgang Eschatologisch orchestriert Stephane Mallarmé, der orphische Dichter par excellence 139 , seine Vision der Dichtung, wenn er sie bezeichnet als: Ainsi donc, Mallarmé rêvait d’une poésie qui serait le «-mythe pur-», et qui mettrait en jeu ce «-type innommé ou abstrait-», évoqué à la fin de Richard Wagner, Rêverie d’un Poète français- : «-un, dégagé de personnalité, car il compose notre aspect multiple-», «-la Figure que Nul n’est-», synthèse de tout ce qu’il y a de divin dans l’homme, «-les la escritura que se deduce del que, sin grandes reparos, podemos llamar lenguaje órfico . Reparen en que el que dio ‘lenguaje órfico’ es el único relacionable con el ‘pensamiento que canta’, […]“ 134 Siehe Fußnote Nr. 101, Seite 240. 135 Der Abstieg in die Niederungen des Hades gilt nicht nur politisch, sondern auch moralisch. Siehe das Gedicht Malos recuerdos in: Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 102. 136 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 50. 137 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 27: „La realidad es simbólica y yo soy un poeta realista porque los símbolos están verdadera y físicamente en mi vida.“ 138 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 22. 139 Lloyd J. James, Austin, „ Mallarmé et le mythe d’Orphée“, in-: Cahiers de l’Association internationale des études francaises, 1970, n° 22, S. 169 - 180-: „Mallarmé est considéré comme un poète «-orphique-» par excellence.“ <?page no="254"?> 254 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen délicatesses et les magnificences, immortelles, innées, qui son à l’insu de tous dans le concurs d’une muette assistance-» 140 Mallarmé sah in der Legende des Orpheus den großen Sonnenmythos leuchten und in Orpheus den Urvater der Dichter 141 selbst. Orpheus’ Gang in die Unterwelt ist für ihn der Durchgang durch die Nacht zum Tag. Für Mallarmé war Orpheus eine Art Hüter des Seins, denn es oblag, den Dichtern das Ziel allen kosmischen Geschehens, die Bewusstwerdung seiner selbst, voranzubringen: Mallarmé croyait que l’univers évoluait vers une conscience de soi toujours accrue par les efforts successifs des hommes qui consignaient par écrit les fruits de leur expérience. […] C’est cette prise de conscience et son expression par «-l’intellectuelle parole à son apogée-», c’est-à-dire par la poésie, qui constituent «-la seule tâche spirituelle-» ou «-le seul devoir du poète et le jeu littéraire par excellence-» 142 Sein Versuch, diesen Anspruch einzulösen, ließ ihn einen neuen Kult ersinnen, der Kunst, Wissenschaft, Theater und Buch zu vereinen suchte: Je crois que la Littérature, reprise à sa source qui est l’Art et la Science, nous fournira un Théâtre, dont les représentations seront le vrai culte moderne- ; un Livre, explication de l’homme suffisante à nos plus beaux rêves. […] Cette œuvre existe, tout le monde l’a tentée sans le savoir-[…] Montrer cela et soulever le coin du voile de ce que peut être pareil poème, est dans un isolement mon plaisir et ma torture. 143 Eine religiös empfundene Kosmogonie spricht aus diesen Zeilen, und Dichtung, die parole à son apogée … seule tâche spirituelle , ist der Weg zu ihrer Erfüllung. Auf der Bühne der Buchseite erscheint gleichsam im Licht der Gestirne noch wie im Traume der Protagonist dieses kosmischen Geschehens, der Vers: […] à savoir que la forme appelée vers est simplement elle-même la littérature-; que vers il y a sitôt que s’accentue la diction, rythme dès que style. […] Parler n’a trait à la réalité des choses que commercialement-: en littérature, cela se contente d’y faire une allusion ou de distraire leur qualité qu’incorporera quelque idée. A cette condition s’élance le chant, qu’une joie allégée. […] Cette visée, je la dis Transposition - Structure, une autre. L’œuvre pure implique la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité mobilisés-; ils s’allument de reflets réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries, remplaçant la respiration perceptible en l’ancien souffle lyrique ou la direction personnelle enthousi- 140 Lloyd J. James, Austin, „Mallarmé et le mythe d’Orphée “, in- : Cahiers de l’Association internationale des études francaises, 1970, n° 22, S. 175 f. 141 Ebd., S. 177. 142 Ebd., S. 179. 143 Ebd., S. 180. <?page no="255"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 255 aste de la phrase. […] Tout devient suspens, disposition fragmentaire avec alternance et vis-à-vis, concourant au rythme total, lequel serait le poème tu, aux blancs-; […] un art d’achever la transposition, au Livre […] 144 Der Vers sei ein mot total , dem es gelinge, Sinn und Klang so überraschend zu gestalten, dass man einer unerhörten Phrase lausche, und zugleich auch das genannte Objekt wie vom Lichte einer neuen Atmosphäre durchflutet zu erkennen. Die orphische Kraft schaffe es, die Sprache in eine neue Atmosphäre zu versetzen, die Dinge in ein neues Licht zu rücken. Ihr gelinge eine Transposition der Koine . Der Preis für diesen kosmologischen Vorgang ist der Verzicht auf Individualität: Der Atem des Dichters muss durch den ancien souffle lyrique ersetzt werden, so dass die Worte zu leuchten beginnen, wenn sie sich aneinander entzünden. Und das totale Wort - der Vers - ist ein vollstrecktes Wort, achève cet isolement de la parole . Es ist ein isoliertes, artikulationsfreies Wort, ein ungesprochenes Wort, eine Figur auf der Bühne der Buchseite, eine leuchtende Form unter Formen, ohne die Schwere des gestaltenden Luftstroms, lungengestützt und fest verwurzelt im Körperleib. Denn hier dominiert der Stil - la diction accentuée -, der Worte setzt, nach der Regie des Essentiellen aus Fiktion und Virtualität: séparer […] le double état de la parole, brut ou immédiat ici, là essentiel. […] une fleur-! et hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquets. […] Au contraire d’une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d’abord la foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poëte, par nécessité constitutive d’un art consacré aux fictions, sa virtualité. 145 Nicht das rohe, direkte Wort - brut ou immédiat -, sondern dessen Bild, Idee und Singen inszenieren das kosmische Spiel des Dichtens. Verwandelt sich Rhythmus jedoch in Stil, gerinnt der Atem zur Figur, und das individuelle lebendige Sein befindet sich im Rücken der Sprache: im ici . Aus der Sternenlichtkammer des Buchtheaterhimmels wird die Existenz mit kosmischer Klarheit beleuchtet. Sie erhält sie jedoch nicht aus der abseitigen Seite des Seins. Und doch muss auch diese große kosmische Aufgabe - la seule tâche spirituelle - durch das Nadelöhr der menschlichen Existenz hindurch. Denn es geht nur vermittelst der Sprache, des Menschen Sprache - le langage humain - wie ferner auch des Menschen Existenz. Gefragt nach einer Definition von Dichtung antwortet Mallarmé: 144 Mallarmé, Stéphane, Oeuvres complètes II. Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, 2003. (Mimique, S. 178; Crise du vers, S. 203-- 213). 145 Ebd., S. 250 f. <?page no="256"?> 256 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen La Poésie est l’expression, par le langage humain ramené à son rythme essentiel, du sens mystérieux des aspects de l’existence-: elle doue ainsi d’authenticité notre séjour et constitue la seule tâche spirituelle. 146 Das Mysterium des Firmaments erhellt den Aufenthalt des Menschen auf der Erde, und dieses Licht zu bringen, ist die Aufgabe des orphischen Dichters Mallarmé - son plaisir et sa torture . Kein Heimgang zum eisernen Klang der Pfannen zu Hause oder ein Auf-Knien-Leben, Atmen in die großen Hände seiner Mutter 147 , sondern der ancien souffle lyrique religiös-kosmischen Geschehens führen Regie bei der Inszenierung seiner Dichtung auf der Bühne der Seiten des Buches. Lezama Lima oder die emanación íntima Eine ganz andere Art der Handreichung erfährt der kubanische Dichter Lezama Lima, wenn er seine Hand furchtsam in die Nacht hinausstreckt, um dort die andere Hand - la otra mano 148 -, das Andere anzutreffen. No solamente esperaba la otra mano, sino también la otra palabra, que está formando en nosotros un continuo hecho y deshecho por instantes. Una flor que forma otra flor cuando se posa en ella el caballito del diablo. Saber que por instantes algo viene para completarnos, y que ampliando la respiración se encuentra un ritmo universal. Inspiración y espiración que son un ritmo universal. Lo que se oculta es lo que nos completa y es la plenitud en la longitud de la onda. 149 Die Kindheitserinnerung an die Hand der Nacht, welche den Atemrhythmus öffnet und die Fülle einer kosmischen Bewegung einführt, bleibt auch dem erwachsenen Autor erhalten. El verbo era una mano excesiva en su transpiración, un adjetivo era un perfil o una mirada de frente, los ojos sobre los ojos, con la tensión de la oreja alzada del gamo. […] Cada palabra era para mí la presencia innumerable de la fijeza de la mano nocturna. […] La espera y llegada de la mano iniciaba la cadena verbal, […] 150 146 Lloyd J. James, Austin, „Mallarmé et le mythe d’Orphée “, in- : Cahiers de l’Association internationale des études francaises, 1970, n° 22, S. 179. 147 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 104. 148 Lezama Lima, José, „ Confluencias “ , in: Introducción a los vasos órficos , Barral editores, Barcelona, 1971, S. 254. 149 Ebd., S. 255. 150 Ebd., S. 256. <?page no="257"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 257 In jedem Wort findet der Dichter einen Keim, der aus der Vereinigung des Kosmischen, „estelar“ 151 , und des Innigen, „lo entrañable“ 152 , entsprang. Der Kosmos jedoch bedürfe des Menschen, bedürfe seiner Fähigkeit zur „transmutación“ 153 in seinem Inneren, in seinen „entrañas“ 154 , wo sich eine intime Metamorphose vollziehe; und dieser Prozess finde seinen höchsten Ausdruck im augustinischen logos spermatikos 155 . […] la participación de cada palabra en el verbo universal, participación que atesoraba una respiración, que une lo visible con lo invisible, una digestión metamorfósica y un procesional espermático, que trueca el germen en verbo universal, complementaria hambre protoplasmática que engendra la participación de cada palabra en una infinita posibilidad reconocible. 156 Der Dichter nimmt an diesem gnoseologischen Prozess teil, indem er das Keimen verlängere: Er wählt unter den Worten aus, tastet sich an die Fülle des universellen Wortes heran und schafft ein Bild, ein „imagen” 157 , welches die Übernatur, „sobrenaturaleza“ 158 befruchtet: „La imagen es el incesante complementario de lo entrevisto y lo entreoído” 159 . Mit dem Bild und als Bild nehme der Mensch am kosmischen Geschehen teil, und der Dichter befördere mit seiner Wahl der Worte diesen universellen Metabolismus. Toda poiesis es un acto de participación en esa desmesura, una participación del hombre en el espíritu, en el Espíritu Santo, en la madre universal. 160 Taktile und metabolische Prozesse geben bei Lezama Lima die Matrize ab, mit der die übliche Metaphorik kreativer Abläufe unterlaufen wird: Handgeben, Schwitzen, Atmung, Keimung, Verdauung usf. übernehmen die Beschreibung. In der Symbiose mit stellarem, bzw. kosmischen Geschehen wird die Sprache in einen gnoseologischen Zusammenhang gestellt, in dem der Dichter als Wortgeber zum Teilnehmer an einem pleromatischen Weltgeschehen wird. Er nimmt 151 Lezama Lima, José, „ Confluencias “ , in: Introducción a los vasos órficos , Barral editores, Barcelona, 1971, S. 256 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 257. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 259. 160 Ebd., S. 261. <?page no="258"?> 258 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen teil an einer universellen Kommunikation, verbunden durch einen lebendigen und keimenden Logos Natur. Die verwandelnde Kraft des Verdauungsprozesses vermittelt bei Lezama Lima zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen der Übernatur und der Natur. Diese Transmutationen stellen einen gnostischen Vorgang dar, an dem der Mensch und insbesondere der Dichter ob seines Tuns teilhat 161 . Weder ein gnostisch erfüllter Kosmos wie bei Lezama Lima, auch keine religiös empfundene Kosmogonie à la Mallarmé noch eine rétraction revendiquante wie bei Sartre, kein pleromatisches Atmen der Natur mit der Übernatur, keine Übertragung transposition , keine Übersteigung transmutación und kein más allá , sondern nur die Gestaltung einer anderen, einer eigenen Realität, einer emanación íntima , einer realidad en si misma vermittelst einer lenguaje otro , welche diese entfaltet, können wir bei Antonio Gamoneda beobachten. Die transfiguración der Koine, ihre Umprägung, erlaubt ihm die Enthüllung - revelación - seiner Realität, lässt diese sichtbar und vor allem hörbar werden. Juan Larrea und die abseitige Seite des Seins Der bilbainische Dichter Juan Larrea beschreibt eine solche realidad en si misma und belegt sie mit dem auch von Antonio Gamoneda gebrauchten Begriff der transfiguración 162 , als er den Eindruck schildert, den das Gedicht Luna von Vicente Huidobro bei ihm hinterlassen hatte: El texto es como sigue: «Estábamos tan lejos de la vida / Que el viento nos hacía suspirar / La luna suena como un reloj / Inútilmente hemos huido / El Invierno cayó en nuestro camino / Y el pasado lleno de hojas secas / Pierde el sendero de la floresta / Tanto fumamos bajo los árboles / Que los almendros huelen a tabaco / Media noche / Sobre la vida lejana / Alguien llora / Y la luna olvidó dar la hora/ .» 163 Lo sustantivo era que la luna, lo absolutamente silencioso, sonase como con tiempo y vida propios, cosa que implicaba una transfiguración, distanciando el fenómeno de nuestra realidad de seres humanos, proyectándonos a otra vivencia del cosmos. La afirmación subsiguiente era también pertubadora, en cuanto que el haber fumado excesivamente hasta enrarecer y oscurecer la atmósfera hacía que los almendros — quizá las estrellas entre la neblina— oliesen a tabaco, relegando la situación a nuestros 161 Peláez Pérez, Carlos Eduardo (1996): „El sistema poético de José Lezama Lima“, http: / / bibliotecadigital.udea.edu.co/ bitstream/ 10495/ 354/ 1/ SistemaPoeticoJoseLezama. pdf [Sommer 2016]: Estamos ante un espacio creador, un ‚espacio gnóstico‘, la desmesura, para que el hombre pueda apoderarse y participar de ella, del Espíritu universal, del Espíritu Santo.“ 162 Larrea, Juan, Versión Celeste , Catedra Letras Hispánicas, 2ª edición, Madrid, 2003, S. 18 f. 163 Ebd. <?page no="259"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 259 términos más chaplinescamente vulgares. Decía por último que «en la vida lejana alguien llora», atribuyendo al sonido de la luna una emoción anónima, para añadir que, dotada de memoria como una especie de sublime ánima en pena, olvidó dar la hora. Se abismaba uno en un gran misterio parapsicológico. No se entendía racionalmente la situación, pero se sentía su profundidad vegetal, animal y sobrehumana. Era como haber pasado del anverso al reverso de la existencia. 164 Wie bei Antonio Gamoneda unterläuft auch bei Juan Larrea ein sentir das rationale Weltverständnis 165 und gemahnt den Menschen vermittelst des Sinnenerlebens - vegetal, animal y sobrehumana - an eine abseitige Seite der Existenz - reverso de la existencia . Se construía la frase sobre un adverbio de modo, como un símil cualquiera, pero dentro de un ámbito como de campana neumática, sin tiempo ni lugar, [19] que presuponía otra clase de existencia, afirmada sobre símbolos extraños a la experiencia humana. No se trataba, sin embargo, de un estado mental, literariamente abstracto, sino de un hecho correspondiente al mundo concreto de nuestros sentidos biológicos. La luna suena ; se la oye he ahí lo traumáticamente fenomenal. 166 Diese sinnlich erlebbare realidad en si misma , und sei sie noch so befremdend, vermittelt sich dem Menschen phänomenologisch: erklingt in seinem Ohr, erscheint vor seinem Auge, regt sich, schwindet, dauert - nimmt Maß an seinem Sein. Keine Überwelt, keine mystische Schau ist in Sicht. Allein der orphische Dichter legt die Spur seines Atmens in der erscheinenden Form der Zeile nieder, und je manifester ihr Rhythmus, der Zug der Akzente, desto gründlicher erschließt sich die Ansicht des individuellen Seins im Idioma des Dichters am Rande der Koine, auf der abseitigen Seite der Existenz. Resümee und Ausblick In Blues Castellano lesen wir von der Stille als semantisierbarem Formelement - biographisch und existenziell bedeutend - und lernen, sie im Zusammenhang mit der Befragung der Erinnerung zu begreifen, um dieser die Sprache der Zukunft abzulauschen. Formal erlaubt das Zeilenformdenken den Umgang mit dem Schweigen, mit der Stille als Aussageform. Blues Castellano ist auf dem Absprung in die Stille, in das Schweigen des Autors, auch biographisch, welche sich nun vor der Nieder- 164 Larrea, Juan, Versión Celeste , Catedra Letras Hispánicas, 2ª edición, Madrid, 2003, S. 19. 165 Siehe: Gamoneda, Antonio, Un armario lleno de sombra. S. 69, Siehe auch: Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 89, u. Ebd., S. 92. 166 Larrea, Juan, Versión Celeste , Catedra Letras Hispánicas, 2ª edición, Madrid, 2003, S. 18 f. <?page no="260"?> 260 Der Logos poietikos Antonio Gamonedas oder die Dichtung, Literatur ohne Genregrenzen schrift von Descripción de la mentira zehn Jahre später auftürmt. Existenziell bedeutet dieses lange Schweigen Antonio Gamonedas eine retracción einen Heimgang, einen Rückzug in die Provinz, in die Heimatstadt, in sein Stadtviertel, sein Zuhause, zu den Händen seiner Mutter. Dieser Heimgang ist sein Abstieg in den Hades 167 , und er hinterlässt eine Lücke in der öffentlichen Debatte - auch sein Schweigen ist öffentliche Rede. Die formal verdichtete Stille als semantisches und existenzielles Element ist ein Heimgang hin zu den Quellen des Dichtens, zur música de la sartén . Sie stellt eine Erweiterung dar, einen Gewinn an dichterischer Freiheit, eine weitere Entfaltungsmöglichkeit, eine Formmöglichkeit für den Atem des Autors, eine neue Spur, ein weiteres Element der Rhythmik des dichterischen Gesangs. Die retracción , der Rückzug aus dem öffentlichen Debattenraum, findet ihren sprechenden Ausdruck in der Verbrüchlichkeit der Zeile, welche dem Schweigen Gestalt verleiht, die wachsende innere Freiheit vorbereitet und sie schließlich beredt werden lässt. Zugleich befördert dieselbe Verbrüchlichkeit die Emanzipation der Zeile gegenüber dem Gedicht und somit ihre Auslösung aus dem Verband der traditionellen Formen. Vollständig dem Ausdruck der individuellen Existenz anheimgestellt beschreibt die Zeile jenes Element der Form, welches in Descripción de la mentira jede metrische Unterweisung aus dem Gedicht hinter sich gelassen hat und dem Maß des Lebens lebendiger Erfahrung als Rhythmus, als werdende Form in der Erscheinung ein Gerüst bietet. Sie ist zum Baustein der Texte wie der Abschnitte und des gesamten Textes geworden. In ihrer Ausdehnung manifestiert sich der Atem des lange stumm gebliebenen Sprechers. 167 Gamoneda, Antonio: „De poetas provincianos (I)“, in El cuerpo de los símbolos , S. 101 - 107, hier einige wenige Textstellen als Beispiel: „Eramos gente asustada, semilocos, pequeños héroes de una negatividad más sentimental que práctica. Como militantes o compañeros de viaje, valíamos poco aunque sufriéramos mucho. […] Ya casi todos somos únicamente sombras: los suicidas activos y pasivos; los muertos ensangrentados, y los muertos de pena; los que están sin estar; los que no acaban de irse. Los supervivientes nos encontramos en trance de compasión recíproca. Somos dos o tres entre las ruinas de nuestra inteligencia (primera vez en mi vida que cito a Gil de Biedma, palabra de honor), entre las ruinas, como mínimo, de nuestros cuerpos y nuestras voluntades. […] Sé que estas trampas existenciales no eran, ni son, realidad privativa de la provincia, pero en la provincia la trama es más pequeña (más cruel), el escenario más pobre y cerrado, y así, en la jerarquía del sin sentido, se produce un ascenso de grado. […] No son bromas: ¿puede darse mayor incongruencia que la de intentar hacer obras de arte con el miedo a la muerte? La historia de cómo se hace o deshace un poeta provinciano que, inevitablemente, aquí soy yo, es, más o menos, así. […] vivo en una ciudad amada, casi hermosa, que me convierte a la estupidez: ella se ejercita en crueldades rutinarias y yo en la iluminación de la vaciedad.“ <?page no="261"?> Lebendig werdende Form und individuelle Existenz 261 In der Transfiguration der Koine zum dichterischen Idioma und der Zeile als semantisierbarem Formelement manifestiert sich die transzendierende Immanenz der gamonedaeischen Poietik und die Lockerung des biographischen Seins. <?page no="263"?> Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Das Haben von Wirklichkeit und der impulso musical Üblicherweise wird der Realist fast lapidar als jemand bezeichnet, der „die Gegebenheiten des täglichen Lebens nüchtern und sachlich betrachtet und sich in seinem Handeln danach richtet.“ 1 Diesem Urteil zugrunde liegt eine vorgängige Alltäglichkeit des Lebens mit seiner vorgegebenen Ordnung. Das Sosein der Dinge ist schon geklärt, ihr Dasein ins Selbstverständliche eingerückt und die Wirklichkeit des Gegebenen festgestellt und unbefragt. Dieser Realist kennt das Wirkliche als das Vorfindbare. Demgegenüber ist das Haben von Wirklichkeit selbst ihrem Sosein vorgängig. Ihre Eindrücklichkeit hängt nicht von Sensationen und auch nicht von perzeptiven Akten ab 2 , sondern speist sich aus einem „erlebten Widerstandseindruck“ 3 als ein Gemisch von Eindrücken und Wahrnehmungen auf der Basis eines Impulses unseres «Lebens»dranges 4 . Und so kann Scheler schließen: „Das Realitätserlebnis ist also all unserer ‚Vorstellung‘ der Welt nicht nach-, sondern vor gegeben.“ 5 Dies bedeutet also: Realsein ist nicht Gegenstandsein, d. h. das identische Soseinskorrelat aller intellektiven Akte - e s ist vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dieselbe ist. 6 1 Deutsches Universal Wörterbuch A- Z, (Hg. Günther Drosdowski u. a.), Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 1989, S. 1221. 2 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , (Darmstadt, 1928) Hier in der Hg. Von Manfred Frings, 17. Aufl. Bouvier Verlag, Bonn, 2007, S. 58 f.: „Es gibt für den Wirklichkeitseindruck [59] nicht eine besondere angebbare Senstation (hart, fest, etc.). Auch Wahrnehmung, die Erinnerung, das Denken und alle möglichen perzeptiven Akte vermögen uns diesen Eindruck nicht zu verschaffen: was sie geben, ist immer nur das (zufällige) So sein der Dinge, niemals ihr Da sein. Was uns das Dasein (=Wirklichsein) gibt, das ist vielmehr das Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre - und diesen Widerstand gibt es nur für unser strebendes, für unser triebhaftes Leben, für unseren zentralen Lebensdrang*.“ 3 Ebd., S. 59. 4 Ebd., S. 60. 5 Ebd. 6 Scheler, Max, Erkenntnis und Arbeit , Klostermann Texte Philosophie, Frankfurt am Main, 1977, S. 233. Siehe auch Fußnote Nr. 86, Seite 40. <?page no="264"?> 264 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Über Wirklichkeit oder Realität in diesem Sinne kann man sich wohl einigen 7 , jedoch niemals abschließend. Die Einigung aber ist im Unterschied zum Urteil ein rhetorischer Vorgang und dort von Nöten, wo Evidenz nicht hinreicht 8 . Scheler stellt aber auch klar, dass die Seinsart des Realen nicht dem intellektiven Akte, sondern den spontanen Akten entspreche. Diese neigten zum Abschluss, zur Finalität und fänden ihren Ausdruck im Urteil, jene aber würden ingressive oder durative Prozesse bergen, neigten sich noch nicht zur Finalität und fänden ihren vorläufigen Ausdruck in der Metapher oder dem Symbol. Ihre nur vorläufige Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit findet seine Entsprechung in der Uneigentlichkeit oder noch Uneigentlichkeit ihres Namens 9 . Schon auf der Stufe des assoziativen Gedächtnisses, der Mneme 10 kann mit Scheler ein früher erkenntnistheoretischer Ort beschrieben werden. Scheler 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik , Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1985, 1173a, S. 236: „Was alle glauben, das, behaupten wir, ist wahr. Wer diesen übereinstimmenden Glauben der Menschheit verwirft, wird schwerlich Glaubwürdiges zu sagen wissen.“ 8 Blumenberg, Hans, Ästhetische und metaphorologische Schriften , Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1513, Frankfurt am Main, 2001, S. 411: „Rhetorik schafft Institutionen, wo Evidenzen fehlen. […] Alles, was diesseits der Evidenz übrigbleibt, ist Rhetorik; sie ist das Organ der morale par provision .“ 9 Ebd., S. 415 f.: „Der Mangel des Menschen an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem >metaphorisch<. Wie der Mensch mit dem Übermaß der Anforderungen aus seinem Wirklichkeitsverhältnis fertig wird, ist in der nominalistischen Interpretation des Urteils seit langem vorgeführt worden. Prädikate sind >Institutitonen<; etwas Konkretes wird begriffen, indem es aufgelöst wird in seine Zugehörigkeiten zu diesen Institutionen. Als Konkretes ist es verschwunden, wenn es in Urteilen aufgegangen ist. Aber, etwas als etwas zu begreifen, unterscheidet sich radikal von dem Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen. Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlussreich ver-[416] mutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare. Ist der Grenzwert des Urteils die Identität, so ist der Grenzwert der Metapher das Symbol; hier ist das Andere das ganz Andere, das nichts hergibt als die pure Ersetzbarkeit des Unverfügbaren durch das Verfügbare. Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist.“ 10 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 26: „Unter den zwei Verhaltungsweisen, die, wie wir sahen, beide ursprünlich aus dem instinktiven Verhalten hervorgehen, das «gewohnheitsmäßige» und das «intelligente» Verhalten, stellt das «gewohnheitsmäßige»- - die dritte psychische Form, die wir unterscheiden - den Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des bedingten Reflexes, d. h. jene Fähigkeit dar, die wir als « assoziatives Gedächtnis » (Mneme) bezeichnen.“ <?page no="265"?> Das Haben von Wirklichkeit und der impulso musical 265 nennt hier seine dritte psychische Form , in der das Gewohnheitsmäßige verarbeitet werde und in der sich das lebendige Wesen wohl ohne Urteil doch mit Hilfe seiner Erfahrungen im Leben einzurichten lerne. Sie baue, auf das Gesetz von «Berührung und Ähnlichkeit» 11 auf und stellt einen weiteren Schritt der „schöpferischen Dissoziation“ 12 als Grundvorgang der psychischen Entwicklung zum Geistigen dar. Den Erkenntnisprozessen des Psychischen durch Berührung und Ähnlichkeit können auf der sprachlichen Ebene Metonymie und Metapher zugeordnet werden. Beide rhetorische Figuren schließen das Gesetz des tertium non datur aus, kommen also ohne logisches Urteil aus. Sie beanspruchen für die Metapher ein tertium comparationis oder eine Kontiguität bei der Metonymie. Das derart gestiftete Verhältnis der versammelten Teile ist ein analoges, ist analogos , ein proportionales Verhältnis. Berührung und Ähnlichkeit lassen sich auf der prosodischen Ebene der syntagmatischen Reihung und der paradigmatischen Kombination zuordnen 13 . Dieser Reihe entspricht die Anordnung des Sprachtons 14 in der Sprache, der als dessen musikalisches Element das Charakteristisch-Allgemeinen vor dem Vielen darstellt. Die Sprachreihe, durch Berührung und Ähnlichkeit konstruiert, besitzt also keine äußerliche begriffliche Grenze, keinen horos , sondern eine innere, eine musikalische Grenze im Akzent. Dieser ist der Garant für die Umsicht des Individuums vor dem Gesetz der Sprache und der Logik einerseits und seiner Wirklichkeitserfahrung andererseits. Einer Wirklichkeit im Werden, die sich zwischen Sosein und Dasein versammelt, entspricht eine Dichtung, die auf die innere Grenze des Wortes und die surcansion 15 - eine Verlautbarung jener urquellenden Spontaneität -, auf die aus der bewegten Bewegung werdenden Form bauen kann. Das signum Gamonedae stammt ebenfalls aus jener urquellenden Spontaneität , als deren Verlautbarung 11 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 28. 12 Ebd., S. 25: „ Schöpferische Dissoziation , nicht Assoziation oder «Synthese» (Wundt) einzelner Stücke, ist also der Grundvorgang der psychischen Entwicklung.“ 13 Aus dieser Reihung heraus wird die gesprochene Ausführung der Rede erlesen: Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 246- : „Il y a les cas ambigus syntaxiquement. Il y a, non sur le plan des réalisations phoniques individuelles, mais sur celui de l’organisation syntagmatique, paradigmatique du discours, la somme des scansions possibles, pertinentes, significatives. Il y a l’interaction de la prosodie avec le rythme accentuel. La lecture du poème n’est que la réalisation empirique de son organisation, qui déborde toute lecture.“ 14 Humboldt, von Wilhelm, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts , S. 390 f. 15 Meschonnic, Henri, Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage , S. 246. <?page no="266"?> 266 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit das musikalisch-impulsive Denken in seiner übersprachlichen charakteristischen Allgemeinheit erscheint: […] tengo que hablar de la realidad poética […] El lenguaje poético tiene su desencadenante en un impulso de la especie sensible, en un impulso musical. Dice Eliot que la generación poética consiste en la ‚aprehensión sensorial y directa del pensamiento poético […] Humildemente acorde con Eliot, yo defiendo que la música es el estado original del pensamiento poético . Puedo precisar un poco más: el pensamiento poético se genera en la confusión profunda de una causa musical y una causa significativa. 16 Der Realist hat es also auf der einen Seite mit einer Wirklichkeit zu tun, deren aufgeräumter Charakter ihm Nüchternheit und Sachlichkeit entgegenbringt, das Sosein ihrer Gegenstände, die Klärung schon hinter sich gelassen hat, während eine Wirklichkeit als Erlebnis ihrer selbst, als ein Wirklich-Werden ihm allein ihr Dasein entgegenbringt. Vor aller Feststellung des Gegebenen tritt Wirklichkeit als ein Prozess des widerständigen Werdens in Erscheinung: sie wirkt. Der Realist also, der es mit derart Wirklichem zu tun hat, befindet sich mitten in der Betrachtung, den Dingen nicht gegenüber, sondern sich mit ihnen in sie hinein vermittelt. Ein solcher Realist muss sich in seiner Aufmerksamkeit 17 , in der Schwebe zwischen Dasein und Sosein des sich Gebenden erkennen und um sich wissen. Ein solcher Realist kann in dichterischer Bearbeitung der Feststellung dieser Wirklichkeit die bewegte Bewegung des Rhythmus im Wort entgegenhalten 18 . Nur Lebendiges hat Wirklichkeit. Für Scheler ist der Gefühlsdrang 19 , der mit seiner Funktion der triebhaften Aufmerksamkeit die Wurzel allen Habens von 16 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 15 f. 17 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 17 f.: „Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang stünde, die er mit seinem die Schlaf- und Wachzeiten kontinuierlich [18] durchschneidenden Feuer nicht unterhielte - selbst die einfachste Empfindung ist nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“ 18 Dieser Sachverhalt, hier beschrieben von Wilhelm Dilthey am Beispiel Goethes in: Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung , Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leibzig, 1910, S. 158: „Alles, was Goethe damals sprach oder schrieb, war erfüllt von Keimen werdender Dichtungen, die sich ans Licht drängten. Aus dieser Kraft, Zustände auszudrücken, entsteht nun seine unvergleichliche Phantasiebegabung in der Sphäre des Wortes . Die Sprache ist das Material des Dichters. Sie ist aber mehr als das, denn die sinnliche Schönheit der Dichtung in Rhythmus, Reim und Sprachmelodie bildet ein eigenes Reich höchster Wirkungen, die ablösbar sind von dem, was Worte bedeuten. […] Goethe waltet königlich in diesem Reich der Sprache. Es entsprang dies eben daraus, daß Erlebnis in ihm überall und unmittelbar mit dem Drang zum Ausdruck verbunden war.“ 19 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , S. 12: „Die unterste Stufe des Psychischen - zugleich der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt, auch noch den reinsten Denkakten und zartesten Akten lichter Güte die Tätig- <?page no="267"?> Das Haben von Wirklichkeit und der impulso musical 267 ‚Realität‘, von Wirklichkeit 20 darstellt. Die „Wirklichkeit des Aussehens der Dinge, die Wahrheit des Antlitzes der Natur“ 21 liegt für Plessner in den Modi der sinnlichen Wahrnehmung. Damit aus dieser Vielfalt der sinnlichen Anschauung die „Einheit des Sinnes“ 22 entsteht, muss das anschauende Bewusstsein mit dem deutenden Bewusstsein vermittelt werden. Das Leben und seine Geschichte in einem Werk zu vermitteln, zu einem Ganzen zu vereinen, dieses Recht verleiht Wilhelm Dilthey allein den Dichtern: „Wer als ein Dichter dürfte den metaphysischen Zusammenhang des Lebens zu deuten unternehmen? “ 23 . Sie überschreiten damit sowohl die unmittelbare keitsenergie liefert - bildet der bewußtlose, empfindungs- und vorstellungslose «Gefühlsdrang» . In ihm sind «Gefühl» und «Trieb» (der als solcher stets etwas, z. B. Nahrung, Sexualbefriedigung, hat) noch nicht geschieden. Ein bloßes «Hinzu», z. B. zum Licht, und «Vonweg», eine objektlose Lust und ein objektloses Leiden sind seine zwei einzigen Zuständlichkeiten.“ 20 Ebd., S. 18. 21 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 310: „Sinne als Vorstellungsweisen, Gefühlsarten der Seele hüllen die in ihrem Sein unerkennbare oder als pures mechanisch-energetisches Geschiebe erkannte Welt in den bunten Schleier ihrer Erscheinungen, machen die Erscheinung ihrer Qualität nach zum Schein. Unsere Theorie rettet die Erscheinung davor und begründet die Objektivität der Modalitäten, die Wirklichkeit des Aussehens der Dinge, die Wahrheit des Antlitzes der Natur.“ 22 Ebd., S. 152: „Das ist nur möglich, wenn wir die bisher geübte einseitige Beurteilung des ganzen Problems nach den Maßstäben des anschauenden Bewußtseins aufgeben und ihm, da auf dem alten Wege ein Weiterkommen unmöglich ist, das deutende Bewußtsein zugrunde legen, der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes.“ 23 Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung , Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leibzig, 1910, S. 279. Siehe auch S. 164 f.: „Aus dem Verhältnis von Leben, Phantasie und Gestaltung des Werks folgen alle allgemeinen Eigenschaften der Poesie. […] Es hat nicht die Absicht Ausdruck oder Darstellung des Lebens zu sein. Es isoliert seinen Gegenstand aus dem realen Lebenszusammenhang und gibt ihm Totalität in sich selber. […] Es erhöht sein Daseinsgefühl. […] Es öffnet ihm den Blick in eine höhere und stärkere Welt. […][165] […] Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, eine Eigenschaft des Lebens heraus, die so vorher nicht gesehen worden ist. […] So erschließt uns die Poesie das Verständnis des Lebens. […] So sind in dem Untergrund dichterischen Schaffens persönliches Erleben, Verstehen fremder Zustände, Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung durch Ideen enthalten.“ Zum Zusammhang zwischen dem, was einmal „Lebensphilosophie“ genannt wurde und zu der auch Max Scheler gezählt worden war, und Wilhelm Diltheys Denken schreibt Georg Misch in: Misch, Georg, Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys , Verlag G. Schulte-Bulmke, Frankfurt am Main, 1947, S. 40 f.: „Wie er denn auch in der modernen Literatur mit ihr zusammengestellt wird, z. B. in einem bemerkenswerten Aufsatz von Max Scheler, wo unter dem Titel: ‚Versuche einer Philosophie des Lebens‘ Nietzsche, Bergson, Dilthey nacheinander aufgeführt werden. Dilthey sucht diese Domäne der irrationalistischen Lebensphilosophie für den wissenschafltichen Geist zu erobern, und der Weg dazu soll eine philosophische Verbindung von Anthropologie und Historie sein. Als gemeinsame Ten- <?page no="268"?> 268 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Lebenswelt des Menschen wie auch das in der Wissenschaft Zulässige, dem Dasein jedoch bleiben sie verpflichtet. Die Objektivierung seines Denkens erlangt der Dichter durch das Wort und die Form seiner Rede durch also das Zeichen. Vom Zeichen aber lässt sich nur sprechen, bedenkt man seinen Leser. Mit dem Zeichen befindet sich der Mensch in der Welt der Vermittlung, in der Abständigkeit zum Sein und zu seinem eigenen inneren Zentrum zugleich. Vermittelst des Zeichens kann der Mensch zu sich sowie sich und der Welt dauerhaft Stellung nehmen, am Buch seiner Geschichte schreiben. Der Dichter als Realist des Wirklichen liest und schlägt darin sein Wort ins Maß. Von der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols, Träger der selbsteigenen Realität der nichtfiktionalen Dichtung Antonio Gamonedas Das signum Gamonedae (I) Das signum Gamonedae (I) , namentlich das Symbol, zeigt das andere Gesicht der Natur, die selbsteigene Realität, indem es - seinem ursprünglichen Zusammenhang entfremdet - die individuelle Dichtungsform in Szene setzt, das orphische Idiom des dichterischen Seins in Singen und Sagen kundgibt. Sehen und Sagen und Sinn Sehen und Sagen stehen über verwandte Formen in einem engen etymologischen Zusammenhang. Bei sehen wird eine Bedeutungsentfaltung von folgen, mit den Augen folgen, sehen angenommen. Diese Abfolge beschreibt den Strang von der Haltung des gesamten Körperleibes beanspruchenden folgen zum spezialisierten Organ mit den Augen folgen zur kognitiven Leistung: sehen . Daneben erscheint ein zweiter Bedeutungsstrang von zeigen, ankündigen und sagen . Analog der vorhergehenden beschreibt diese Abfolge ebenfalls eine Sonderung von der allumfassenden Körperhaltung: zeigen zum ungerichteten Ankündigen hin zur zielgerichteten Leistung des Sagens . Beide Stränge der Bedeutungsentfaltung stammen aus einer rekonstruierten gemeinsamen Wurzel * sekú -. Beim denz dieser modernen Versuche gibt er an: daß sie das Leben aus ihm selber verstehen wollen - d. h. unter Ausschluß von transzendenten Setzungen: eine des Kampfes mit dem Transzendenten enthobene Vertiefung in die Wirklichkeit.“ <?page no="269"?> Von der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols 269 Verb sagen kehrt sich die Wichtigkeit der Stränge der Bedeutungsentfaltung schlicht um 24 . Die Wurzel * sekú als Ursprungsort beider Verba wird zudem mit der Bedeutung wittern, spüren des Hundes bei der Jagd in Verbindung gebracht 25 . Sehen und Sagen also teilen mit dem Fern- und Nahsinn, dem Geruchssinn, einen gemeinsamen Herkunftsbezirk und treffen sich im Gesehenen und Gesagten. Der Geruchssinn wiederum, dessen Quelle gar nicht gegenwärtig sein muss, ist eben in diesem Sinne ein Fernsinn. Als Nahsinn verdichtet sich das Aroma zum Geruch. Wenn Witterung aufgenommen werden kann, ist es möglich, der Spur zu folgen. Der Verursacher der Spur wird durch die Aktion des Nach- und Aufspürens gestellt. Es handelt sich also um eine Aktion in der Zeit. Die wehende Luft der Witterung - Moment der Atmung - hält dem Nachspürenden die Ursache beständig gegenwärtig. Anwesenheit und Abwesenheit halten sich die Waage, bis am Ende schließlich die Quelle der olfaktorischen Spur ansichtig geworden ist. Analog dieser Dynamik erscheint bei der Verfolgung eines Textes durch Sehen und Sagen schließlich der Sinn. Bis dahin bleibt die Gegenwart des Sinnes in der Spannung zwischen Sein und Nichtsein, An- und Abwesenheit aufgehoben. Auch Sinn als Verbalsubstantiv von sinnen und im Sinne geistigen Gehaltes gehört etymologisch in den Bezirk der Orientierung. Zurückgeführt auf die Wurzel *sent- „eine Richtung nehmen, gehen“ 26 - als Körperhaltung - und übertragen „empfinden, wahrnehmen“ 27 wird seine Ausgangsbedeutung angenommen als: „seine Gedanken in eine Richtung gehen lassen, sie auf etw. richten[…]“ 28 , also als eine vernunftbegabte Leistung der Orientierung. Sehen, Sagen und Sinn also versammeln sich in einem Bedeutungsbezirk der Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Witterung, die Verfolgung, die Erscheinung und schließlich die Aussage des gestellten Sinnes. Lesen und Jagd, beides sind teleokline Vorgänge. Sie sind eminent existenzielle Akte des Organismus, der zwischen Angriff, Flucht oder Verharren entscheiden muss. Ort dieses Geschehens ist der Körperleib, der mit seinem Tun das Sein in ein Vorher und Nachher, ein Hier und Dort teilt. Auch und besonders mit der Erschließung seiner Sinne lebt er das legein kai krinein des Seins. 24 Pfeifer, Wolfgang (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen , Deutscher Taschenbuchverlag, München, 1994, S. 1269 bzw. 1157. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 1294. 27 Ebd. 28 Ebd. <?page no="270"?> 270 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Vor diesem Hintergrund kann die physiologisch-linguistische Realität der Abfolge von Auge, Atmung und Artikulation genauer betrachtet werden: Auge und Artikulation - Sehen und Sagen - werden im Körperleib durch Atmung vermittelt. Wird das Auge des Blattes ansichtig, beginnt es die Textzeile zu ergreifen und ihr nachzuspüren, zu folgen, einer Zeichenspur ansichtig. Sinn kündigt sich an, erscheint anwesend, aber noch unabgeschlossen und also auch noch abwesend. Der Atem strömt in die in Bewegung gesetzten artikulierenden Organe. Die Atmung nimmt den Rhythmus der Zeichenfolgen auf und füllt die Artikulationsbewegung mit der Luft: Die Spur ist aufgenommen, Atmung, Sehen und Sagen haben ihre Richtung eingeschlagen, verfolgen gemeinsam den Sinn der verfassten, hier dichterischen Rede. Der in Selbststellung, sich bei der Rede erlebende Körperleib, befindet sich also in der Gegenwart von Rede und Sinn, in der Wirklichkeit des werdenden Wortes wieder. Er bewegt sich und wird bewegt von der selbsterschaffenen Bewegung jener Worte, die von seiner Zunge über die Lippen und aus seinem Munde zurück an sein Ohr gelangen. Der Körperleib selbst ist der Ort der Vermittlung von Ausdruck und Mitteilung. In der Mitwelt jedoch trifft der Körperleib auf jene Körper, von denen er annehmen muss, dass sie ebenfalls Leiber sind, denn sie bewegen sich wie er, artikulieren und scheinen wie er zu hören. Zudem reden sie wie er, von ihnen hat er sogar zu hören und zu reden gelernt. Individueller Körperleib und sozialer Körper sind im Geiste einer 29 , und es ist hier, wo die Vermittlung durch Sprache ihren Ort hat. ¿Signos? (Lectura parcial de José María Navascués) Zeugnis jener engen Verbindung zwischen Sehen, Sagen und Sinn bei Antonio Gamoneda legt seine Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern (Antonio Gamoneda erarbeitete Künstlerbücher mit Antoni Tàpies, Juan Barjola oder Juan Carlos Mestre u. a.) wie auch seine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Schaffen im Essay, in Ausstellungskatalogen oder der Zwiesprache mit ihnen in seiner Dichtung ab. Diesem Tatbestand schließt sich die Vorstellung an, dass die Buchseite mit ihrer idealen Zeileneinteilung als Grundlage für die Kooperation von Auge, Atmung und Artikulation als Leinwand oder Partitur eigenen Rechtes für die Spur des Zeichens interpretiert werden kann 30 . Deren physiologische 29 Siehe Kapitel: „Die Sphäre des Geistes und die Realität“. 30 Verfolgt man die Publikationen des Autores in chronologischer Folge und beobachtet die Verfügbarkeit der Buchseite, so lässt sich feststellen, dass es eine Tendenz, ausgehend vom traditionellen Zeilen- Vers- und Gedichtaufbau, über den Bruch der Zeile, ihre Ausdehnung und Verteilung über die Seite, bis hin zur frei verfügenden Verteilung des Dichterwortes über die gesamte Buchseite erkennen lässt. <?page no="271"?> Von der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols 271 und psychologische Realität wurde gerade beschrieben. Die leere Buchseite ist wie die leere Leinwand des Malers ein Ort maximaler Entfremdung von Realität - beim Bild oft zusätzlich durch einen Rahmen bekräftigt, beim Buch durch den Seitenschnitt, Bindung und Einband -, denn sie ist dieser vollständig entblößt. Diese Entfremdung eröffnet die Möglichkeit der Einschrift subjektiver Welten, der Realisierung von Irrealem 31 , und dieser Vorgang trifft gleichermaßen für Sagen und Schreiben, Laut wie Zeichen, zu. Unter der Bedingung also der Irrealität schreitet die selbsteigene Realität des Autors zu ihrer Manifestation in Wort und Schrift fort. Diesen Vorgang der Wesensentfremdung und Zeichenwerdung beschreibt Antonio Gamoneda anhand der Arbeiten des plastischen Künstlers José María Navascués in seinem Essay ¿Signos? (Lectura parcial de José María Navascués) 32 . In der Präambel des Essays parallelisiert Antonio Gamoneda zwei wesensverschiedene Gegenstände: Ein funktionslos gewordenes Waschbrett , ein Artefakt, das nun ein „wie ein von einer blinden und trägen Natur geschaffener“, „unverständlicher“ Körper erscheint, und einen toten Körper , eine Leiche, die „wie ein von einer blind dahinrasenden Geschichte zerstörter Organismus“ erscheint. Zugleich bedauert der Autor dem Leser gegenüber die auch für ihn selbst geltende Rätselhaftigkeit dieser Angaben, beteuert aber deren Notwendigkeit, denn sie enthielten Hinweise, die sich in der kommenden Untersuchung wiederfänden. Diese sei „wohl geschlossen und analytisch oder offen und geheimnisvoll oder beides zugleich.“ 33 Wir treffen in der Präambel auf eine Stellungnahme des Autors zu seinem eigenen Essay: „Das ist eine unangemessene Vorrede“ 34 , und wir treffen auf eine doppelte Struktur: zum einen auf die vor der Geschichte funktionslos gewordenen Körper: Waschbrett und Leiche, selbstredend identifizierbar, geschlossen und analytisch und doch zugleich voller Rätsel, offen und geheimnisvoll oder 31 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 203: „No es privativa de él [Navascués]: todo arte va hacia «una realidad» bajo condiciones de irrealidad. Este es, sustantivamente, el único mecanismo estético.“ 32 Ebd., S. 201 - 213. 33 Ebd., S. 202 heißt es: „Este es un preámbulo inconveniente, pero yo lo necesito. Contiene datos que van a estar —aunque no sé cómo— en la indagación que sigue. Esta será cerrada y analítica, o abierta en incógnitas, o ambas cosas a la vez.“ Im: Diccionario de la lengua española, vigésima primera edición, Real Academia Española, Madrid, 1992, S. 814: „incógnita (Del lat. Incognita , t. f. de -tus , incognito) f. Mat. Cantidad desconocida que es preciso determinar en una ecuación o en un problema para resolverlos / / 2. Fig. Causa o razón oculta de algo.“ Das aber, was oculta ist, ist verborgen, harrt der Aufklärung, ist unentdeckt und dennoch irgendwie geahnt, muss die Spur einer Ahnung besitzen, damit es als ein Etwas gemutmaßt werden kann. Die Motivation für den Terminus incógnita , ist eine cognición von Anwesend-Abwesendem. 34 Ebd. <?page no="272"?> 272 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit beides zugleich . Denn sie haben ihre ursprüngliche Natur, ihr originäres Sein hinter sich gelassen und sind nun „irreal in Hinsicht auf [ihre] Natur, die nicht bedeutsam ist , die nicht die Funktion hat zu bedeuten, sondern zu sein“ 35 , somit frei für einen Zugewinn an Bedeutung, „für den es kein anderes Drama, keine andere Bedeutung mehr gibt, als jene, die ich ihm zuspreche“ 36 . Dies gilt sowohl für den ursprünglichen Gebrauchsgegenstand Waschbrett wie für jeden Kunstgegenstand , der vermittelst der „Konstruktion“ entstehe. Das Waschbrett besitze wie die Werke Navascués eine natürliche Rhythmik, die ihm „mit der Hand beigebracht wurde“ - ein Artefakt also. Daneben ein „schmutziger Tod“, auch ein Werk Navascués, also auch ein Artefakt. Beide Gegenstände sind ihrer selbstverständlichen Umgebung entfremdet, aus ihrem „Zusammenhang gerissen“, in ihrer Funktion entschieden verändert. Beiden Gegenständen kann durch eine ästhetische Handlung Irrealität verliehen werden, und sie können dadurch in künstlerische Zeichen verwandelt werden. Die Verwandlung zum künstlerischen Zeichen ist ein dramatischer Eingriff in ihre Natur - und dennoch bleiben sie immer auch noch, was sie waren: einfache Zeichen zur selbstverständlichen Kommunikation. Werden diese Gegenstände , Artefakte, nun aus ihrer Irrealität mit der „Leidenschaft und Sensibilität eines Realisten“ und „im stillschweigenden Einverständnis mit der Natur“ in ein Werk überführt, so verwandelten sie sich durch die Hand des Künstlers zu einem Artefakt zweiter oder dritter Potenz 37 und können einen Zugewinn an Bedeutung, an Möglichkeiten und möglichen Wirklichkeiten selbsteigener Provenienz im Kunstwerk entstehen lassen. 35 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 204. 36 Ebd. 37 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 3: „Dinge, Zeichen und Kunstwerke sind darum insgesamt im Sinne eines Überschichtungsverhältnisses von einander zu unterscheiden. Zeichen verweisen auf (nichtzeichenhafte) Dinge oder Sachverhalte, Kunstwerke als solche dagegen nicht mehr, es sei denn akzidentiellerweise. Pointiert ausgedrückt: Zeichen sind Dinge zweiter Ordnung, Kunstgebilde dagegen Zeichen zweiter Ordnung und mithin Dinge dritter Ordnung und Potenz.“ <?page no="273"?> Von der Natur des Lesens, der Natur des Zeichens und des Symbols 273 Das gamonedaeische Zeichen also ist offen für das Anwesend-Abwesende, für das erahnte Unbekannte, das Gemutmaßte, offen für die thymotische Bewegung der Seele hin zum Geheimnisvollen 38 , dem no saber sabiendo 39 des Juan de Yepes. In der vom Autor selbst benannten Formel zur Bestimmung seines Essays: geschlossen und analytisch oder offen und geheimnisvoll oder beides zugleich zeigt sich die paradoxale Struktur seines eigenen Zeichenbegriffs erklärt. Das signum Gamonedae ist bestimmbar, identifizierbar, also lesbar und doch auch rätselhaft zugleich. Neben der Auseinandersetzung mit dem Werk des plastischen Künstlers Navascués - eines Landsmannes - im Lichte der Debatte um das Zeichen im engeren Sinne (Der Aufsatz befindet sich in Abschnitt Nr. VI des Buches: Lo visible y lo invisible ), ist zuerst das Erscheinen zentraler Ausdrücke aus dem Werk Antonio Gamonedas auffällig. Zu diesen gehören hier insbesondere: esperanza, límite, luz, vacío, vértigo, muerte etc. Es ist also naheliegend, in diesem Aufsatz tatsächlich eine Auseinandersetzung zum gamonedaeischen Zeichenbegriff selbst zu vermuten. Daneben gilt es festzuhalten, dass Antonio Gamoneda das sechste Buch des Libro del frío, Frío de límites mit einem Brochzitat beginnen lässt: „ símbolo que es realidad, realidad que se torna símbolo ante el rostro de la muerte. ” Dieses Zitat rückt die Begriffe Zeichen , Symbol , Tod und Realität im Sinne des gamonedaeischen Denkens zusammen. Dies wird noch dazu durch die dem Essay später hinzugefügte Schlussbemerkung hinsichtlich der Verwandtschaft von 38 Ein weiterer Hinweis für diese thymotische Bewegung der Seele hin zum Geheimnisvollen beschreibt Miguel Casado, wenn er sagt: „Decía Octavio Paz que, en casos singulares de la literatura, «la prosa se niega a sí misma; las frases no se suceden obedeciendo el orden conceptual o al del relato, sino presididas por las leyes de la imagen y el ritmo». Y que entonces «las razones se transforman en correspondencias, los silogismos en analogías y la marcha intelectual en fluir de imágenes». Este proceso, esta tendencia es la que parece alimentar el tránsito entre «Lapidario» y «Lápidas» y así el trabajo de supresión y concentración que se lleva a cabo parece obedecer siempre al mismo propósito: que la imagen pese por sí misma, no suponga nunca la ilustración de un razonamiento. O, desde otro lado, que la realidad indescifrada sea quien funda la concienca, no un producto derviado de ella.“ In: Casado, Miguel, El curso de la edad , Abada Editores, Madrid, 2009, S. 79f. Siehe auch auf Seite 221, Fußnote Nr. 36. Dort weißt Antonio Gamoneda explizit auf die, wie er sagt: „doble potencia“ des Dichterwortes hin, denn es sei: „un componente básico del lenguaje creador .“ 39 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 26 f.: „«No saber sabiendo». Eso es todo, y se dice, como puede verse, en tres sencillas y poderosas palabras que muchos, quizá demasiados, no alcanzan a entender o no quieren entender. Y yo entiendo que no entiendan o no quieran entender, porque el lenguaje/ pensamiento poético comporta una realidad «otra», una realidad que, aun teniendo una raíz existencial, no es plenamente asimilable, ni en su naturaleza ni en su aspecto, a la realidad objetiva.“ <?page no="274"?> 274 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Zeichen und Symbol - wenn auch nicht ihre Identität - im Denken Gamonedas bestätigt 40 . Die Begriffe Symbol und Zeichen werden also im Kontext von Geschichte (des Selbstmord von Navascués - wie ein von einer blind dahinrasenden Geschichte zerstörter Organismus , der Funktionsverlust des Waschbretts - ein Organismus von einer blinden und trägen Natur geschaffen ) und Natur ( irreal in Hinsicht auf seine Natur, ‚die nicht bedeutsam‘ ist ; der Tod: der ‚natürliche‘ Vorfall per se ), von Realität und Irrealität ( todo arte va hacia ‚una realidad‘ bajo condiciones de irrealidad ) und Isolierung oder Entfremdung ( aislar el objeto dentro del contexto del cuadro / Descontextualizar un objeto (o una expresión verbal) supone una alteración grave de su función. Como conducta estética confiere irrealidad ) verhandelt. Zeichen und Symbol Im existenziellen Zusammenhang, bedeutet die Metamorphose eines Gegenstandes zum Zeichen den Verlust seines Seins, wie dem Verlust der ursprünglichen Funktion des Waschbrettes oder dem Tod von Navascués, ein lebloser seinem Sinn entfremdeter Körper. Innerhalb des Binoms Natur/ Geschichte bedeutet die Metamorphose eines Gegenstandes - durch Isolierung oder Entfremdung - zum Zeichen, seine Erhebung zur Lesbarkeit, den Eintritt in die Sphäre des Geistes. Der Gegenstand wird vom Menschen in die Bedeutung gezwungen - in einen Sinn spendenden Körper verwandelt. Innerhalb des Semiotischen selbst, verfestigt sich der einmal isolierte, nun zum Zeichen gewendete Gegenstand. Er kann als Symbol der realidad subjetiva , der selbsteigenen Realität offenbar werden 41 , indem er einen bestimmten Platz im Ganzen des Werkes behauptet. Als Symbol zeigt sich das Zeichen als ein von seinem ursprünglichen Kontext entfremdeter, für andere Bedeutungen freier sinnlicher Gegenstand nun als Träger innerhalb eines neu geschaffenen Zusammenhanges: der selbsteigenen Rea- 40 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 213: „P/ D. Pasados los años, este texto me perturba, pero Navascués sigue interesándome. Lo traigo aquí como vino al mundo, si descontamos la añadidura, en su título, de la palabra “signos”, que he puesto entre interroganciones. Al comenzar las páginas de este libro habrá podido leerse que “todas las formas del lenguaje artístico son de naturaleza simbólica” y que “la inclinación a entender que “signo” y “símbolo” son sinónimos me parece artificiosa”. Alguna forma de incongruencia parece darse entre aquellas páginas y éstas. La noción de símbolo puede haberse diferenciado para mí en este tiempo (entre quince y veinte años), mientras que, en los días de la redacción del texto, estaba en situación de promiscuidad con el signo. ¿Se trata pues, de una incongruencia de fondo o sólo de una mutación en el lenguaje? Dejo al critativo lector el trabajo de resolver —de resolverme— estas incógnitas.“ 41 Ebd., S. 11: „El signo es el resultado de un convenio; el símbolo (al menos el símbolo de la especie que a mí me interesa) es él mismo una realidad .“ <?page no="275"?> Textbeispiele und Analyse 275 lität des Autors Antonio Gamoneda. Was das Zeichen an Ubiquität gewonnen hatte, verliert es wieder als Symbol an einen höheren Grad von Bestimmtheit im neuen Zusammenhang. Das Symbol nimmt einen festen Platz im Sinnzusammenhang eines Ganzen ein. Das Symbol bekundet hier den Bedeutungszusammenhang individuierten Daseins aus der Quelle des Erlebnisses. Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar. […] Im Leben ist mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben. Gefühl meines Daseins, ein Verhalten und eine Stellungnahme zu Menschen und Dingen um mich her; […] Dieser Gehalt an Leben in meinem eigenen Selbst, meinen Zuständen, den Menschen und Dingen um mich her bildet den Lebenswert derselben, im Unterschied von den Werten, die ihnen durch ihre Wirkung zukommen. Ihr Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit, wie sie für einen erkennenden Geist da ist, sondern die in den Lebensbezügen auftretende Beschaffenheit meiner selbst und der Dinge. Hieraus erklärt sich, was uns ein lyrisches Gedicht oder eine Erzählung sehen lässt - und was für sie nicht existiert. Die Lebenswerte stehen aber in Beziehung zueinander, die in dem Zusammenhang des Lebens selbst gegründet sind, und diese geben Personen, Dingen, Situationen, Begebenheiten ihre Bedeutung. So wendet sich der Dichter dem Bedeutsamen zu. Und wenn nun die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankengehalt diesen Zusammenhang von Leben, Wert und Bedeutsamkeit in das Typische erheben, wenn das Geschehnis so zum Träger und Symbol eines Allgemeinen wird und Ziele und Güter zu Idealen, dann kommt auch in diesem allgemeinen Gehalt der Dichtung nicht ein Erkennen der Wirklichkeit, sondern die lebendige Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens zum Ausdruck. 42 Textbeispiele und Analyse Was Antonio Gamoneda dem plastischen Künstler Navascués an einer Stelle nachsagt, nämlich: Er hatte das Zeichen schon gewonnen, aber er hatte es mit der Leidenschaft und Sensibilität eines Realisten getan: das Zeichen war nicht von einer sinnlichen Modulation zu unterscheiden, eins im stillschweigenden Einverständnis mit der Natur. 43 , dies gilt auch für ihn selbst: „La realidad es 42 Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung , S. 159 f. 43 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 203: “Había asumido el signo, pero lo había hecho a través de una pasión y una sensibilidad realistas: el signo era indiscernible de una modulación carnal, de una aquiescenia con la naturaleza.” <?page no="276"?> 276 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit simbólica y yo soy un poeta realista porque los símbolos están verdadera y físicamente en mi vida.“ 44 Die schlichte Tatsache der Entfremdung des Gegenstandes von seinem ursprünglichen Kontext, sein stiller Tod, und seine im stillschweigenden Einvernehmen mit der Natur gewonnene Lesbarkeit im Lichte einer vom Dichter geschaffenen selbsteigenen Realität sollen an einigen Beispielen aus dem Œuvre Antonio Gamoneadas erläutert werden (alle hier zitierten Stellen, aus Esta luz 45 ). Oigo al ciego ruiseñor - Das Licht, ein Evidenzsymbol Oigo al ciego ruiseñor … 46 Die lichtblinde Nachtigall erschafft mit ihrem Gesang ein Leuchten im dunklen Geäst. Es bezeugt die Hoffnung desjenigen, der ihn vernimmt. Im stillschweigenden Einverständnis mit seiner Natur legt das Leuchten Zeugnis ab von der sich nach Licht sehnenden Art des lebendigen Seins des Menschen. Im Einwortsatz Silba bricht sich die Lautgebung der Strophe. Werden wir in der ersten Zeile der letzten Strophe des Gedichtes Zeuge der betonten Abfolge der Diphthonge oi - ie - ui und ie , so manifestiert sich mittig der Strophe der reinste Laut des Licht schaffenden Gesanges der Nachtigall im Wort Silba ( S, fricativa lingual-dental, i , alta interior, höchster reiner Vokal, l , lateral sonora, b , labial fricativa sonora, a , mittlerer Vokal zwischen hell e, i und dunkel o, u; alle líquidas , keiner ganz stumm). Im Diphthong beschreibt der Sprecher lautlich sein Vernehmen des sich in Silba am reinsten manifestierenden Lichtgesangs der Nachtigall. Der zweite Teil der Strophe ab Está gibt den zum Dunkel hin tendierenden Vokalen e, a, o, u Vorrang und stellt damit jenen Ort lautlich vor, aus dessen Mitte die Nachtigall ihr Lied hervorbringt: el ramaje oscuro . 47 44 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 27. 45 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , Círculo de Lectores, S. A., Galaxia Gutenberg, S. A., Barcelona, 2004. 46 Ebd., S. 47. 47 Die Termini tecnici zur metrischen Analyse entnehme ich: Quilis, Antonio, Métrica española , Editorial Ariel, S. A., Barcelona, 1975. <?page no="277"?> Textbeispiele und Analyse 277 Später wird Antonio Gamoneda schreiben: „La luz hierve debajo de mis párpados …“ 48 . In der Abfolge: a - u - ie - e des Sirremas La luz hierve wird ein Echo des Gesangs der Licht schaffenden Nachtigall hörbar, zudem sie in der darauffolgen Zeile noch selbst ihren Auftritt erhält. In der Entfremdung von seinem natürlichen Zusammenhang, seiner Realisierung wird das Licht unter den Augenlidern des Menschen zum Zeichen - La luz hierve . Es materialisiert zum Symbol der Evidenz der bloßen Existenz im Gegenüber von Bedeutung und Sinn, wenn es dort weiter heißt: „La luz es médula de sombra: van a morir los / insectos en las bujías del amanecer. Así / arden en mí los significados.“ 49 Das Evidenzsymbol der Existenz: Licht , das selbst im Kern des Dunkels noch wohnt - la luz es médula de sombra -, überbietet sein natürliches Erscheinen und verstetigt die selbsteigene Realität im Werk des Autors. Caigo sobre unas manos - las manos, Symbol der bergenden Existenz Caigo sobre unas manos … 50 Im Enkomion für die Hände seiner Mutter legt deren Natur Zeugnis ab von einer urmütterlichen, jede einzelne Existenz weit übersteigende Geborgenheit und Schutz. Die natürliche Tatsache der vorgängigen Existenz dieser Hände, der pflegenden und nährenden Handreichungen der Mutter lassen den Sohn vor ihnen auf die Knie sinken, treiben ihre Bedeutung weit über das Tatsächliche hinaus, entfremden diese ihrem ursprünglichen Zusammenhang und realisieren sie zum Zeichen, welches das gesamte gamonedaeische Werk durchzieht 51 . Der Mutter Hände fermentieren in der selbsteigenen Realität des Werkes zum Symbol der geborgenen menschlichen Existenz unter den Bedingungen ihrer Beschädigung. Zwischen dem unendlich Großen und Unbekannten, dem Indefinitpronomen unas manos und dem endlichen Kleinen und Eigenen, dem Possessivpronomen tus (eigentlich atonal, hier aber von rhetorischer und also rhythmischer Betonung, und dies indiziert das von der Mutter Hände gestiftete Verhältnis von Hand und Nacht), zwischen dem übergroßen Dunkel noche … Y grande und der Liebe amaba und der bergenden häuslichen Geste pasaban sobre … und dem selbst als jugendlicher Erwachsener Klein-sein-Dürfen y soy pequeño vermitteln und bergen der Mutter Hände die verletzliche Kreatur mit der Erde, Mamá, no vuelvas más a ocultarme la tierra 52 . Ihre schützenden, pflegenden und tröstenden Hände sind da - selbst im Vergessen der eigenen biographischen Zeit. Sie 48 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 413. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 104. 51 Nur zwei weitere Beispiele von vielen der manos , Ebd. S. 125 u. 195. 52 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 125. <?page no="278"?> 278 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit verwandeln die Dunkelheit in Liebe la noche era dulce/ como una leche silenciosa , die Leere vacío el mundo in die Gegenwart von dem, worauf der Mensch vertrauen darf viene otra vez , um Atem schöpfen zu können respirar sobre tus manos , um zu sich selbst zu kommen, um seine gesellschaftliche Rolle dann auch wieder aufnehmen zu können. Mamá: ahora eres silenciosa como la ropa … - Symbol der Verschweigung Mamá: ahora eres silenciosa como la ropa/ del que no está con nosotros. 53 In stillschweigendem Einverständnis mit ihrer Natur legen die Kleider „von dem, der nicht bei uns ist“, Zeugnis ab vom Fehlen desjenigen Menschen, der sie einst trug, und sie sind Zeichen 54 einer Abwesenheit und mithin Symbol für alle jene Männer, deren Fehlen eine grausame Lücke in ihre Familien riss. Die Selbsteigentlichkeit der Realität des gamonedaeischen Dichtungskosmos wird hier insbesondere durch die Amalgamierung der Wortlosigkeit der Mutter mit der schweigenden Zeugenschaft der verblichenen Kleider des Abwesenden hervor getrieben (lautliche Manifestation: silenc-io-sa / ro-pa ). Denn beides - Abwesenheit und Schweigen - ist ein Weniger, das die existenzielle Lücke, das Fehlen im Mehr an Stille offenbart. Die von ihrem Träger zeugenden hinterlassenen Kleider im neuen Zusammenhang mit dem Schweigen der Mutter werden hypertroph zum Symbol des Verschweigens: Mamá, no vuelvas más a ocultarme la tierra , sowohl der intimen familiären wie der öffentlichen Geschichte des Menschen allgemein: … en cada rostro se ve el mundo … mi rostro en cada rostro humano . Sucedían cuerdas de prisoneros - Die Orange, Symbol der Milde und des Verschwindens Sucedían cuerdas de prisoneros … 55 Mit der frischen und den lichten Farben der Sonne ähnlichen Frucht naranja 56 aus dem Korb und aus der Hand einer erschöpften und schönen Frau 57 legt die Orange Zeugnis von Menschlichkeit inmitten grausamen Bürgerkriegsgeschehens ab. Sie wird in ihrer Natur als schlichte Gabe zum Zeichen einer brennenden - quemaba - Not und entdeckt sich so- 53 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) S. 125. 54 Aristoteles, Rhetorik, Wilhelm Fink Verlag, München, 1980, S. 18, 1357 b 18. Die Kleider selbst sind hier Indizien, sind ἐνθύμημα, also Anzeichen im logischen Sinne. 55 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 257. 56 Ebd. 57 Ebd. <?page no="279"?> Textbeispiele und Analyse 279 gleich als Symbol einer Mildtätigkeit, welche die Welt zum Leuchten bringt. Später wird Antonio Gamoneda schreiben: La naranja en tus manos, su resplandor, ¿es para siempre? Cerca del agua y del cuchillo, ¿una naranja en la oquedad éterna? Fruto de desaparición. Arde su exceso de realidad entre tus manos. 58 Im stillschweigenden Einverständnis mit ihrer nährenden Natur 59 ( arder und φῶς , ein Verb und ein Nomen, die für jene physikalisch-chemische Kraft, die lichtspendend das klassisch-philosophische Bild des sich zu erkennen gebenden Seins abbilden) scheint in der Orange jenes Humanum der selbsteigenen Realität des gamonedaeischen Dichtungskosmos gegenüber einer Unmenschlichkeit auf, aus deren Mitte sie doch auch stammt und von der sie selbst noch als dessen ganz Anderes Zeugnis ablegt. Wie viele letzte Orangen wurden der Frau mit heißem Verlangen aus der Hand gerissen - hinterließen eine brennende Leere in ihrer noch hohlen Hand? 60 Wie viele Körbe mit letzten Orangen besaß die Frau für aber doch noch immer mehr Gefangene? Und wie hoch kann demnach die Zahl der Gefangenen mit ihrem heißen Verlangen gewesen sein? Vervielfachung - cada vez -, und Beharrung - siempre había más -, verschmelzen hypertroph zur übergewaltigen Natur der dargestellten Gefangenenszene in der beschämten Stadt, der ciudad avergonzada und zeigen damit die verdrängte Seite des Seins. Ihr Zentrum ist die Orange in der hohlen Hand, die dann im Libro del frío (siehe oben: La naranja en tus manos … ), ihre ontologische Dignität erhält, indem sich ihr Brennen - quemar - in ein Leuchten - resplandor - in der ewigen Höhlung des Seins, der oquedad eterna , verwandelt. Die Orange ist die Frucht des Verschwindens - Fruto de desaparición -, das andere Gesicht einer Hypertrophie der repressiven Gewalt. doch übertrifft 58 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 389. 59 „arder vt. - (ver)brennen“ in: Slaby, Rudolf J., Grossmann, Rudolf (Hg.), Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache , I. Spanisch-Deutsch , Brandstetter Verlag, Wiesbaden, 1975, S. 104. Siehe auch „φῶς, φωτóς, το = φάος. ὑπό φωτí ‚unter (oder bei) dem Scheine eines Lichtes‘“, in: Prof. Dr. Menge, Hermann (Hg.), Langenscheidts Grosswörterbuch Griechisch Deutsch, Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung, Berlin und München, 1991, S. 740, auch „φύω“ als Wurzel von „φύσις” = erzeugen, wachsen lassen, gedeihen lassen, hervorbringen (ebd.). 60 Hier setze ich die Ausdrücke una naranja en la oquedad eterna … und la última naranja le quemaba las manos … in Beziehung. Beide befinden sich in unterschiedlichen Büchern und Gedichten (S. 257, S. 389 in Esta luz ). Es geht dabei um die gedichtübergreifende Symbolik des Ausdrucks. <?page no="280"?> 280 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit sie im Übermaß ihres humanen Leuchtens aus der Hand des Menschen diese Gewalt bei Weitem: Arde su exceso de realidad entre tus manos. Eran días atravesados por los símbolos - Symbol des beschädigten Lebens Eran días atravesados por los símbolos. Tuve un cordero negro. 61 Konzept und Gegenstand des Symbols werden im Text Eran días atravesados por los símbolos mit einem natürlichen Einverständnis eines derartigen Denkens schlicht genannt. Die Stille, die das Kind erlebend zum Schweigen einer Abwesenheit befördert, lässt seine Ahnung zur Angst wachsen, welche sich darin bestätigt, dass selbst von ihm geliebte Personen, Garanten seines kleinen Lebens, sich zum Sachwalter des Todes aufschwingen. Im schweigenden Einverständnis mit der Natur des Opfers legt dieses Zeugnis ab von der Erfüllung des so verhängnisvoll Vorbestimmten, auch in der Verwaltung durch geliebte Menschen: y yo aprendí que quienes me amaban también podían decidir sobre la administración de la muerte 62 . Die Selbsteigenheit der Realität des gamonedaeischen Dichtungskosmos zeigt sich hier insbesondere in der singulären Freundschaft zweier junger Wesen: dem Jungen und dem jungen Lamm, in deren Gemeinschaft die Unerbittlichkeit des zu Erwartenden Schicksals in der gegenwärtigen schwarzen Zukunft aufscheint. Diese ist vorgebildet - yo sabía que el miedo iba a entrar en mí - in den verflochtenen labyrinthischen Feldwegen, die im Nirgendwo endeten und wo der Junge sich mit seinem Lamm im Spiel verlor, bis die Stille ihm seine Verlorenheit in der Angst entdeckte. Einen Ausweg jedoch kannte er nicht - pero yo iba a las praderas . Dann musste er auch noch lernen, dass die Verwaltung des Todes ebenfalls in der Nähe seines Herzens - que quienes me amaban también - wohnte. Was er aber bis jetzt nicht zu nennen weiß, ist der Name seines dunklen tierischen Freundes, noch erinnert er sich seines Blickes. In dem, was im Vergessen verborgen, haust das Ganze, haust, was dem Kinde noch nicht, dem Erwachsenen nicht mehr zugänglich ist, haust die verborgene Seite des Seins. Sie ist der Grund, weswegen sich den Vorstadtkindern das Labyrinth der alltäglichen Not zusammen mit den Notwendigkeiten des Lebens, jenes Wesen der Furcht 63 gebiert - una gusanera -, als deren Behausung sich der Zentral- 61 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 258. 62 Ebd., S. 258. 63 Heidegger, Martin, Sein und Zeit , Max Niemeyer Verlag Tübingen, 2006, S. 141: „Das Fürchten selbst ist das sich-angehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen. […] Das Fürchten als schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Weltseins, die »Furchtsamkeit«, hat die Welt schon darauf hin erschlossen, daß aus ihr so <?page no="281"?> Textbeispiele und Analyse 281 leib herausstellt: una gusanera dentro de mi vientre . Im Zentrum der Furcht kann das Humanum nicht gewinnen, kann Blick und Name des Spielkameraden nicht erinnert werden, muss sich das Gute, Gesunde und Ganze im Zeichen labyrinthisch verbergen. Im Sirrema: su mirada y su nombre verbirgt sich die Gesamtheit der Vokale des Spanischen. Sie stellen ein Sinnbild der verlorenen menschlichen Ganzheit und des beschädigten Lebens zugleich dar 64 , ein Symbol der selbsteigenen Realität der Dichtung Antonio Gamonedas. Veo el caballo agonizante - Symbol autistischer Menschennatur Veo el caballo agonizante … 65 In diesem Text aus Lápidas beschreibt Antonio Gamoneda den Alltag in einer Vorstadt von León: Hühner auf einem Hof, ein dunkler Brunnen und ein sterbendes Pferd. Alle Teilnehmer befinden sich im stummen Einverständnis mit der Natur der Situation. Die um das Pferd umher scharrenden Hühner nehmen keine Kenntnis von seinem nahen Tod. Der Beobachter jedoch nimmt Kenntnis von der brutalen Situation, von der Empathielosigkeit der domestizierten Natur und ihrer Bewohner, einschließlich des Menschen Veo la espalda de la indiferencia . Die aufscheinende Szenerie verdichtet sich in ihrer lyrischen Tagtraumähnlichkeit zum Symbol einer autistischen Natur, in der auch der Mensch gefangen zu sein scheint 66 . Die Selbsteigenheit dieser Realität wird von der immerwährenden Verdichtung des Irrealen aus der Erscheinung der Natur bis zu ihrer Realität in letzter Essenzialisierung und Aufhebung im Duft des Geistes - el olor incorporado en mi espíritu - hervorgetrieben. etwas wie Furchtbares nahen kann. […] Das Fürchten erschließt dieses Seiende in seiner Gefährdung, in der Überlassenheit an es selbst. […] Furcht ist ein Modus der Befindlichkeit.“ 64 Adorno, Theodor, W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem Beschädigten Leben , Suhrkamp Verlag, Berlin u. Frankfurt am Main, 2001, S. 222 f.: „Was an Schönem unterm Grauen noch gedeiht, ist Hohn und häßlich bei sich selber. Dennoch steht seine ephemere Gestalt für die Vermeidbarkeit des Grauens ein. Etwas von dieser Paradoxie liegt auf dem Grunde aller Kunst; heute kommt sie daran zutage, daß Kunst überhaupt noch existiert. Die festgehaltene Idee des Schönen verlangt, Glück zu verwerfen zugleich und zu behaupten.“ 65 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 268. 66 Schon in Descripción de la mentira ( Esta luz , S. 219) finden wir einen Text, der diesen Seinszustand zu beschreiben scheint: „La naturaleza de los cuerpos es fingir la existencia y este conocimiento es el fin de un espíritu rodeado por gallinas ávidas.“ <?page no="282"?> 282 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Esta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte - Symbol: Lebenskörper Haus Esta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte. 67 Wenn dieses Haus der Feldarbeit und dem Tod geweiht war, so unternimmt das Bild im stillschweigenden Einverständnis mit einer Realität, die historische Wirklichkeit besaß 68 , in seiner Vereinzelung eine Irrealisierung vor, welche zuerst die Ubiquität eines Zeichens, dann aber sogleich seinen Ort als Symbol in der selbsteigenen Realität des Werkes, hier dem Libro del frío , gewinnt. Dieses Haus der Feldarbeit und dem Tod geweiht , legt Zeugnis ab von der Nachbarschaft zwischen der Leben spendenden Arbeit und dem zusammen mit dem Leben nahenden Tod. Es ist Symbol für den vergänglichen Charakter des Lebens und der pflegenden Bewahrung seiner in der Behausung für die Arbeit auf dem Feld sowie für das natürliche Ende der Kreatur, der Tod 69 , der ebenfalls der Pflege bedarf. Die Engführung: Kultivierung des Lebens, Kultivierung des Todes mit dem Verweis auf das gemeinsame Haus - esta casa - treibt den symbolischen Charakter des Bildes als Element der selbsteigenen Realität im Dichtungskosmos hervor. Benennt die erste Zeile des Gedichts nur esta casa , so beschreibt die zweite in einfachen Worten sein Interieur. Die Flora ist dem Ort angemessen. Brennnesseln sprießen und scheinen leichtes Spiel zu haben, vom Ort Besitz ergreifen zu können. Sogar die Blumen scheinen eine besondere Schwere zu besitzen und im Verbum pesar mit der existenziellen Last eines aus Arbeit und Mühsal bestehenden Lebens wie in einem pésame dessen drohendem Ende entgegenzuwachsen scheinen gar darin zu wurzeln. Die hölzerne Haut des Hauses, sein Korpus, leidet (eine Prosopopeia 70 ) - atormentada - unter den Unbilden der Witterung - la lluvia . Derart verlebendigt, wird die Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie ins Holz entrückt 71 , 67 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 311. 68 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 27: „Cuando digo: «esta casa estuvo dedicada a la labranza y la muerte», hay aparición de símbolos, sí, pero sucede, además, que esta casa estuvo realmente dedicada a la labranza y la muerte.“ 69 Ebd., S. 210: „Navascués se muestra conforme con el siguiente aserto del entrevistador: «… hay más que oquedad en esas esculturas. Por todas ronda la sombra de la muerte». La muerte: el acontecimiento natural por excelencia.“ 70 Lausberg, Heinrich, Elemente der literarischen Rhetorik , Max Hueber Verlag, Ismaning, 1990, S. 140. Hier keine redende oder handelnde Person als Variante der Allegorie, sondern eine erleidende. 71 Siehe auch: Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 391: OYES la destrucción de la madera (los termes ciegos en sus venas), ves las agujas y los armarios llenos de sombra. <?page no="283"?> Textbeispiele und Analyse 283 womit die etymologische Bedeutung von madera „materia, ae, eigtl. ‚Mutterstoff‘ zu mater“ 72 aufgerufen wird. Aus lebendiger Materie ist das Haus als gewährendes Gehäuse des Lebens und des Todes, der Ort des Menschen, an dem die Liebe - Pesa el amor en la madera física - und das Sterben - Oyes la destrucción de la madera / Es la siesta mortal - statthaben kann. Es ermöglicht das Sein des Menschen. Das Haus bezeugt in seiner Hinwendung zum Leben auch und zugleich dessen ganz andere Seite: den Tod. Das Haus, dedicada a la labranza y la muerte , ist ein Symbol für die Leben und Tod versöhnende Seite des Seins, eingerichtet durch das lebendige Tun des Menschen. Dieses Haus dedicada a la labranza y la muerte ist die Spur zum Menschen. Im Wort dedicar wird sie explizit. Der Mensch, mit dem Bau des Hauses zuerst, dann jedoch mit dem Anheimgeben jenes an die Arbeit und an den Tod, verstattet dem Sein einen Ort, ein Im-Dasein-Einrichten. Damit behauptet er seinen Platz in der Welt und scheint ihn behaupten zu können. Denn der Mensch kann sterben können . Doch die Gegenwart zu ergreifen, sich einrichten zu können, so bei sich und sich und der Welt sein zu können, kann er auch. Der Mensch hat sich mit dem dedicar des Hauses einen Ort in der Welt verstattet, eine Wohnstatt eingerichtet. Wenn Martin Heidegger in seinem Werk Bauen und Wohnen schreibt: „Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. […] Doch worin besteht das Wesen des Wohnens? […] Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden. Wohnen, zum Frieden gebracht sein heißt: eingefriedet bleiben in das Frye, d. h. in das Freie, das jegliches in sein Wesen schont. Der Es la siesta mortal. ¡Cuánta niñez bajo los párpados! Como al tábano triste en el verano, apartas de tu rostro la sarga negra de tu madre. Vas a despertar en el olvido. Oder S. 402: PESA el amor en la madera física, hierve el pasado en tu corazón. Aún desciende la misericordia (rosa mortal) a la humedad sagrada. 72 Pertsch, Dr. Erich (Hg. u. bearb.), Langenscheidts Handwörterbuch Lateinisch Deutsch. Langenscheidt, Berlin, München, Wien, Zürich, New York, 1994, S. 384. <?page no="284"?> 284 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen .“ 73 So beschreibt es die Heimstatt des Menschen, jenes Haus also - dedicada a la labranza y la muerte -, in dem der Mensch sich eine Wohnstatt auf der Erde eingerichtet hat, sein Leben und seinen Tod bewahrt und schont . Phonisch wird das lebendige Sein des Menschen in der ersten Zeile des Gedichts durch den Vokal a zum Ausdruck gebracht. Nach Covarrubias, der erste Buchstaben, den der Mensch nach der Geburt in den Mund nimmt 74 : „Est a c a s a dedic a d a a l a l a br a nz a y l a muerte“. Dieses lange A-Plateau wirkt wie eine Repercusa 75 und bezeugt das seinen Platz auf der Welt behauptende Leben, bezeugt sein Beharren im Sein. Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins Der Autor Antonio Gamoneda überführt Worte aus der Quelle des Erlebnisses 76 in die Symbolwelt seines Werkes: das Licht (la luz), die Hände (las manos), die Kleider (la ropa), die Orange (la naranja), das schwarze Lamm (cordero negro), das sterbende Pferd (caballo agonizante) und das Haus, dem Leben und dem Tod geweiht ( Esta casa … ). Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins auf der Basis der von ihm gelebten Wirklichkeit, von dem das zum Symbol gewordene Zeichen Zeugnis ablegt, ist keine Fiktion, sondern stellt die Seinsbezogenheit eines gelebten Lebens dar. Die selbsteigene Realität, la realidad subjetiva , wie Antonio Gamoneda sie nennt, ist gelebt wie geschöpft und bindet das Sein allgemein an seine Dichtung 77 , übersteigt und bestätigt zugleich die Immanenz des Seins mit den 73 Heidegger, Martin, Bauen und Wohnen. Building and Dwelling , Waxmann Verlag GmbH, Münster, 2000, S. 35. 74 Covarrubias de, Sebastián, Tesoro de la lengua castellana o española , Martín de Riquer de la Real Academia Española (Hg.), Editorial Alta Fulla, Barcelona, 1998, fol. 1 r., S. 23: „Primera letra en orden cerca de todas las naciones que usaron caracteres, […] Y assí es la primera que el hombre pronuncia en naciendo, salvo que el varón como tiene más fuerça dice A, y la hembra E: en que parece lamentándose de sus primeros padres Adán y Eva.“ 75 Gurlitt, Wilibald u. Eggebrecht, Hans Heinrich (Hg.), Riemann Musik Lexikon, Sachteil, B. Schott’s Söhne, Mainz, 1967, S. 794: „Repercusa (lat. Von vox r., wiederholt erklingender Ton) in der Lehre von den Kirchentönen die Bezeichnung eines oberhalb der Finalis (-1) gelegenen und mit dieser durch die Repercussio (- 2) verbundenen Gerüsttons, der als bevorzugter Ton neben der Finalis in Erscheinung tritt; er ist besonders in den modellartigen Singweisen der Psalmodie als Rezitationston (Tenor) greifbar.“ 76 Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung , S. 363 f.: „Jedem Gedicht - und ebenso jedem musikalischen Instrumentalwerk - liegt ein durchlebter seelischer Vorgang zugrund, der auf die Innerlichkeit des Individuums im Gefühl zurückbezogen ist.“ 77 Siehe Fußnote Nr. 23, Seite 267. <?page no="285"?> Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins 285 Mitteln des Singens und Sagens. Der Dichter ist dabei dem Waschbrett so nah wie der Skulptur . Denn sein Material, das Wort, ist ebenso Gebrauchsgegenstand wie phonetische Skulptur, der Destruktion erlegen wie der Konstruktion im Werk befähigt. Der Dichter sieht das millionenfach gebrauchte, abgenutzte Wort, die abgenutzte Nutzlosigkeit des seiner ursprünglichen Potenz entkleideten, zum Kommunikationsgegenstand verfallenen Wortes in seiner Irrealität, wie er in ihm eine plastische Wirklichkeit wittert 78 , die seine eigene, von ihm selbst erspürte Realität zu werden vermag. Die Entfremdung vom ursprünglichen Verweisungszusammenhang ist der erste Schritt zur Ermöglichung von Bedeutung, zum dichterischen Zeichen oder zum Symbol, und er ist als ästhetische Handlung auf dem Weg zum Werk ein dramatischer Eingriff . Dabei bedarf das Zeichen der Schöpfung wie der Zuschreibungsabsicht einer Gruppe, und jedes Zeichen bedarf der Sinne. Es muss sinnlich erfassbar sein. Jedes Zeichen steht allein auch deshalb immer schon im stillen Einverständnis mit der Natur , denn es ist aus ihr geworden. Das Zeichen ist als sinnlicher Gegenstand für unsere Sinne Natur, als geschöpftes und eingeübtes Wort Artefakt 79 und als dichterische Plastik Wort, Bedeutung in Bewegung, mithin ein Gegenstand „dritter Ordnung und Potenz“ 80 . Zur Natur des Zeichens gehört es, in einem Zusammenhang zu stehen. Einen Zusammenhang zu verlassen, ihm fremd werden, ist aber dennoch kein Privileg eines geschöpften Gegenstandes, sei es Zeichen, Werk oder Kunstwerk, Waschbrett oder Skulptur. Sobald der Fußabdruck eines Tieres entdeckt ist, verwandelt er sich zur Spur, und der Wanderer zum Jäger, orientiert seinen Schritt auf das Wild hin. Er folgt den Hinweisen der Natur, ihren Zeichen, liest und deutet sie, bis er des Wildes ansichtig wird. Dies ist in seiner Spur anwesend abwesend, und dies vereinzelt diesen Gegenstand oder Umstand der Natur. Er wird vom Jäger aus ihr herausgelesen und erhält einen Richtungssinn - eine sinnliche Modulation hat stattgefunden. Der Gegenstand oder Umstand ist auf dem Weg zum Zeichen. Die sinnliche Modulation begreift die abwesende Anwesenheit des Wildes in seiner Spur und ist Bedingung der Möglichkeit dafür, ein Anzeichen 81 zum Zeichen werden zu lassen. Sobald nun das Anzeichen in einen weiteren Zusammenhang eintritt, wie also hier, z. B. des Feuermachens, der 78 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) , S. 86: „Bei Künstlern und Kindern überwiegt das schauende das sehende Bewußtsein der Beobachtung. Irgendeine Witterung für die Wesenheit seines Milieus braucht der Mensch, um am einzelnen das Typische, das spezifisch, nicht abstrakt Allgemeine zu erleben.“ 79 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 3. 80 Ebd. 81 Siehe Fußnote Nr. 54, Seite 278. <?page no="286"?> 286 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Waffenherstellung, des Tanzes, etc., ist es zu einem Zeichen geworden. Eine sinnliche Modulation ist zur Modulation eines Sinnes geworden und im stillen Einverständnis mit seiner Natur - aus der es stammt - hat sich die Spur in ein Zeichen verwandelt. Das also, was als Bedingung für das Zeichen gilt, damit es in einen neuen Verweisungszusammenhang eintreten kann, nämlich dass es von seinem Charakter als Anzeichen abgelöst sein muss, deutet ebenso wie die Entdeckung der Spur unmissverständlich auf den Menschen hin, verwandelt sich ohne ihren Erbauer und entgegen seiner Absichten in Zeichen 82 . Der Mensch folgt damit seiner Natur als ein Bedeutung schaffendes Wesen des Ausdrucks. Er sieht Bedeutungen, wo immer er sich auch hinwendet. Der zu sich in Selbststellung geratene Mensch ist zum Beobachter seiner selbst geworden, zum Zeugen seiner eigenen Ausdrücklichkeit. Plastizität heißt nun die Bedingung der Möglichkeit für das Erscheinen und die Beobachtung seines Seins 83 . Damit erscheint zugleich die Wertung, und der Mensch findet 82 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 205: „Las piezas, independizadas de su constructor y contra su proyecto, se convierten al signo; actúan en otro con- [206] texto —un contexto que somos los demás, nosotros— y nosotros violamos el objeto puro, la forzamos a la significación.“ 83 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 55: „Die Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die ‚Verschiebbarkeit‘ oder Plastizität sind also Seiten desselben Tatbestandes, und in gewöhnlicher Rede nennen wir ‚Seele‘ zunächst die Schicht der in Bildern und Vorstellungen sich meldenden Antriebe, bewußten Bedürfnisse und orientierten Interessen.“ Sowie ebd. S. 341: „So erklären sich die Urphänomene gegenseitig. Der Mensch orientiert seine Antriebe und Bedürfnisse, er gibt ihnen eigentätig Inhalte, denn indem er Erfahrungen macht, ja nur indem er spricht und die Welt ausdeutet, nimmt er sie in sich hinein, d. h. er vermittelt selbst die inhaltliche, konkrete Bestimmung seiner Antriebe, die in der Richtung seines Handelns und an diesen Gegenständen erwachen und sich an die Bilder der Erfahrung heften. Darin erfährt sich der Mensch selbst, wird sich selbst notwendig ein ‚Problem‘ , ein Gegenstand der Auseinandersetzung und Stellungnahme. ‚Einverseelung‘ nannte dies Nietzsche, und es war ein tiefer Blick von Kant zu sagen, daß es die Vorstellungen des äußeren Sinnes sind, mit denen wir unser Gemüt besetzen , wie er denn auch (Widerlegung des Idealismus, 2. Aufl. Kr. D. r. V.) betont, daß innere Erfahrung überhaupt nur durch äußere Erfahrung überhaupt möglich sei.“ Siehe auch: Scheler, Max, Erkenntnis und Arbeit, Klostermann Texte Philosophie, Frankfurt am Main, 1977, S. 217: „Die ›Phantasie‹ im Wachleben des hochzivilisierten und dem Alter nach reifen Menschen ist uns genetisch also nicht eine hochkomplizierte Neubildung aus Wahrnehmung, Reproduktion, Assimilation usw., sie ist uns im Gegenteil die Resttätigkeit der perzipierenden Tätigkeit der Vitalseele , die je noch nicht den nützlichen oder den auf sonstige Aufgaben des bewussten Lebens aller Art gehenden Arbeits leistungen an der wirklichen Welt eingegliedert und dazu spezifiziert ist. Sie ist der stete Überschuss des perzipierenden, in Erinnerung und Wahrnehmung noch undifferenzierten Lebens über seine bisherige Verwendung zu Aufgaben an der Wirklichkeit. Sie ist die Urform des perzipierenden Lebens selbst - nicht also eine späte Neubildung -: der noch je unspezifizierte, plastische, unverbrauchte Teil der vitalseelischen Energie, der › Drangphantasie ‹ selbst.“ <?page no="287"?> Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins 287 sich auf dem Weg hin zur Bedeutung. Er wird also in Bedeutungen hineingeboren, und er wird sie nie verlassen. Je rätselhafter sie ihm erscheinen, desto bedeutungsvoller werden sie ihm. Geheimnisvolle Bedeutungsfülle verweist auf einen sakralen Raum als möglichen Ursprungsort des dichterischen Zeichens. In Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético schreibt Antonio Gamoneda: “afirmo que la poesía es un lenguaje aprendido cuando el mundo era sagrado.“ 84 Der geheiligten, der Weihe und Verehrung würdigen Welt entspricht der Dichter im Namen und im Nennen 85 . In dieser Lautung gelingt es eine Aufmerksamkeit zu versammeln und zu verstetigen, welche ein Bewusstsein zur Vergegenwärtigung eines benannten Gegenstandes aufruft. Der in der Gemeinschaft aufgerufene und dann eingeübte Name verfestigt sich zum Wort und zum Begriff. Durch diesen kann seinerseits wiederum jene Versammlung des Bewusstseins aufgerufen werden, welcher der benannte Gegenstand - nun als Vorstellung - gehorcht. Im gelingenden Gebrauch jener Kette verliert sich die sakrale Herkunft des Namens. Antonio Gamonedas Dichtung erinnert sich dieses Ursprungs und beugt das Wort, indem er es dekontextualisiert, wieder auf einen ähnlich den ersten unsicheren Ahnungen einer in ihm aufgehobenen geheimnisvollen Bedeutungsfülle zurück. Der Dichter Antonio Gamoneda verbringt das Wort in den Echoraum des im Namen versammelten Bewusstseins vor seiner Verstetigung in einen Zustand bedeutenden Schwebens zurück. Das signum Gamonedae (II - IV) Schwebend, zwischen Sein und Nichtsein wie die abwesende Anwesenheit des in der Spur vergegenwärtigten Wildes, so tritt Bedeutung im lesbaren wie rätselhaften signum Gamonedae (II) auf. Der Mensch ist jedoch nicht nur ein Ausdruck schaffendes, sondern er ist auch ein Ausdruck lebendes Wesen. Lebt er als Mensch, so lebt er ausdrücklich 86 . Darauf beruht die Paradoxie des Zeichens, seine Lesbarkeit und Rätselhaftigkeit, dass es mit der Natur des Menschen verwachsen zugleich über sie hinausweist, die Unversöhnlichkeit seiner beider Seiten damit bestätigt. Der Künstler lebt sie intensiv: Die einsame Ursprünglichkeit von Bedeutung im Schaffensakt ist genauso unmöglich wie die wirkliche Versöhnung - nicht die förmliche 84 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , Editorial Trifolium, Lugami Artes Gráficas, Galicia, Spain, 2013, S. 31. 85 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 213 f.: „Die Freilegung des Daseinswertes und im nächsten Schritt des [214] Daseins-Selbstwertes des Belebten leistet übrigens auch die Sprache an der sehr frühen Stelle, wo sie dichterische wird.“ 86 Siehe Fußnote Nr. 489, Seite 112. <?page no="288"?> 288 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit - von Natur und Zeichen 87 . Im Zeichen wiederholt sich die paradoxe Einheit der Person als ein in Selbststellung geratenes Lebewesen 88 und zeigt sich die Dynamik des gamonendaeischen Dichterwortes. An der paradoxalen Struktur des signum Gamonedae (III) als lesbar und rätselhaft zugleich erscheint die Dynamis der transzendierenden Immanenz und im Symbol der selbsteigenen Realität die Energeia des gamonedaeischen Dichterwortes als Wirklichkeit im stillschweigenden Einverständnis mit der Natur und dem Atem des Autors. Die Natürlichkeit des Zeichens liegt in seiner Bindung an die Natur des Menschen - seiner Sinnlichkeit wie seinem sittenstiftenden Tun. Seine Bedeutung stiftender Zusammenhang liegt in seiner Ausdruck lebenden Natur. Der Menschen begreift das Zeichen als ein ihm zugehöriges, seiner Natur entsprechendes Etwas für ein Etwas. Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins ist Ausdruck dieses Zusammenhangs und die selbsteigene Realität des Werkes Antonio Gamonedas wiederum Ausdruck ihrer transzendierenden Kraft. An der Erschließung des Seins hat der eine selbsteigene Realität erschaffende Dichter Anteil. Das signum Gamonedae (IV) , eigens das Symbol, zeigt das andere Gesicht des Seins, die selbsteigene Realität, indem es seinem ursprünglichen Zusammenhang entfremdet die individuelle Form der dichterischen Rede kundgibt. Die expressive Plastik: Wort Die onto-morphologischen Untersuchungen im platonischen Kratylos gehen von einem „naturalisierten Gebrauch“ 89 des sprachlichen Zeichens aus. Sokrates bestimmt dabei den Nomothétes (νομοθέτŋς) zum „Physiker und bloßen Urheber der Laute ohne Kenntnis des objektiven Inhaltes der ursprünglichen Namen“ 90 . Die Widerspiegelung der ontischen Gegenstände im Namen erfährt dabei eine steile Idealisierung. Allerdings muss Sokrates bei seiner enthusiastisch geleite- 87 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 204 f.: „No es posible la [205] pureza solitaria de la signifiación en la acción creadora, como no es posible la conciliación real —no convencional— de naturaleza y signo, Navascués tuvo la hermosa soberbia de afirmar la imposibilidad.“ Auf der konventionellen Versöhnung des Zeichens mit der menschlichen Natur als ζῷον πολιτικόν beruht auch die Möglichkeit der Sprechakte nach J. L. Austin, welche wiederum die Basis für ein soziales Ethos wie z. B. das Eheversprechen bilden. 88 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 364: „Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“ 89 Kobusch, Theo & Mojsisch, Burkhard (Hg.), Platon Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschung , Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1996, S. 131: „Seine These läuft auf die Behauptung hinaus, [132] daß es der ‚naturalisierte‘ Gebrauch ist, der Bedeutung hervorbringt, indem im Austausch von Sprachstücken etwas bezeichnet wird.“ 90 Ebd., S. 145. <?page no="289"?> Die Selbsteigenheit des dichterischen Seins 289 ten Untersuchung auf ein strenges Wahrheitskriterium verzichten 91 . Es bleibt ihm also kein anderer Weg als auf die Konvention, den naturalisierten Gebrauch des Wortes abzuheben. Georgiades’ These folgend, die im Altgriechischen Wort eine ontologische Plastik des Seienden behauptet, entdeckt sich die skeptische Sprengkraft des Dialogs. Die modernen exspiratorischen Sprachen jedoch verschieben die Bedeutung des Lautes (im Kratylos-Dialog: Silbe, heute: Phonem) von der Seite des Seienden auf die Seite des Seins, des menschlichen Seins; von der Seite der Repräsentation auf die der Expression, des Ausdrucks. Denn nun erhält die Stimme, die Phone einen symbolischen Charakter als jener Ort, an dem die Verlautung des Seins in Gestalt der Stimme statthat. Die Bedeutung erreicht das Wort vermittelst des Ausdrucks im Körperleib - manifest im Atem und den Sprechorganen. Die altgriechische ontologische Plastik Wort wird zur bewegten Beweglichkeit des Körperleibes, zur expressiven Plastik Wort. Nicht mehr die Abspiegelung des Seienden, sondern die Plastizität des Seins als das dem Dasein Ausdruck Verleihende vermittelt dem Menschen die Welt. Wenn Sebastián de Covarrubias in seinem Werk Tesoro de la lengua castellana o española den Buchstaben „a“ mit einer phänomenologisch-anthropologischen Beobachtung einführt und sich sowohl auf die Anatomie des Menschen wie auf seine geschichtliche Konstitution beruft, indem er schreibt: A primera letra en orden cerca de todas las naciones que usan caracteres, como nos consta […] Y assi es la primera que el hombre pronuncia en naciendo, salvo que el varón como tiene más fuerza dize A, y la hembra E; en que parece entrar en el mundo lamentándose de sus primeros padres Adán y Eva. Llamóse letra vocal, porque sin ayuda de los demás instrumentos con que se forman las letras, se pronuncia 92 , dann stützt er sich nicht zuvorderst auf das Zeichen, sondern auf die menschliche Substanz in ihrer Lebendigkeit, vermittelst welcher der Ausdruck, schließlich der Name für das zu Benennende in Erscheinung tritt und bedeutet so jene allgemeinen Bedingungen, unter denen das expressive Wort der Bedeutung entgegenstrebt: Universalität, d. h. die Menschheit betreffend - todas las naciones -, Biologie, d. h. die Onto- und Phylogenese des Mensch betreffend - en naciendo -, Genealogie, d. h. die Spezies Mensch in ihrer Geschichte betreffend - primeros 91 Ebd.: „Es ist interessant, daß Sokrates die Errungenschaften des νομοθέτŋς in konventionalistischem Zusammenhang darstellt und dabei vom Geist einer physischen Idealisierung geleitet wird. Seine Absicht ist es, einen Begriff von Richtigkeit ohne irgendwelche objektive Kriterien für Richtigkeit zu entwickeln. Diese Art von Richtigkeit stellt einen Grenzfall dessen dar, was man überhaupt unter einem richtigen Namen verstehen kann, insofern er jegliche Anpassung eines Namens an ein Objekt und damit jeglichen externen Maßstab ausschließt.“ 92 Covarrubias de, Sebastián, Tesoro de la lengua castellana o española , Martín de Riquer de la Real Academia Española (Hg.), Editorial Alta Fulla, Barcelona, 1998, fol. 1 r., S. 23. <?page no="290"?> 290 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit padres -, und Anatomie, d. h. den Menschen in seiner Physis betreffend - sin ayuda de los demás instrumentos . In der Einführung zum Buchstaben „C“ veranschaulicht er den Einfluss der Sitten auf den expressiven Ausdruck, wenn er schreibt: Llamáyase la letra triste, porque en los juyzios o tribunales que daban a los juezes unas tablillas enceradas, en una dellas y va señalada la letra C, que sinificava condemno , como la A, absolvo . 93 Und im „O“ treffen sich unterschiedliche innere Bewegungen oder Emotionen: Haze diversos sentidos con la variedad de los afectos. Unas vezes es partícula de admiración: ¡O, qué hermosa criatura! Otras de indignación: ¡O vellaco! De desseo: ¡O, si llegasse aquel día! De dolor: ¡O, que gran lástima! De exclamación: ¡O, gran Dios! De escarnio, por ironía: ¡O qué lindo! O es conjunción disjuntiva, como : O rico o pinjado. 94 Der Ausdruck von innerer Bewegung oder Emotion „O“, vom Üblichen oder der Gewohnheit der Gemeinschaft oder Gruppe „C“ bzw. „A“ und der unmittelbaren Äußerung des Leibes „A“ oder „E“ bewegen die Laute bildende Stimme, Phone 95 , auf ihrem artikulatorischen Weg zum Wort. Die Beispiele aus dem Tesoro des Covarrubias veranschaulichen den Gedanken der Verschiebung des ontologischen Ortes des Wortes vom kratylisch ontomorphischen zum pneumatomorphischen Wort, vom Abbild zum Ausdruck. Doch nicht ob ihrer empirischen Richtigkeit, sondern nur ob ihrer illustrativen Kraft stehen die oben genannten Beobachtungen des Covarrubias für diesen Wandel. Dieses unbesehen bleibt festzuhalten, dass der Ursprung des Zeichens im menschlichen Ausdrucksverhalten liegt. Es entspricht damit seiner Natur, seiner Gruppe und seiner Geschichte. Dasjenige jedoch, was die mimetische Bindung des Zeichens an die Natur des Menschen, an dessen Ausdrucksnatur begründet, ist zugleich Garant seiner mimetischen, also semiologischen Freiheit und also auch der Ermöglichungsgrund des Zeichens selbst, denn es verbürgt dessen Arbitrarität. 93 Covarrubias de, Sebastián, Tesoro de la lengua castellana o española , Martín de Riquer de la Real Academia Española (Hg.), Editorial Alta Fulla, Barcelona, 1998, S. 249. 94 Ebd., S. 833. 95 Kobusch, Theo & Mojsisch, Burkhard (Hg.), Platon Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschung , Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1996, S. 142: „Unter φωνή dürfen wir nicht so sehr den Klang der Stimme als vielmehr die Lautbildung eines Organs verstehen, mit dessen Hilfe und durch das ein Buchstabe ausgesprochen wird.“ <?page no="291"?> Die Trompete des Kleanthes oder die Selbsteigenheit der dichterischen Rede 291 Mit dem Wandel zur exspiratorischen Sprache und damit dem Vorrang des Ausdrucks oder der Expressivität vor der Repräsentativität des sprachlichen Zeichens Wort entfällt auch ein auf Mimesis oder Abbildung bauendes Richtigkeits- oder gar ein Wahrheitskriterium. Auf auf Wahrheit zielende Aussagen jedoch braucht deshalb dennoch nicht verzichtet zu werden, da Wahrheitskriterien weiterhin selbstverständlich formulierbar bleiben. Die Natürlichkeit des Zeichens liegt also nicht, wie im Kratylos behauptet, in einer mimetischen Bindung an eine wie auch immer vorgestellte Natur. Allein die künstlerisch bewirkte Gestalt eines als Zeichen gewonnenen, d. h. einem Zusammenhang zugesprochenen sinnlichen Gegenstandes, lässt das Sprachzeichen als pneumato-motorische Plastik jetzt in die Natur des Menschen einrücken 96 . Die Trompete des Kleanthes oder die Selbsteigenheit der dichterischen Rede L’Histoire c’est mon gibier en matière de livres, ou la poésie, que j’aime d’une particulière inclination-: car, comme disait Cleanthes, tout ainsi que la voix contrainte dans l’étroit canal d’une trompette sort plus aigüe et plus forte-: ainsi me semble-t-il que la sentence pressée aux pieds nombreux de la poésie, s’élance bien plus brusquement, et me fiert d’une plus vive secousse. 97 Die Stelle ist, auch in der moderneren Übersetzung von H. Noblot 98 , eine einprägsame phänomenologische Beschreibung des Effektes eines metrischen Ma- 96 Analog zum Sprachzeichen und im Dreiecksverhältnis von Idee, menschlicher Gemeinschaft und Vergegenwärtigung im Kultgegenstand verweise ich auf Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 181 f.: „Man kann auch sagen: die subjektive »Idee« einer Wesenheit, und dieses selbst in ihrer objektiven Dauer als Kultbild werden durch ein vermittelndes Verhalten aufeinandergelegt, das wieder, als mimisch darstellendes, eine subjektive und eine objektive Seite desselben Inhalts hat. […] Hier noch nicht zu behandeln ist der Nachweis, daß dieses prämagisch-rituelle Verhalten in völlig unvorhersehbarer Weise »ankam«, es erwies eine grandiose sekundäre Zweckmäßigkeit, die nicht erwartet war, […] Hier beschränken wir uns auf die Analyse der Kategorie der Kontinuität, der »Stabilitätskerne«, und unsere These würde, in modernen philosophischem Jargon übersetzt, besagen, daß es »Werterlebnisse« oder Sollgeltungen sind, die, an die Außenwelt, das eigene Verhalten und das subjektive Bewußtsein geknüpft jederlei Kontinuität und Invarianz des bewußten menschlichen Lebens erst herstellen.“ 97 Montaigne, Michel de, Les Essais , (Bjaï, Denis u. a. Hg.), Classiques Modernes, La Pochothèque, Librairie Générale Française, 2001, S. 224. 98 Ebd.: „Car, comme disait Cléanthe, de même que notre souffle rend un son plus éclatant, lorsqu’il circule tout du long de l’étroit canal d’une trompette d’où il jaillit enfin par un <?page no="292"?> 292 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit ßes auf die dichterische Rede bzw. auf deren Hörer. Wie in der physikalischen Tatsache der durch eine Röhre gepressten Luft, welche im Bild der Trompete aufgerufen, wird diese in der ins Maß geschlagenen Rede - der artikulierten Atemluft - in einer Weise gebunden, dass sie überformt auf das Ohr des Hörers auftrifft 99 . Die so vernehmbare Überprägnanz der Rede unterstreicht die Gegenwart der akustischen Plastik: Dichterwort. Solange das Metrum als klassische Maßeinheit der gebundenen Rede die Dichtung in die Formsprache des Genres entlassen konnte, war es möglich, diesem im Gesamt der expressiven Topoi seinen gesellschaftlichen Ort zuzuweisen. Noch als die Konvention allein der Form, dem Ausdruck ein Korsett anlegte, konnten die Dichter noch lange eine gute Figur darin machen. Lässt man vor diesem Hintergrund das Œuvre Antonio Gamonedas vor dem inneren Auge Revue passieren, erlebt die gebundene Dichterrede eine kontinuierliche Entwicklung zur Freiheit in der Gestaltung hin. Die Disposition des Textes auf der Buchseite verlässt mit der Abfolge der Werke ihre innere Gebundenheit von Zeile an Zeile, Strophe an Strophe etc. und rückt selbst zur Expressivität hin auf. Die Zeile schüttelt in Blues castellano ihre Befangenheit ab, ständig und immerdar erfüllt zu sein und damit das Bestimmungselement des dichterischen Genres abzugeben. Sie wird so verfügbar, um selbst Teil des dramatischen Sinnplus large orifice, ainsi l’étroit contrainte du vers rend nos sens plus acérés.“ 99 Eine systematische Beschreibung dessen, wie Vers oder Metrik die Sprache zuspitzen , finden man in: Kayser, Wolfgang, Kleine deutsche Versschule 24. Auflage , A. Francke Verlag Tübingen und Basel, 1992, S. 10 - 12: „Nur weil wir jene Ordnung schon in uns tragen, wirken sprachliche Fügungen wie «Buch der Bilder», «Jahr der Seele», «Land und Meer» rhythmisch auf uns. […] So unschön also jene beiden Versreihen waren, sie lassen uns trotzdem erkennen, daß der Gewinn an Ordnung mit einem Verlust auf der anderen Seite erkauft war, einem runden und buchungsfähigen Verlust. Was sich verlor, war ein gut Teil der Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft. Die «höchste» Wut des Verses ist lang nicht mehr so hoch wie in der Prosa, der Fluch ist nicht mehr so laut und schwer und vor allem nicht mehr so nah. Menschen und Dinge und Vorgänge sind im Vers niemals so nah wie in der Prosa, und eine unbekleidete Schöne der Poesie ist niemals so nackend wie eine prosaische. Es ist mit dem Aufstieg in die «höheren» Ordnungen ein Verlust an Realität eingetreten. Schon die Bedeutungen sind nicht mehr so klar und scharf; die bedeuteten Dinge sind verschwommener, unfester, aber entfaltungsreicher und geheimnisvoller geworden.“ Ebd., S. 32 zitiert Kayser Schiller, der sich in einem Brief an Goethe zum Wesen des Alexandriners äußert: „«Die Eigenschaft des Alexandriners, sich in zwei gleiche Hälften zu trennen, und die Natur des Reims, aus zwei Alexandrinern ein Couplet zu machen, bestimmen nicht bloß die ganze Sprache, sie bestimmen auch den inneren Geist dieser Stücke, die Charaktere, die Gesinnung, das Betragen der Personen. Alles stellt sich unter die Regel des Gegensatzes, und wie die Geige des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenklige Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüts und der Gedanken. Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert und jedes Gefühl, jeder Gedanke in dieser Form wie in das Bette des Prokrustes gezwängt.»“ <?page no="293"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 293 geschehens zu werden. Sie gewinnt in der Langzeile 100 von Descripción de la mentira an Unabhängigkeit, Länge und Tragweite und birgt ein reiches Kadenzgeschehen, das der Erinnerung ihren bemaßten Raum geben kann. Sie vereinigt sich schließlich in Lápidas zum Block und synthetisiert das Kadenzgeschehen in das detailreiche Ganze einer Landschaft der Kindheit des alternden Autors. In El libro del frío wird sie Teil der dort beschriebenen spätwinterlichen Landschaft, ausgedehnt in weiterer Zeilenschaltung 101 , mit Stille und Leere umgeben. Sie wird Element eines zerdehnten Gedichtes, das dem leeren Licht des Verschwindens entgegen geht, oder sie kann ganz außer sich, wie in Canción errónea 102 , völlig unterschiedlichen komplexen Formen als Spur der Zeichen ihre archetypische Horizontale anbieten, um dann zerstückelt und verstreut, die Rede in die Vertikale zu führen. Im Akt des Lesens klaubt das Auge ihre Bahn aus dem Gesamt der Seitenansicht heraus, die Artikulation beginnt ihre Arbeit und der Atem bestückt den Akt mit dem Strom des modulierten Luftstroms. Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom (signum Gamonedae V-- VIII) Die transzendierende Immanenz des signum Gamonedae (V) manifestiert sich im Übersteigen der Genregrenzen und inszeniert so das Dichterwort selbst als ein überprägnantes. Mit den traditionellen Genres lässt es sich nicht einhegen und ontologisch neutralisieren. Das orphische Idiom des Dichters überschreitet die Grenzen des Genres auf die selbsteigene Realität, die realidad subjetiva 103 , hin. El óxido se posó en mi lengua … aus Descripción de la mentira Mit Descripción de la mentira setzt sich der Dichter in und mit der Sprache der selbsteigenen Realität in ein Verhältnis zum Sein. Ausdruck dieses Verhältnis ist das Maß - Akzent, Laut, Rhythmus - und Kadenzgeschehen sowie Zeichen bzw. das Symbol seiner Rede. Das Dichterwort erreicht das Bewusstsein als ein 100 Der Terminus Langzeile wird hier nicht in seiner technischen Bedeutung (siehe: Schweikle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literatur Lexikon, M. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttagrt, 1990, S. 259), sondern allein als eine vorläufige Denomination. 101 Anschauliche Beispiele in: Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 402, 403. 102 Gamoneda, Antonio, Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012. 103 Gamoneda, Antonio, Fonación, palabra y escritura, pensamiento poético , S. 61. <?page no="294"?> 294 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit überprägnantes plastisches Geschehen in Form einer sentenz- oder aphorismusartig anmutenden Aussage 104 . Die selbsteigene Realität von Descripción de la mentira erscheint mit ihrem Thema, der Vermessung der Lüge . Der Autor schlägt sie ins Maß seiner Rede und verwandelt die Not zur Lüge unter den Bedingungen einer Militärdiktatur in eine der Not antwortenden Zivilität. Mit ihrer Beschreibung zeigt er des Seins inhärente verdrängte Seite, und indem er die Lüge ins Passepartout des historischen Geschehens einpasst, wird sie ontologisch. Damit tritt das moralische Urteil in den Hintergrund, dem Leben aber eröffnet dieser Weg Einsicht und Kraft: Haríais mejor en residir en légamos. Yo no soy vuestro maestro pero sí vuestra profundidad a la que quizá no llegaréis. Pálidos judiciales: ¿qué sois, qué sostenéis ante los muros aborrecibles? Es otra complexión, es otra cólera la que me concierne: mi madre es fértil en la cobardía; mi corazón, temible en la dulzura. 105 Mit dem Übersteigen der Genregrenzen und der Individuation des dichterischen Tuns erscheint der logostransparente Körperleib als jener erfahrungsgesättigte Ort, an dem sich die Tendenz zur Ausdrucksbewegung im Bezug zum Sinngehalt 106 104 Schweikle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literatur Lexikon, M. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttagrt, 1990, S. 21: „Aphorismus, m., Pl. Aphorismen [gr. aphorizein = abgrenzen, definieren], prägnant knappe, geistreiche oder spitzfindige Formulierung eines Gedankens, eines Urteils, einer Lebenweisheit.“ S. 424: „Sentenz, f. [lat. Sentenia = Meinung, Urteil(spruch), Gedanke], allgemeiner Satz, der sich durch Geschlossenheit der Aussage und Durchbrechen des Handlungsablaufs aus einem literar. Werk heraushebt und Allgemeingültigkeit beansprucht, […]“. Der versículo in Descripción de la mentira beansprucht Allgemeingültigkeit wohl allein in der Exemplarität des geschilderten Erlebnisses, bietet jedoch keine Lebensweisheiten an. Prägnanz und Geschlossenheit wohnen ihm in Form seiner Rhythmik bzw. seines Kadenzgeschehens inne. Im Vergleich beider tendiert der hier genannte versículo wohl eher zur Sentenz, da ihm formal Geschlossenheit und inhaltlich Allgemeingültigkeit als Exemplarität der Erfahrung innewohnen. 105 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 180. 106 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 223: „Daß Musik nicht als einzige der Künste Bewegung formt, wird noch klarer durch die Dichtung bewiesen. Verse und Prosa geben den Zug der Rede zugleich im Ablauf von Rhythmen, der bildhaft und klanglich als Nacheinander der Bewegung sich entrollt. [224] Drei Schichten von Bewegung gilt es zu beachten: den dargestellten Vorgang selbst, die Entfaltung, in der er dargestellt, entwickelt wird (syntagmatisch), und der Ablauf in der Reihenfolge <?page no="295"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 295 entsprechend der Adäquation der Ausdrucks bewegung zum Ausdruckssinn : im Tanz zur Musik 107 - hier in der Haltung zur Dichtung - beobachten lässt. Der Ausdruck Tanz zur Musik bedeutet hier, dass die rhythmischen, phonischen und tonalen, also die musikalischen Elemente der Sprache, Bestandteil der Gliederung bzw. Anordnung der Ausdrucksbewegung, also der Artikulation der Rede - dem Tanz -, werden und dem Ausdruckssinn - der Musik - entsprechen 108 . Arsis, Thesis und Synesis 109 bilden so den musikalisch-prosodischen Dreischritt der lautlich gegliederten Rede. Gleichursprünglich mit dieser Sinnhaftigkeit der Rede findet das syntagmatisch-semantische Geschehen in Thesis, Parathesis und Synthesis 110 statt. Syntagmatisches und synesisches Geschehen heißen ihre Glieder, vermittelst derer sich das Dichterwort aus dem Körperleib heraus und wieder zurück auf ihn hin zur Erscheinung bringt. Das Gesagte beschreibt die Bewegung der transzendierenden Immanenz, die Dynamis des logostransparenten Körperleibes. Der Körperleib ist der Ort, an dem sich Individuum, Welt und Mitwelt kundgeben. Er ist der Ort, an dem sich individuelle Existenz vollstreckt, das Individuum sich der Welt stellt, in dem das Außen im Seeleninnenraum ausdrücklich wird. Dieser Eindruck fördert die Plastizität des Erlebens und ebnet somit den Weg zur Erkenntnis, welche ihrerseits wiederum die Plastizität des Erlebens befördert. Die Bewegung der transzendierenden Immanenz des logostranspartenen Körperleibes ist eine Bewegung von der Präsenz zur Repräsenz - dem Innewerden der Form - und zur unseres Lesens, Hörens, Sehens, auf den die thematische Sinngebung durch Versmaß, Reim, Akzentuierung im Klang, Tempo der Regie abgestellt ist. Nur die letzte Schicht ist Musik und nur um ihrer Form willen ist das Taktieren und jede sinnadäquat ausdrückende Geste möglich. [225] Denn der bloße Takt eines Musikstückes, das Versmaß eines Gedichts ist sinnfrei und gestattet nur eine Anpassung an die Rhythmusgestalt, an die gewissermaßen rein chronometrische Gliederung, die ein Verlauf zeigt.“ 107 Ebd., S. 222: „Betrachten wir das Phänomen des Ausdrucks in derselben Linie der Haltung wie auch der Handlung, als Bewegungszustand bzw. Bewegungsmöglichkeit des Leibes, so findet sich in einem besonderen Falle Adäquation der Ausdrucks bewegung zum Ausdrucks sinn : im Tanz zur Musik. Dafür hat man zuerst die sehr einfache Erklärung: weil Musik eine Kunst in der Bewegung ist.“ 108 Ebd., S. 226: „Erst dann ist eine Bewegung in Gesten ausdeutbar, wenn sie Sinn hat, und das Minimum an Ausdeutbarkeit ist mit der thematischen Form gegeben. Eine Bewegung ist aber nur unter der Bedingung thematisch geformt, wenn in ihrem einsinnigen Ablauf, an den die Wahrnehmung auf alle Fälle gebunden bleibt, ein Hin und Her und seine Zusammenfassung möglich sind. Und die Bedingungen dafür sind erst erfüllt, wenn in dem einsinnig gerichteten Ablauf der Bewegung Elemente in derartige Wechselbeziehung treten, die ein Auf und Ab, Umkehrungen, Wiederholungen, Verschlingung mehrer Linien von Abläufen und Ablaufsformen gestalten. Dadurch kommt es zu einem inneren Rhythmus von ganz anderer Struktur, wie sie der äußere in zählbaren Takten aufweist.“ 109 Ebd., S. 220. 110 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne , S. 220. <?page no="296"?> 296 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit Repräsentanz, jener Form, die als Zeichen oder Symbol in der Gemeinschaft eingeübt und weitergegeben werden kann. Logostransparenz des Gliederkörperleibes bedeutet, dass selbsterlebte Bewegung als Tanz oder in Artikulation und Laut im Aufstieg zu den Sinnen und in Gemeinschaft mit der Sprache zum Sinn hinführt, zur Verfasstheit eines Wortes, einer Phrase, eines Satzes, Abschnittes oder Werkes. Auge, Atmung und Artikulation leiten den ins Maß geschlagenen Laut auf dem Weg zum Sinn. Das Maß strebt nach dem Sinn. Das Erscheinen des Sinnes ist bewegte Mitte und werdende Form, bis er schließlich in der Kadenz (período de enlace) zu seinem Abschluss geführt wird, wie in der Langzeile des Langgedichts: Descripción de la mentira . 111 Durch die Länge der Zeile treten in der Erscheinung metrisch markierte Abschnitte der período interior in den Hintergrund. Daneben jedoch gewinnen anacrusis und período de enlace an Gewicht. Der verso pausado ist hier naheliegend, jedoch nicht zwingend. Besonders dort, wo dieser durch die censura (hier dargestellt durch: „/ “) geteilt und eine sinalefa verbunden ist (Zeile 2), kann er leicht in den Hintergrund treten. Nach der ersten Wiederaufnahme des Beginns (fast eine identische Wiederholung der Alterierung von Lauten wie Akzenten) in der zweiten Zeile wird ein vollständiger Satz erwartet. Dieser jedoch wird durch die Wiederaufnahme der Phrase durch die Kopula y sowie den sich anschließenden Relativsatz bis in die dritte Zeile hinausgezögert. Die Wahl des Indefinido und die Wortwie Vokalanalogien in diesen Satzteilen parallelisieren sie - auch mit der ersten Gedichtzeile. Der männliche Schluss ist markant und korrespondiert in seiner Bestimmtheit ebenfalls mit dem der ersten Zeile. Die zweifache Erweiterung der anacrusis : ˘ ‒, und ˘ ˘ ‒, und ˘ ˘ ˘ ‒, sowie die Verschränkung dieser am Ende mit dem 2. Teil der zweiten Zeile markiert einen Aufbau über die ersten drei Zeilen des Gedichts mit folgender Form: A - B (männlich) 1. Zeile / / A - C / / C (männlich) 2. + 3. Zeile. Wiederaufnahme (A-- A), Alterierung (A, B, C) und Entwicklung (A-B, A-C), innere Symmetrien der syntagmatischen, phrasischen, vokalischen und rhyth- 111 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173. <?page no="297"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 297 mischen Anordnung, Zeilendisposition und Zeilenverteilung auf der Seite mit ihren großen Abständen deuten nicht auf prosaische Wortfolgen hin, sondern legen in ihrer Überprägnanz eine individuierte dichterische Form nahe. 112 Der fünffache anapästische Zeilenbeginn der anacrusis und die explizite Metapher markieren den zweiten Satz im ersten Abschnitt. In diesem treten die drei anaphorischen Mittelzeilen zusammen, die zudem mit dem Indefinido der syntagmatischen, phrasischen, vokalischen und rhythmischen Ähnlichkeit ihrer ersten Halbzeilen eine enge Verbindung eingehen. Die dritte anaphorische Zeile weicht im Vordersatz mit dem Finalsatz hasta que vom gesetzten Schema ab und bereitet die Idealsituation für den Eintritt der invocaciones (Zeile 9) mit dem Erscheinen des silencio in seiner Perfektion vor; denn in der nicht vollständig ausgeführten Langzeile erscheint das silencio optisch sowie dann auch akustisch. Die zweite Hälfte des zweiten anaphorischen Beginns in Zeile sechs wird mit der Kopula eingeleitet und um die Hälfte der bisher gebrauchten metrischen Einheiten (meist um die 20 Silben) ausgedehnt. In der letzten Zeile des Satzes wird die Kopula mit dem Indefinido von escuché aus den Zeilen fünf, sechs und sieben kombiniert sowie mit großer syntagmatischer Ähnlichkeit wiederaufgenommen. Durch die relative Kürze der 8. Zeile sowie der Wiederaufnahme der Kopulaverbindung y en - y no entsteht die Notwendigkeit eines encabagalmiento (das Komma nach espíritu ist ein syntaktisches), welches das Ende des Satzes vorbereitet. In den Zeilen mit dem Indefinido dominiert leicht der e-Klang , aber besonders stark macht sich dieser in den letzten beiden Zeilen sieben und acht bemerkbar. Er lässt die Variabilität der Vokale abklingen und bereitet damit 112 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173. <?page no="298"?> 298 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit das Satzende vor. Mit ihren männlichen Endungen und dem stummen labialen Anlaut korrespondieren mar und mí in den Zeilen vier und sechs. Demgegenüber korrespondieren ebenfalls sowohl klanglich wie metrisch descanso (in Zeile fünf) und silencio (in Zeile 8) mit weiblichen Endungen. Fünfmaliger anapästischer Zeilenbeginn, verso pausado , imperfekter gekreuzter Endreim und alternierende männliche und weibliche período de enlace markieren folgenden formalen Aufbau: A - B (männlich) / / C - D (weiblich) / / C - E+ (männlich) / / C - F (weiblich) / / E (weiblich). Gemeinsam mit der durchgehenden Tempuswahl des Indefinido weist das zweifache E auf einen Abschluss hin. Etwas Neues wird erwartet und auch erfüllt. Mit dem Präsens No creo … 113 wird das Vergangenheitstempus und die Beschreibung verlassen. Die Dichterrede wird nun zur Erlebnisrede im Modus der Gegenwart: Das Vergangene ist in die Gegenwart der Erinnerung eingetreten. In der Metabole des Vergangenen zur Gegenwart der Erinnerung manifestiert sich die transzendierende Dynamis des signum Gamonedae (VI) . In der Immanenz des kontingenten individuellen historischen Geschehens vermisst das dichterische Wort die Vergangenheit an der wirklichen Möglichkeit Zukunft. Organisation ist das künstlerische Mittel zur Intensivierung des ästhetischen Erlebnisses. Organisation verwandelt reine Präsenz in planvoll gestaltete Prägnanz und befördert das Innewerden geistiger Gehalte. Durch einprägsam bewegte Bewegung des Rhythmischen, Phonischen, Syntagmatischen und Semantischen entsteht die dichterische Form. In den zwei analysierten Abschnitten finden wir den rhythmisch planvoll gestalteten Aufbau durch Wechsel in Form der Steigerung (zweifache Erweiterung der anacrusis ), der Wiederaufnahme (A - A), des Alternierens (A, B, C), der Entwicklung (A-B, A-C, C-D, C-E, C-F) sowie der Verschränkung der período de enlace ; und im zweiten Abschnitt in Form der Wiederholung der anacrusis , des Alternierens ( período de enlace ) und der Zeilendehnung. Auf allen Ebenen der Sprache können wir Wechsel, Wiederholung, Veränderung und Bestand (mittlere Zeilenlänge von 20 Silben) vom Laut bis zum Abschnittsende beobachten. Arsis, Thesis und Synesis wie Thesis, Parathesis und Synthesis, syntagmatisches und synesisches Geschehen arbeiten an dem ständig dichter werdenden Geflecht der Organisation zweiter Ordnungen und somit deren überprägnanter Form als Rhythmus. Die Sinneinheiten überschreiten zwar strenggenommen die Form der Langzeile, und erstecken sich über mehrere, bestätigen diese jedoch andererseits mit ihren gegenseitigen Verweisungszusammenhängen. Angemessen scheint 113 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173. <?page no="299"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 299 deshalb der Hinweis auf die rhetorische Form der Periode 114 mit ihrem Aufbau aus mehreren Kola (ebd.), die gegensinnig oder gleichgerichtet aufeinander bezogen sind. In der Ökonomie der sprachlichen Mittel und dem rhetorischen Aufbau verweist Descripción de la mentira also eher auf den Aphorismus und die Sentenz denn auf das Prosagedicht. Der Dichter selbst spricht von sentencias : Ahora es verano y me proveo de alquitranes y espinas y lápices iniciados y las sentencias suben hacia las cánulas de mis oídos. 115 Dennoch verweist der traditioneller Dichtungsvorlagen entbehrende Aufbau auf die individuell freie Verfügung aller verwendbaren stilistischen Mittel für den gesuchten Ausdruck. Das einmalige Besondere korrespondiert mit dem Zufälligen der individuellen Existenz. Augenfällig jedoch ist die durchgehende Beibehaltung des aphoristischen Sprachduktus über das gesamte Langedicht, welches außer dem Abschnitt keine weitere Kapitelgliederungen kennt. Am Ende nennt der Dichter sein Werk einen relato incomprensible 116 , womit er selbst dessen innere Einheit bestätigt. In dieser formalen Einheit jedoch scheint die Affirmation des Urhebers im Werk wie auch mithin die Exemplarität im Gesagten auf. Das dem Zufall ausgelieferte Individuum erkennt sich vermittelst der Dichtung und der gelungenen Form als ein Behauptetes 117 . Es erkennt sich behauptet als Person im Gegenüber anderer Personen und als Teilnehmer am gesellschaftlichen Geschehen - in diesem Falle meldet sich das Individuum als Dichter nach seinem zehnjährigen Schweigen zurück. Person 118 ist der Name für ein Individuum, das am gesellschaftlichen Geschehen teilnimmt. Diese Teilhabe benötigt Veräußerlichung des Inneren, sie be- 114 Schweikle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literatur Lexikon, M. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttagrt, 1990, S. 346: „Periode, f. [gr. períodos = Kreislauf, regelmäß. Wiederhkehr], 1. In der Rhetorik eine gegliederte Satzeinheit, auch Folge von inhaltl. eng aufeinander bezogenen Sätzen (zus.gesetzte P.); dient der Kombination oder Gegenüberstellung mehrerer gleichgerichteter oder gegensinn. Gedanken. Die P. besteht jeweils aus einem spannungsschaffenden (ersten) Teil, der Protasis (gr. = Voranstellung, oft ein Bedingungssatz), und einem spannungslösenden (zweiten) Teil, der Apodosis (gr. = Nach- oder Folgesatz) […]“ 115 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 174. 116 Ebd., S. 222. 117 Montaigne, Michel de, Les Essais. Classiques Modernes, La Pochothèque, Librairie Générale Française, 2001, S. 718-: „Nous avons bien plus de poètes, que de juges et interprètes de poésie. Il est plus aisé de la faire, que de la connaître. À certaine mesure basse, on la peut juger par les préceptes et par art. Mais la bonne, la suprême, la divine, est au-dessus des règles et de la raison. “ 118 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 376: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, dass ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als ein Glied dieser Mitwelt. […] Die Mitwelt umgibt nicht die Person, wie es (wenn auch nicht <?page no="300"?> 300 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit nötigt Objektivität. Form ist diese Objektivität als jenes Äußere, durch welches das Individuum hindurch seiner Mitwelt in Erscheinung tritt. In Descripción de la mentira heißt sie Sentenz. In der Sentenz entdeckt sich auf der einen Seite der Gedanke - in der Ökonomie der Mittel - als Geist, auf der anderen Seite das Erlebte, das Erzählte, das Symbolische als das dem Individuum zugehörige Kontingente, die verdrängte Seite des Seins. Das abgeschlossene Werk bezeichnet das Äußere des Inneren wie das Innere des Äußeren. Es ist objektiv gewordene Form. Die Sentenzen in Descripción de la mentira stellen jene Form dar, vermittelst derer der Autor im Gespräch seiner Gesellschaft in Erscheinung tritt. Das durchgehende Beharren auf dieser monolithischen Form ist ein Manifest der Einheit des Individuums als Person. Veo el caballo agonizante … aus Lápidas 119 Die transzendierende Immanenz des signum Gamonedae (VII) manifestiert sich in Lápidas im Unterschreiten der kategorialen Grenzen vermittelst der Anheimgabe der Metapher in der Form des Symbols an den Stoffwechselhaushalt des Individuums. Mit Lápidas vermisst der Dichter seine biographische Zeit, setzt er sich zu seinem Kindsein ins Maß. Die Metapher wird damit wesentlich. Sie gerinnt zum Symbol und ermöglicht dem Dichterwort die Metabole der Erinnerung zum feinen Stoff der Atmosphäre - el olor incorpordado a mi espíritu 120 -. Die ansonsten immanent gebliebenen Erinnerungen überschreiten in der orphischen Sprache der selbsteigenen Realität des Dichters die Schwelle zur Gegenwart und offenbaren das verlorene Gesicht der biographischen Zeit. Mit der Metabole einer Erzählung in ein Erlebnis (Verwandlung des Stoffes eines erase una vez ins Präsens bei Lápidas ), in die Gegenwart der Erinnerung in der Überprägnanz des Dichterwortes, gewinnt der Autor die vergessene Seite im strengen Sinn, denn der eigene Leib gehört mit dazu) die Natur tut. Aber die Mitwelt erfüllt auch nicht die Person, wie es in einem ebenfalls inadäquaten Sinn von der Innenwelt gilt. Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird . Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes . Wenn es das auszeichnende Merkmal der natürlichen [377] Existenz der Person ist, die absolute Mitte einer sinnlichbildhaften Sphäre einzunehmen, welche von sich aus diese Stellung zugleich relativiert und ihres absoluten Wertes entkleidet; wenn es das auszeichnende Merkmal der seelischen Existenz der Person ist, dass sie zu ihrer Innenwelt in erfassender Beziehung steht und zugleich diese Welt erlebend vollzieht; so beruht der geistige Charakter der Person in der Wir-Form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentritzität.“ 119 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 268. 120 Ebd. <?page no="301"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 301 des Seins zurück, ermöglicht die Vermittlung der Zukunft mit der Vergangenheit und schreibt sich so selbst als Person in der Zeit fort. Bloques rítmicos 121 nennt Antonio Gamoneda jene Textformen in Lápidas , die der traditionellen zeilenbasierten Dichtungsform entbehren. Der Begriff scheint eine poetologische Aussage zu sein. Sie verwandelt sich jedoch in eine hermeneutische, sobald man die darin enthaltene Anweisung aufgreift, das Textganze als einzig gültige Form der selbsteigenen Realität anzuerkennen. Die Textzeilen füllen wie in der Prosa die gesamte Seitenbreite aus, kennen weder Einrückung noch Abschnitt und bestehen aus einem einzigen Block - wie bei dem Text Veo el caballo agonizante . Er gibt damit einen Hinweis auf die übergreifende Ganzheit als Grundlage des Sinns. Nicht die Zeile, das Syntagma, Paragraph oder Satz, sondern der Block auf der fernerhin leeren Seite bedeuten den ersten Einstieg des Auges in den Text. Er setzt damit ganz auf die plane Textoberfläche, nicht z. B. auf eine rhetorisch zerrissene Zeile oder das überlaufende Enjambement, auch nicht auf die von Zeilenfetzen zerklüftete Buchseite. Auf der anderen Seite bleiben semantische, grammatische, syntaktische Konventionen unberührt - z.B.: die Einheit Wort selbst. Tonale 122 , rhythmisch-metrische und phonische Mittel werden wie üblich verwandt. Da die Gliederung des Textes der Konvention - wie hier der Prosazeile - anheimgegeben ist, treten rhetorische Mittel wie Periodenbau, Alliterationen, Parallelismen und Homophonien zur Gestaltung in den Vordergrund. Mit diesem Bau tritt zugleich der Sinn, manifestiert im Satz, als weiteres Element der Gliederung auf den Plan. Die Uniformierung der Disposition des Textes und der Gebrauch der Prosazeile deuten auf die Aufgabe der Gedichtform in ihrer Vermittlung über die Metrik hin. Andererseits erhält diese Prosazeile über den gesamten Text hinweg ein metrisches Mittel mit um die 20 Silben aufrecht. Die sinngliedernden „grupo 121 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 28 f.: „Pasando a cuestiones ceñidamente formales, me [29] parece oportuno anotar que, en el conjunto de mi escritura, hay abundantes piezas que, técnicamente , son reconocibles como poemas porque su sistema de simetrías está dentro de una tradición y su aspecto es el de una organización versal o versicular, pero a partir de Lápidas y, sobre todo, del Libro del frío , estas formas de organización han comenzado a desaparecer; no permanecen líneas métricas o rítmicas; en todo caso, se trata de «bloques rítmicos». […] experimento una pérdida de conciencia respecto al género literario en que me muevo […] o sobre si, más fielmente perdido aún, estaré o no adentrándome en el aristotélico género que «carece de nombre».” 122 Quilis, Antonio, Métrica española , Editorial Ariel, S. A., Barcelona, 1975, S. 77: „El tono es el responsable del comportamiento melódico de cada verso en particular, y de la estrofa en general.“ <?page no="302"?> 302 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit fónico medio mínimo“ 123 und „grupo fónico medio máximo“ 124 rücken so als basale sinngliedernde Strukturen in den Vordergrund. Bestätigt wird diese Beobachtung durch den Gebrauch der Parataxe. Das Enjambement ist allgegenwärtig. Bestätigt die Optik die beschreibende Qualität des Textes, so die vom Autor selbst benannte Rhythmik dessen das Maß gebendes Gliederungselement. 125 Die rhythmische Großstruktur des bloque rítmico wird mit den Satzanfängen phonisch: labial frikativ, unvollständiger Reim - e-o; ie-o - und semantisch bestimmt durch die transitiven Verba des Sehens - veo … veo … - und des Fühlens - Siento … -. Das im dritten Satz konstatierende Verb des Seins - es - nimmt die beschreibende Figur der Verba afilar und acudir des zweiten Satzes auf und 123 Ebd., S. 52: „Estas divisiones no son arbitrarias o caprichiosas; responden a ciertas tendencias fonéticas del español: en nuestra lengua, cuando hablamos o leemos, el número de sílabas que emitimos entre dos pausas ( grupo fónico ) oscila normalemente entre las ocho y las once. El grupo fónico medio mínimo es el de ocho [53] sílabas; el grupo fónico medio máximo es el de once sílabas.“ 124 Ebd. 125 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 268. <?page no="303"?> Transzendierende Immanenz und orphisches Idiom 303 beschließt mit summierender Geste nach dem Doppelpunkt auch semantisch die im historischen Präsens vorgetragene Szene. Landschaft - paisaje -, Kindheit - infancia -, Körper - olor incorporado - und Geist - espíritu - finden im anbrechenden - los accesos - Alter ihre Summe. Während im ersten Satz die drei Syntagmata - caballo agonizante, pozo de aguas oscuras und gallinas a su alrededor - mit zweifacher weiblicher Kadenzendung aufbauend schließlich im männlichen Kadenzgeschehen abgeschlossen werden, wird der melodische Sprechbogen 126 im dritten Satz bei Beibehaltung der zweifachen weiblichen Kadenzendung - indiferencia, contemplación - erweitert - del hastío - noch einmal zweifach erweitert mit der Wiederholung der durch die Präposition entre eingeleiteten Syntagmata entre altas begonias und entre las grandes hojas soñolientes . Die weibliche Kadenzendung jedoch bleibt bestehen und eine Anmutung vokalischer Assonanz in den Wortendungen indiferenc í-a , hast í-o , begon i-as , hojas und soñol ie-ntes macht sich als lautliche Klammer bemerkbar. In Engführung dieser auftürmenden Struktur reiht der Satz mit dem dritten Verb der Wahrnehmung siento die weiblichen Kadenzendungen einfache formal identisch wiederholte Syntagmata - la curiosidad de los perros, la piedad de las mujeres - mit einem schlichten y aneinander und lässt diese in einem vorbereitenden Doppelpunkt kulminieren. Das Verb des Seins schließt den Text ab. Das Nomen edad ist gleich zweifach hervorgehoben. Zum ersten durch seine Alleinstellung in der letzten Zeile, zum zweiten durch die männliche Kadenzendung. Der zweite Satz kontrastiert die exponierte Kopfstellung des Verbs im ersten Satz, noch dazu iterativ mit der Kopfstellung des Nomens - rocío, crepúsculo - und der unmarkierten Stellung des Verbs an zweiter Stelle, unmittelbar nach dem Satzsubjekt. Beide meteorologische Erscheinungen erhalten menschliche seelenhafte Tätigkeiten mit afilar, acudir zugesprochen. Die weiblichen Kadenzendungen von amarillos und pupilas spielen den unvollständigen Reim i-o, i-a an. Das syndetische y verbindet zwei Hauptsätze. Der zweite beschließt diese Sequenz, doch entgegen der Erwartung des Endes wird eine Klammer eingeschoben mit einer Aneinanderreihung von drei Syntagmata, von denen allein das letzte mit einer Verbalaktion durch ein Partizip versehen ist. Dieses beschließt die Reihe der Epiphanien in der Klammer. Sie spreizt den angespielten Sprechrhythmus des 2. Satzes, während die Zeugenschaft des Sprechers im dritten Satz - veo … - durch das zweifache Syntagma mit der präpositionalen Einleitung entre diese im häuslichen Sein sicher verortet. 1. und 3. Satz zeichnen die Kartographie von domestizierter Natur und Domus, zwischen denen sich die Natur im 2. Satz entfaltet. Sublimiert erscheinen domestizierte Natur - perros 126 Siehe Fußnote Nr. 122, Seite 301. <?page no="304"?> 304 Antonio Gamoneda, ein Realist der Selbsteigenheit - und häusliches Sein - mujeres - im - siento - des letzten Satzes verinnerlicht und in die Atmosphäre - olor - des Geistes erhoben. Syntaktische wie phonische Merkmale werden in Verbindung mit grammatikalischen zu einer klaren rhythmischen Struktur verarbeitet. Die Seinsbereiche: domestizierte Natur - Natur und Domus manifestieren sich in der Satzfolge. Durch die Figur der Prosopopeia im zweiten Satz wie der apostrophischen Zuschreibung - serenidad - und deren Umspielung mit den Konzepten von sombra und vor allem serenidad werden Domus und domestizierte Natur (Vorstadthof) miteinander verschränkt und im letzten Satz mit der Engführung: perros - mujeres zur Essenz des Alters - edad - vergeistigt. Die ephiphanisch erscheinende Natur im 2. Satz wird durch die unmarkierten Wortstellungen lyrisch anaisthetisch ( afilar und acudir sind keine Verben der Wahrnehmung, sondern des seelenhaften Tuns) tagtraumhaft besungen, während die Zeugenschaft mit veo den Blick des an seiner erweiterten Wirklichkeit teilnehmenden Realisten schildert 127 . Die Teilhabe an dem Seinsbereich des individuell Wirklichen zeigt sich zum einen wieder an der maßhaften Einordung der begonias in der Bezeichnung: altas , zum anderen an der aposthropischen Benennung ihrer Blätter als soñolientes . Das Kompositum selbsteigene Realität-- realidad subjetiva ist gelebte wie geschöpfte Wirklichkeit des Dichters als Realist des Wirklichen. Mit der Wahl der Prosazeile, der Gliederung durch den Satz, die Rhythmisierung der Syntagmata und die Parallelisierung der Syntaktik, unterstützt durch die Phonetik, neigt sich der Text dem Modell des Prosagedichtes zu. Allerdings widersprechen diesem Befund die dicht komponierten formalen Bestandteile, seine Kürze wie die Abwesenheit eines prosaischen Erzählduktus - es fehlt der Eindruck eines erase una vez . Der Ausdruck bloques rítmicos bezeichnet die beiden wesentlichen formalen Bestandteile des Textes. Miguel Casado nennt sie estampas 128 . Einer Einprägsamkeit oder Überprägnanz dieser Art entsprechen die Texte durchaus. Eingerahmt vom bloque , angeleitet vom Satz, führen Arsis, Thesis und Synesis die Artikulation des rhythmisch-phonischen Kadenzgeschehens und Thesis, Parathesis und Synthesis die Artikulation des syntaktisch-semantischen Geschehens. Beide gemeinsam leiten die Koordination von Auge, Atmung und Sinn auf dem Weg zur Einheit der bewegten Bewegung, der Bewegung zweiter Ordnung, der Einheit des Rhythmus - bloque rítmico - und des Sinnes an. 127 Siehe Fußnote Nr. 164, Seite 259. 128 Casado, Miguel, El curso de la edad , Abada Editores, Madrid, 2009, S. 69: „Así, a través de conexiones superficiales, de los datos que sitúan en el espacio y el tiempo, de la entonación narradora, se aprecia la voluntad de conseguir un hilo en que se engranan, hasta convertirse en trama narrativa, un conjunto de estampas que, en sí, parecen aisladas.“ <?page no="305"?> Resümee 305 Resümee Wurde in Blues castellano die Zeile als Form dramatisch in das Bedeutungsgeschehen eingebunden, ist es in Descripción de la mentira die Langzeile oder die gebündelte Zeile, die Sentenz, während sie in Lápidas aus der entsprechenden Form des bloque rítmico besteht. Die bloques rítmicos befinden sich näher an der Prosa oder am poème en prose 129 . Der Verzicht auf Zeilen- oder Strophengliederung verweist das rhythmische Geschehen an rhetorische Redebestandteile, an den Periodenbau, Parallelstrukturen und die an den Satz gebundene Alliteration. Damit verflacht das Skandieren. Doch die aufeinander verweisenden Formbestandteile und die konstruktive Dichte wie die Abwesenheit einer erzählerischen Handlung unterstützen ihre Einheit, entheben sie der Zeit und erheben sie ins poetisch Allgemeine 130 . Eine Dramaturgie der Lesung ersetzte also das Skandieren durch eine die Form betonende gebundene Sprechweise. Im orphischen Idiom - der Organisation des Rhythmus als Phänomen zweiter Ordnung - gelingt dem signum Gamonedae (VIII) die Versammlung der wirkenden Wirklichkeit des Seins in Rhythmus und Zeichen, und die selbsteigene Realität-- realidad subjetiva erscheint im Kleide der schönsten aller Bänder , der Proportion, jenem Maß also, das nach Platon durch seine Verhältnismäßigkeit allein den Zusammenhang als Einheit stiftet. 129 Antonio Gamoneda äußert seine Bedenken am Konzept der Form des poema en prosa . Siehe: Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 40 f.: „[…] ocurriendo además que poesía, novela, cuento, ensayo y teatro andan en promiscuidad o con las fronteras desam- [41] paradas, y que, al tiempo, aparecen esforzadas clasificaciones como pueden ser las de poema en prosa o novela lírica, aparte de numerosas piezas que se dan inclasificables y se sitúan más allá, incluso, del mestizaje.“ 130 Aristoteles, Poetik. (Übersetzt und Herausgegeben von Manfred Fuhrmann). Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982, S. 32, 1451b ff. <?page no="307"?> DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Annäherungen und Anmerkungen an die Werke Antonio Gamonedas anhand eines leitenden Themas der Interpretation aus philosophisch-anthropologischer Perspektive Descripción de la mentira 1 Bestimmung und Einleitung Descripción de la mentira ist ein Monolog 2 in der Art der Sentenz und im Langvers verfasster Dichtergesang mit dem Ziel der Restauration der Person durch Teilhabe am Geistgeschehen der Gesellschaft mit der Frage nach moralischer Verantwortung und in einem Moment, in dem diese gerade dabei war, sich dem allgegenwärtigen Schweigen zu entwinden. Der Mensch ist nun einmal hinter sich gekommen 3 . Er kann diesen Standpunkt nicht wieder verlassen, er kann nicht in das Bewusstseinsstadium des Tieres zurückkehren, so sehr er es auch wollte. Er ist damit in seine Welt gestellt. Er muss in dieser mit seinem inneren Zerwürfnis leben und darin zurechtkommen. Davon legt die exzentrische Positionalität Zeugnis ab. Zwischen ihm und ihm selbst, sich und ihm liegt die Welt der Anderen, die er ob seines eigenen Zerwürfnisses als seine Mitmenschen anerkennen kann. Weil der Mensch abständig 1 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 171-- 222. 2 Marchese, Angelo & Forradellas, Joaquín (Hg.), Diccionario de retórica crítica y terminología literaria , Editorial Ariel, S. A. Barcelona, 1986, S. 273. 3 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 362 f.: „Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten [363] Körpers ist ihm selbst gegeben. Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus der Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich , der »hinter sich« liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt und damit die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewußtsein vollzogen.“ <?page no="308"?> 308 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE von sich selbst leben muss, hat er Welt und weiß um die Existenz der Anderen. Er erkennt sich in ihnen, wie sie sich in ihm erkennen. In immer neuen Versuchen sucht er sich ein Gleichgewicht zu erringen und gebiert damit die Geschichte, auch seine Geschichte, die Geschichte seines Lebens, unweigerlich und unerbittlich verflochten in und mit dem Tun und Leiden der Anderen 4 . Die Lockerung des Seins, die er durch seine innere Abständigkeit zu sich errungen hat, fordert von ihm Rechenschaft über sich und über Andere, denn er lebt nicht allein und kann als Mensch nicht alleine leben. Exzentrisch steht er im Zentrum seiner selbst. Er steht in Selbststellung zu sich und erlebt sich zugleich mit seiner Innen-, Außen- und Mitwelt. So wird er zur Person. Denn so, wie er zu sich in Selbststellung steht, steht er in Fremdstellung zu Anderen. Als ein solches Ich behauptet er sich und wird von anderen behauptet. Er steht in der Wir-Form des eigenen Ichs 5 , und er erfährt diese Form als des Menschen ureigene Sphäre, als die Sphäre des Geistes, und er lebt sie kraft seines Seins als Person. Der Mensch steht in sich, abständig von sich in seiner Welt der Anderen. Nichts anderes meint exzentrische Positionalität , nichts anderes Geist und nichts anderes bedeutet die Lockerung des Seins durch das Leben des Menschen in seiner Geschichte. Wahrhaft sind in dieser Wirklichkeit des Geistes Einzahl und Mehrzahl gleichgültig, da jede Person nur Person ist, insofern sie Teil hat an der Gesamtheit des Tuns und Leidens der Anderen. 4 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 416 f.: „In der Expressivität liegt der eigentliche Mo- [417] tor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens. Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen und auch wirklich geben , wird der Mensch zugleich aus ihm wieder herausgeworfen, um es aufs neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen. Ihn stößt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit weit aus der Ruhelage, in die er wieder zurückkehren will. Aus dieser Grundbewegung ergibt sich die Geschichte. Ihr Sinn ist die Wiedererlangung des Verlorenen mit neuen Mitteln, Herstellung des Gleichgewichts durch grundstürzende Änderungen, Bewahrung des Alten durch Wendung nach vorwärts.“ 5 Ebd., S. 376 f.: „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird . Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes . Wenn es das auszeichnende Merkmal der natürlich- [377] en Existenz der Person ist, die absolute Mitte einer sinnlichbildhaften Sphäre einzunehmen, welche von sich aus diese Stellung zugleich relativiert und ihres absoluten Wertes entkleidet; wenn es das auszeichnende Merkmal der seelischen Existenz der Person ist, dass sie zu ihrer Innenwelt in erfassender Beziehung steht und zugleich diese Welt erlebend vollzieht; so beruht der geistige Charakter der Person in der Wir-Form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentritzität.“ <?page no="309"?> Descripción de la mentira 309 Der Dichter als Person Für einen Dichter besteht die Teilhabe am Tun und Leiden der Anderen vorrangig in der Schaffung seines Werkes. Schweigen bedeutet ein Verschwinden, vielleicht gar ein Verlöschen und den Untergang als Person. Antonio Gamoneda schwieg fast zehn Jahre lang, „quinientas semanas“ 6 , bevor er 1976 Descripción de la mentira veröffentlichte. Mit diesem Langgedicht brach sich seine neue Sprache Bahn. Zwar können wir einen virtuosen Umgang mit dem versículo konstatieren 7 , doch traditionelle Verszeilen und Gedichtformen hinter sich lassend und auch keine erneute Anlehnung mehr an außerdichterischen Modellen wie an den nordamerikanischen Blues mehr suchend, sprengt das Werk Grenzen und setzt das Diktum des genreüberschreitenden Dichtens konsequent um. Über fünfzig Seiten hin ergießt sich der Gesang. In seinen Dimensionen schon eine Art Index der sich im langen Schweigen angesammelten enormen Energie. Neben seiner Länge zeugen aber auch Abschnittsvielfalt, Zeilenvielfalt und Variabilität von dem ungeheuren und kaum zu bändigenden Andrängen der Worte 8 . Wie Stahlseile 9 sind die Verszeilen in das Weiß der Seiten gespannt, und im Wechsel von Schrift und Leere werden die Wortfolgen auf einer blanken Bühne inszeniert. Unterschiedliche Textlängen und Tempi treiben auf diese Weise eine ureigene Dramaturgie des Lesens - und Hörens - hervor. Das Auge ergreift die Zeile und den dazwischen liegenden Leerbestand, wie es in der Architektur Bewegung durch Selbstbewegung simuliert 10 . Es eilt im- 6 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 174: „Durante quinientas semanas he estado ausente de mis designios, […]“. 7 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 45: „Junto a su proceso conceptual, una de las claves de la personalidad y la fascinación de Descripción de la mentira es, sin duda su planteamiento rítmico, el vigoroso y creativo uso del versículo que hace Gamoneda.“ 8 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173: No creo en las invocaciones pero las invocaciones creen en mí: han venido otra vez como líquenes inevitables. 9 Die Metapher der Stahlseile soll die Spannung - in Brust und Zwerchfell - ausdrücken, welche sich im langen Atem niederschlägt, der notwendig ist, damit die Skansion der langen Zeilen ihre Durchführung erfahren kann. 10 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 266 f.: „Die klare Ausgewogenheit einer romanischen Kirche, die uns zu vollkommener Ruhe, zu gleichmäßiger Anlehnung an die Wandflächen bringt, die emporreißende, schmal-spitzige Exaltation des gotischen Raumes, sein strebener, löcheriger und skellettierter Leib, die wirbelnde, schwingende, [267] knetende Dynamik des Barock, sie alle mögen nur das eine Apriori alles Architekturverständnisses in Erinnerung bringen. Einschmiegung, Mitgehen, Abtasten, Ausgefülltsein, die tausend Arten, in Haltungen zu leben und durch Haltungen dem schweigenden Bild der Räume und Flächen eine <?page no="310"?> 310 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE merzu zwischen dem Ergreifen der Worte wie der Zeile, der Verfolgung ihrer und dem Einbruch in die weiße Leere hin und her. Dadurch entsteht ein Leserhythmus mit eigener Dramaturgie. Graphische und rhetorische Elemente - wie Einrückungen, Zeilenabstand oder Alliterationen etc. - modellieren das Erscheinungsbild des Langgedichts, bis sich eine ihm allein angemessene graphische Partitur im Sinne einer Regieanweisung für das Lesen ergibt. Auge, Atmung und Artikulation werden in den Rhythmus von Zeile - Arsis - und Leere - Thesis - hineingespannt und vermitteln so dem Geist den Text - Synesis - 11 . Gespeist aus der langen Stille des Dichters und dem nun eloquent gewordenen Vergessen - El olvido entró en mi lengua - 12 , manifestiert sich in seiner Vielgestaltigkeit und Dramatik die Gegenwart eines inneren Zerwürfnisses der Person und seiner nun mehr unabwendbaren Auseinandersetzung damit. La contradicción está en mi alma como los dientes en la boca que habla de misericordia. 13 Der Name dieses Zerwürfnisses ist Lüge - mentira . Ihrer Beschreibung - descripción - wohnen wir also bei, und zwar in epischen Dimensionen und historischer Situierung: Ciertamente es una historia horrible el silencio pero hay una salud que sucede a la desesperación. 14 Doch wer ist der Held dieses Epos? Welcher Taten kann er sich rühmen? Welche Schlachten hat er geschlagen? Der Name des Helden ist unbekannt, ein einfaches Ich, ein yo , seine Taten sind wenig rühmlich: unmittelbare Beziehung zu mir zu geben, sind die Wege, Architektur zu verstehen. Stets müssen wir solche Abbildung auf den eigenen Leib und sein ideales Ausdruckssystem empfinden, um den Sinn eines Gebäudes auszukosten.“ 11 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 220. 12 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173. 13 Ebd., S. 220. 14 Ebd., S. 181. <?page no="311"?> Descripción de la mentira 311 La cobardía es el único don de la imposibilidad y la cobardía entró en mí y empezó a existir una dulzura que para vosotros habría sido despreciable; 15 und seine Schlacht ist die Suche nach Würde: No es una glorificación, no es que la púrpura haya caído sobre mis huesos; es más hermoso y antiguo: alentar sobre el vinagre hasta volverlo azul, adelantar un cuchillo y retirarlo húmedo de una exudación que dignifica al esgrimidor. 16 Doch gibt es Würde ohne Wahrheit? Was kann die Beschreibung der Lüge zur Wiedererlangung der Würde leisten? Deshalb stellt sich sogleich die Frage nach der Wahrheit: ¿Qué es la verdad? ¿Quién ha vivido en ella fuera de la dominación? 17 Ein autonomer Wahrheitsbegriff wird mit dieser Zeile grundsätzlich in Frage gestellt. Es heißt dort weiter: ¿Cuál es mi verdad? ¿Cuál es mi alimento sin vosotros? ¿Quién juzgará a quien ha traicionado la traición? 18 Der hier verfolgte Lösungsweg besteht darin, die Frage nach Wahrheit und Lüge hintanzustellen, um gerade damit seiner Erinnerungen und seines durchlebten Lebens nicht verlustig zu gehen, sondern im Gegenteil seiner Erinnerungen eingedenk werden zu können, ihnen Gehör zu schenken und das Bewusstsein und die Gegenwart zu stärken, Freiheit zu erringen und seinen Status als Person zu erneuern: La pregunta es un ruido inútil en el idioma que sucede a la juventud 19 sowie Es otra complexión, es otra cólera la que me concierne: mi madre es fértil en la cobardía; mi corazón, temible en la dulzura. 20 15 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 193. 16 Ebd., S. 176. 17 Ebd., S. 179. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 180. <?page no="312"?> 312 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Allein auf diese Weise erhält das Vergessen und alles, was mit ihm untergegangen war, die Möglichkeit, wieder lebendig zu werden, zur Sprache zu kommen, zu einem Idiom zu werden, das die Unreife der Epoche hinter sich lassen kann. Descripción de la mentira ist die Antwort auf diese Herausforderung und die Sprache bzw. der Gesang, in dem sich cólera , fertilidad und dulzura manifestieren können. Es ist das Idiom des wahrhaftigen Eingedenkens des Vergessenen, das auf seine Bearbeitung drängt, auch wenn diese innere Auseinandersetzung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt: No me busques en la justicia. No encontrarás mi cuerpo en iglesias ni en profecías insufribles como los tábanos en la lengua de los animales muy enfermos. 21 Sie ist gerade deshalb gewissenhaft und wahrhaftig. Esta perplejidad es la conciencia. El miedo ejerce de pastor, pero no sabes más de ti que un animal absorto sobre el agua. 22 Die Einheit der Sinne 23 und der Text Die Sprache von Descripción de la mentira selbst ist der erste Zeuge des Grades der Bestürzung in der Seele jenes yo , welches von den Invokationen 24 heimgesucht wird und den Stimmen des Gesanges vorsteht. Angeführt wird der Text von einer gustatorischen Vermittlung eines geistigen Inhalts, der Erinnerung: El óxido se posó en mi lengua como el sabor de una desaparición. 25 Als Reaktion darauf ändert sich die Haltung des Sprechers: no tuve otra conducta que el olvido 26 , und er wählt das Unmögliche: y no acepté otro valor que la imposibilidad 27 - eine ethische Entscheidung. Dann lauscht er den ihn heimsuchenden Anrufungen. Nun spürt er das Gären des Sommers in sei- 21 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 183. 22 Ebd., S. 220. 23 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III. 24 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173. 25 Ebd., S. 173. 26 Ebd. 27 Ebd. <?page no="313"?> Descripción de la mentira 313 nem Herzen - vermittelt durch zuständliche Modalität 28 - und ihm erscheinen Gesichter - vermittelt durch die Einbildungskraft, ein seelisches bzw. geistiges Vermögen 29 , als wären diese selbst Teil seiner Augen, Worte und Ohren. Wir werden damit Zeugen der Einverseelung äußerer Wirklichkeit in den Seeleninnenraum. Diese Gesichter sind reine Erscheinung, denn ihnen fehlt, was wirklich Seiendes ausmacht, die Schwere und die Widerständigkeit der Welt: Vienen rostros sin proyectar sombra ni hacer crujir la sencillez del aire; sin osamento ni tránsito, como si consistieran únicamente en el contenido de mis ojos, en la unidad de mis palabras, en el espesor de mis oídos. 30 Gesundheit (zuständliche Modalität) und Freundschaft (geistiger Wert des Milieus) stellen sich ein und werden von sanften Händen zusammengesponnen: es un estambre urdido por manos que son suaves en el interior de los días. 31 Später heißt es Nuestra dicha es difícil recluida en la belladona y en recipientes que no deben ser abiertos. Sucio, sucio es el mundo; pero respira. Y tú entras en la habitación como un animal resplandeciente. 32 28 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 271: „Aber, und das ist das Entscheidende, was auch immer wir erleben, wie auch die Weise des Erlebens sein mag, zur Gegebenheit des Psychischen gehört notwendig eine bestimmte sinnliche Erregtheit meines Leibes. Psychisches kommt nur in und mit Daten des eigenen physischen Zustandes zum Erlebnis.“ 29 Ebd., S. 216 f.: „Denn psychisches Sein spiegelt im Erlebnis den Gegenstand und [217] gehorcht der syntagmatischen Form, da es mit ihr die Struktur der Präzisierbarkeit teilt, wie es oben auseinadergestzt worden ist.“ 30 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 173 f. 31 Ebd., S. 174. 32 Ebd., S. 177. <?page no="314"?> 314 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Als schwierig erkennt - ein rein geistiger Akt - der Autor ein Glück - dicha - , das zudem noch in der Tollkirsche entfremdet ist, aber somit seine sinnlich-seelische Erscheinungsweise erfährt. Die Welt erscheint schmutzig - ein reines Geisturteil. Körperliche, seelische und geistige Inhalte werden vermittelst der Sprache präzisiert, eindeutig und insofern zu mitteilbaren Gehalten 33 . Die Sprache erschafft dadurch einen interindividuellen kommunikativen Raum. Der Dichter bewegt diesen Raum in seinem Sinne und im Rhythmus von Thesis 34 , Rede, und Parathesis, Erwiderung, fügt sich der Gedanke zur Synthesis. Wie Arsis, Thesis und Synesis als Ausdruck der geformten Materialität der Sprache diese dem Auge, der Atmung und der Artikulation vermitteln, so vermitteln Thesis, Parathesis und Synthesis als Ausdruck der Gliederung der Sprache diese dem Verstehen. Wie es für Antonio Gamoneda einen musikalisch-prosodisch vermittelten Diskurs in der dichterischen Rede gibt, so auch einen ebensolchen musikalisch-ideell vermittelten Diskurs. Dicho de otra manera: estaríamos en que el discurso artístico resulta de la implicación de un discurso musical en un discurso [50] significativo. A esto quería llegar para hacer razonable esta corporeidad, física en principio, que pretendo hacer valer como distintiva y necesaria en la «obra de arte cuya materia es el lenguaje». […] Aquí hay que contar con «otra rítmica» que antes apunté, con la rítmica «ideal», es decir, con la rítmica que concierne la manera de articularse las significaciones, la que comporta temporalización, es decir, memoria de pensamiento. Y esta rítmica y la del cuerpo 33 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 79: „Anschauung ist, ohne an Dasein (wie anschauliche Phantasmen, Phantome beweisen) des Angeschauten gebunden zu sein, das Vergegenwärtigen eines distinkten Inhalts in präsentativer Form. Sie bezeichnet ein Bewußtsein, das in klar umschriebener Weise ein qualitativ in sich Bestimmtes gegeben vorfindet und als Gegebenheit hinnimmt. Das Gegebene steht für nichts, sondern ist bloß da und bringt sich dar in größerer oder geringerer Klarheit und Deutlichkeit. Was sich darbringt, hängt ab von der Haltung der Person, die aus der Fülle des Seins die entsprechenden Gehalte gewinnt, weil zu ihnen in entsprechende Einstellung kommt. Anschauungen können darstellbar, präzisierbar, prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von solchen Gehalten, die physisch-intersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern oder Leibern oder psychisch-interindividuell erscheinen. Darstellbar ist jede direkt abbildbare ausgebreitete Gestalt, einerlei ob sie wirklich oder imaginiert ist, einem Raum angehört oder nur anzugehören scheint. Indirekt durch Bewegungen etwa, Reaktionen irgendwelcher Art (Laute, Zeichen usw.) eindeutig festlegbare und insofern mitteilbare Gehalte, die sich zwar nicht abbilden lassen, ohne aber darum an Bestimmtheit in der Gegenwart und interindividueller Gegebenheit einzubüßen, sind präzisierbare Anschauungsgehalte.“ 34 Siehe Ebd., S. 220. <?page no="315"?> Descripción de la mentira 315 físico han de integrarse, y por ello son dos estructuras musicales —la sensible y la de las significaciones— las simultáneamente activas en el lenguaje artístico, 35 Beide Vermittlungsebenen sind in der Sprache - wie in jeder objektivierten Vermittlung überhaupt - notwendig gegeben. Der Künstler bestimmt ihre Rollen in der Schaffung seines Werkes, und je nach Mischung und Übergewicht des einen oder anderen vermeinen wir uns in unterschiedlichen Genres zu befinden. y, según domine una u otra, y según se suceda la imaginería y la especie de los significados, y según que la actividad del autor se exhiba o tienda a ocultarse, así creeremos estar en un género o en otro. 36 Aber genau dies sei nicht der Fall, denn es handele sich eigentlich nur um graduelle und keine kategorischen Unterschiede: Pero no; se trata únicamente de diferencias de grado y de posición; entre los presuntos géneros no hay diferencia esencial. 37 Beziehen wir die Frage nach den unterschiedlichen literarischen Genres und ihrer inneren graduierenden Vermittelbarkeit zurück auf den Aufbau des erkenntnistheoretischen Apparats des logostransparenten Körperleibes, wie ihn Helmut Plessner in seiner Ästhesiologie des Geistes 38 vorschlägt, so können wir konstatieren: Die innere Vermittelbarkeit und Zusammengehörigkeit themati- 35 Antonio Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 49 f. 36 Antonio Gamoneda äußert seine Bedenken am Konzept der Form des poema en prosa . Siehe: Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 50. 37 Ebd. 38 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 190 f.: „Syntagmatisches Bedeuten verfährt gliedernd nur durch Sprache und Schrift. Bedeutungen beziehen sich zwar auf alle Anschauungs- und Sinngehalte, fassen aber erst da, wo Gliederung möglich ist. Nun läßt sich die psychische Wirklichkeit niemals darstellen, sondern man kann ihrer unmittelbar nur innewerden und ihre Gehalte präzis bezeichnen. Also fällt die Form ihres Gehalts mit der Funktion der Gliederung restlos zusammen, syntagmatisches Bedeuten deckt sich in der Form mit Bezeichnen von seelischem Gehalt. Erst durch Spiegelung in der Schicht des Erlebens gewinnt die Sprache Ausdehnung über alle Gegenstände der Welt und nur durch Sprache (und Schrift) weiß der Geist in Bedeutungen zu gliedern. Thematische Sinngebung leistet die Kunst durch Formung ihres jeweiligen Materials nach Maßgabe reiner Proportion. Was die Künste verschieden macht, sind die Sujets und die Mittel der Formung … [191] … Alle Arten Anschauungs- und Sinngehalte werden aber erst materialreif, wenn das allein von ihnen genommen wird, was unerläßlich zum Stoff ist, nämlich ihre empfindungsstofflichen Werte, ihre hyletische Prägnanz. Und wieder zeigt sich etwas Merkwürdiges. Neben der hyletischen gibt es noch eine eidetische Prägnanz, wie sie im reinen Erschauen eines Wesens, einer Idee auftritt. […] Also kommen Idee und thematische Formung darin überein, Bedingungen konkreter, künstlerischer Gestalten in allen Sinnesgebieten zu sein.“ <?page no="316"?> 316 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE scher bzw. musikalischprosodisch vermittelter Zusammenhänge mit syntagmatischen bzw. musikalisch-ideell vermittelten Zusammenhängen stützt die Idee der nichtkategorialen Genreunterschiede im künstlerischen Diskurs. Transparenz ist dann der Name für die Vermittelbarkeit bzw. den stufenweisen Zusammenhang zwischen physischen Phänomenen - wie Laut und Rhythmus - und seelischen bzw. geistigen Phänomenen - wie Idee und Gedanke - und dem Logos als ihrer gemeinsamen Vermittlungsbasis. Das orphische Idiom und die Hermetik Antonio Gamonedas Erinnerungen, innere Befindlichkeiten, Urteile und Entscheidungen im Wechsel mit Reflexionen, Landschaftsbilder, die Flucht der Jahreszeiten und der Stadt mit ihrem Treiben, allgemeine Not und Schmerz, Portraits, häusliche Szenerie, das Heraufbeschwören der Anklage und der Invokationen im Wechsel mit Apologie und argumentativer Dialektik, dies ist der epische Stoff 39 von Descripción de la mentira . Doch weder Heldentaten noch ein Ausplaudern von Intimität bestimmen das Geschehen, denn kaum je wird ein Personenname oder ein Name überhaupt genannt. Generisch werden Orte und gesellschaftliche Verhältnisse aufgerufen, ein Sommer, ein Zimmer, die Töchter etc. gerade soviel, um eine spanische Provinzstadt im 20. Jahrhundert zu zeichnen, mit ihren gewöhnlichen Attributen und Außenbezirken, ihrem Gemenge von Urbanität und Ruralität, ihren Bewohnern und Gebäuden, mit ihren allüblichen Einrichtungen, der Kathedrale, Marktplatz usw., auch den Wohnstätten der Einwohner, in Andeutungen gezeichnet. Die Nennung der Akteure vollzieht sich primär durch die Verwendung von Pronomina 40 . Damit jedoch kann jedes Ich zu einem Du, jedes Du zu einem Ich, jedes Wir ein Ihr, ein Sie werden. Denn die Grenzen zwischen innerem Dialog 39 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 34: „Viniendo de la lectura de los bloques textuales anteriores, estas contradicciones resultan coherentes, forman parte de un mismo proceso; en realidad, toda la poesía de Gamoneda podría leerse como una historia seguida, llena de intertextualidades y ecos, casi como un solo argumento.‟ 40 Ebd., S. 41 f.: „El relato, como casi todo relato, tiene sus personajes. La forma en que aparecen es uno de los principales soportes de la ambigüedad que lo caracteriza. Algunos personajes son mencionados sin intervenir en la acción -«mi madre», «mis hijas»-, sirviéndole a ésta como una especie de marco, delimitación de un ámbito, en vez de protagonizar el texto como ocurría en Blues castellano o volverá a ocurrir con la madre en Lápidas . Salvo esas alusiones, el nombre de los personajes se reduce al uso de los pronombres: yo, tú, nosotros, vosotros, un «ellos» genérico. Pronombres que, dada la fluctuación de los conceptos y la agitada subida a la superficie de las conclusiones, son difíciles de fijar de forma estricta. Carecen de todo tipo de caracterización física, de rasgos sociológi- <?page no="317"?> Descripción de la mentira 317 und Gespräch bzw. Ansprache sind nicht sicher markiert. Diese Unschärferelation ergreift auch den Plural. Intime, private Gedanken und Lebenssituationen werden auf diese Weise in einem pronominalen Stil abgehandelt und damit anonymisiert, wie ein sich in einem kollektiven Bewusstsein abspielendes Geschehen. Die Pronomina stellen die Protagonisten auf der Bühne des Bewusstseins dar mit dem Leser als Zuschauer und dem Autor als Chor. Seine begeisterten Visionen bzw. Invokationen bilden das Geschehen. Da spricht ein Ich im pronominalen Kleide Vieler, ein wahrer kollektiver Seelentanz, ein Hexensabbat auf der Bewusstseinsbühne eines Einzelnen, der in den Wir-Formen des Ichs sich erklärt, oder ein Ich und dessen Spiegelungen: ein Du, ein Er/ Sie , ein Ihr, ein Wir und ein Sie ; ein kollektives, oder besser ein exemplarisches Ich - stellvertretend für viele und doch ganz eigen -, das sich mit sich selbst auseinandersetzt und Themen an aller statt verhandelt. Wir werden also Zeuge eines Geistgeschehens im poetischem Idiom. Sobald jedoch Manifestationen der Geistsphäre im Spiel sind - und Sprache ist eine Manifestation des Geistes -, gibt es einen Überlauf an Verstehen, und Kommunikation ist besiegelt oder, anders gesagt, garantiert. Denn verstünde der Leser in der Tat nichts von dem, was er sieht, könnte sich Irritation niemals einstellen. So aber versteht sich der irritierte Leser als ein solcher, und dieses Selbsterlebnis lässt ihm seine Person fühlbar und den Text plastisch werden. Umgekehrt ist damit zugleich ein Ausweis für das Gegebensein der Geistsphäre erbracht, da jenes Mehr an Verstehen als Möglichkeit noch vor dessen Eintritt ins individuelle Bewusstsein existiert. Was bedeutet dies hinsichtlich der vielzitierten Hermetik der gamonedaeischen Dichtung? Als erstes bedeutet es, dass die Kommunikation zwischen Leser und Text grundsätzlich garantiert ist. Danach bedeutet es, dass dies prinzipiell die Möglichkeit des verstehenden Umgangs mit dem Text ausdrückt, und schließlich, dass die Zitierfähigkeit des Textes eingeschränkt ist, da herausgelöste Bruchstücke nicht mehr intelligibel interpretiert werden könnten. Auf diese Weise kann der Autor seinen Text vor Missbrauch schützen. Die Abständigkeit des gamonecos e ideológicos estables y sugieren una continua movilidad. El propio Gamoneda lo ha enunciado así, al referirse a un término clave del poema: El rostro es una realidad multiple y cambiante. No es mi rostro, no es un rostro real, son todos los rostros posibles. Son los rostros del recuerdo, del deseo, los rostros invisibles, los que conozco. El rostro es una posibilidad de diálogo. El rostro es el otro. Pero […] ese otro puede ser yo mismo al tiempo.“ <?page no="318"?> 318 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE daeischen Idioms zur Alltagssprache sichert seine Inhalte vor Veruntreuung und ermöglicht den Widerstand. La rebeldía lingüística, lo que algunos llaman irracionalismo, es el único medio de implicar creación y sentido, insisto, en una escritura que ha de ser inseparable del vivir y el morir en un mundo cruelmente manipulado. Esta rebeldía es el espacio actualmente natural y necesario de la escritura poética, de la escritura de creación y revelación , la escritura que se deduce del que, sin grandes reparos, podemos llamar lenguaje órfico . 41 Die dionysische Prozession der aus dem Vergessen herandrängenden Visionen von Descripción de la mentira werden in der Langzeile gebannt und musikalisch-prosodisch versammelt. Die orphische Kunst zivilisiert die Invokationen zum Gesang und erneuert die existenzielle Balance, die Mitte, die der Mensch zum Leben benötigt. Jene Mitte, die ständig zu verlieren er fürchten muss, die ihn aber erst zu demjenigen macht, der er ist. Denn sie stellt das Ergebnis jener Entwicklung dar, mit der er erst hinter sich gekommen ist und die ihn vor den anderen Lebewesen auszeichnet. Mit der Metamorphose der Invokationen zum epischen Gesang befriedet der Dichter deren zerstörerische Natur und versöhnt den Menschen so mit seinem Leiden, einem Leiden, das er selbst auf sich gebracht hat. Das orphische Idiom führt den Menschen mit Hilfe des Gesangs zu sich selbst zurück, zur bewegten Mitte, der musikalisch gebundenen Aussage zwischen dem Aufstöhnen der gequälten Seele und dem Lustgebrüll der dionysischen Horden. Das orphische Idiom Antonio Gamonedas gibt damit einen Fingerzeig auf einen Weg aus dem gesellschaftlichen Konflikt und überschreitet die von Natur und Konvention 42 errichteten Grenzen. Die Lockerung des historisch beschwerten Seins durch die Affirmation der Person vermittelst der monolithischen Form der Langzeile und des Langgedichts zeigt die transzendierende Immanenz des signum Gamonedae (IX) im orphischen Idiom. 41 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 22. 42 Die Wiedererlangung der inneren Balance des aus dem Gleichgewicht geratenen thymotischen Seelenteils scheint mir eine der wesentlichen Eigenschaften der Dichtung Antonio Gamonedas - so wie bei Friedrich Schiller in seiner Ode an die Freude ausgesprochen. Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, Dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, Was der Mode Schwert geteilt; Bettler werden Fürstenbrüder, Wo dein sanfter Hügel weilt. <?page no="319"?> Lápidas 319 Lápidas Die Inszenierung des Textes Während in Descripción de la mentira die prosodisch geordnete Langzeile und die variable Abschnittsgliederung das Gesicht des Gesangs durchgehend beherrschen, finden wir in Lápidas eine ganz andere Struktur vor: eine klare Gliederung in vier Abschnitte und ein den jeweiligen Abschnitt eindeutig dominierendes Textbild wie Zeilenart, Zeilenverteilung und Zeilenblöcke. Dieser Gedichtaufbau leitet den Leser zu einem anderen Leseverhalten als in Descripción de la mentira an. Die individuelle Buchseite wird zur Bühne, auf welcher der Text in Szene gesetzt wird. Beim Umblättern wird er wie ein Aufziehen des Vorhangs aufgeschlagen und dem Blick freigegeben. Auf einen Schlag und als Ganzes erfasst das Auge die Szene und isoliert im Weiß der Seite die schwarzen Zeichen. Nur ein Gedicht von Lápidas geht über eine einzelne Buchseite hinaus: Tú en la tristeza … 43 Es nimmt eine Doppelseite ein, bedarf jedoch ebenfalls nicht des Umblätterns, und der Text präsentiert sich dem Auge wie bei allen anderen Texten auf einen Schlag. Das Auge blickt auf die Texte wie auf ein einmal aufgeschlagenes Bild. Der Leser erkennt sofort den gesamten Umfang des Textes. Er erlebt dessen Anmutung in einem einzigen Augenblick. Das Auge ergreift den Text, die Seite wie ihren Rand auf einen Schlag, und dieses Bild ist es, das ihm nun den Zugang zum Wort anbahnt: Auf der Seite im weiten Abstand verstreut liegende einzelne Zeilen verleiten zum Aufatmen und zur Konzentration auf die Artikulation der individuellen Zeile. Ein dichter Block zentral zusammengedrängten Textes ließe die einzelne Zeile zurücksinken, der Atem stockte und führte die Lesekonzentration auf einzelne Syntagmata, Sätze und schließlich zur Artikulation der Gesamtschau auf das Beschriebene. Jene Seiten, welche die Abschnitte kennzeichnen, tragen nur den Gedichttitel oder die römischen Abschnittsziffern. Ansonsten sind sie leer. Auge, Atmung und Artikulation werden durch Ziffer und Leere von Bedeutung befreit, entspannt und auf den kommenden Abschnitt vorbereitet. Zu Beginn markiert ein kursiv gesetzter Text den Eintritt in das Universum von Lápidas . Ein anaphorisches En 44 dominiert die Szene. Zitiert nach: Conrady, Karl Otto, Der neue Conrady. Das große Gedichtbuch , Artemis & Winkler, Patmos Verlag GmbH & Co. KG, 2000, S. 308. 43 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 244, 245. 44 Ebd., S. 225. <?page no="320"?> 320 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Der auf diese Weise gesetzte, pausierende, sich auf einzelne Texte konzentrierende Leserhythmus kennzeichnet die Bewegung des Auges, der Atmung und der Artikulation. Der Leser wird zum Verweilen angehalten und zur Betrachtung der individuellen Seite ersucht. Wie endgültig in Stein gesetzte Worte muten die Seiten von Lápidas - Grabsteine - an. Wir betrachten auf ihnen den Nachhall eines vergangenen Lebens 45 . Leseverhalten und die Struktur des Sehfeldes Die Struktur des Sehfeldes ist „durchaus symbolisch “ 46 . Sie entsteht durch Sammlung und Übertragung von Erfahrungsdaten aus einem Sinnenbereich in einen andern, z. B. vom Muskelaufwand das Gewicht oder vom Tastsinn die Oberflächenbeschaffenheit auf das Auge 47 . Im Moment des Erfassens eines so erfahrenen Objektes durch das Auge stellen sich dann zugleich die Erfahrungen aus Muskelaufwand und Tastsinn als schwer oder leicht bzw. rau oder glatt ein und vervollständigen den erblickten Gegenstand eigenständig in der Vorstellung. Auch weit entfernte Gegenstände unterliegen dem inneren Abruf dieser körpernahen Umgangsqualitäten. Hinsichtlich der Erfahrungsdaten eines Gegenstandes spielen Ort, Nähe oder Ferne bzw. Augenblick der Erfahrung selbst - mit Einschränkung der Veränderung in der Erinnerung bzw. deren Anreicherung - nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie sind suspendiert und der Gegen- 45 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 67, Casado zitiert Antonio Gamoneda hier mit: „Digo esto y añado que yo amo y defiendo por mí a aquella primera, distinta y dolorosa prosodia; como ésta de ahora, contiene mi memoria de la ciudad donde vivo; una memoria que empieza a ser facultad consciente (no es culpa mía, ocurrió así) con el miedo secretado por los «acontecimientos» de julio de 1936 […].“ 46 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 171: „Unsere letzte These in diesem Abschnitt ist nun die, daß die Struktur unseres Sehfeldes durchaus symbolisch ist, weil und sofern sie sich aus solchen Kommunikationsprozessen aufbaut. Dieses braune Parallelogramm ‚bedeutet‘ ein Buch, weil es sich bei weiterem Umgang in eine Serie von Gewohnheiten hineinziehen läßt, nämlich zu blättern und zu lesen. Jenes ferne Rechteck zeigt ein Haus an, weil ich bei Annäherung alle Verhaltensreihen und Eindrucksfolgen erlebe, die eben ein Haus ausmachen: man kann hineingehen usw.“ 47 Ebd., S. 170: „Bei der Wahrnehmung größerer oder entfernterer Dingmassen wird die Tastbewegung in gewisser Weise durch die Gesamtbewegung des Körpers ersetzt, oder durch solche des Kopfes. Unsere optischen Eindrücke wechseln im Zuge solcher nicht tastenden Bewegungen außerordentlich drastisch, eine Kopfwendung oder gar das Schließen der Augen bringt das eben Gesehene außer Sicht. Auch diese Prozesse sind ihrer Struktur nach kommunikativ, denn es handelt sich, genau wie bei dem Beispiel des in der Hand gedrehten Dinges, um die Unterscheidung zwischen dem Wechsel des Wahrnehmungsbestandes, der auf unsere Eigenbewegungen antwortet oder der ihnen folgt von demjenigen, auf den unsere Eigenbewegungen antworten , oder der diese zur Folge veranlaßt .“ <?page no="321"?> Lápidas 321 stand erfährt auf diese Weise eine Art der Verselbständigung, eine Abstraktion. Das Sehen ist zu einem symbolischen Sehen geworden, da die einmal gemachten Erfahrungen im Moment des Anblicks zusammengefasst aufgerufen werden. Obwohl in actu ein Verschlingen und ein Lösen von Hauch, ein Klopfen, Zischen und Drängen im Ohr, ein Leuchten und Verlöschen im Geiste, macht die Sprache sich die Ort- und Zeitlosigkeit des Prozesses des symbolischen Sehens zu Nutze. Die Sprache ist das symbolisch am weitesten entwickelte Medium, das die ganze Fülle des existierenden Einzelnen der Welt und der Menschen aufnehmen kann. Sie bedient sich akustischer oder graphischer Symbole 48 . Bei der Aufnahme eines Textes bewegen sich Auge, Atmung und Artikulation immer schon in dieser ort- und zeitlosen Welt des Geistes, werden die Körpererfahrungen bzw. die Umgangsqualitäten und Anmutungen mit dem durch den Text Aufgerufenen abgerufen. Einen Text lesen, bedeutet dann ein Vor-das-innere-Auge-Führen des aufgenommenen Textgeschehens und eine Verlebendigung des Textes in der Phantasie des Lesers 49 . Lesen ist mithin ein im körperlichen Nachvollzug erlebtes inneres Geschehen vermittelst einer Vorlage - des Textes. Und Text ist dasjenige, von dem auf den ersten Blick ausgesagt werden kann, dass es einen Inhalt hat. Er stützt sich auf Konvention und Zeichen. Die Sprache bzw. der Text erlauben es dem Menschen, über sich hinaus zu gehen und in die Vorstellungswelt Anderer einzutauchen 50 . Es findet eine Art 48 Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt , S. 173: „Es kommt biologisch durchaus erst in zweiter Linie auf die Wahrnehmung von Einzeldingen und Einzelheiten an, in erster Linie gibt die Wahrnehmung Situationen , Gesamtfelder von Umweltandeutungen, und erst die Sprache ist eigentlich das endgültige Auflösungsorgan für Situationen in Einzelheiten. Sie macht sich dann übrigens, in entwickelter Rede, den Sachverhalt symbolischer Felder selbst zu eigen: ‚Sätze‘ sind Zusammenhangsfelder von akustischen Symbolen: der Hörende entnimmt dem Satz Hörproben und vermag erst in dieser Entlastung einen Zusammenhang der ‚Hörproben‘ unter sich zum Satze aufzubauen. […] Das Sinnending Wort geht ebensowenig wie das Sehding mit der ganzen Fülle seiner konkreten Eigenschaften uns an, sondern gewisse herausgehobene Akzente genügen zur Unterscheidung der Wörter und damit der Bedeutungen.“ 49 Ebd., S. 316 f.: „Unter Einbildungskraft im allgemeinen versteht man die Fähigkeit eines Organismus, die von ihm durchlaufenen Zustände sich einzuverleiben, in sich hineinzubilden, mit dem Zweck, sich künftig auf Grund vorheriger Erfahrungen oder Zustände verhalten zu können. […] In dieser anderen Richtung, nach der Zukunft hin betrachtet, heißt die Einbildungskraft Erwartung, Entwurf oder aktive Phantasie im engeren Sinne. Palagyi hat daher in guter Einsicht die Einbildungskraft umschrieben als eine vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen. […] In der Tat wäre der Mensch als Phantasiewesen so richtig bezeichnet, wie als Vernunftwesen .“ 50 Ebd., S. 318: „[…] den wir oben aus der Beschreibung G. H. Meads referierten: to take the role of the other. Dieser Vorgang ist als ‚Nachahmung‘ schlecht bezeichnet, geht es doch um die Realisierung eines Verhältnisses zu sich selbst auf dem Wege über das Verhalten anderer. Das sich in den anderen versetzende Kind objektiviert sich vor sich, es entdeckt <?page no="322"?> 322 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE von Metempsychose unter der Anleitung eines Textes statt. Ein zudem musikalisch-prosodisch gegliederter Text steigert die innere Bereitschaft der Seele, sich der Migration anzuschließen. Sie wird enthusiastisch. Erinnerungstopologie Konnten wir in Descripción de la mentira die Kunst des orphischen Einhegens wild herandrängender Invokationen und die Rückeroberung des Gedächtnisses beobachten, so verlagert sich in Lápidas die Anstrengung auf die Kunst der Pflege der Erinnerung. Es hat den Anschein, als ob dem Dichter erst nach der konfrontativen kathartischen Verarbeitung der memoria in Descripción de la mentira nun endlich in Lápidas seine persönlichen Erinnerungen in seiner Heimatstadt offenstünden, der Zugang zum Persönlichen erst durch den Durchgang durch den gesellschaftlichen Diskurs - hier in Form von quasi argumentativen Sprechverhaltens in Descripción de la mentira - erkämpft werden musste. Diese Gegebenheit deutet auf Vorgängigkeit und Allgemeinheit der zur Verfügung stehenden Sprache hin. Dem Dichter obliegt es, sich durch das Allgemeine und Vorgängige hindurchzuarbeiten, um zum Eigenen zu gelangen. Denn das Eigene birgt den Kern der Zukunft. In Lápidas wird den Erinnerungen der ihnen zustehende Platz für die ruhende Betrachtung eingeräumt. Erinnerungen sind jedoch notwendig Erinnerungen von jemandem. In Lápidas , Erinnerungen eines yo , das ganz zu Beginn seine Erinnerungstopographie benennt: En la quietud de las madres inclinadas sobre el abismo. En ciertas flores que se cerraron antes de ser abrasadas por el infortunio, antes de que los caballos aprendieran a llorar. En la humedad de los ancianos. En la sustancia amarilla del corazón 51 Die Topologie einer Erinnerungslandschaft des sprechenden yo , folgt einem Wechsel zwischen Beschreibung und Appell (in den Kapiteln 1 u. 2), eine Erinsich über das ‚entfremdete‘ Verhalten hinweg. Oder es versetzt sich in den anderen und erfährt gerade darin sich selbst. Daraus folgt offenbar, daß es ein direktes Verhalten zu sich selbst primär gar nicht gibt, sondern daß die Identifikation mit einem anderen die Voraussetzung des Selbsterlebnisses ist.“ Dieser hier beschriebene Vorgang des Indirekten soll das Leserverhalten vor dem Text, also dessen phantasiegetränkten Nachvollzug erläutern, in dem der Leser sich vermittelst des Textes ständig in die so aufgenommenen Situationen versetzt - und zwar sowie vor sich selbst wie für sich selbst. 51 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 225. <?page no="323"?> Lápidas 323 nerungslandschaft, die sich im Dialog mit dem Erinnerungsträger befindet und damit auf das innere Bedingungsgefüge zwischen dem Subjekt, das erinnert, und seinen Erinnerungen als dessen Schöpfungen verweist. Es handelt sich also nicht um Abschilderungen von Geschehen, sondern um das nackte Vergessen: „habla la desnudez, habla el olvido“ 52 , ein Vergessen, das aus dem „nächtlichen Schacht“ 53 der Intelligenz vom Autor geschöpft wurde. Im umfangreichsten dritten Kapitel (33 Texte) treffen wir auf die am reichsten ausgeführten Erinnerungen. Das Appellative tritt zurück und in den Vordergrund rückt die Beobachtung, die Bergung des Erinnerungsbestandes in Textblöcken. AQUEL aire entre el resplandor y la muerte se hace sustancia que no alcanzan a borrar los días y los vientos. El contenido de la edad son estos lienzos transparentes. Signos exactos e incomprensibles. Están en mí con el valor de una llaga; algunas cifras arden en mis ojos. 54 Das Geschehen im vierten Kapitel nun steht unter der Vorgabe des Ausblicks auf den Tod: „Siéntate ya a contemplar la muerte.“ 55 Nur in diesem Kapitel gibt es Gedichte, die eine Überschrift tragen. Sie konkretisieren die Texte, wie bei Aviso negro , dem ersten Text des Abschnittes, der eine Inzestwarnung 56 ausspricht. 52 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 237. 53 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Dr., Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundbegriffe , Druck und Verlag von August Oßwald, Heidelberg, 1827, S. 419 f, § 453: „Das Bild für sich ist vorübergehend, und die Intelligenz selbst ist als Aufmerksamkeit die Zeit desselben. Die Intelligenz ist aber für sich das Subjekt, das Ansich ihrer Besonderheiten; so in ihr e r i n n e r t, ist das Bild nicht mehr existierend (bewußtlos) aufbewahrt. Die Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen [420] aufbewahrt ist, ohne das sie im Bewußtsein wären, zu fassen, ist diesselbe allgemeine Forderung überhaupt, den Begriff als concret, wie den Keim z. B. so zu fassen, daß er alle Bestimmtheiten, welche in der Entwicklung es Baumes erst zur Existenz kommen, in virtueller Möglichkeit, a f f i r m a t i v enthält. Aber der Keim kommt aus den existierenden Bestimmtheiten nur in einem Anderen, dem Keime der Frucht, zur Rückkehr in seine Einfachheit, wieder zur Existenz des Ansichseyns. Aber die Intelligenz ist als solche die Existenz des in seiner Entwicklung sich in sich erinnernden Ansichseyns.“ 54 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 253. 55 Ebd., S. 289. 56 Auf eine inzestiöse Situation, ein gran aviso de tu dedo negro wird schon auf der Seite. 250 angespielt: Agonizabas ante los espejos y no arrancaste de tu rostro el rostro frío de tu madre. No te pierdes aún, préstame algo, dame tu incendio, tu piedad estéril, tus zapatos, tus hernias, tus alondras, el huracán de tu melancolía y el gran aviso de tu dedo negro. <?page no="324"?> 324 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Doch gibt es nicht durchgehend Titel, was diese Texte formal thematisch unvermittelter an das Großgerüst von Lápidas anbindet. Menschenalter Lápidas endet mit einem zweifachen Appell an das Alter und verweist damit auf einen besonderen Erinnerungsort, den letzten Lebensabschnitt vor dem Tod, von dem aus allein der Rückblick auf das gesamte Leben geleistet werden kann. EDAD, edad, tus venenosos líquidos. Edad, edad, tus animales blancos. 57 Während am Ende des ersten Kapitels, die Reinheit der nutzlosen Worte Háblame para que conozca la pureza de las palabras inútiles 58 angerufen wird, erklären diese ihren Sinn am Ende des zweiten Kapitels. Denn ihre Existenz soll zu einem besseren Sterben führen. Para no morir más de mala muerte. 59 Endet das zweite Kapitel mit diesen Worten, so werden im dritten die Erinnerungsvignetten 60 ausgeführt und wird im letzten Kapitel der dem Menschen mögliche universelle Erinnerungsort, das Alter, angerufen. Die Formen des Lebendigen in Kindheit, Jugend, Reife und Alter sind nach außen gewandte Schemata für innere biologische und biographische Abläufe. Sie sind Gemeinplätze und Zäsuren von dem, was das Individuum im In- und Nacheinander sich wandelnder Gegenwarten erlebt. Sie beschreiben den Fluss der Zeit des Lebendigen aus der Zukunft in die Vergangenheit und auch nur deshalb hat das lebendige Sein Gegenwart 61 . 57 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 301. 58 Ebd., S. 240. 59 Ebd., S. 250. 60 Die Texte von Abschnitt 3 in Lápidas kannten schon eine Vorgängerversion, die Antonio Gamoneda auch als solche offen legt. Miguel Casado bezeichnet in seinem Buch El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , diese auf der Seite. 69 als estampas : „Así, a través de conexiones superficiales, de los datos que sitúan en el espacio y el tiempo, de la entonación narradora, se aprecia la voluntad de conseguir un hilo en que se engranen, hasta convertirse en trama narrativa, un conjunto de estampas que, en sí, parecen aisladas.‟ Auch wenn sich der Begriff estampas auf die zu mehr Narrativik neigenden Vorgängertexte von Lápidas bezieht, scheint mir dieser zutreffend ausgewählt. Er suggeriert eine Art konzentrierter Information auf einem Minimum an Platz. 61 Siehe Kapitel „Der Begriff der Positionalität“. <?page no="325"?> Lápidas 325 Das lebendige Sein Mensch ist ein Sein des Vermögens 62 , ein Sein, dessen Möglichkeit wirklich ist 63 . Deshalb ist es ein in sich mit sich vermitteltes Ganzes, hat einen erfüllten Bezug zur Zukunft und damit Gegenwart. Das lebendige Sein hat Gegenwart, da es die Möglichkeit der Zukunft besitzt. Aus seinen Möglichkeiten heraus handelnd ist ihm der Augenblick gegeben und vermittelst des Augenblicks die Gestaltung dessen, was in Zukunft seine Vergangenheit werden kann. Sprache ist eine der kulturellen Gestalten, die es dem lebendigen Lebewesen Mensch ermöglicht, sich seiner Vergangenheit zu vermitteln, indem er ein Werk gestaltet, das es ihm erlauben wird, sich daran zu erinnern. Vermittelt der Mensch sich seiner Vergangenheit, so vermittelt er sich auch die Vergangenheit. Der Mensch kann seiner selbst im Spiegel Sprache der Vergangenheit ansichtig werden und so in sein Eigenes zu gelangen suchen. Der Dichter Antonio Gamoneda wird seiner Vergangenheit und damit sich selbst auf den Tafeln von Lápidas ansichtig. Die Herausforderung für den Leser liegt nun in der Betrachtung der Tafeln als dasjenige, was in Zukunft dem Vergessen anheimfallen kann, also das aus dem Vergessen Geborgene: die Erinnerungen eines Menschen im Rückzugsgebiet des Privaten - En la quietud de madres inclinadas sobre el abismo -, in den Vorstädten und Höfen - En ciertas flores que se cerraron antes de ser abrasadas por el infortunio, antes de que los caballos aprendieran a llorar -, in der Erinnerungsfülle einer Akme, auf dem Sockel zwischen Kindheit und Alter - En la humedad de los ancianos - sowie in der Voraussicht auf den Tod - En la sustancia amarilla del corazón 64 . Es sind Ansichten eines Antonio Gamoneda, der sich ihnen stellvertretend für viele, die der Erinnerung nicht mehr habhaft werden konnten oder wollten, stellt 65 . 62 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 232: „Als Körper mit der Wesenseigentümlichkeit, in ihm zu sein, ist der Körper ein Selbst, das haben kann. Wie gewinnt diese Binnenhaftigkeit des »Kerns« Realität? Dadurch, daß sie als Potenz, als Vermögen, wirkliche Möglichkeit erscheint.“ 63 Ebd.: „Sein im Modus der Potenz hat eben noch jene spezifische Schwere und Fülle, die in Potentialität als reinem Nochnichtsein nicht zum Ausdruck kommt. Kannqualität als Seinsqualität, seiende Möglichkeit gilt es zu begreifen.“ 64 Alle vier hier kursiv dargestellten Sätze sind in Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 225. 65 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 56: „Recuerdos de infancia en León durante la guerra civil: el niño ve desfilar ante sus ojos, desde el balcón, la historia española y la convierte en su historia personal.‟ <?page no="326"?> 326 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Satzaussage und Sageweise Am Mitteilungssatz hangelt sich die Phantasie des Lesers entlang, wobei Satzinhalt und Sageweise in einem konventionellen Verhältnis zueinander stehen. Der Satz ist Objekt der Verständigung und sein Ziel ist die Weitergabe eines Inhaltes vermittelst Sprache. Dem gegenüber stehen in der Dichtung Satzinhalt und Sageweise in einem artifiziellen Verhältnis zueinander. Die Phantasie des Lesers taucht in dieses ein, Satzaussage und Sageweise werden so selbst zum Gegenstand der Phantasie 66 und eine erweiterte Welterfahrung vermittelst Sprache möglich. Der Satz ist Subjekt - steht für ein entkörperlichtes Tun - einer dichterisch gewandelten Welt. Atmung und Artikulation werden zwischen Satzaussage und Sageweise aufeinander hin geordnet 67 . Sie leiten die Phantasie in die rhythmisch und euphonisch ordentlich gewendete Welt des Textes. Das Eintauchen in die physische Beschaffenheit der Sprache 68 lässt Bedeutung 69 zurück und Sinn in den Vordergrund treten. Ein derart entlasteter Sinn eröffnet die Erfahrung einer Verwandlung der Welt. 66 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 188: Es perverso el idioma pero es enjundia de mi cuerpo. En ciertos casos, mis palabras podrían atravesar tus labios, entrar despacio en tu existencia; no lo que dicen sino las palabras mismas, su exhalación caliente como el amor. 67 Rodríguez, Ildefonso, „La escritura del cuerpo“, in: Un ángel más , Nr. 2, Valladolid, otoño, 1987, S. 119 f.: „Esa voz en toda la obra de Gamoneda, tiene el carácter de una monodia y genera una música especial, ajustada con eficacia a las necesidades de su discurso poético. […] No es una sonoridad tonal, sino modal, ya que su punto grave (su referencia para el oído) no cambia, permanece en la sucesión. Un sistema económico de repeticiones y la persistencia de la voz apoyándose en los signos recurrentes. A partir de tal supuesto van apareciendo las otras voces del discurso, el tú masculino y femenino, el nosotros y vosotros, ellos y ellas. […] No hay armonización, sino simultaneidad de las voces. Todos los tramos de la escala elegida tienen el mismo valor y todos son capaces de crear tensión y relajación. Se eleva una atmósfera repetitiva, matizada en inflexiones leves y ésta es una música gótica, una cantilena eclesial, resonante en bóvedas, como un gre- [120] goriano. La respiración de las voces está en los neumas que el lector va encontrando y asocia a los soplos de un cuerpo sumido colectivamente en el canto, reflujos de la tensión: esos «ah» donde inhala y respira la voz, empleados por Gamoneda más allá de la función expresiva y también las preguntas constantes que abren vanos en el texto. El aire del gregoriano y sus distintos modos es la comparación más firme que encontré para fijar el sonido de esa poesía.“ 68 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 23: „POESÍA ES la creación de objetos de arte cuya materia es el lenguaje.‟ 69 Frege, Gottlob, Funktion, Begriff, Bedeutung , Vanderhoeck & Ruprecht in Göttingen, 7., bibliographisch ergänzte Auflage, 1994, S. 44: „Die Bedeutung des Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen; die Vorstellung, welche wir dabei haben, ist ganz subjektiv; dazwischen liegt der Sinn, der zwar nicht mehr subjektiv wie die Vorstellung, aber doch auch nicht der Gegenstand selbst ist.“ <?page no="327"?> Lápidas 327 Erinnerung und Epiphanie oder das Wesentlich-Werden der Metapher Die Entlastung des dichterischen Textes von der Welt der konventionellen Bedeutung eines Geschehens oder der Abschilderung einer externen Ordnung finden wir in Lápidas , wo diese Schicht sogar ausdrücklich entfernt wurde (Abschnitt 3). In seinem Vorgängertext Lapidario incompleto (delCentro Editores, 1984) findet man noch eine Erzählschicht, welche die einzelnen Szenen topologisch wie chronologisch miteinander in Beziehung zu setzen sucht 70 und auch die Fragmente biographisch verortet. Es ist die Geste des érase una vez , die man darin wiedererkennen kann und die in Lápidas nun getilgt wurde. Damit ist die Spur der Erinnerung als ein Akt des Zum-Vergangenen-sich-Hinbeugens getilgt. Aus einem Sich-Erinnern: Recuerdo un día bajo el friso de azufre; un día emboscado en el horizonte, y las campanas de Villabalter como mastines electrizados en la inminencia. Hasta que el pedrisco, su osamiento furioso, se abatió sobre los malecones y los huertos 71 wird unvermittelt ein Hören: Oigo las campanas de Villabalter como mastines electrizados por la inminencia. 72 Aus einer Erinnerung ist ein Gegenwartsgeschehen geworden. Das lebendige Wesen Mensch, das seine Gegenwart vermittelst der kulturellen Gestalt Sprache verhandeln kann, schafft die Verwandlung seiner biographischen Zeit für ein zukünftiges Erinnern um, indem die einzelne Erinnerung zur Epiphanie erneuert wird. Dem Dichter als Hierophant 73 entdeckt sich die verwandelte Welt in dem, was dann wird erinnert werden können: 70 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 69: „Lo fragmentario simularía un argumento mediante señales que sugirieran una línea. «Lapidario» tiende hacia la narración, dotándose de una superficie que la figure.‟ 71 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 80 f. 72 Ebd. 73 Rodríguez, Ildefonso, „La escritura del cuerpo“, in: Un ángel más , Nr. 2, Valladolid, otoño, 1987, S. 122: „Su teoría de la identidad se expresó también en el derrame del yo difundiéndose en lo otro, en las materias ajenas: «en derredor no ves otra cosa que tú mismo». Mediante pares de opuestos, practicando un cerrado espíritu de contradicción, alcanzó la dualidad abismática; pues el interior del sujeto fue visto como exterioridad, un hueco transitable. Aun así, algo siempre permanece oculto y no acaba de mostrarse. Como un hierofante se pregunta, asomado al misterio: «¿quién habla en ti, cuál es la forma de tu rostro? ».“ Fast könnte man hier die Dialektik der Personenbestimmung der exzentrischen Position Plessners beschrieben sehen. <?page no="328"?> 328 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE La osamenta furiosa se abatió sobre los malecones y los huertos. 74 Der Paragraphenwechsel nach “inminencia” 75 und das damit verbundene Einatmen wie der Sprung in die Artikulation zu: „La osamenta furiosa” 76 lässt die Metapher der Verknöcherung eines vormals meteorologischen Geschehens absolut werden 77 . Im Wesentlich-Werden der Metapher besteht die Öffnung zu einer noch zu erinnernden Zukunft, deren Bedeutung noch nicht verhandelt worden ist. Im Wesentlich-Werden hält der Mensch die Zukunft in seiner Hand. Denn in dem unabänderlich Verflossenen, so zur Epiphanie Umgeschaffenen eröffnet er sich Möglichkeiten, eröffnet er sich Freiheit. Wie Orpheus schafft er die Natur dichtend um, wie Orpheus bleibt er, was er ist, und wird doch zu einem anderen 78 . Metabolismus und Metapher Abschnitt 3 von Lápidas kennt das darstellende Ich kaum als Protagonisten einer geschilderten Szene, sondern vor allem als Empfänger von Eindrücken und in der Rolle eines eher weniger, denn wirklich beteiligten Zeugen. Neben den sensitiven Eindrücken, die sich in den Verben des Sehens, Fühlens und Hörens niederschlagen, gibt es kaum Schilderungen seines Innenlebens. Fast alle Texte setzen mit beobachtbaren Beschreibungen ein, und fast nie lesen wir von Beginn an von einer Aktion des die Sachverhalte schildernden Subjektes. 74 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 81. 75 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 269. 76 Ebd. 77 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 81: „Es evidente la concentración producida y también la eficiacia realizadora de sustituir «recuerdo» por «oigo»; pero en el ámbito que vengo considerando, hay que subrayar sobre todo dos aspectos: por una parte, se suprime una serie de elementos retóricos […] por otra parte, la nueva pausa y el suprimir «el pedrisco», hacen de «osamiento» una metáfora más audaz, imprimiendo con ella una clave muy distinta a la lectura de todo el texto. Cuando se habla de enrarecimiento , no se habla pues, de acumulación, de un fenómeno cuantitativo, sino de un cambio de densidad, una presencia de estos recursos para abrir, de manera más intensa, el hueco en el yo , los límites de su conocimiento.‟ 78 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 241: „Lebendiges Sein steht im Modus der Gegenwart, weil es ein ihm selber Vorweg (Nach)-Sein ist. Seine Gegenwart ist jene Aktualität, die nicht mehr im unversöhnlichen Gegensatz zur Potentialität gedacht werden muß, sondern Potentialität zur Voraussetzung hat: erfüllte Potentialität. Ein Sein, das - in sich vermittelt - (unter dem Bilde des unendlichen Kreislaufs oder der ruhigen Flamme) die beständige Überführung vom einen in den anderen Modus der Zeit und die Einheit der Überführung, d. h. Gegenwart, bedeutet.“ <?page no="329"?> Lápidas 329 Allein der Text Veo el caballo agonizante … 79 setzt direkt mit dem Augenschein ein. Doch nur um diesen sogleich alliterativ in die Regionen des Geistes zu verschieben: „Veo la espalda de la indiferencia“ 80 und auf die spirituelle Landschaft hinzuweisen: „es el paisaje de la infancia“ 81 , welche die alchemistische Verknüpfung zwischen physiologischen Gegebenheiten und geistiger Repräsentation beherrscht: „el olor incorporado a mi espíritu en los accesos de la edad.“ 82 Der physiologische Prozess Metabolismus steht hier Pate für alchemistische Verwandlungen geistiger Einheiten 83 , der Überführung einer Idee in die nächste: paisaje-Landschaft in olor-Duft in accesos de la edad-- Zugängen zum Alter . Der logos poietikos zieht die körpernahe Empirie der Physis des lebendigen Wesens Mensch zum Zwecke der Darstellung der Lebensabschnitte heran und durchmischt die kategorischen Unterscheidungen einer Metabasis (eis allo genos) oder einer Metabole physike mit seiner Escritura del cuerpo 84 . Sollte vielleicht genau dieser infrakategoriale Prozess für jene unvorhersehbaren, auch kreativen Verwandlungen bei der Erinnerung verantwortlich sein, den Hegel den „nächtlichen Schacht“ der Intelligenz nennt? Auch Miguel Casado benennt diese Körpernähe des signum Gamonedae in verschiedenen Stellen seines El curso de la edad 85 . 79 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 268. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Rodríguez, Ildefonso, „La escritura del cuerpo“, in: Un ángel más , Nr. 2, Valladolid, otoño, 1987, S. 123: „Una nota más sobre este cuerpo antiguo del poeta, su teoría de la visión. Compartió con sus contemporáneos la incapacidad de concebir la abstracción pura o los conceptos inmateriales. Lo mental es un atributo más de la Físis ; toda palabra es material, hasta el nombre propio se mastica y los signos tienen peso y forma definida. Son nódulos, números y cifras de una cuenta para mensurar lo real. La visión llega a través de cánulas y filtros y el cuerpo se abre en poros, como una malla por donde circulan los idolillos, las imágenes de las cosas. Este acto no es contemplativo sino físico, más semejante a un contagio, a una impregnación, y deja humores, líquidos y tiznes en la piel del que mira las cosas y escribe sus nombres.“ 84 Rodríguez, Ildefonso, „La escritura del cuerpo“, in: Un ángel más , Nr. 2, Valladolid, otoño, 1987. 85 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 174: „Y es, en efecto, el cuerpo el lugar de cruce y unidad de estos movimientos. En un poema de Lápidas , se hace esta apelación a unos bailarines: «Obedecéis a ancianos invisibles cuyas canciones pasan por vuestra lengua»: pasar a través de la lengua sería el modo de asumir una tradición en la corporalidad —convertir las músicas heredadas en sustancia del propio cuerpo, hacerlas circular por él, supone devolverles su energía y poder de realidad.‟ Sowie S. 178: „[…] las sustancias de la muerte han saturado la percepción sensorial y, fermentadas en el cultivo temporal de la memoria, vuelven como materializaciones de lo sublime, como mito en que, sin razonamiento ni voluntad, se manifiestan juntos la intimidad y el ser de la vida.‟ <?page no="330"?> 330 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Metabolisch, nicht kategorisch schreibt sich der äußere Eindruck im Körperleib fort. Die gamonedaeische Sprache antwortet dem erkenntnistheoretischen Apparat des logostransparenten Körperleibes Plessnerscher Provenienz aus der Perspektive - mit dem Vokabular - der Materialität des Körpers selbst. Stoff, Gedanke und Kreislauf haben hier ihre Wesensverschiedenheit verloren und werden füreinander transparent. Metabolismus und Metaphorik durchdringen sich gegenseitig und reißen die sie trennenden Schleier ein. Ein solcher logos poietikos schlägt eine Alternative zu den gängigen Welterklärungsmustern vor. Es handelt sich dabei um ein Denken mit und aus der Physis heraus: Signos exactos e incomprensibles. Están en mí con el valor de una llaga; algunas cifras arden en mis ojos. 86 Die Antwort auf die Frage, ob die Texte im Teil (3) von Lápidas Dichtung sind oder nicht, kann nicht durch das Aufsuchen von identifizierbaren Verszeilen oder rhetorischer Figuren geklärt werden, sondern scheint allein in der überzeugenden Aufhebung der Grenzen kategorialer und konventioneller Darstellungslogik zu liegen. Wir finden hier eine weitere Art der Ausführung der Idee der Dichtung als Literatur ohne Genregrenze in der Balance zwischen musikalisch-prosodischen und musikalisch-ideellen Schichten. Debe tratarse de bloques de lenguaje que, al tiempo, son bloques de sentido y de sonido. Yo tengo una concepción materialista de la poesía, en cierto modo. Sé que construyo objetos con un material físico, con una oralidad que, por convenio, se ha hecho silenciosa en el papel; no distingo ni versículos ni prosa poética, sino bloques rítmicos. Nada más sé de ellos. 87 Die Semantisierung der Form: Buchseite und Textpräsentation leiten die Rhythmik des Lesens und des Verstehens im werdenden Verlauf der Gesamtform des Werkes. In der Komposition von Seite, Text und Werk manifestiert sich das biographische Sein des Autors und die Dynamis des signum Gamonedae (X) zeigt sich im Wesentlich-Werden der Metapher. Wird die Membrane zwischen Metabolismus und Metapher brüchig, transzendiert die Koine zum orphischen Idiom in der Immanenz des provinziellen Seins des Dichters der Provinz 88 . 86 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 253. 87 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 180. 88 Gamoneda, Antonio: „De poetas provincianos (II)“, in El cuerpo de los símbolos , S. 110: „Finalmente, el sexto y último poeta provinciano vuelvo a ser yo mismo.‟ <?page no="331"?> Libro del frío 331 Libro del frío Die Wirklichkeit, der Tod und das Sinnbild (Symbol) Während in Lápidas die Heimholung der die Kindheit formenden Lebenswelt und deren Umprägung für eine noch zu erinnernde Zukunft inszeniert wird, ist Libro del frío der Domestizierung der Kälte geweiht. Es handelt sich nicht um das Kalte an sich - eine letztendlich unbestimmbare Abstraktion - oder etwas Kaltes - einen singulären kalten Gegenstand -, sondern es geht um die Kälte als existenzielle Kraft. Sie erfährt gleich beim Eintritt in Buch I eine deutliche Bestimmung: Geórgicas , womit wir auf die ländliche Welt oder direkt auf die Natur verwiesen werden. Buch II perpetuiert in seinem Titel den Zusammenhang mit der Kälte im Bild des Schnees: El vigilante de la nieve . Buch III verlängert dessen Gegenwart: Aún , wohingegen Buch IV das Leben mit einem Tanz feiert: Pavana impura . Das fünfte Buch beschreibt den Samstag: sábado , den letzten Tag der Woche, vor deren Erneuerung im Sonntag, und Buch VI die Kälte der Grenzen: Frío de límites . Buch VII besteht aus einem einzigen Text. Es ist ein Abschied in die strukturlose Landschaft des Lichts nachdem alle Gesichte/ r und Schleier durchschritten wurden. AMÉ las desapariciones y ahora el último rostro ha salido de mí. He atravesado las cortinas blancas: ya solo hay luz dentro de mis ojos. 89 Der Leser tritt ein ins Buch der Kälte und wird am Ende in die Leere des Lichts entlassen. Kälte ist eine den ganzen Körper ergreifende in die Starre führende Zustandsempfindung, während Licht sich im Auge bricht und sich anscheinend körperlos fortschreibt. Während das Licht der harten Oberfläche des Augapfels bedarf, um seine Wirkung zu entfalten, bedeutet die Körperstarre die ultimative Verdinglichung des Körperleibes - alles Empfinden ist unmöglich geworden -, bedeutet den Tod 90 . Licht bewegt sich gleichsam körperlos, während Kälte gleichsam lebensfremde Bewegungslosigkeit meint. 89 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 407. 90 Casado, Miguel, El curso de la edad. Lecturas de Antonio Gamoneda , S. 156: „Los sentidos son móviles en Gamoneda y de sus símbolos no se podría hacer un diccionario ; pero eso no quiere decir desde luego que no tengan una historia a través de los textos. En este caso, el frío que, en los últimos libros, ha pasado a significar, a operar significativamente en el campo de la muerte, se forjó como símbolo en la evocación íntima de un nosotros de los trabajadores; era el frío que precedía al amanecer.‟ <?page no="332"?> 332 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Die Inblicknahme der Kälte vermeint die größtmögliche Erweiterung des Gesichtspunktes auf die Erinnerungen eines Lebens, es vermeint die Sicht auf ein Leben aus dem Blickwinkel seines nahenden Endes, des Todes: Por lo que a mí concierne, pienso sinceramente que el conjunto de mi poesía no es otra cosa que el relato de cómo voy hacia la muerte. 91 Diese Vorstellung übernimmt Antonio Gamoneda von Hermann Broch, der in seinem Roman Der Tod des Vergil seinen Helden Vergil erkennen lässt, dass er sein ganzes Leben lang dem Sterben gelauscht habe 92 . Vergil und Broch stehen gleich zweimal Pate im Libro del frío . Zum einen zu Beginn, da das erste Kapitel den Titel von Vergils berühmten Buches Georgica übernimmt und zum anderen, da das vorletzte und sechste Kapitel mit einem Zitat von Hermann Broch angeführt wird: 91 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 26. 92 Broch, Hermann, Der Tod des Vergil, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1958, S. 84 f.: „Denn prall von Wirklichkeit sind die Bilder, weil Wirklichkeit stets nur wieder durch Wirklichkeit versinnbildlicht wird -, Bilder und Aber-Bilder, Wirklichkeiten und Aber-Wirklichkeiten, keine wahrhaft wirklich, solange sie alleine steht, dennoch jedes einzelne Sinnbild einer letztwirklichen Unerkennbarkeit, die ihre Gesamtheit ist. Und hatte er in den vielen vergangenen Jahren immer gieriger und neugieriger den Zerfall und die Brüchigkeit verfolgt, die er in seinem Körper arbeiten spürte, hatter er, um dieser verwunderlichen und verwunderten Neugierde willen, gerne das Ungemach der Krankheit und der Schmerzen auf sich genommen, ja, hatte er - und was immer der Mensch tut, es wird ihm zu deutlicherem oder undeutlicherem Sinnbild - unausgesetzt den Wunsch in sich getragen, den selten bewußten, dennoch stets ungeduldigen Wunsch, es möge seine körperliche Einheit, die ihm mehr und mehr zu einer Scheineinheit geworden war, endlich aufgelöst [85] werden, je rascher desto lieber, damit das Außergewöhnliche erfolge, damit Auflösung zur Erlösung werde, zur neuen Einheit, zum endgültigen Sinn, und hatte ihn dies alles von frühester Jugend an begleitet und verfolgt, zumindest seit jener Nacht in Cremona, vermutlich jedoch schon seit der Kinderzeit in Andes, sei es zuerst als spielerisch leichte, kindische Ängstlichkeit, sei es als wuchtig gedächtnisauslöschende Furcht, unentrinnbar heute das eine wie das andere, es hatte ihn zugleich auch die Frage nach der Bedeutung solchen Geschehens nie verlassen, sie war in all seinem Vorlauschen, Vorsuchen, Vorfühlen allnächtlich enthalten gewesen, und genau so wie er einst, das Kind in Andes, der Knabe in Cremona, auf seinem Bette gelegen hatte, Knie an Knie gepreßt, eingesenkt sein Geist in Vorträumen, eingesenkt Geist wie Körper in das Schiff seines Seins, hingebreitet über die weiten Erdflächen, er selber Berg, selber Feld, selber Erde, selber das Schiff, er selber der Ozean, lauschend in die Nacht des Innern und Außen, ahnend wohl seit jeher, daß dieses Lauschen bereits einer Erkenntniserfüllung galt, für die sein ganzes Leben gelebt werden sollte, genau so geschah es ihm wiederum, geschah es ihm hier und jetzt, geschah es ihm heute; es geschah ihm das, was ihm seit jeher, deutlicher und deutlicher werdend, stets aufs neue geschehen war, er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben.“ <?page no="333"?> Libro del frío 333 […] símbolo que es realidad, realidad que se torna símbolo ante el rostro de la muerte. 93 Wir befinden uns also innerhalb des Themenkreises eines Dichters, der auf sein Werk und auf die Sinnhaftigkeit seines Tuns im Angesicht des Todes zurückblickt. Domestizierung der Kälte bzw. des Todes bedeutet nicht Humanisierung des Todes. Der Tod ist nicht humanisierbar, allein das Sterben ist es. Der Tod steht dem Leben gegenüber. Er ist das Andere des Lebens. ¿ES LA luz esta sustancia que atraviesan los pájaros? En el temblor del sílice se depositan cuarzo y espinas pulimentadas por el vértigo. Sientes el gemido del mar. Después, frío de límites. 94 Das Gedicht nimmt in seiner letzten Zeile die Kapitelüberschrift des 6. Buches des Libro del frío auf und markiert damit ein Ende in der Abfolge der Texte des Buches. Danach bleibt nur noch eine existenzielle Frage nach dem Ende der inneren Musik und der reinen Klarheit des Lichtes. ENTRA en tu cuerpo y tu cansancio se llena de pétalos. Laten en ti bestias felices: música al borde del abismo. Es la agonía y la serenidad. Aún sientes como un perfume la existencia. Este placer sin esperanza, ¿qué significa finalmente en tí? ¿Es que va a cesar también la música? 95 Mit diesem Stoff setzt der Text auch ein, mit diesem ist auch sogleich die höchste Höhe, die Akme des Lebens erklommen 96 . Hier oben, in schwindelnder Höhe, erbeben die Ablagerungen und Einschlüsse des Lebens in glänzender Klarheit und unten in der Weite wird die Klage des Meeres spürbar. Klarheit, Höhe und Weite 93 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 383. 94 Ebd., S. 403. 95 Ebd., S. 404. 96 Siehe auch Ebd., S. 273 LA CIUDAD mira el sílice de las montañas como una gárgola inmóvil ante los círculos de la eternidad y se rodea de Colinas cárdenas en las que el tomillo es abrasado por el invierno. […] <?page no="334"?> 334 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE kommen zum Stand. Die Wirklichkeit: Licht, Vögel, Stein, Dorn und Schwindel, Klage und Meer verwandeln sich im Angesicht der ultimativen Grenze des Todes, der frío de límites in Sinnbilder. Der Tod als Grenze ist eine Unmöglichkeit. Grenzen sind durchlässig, permeabel. Sie sind Orte des Austausches. Frío de límites bedeutet ein Anhalten des Austausches, bedeutet Stillstand. Die Grenze verliert ihre Funktion, kommt zu ihrem Ende, zerfällt zu Nichts und dem lebendigen Sein tut sich ein Abgrund - abismo - auf. Das Leben kann seinen Platz im Sein nicht weiter behaupten, steht dem Tod nun unmittelbar gegenüber und kann von ihm überwältigt werden 97 . Einander völlig wesensfremd, können Leben und Tod weder miteinander versöhnt noch vermittelt werden. Alles Leben endet im Tod. Alles Leben wächst dem Tod entgegen und mit ihm wächst der Tod. Mit dem Tod erfährt das Leben seine letzte Bestimmung. Um weiter zu leben und sich zu behaupten, muss das Leben sich immerzu erneuern, seine Lebensformen: Kindheit, Jugend, Reife und Alter durchschreiten. Leben und Tod - so scheint es - bilden eine unverbrüchliche Einheit. Wenn aber der Tod ein Teil des Lebens wäre, so müsste er auch mit ihm sterben. Er wäre damit aufgehoben und könnte dem Leben nichts mehr anhaben. Das Leben jedoch scheint dies nicht zu bestätigen, denn der Tod scheint nicht zu sterben. Deshalb gilt die Annahme, dass der Tod dem Leben äußerlich ist. Der Tod muss das Leben überwältigen, damit es stirbt 98 . Diese Gedankenreihe scheint die Intuition unserer Vorfahren zu bestätigen, die den Tod als einen Teil des Lebens kannten: Ein Mitglied verstarb als Teil einer Gruppe oder Gemeinschaft; sein Platz - oft sogar auch sein Name - wurde von einem Neugeborenen eingenommen. Das Leben hatte sich im Kreislauf von Geburt und Tod erneuert, der Kreis war wieder geschlossen, das Leben hatte 97 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 206: „Der Tod will gestorben, nicht gelebt sein. Er tritt an das Leben heran, das sich natürlicherweise ihm zuneigt und doch von ihm überwältigt werden muß, damit es stirbt. Nur dies ist der echte Sinn des Todes, daß er das Jenseits des Lebens und für das Leben, die vom Leben selbst zwar getrennte , doch durch das Leben erzwungene Negierung des Lebens ist. Die empirischen Todestheorien haben nur halb gesehen. Er bleibt allerdings - soweit sahen sie richtig - dem Leben wesensfremd, mit ihm unvereinbar und keiner Synthese mit ihm fähig.“ 98 Ebd., S. 205: „Ebenso wie das lebendige Ding als bloße Gestalt unter die Formidee treten muß, die ihm als Typus den Spielraum individueller Variabilität gewährt, tritt der Entwicklungsprozeß unter das Formgesetz des Anstiegs, der Höhe und des Verfalls. Leben ist nicht Sterben, sein eigener Abbau, seine Selbstnegation, sondern es geht in der Entwicklung von Altersstufe zu Altersstufe dem Sterben, dem Tod entgegen .“ <?page no="335"?> Libro del frío 335 sich durch den Tod hindurch wieder erneuert 99 . Der Tod war ein Teil dieses Kreislaufes, und dem Tod ist damit die Existenz entzogen. Der Preis dafür ist die Vernichtung der Individualität. Ist der Tod jedoch einmal als selbstständige Kraft erkannt, markiert er die Grenze des individuellen Lebens, das zu ihm nur durch den Prozess des Sterbens und zudem in unvermittelter Beziehung steht 100 . Die Musik, Ausgang von Lebendigkeit Doch es gib auch noch einen anderen Tod, den gewaltsamen Tod. Dieser Tod trat schon ins Leben des Kindes Antonio Gamoneda ein 101 . Die Begegnung mit dem gewaltsamen Tod war eine überwältigende Erfahrung, ihm nahe und unmittelbar, die selbst den familiären Schutzraum des Kindes nicht unberührt ließ. Dieser Eintritt des Todes in das Leben fällt bei dem Kind Antonio Gamoneda mit dem Erwachen des Gedächtnisses zusammen 102 . Doch der Mensch, ausgestattet mit einem „don de morir“ 103 , ist das einzige Lebewesen, das der Wirklichkeit des Todes ins Auge blickend, diesem entgegen 99 Landsberg, Paul L., Die Erfahrung des Todes, Matthes & Seitz Berlin, 2009, S. 29 f.: „Die Forschungen Levy-Brühls haben uns die Auffassung vom Tode kennen gelehrt, welche die Haltung der primitiven Völker bestimmt. Für sie hat der Tod immer eine äußere Ursache und also in gewissem Sinn einen beiläufigen Charakter. In diesen Gesellschaften ist das Individuum zu wenig differenziert von seiner Gruppe, als dass es sich durch etwas anderes individualisiert fühlen könnte [30] als durch seine Stellung in dieser Gruppe, seine Funktion im größeren Organismus. Wenn diese Stellung und Funktion nach dem Tod des Individuums auf ein anderes übergehen, so erwirbt dieses Individuum zugleich den Namen und gewissermaßen die Seele des Toten. Die Gruppe hat ein verlorenes Glied regeneriert. Es ist, als ob nichts geschehen wäre. […] Die Menschen erscheinen und vergehen, wie das klassische Bild es sagt, gleich den Blättern der Bäume. Der Tod ist wesentlich nur der Übergang einer seelischen Kraft in ein anderes Individuum, bloße Kehrseite der Geburt. Wir treffen nun ein historisches Phänomen in solcher Allgemeinheit an, dass wir zur Aufstellung einer Regel gelangen können: Das Bewusstsein vom Tode geht gleichen Schritts mit der menschlichen Individualisierung, das will heißen, mit dem Auftreten einzigartiger Individualitäten, die sich von einem persönlichen Zentrum her formen.“ 100 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 210: „In seiner Sichtbarkeit kündigt sich der Tod als echtes Sein an, als Kontakt per hiatum mit einem absolut Anderen. […] Tod und Leben sind unvermittelt als absolute Gegensätze im Akt des Sterbens aufeinander bezogen.“ 101 Siehe z. B.: Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 255, 260. 102 Gamoneda, Antonio, Lapidario incompleto. Imágenes de Juan Carlos Mestre , del Centro editores, II. 103 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 43: Prometeo en la frontera II Y este don de morir, esta potencia degolladora de dolor, ¿de dónde <?page no="336"?> 336 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE leben kann: tragisch, heldenhaft, melancholisch, verzweifelt oder heiter und gelassen. Der Platz des Lebens im Sein will behauptet, seine Würde erobert werden, und wenn zwischen „agonía y la serenidad“ 104 noch der Duft der Existenz als Lust - placer -, wenn auch ohne Hoffnung, sowie die „música al borde del abismo“ 105 als Glück erfahren werden kann, so kommt dieser Musik ein außerordentlich hoher Stellenwert für das menschliche Leben zu. Sie ist die letztlich verbliebene weltliche Ressource, Fundament und Grund unseres habituellen und zuständlichen Ausdrucksvermögens. Sie ist Ausgang unserer Lebendigkeit. Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage oder Mimus fasslich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d. h. zum Ausdruck , ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes. 106 Musik ist eine grundsätzliche und höchst allgemeine Äußerung des Ausdruck lebenden Wesens Mensch 107 . Deshalb steht sie im Plessnerschen Schema der Ästhesiologie des Geistes an der Basis des Erkenntnisapparates des logostransparenten Körperleibes 108 . Aus der Perspektive der Plessnerschen Überlegungen wird denn auch die existenzielle Dramatik des Themas Musik offenkundig. Denn, wenn sogar die Musik zu Ende zu gehen droht, - ¿Es que va a cesar también la música? - 109 , drohen auch Leben und Lust selbst zu verlöschen. Was allein noch bleibt ist die körperfremdeste, dichte- und stofflose Substanz: luz : „ya sólo hay luz dentro de mis ojos.“ 110 Sie bleibt selbst dann noch unberührt, viene a nosotros? ¿En qué dios se esconde esta forma siniestra de clemencia? 104 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 404. 105 Ebd. 106 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 415. 107 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 182: „Nur die Musik hat in den Tönen ein Material der thematischen Sinngebung, das selbst weder etwas darstellt noch zu etwas dient noch etwas bedeutet. […] Ebenso hat der Dichter mit dem Eigensinn der Sprachbedeutungen zu rechnen und muß ihn brechen, um dann ihm folgend oder sich über ihn hinwegsetzend, ihrer als Klangwerte, Affektträger und als Vehikel zu vorgestellten Anschauungen sich zu bedienen. Töne kommen als begleitende Geräusche und selbst als Klänge in der ganzen Natur vor. Aber sie fügen niemals Gegenstände zusammen, noch tragen sie Bedeutungen und bezeichnen etwas.“ Sowie hier S. 187: „Der reinen Mathematik, Sprache und Schrift reiht sich hier die reine Musik an, die uns ergreift und beschäftigt, entzückt und bereichert, ohne daß wir je angeben könnten, aus welchem Grunde uns das im bloßen Zuhören geschieht. Reine Musik stellt nichts dar, sagt nichts aus, illustriert nicht.“ 108 Ebd. S. 189. 109 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 404. 110 Ebd., S. 407. <?page no="337"?> Libro del frío 337 wenn alles durchschritten „He atravesado las cortinas blancas“ 111 und alle Gesichter „el último rostro“ 112 verschwunden sind. Was allein noch bleibt, ist das Symbol der nackten und bloßen Evidenz der Existenz: luz . 113 Aus allein diesen drei einzelnen Zeilen besteht das letzte Gedicht des Bandes Libro del frío . Eine Form, die sich in seinem sechsten Buch Frío de límites oft wiederholt findet. Hier nun scheint der Dichter die Welt hinter sich gelassen zu haben. Die Erinnerung - las desapariciones, el último rostro -, sind vergessen, die weißen Schleier durchschritten. In schierer Evidenz leuchtet in den Augen die Existenz allein auf. Erzählt die erste Zeile mit ihrer Länge noch von einem Geschehen, so konstatiert die zweite perfektisch ein Resultat, und die dritte Zeile bestätigt dies positiv. Aus der Leere der brachliegenden Seite blickt schweigend die blanke Existenz. Das ganz Andere des Seins: der Tod Jenseits dieser ultimativen Grenze, die wohl allein die Vögel überschauen können - ¿Es la luz esta sustancia que atraviesan los pájaros? - liegt für den Menschen das ihn überwältigende ganz Andere des Seins - es erwartet ihn der Tod. Frío de límites ruft an der Kältegrenze des Seins das alles Überstehende ganz Andere des Seins in die lautplastische Gegenwart des orphischen Idioms. Die transzendierende Immanenz des signum Gamonedae (XI) nähert sich in Libro del frío der ultimativen Grenze des ganz Anderen des Seins, dem Tod, vermittelst der Reduktion der Form und der Ökonomisierung der Symbole, die wie im Stoffwechsel eines Individuums unter den Bedingungen der Kältegrenze sich verlangsamen, weniger werden und schließlich im Licht erstarren. 111 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 407. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 404. <?page no="338"?> 338 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Mit dem Libro del frío ermisst der Dichter seine biographische Zeit, setzt er sich zu seinem Tod ins Maß. Das Weniger und die Leere werden damit in der Metapher des Lichts an der Grenze zum Tod wesentlich. Die grupo fónico medio máximo 114 , welche die Kategorie der arte mayor mitbestimmt, wird wesentlich beibehalten - eine Konstante im dichterischen Schreiben Antonio Gamonedas. Sie deutet auf ein pensamiento poético kontemplativer Art hin. Es ist eine dichterische Stellungnahme bzw. Haltung gegenüber dem eigenen Erleben und der eigenen Physis. Ihre Ermöglichungsbedingung findet sich in der exzentrischen Positionalität 115 . Betrachtet man die drei Gedichte aus Libro del frío , so können wir feststellen, dass auch hier der versículo , der endecasílabo , also die grupo fónico medio máximo , tonangebend bei der Gestaltung der Zeile bleibt. Sie entspricht dem Atmen des Gedankens des Dichters, seiner Physis und seinem lyrischen, den hohen Ton pflegenden Gedankenfluss. 114 Quilis, Antonio, Métrica española , Editorial Ariel, S. A., Barcelona, 1975, S. 53. 115 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 384 f.: „Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist - eben weil er nur ist, wenn er [285] vollzieht - braucht er ein Kompliment nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich . Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er »etwas werden« und sich das Gleichgewicht - schaffen. Und er schafft es nur mit Hilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.“ Siehe auch S. 417 f.: „“Das exzentrische Zentrum der Person, vollziehende Mitte der sog. »geistigen« Akte, vermag durch eben seine Exzentrizität die Wirklichkeit , welche der exzentrischen Position des Menschen »entspricht«, auszudrücken . So laufen die Wesensbeziehungen zwischen Exzentrizität, Immanenz, Expressivität, Wirklichkeitskontakt in der Sprache und ihren Elementen, den Bedeutungen , auf eine überraschende Weise zusammen. Die Sprache, eine Expression in zweiter Potenz, ist deshalb der wahre Existentialbeweis für die in der Mitte ihrer eigenen [418] Lebensform stehende und also über sie hinausliegende ortlose, zeitlose Position des Menschen. In der seltsamen Natur der Aussagebedeutungen ist die Grundstruktur vermittelter Unmittelbarkeit von allem Stofflichen gereinigt und erscheint in ihrem eigenen Element sublimiert.“ <?page no="339"?> Arden las pérdidas 339 Arden las pérdidas In Arden las pérdidas entdeckt der Dichter seiner gequälten Seele als wirkliche Möglichkeit 116 der Mitte und Balance eine andere Seite des Seins. Die Seele transzendiert die Immanenz ihres Schmerzes - lockert die Fesseln des Seins - durch die Verwandlung der thymotisch gewendeten, zornmütig besänftigten Wut im orphischen Idiom, in dem sich Todeskampf und Heiterkeit begegnen können. Es zeigt die zivilisatorische Kraft des signum Gamonedae (XII) . Inneres und äußeres Brennen Sebastian de Covarrubias bestimmt in seinem Tesoro de la lengua castellana o española von 1611 arder als: Abrasarse, del verbo latino ardeo , des. Arder en yra y en enojo, ensañarse. […] Arder, algunas vezes, cerca de los poetas es amar excessivamente; Petrarca en la canción gentil Mia dona, etc.: Et al foco gentil ond’io tutt ardo. 117 Das Diccionario de la lengua española der Real Academia von 1992 bestätigt die Herleitung des Verbes aus dem Lateinischen, den kombustiven Vorgang des Brennens - im Unterschied zum transitiven und konsumtiven Vorgang von quemar (verbrennen, resultativ) -, seinen metaphorischen Gebrauch auf innere Vorgänge der Seele wie Wut und Zorn, oder des ingressiven In-Wut-Geraten sowie seine Verwendung in Dichtung mit erhabenem Ton und in Verbindung mit der Beschreibung der Liebe. Es präzisiert arder 118 als intransitives Verb. Im Unterschied zu abrasar (transitiv, „ reducir a brasa - zu Asche verbrennen“ 119 ebenfalls resultativ) und quemar (transitiv, „ abrasar o consumir con fuego - verbrennen oder mit Feuer verbrennen“ 120 ) liegt bei arder das Augenmerk auf der ingressiven oder, mehr noch, der durativen Aktionsart, welche dem kombustiven Vorgang in seiner Dauer und Intensität zuspielt. 116 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 232, siehe auch Fußnote Nr. 78, Seite 328. 117 Covarrubias de, Sebastián, Tesoro de la lengua castellana o española , Martín de Riquer de la Real Academia Española (Hg.), Editorial Alta Fulla, Barcelona, 1998, S. 142b ff. 118 Diccionario de la lengua española, Vigésima primera edición, Real Academia Española, Madrid, 1992, S. 129. 119 Ebd. 120 Ebd. <?page no="340"?> 340 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Auch das Deutsche brennen ist intransitiv und besitzt die Aktionsarten des Ingressiven und des Durativen: „in Flammen stehen, Feuer fangen, zünden …“ 121 . Es kennt ebenso den metaphorischen Gebrauch für innere Vorgänge der Seele. Seine Etymologie ist nicht ganz gesichert, scheint aber aus der Wurzel: ie. *bher(? ) mit der Bedeutung von „‚aufwallen, in heftiger Bewegung sein‘ (bezogen auf Wasser, Feuer, auf Koch- und Gärungsprozesse)“ 122 zu stammen. Der innere Vorgang des In-Leidenschaft-Geratens, des Aufwallens, des Blasen Schlagens, des Erzürnens und Brennens finden wir auch in dem griechischen Verb thuo („sich heftig bewegen, zappeln, stürmen, toben; in Rauch aufgehen lassen, räuchern, verbrennen“ 123 ). Seine Wurzel findet sich auch im Nomen ho thymos , den Platon in der Brust verortet und dem er den Sitz des Gemütes zuspricht 124 . Dort entsteht auch das Aufwallende der Wut oder des Zorns, Kühnheit und Tapferkeit. Dort im Thymos befindet sich jener Treibstoff der Seele, der dauerhaft brennt, nie verbrennt, sondern sich verwandelt, seine kombustive Natur nie verliert, sich niemals konsumieren lässt, sondern die Kraft abgibt, auch dem Ungeheuerlichen ins Angesicht blicken zu können 125 und zu singen-- als Dichter zu singen. Im Gesang des Dichters leuchtet die Beherrschtheit der inneren Bewegung auf. Er gebietet der Angst, dem Zorn, dem Entsetzen und der Wut. Im Lied gebietet der Dichter der Natur. Schmerz, Schrecken, Entsetzen und Sichtbarkeit, Zerstörung, Vergänglichkeit und Verwandlung gehören zum Bedeutungsfeld von brennen . Was brennt, leuchtet, lodert auf, macht sich bemerkbar, wird sichtbar bis zum Erschrecken und vergeht, verwandelt sich. Es ist ein Anderes geworden. Was aber ist mit dem, der den Schmerz spürt, den Schrecken erlebt, sieht und hört, dem Teilnehmer und Zeugen der Verwandlung? Wer ist er, wer wird er sein, wenn er den Brand durchschritten hat? Zum Bedeutungsfeld des Brennens gehört aber ebenso das unmittelbar Betroffensein, der aufkeimende Schmerz, der Bann in den Augenblick, Intensität und Jetzt, ohne ein Damals, abstandslos. Dazu gehört aber auch dennoch und un- 121 Wahrig Gerhard, (Hg. Dr. Renate Wahrig-Burfeind), Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1997, S. 169. 122 Ebd. 123 Prof. Dr. Menge, Hermann (Hg.), Langenscheidts Grosswörterbuch Griechisch Deutsch, Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung, Berlin und München, 1991. 124 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe. Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 4, Politeia , 436a ff. 125 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen , S. 177. <?page no="341"?> Arden las pérdidas 341 bedingt die Aktualität des Vergangenen, dessen Bedeutung, dessen drängende, brennende Bedeutung für das Jetzt. Zudem bedeutet Brennen kein kurzes Aufflammen und Verlöschen, es beherbergt ein Element der Dauer. Es kann heftig und lange brennen , inständig oder inbrünstig brennen. Der Brand kann wüten und sich ausbreiten; er kann vollkommen zerstörerisch alles niederbrennen, Ruinen, Ruinenlandschaften und Wunden hinterlassen. Inneres Feuer, Wut und Mut Nach einem Brand ist nichts mehr, wie es war. Alles ist anders geworden. Während des Brandes geschehen Zerstörung und Verwandlung. Die Zerstörungsmacht des Brennens für das lebendige Sein macht eine Vermittlung zwischen beiden unmöglich. Die Alternativen heißen Bestehen und Vergehen oder Verwandlung. Das Bestehen wird im Feuer umkommen und vergehen. Die Auseinandersetzung im Brand erzwingt die Verwandlung. Was von der zerstörerischen Kraft des Brandes ergriffen wird, muss sich wandeln und, wer von brennender Wut oder aufwallendem Zorn ergriffen wird, auch er erfährt eine Wandlung. In den Wendungen wütender Brand und brennende Wut , aufwallender Zorn und zorniges Aufwallen erfahren wir unmittelbar die Nach-Innen-Wendung äußeren Geschehens vermittelst Sprache, deren Bildlichkeit so zur Beschreibung als analog erlebter innerer oder äußerer Abläufe möglich wird. Die Stabilisierung dieser Bildlichkeit zum Sinnbild und schließlich zum Begriff geschieht durch das Nachdenken, durch Theoretisierung, welche selbstverständlich wiederum vermittels der Sprache geschieht. So können wir bei Aristoteles lesen: Auch den Zorn führt man auf den Mut zurück. Denn mutig scheinen auch die zu sein, die im Zorn, wie die Tiere, auf die, die sie verwundet haben, losfahren, weil auch die Mutigen zum Zorn geneigt sind. […] Homer sagt: ‚und flößte Kraft seinem Zorn ein‘, und: ‚Regte ihm Unmut und Zorn auf‘, und: ‚Grimmiger Mut in den Nüstern‘, und: ‚Es kochte das Blut in ihm‘, lauter Ausdrücke, die das Erwachen und den Drang des Zornes zu bezeichnen scheinen. Der mutige Mann handelt nun aus dem Beweggrund der Sittlichkeit, aber der Zorn hilft ihm dabei. Die Tiere aber werden durch das Schmerzgefühl bestimmt und ihr Verhalten rührt daher, dass sie verwundet worden sind oder dies fürchten. Denn wenn sie unbehelligt in Wald und Sumpf sind, greifen sie keinen an. Sie sind also nicht mutig. 126 126 Aristoteles, Nikomachische Ethik , Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg, 1985, 116b23. <?page no="342"?> 342 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Für Platon steht der Zorn als thymos zwischen Begehrungsvermögen und Vernunft 127 . Er wird in der Brust angesiedelt 128 und bezeichnet die Kraft, die dem rechten Mann bei der Durchsetzung von Gerechtigkeit gegen erfahrenes Unrecht hilft. Zornmütig soll ferner jedermann sein und zugleich sanft im höchsten Grade. Denn den gefährlichen und schwer zu heilenden oder gar völlig unheilbaren Ungerechtigkeiten anderer kann man nicht anders entgehen, als indem man sie durch Kampf und Gegenwehr besiegt und sie ohne Nachsicht bestraft; das zu tun ist aber jede Seele unfähig ohne einen edlen Zorn. 129 Allerdings fordert Platon zugleich die Sanftmut - praotes - als korrelierende Gemütsverfassung zur Zivilisierung des Zornesmutes. Berühmt ist der Zorn des Achill, mit welchem Homer die Geschehnisse der Illias beginnen lässt. Allerdings handelt es sich hier nicht um den Zorn als thymos , sondern um mänis , einen Zorn oder Groll als Empörung über erlittenes Unrecht. Sie bezeichnet einen chronischen, quasireligiösen Gemütszustand, welcher auf die Nähe des Trägers dieses Zustandes zu den Göttern hinweist, und lässt kulturell gewendet, den berechtigen Anspruch auf Wiedergutmachung oder Rache anklingen 130 . Besser als der Zorn bezeichnet das deutsche Wort Groll diesen zornmütigen Zustand. Der Groll wendet sich empört gegen den, der anderen Unrecht tut, und wird mit der mittelalterlichen ira und der colera , mit „den liderlich die gall überläuft“ 131 , in Verbindung gebracht. Ein derart verstandener Zorn als ira kann zusammenfassend als Reaktion auf ein körperlich vermitteltes Ungerechtigkeitsempfinden verstanden werden: das Cholerische als das Movens, als das jäh, zornig Auffahrende des zu unrecht leidenden Tieres Mensch, die Mänis als ein vorrechtliches, quasireligiöses Unrechtsempfinden mit Anspruch auf Wiedergutmachung und das Thymotische als eine körperliche, doch bereits rechtlich gebundene, ethisch vermittelte Reaktion des Unrecht erleidenden Menschen. Ira wie Cholera werden in der galenischen mittelalterlichen Klostermedizin mit der gelben Gallenflüssigkeit in Verbindung gebracht. 127 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe. Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 4, Politeia , 436a ff. 128 Störig, Hans Joachim, Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Kohlhammer, Stuttgart, 1999, S. 182. 129 Platon. Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch Sonderausgabe. Günther Eigler (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 1990, Bd. 4, Politeia , 731b ff. 130 Homer Ilias. Gesamtkommentar , (Basler Kommentar / BK), (Hg.) Latacz, Joachim, De Gruyter, Berlin, 2009, Bd. 1, 1. Gesang, S. 12 ff. 131 Grimm, Jakob u. Wilhelm, „Deutsches Wörterbuch“, URL: http: / / woerterbuchnetz.de/ cgibin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG28833#XGG28833. <?page no="343"?> Arden las pérdidas 343 Das Deutsche kennt den noch zu verschmerzenden, den schmerzlichen oder den nicht mehr zu verschmerzenden Verlust. Das Auftauchen von brennend anstelle des stumm mitschwingenden allgemeineren schmerzlich , befeuert die Bildhaftigkeit eines ansonsten nur allgemeinen Empfindungsausdrucks und aktualisiert den Verlust . Hier jedoch wird Verlust nicht als Haben oder Nichthaben verstanden, sondern als Sein oder nicht Sein, als Vernichtung, Beraubung oder Beschädigung des Lebens. So wie die Mutter Antonio Gamonedas durch den Tod des Mannes der Teilhabe an einem gemeinsamen Leben beraubt, wie das Kind Antonio Gamoneda durch die harte Arbeit seiner Lebenszeit beraubt wurde oder wie ob der politischen und sozialen Zustände der Epoche viele Leben vernichtet, Existenzen beschädigt, Menschen ihres Lebens beraubt wurden. -Der Verlust hinterlässt eine Leerstelle. In dieser Leere besteht die bleibende Verbindung des Verlorenen mit seinem Träger. Der Verlust ist in seiner Abwesenheit anwesend. Der erlebte Verlust löst die Sehnsucht nach dem Verlorenen aus, richtet das thymotische Handeln auf die Wiedererlangung der lebensnotwendigen Mitte hin aus. Die Kraft der Dichtung Das Vergessen erscheint, und es brennt der Verlust. Der orphische Sänger richtet sein Tun, sein thymotisches Handeln, welches sich aus seiner ira, seinem Zorn , speist, auf die Verwandlung des erscheinenden Vergessens. Der orphische Sänger, Grenzgänger zwischen der Welt der Toten und der Lebenden, zwischen Kultur und Natur, verwandelt die existenzielle Katastrophe in das Wort und das Schweigen, das singt 132 . Daraus entsteht Freude und Glück - placer . Der orphische Sänger hält die Mitte zwischen dem Aufstöhnen der geplagten Individualseele und der dionysischen selbstzerstörerischen Ekstase der Massen. Die Kraft des dichterischen Wortes Antonio Gamonedas verwandelt existentielles Leid in das Wort und das Schweigen, das singt. Dichtung erscheint bei diesem physiologisch vermittelten, materialistisch verstandenen Dichtungsbegriff 133 als alchemistisches Verwandlungsgeschehen in der Art einer inneren Sekretion in die Bewegung der Artikulation und die irdischen Substanzen von Atmung und Stimme in Freude und Glück. Orpheus ist der mythische Sänger, der mit seinem Gesang innere wie äußere Natur besänftigt und zivilisiert, den Zorn in ein Lied verwandelt. Das dichte- 132 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 16: „Nosotros, de manera un punto sobrecargada de lirismo pero sugeridora de una verdad básica, podemos convenir en que el pensamiento poético es un ‚pensamiento que canta ‛.‟ 133 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 180. <?page no="344"?> 344 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE rische Handeln bei Antonio Gamoneda ist ein orphisch geführtes, thymotisch motiviertes Handeln und verwandelt Aggression: Zorn, Groll - ira - in Kultur. Es verwandelt direktes in indirektes, vermitteltes Handeln oder Tun in und durch seine Sprache. Dies ist die Tat eines Dichters, ein Entschluss, ein ethischer Akt, welcher sich daran versucht, und er folgt damit der Aufforderung Platons, zornmütig und sanft zu sein im höchsten Grade. Das Vergessen erscheint, und es brennt der Verlust. Der orphische Sänger verwandelt das Vergessene im Brand und seine Energeia heißt ira . Ira ist der Treibstoff, aus dem der Dichter die Kraft für die Verwandlung der Sprache erhält und der Weg zum Überstieg in die syntagmatische Klarheit entsteht. Die allgemeine formale Anlage von Arden las pérdidas ähnelt einer Übersteigung in vier Kapiteln. Während in Viene el olvido die Herankunft des Vergessens beschworen wird: “Desciende el llanto a las antiguas celdas, advierto látigos vivientes … Así / arden en mí los significados.” 134 Oder: “Ha sido inútil la sutura negra. / Queda un placer: ardemos / en palabras incomprensibles.” 135 oder “Son los desvanes de la infancia. Estoy / atravesando olvido.” 136 , erfahren wir im vorletzten Gedicht des Abschnitts, welches dem gesamten Zyklus auch seinen Namen gab, Arden las pérdidas schon von einem Vorschein des Überstiegs: „Ahora / mi pasión es la indiferencia.” 137 . Doch zuvor muss noch - nachdem alle Ideologien durchschritten worden sind - die purifizierende Wirkung des Zorns ihre Arbeit verrichten: HE ATRAVESADO las creencias. Durante mucho tiempo nevó sin esperanza. Había madres que enloquecían al amanecer: oigo sus gritos amarillos. Aún nieva. Creo en la desaparición. Creo en la ira. 138 Konsequenterweise trägt das folgende zweite Kapitel den Titel: Ira . Verhandelt werden darin jene Ungerechtigkeiten, welche den Zorn der leidenden, zu unrecht leidenden Seele des lebendigen Wesens Mensch hervorbrechen lassen. 134 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 413. 135 Ebd., S. 415. 136 Ebd., S. 417. 137 Ebd., S. 431. 138 Ebd., S. 432. <?page no="345"?> Arden las pérdidas 345 DE LAS violentas humedades, de los lugares donde se entrecruzan residuos de tormentas y sollozos, viene esta pena arterial, esta memoria despedazada. Aún enloquecen aquellas madres en mis venas. 139 Der Dichter schaut ins Dunkel: VEO la sombra en la sustancia roja del crepúsculo. Cierro los ojos y arden los límites. 140 Aber er sieht auch Licht im Schatten: „Hay luz dentro de la sombra“ 141 . Deshalb trägt das dritte Kapitel die Überschrift: Más allá de la sombra 142 . Doch schließt dieses Kapitel mit der resignativen Erkenntnis der Existenz als eines metaphysischen Irrtums: Quizá el silencio dura más allá de sí mismo y la existencia es sólo un grito negro, un alarido ante la eternidad. El error pesa en nuestros párpados. 143 Die Rücknahme der Hoffnung auf Transzendenz der menschlichen Existenz mündet jedoch nicht in die Aussichtslosigkeit, denn […] Estoy soñando la existencia y es un jardín torturado. Ante mí Pasan madres encanecidas en el vertigo. […] 139 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 435. 140 Ebd., S. 451. 141 Ebd., S. 452. 142 Ebd., S. 449. 143 Ebd., S. 457. <?page no="346"?> 346 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Aún giro dentro de mí mismo aunque sé que voy a caer en el frío de mi propio corazón. Así es la vejez: claridad sin descanso. 144 Nach dem Durchschreiten der Erinnerungen, dem Purifizieren jener im Zorn und der resignierenden Anerkennung der menschlichen Existenz ohne Transzendenz erscheint eine Klarheit - claridad -, die ebenso unbedingt lebendig scheint wie die Existenz selbst: sin descanso . Claridad sin descanso ist von nun an der Name der erreichten Seinsform des Gesangs wie der Titel dieses letzten Kapitels. Das oben genannte Träumen der Existenz stellt jedoch in keiner Weise die Tatsächlichkeit des Existierens in Frage, denn es gibt keinen Zweifel an der Wirklichkeit des In-der-Welt-Seins: […] Hay una música en mí, esto es cierto, y todavía me pregunto qué significa este placer sin esperanza. […] 145 Música - Die Musik steht hier metonymisch für die Dichtung selbst und benennt eine ihrer Wesenseigenschaften als Zeitkunst: POESÍA ES la creación de objetos de arte cuya materia es el lenguaje. […] se trata de un arte del tiempo; mejor aún: de un arte de memoria. Tengo, pues, temporalización y memoria por datos necesarios en la obra poética. La temporalización posibilita una conducta «musical» del lenguaje, es decir, una composición en el tiempo . 146 Wie jede Kunstform der Zeit muss sie ihre Gegenwart dadurch gewinnen, dass sie mit ihrer Bewegtheit gegen das Verlöschen anarbeitet, als Dichtung gegen das Verschweben anartikuliert. Dieser Modus Operandi gestattet dem Dichter jedoch letztlich die Schaffung von placer , und zwar in einer Art alchimistischen Aktes: El placer es, según esto, la causa y la finalidad de la poesía. Ésta es un hecho «alquímico»: transustanciación de las significaciones, incluidas las derivadas de sufrimiento, en experiencia de placer. La operación «alquímica» (hago aquí un intento de expresión técnica) consiste en la confusión profunda del discurso musical y el discurso significativo.“ 147 144 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 461. 145 Ebd., S. 466. 146 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 23. 147 Ebd., S. 25. <?page no="347"?> Arden las pérdidas 347 Im Spiegel der Erinnerung also wird Dichtung körperlich, mithin Substanz 148 , und in ihrem Verlöschen wird sie zum Vorschein des Todes. Gerade weil Dichtung eine Kunst der Mneme ist, zeigt sich in ihr die Figur des Todes. La memoria es conciencia de la pérdida del presente, conciencia de tránsito, luego la memoria es también conciencia de ir hacia la muerte. Según esto, la poesía es arte de la memoria en la perspectiva de la muerte. 149 Doch es geht um die Sinnhaftigkeit jenes Geschehens von placer sin esperanza . Um sie ist es bei der Fragestellung des Dichters zu tun, und diese Frage windet sich in der Selbstbetrachtung bis zum Zweifel voran, führt zu einer Art Selbstentfremdung oder Selbstentsetzung, und das Selbst zerfällt: […] Ya he hablado del que vigila en mí cuando duermo, del desconocido oculto en la memoria. ¿También él va a morir? No sé. Carece desesperadamente de importancia. 150 Auf keinen Fall jedoch wird dadurch die Intensität und Freude an der eigenen Existenz geschwächt oder in Zweifel gezogen. Der Dichter weiß um seinen Standort, erkennt ihn an und liebt, was er verlor, auch in der Resignation einer endgültigen Unerreichbarkeit: […] Así es la edad del hierro en la garganta. Ya todo es incomprensible. Sin embargo, amas aún cuanto has perdido. 151 In dieser grundsätzlichen Bejahung und Liebe zum Leben können Denken und Verschwinden, pensamiento y su desaparición , zu einer einzigen Substanz zusammenfließen und agonía und serenidad , Todeskampf und Heiterkeit, sich im angestimmten Gesang des Dichters begegnen. 148 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 43 f.: „Consiste en una particular enjundia de la palabra, que se hace sensible precisamente por la corporeidad musical del dis- [44] curso. Es, por tanto, algo sutilmente físico. En casos como éste, no solo comprendemos intelectualmente la significación, sino que la sentimos: la comprensión es sensible, la significación es placer.“ 149 Ebd., S. 26. 150 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 466. 151 Ebd., S. 472. <?page no="348"?> 348 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE […] Van A cesar todas las preguntas. Un sol tardío pesa en mis manos inmóviles y a mi quietud vienen a la vez suavemente, como una sola sustancia, el pensamiento y su desaparición. Es la agonía y la serenidad. Quizá soy transparente y ya estoy solo sin saberlo. En cualquier caso, ya la única sabiduría es el olvido. 152 Die tapfere Mitte In der Anerkennung seines Todes erfährt das lebendige Wesen Mensch den Sinn des Lebens, und der orphische Dichter behauptet die tapfere Mitte zwischen den trunkenen Jüngern des Dionysos und der leidenden apollinischen Seele in Wort, Schweigen und der stillen Musik seiner Texte. Der thymotisch gewendete Zorn erschließt sich Atmung, Artikulation und Bedeutung. Das im signum Gamonedae (XIII) vermittelte Handeln erlaubt dem thymotisch motivierten Dichter Antonio Gamoneda, zornmütig und sanftmütig zugleich von der Existenz, der Heiterkeit, dem Unrecht und der Liebe zu singen. Cecilia In der dichterischen Ausführung der Anerkenntnis der Generationengrenze und deren Erfüllung durch das Kind markiert das signum Gamonedae (XIV) seinen erfüllten Bezug zur Zukunft im futuro perfecto und betont so die lebendige Seite des Seins. In der Immanenz der Generationenabfolge behauptet sich das Leben dem Tod gegenüber transzendierend. 152 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 475. <?page no="349"?> Cecilia 349 Lebendiges Sein und Erneuerung Sein besitzt seine Adjektivform nur in der abgeleiteten Partizipialform. Für Leben heißt sie lebendig . Leben heißt lebendig sein. Das Sein jedoch ist 153 . Es ist nicht seiendig, es ist nur seiend . Das Lebendige lebt, hat Leben, fällt jedoch mit dem Begriff des Lebens selbst nicht in eins. Seiend sein und Sein fallen desgleichen nicht in eins. Seiend sein beschwört auch die Vorstellung seines Untergangs herauf. Einmal seiend sein kann heißen auch nicht mehr zu sein: nicht sein. Dies gilt nicht sogleich für das Sein selbst, also auch für das Nichts. Das Sein und sein Untergang bleiben eine Annahme. Lebendig sein jedoch bedeutet zugleich Untergang. Lebendig sein heißt, irgendwann einmal nicht mehr lebendig sein, heißt tot sein. Dies gilt nicht sogleich für das Leben selbst, also auch für den Tod. Das Leben und sein Untergang, bleiben eine Annahme. Kein lebendiges Sein kennt die Dauer. Um weiter zu leben, muss es sich erneuern. Dauer und Lebendig-Sein begegnen sich nicht. Immerwährende Erneuerung ist der Ausdruck des Lebendigen für Einnahme und den Erhalt seines Platzes in der Welt. Unter dem Gesetz der Form steht das Lebendige, weil es diesen Platz in der Welt innehält. Das Lebendige behauptet seinen Platz in der Welt mit den Formen von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter 154 . Dies sind die Rhythmen seiner Lebensformen. Sie bedürfen der beständigen Erneue- 153 Den Satz: „»Das Sein ist«; “ schreibt Martin Heidegger in Über den Humanismus (Heidegger, Martin, Über den Humanismus , Vittorio Klostermann Frankfurt am Main, 1949, S. 25) und verweist dabei auf Parmenides, der ebenfalls schrieb: „ ἔστι γὰρ εἶναι »Es ist nämlich Sein«.“ (ebd.). Zudem bezeichnet Heidegger das Sein als das schlechthin Transzendente („»Sein ist das transcendens schlechthin.«“ (ebd. S. 27). Dazu nimmt das hier vorgeschlagene poetologische Denken Antonio Gamonedas der transzendierenden Immanenz insofern Stellung, da es diese Behauptung als Annahme bezeichnen muss. Der Grund hierfür findet sich in den Überlegungen der philosophischen Anthropologie als einer Ontologie des Lebendigen - hier philosophische Grundlage für das poetologische Denken Antonio Gamonedas - im Unterschied zu einer allgemeinen Ontologie. Eine Ontologie des Lebendigen kann von einer Lockerung des Seins (Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , S. 187 u. 188.) sprechen, immer aber auf der Basis genannter Einschränkung. 154 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 211 f.: „Jugend, Reife und Alter sind die Schicksalsformen des Lebens, weil sie dem Entwicklunsgprozeß wesentlich sind. Schicksalsformen sind nicht Formen des Seienden, sondern für das Seiende; das [212] Sein tritt unter sie und erleidet sie. Neben die wasgesetzliche (wesensmäßige) und die vorgangsgesetzliche (folgemäßige) tritt als dritte Art der Notwendigkeit das Schicksal. Nach der ersten Art ist alles, was Etwas ist, bestimmt. Nach der zweiten ist alles, was in der Zeit verläuft, bestimmt. Nach der dritten Art sind nur die lebendigen Dinge bestimmt.“ <?page no="350"?> 350 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE rung in der Abfolge der Generationen und drücken sich aus im Erscheinen und Untergehen der Individuen. Individuen leben in der Gegenwart von Generationen, und dies ist die Bedingung der Möglichkeit ihres Seins in einer Welt, Bedingung ihrer Kulturfähigkeit. Infans und Senex Cecilia ist der Name des ersten Kindes einer der drei Töchter des Vaters Antonio Gamoneda. Ihr Erscheinen verwandelt den Vater in einen Großvater. Während die erste Verwandlung vom Ehemann zum Vater ihn in der Erkenntnis der Liebe unterrichtete 155 , gibt die Gegenwart des Kindeskindes Cecilia Gelegenheit für den Rückgang ins Pränatale und die damit mögliche Verallgemeinerung des Themas ins allgemein Menschliche. Alles beginnt mit dem physischen und psychischen Eins-Sein zweier lebendiger Wesen in einem einzigen Körper. Duermes bajo la piel de tu madre y sus sueños penetran en tus sueños. Vais a despertar en la misma confusión luminosa. Aún no sabes quién eres; estás indecisa entre tu madre y un temblor viviente. 156 Es wird weitergeführt mit dem Weg zu einem neuen Selbst „vas cautelosa hacia ti misma.“ 157 , erreicht Herz und Mitgefühl eines dritten Menschen, des Dichters: COMO si te posases en mi corazón y hubiese luz dentro de mis venas y yo enloqueciese dulcemente; todo es cierto en tu claridad: 155 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 115: Blues de nacimiento Nació mi hija con el rostro ensangrentado y no me la dejaron ver despacio. Nació mi hija con el rostro ensangrentado pero me la quitaron de las manos. Mi hija ya va a hacer tres años y habla conmigo y ve mi rostro. Mi hija ya va a hacer tres años y canta y piensa pero ve mi rostro Yo ahora ya no me pregunto por qué se ama a un rostro ensangrentado. 156 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 481. 157 Ebd., S. 482. <?page no="351"?> Cecilia 351 te has posado en mi corazón, hay luz dentro de mis venas, he enloquecido dulcemente. 158 Es verwandelt ihn erneut, erhellt und erleuchtet sanft sein inneres Wesen. Im Kuss auf die Kinderhaut erlebt der alte Dichter ein Ewigkeitserahnen: ACERQUÉ mis labios a tus manos y tu piel tenia la suavidad de los sueños. Algo semejante a la eternidad rozó un instante mis labios. 159 Diese Anmutung der Ewigkeit entbirgt sich im glänzenden Haar des Kindes. Es wertet die Ewigkeit um in Ewigkeiten, in deren Brennpunkt und Mitte es selbst steht, und entlarvt so die Ewigkeiten als falsas : TUS cabellos en mis manos, su resplandor atravesado por enjambres invisibles, por instantes que no cesan de abandonarme; tus cabellos entre dos falsas eternidades. Ah extrañeza llena de luz: tus cabellos en mis manos. 160 Denn was wären wohl zwei Ewigkeiten? Der alte Dichter erkennt im Kind seine Grenze und die Zukunft des Kindes im más allá : MIRAS la nieve prendida en las hojas del lauro. Retienes en tus ojos la blancura y la sombra y adviertes el silencio de los pájaros. Yo sé que los pájaros han huido, que no van a volver y que tú existes más allá de mis límites. Tú eres la nieve. 161 An der Generationengrenze wird die Erneuerung des lebendigen Seins manifest. So behauptet sich der Mensch im Sein. 158 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) . S. 483. 159 Ebd., S. 485. 160 Ebd., S. 497. 161 Ebd., S. 499. <?page no="352"?> 352 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Der erfüllte Augenblick Unabhängig vom Rhythmus der Natur, dem Wechsel und seinen Verwandlungen, dem Werden und dem Vergehen lebt das Kind in einer Art Verfügungsgewalt über das Licht: DICES: «va a venir la luz». No es su hora pero tú desconoces la imposibilidad: piensas la luz. 162 In diesem Licht möchte sich der Dichter geborgen wissen, in ihm und durch es vom Kind erinnert werden, ohne dass es selbst etwas davon wissen müsste, allein in einem Fühlen seines reinen Glückes gegenwärtig: […] habré existido en un instante en que la alegría y la piedad ardían en tus ojos. Pero también quiero permanecer desconocido en ti. Desconocido. Simplemente envuelto en tu felicidad. […] 163 Das futuro perfecto - habré existido - drückt den erfüllten Bezug des lebendigen Wesens Mensch zur Zukunft aus 164 und bezeugt die Verwandlung des Abstraktums Zeit in den erfüllten Augenblick der Existenz. Manifestiert sich die Gemeinschaft der Menschen im oben genannten durch den gemeinsamen Ursprung aus der Einheit eines mütterlichen Körpers und der Abfolge der Generationen biologisch, so ist ihr psychischer Ausdruck das Erscheinen einer Mitwelt 165 . Um diese Mitwelt weiß der Mensch, wegen jener spezifischen Lockerung des Seins als Resultat der exzentrischen Positionalität 166 . 162 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 508. 163 Ebd., S. 509. 164 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 236: „Möglichkeit faßt also eine Richtungseinheit, die gegen die Bestimmungsrichtung des Seienden in der Zeit Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft gekehrt ist. Im Können des Seins wird letztlich nichts anderes als ein Vorwegverhältnis statuiert, in welchem die Abhängigkeitsrichtung von der Zukunft zur Gegenwart läuft.“ 165 Ebd., S. 375: „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position. Man muß infolgedessen sagen, daß durch die exzentrische Positionsform die Mitwelt gebildet und zugleich ihre Realität gewährleistet wird.“ 166 Ebd.: „Durch die exzentrische Positionsform seiner selbst ist dem Menschen die Realität der Mitwelt gewährleistet.“ <?page no="353"?> Cecilia 353 Diese erlaubt ihm das Ausgreifen über sich hinaus, das Einfühlen in die Erlebniswelt der Anderen, erlaubt Empathie. Da der Mensch in Abständigkeit zu sich zu leben gezwungen ist, ist er berechtigt, diese auch bei anderen anzunehmen. Die Struktur der Person in Form der exzentrischen Positionalität ist der Ermöglichungsgrund, den Anderen als zugleich anders und gleich anzuerkennen 167 . So kann sich die psychische Verbindung zweier Menschen aus der physischen Nähe heraus in Sprache hinein fortschreiben. Zum Beispiel im Licht der Adern: COMO si te posases en mi corazón y hubiese luz dentro de mis venas y yo enloqueciese dulcemente; todo es cierto en tu claridad: te has posado en mi corazón, hay luz dentro de mis venas, he enloquecido dulcemente 168 oder im Erlebnis der Entfremdung der eigenen Existenz durch den Anderen: […] Qué extraña se ha vuelto la existencia: tú sonríes en el pasado y yo sé que vivo porque te oigo llorar 169 und auch im Erlebnis des Weinens des Anderen: „Fluye / tu llanto en mis venas” 170 Sowie in der Begegnung durch eine Widerspiegelung im Wasser: SOBRE el estanque las palomas giran en torno a tu cabeza. Cuando sus alas rozan tus cabellos yo me inclino y veo tu clari- 167 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 377 f.: „Real ist die Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert, weil sie die mit der exzentrischen Positionsform gewährleistete Sphäre darstellt, die jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt. Darum kann die Sphäre als solche sowohl von den Auschnitten aus ihr wie von ihrem spezifischen Lebensgrund geschieden werden. So ist sie das reine Wir oder Geist. Und nur so ist der Mensch Geist, hat er Geist, er hat ihn nicht in derselben Weise, wie er einen Körper und eine Seele hat. Diese hat er, weil er sie ist und lebt. Geist dagegen [378] ist die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben, in der wir stehen, gerade weil unsere Positionsform sie erhält.“ 168 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 483. 169 Ebd., S. 494. 170 Ebd., S. 498. <?page no="354"?> 354 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE dad en el agua y yo estoy en tu claridad y me desconozco: estoy coronado de palomas dentro del agua. En ti 171 und auch im Verschwinden oder der Abwesenheit: TE OLVIDAS de mirarme; ah, ciega llena de luz Tus brazos se retiran de mí, pero yo huyo de mí en tus brazos. Tu pensamiento me ignora pero yo soy tu pensamiento. 172 Auch aus einer reiner taktilen Erinnerung schreibt sich die psychische Verbindung der Menschen fort: COMO música de la que aún permanece el silencio siento tus manos lejanas en mi. Así es la desaparición y la dulzura. 173 Die Gemeinschaft der beiden Lebensformen des Menschen als Infans und Senex ist konstitutiv für die Kulturfähigkeit des Individuums, wobei dies keine Einbahnstraße ist, auf der das Infans nur erhielte und der Senex nur gäbe. Denn es ist das Kind, das mit seinem unwissend wissenden Tun Anlass zur Erkenntnis, hier zur Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis gibt. In der Abenddämmerung, wenn das Licht keine deutlichen Unterscheidungen mehr zulässt und das individuelle Bewusstsein in den Schatten des Geistes 174 tritt, erkennt der Dichter senex die Natur seines eigenen Denkens im Geplapper des Kindes: 171 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 500. 172 Ebd., S. 503. 173 Ebd., S. 504. 174 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 378: „Geist ist nicht als Subjektivität oder Bewußtsein oder Intellekt, sondern als Wirsphäre die Voraussetzung der Konstitution einer Wirklichkeit, die wiederum nur dann Wirklichkeit darstellt und ausmacht, wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in einem Bewußtseinsaspekt für sich konstitutiert bleibt. […] In der Mitwelt gibt es nur einen Menschen, genauer ausgedrückt, die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen. […] Sie ist die Sphäre des Einander und der völligen Enthülltheit, in der alle menschlichen Dinge sich begegnen.“ <?page no="355"?> Cecilia 355 ALGUNAS tardes el crepúsculo no enciende tus cabellos; no estás en ningún lugar y hablas con palabras cuyo significado desconoces. Así es también mi pensamiento. 175 Von den Lippen des Kindes liest der Greis die Gestalt unbekannter Worte und konstatiert im gleichen Atemzug die Gegenwart des Unsichtbaren, in dessen Zentrum sich das Kind befindet. EN TUS labios se forman palabras desconocidas y lo invisible gira en torno a ti suavemente. 176 In seiner leuchtenden Unwissenheit spricht das Kind von einer unsichtbaren Blume . Es spricht von sich selbst, von einer Blume, die der Alte mit seinen Händen erreichen kann: CON tu lengua atravesada por una ignorancia luminosa hablas de una flor invisible. Hablas de ti misma. Nunca tuve en mis manos una flor invisible. 177 So kann der Zyklus nüchtern, doch mit fast schon zärtlicher Zuversicht schließen und feststellen: Du bist die letzte Blume. ERES como una flor ante el abismo, eres la última flor. 178 Die physische und psychische Verbindung des Kindes mit der Blume und deren Status als Anhalt des lebendigen Seins vor dem Abgrund lässt die menschliche Existenz vor dem Nichts aufleuchten. Das zarte, junge, unwissende Sein des Kindes verstellt den Blick in den Abgrund mit der stillen Musik seiner verletzlichen Form. Behauptet das lebendige Wesen Mensch seine Existenz im Sein, indem er sich in der Generationenfolge erneuert, so erhält er sich im Sein, indem er seine Vergangenheit bewahrt und in der Gegenwart des Wissens von Generationen sich 175 Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 486. 176 Ebd., S. 492. 177 Ebd., S. 495. 178 Ebd., S. 510. <?page no="356"?> 356 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE weiter noch befähigt. In der Gegenwart des Kindes infans zeigt sich dem Dichter senex die Generationengrenze - más allá - und das Ewigkeitserahnen - Algo semejante a la eternidad - zugleich. Das nur seiende Sein der Ewigkeit fällt vor der leuchtenden Existenz des Kindes infans , Hüterin des Lichts - piensas la luz - 179 und des Unsichtbaren - una flor invisible - der Falschheit - eternidades falsas - anheim. Der Dichter senex erkennt im Kinde einen erfüllten Augenblick seiner Existenz in der grammatischen Form des futuro perfecto , im habré existido en un instante , und weiß dabei dennoch um sein Verlöschen. Libro de los venenos Der Libro de los venenos zeigt die Dynamis der transzendierenden Immanenz des signum Gamonedae (XV) vermittelst der Durchmischung von Metabole und Metapher, von physiologischen und linguistischen Vorgängen, welche die Grenze zwischen Körper und Geist in diesem poetischen Essay porös erscheinen lassen. Metapher und Metabole In keinem anderen der Bücher Antonio Gamonedas liegen Metapher und Metabolismus so unmittelbar eng beieinander wie im Libro de los venenos 180 . Vermittelt werden beide von den schon im Titel genannten Substanzen, den venenos mortíferos generell und von den fieras que arrojan de sí ponzoña , den Giften also, welche die Tiere aus sich herausschleudern. Als rhetorische Figur verortet Lausberg die Metabole unter die Figuren der „Verfremdung“ 181 . Er übersetzt sie als „Abwechslung“, „varietas, variatio“ 182 . Es handele sich um „die allgemeinste Eigenschaft des Unerwarteten in der Au- 179 Siehe Kapitel mit: Oigo al ciego ruiseñor - Das Licht , ein Evidenzsymbol. 180 Rodríguez, Ildefonso, „La escritura del cuerpo“, in: Un ángel más , Nr. 2, Valladolid, otoño, 1987, S. 123: „Lo mental es un atributo más de la Físis ; toda palabra es material, hasta el nombre propio se mastica y los signos tienen peso y forma definida. Son nódulos, números y cifras de una cuenta para mensurar lo real. La visión llega a través de cánulas y filtros y el cuerpo se abre en poros, como una malla por donde circulan los idolillos, las imágenes de las cosas. Este acto no es contemplativo sino físico, más semejante a un contagio, a una impregnación, y deja humores, líquidos y tiznes en la piel del que mira las cosas y escribe sus nombres.“ 181 Lausberg, Heinrich, Elemente der literarischen Rhetorik , Max Hueber Verlag, Ismaning, 1990, S. 39 f. (§§ 84-90). 182 Ebd. <?page no="357"?> Libro de los venenos 357 ßenwelt“ 183 . Diejenige Rede, welche sich der Metabole bediene, vermittele mit ihrer Hilfe „Zuwachs an Wissen“ 184 und an „affektischem Erleben“. Wir können konstatieren, dass Metabole als rhetorische Figur in einen Zusammenhang von Wachstum (im Sinne von Zunahme, der Zunahme von Einsicht, Gewicht oder Größe) und Bewegtheit ( movens des Gefühlserlebens) aufzusuchen ist. Jean Mazaleyrat und Georges Molinié wiederum definieren Metabole als: Terme générique. La métabole désigne les déplacements et les modifications des dépendances syntaxiques par rapport à des séquences non marquées, caractéristiques des figures microstructurales de construction, comme l’hyperbate, l’hypallage … 185 Bewegung und Veränderung, mithin Verwandlung (hypallage: „Ta forme au ventre pur qu’un bras fluid drape“ 186 ) spielen auch hier die herausragende Rolle bei der Beschreibung der Metabole. Es handelt sich also gemeinhin um eine Zunahme von Bewegung und Verwandlung, um eine Dynamisierung der Rede hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf das Sein. Ontologisch gewendet ist die Um- und Anverwandlung (Metabole) von Stoffen (Substanzen) keine Übertragung (Metaphora) von Wortsinn (Bedeutungen) auf ein Anderes, und die Wirkweise von Giften auf Organismen besitzt auch keine Entsprechung der Wirkweise von Metaphern in der Sprache. Dennoch bedienen sich beide Vorgänge analoger Abläufe. Hier wie dort geschieht ein Verbringen von vorher zerlegten, dann neu zusammengesetzten Substanzen, folgt der Zergliederung (Analyse und Dekomposition) die Wiedereingliederung dieser in ein Anderes. Stoffwechsel und Bedeutungsübertragung befördern Herausgelöstes, Zergliedertes (Gekautes, Verdautes) oder Analysiertes und Identifiziertes in ein Anderes. Bedeutungen und Stoffe sind Sujets des Austausches. Vermittelst seiner vollzieht sich an der Physis oder im Spiegel der Sprache eine Lockerung des Seins. Die Aussage: „Achill war ein Löwe in der Schlacht“ 187 zerlegt die Natur des Löwen, löst aus dieser den Mut heraus und verbringt ihn zu Achill, der nun die Aufnahme eines Löwenanteils in seine Natur aufgenommen sieht. Dem Tier geschieht es ähnlich, wenn durch Zerlegung - Kauen und Verdauen - Teile aus 183 Lausberg, Heinrich, Elemente der literarischen Rhetorik , Max Hueber Verlag, Ismaning, 1990, S. 39 f. (§§ 84-90). 184 Ebd. 185 Mazaleyrat-Georges Moliné, Jean, Vocabulaire de la Styistique , Presse Universitaires de France, Paris, 1989, S. 212. 186 Ebd., S. 169. 187 Lausberg, Heinrich, Elemente der literarischen Rhetorik , Max Hueber Verlag, Ismaning, 1990, S. 78. <?page no="358"?> 358 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE ihm herausgelöst und zu Knochen verbracht werden, an denen sie sich anlagern können. Das Tertium comparationis ist jeweils entweder stofflich (Fleisch) oder ideell (Eigenschaft). Die Metapher bringt eine neue Mischung von Bedeutungen durch Verbringung oder Übertragung, die Metabole eine neue Mischung von Substanzen durch Um- und Anverwandlung hervor. Den Giften und Arzneien ähnlich bringt auch die Metapher eine Um- und Anverwandlung von Bedeutung auf den Weg. Auch sie schöpft aus der Quelle der Natur der Pharmaka und ihrer Verwandlungskräfte. Metapher und Metabole sind Promotoren des Austausches und des Wechsels, der Vernichtung und der Erhaltung, der Erneuerung und des Verfalls. Metapher und Metabole sind Katalysatoren des Austausches und der Lockerung des Seins im Spiegel der Sprache oder bei der Organisation des Organismus. Der Zusammenbruch der Grenze zwischen metabolischen und metaphorischen, zwischen Stoffwechsel und Bedeutung stiftenden Prozessen begründet eine Gemeinweltlichkeit zwischen Giften (Sekretion) und Phantasie (Bildern). Der Dichter Antonio Gamoneda 188 bedient sich der Stofflichkeit der Sprache in der Weise der Metabole als Metapher, um Bedeutung in andere, ungewohnte Zusammenhänge zu verbringen, um im Spiegel der Sprache mit Hilfe dieser Pharmaka die Lockerung des Seins in der Ausdrücklichkeit des Ausdrucks Sprache zu betreiben. Grundsätzlich stammen die im Buch angeführten Texte aus der Feder des Dioscórides , Arzt und mit seinem Werk Begründer der pharmazeutischen Wissenschaften. Dieser wiederum beruft sich auch auf die Aufzeichnungen des Kratevas , Leibarzt von Mithridates Eupator VI. 189 , der Untersuchungen zur Wirkung jener Substanzen am lebendigen Objekt Mensch ausführte. Der segovianische Renaissancearzt Andrés de Laguna wiederum übersetzte die Schrift aus dem Griechischen ins Spanische und versah seine Arbeit mit eigenen Anmerkungen. Zu diesem Fundus an pharmakologischem Wissen nimmt Antonio Gamoneda nun eine ganze Reihe weiterer klassischer Texte zum Thema hinzu und komponiert aus dem sechsten Buch des Dioscórides ein neues Textkorpus mit den Aufzeichnungen des Autors wie denen des Übersetzers. Bei diesen nimmt 188 Gamoneda, Antonio, - El cuerpo de los símbolos , Huerga y Fierro editores, S. L., Madrid, 1997, S. 180. 189 Dtv-Brockhaus-Lexikon , Bd. 12, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. München, 1982, S. 132: „Mithridates VI., Mithradates VI., König von Pontos (seit 120 v. Chr.), mit dem Beinamen Eupator, * Sinope um 132. V. Chr., † Pantikapaion (heute Kertsch) 63 v. Chr. dehnte seine Herrschaft über die Nord- und Ostküste des Schwarzen Meeres aus.“ <?page no="359"?> Libro de los venenos 359 er sich die Freiheit der Manipulation, um sie rhythmisch wie diegetisch auszuführen und zu intensivieren und fügt auch eigene Abfassungen hinzu. No ocultaré, sin embargo, la declaración de las fuentes y los extravíos concertados hasta ultimar el presente literal del Libro de los venenos , título que, como puede comprobarse en la interior portada, puede aparecer también en forma más prolija y parecida a la de su origen, acompañado por una expresión cautelar que advierte lapidariamente: «Corrupción y fábula». 190 Neben den nun drei Autoren, deren Beiträge typographisch unterschieden werden, reichert Antonio Gamoneda die Texte mit anderen klassischen Texten der medizinischen Wissenschaften an. Alle Autoren, deren er sich bedient, benennt er am Ende seines Vorwortes. So ausgestattet mit einem reichen Schatz an Themen und Vokabular und tief eingetaucht in eine Sprache mit wissenschaftlichem Duktus, entfaltet der Dichter eine Welt, in der Substanzen, Minerale, Pflanzen, Tiere und Menschen in einen Gesamtzusammenhang geraten, der sie auf mannigfaltige Weise miteinander reagieren lässt. Die mehr oder weniger giftigen Substanzen, welche aus Mineralien, Pflanzen und Tieren gewonnen werden, vom Menschen eingenommen werden, lassen den Hiat zwischen Körper und Geist porös werden und gewinnen der Sprache der alten Wissenschaften dichte Bilder und überraschende Zusammenhänge ab. La ciencia de Dioscórides y Laguna oculta y manifiesta a la vez una fabulosa materia literaria; fabulosa por su belleza y por sus mentiras. Pues bien, tengo que declarar «corrupción» porque yo he desviado la lengua de Laguna al profundizar en su rhythmica ; tengo que declarar «fábula» porque la ciencia empírica y el galenismo están (al día de hoy, quiero decir) en su natural destino, que es la poesía; y también porque yo he hecho obra de ficción inmoderada al pensar los venenos en los cuerpos y los espíritus. 191 190 Gamoneda, Antonio, Libro de los venenos , Ediciones Siruela S. A., Madrid, 1995, S. 12. 191 Ebd., S. 12: Zuzugeben vom Verfahren der ficción unmäßigen Gebrauch gemacht zu haben, sowie zusätzlich noch in die rhythmica Lagunas Texte eingegriffen zu haben, bestätigt das Verfahren, Metapher und Metabole als analoge Prozesse in Materie und Geist mit dem Ziel aufeinander zuzuführen, die Grenzen der kategorisch geordneten Welt durchlässig werden zu lassen. <?page no="360"?> 360 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE Ausdruck und lebendiger Organismus Ausdruck ist ein Grundphänomen des lebendigen Organismus und gleichursprünglich mit dessen Wesen, denn er ist eine Anmutung, die aus der Physionomie und der Bewegung folgt 192 . Ausdruck erscheint selbst noch vor der Empfindung, die eine Folge aus erlittener Bewegung ist 193 . Schon bei den in der Selbstbewegung eingeschränkten Pflanzen erleben wir den Ausdruck innerer Zustände. Das Tier wiederum muss diese sogar in anderen Lebewesen zu deuten wissen und entsprechend reagieren können. Aus diesem Grund erscheint, was auch immer in der Natur sich nur beweglich zeigt, lebendig, wie zum Beispiel der Wind, der noch dazu tönt, das Rauschen der im Wind sich wiegenden Bäume, der murmelnde Bach, die sprudelnde Quelle etc. Damit jedoch ist eine andere höhere Stufe in der Hierarchie des Lebendigen gewonnen, denn dem Wasser eignet eine eigene Art der Selbstbewegung an - ein uraltes Zeichen für das Lebendige. Die fließenden Übergänge aus dem Naturreich sind in den Sprachen mannigfaltig nachweisbar, wie das Zittern der Zweige . Der Zweig, Flora, übernimmt eine Bewegungsform aus dem Organischen, der Fauna. Das Zischen der Schlange besitzt direkt schon eine sehr spezifische Bedeutung für den Menschen. Es zeigt ihm eine unmittelbare Gefahr an. Auch das Bellen der Hunde zeigt ihm sogleich eine Warnung an. Bewegung ist selbst Ausdruck lebendig vermittelter Wirkzusammenhänge in der Natur und eine ihrer elementaren Kundgebungen und Erscheinungsformen. Allein die Natur kennt kein Mitleid; daher die unerbittlichen Wirkungen der Substanzen - heilend oder verheerend - in der Natur und somit auch beim Menschen, und daher auch die berechtigte Kritik Antonio Gamonedas an Plinius: Las advertencias de Plinio carecen de valor: racionales aparte, no es posible atribuir piedad a la naturaleza, ya que en ella no existe razón sino movimiento. 194 In einem Werk, in dem Wissens- und Wirkzusammenhänge in der Natur untersucht werden, haben Empathie und Mitleid keinen Platz. Der wissenschaftliche Duktus auch einer poetisch aufgeladenen Sprache steht für diese Tatsache. Von wesentlicher Bedeutung für das Verständnis dieses poetischen Essays scheint mir die Idee der Immanenz jenes Ganzen zu sein, das hier als ein einheitliches Reich der Natur präsentiert wird und zu dem seelische wie geistige Phänomene gehören, wie zum Beispiel im Fall der Liebe. 192 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos , (Darmstadt, 1928), hier in der Hg. Von Manfred Frings, 17. Aufl. Bouvier Verlag, Bonn, 2007, S. 16. 193 Ebd., S. 15. 194 Gamoneda, Antonio, Libro de los venenos , Ediciones Siruela S. A., Madrid, 1995, S. 29. <?page no="361"?> Libro de los venenos 361 Los venenos combaten al cuerpo humano por los cinco sentidos. El basilisco no sólo introduce su ponzoña por los miembros mordidos; también de hito en hito mirándonos la suele arrojar, como saeta de amor, por nuestros ojos a las entrañas, aunque para que pueda enclavarnos cumple que le miremos juntamente nosotros, de arte que los rayos visuales se encuentren, y éste es el más sutil veneno de todos, al cual bien se podría comparar aquella delicada ponzoña que cada día por los ojos beben los amadores. 195 Der medizinische Traktat, Jahrhunderte lang weitergetragenes Grundbuch der Pharmazie, dient Antonio Gamoneda als Vorlage für seine dichterische Interpretation und Ausführung. Fast hat es den Anschein, als ob die Konzentration des wissenschaftlichen Experiments vermittelst der Materien auf den menschlichen Körper - der unbelebten aber lebendiges Fleisch bewegenden Pflanzen- und Tiergifte -, auf die Sinne, auf Atmung und Artikulation der Opfer wie deren Sprachbilder einen erhabenen Liebestrank für die Dichtung ergibt. Die medizinische Wissenschaft eines Kratevas oder eines Dioscórides in Verbindung mit dem grausamen Experiment am menschlichen Objekt sowie einer am beobachtbaren Phänomen sich orientierenden Sprache ergibt jene Mischung, aus welcher eine dichte und an Metaphern reiche Sprache zur Vergegenwärtigung der chemischen, respektive metabolischen Abläufe hervorquillt. Der vielberufene Hiat zwischen Körper und Geist wird hier also vermittelst einer Dichtung, die sich einer phänomenologisch pharmazeutisch-therapeutischen Sprache bedient, brüchig. Der Einfluss chemischer Substanzen auf den Geist, auf Vorstellung und Sprache straft die Descartische Zweiweltenlehre Lügen. Der Libro de los venenos erklärt vielstimmig die Zeugnisse der durch Gifte vermittelten Beziehung zwischen Körper und Geist. Im Libro de los venenos sehen wir uns einem poetischen Essay gegenüber, der die Vision eines einzigen großen Weltinnenraums vermittelst einer poetisch ausgeführten, archaischen Wissenschaftssprache beschwört. Der Traktat schließt mit einem kurzen Epilog des Andrés Laguna, in dem dieser auf das Ungleichgewicht der reinen Schöpfung Gottes, in der zu jedem Gift auch ein Gegengift zu finden sei, und der Welt der fiera doméstica - meint den Menschen - mit einer Bitte hinweist, doch auch eines gegen die viperina lengua des Menschen zu gestatten. Procuró siempre la naturaleza que no hubiese cosa tan maligna y dañosa contra cuyos insultos no se hallase algún eficaz presidio, y plugiera a Dios Todopoderoso que así como nos fortaleció de muchos y valerosos remedios contra las injurias de las serpientes mortí- 195 Gamoneda, Antonio, Libro de los venenos , Ediciones Siruela S. A., Madrid, 1995, S. 31. <?page no="362"?> 362 DIE ANTHOLOGIE ESTA LUZ IM LICHTE DER PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE feras, nos concediera alguno por medio del cual pudiéramos defender de la fiera doméstica y familiar, mucho más virulenta que todas, quiero decir del hombre, de cuya viperina lengua, a veces sin ser sentida, se derrama una ponzoña tan peligrosa y mortal que ni el metridato ni la triaca perfecta bastan para remediar sus daños. 196 Versammlung, der Name der transzendierenden Immanenz In einer Welt, in der die Wirkzusammenhänge der Natur auf chemisch-metabolische Reaktionen reduziert sind, hat die Frage nach der Mitwelt, nach dem Zusammenleben des Menschen, seiner sozialen Verfasstheit in Empathie und Mitleid keinen Raum. Doch es ist allein der Mensch unter allen Lebewesen der Erde, dem es möglich ist, diese Frage zu stellen, da er allein zu sich und zur Welt selbst Stellung nehmen kann. Er ist es, der diese Frage stellen muss, der Antworten zu finden hat. Der Libro de los venenos berichtet - bei allen geschilderten Grausamkeiten - von den beharrlichen Bemühungen der Menschen, sich in einer von Giften umstellten Welt dem Heilung Stiftenden zuzuwenden. Schutz vor dem Zerstörerischen in Mensch und Natur findet hier durch Vertrauen auf die Macht der Einsicht über die Kräfte der Zerstörung statt. Das lebendige Wesen Mensch behauptet so seinen Platz im Sein gegen die Unbill, die ihm aus der Natur wie seiner eigenen Natur entgegenschlagen. Der Mensch erhält sich so in der Balance im Sein, indem er aus eben jener Natur die Pharmaka gewinnt - stofflich wie geistig -, die es ihm erlauben, weiterhin zu leben, weiterhin zu werden. So erhalten die Marter der Gequälten einen Sinn und die Opfer ihre Würde. In eben diesem Balanceakt liegt sein Vermögen zur Transzendenz. Denn Balance meint die Versammlung jener Kräfte, welche die in Extremis ausschlagenden Pendel von Verwandlung und Beharrung, von Verfall und Erneuerung zum Erhalt verbindet. Versammlung ist daher der Name jener Ausdrücklichkeit, die es dem Menschen erlaubt, sein Sein inmitten allen Seins zu übersteigen. Versammlung ist der Name für transzendierende Immanenz - der Name für menschliches Sein in der Welt. 196 Gamoneda, Antonio, Libro de los venenos , Ediciones Siruela S. A., Madrid, 1995, S. 169. <?page no="363"?> Canción errónea Ordnung und Irren Was könnte gegen Ende eines Dichterlebens der Beweggrund für ein Buch mit dem Titel Canción errónea sein? Aus welchem Grund verfemt der Dichter sein eigenes Lied? Es scheint, als habe der Dichter für dieses Buch keine Ordnung vorgesehen 1 , fast so als sei es einem beiläufigen Tun entsprungen. Wohl gebe es Hinweise auf eine Art Zusammenhang, besonders zu Beginn 2 , doch dies nur irgendwie verstreut. Das Fehlen eines Aufbaues, oder einer Chronologie erscheint dem Autor unwesentlich. Der Leser erhält noch Hinweise zu Personen, deren Namen in den Texten auftauchen, wie zu den „reiteraciones léxicas“ 3 aus dem eigenen Œuvre mit der lapidaren Bekundung „lo necesito así.“ 4 . Die geoffenbarte Abwesenheit von Ordnung, verweist den Leser auf die Offenbarkeit der Texte selbst. Im Fehlen eines strukturierten Ganzen werden Gelassenheit und Aufmerksamkeit in ein ausdrucksvolles Verhältnis zueinander gebracht. Das Durchschreiten der einzelnen Texte drängt sich in den Vordergrund, der Blick aufs Ganze tritt zurück. Die Methode fehlt, der Weg erschließt sich nur mit jedem weiteren Voran. Mit jedem neuen Text eröffnet sich dem Leser ein neuer Ausblick. Jeder Ausblick jedoch scheint dieselbe Nähe oder Ferne zu einem abwesenden Zentrum zu besitzen. Diese höchst bescheidene Art und Weise des Voranschreitens, scheut wohl auch nicht den Umweg und den Irrtum, macht ihn gar unumgänglich und jeden Befund unsicher. Wie im Leben kann das Fehlgehen hier seine Aufwartung machen. Das Ganze und das Einzelne stehen im Verhältnis der Kontingenz und bilden so eine mögliche Struktur des Lebens selbst ab. 1 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 145: „En este libro se da una ausencia de ordenación.“ 2 Ebd.: „Únicamente, en una de las hojas de apertura, ha podido leerse una relación que me parece aplicable a los que son contenidos de Canción errónea , que van a darse inadvertidamente dispersos o contiguos.“ 3 Ebd., S. 147. 4 Ebd. <?page no="364"?> 364 Canción errónea Folgt also auf den Misserfolg des Entwurfs auch der Missklang der Gesänge: Canción errónea ? Im Diccionario de la Real Academia Española finden wir unter „error“ 5 ein Fehlgehen oder sich täuschen - konzeptuell oder praktisch -, etwas falsch machen, den Irrtum und dann richtig oder falsch im Sinne der Mathematik. Das errónea des Titels irisiert also zwischen: irrig und irrend, verirrt, fehlgehen oder verfehlt, also falsch. Wenn ein Lied bezeichnet werden sollte, das irrt, war es schon unterwegs und ist nun wohl vom Weg abgekommen, durch falsche Vorstellungen vielleicht, Fehlurteile gar, auf jeden Fall aber durch Irrtümer. Vorausgegangen jedoch war ein Beginnen und der Antritt auf den Weg. Es mag eine Absicht, einen Plan gegeben haben, mit dem er begonnen wurde, möglicherweise ein Ziel, eine Karte, ein Kompass gar. Doch jetzt wird innegehalten, geprüft, um sich geblickt, nach Orientierung gesucht, nach Markierungen und Hinweisen, man sucht sich zu versichern, zu erinnern: Was war es noch, woran man sich gehalten hatte? Wo stehe ich nun? Die Wirklichkeit der Existenz PISO la luz sobre los vertederos de Cantamilanos. Vienen las moscas hambrientas. Liban en el algodón sangriento de los hospitales. […] 6 Bedenkt man die Einlassung des Dichters im Nachwort zu seiner Sammlung, in dem der vormals für dieses Gedicht gedachte Titel gestrichen und zum Werktitel erhoben wurde, birgt der Text vielleicht doch Hinweise zur näheren Bestimmung des gesamten Werkes 7 . Es handelt sich bei diesem Gedicht um ein strophisch gegliedertes Lied. Es beginnt mit dem Eintritt ins Licht der Müllhalden , schildert diesen Ort und steigert sich zum Eintritt in sich selbst Dann / gehe ich in mich . In den dortigen Knochengewölben scheint Licht in seiner Negation und ist wie unbehauste Erinnerung, wie ein fremder Körper. Ohne das Weinen und die Gesichter gibt es 5 Diccionario de la lengua española, Vigésima primera edición, Real Academia Española, Madrid, 1992, S. 611. 6 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 55. 7 Ebd., S. 145. <?page no="365"?> Die Wirklichkeit der Existenz 365 kein Erkennen. Ein Einsamer Sprecher muss als Widergänger eines Traumes auf Gewissheit verzichten. Glockenschlag und Stille streiten um ihr Sein. Niemals kann immer sein und Verstehen wie Nichtverstehen sind einerlei. Im Todeskampf die Feststellung: Ich bin ein Irrtum. Du, du bist / auch ein Irrtum - doch geliebt. Es bleibt allein die Sehnsucht im Lichte der Agonie. Ein Ich, ein Du - Text, Geliebte oder Partner -, Licht und Agonie. Der Rest ist ungewiss, noch weniger als ein Irrtum. Ein Ort im Irgendwo, doch bestimmt, und doch ist es wie überall, vielleicht nur die Heimat: Cantamilanos, Villabalter, ein Anheben zum Gang, ein Eintreten, ein Wagen, ein Weg. Dieser führt ins Innere 8 und verschärft die Frage nach Orientierung. Hier in der Seeleninnenwelt 9 ist gewiss nur das Ziel: der Tod, das Ende der Agonie. Ein weiterer Hinweis des Autors im Nachwort bestätigt diesen Befund. Bezeichnete er doch eines der Gedichte mit: „una frivolidad“ 10 . Auch dieser Titel wurde gestrichen: 8 Bezeichnend für das signum Gamonedae , mit seiner Struktur lesbar und rätsehlhaft zugleich zu sein, ist, dass der Übergang von der Außen zur Innenwelt derart schlicht geschieht. Der Wanderer erscheint: Piso la luz sobre los vertederos / de Cantamilanos , hähert sich Ziegeleien und Después / entro en mí … und obwohl die Seeleninnenwelt Licht, Dunkel, Architektur und Zärtlichkeit kennt, hat sich deren Natur wesentlich verändert. Es gibt keinen temblor viviente mehr, nur luz acariciando mis huesos und luz en su negación . Es sind rätselhafte Erscheinungen der Leblosigkeit, kosend erleuchtete Knochen und Licht in seiner Negation. 9 Lesbarkeit und Rätselhaftigkeit eröffnen hier den Weg in den Weltinnenraum der Seele. Jene Seite des Seins, in dem Sinn und Bedeutung zusammenfallen, einen Raum, den Heidegger wie folgt beschreibt: „Fast gleichzeitig mit Descartes entdeckt Pascal gegenüber der Logik der rechnenden Vernunft die Logik des Herzens. Das Innen und das Unsichtbare des Herzraumes ist nicht nur innerlicher als das Innen des rechnenden Vorstellens und darum unsichtbarer, sondern es reicht zugleich weiter als der Bereich der nur herstellbaren Gegenstände. Im unsichtbaren Innersten des Herzens ist der Mensch erst dem zugeneigt, was das zu Liebende ist: die Ahnen, die Toten, die Kindheit, die Kommenden. Dies gehört in den weitesten Umkreis, der sich jetzt als die Sphäre der Präsenz des ganzen heilen Bezuges erweist. Zwar ist auch diese Präsenz wie diejenige des gebräuchlichen Bewußtseins des rechnenden Herstellens eine solche der Immanenz. Aber das Innen des ungebräuchlichen Bewußtseins bleibt der Innenraum, in dem für uns jegliches über das Zahlhafte der Rechnung hinaus ist und, frei von solcher Schranke, überfließen kann in das entschränkte Ganze des Offenen. […] Der weiteste Umkreis des Seienden wird im Innenraum des Herzens präsent. Das Ganze der Welt gelangt hier nach allen Bezügen in die gleichwesentliche Präsenz. […] Der herzhafte Innenraum für das weltische Dasein heißt daher auch der »Weltinnenraum«. (Heidgger, Martin, Holzwege , Vittorio Klostermann Frankfurt am Main, 1950, 6. durchgesehene Auflage, S. 302.) 10 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 145. <?page no="366"?> 366 Canción errónea UNA flor en mi muerte. Sólo una flor. No un sueño colmado de luz ni una agregación de espíritus [sostenida por una música sin límites. Sólo una flor. 11 Deutlicher noch als das Blumenbild, spricht die Haltung des Autors zu seinem Text aus, was die Unbedeutsamkeit - selbst die frivolidad wurde dann gestrichen - in der Wahl des Bildes für eine doch so bedeutsame Sache wie den Tod angeht. Die Verortung der Person im Leben, im Tod oder bei der Arbeit des Schreibens verblasst, die Orientierung an gewöhnlichen Standards, wird gelöst und das Ende herbeigerufen. Diese existenzielle Situation in der Schwebe des Irrtums wird mit dem ersten Gedicht des Zyklus vorbereitet, und die Perspektive von dieser in Absehung auf den Tod - der einzigen Gewissheit - beschrieben. HABÍA vértigo y luz en las arterias del relámpago, fuego, semillas y una germinación desesperada. Yo desgarraba la imposibilidad, oía silbar a la máquina del llanto y me perdía en la espesura [vaginal. También entraba en urans policiales. Así olvidaba los ojos blancos de mi madre. Vivía. Parece ser. Vivía. Ahora mismo atiendo distraído a mi estertor. No hay en mí 11 Ebd., S. 69. <?page no="367"?> Die Wirklichkeit der Existenz 367 [memoria ni olvido; única y simplemente lucidez. Han desaparecido los signifcados y nada estorba ya a la [indiferencia. Definitivamente, me he sentado a esperar a la muerte como quien espera noticias ya sabidas. 12 Das imperfektische „ich lebte“ wird im zweiten Text des Werkes in die Gegenwart geholt und erfährt somit seine existenzielle Zuspitzung in einer hypothetischen Konstruktion eines: Aber nein. / wohlbedacht, kann ich mich täuschen: das einzig / Wahre ist das Falsche und / die Worte sind bedeutungslos … PRETENDO escuchar la música sistólica y su envoltura de [llanto, pero me disperso en la fugacidad de rostros que se [forman en la lluvia, rostros tan rápidos que no alcanzan a [existir. Por otra parte, yo apenas sé llorar y, en consecuencia, me [pregunto: ¿es que alguien está llorando en mí? Es igual. Yo quiero oír la música sistólica o, no sé, ver [algo, ver, por ejemplo, la última madera, su ausencia de [temblor ante el abismo. Ver el tiempo en inmovilidad y después advertir suavemente su desaparición. 12 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 13 f. Zeichnen die ersten 8 Zeilen ein Lebensresümee, so hält mit Parece ser. / Vivía der Zweifel Einzug und wird mit Ahora mismo… die Erwartungszeile auf den Tod vorbereitet: Definitivamente, me he sentado / a esperar la muerte . <?page no="368"?> 368 Canción errónea Pero no. Pensándolo bien, yo puedo estar equivocado: lo único [verdadero es la falsedad y las palabras carecen de signifcado; la palabra «vivir», [Por ejemplo, no significa aunque esté frecuentemente ensangrentada. Pero, pensándolo aún mejor, la palabra «agonía», por ejemplo, significa. No está pues clara la razón lingüística. No ésta claro: agonizar sin causa ni deseo. Es además muy cruel ésta y cualquiera otra significación. Lo deseable sería, efectivamente, no tener pensamiento; descansar en la [falsedad, y después, efectivamente, sin miedo ni esperanza, cesar. 13 Damit nun sind Ton und Thema der Gedichtsammlung gesetzt. Die hypothetische Konstruktion dieses Textes ist im Œeuvre des Dichters bisher unerhört und entspricht der nun ins Visier genommenen zentralen Frage nach der Wirklichkeit der Existenz in der Perspektive des Todes. In dieser versinkt der Bedeutungsunterschied des Wortes Vivir zwischen wahr und falsch in der Bedeutungslosigkeit, und der Dichter wünscht sich in gedankenloser Apathie ins Nichtsein einzugehen. Cesar deutet auf einen unendlich kleinen Übergang vom Sein zum Nichtsein hin, nicht mehr als ein sich Ergeben ins Ende, ohne Hader, 13 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 15 f. <?page no="369"?> Der homo absconditus und die Freiheit des Sängers 369 ohne jeden Widerstand. Bestätigt wird dadurch nur die Idee einer Wesensidentität von Sein und Nichtsein, von Traum und Wachen, Erinnerung und Vergessen. APENAS oyes la destrucción de la madera (los termes ciegos en sus venas). Sueñas las agujas y los armarios llenos de sombra. ¿Es tu siesta final? ¡Cuánta niñez bajo los párpados! Como al tábano triste en el verano, apartas de tu rostro la [sarga negra de tu madre. Vas a despertar en el olvido. 14 Der homo absconditus und die Freiheit des Sängers Auf den Seiten von Canción errónea entfaltet sich das Leben als Widergänger des Traumes, im Gespräch mit den Abwesenden - auch den abwesenden Toten in der Erinnerung an sie -, in der Erinnerung an die Liebe, die Bestätigung der Flüchtigkeit des Lebens (Vanitasmotiv) oder der Beständigkeit des Flüchtigen in der Kunst (bei Film und Malerei) 15 . Ohne weitere Ordnung hebt der Dichter immer wieder zu seinem Gesang an, spricht mit den Abwesenden, erinnert sich der Liebe, sucht sich in der Fülle seines Daseins heimzuholen. Doch es gelingt nicht mehr, er wird nicht mehr fertig mit sich, ist endgültig aus sich, aus seiner Mitte herauskatapultiert. Er ist am Rande seines Lebens angelangt und muss sich fragen: Wo stehe ich nun? Dem Sterben nahe und in der Nachbarschaft des Todes wird der Mensch nicht fertig, nicht mit seinem Werk und nicht mit sich. Er findet weder Halt noch Ruhe für ein Ende vor dem nahen letzten Ende, und seine Existenz fällt an den Zweifel: War wirklich, was war? Ist was war, was ist und was sein mag, oder 14 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 143. 15 Canción errónea besitzt auf der Seite. 149 einen índice onomástico , mit dem sich der Leser einen Überblick verschaffen und in den Texten orientieren kann. <?page no="370"?> 370 Canción errónea doch eher, was zu sein hat: der Tod? Die Wirklichkeit der Existenz zerbricht, und sein ins Nichts hineinragendes Sein erklärt seine Existenz zum Unheimlichen zwischen zwei Unendlichkeiten des Nichts: […] No hay causa en mí. En mí no hay más que cansancio y un antiguo extravío: ir de la inexistencia a la inexistencia. Es un sueño vacío. Pero sucede. Yo amo todo cuanto he creído viviente en mí. Amé las manos grandes de mi madre y aquel metal antiguo de sus ojos y aquel cansancio lleno de luz y el frío. Desprecio la eternidad. He vivido y no sé por qué. Ahora <?page no="371"?> Der homo absconditus und die Freiheit des Sängers 371 he de amar mi propia muerte y no sé morir. Qué equívoco. 16 Der Mensch ins Nichts gestellt. Ein Sein ohne Grund und ohne Sinn. Transzendiert der Mensch Seiendes: das Unbelebte, die Pflanze, das Tier, so bewegt er sich doch unter ihnen. Es ist ihm nicht vergönnt, die Welt selbst zu überschreiten. Er bleibt ein Wesen in den Grenzen des Seins, ohne sichere Heimat. Sie gibt es auch an keinem überweltlichen Ort. Er bleibt auf dem Weg in der Welt verhaftet, bleibt Bewohner unter Bewohnern dieser einen Welt. Sein Leben, das Geschehen eines leeren Traumes und also sein Leben und sein Lieben scheinen ihm ein Irrtum zu sein. Wahrhaftig, die Existenz des Menschen ist hier auf Schein gegründet, auf ein Nichtsein, auf einen Utopos, einen Unort, auf die Leere. Im letzten anthropologischen Grundgesetz, dem Gesetz des „utopischen Standortes“ 17 beschreibt Plessner die Gründung des menschlichen Seins im Nirgendwo, an einem Ort: Nirgends. Dieser Ort gehört zum Menschen. Er bewohnt ihn, ist wesensgleich mit ihm, und es ist dieser Ort: Nirgends, der ihn als homo absconditus 18 bestimmt. Genau dieser Ort ist es aber auch, der den Menschen öffnet, offen hält für den Wandel, für Anderes, Neues. Deshalb auch heißt das Sein des Menschen: beständiges Wagen 19 . Wo stehe ich nun? Das war die Ausgangsposition der Sammlung dieser Texte. Der Autor von Canción errónea schritt über Müllhalden, folgte den Bettlern und der Liebe, suchte das Licht seiner Agonie, wünschte eine Blume, verirrte sich im Traum und verirrte sich im Irren, doch er versagte sich nicht zu singen, und er sang ein irrend Lied: einen Ton, einen Rhythmus, ein Skandieren, dem 16 Canción errónea , Tusquets Editores, S. A., Barcelona, 2012, S. 28 f. 17 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 419 ff. 18 Plessner, Helmuth, Conditio humana , Gesammelte Schriften Bd.: VIII, Frankfurt a. M., 2003, S. 357: „Die Schrankenlosigkeit des menschlichen Wesens, die wir gleichwohl in seiner spezifischen Lebensstruktur verankern können, gibt das Recht, vom homo absconditus zu sprechen, weil er die Grenzen seiner Schrankenlosigkeit kennt und sich damit unergründlich weiß. Sich und seiner Welt offen, weiß er um seine Verborgenheit.“ Siehe auch hier, S. 365: „Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der Mensch sich verborgen - homo absconditus . Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur des Menschen.“ 19 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 270: „In dem Feld, das seinen natürlichen Ort enthält, mit ihm und gegen es gestellt, muß der lebendige Körper existieren - zwischen Frieden und Kampf, auf Leben und Tod. Deshalb heißt Leben in Gefahr Sein, heißt Existenz Wagnis.“ <?page no="372"?> 372 Canción errónea Nichts entgegen, angehoben auf einem Weg, auf des Menschen Weg. Es ist ein rein menschliches Ansinnen, dem Nichts entgegen zu singen, als Bewohner unter Bewohnern der Welt seiner Art des Seins Ausdruck zu verleihen, seiner Natur inne zu werden, und die Welt auf die Welt hin in sich selbst hinein zu übersteigen. Dies ist der Weg, den Orpheus nahm, als er es wagte, seine Eurydike aus dem Hades zu führen. Unendlich endlicher Gefangener des Todes, wagt der Mensch seine Grenzen, steigt in das Reich des Todes hinab. Beinahe gelingt es ihm, Eurydike zurück zu gewinnen. Wenngleich von der Natur eingeholt und ihr am Ende - wie Orpheus - erliegend, singt der Dichter Antonio Gamoneda und geht damit ins Leben und über es hinaus. Wenn die Ordnung zwischen dem Ganzen - Gedichtband - und seinen Teilen - Gedichten - im Dunkeln bleibt und ein strukturelles Abbild des homo absconditus darstellt, bestätigt jeder einzelne Text die Freiheit des Menschen, dem Tod entgegen zu singen. Mit dem Eintritt in sich selbst zur Welt, kündet das signum Gamonedae (XVI) von der Lockerung des Seins und von der transzendierenden Kraft des orphischen Idioms in der Immanenz des Lebens. <?page no="373"?> Nachwort Das signum Gamonedae und das ontologische Plus La poesía utiliza palabras homófonas del idioma normal, pero su semántica es otra no es la del lenguaje normal. 1 In der Welt des Descartes operieren die Sinne des Menschen als Einfallstor und Datengeber für den Verstand. An ihnen erliest er sich das Manko der Täuschung, die er aus den unsicheren Daten wieder herausrechnen muss, damit ihm eine stabile Welt entsteht. Im Formalismus Kants wird deshalb der synthetische Schluss a priori gesucht und behauptet. Beide teilen die kategorische Unterscheidung zwischen Denken und Sinn. In der Ästhesiologie des Geistes untersucht Plessner die Frage nach dem Sinn der Sinne und erklärt ihre Vernünftigkeit. In und durch die Sinne erscheint dem lebendigen Wesen Mensch die Welt, und zwar als eine voll des Sinnes. Ort dieses Geschehens ist der Körperleib, und dieser wiederum hat seinen Ort in der Welt. In der Einheit des anschauenden und des deutenden Bewusstseins erscheint die Welt in ihrer Objektivität. Da die Sinne die Welt in ihrem sinnlich-vernünftigen Angesicht erscheinen lassen 2 , erscheint auch der Ort dieses Erscheinens, der Körperleib, als ein dem Logos transparenter. Sein Erlebnis heißt Erfahrung der Welt im Spiegel der Seele 3 . Hier konstituiert sich Welt als Innere thematisch, wird syntagmatisch präzisiert und schematisch verrechnet 4 . Die Gesetze der Innenwelt unterscheiden sich von denen der Außenwelt insofern, als sie zugleich erlebnisbedingend und erlebnisbedingt 5 sind. Der 1 Antonio Gamoneda: „Eröffnungsvortrag‟, XII Encuentro de traductores y escritores de Castrillo de los Polvazares , Astorga, 24. Juli 2017. 2 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 403: „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter.“ 3 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 216 f.: „Denn psychisches Sein spiegelt im Erlebnis den Gegenstand und [217] gehorcht der syntagmatischen Form, da es mit ihr die Struktur der Präzisierbarkeit teilt, wie es oben auseinadergesetzt worden ist.“ 4 Ebd., S. 189 u. 220. 5 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 369: „Innenwelt als die in Selbst- und in Gegenstandstellung vorhandene, als die durchzumachende und die wahrzunehmende Realität ist im Seinstypus verschieden von der Außenwelt. Denn läßt sich hier auch an der Erscheinungsweise die ganze Skala von reiner Zuständlichkeit einer nur tragenden und begleitenden Umwelt bis zu reiner Gegenständlichkeit einer für sich bestehenden Dingwelt durchlaufen, <?page no="374"?> 374 Nachwort Seinstypus der Innenwelt ist plastisch. Er reicht von reiner Gegenständlichkeit bis reiner Zuständlichkeit, dem Hingenommen-Sein, verzückt sein von einem Gegenstand. Eindruck, Erlebnis und Erinnerung sind Intensiva und an Akte gebunden. Explizit wird dieses Erkenntnisgeschehen in seiner Vermittlung durch Sprache. In der Sprache wird ausdrücklich, was am Ort des erkennenden Geschehens - dem Körperleib - als Welt verhandelt wird. In ihr kann der Mensch Stellung zu seinen Stellungnahmen - Haltung, Handlung und Ausdruck - der Welt und Mitwelt gegenüber beziehen. Damit kann auch der ontologische Status des Erlebnisses als einer beschrieben werden, in dem die Welt verhandelt wird. Im Erlebnis verhandelt das lebendige Wesen Mensch sein In-der-Welt-Sein. Das Erlebnis schreibt mit an der ontologischen Verfassung der Welt. Im Erlebnis, insbesondere in seiner sprachlichen Verfasstheit, wird dem Menschen die Welt ausdrücklich. In der Verhandlung der Welt in der Ausdrücklichkeit der Sprache - selbst schon ein Geschehen des Geistes und somit der menschlichen Gruppe - ist der Mensch bei sich und bei der Welt zugleich. Sprechend wohnt er der Welt inne und überschreitet sie zugleich, indem er sie sich in der Sprache zur Gegenwart bringt. Die Sprache „macht das Ausdrucks verhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken.“ 6 Als solche ist die Sprache ein Ort der transzendierenden Immanenz, denn in ihr kann sich der Mensch zu seinem Sein in ein ausdrückliches Verhältnis setzen. Er bestätigt so seine exzentrische Positionalität, welche in ihrer Struktur selbst Ausdruck des transzendierenden Immanenzverhältnisses seines Seins in der Welt ist, denn exzentrisch positioniert erlebt der Mensch sein Erlebnis und kann sich somit selbst ergreifen 7 . Die Plessnersche Vorstellung der exzentrischen Positionalität beschreibt die Bedingung der Möglichkeit für das kunstvolle Tun des Dichters Antonio Gamoneda als einen Akt der sprachlich transzendierenden Immanenz. Desgleichen zeichnet die Dynamik der Plessnerschen gegensinnigen Grenzvermittlung die der transzendierenden Immanenz als eine Metabole , als Aneigungs- und Anverwandlungsgeschehen von Wirklichkeit. Zwei analoge Geschehen, physioso doch niemals am Sein selbst. In der Innenwelt dagegen gibt es eine Skala des Seins . Da gibt es das »mir zu Mute Sein« ebenso wie das »Etwas Sein«.“ 6 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 417. Ebenfalls hier: „Das exzentrische Zentrum der Person, vollziehende Mitte der sog. »geistigen« Akte, vermag durch eben seine Exzentrizität die Wirklichkeit , welche der exzentrischen Position des Menschen »entspricht«, auszudrücken .“ 7 Ebd., S. 364: „Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“ <?page no="375"?> Das signum Gamonedae und das ontologische Plus 375 logisch das eine, kulturell das andere: Das Außen - Umfeld und Geist - wird zu einem Innen, welches sich in Erhalt, Wachstum und Tat sprachlich in Dichtung zum objektiven Außen entäußert. Mit der dichterischen Arbeit der transzendierenden Immanenz entspricht der Logos poietikos des Antonio Gamoneda der Struktur und Dynamik der exzentrischen Positionalität: Abständigkeit, die Ausdrücklichkeit nach sich zieht und diese im Dichterwort manifest werden lässt; innere Verwerfung der Person, die sich in der Überschreitung der Genregrenzen vermittelst der Inanspruchnahme des Rhythmus als Impulsgeber im Gegenüber mit der Tradition und in Rückbindung an die individuelle Existenz kundtut. Vor dem Hintergrund der Plessnerschen Überlegungen lässt sich das anthropologische Proprium von Kunst als die Verschränkung des inneren Zerwürfnisses des Menschen, welches sich in der exzentrischen Positionalität zeigt, mit der äußeren Einheit seiner Daseinsweise der Ausdrücklichkeit, welche sich in der transzendierenden Immanenz zeigt, beschreiben. Unter den Wesensmerkmalen des Menschen, die am häufigsten angegeben werden, steht die Sprache mit an erster Stelle. Wie die Untersuchung lehrt, mit Recht. Nur ist »Sprache« zu eng für das, was den Kern des Wesensmerkmals bildet: Expressivität. Und doch verlangt Sprache, abgesehen davon, dass sie sich im realen Leben des Menschen hervordrängt, eine besondere Stellung in der Schicht der Ausdruckshaftigkeit. Denn sie gibt das, worauf Ausdruckshaftigkeit überall beruht: die Entsprechung zwischen der Struktur der Immanenz und der Struktur der Wirklichkeit - beide Zonen stellen vermittelte Unmittelbarkeit dar zwischen beiden herrscht die Beziehung vermittelter Unmittelbarkeit - explicite. Sie macht das Ausdrucks verhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Gegenstand von Ausdrücken. Sie ist nicht nur auf Grund der Immanenzsituation, der doppelten Distanz des Personenzentrums vom Leib, möglich, sondern kraft der Exzentrizität dieses Zentrums drückt sie diese Situation im Verhältnis zur Wirklichkeit auch aus. […] So laufen die Wesensbeziehungen zwischen Exzentrizität, Immanenz, Expressivität, Wirklichkeitskontakt in der Sprache und ihren Elementen, den Bedeutungen , auf eine überraschende Weise zusammen. Die Sprache, eine Expression in zweiter Potenz, ist deshalb der wahre Existentialbeweis für die in der Mitte ihrer eigenen [418] Lebensform stehende und also über sie hinausliegende ortlose, zeitlose Position des Menschen. In der seltsamen Natur der Aussagebedeutungen ist die Grundstruktur vermittelter Unmittelbarkeit von allem Stofflichen gereinigt und erscheint in ihrem eigenen Element sublimiert.“ 8 8 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 417 f. <?page no="376"?> 376 Nachwort Ist der Mensch nach Plessner zur ständigen Stellungnahme zu sich und der Welt gezwungen, so gibt ihm die Daseinsform der Ausdrücklichkeit, die Kraft zum Ausdruck und die Mittel an die Hand, dem Hinter-sich-gekommen-Sein mit einem Zu-sich-selbst-Kommen zu begegnen 9 . Vermittelst dieser Kraft zum Ausdruck wird der Laut zum Wort, das Wort wiederum zum Zeichen und mithin zum Symbol. Das signum Gamonedae entspricht in seiner Paradoxie: lesbar und rätselhaft zugleich zu sein, dem anthropologischen Diktum der exzentrischen Positionalität, der nicht mehr weiter objektivierbaren „totalen Reflexivität des Lebenssystems“ 10 Mensch, welches ihm einerseits seinen Körper in Körper und Leib teilt, ihn andererseits aber in einem Körperleib versammelt, ihn so zu einem Ich und sich im Abstand zu sich selbst werden lässt - erkennbar und rätselhaft zugleich. Als lesbares entspricht das signum Gamonedae einem Mit-sich-im-Einvernehmen-Sein und teilt selbstverständlich in einem einfachen Verhältnis zu seinen Bedeutungen die dem Sein zugewandten Seiten ein. Als rätselhaftes jedoch entspricht es einem Mit-sich-Uneins-Sein und versammelt um sich, unselbstverständlich und in einem komplexen Verhältnis um mögliche Bedeutungen schwebend, die dem Sein abgewandten Seiten. Das signum Gamonedae zitiert das lexikalisch oder begrifflich festgestellte Sein der Koine herbei, wie es das musikalisch-rhythmisch gelockerte Sein des orphischen Idioms aufruft. Es erschließt eine Zwischen- oder Überwelt - un hecho correspondiente al mundo concreto de nuestros sentidos biológicos, traumáticamente fenomenal - 11 und nimmt so Maß am ganzen Sein: dem Erlebnis eröffnet, der Erkenntnis verborgen. 9 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 23: „Immerhin gilt es zunächst heuristisch an der Plessnerschen These festzuhalten, daß auch Kunst wie alle Kulturphänomene, aber im bevorzugtem Maße, der eingeborenen Tendenz des Menschen entspringt, seine Exzentrizität und seinen utopischen Standort zu überwinden und gewissermaßen zu kompensieren. Die Kunst ist neben der Religion vor allen anderen Kulturbereichen dadurch ausgezeichnet, daß sie die permanente Ungleichgewichtigkeit, ‚Hälftenhaftigkeit‘ und Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen durch zweckfreie und selbstzweckhafte Gebilde auffangen und ausgleichen kann, denen ein objektives, ontisches Eigengewicht zukommt.“ 10 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 367: „Eine positionale Mitte gibt es nur im Vollzug. Sie ist das, wodurch ein Ding zur Einheit einer Gestalt vermittelt wird: das Hindurch der Vermittlung. […] Es steht im Zentrum seines Stehens. Damit ist die Bedingung gegeben, daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst Distanz hat, von sich selbst abgehoben die totale Reflexivität des Lebenssystems ermöglicht. Sie ist gegeben ohne widersinnige Verdoppelung des Subjektkerns, lediglich im Sinne der Positionalität. Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten [363] Körpers ist ihm selbst gegeben.“ 11 Larrea, Juan, Versión Celeste , Catedra Letras Hispánicas, 2ª edición, Madrid, 2003, S. 19. <?page no="377"?> Das signum Gamonedae und das ontologische Plus 377 Hinsichtlich eines ontologischen Propriums von Kunst bedeutet dies, dass die Kunstgebilde ob ihrer ästhetischen Qualität wohl an ihr materielles Substrat gebunden sind, zugleich jedoch die Ebene bloßer Artefakta übersteigen. Sie verweisen nicht mimetisch auf anderes, sondern haben selbst bei einer realistisch intendierten Kunst ihr Schwergewicht in sich selbst, sind in gewisser Weise binnenreferentiell und selbstreflexiv und nicht auf einen externen Referenten zurückführbar wie das Zeichen. Kunstgebilde sind daher auch im Unterschied zur Eindeutigkeit des Zeichens nicht definitiv begrifflich fixierbar, sondern infinit reflektibel und mehrdeutig. 12 Für Krämer spricht sich in dieser ontologischen Verortung von Kunst daher ein Realitätsüberschuss aus, „der sich in antirealistischer Sicht auch als von einer imaginativen oder fiktionalen Subjektivität (des Produzenten oder Rezipienten) getragen darstellen mag.“ 13 Damit unterscheiden sich Kunstwerke für Krämer von Zeichen: Zeichen sind Dinge zweiter Ordnung, Kunstgebilde dagegen Zeichen zweiter Ordnung und mithin Dinge dritter Ordnung und Potenz. 14 In der Kunst des Künstlers, dem Kunstgebilde, der Dichtung oder der Komposition gewinnt das Zeichen an Bedeutung. Dieser Gewinn geschieht im Werk vermittelst der Inanspruchnahme des Bedeutenden, des Signifikanten. In der Dichtung Antonio Gamonedas wird neben der Bedeutung auch das Bedeutende, neben dem Signifikat auch der Signifikant in ein Signifikat verwandelt. Diese Inanspruchnahme des Signifikanten erhöht das Zeichen zu einem Zeichen zweiter Ordnung , mithin zu einem Ding dritter Ordnung und Potenz , zum Symbol. Die Erhebung des Zeichens zum Symbol im Kosmos der dichterischen Rede Antonio Gamonedas offenbart eine Form der Lockerung des Seins und legt die Dynamik der transzendierenden Immanenz dar. Die paradoxe Struktur des signum Gamonedae als lesbar und rätselhaft zugleich führt die ursprüngliche Beweglichkeit des Zeichens vor Augen, welches schon vor der Trennung zwischen Sprechen und Sprache 15 den Verfallsindex 12 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 3. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. C. H. Beck, München, 1923, Nachdruck 1969, S. 717: „Im Verlauf dieser langen Entwicklung vollzieht sich endlich die Ablösung der Sprache vom Sprechen . Es gibt in der Sprachgeschichte keinen Vorgang von größerer Tragweite. Ursprünglich sind ohne Zweifel alle Motive und Zeichen aus dem Augenblick geboren und nur für einen einzelnen Akt der Wachseinstätigkeit bestimmt. Ihre wirkliche, gefühlte und also gewollte Bedeutung sind ein und dasselbe. Das Zeichen <?page no="378"?> 378 Nachwort seiner Gültigkeit eingeschrieben trug. Zugleich führt es aber auch seine Dynamis, sein ontologisches Plus, vor Augen, wenn es in seiner Rätselhaftigkeit 16 und semantischen Kraft das einstmals festgestellte Zeichen wieder in Bewegung versetzt, es dekontextualisiert, und es im dichterischen Idiom in der rhythmischen Einheit von Bewegung und Beharrung 17 , Sein und Nichtsein zu schweben beginnen heißt. Die bewegte Bewegung des signum Gamonendae versammelt Bedeutungen in einem Zustand des Schwebens um sich. Die daraus resultierende Rätselhaftigkeit lässt das Dichterwort als ein Intensivum erlebbar werden und ruft so eine Situation ursprünglichen Sprechens 18 auf. Das in die Schwebe verbrachte Dichterwort schließt eine Wirklichkeit als eine zwischen Sein und Nichtsein Schwebende, als eine noch zu deutende wirkliche Möglichkeit , der selbsteigenen Realität des Dichterwortes auf. Der Realitätsüberschuss der Kunstgebilde als Zeichen zweiter und dritter Ordnung und Potenz manifestiert sich im signum Gamonedae als einem lesbaren und rätselhaften zugleich. Lesbar und rätselhaft zugleich trägt es die Dynamis der transzendierenden Immanenz, ist es Ausdruck des inneren Zerwürfnisses des Menschen, seines „permanenten Ungleichgewichts“ 19 und seiner Suche nach Ausgleich. Mit dem Zeichen als Symbol antwortet die Dichtung Antonio Gamonedas auf die Suche nach einer Diätetik der Existenz mit der Erschaffung einer selbsteigenen Realität . Der Rhythmus als ontologischer Anker Die elementarste Form des darstellenden Verhaltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus: in der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz ahmt ein Handeln sich selbst nach oder es stellt sich in sich selbst dar, und eine Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, erhält damit Symbolhaftigkeit . Sie ist weder ist Bewegung und nicht ein Bewegtes. Sobald aber ein fester Zeichenbestand dem lebendigen Zeichengeben entgegentritt , wird das anders. Es löst sich nicht nur die Tätigkeit von ihren Mitteln, sonder auch das Mittel von seiner Bedeutung .“ 16 Siehe Zitat zu Beginn dieses Kapitels sowie Gamoneda, Antonio, Esta luz. Poesía reunida (1947-2004) , S. 253: „[…] Signos exactos e incomprensibles. Están en mí con el valor de una llaga; algunas cifras arden en mis ojos.‟ 17 Siehe Kapitel Rhythmus als Einheit von Bewegung und Beharrung. 18 Siehe oben: Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. S. 717. 19 Krämer, Hans, Überlegungen zu einer Anthropologie der Kunst , Musarion-Verlag Tübingen, 1994, S. 23. <?page no="379"?> Der Rhythmus als ontologischer Anker 379 gewohnheitsmäßig, noch eine glatte, im Sachzweck aufgehende Aktion, noch unmittelbarer Affektausdruck. 20 Hier ein stürmisches Voran, dort zögerndes Verharren, dann die Wende, ein Zurückhasten, heftige Flucht, ein Schleichen, und wieder eine Umkehr, ein erneutes Vorwärts, zaudernd zuerst, dann ungestümes Anrennen … Bewegungsformen, welche einer Haltung zur Welt Ausdruck geben, erfahren mit ihrer Rhythmisierung einen Prozess der Form. In derartig überprägnanten Bewegungsformen werden Handlung (Bewegung als teleokline Folge), Haltung (Bewegung als Synthese) und Stellungnahme (Bewegung als Resultat) des lebendigen Wesens Mensch der Welt gegenüber ausdrücklich. Sie wirken „unmittelbar als Apelle“ 21 und erheischen Nachahmung. So werden sie der Menschengruppe zur Verfügung gestellt, können sich verstetigen, und mithin zum Zeichen gerinnen. Als eine gegliederte Figur entspricht Rhythmus der logischen Form der Stellungnahme des Körperleibes zur Welt. In diesem Tun artikuliert sich ein Vorher und ein Nachher, ein Sammeln und Unterscheiden: ein legein und krinein. Handlung, Haltung und Stellungnahme sind jeweils Folgen, Synthesen oder Resultat eines impulsiven Verhaltens des Körperleibes seiner Welt gegenüber 22 . Rhythmus heißt der ontologische Anker jener Bewegungsformen, die dem Sein entsprechen. Das Schreiben Antonio Gamonedas folgt diesem Impuls: […] yo estoy delante de una cuartilla en blanco y he escrito una línea casi al azar; no, no puede ser al azar: tiene un motivo, pero yo lo desconozco; hay una pulsión que yo 20 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur , Philosophische Ergebnisse und Aussagen (Bonn 1956), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 167. 21 Ebd., S. 176. 22 Auf der Basis der Theorien Julia Kristevas in ihrem Buch: La Révolution du langage poétique, Éditions du Seuil, Paris, 1974, beschreibt Amelia Gamoneda in-: Del animal poema , KRK, Ediciones, Oviedo, 2016, auf den Seiten 35 ff. die kinetisch-pulsive Bewegung der dichterischen Sprache in ähnlicher Weise wie folgt: „Lo semiótico remodela o corrompe poéticamente lo simbólico. El orden simbólico lingüístico es trans- [36] gredido mediante la irrupción de lo pulsional y su vinculación al cuerpo; […] [37] Pero además, la poesía —ese «cuerpo extraño» — es un cuerpo extrañado; y lo que se ha extrañado es algo que previamente se había entrañado: el lenguaje poético entraña cuerpo. La poesía procede entonces de la exteriorización de una entraña, de un ámbito corporal y pulsional del que el lenguaje poético se nutre. Le poesía nace de la segregación de un verbo que arrastra consigo el ámbito corporal y pulsional en el que se encuentra inmerso y que al mismo tiempo lo atraviesa.‟ Allerdings nimmt die Idee des Musikalisch-Pulsiven in dieser Arbeit keinen Bezug weder auf Kristeva noch auf die Psychoanalyse. Sie rekuriert allein auf Überlegungen der philosophischen Anthropologie. <?page no="380"?> 380 Nachwort no sé a dónde va. La línea crece y quizá no va aún a ningún sitio, pero tiene ya una doble virtud: concierne a mi vida y también a una sustancia musical, que es la madre del poema. Si es así, el poema está empezando a funcionar. 23 Im Lichte des rhythmisch bewegten Denkens, einem pensar pulsivo , folgt der Dichter dem musikalisch sich entfaltenden Prozess. Im Gedicht materialisiert sich so jene bewegte Bewegung des Sprechens, welche der pneumato-motorischen Plastik Wort, Spur des Atems und des Willens, Ausdruck gibt und in die selbsteigene Realität der Werke Antonio Gamonedas mündet. Solange Wechsel und Wiederholung sich verfolgen, entfaltet sich das Sinngeschehen 24 , bindet der Rhythmus die Rede an die Gegenwart des Sinnes, versammelt und teilt die Rede in ihrem rhythmischen Werden. Im Rhythmus versammeln sich Akzent, Maß und Zahl und also die Gegenwart gebundener Sprache. De la misma manera (y no estoy abogando por la preceptiva tradicional aunque sea cierto -lo dijo Eliotque en toda [24] organización poética “habita una métrica”) la sensibilidad a las simetrías internas de un endecasílabo se potencia porque tenemos “memoria” del endecasílabo anterior. 25 Der Rhythmus, innere Wortgrenze und Akzent, stiftet einen musikalisch-pulsivischen und analogen, keinen logischen Zusammenhang 26 . Damit bestimmt das Regime der logischen Form der bewegten Bewegung des Rhythmus die dichterische Rede und enthebt diese dem unmittelbaren Zugriff auf die Bedeutung. Die Worte teilen sich als entfremdete (dekontextualisierte) mit und versammeln um sich Bedeutungen in der Schwebe. Es entsteht Stille und Verwunderung, ein Aufmerken und Hinhören, eine Aufmerksamkeit und eine wache Spannung: der Augenblick des Möglichen gegenüber dem Unmöglichen oder Faktischen. Auf diese Weise, zwischen Sein und Nichtsein, in schwebender Bedeutung und der Manifestation der Stille im Unentschiedenen, wird Möglichkeit offenbar, die Tür zur irrealen Realität 27 - der selbsteigenen Realität des Dichters - aufgestoßen. In einer Bewegung der Art wie Musik sucht sich das dichterische Idiom Antonio Gamondas immer wieder selbst zu fassen, indem es durch den Rhythmus gebunden präzisierend das Innere des Wortes - seine Materialität -, seine Dynamis entwickelt und zum Überstieg über seinen eigenen Horos ins Schweben 23 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 178. 24 Siehe Kapitel „Das rhythmische Geschehen in actu behauptet die Gegenwart des Sinnes“. 25 Gamoneda, Antonio, Conocimiento, revelación, lenguajes, S. 23 f. 26 Hönigswald, Richard, Vom Problem des Rhythmus , S. 15: „Der Begriff ist im Sinne der Wahrheit, der Rhythmus im Sinne des Erlebtseins gegenständlich.“ 27 Gamoneda, Antonio, El cuerpo de los símbolos , S. 203: „[…] toda arte va hacia «una realidad» bajo condiciones de irrealidad. Este es, sustantivamente, el único mecanismo estético.‟ <?page no="381"?> Transzendierende Immanenz oder die Lockerung des Seins 381 verbringt, seine Energeia spürbar werden lässt, die andere Seite seines Seins, Klang, Farbe, Rhythmus und Skansion erlebbar macht und ein Transzendieren in der Immanenz des Seins vollzieht. Es ist ein pensar pulsivo , ein Denken im Impuls, das den Dichter lenkt. Damit entspricht es der Bewegung eines Lebens, das in sich hinein über sich hinaus zu sich selbst und so zugleich zur Welt steigt. Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt gehören demselben Leben der einen menschlichen Sphäre an, deren Objektivationen in Taten und Werken nicht von außen gleichsam an sie herangebracht sind und wie Fremdkörper ihr wesensfremd bleiben, sondern aus ihr selbst hervortreiben, weil es zum Wesen des Lebens gehört, sich zu transzendieren und zugleich die Ergebnisse der Selbsttranszendenz wieder in sich hineinzunehmen und aufzulösen. 28 Transzendierende Immanenz oder die Lockerung des Seins Die aristotelische Mimesis übersetzt die platonische Theorie der Abspiegelung in die Sphäre lebendigen Seins und insbesondere in die Sphäre des Menschen. Als im Ausdruck vermittelnde Vermittlung - durch welche das Sein dem Menschen zur Erscheinung gelangt - bestätigt sie dessen spezifische Abständigkeit zum Sein zugleich mit seinem Verwiesensein auf dieses, bestätigt sie die relative Unabhängigkeit und Unergründlichkeit des Menschen in seinem „utopischen Standort“ 29 gegenüber dem Makrokosmos wie dessen Verwiesen-Sein auf ihn. 28 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 59. Plessner spricht in diesen Seiten über Lebensphilosophische Problemlagen und bezieht sich hier auf Dilthey. Der Kontext ist folgender, S. 58: „Durch die methodische Wendung, die Beschränkung der Erkenntnis aufs Ontische fallen zu lassen und dem Ontischen das Historische des geistigen Lebens gegenüberzustellen, versucht Dilthey, Philosophie und Empirie miteinander zu verbinden. Aus dem sterilen Antagonismus von bloßer Erkenntnistheorie und freier Lebensbedeutung gelangt er in die Ebene des Lebens, in der es möglich, ja notwendig ist, geistig-geschichtliche Wirklichkeit und Natur in ein und derselben Erfahrungsrichtung zu erfassen. Gewiss ist seine Methode des Verstehens die Methode einer empirischen Wissenschaft. Aber indem sie, wie Misch sagt: »die Gegenstände, die ihr eigenes Selbst haben, zur Aussprache dieses ihres Wissens von sich selber, des Wissens des Lebens von sich selber bringt, dieses - mit Fichte zu reden - zwischen dem Gegenstand und sich selber Herumschweben und Zittern des objektivierenden Geistes, der die geschichtliche Realität aus der phänomenalen Seinsgestalt löst« 9 , behauptet sie eine Erfahrungsstellung, welche diesseits des Gegensatzes von Empirismus und Apriorismus liegt.“ 29 Ebd., S. 424: „Atheismus ist leichter gesagt als getan. Selbst Leibniz vermochte den Gedanken des Pluralismus nicht völlig konsequent auszugestalten und den Begriff einer Zentralmonade zu entbehren. Und doch vermag der Mensch diesen Gedanken zu denken. Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer <?page no="382"?> 382 Nachwort Zur Selbststellung gezwungen wie der Selbstbewegung tüchtig bestätigt der Vollzug der Mimesis die Möglichkeit zur Stellungnahme gegenüber der Welt und also der Erscheinung des Seins in Bewegung. Zwischen der absoluten autistischen Welt und der sich in Selbststellung offenbarenden vermittelten - dem objektiven Sein - manifestieren Stellungnahme, Handlung und Haltung des lebendigen Wesens Mensch jenes Analogon, jenes legein kai krinein , durch welches sich der Mensch sich und sich die Welt vermittelt, die Energeia seiner Bewegungsfähigkeit in die Dynamis des Augenblicks fließen lässt, um diesen in Tun und Erleiden zu ergreifen. Konzentriert sich die aristotelische Beschreibung der Mimesis noch auf das erkenntnistragende Subjekt, so vergemeinschaftet das Ritual 30 diese und öffnet sie dem Zugriff der Menschengruppe. Stabilisiert sich die Welt im Ritual, so können die dem Menschen gegebenen Onta als jene Gegenstände verstanden werden, welche einerseits das ekstatisch selbstvergessene Heraustreten der Sinne zu den Dingen im Bewusstsein erscheinen lässt, während andererseits jene anderen Gegenstände des Bewusstseins, die durch das selbstvergessene Lauschen der Seele auf sich selbst zur Erscheinung gelangen, der Produktivität der Seele 31 selbst zu verdanken sind. Ihr ontologischer Ort ist die innere Verfasstheit des Gliederkörperleibes. Das anschauende also muss mit dem deutenden Bewusstsein zusammenkommen, damit „die Einheit des Sinnes“ 32 erlangt werden kann. Ein bewegter, zwiefacher ontologischer Anker in Bewegung stiftet die gegensinnige Vermittlung der Grenze zwischen Innen, Außen und im Inneren des Lebewesens Mensch 33 . Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten.“ 30 Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur , Kapitel 31. „Darstellende Riten“ S. 166 - 180. 31 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Macht und menschliche Natur , Gesammelte Schriften V, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1628, Frankfurt a. M., 2003, S. 62. 32 Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne, in: ders.: Die Einheit der Sinne , Gesammelte Schriften Bd.: III, S. 152: „Das ist nur möglich, wenn wir die bisher geübte einseitige Beurteilung des ganzen Problems nach den Maßstäben des anschauenden Bewußtseins aufgeben und ihm, da auf dem alten Wege ein Weiterkommen unmöglich ist, das deutende Bewußtsein zugrunde legen, der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes.“ 33 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch , Gesammelte Schriften Bd.: IV, Frankfurt a. M., 2003, S. 407: „Die Stärke des neuen Realitätsbeweises beruht darauf, daß er die Immanenzsituation des Subjekts als die unerläßliche Bedingung für seinen Kontakt mit der Wirklichkeit begreift. Gerade weil das Subjekt in sich selber steckt und in seinem Bewußtsein gefangen ist, also in doppelter Abhebung von seinen leiblichen Sinnesflächen steht, hält es die von der Realität als Realität, die sich offenbaren soll, geforderte Distanz inne, die seins entsprechende Distanz, den Spielraum, in welchem allein Wirklichkeit zur Erscheinung kommen kann. Gerade weil es in indirekter Beziehung zum An-sich-Seienden lebt, ist ihm sein Wissen von dem An-sich-Seienden unmittelbar und direkt. Die Evidenz der Bewußtseinsakte trügt nicht, sie besteht zu Recht, sie <?page no="383"?> Transzendierende Immanenz oder die Lockerung des Seins 383 Das Ringen um die Erscheinung der Welt findet ihren Ort in der Ausdrücklichkeit des Ausdrucks: der Sprache. Ihr bewegter wie festgestellter Zeichenbestand antwortet auf die Welt im Gegenüber. Im Ausdrücklichwerden des Ausdrucks, dem Zeichen in zweiter Potenz erkennt man das signum Gamonedae als ein im stillen Einverständnis mit seiner Natur lesbares und rätselhaftes zugleich. Als solches besitzt es die Dynamis, das Wort in der Immanenz der Sprache in die Schwebe zu verbringen und es damit zu transzendieren. Lösend und entgrenzend jedoch im Wortinnenakzent rhythmisch und klanglich versammelnd, artikuliert es die in sich selbst bewegte Dauer als Insistenz auf den emanierenden Augenblick und den Überstieg auf einen noch zu erdeutenden Sinn hin. Das Transzendieren in der Immanenz des bewegten Zeichens vollzieht sich im Weltinnenraum der Seele. Es ist ein Manifest der Lockerung des Seins vermittelst der angezeigten selbsteigenen Realität der Dichtung Antonio Gamonedas. Es vermisst die spezifische Abständigkeit zum Sein im orphischen Idiom des Dichters und eröffnet die Möglichkeit für ein noch zu erdeutendes Sein, damit die wirkliche Möglichkeit Mensch wirklich werden möge. ist notwendig. Ebenso untrüglich und notwendig ist die Evidenz der Reflexion auf die Bewußtseinsakte.“ <?page no="385"?> LITERATURVERZEICHNIS Primärtexte Adorno, Theodor, W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem Beschädigten Leben , Suhrkamp Verlag, Berlin u. Frankfurt am Main, 2001. Alsberg, Paul, Das Menscheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung , Sybillen-Verlag, Dresden, 1922. Aristoteles, Poetik , (Fuhrmann, Manfred, (Übers. u. Hg.), Philipp Reclam Jun. Stuttgart, 1982. Aristoteles, Poetics , Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts, London, England, 1995. Aristoteles, The Categories on Interpretation , Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London, England, 1996. Aristoteles, Rhetorik , Wilhelm Fink Verlag, München, 1980. 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