eBooks

Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus

Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert

0308
2021
978-3-8233-9343-6
978-3-8233-8343-7
Gunter Narr Verlag 
Annika Gonnermann
Sina Schuhmaier
Lisa Schwander

Über die Epochen hinweg haben sich literarische Werke und Genres explizit oder implizit mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt. Doch gerade die vergangenen Jahrzehnte, in welchen der Kapitalismus nach Mark Fisher zum ausweglosen Vorstellungshorizont avanciert ist, zeugen von einer vermehrten Infragestellung des Kapitalismus in der literarischen Produktion sowie der Literaturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund vereint der interdisziplinäre Sammelband Beiträge aus der Germanistik, Romanistik, Amerikanistik und Anglistik, die den Blick auf verschiedene zeitgenössische Manifestationen des globalen Kapitalismus und deren literarische oder filmische Repräsentationen richten.

<?page no="1"?> Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus <?page no="2"?> herausgegeben von Anja Bandau (Hannover), Justus Fetscher (Mannheim), Ralf Haekel (Berlin), Caroline Lusin (Mannheim), Cornelia Ruhe (Mannheim) Band 84 <?page no="3"?> Annika Gonnermann / Sina Schuhmaier / Lisa Schwander (Hrsg.) Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-3169 ISBN 978-3-8233-8343-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9343-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0283-4 (ePub) Umschlagabbildung: „Ford Highland Park/ Highland Ford Development Site 2“, David Lewinski Photography LLC Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 I. 23 45 67 89 II. 115 139 165 Inhalt Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus Stephanie Neu-Wendel Kapitalismus, Moral und Ökologie: kritische Darstellungen der italienischen Gegenwart in Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annika Gonnermann „Have There Been Unexplained Deaths? “: Kapitalismus, Beschleunigung und die Rolle des Theaters in Alan Bennetts Allelujah! (2018) . . . . . . . . . . . Katharina Motyl Die Kriminalisierung der Armen: Zum Zusammenhang von Gefängnisexpansion und neoliberaler Vernachlässigung in den USA aus Sicht der Quality-TV-Serie The Wire (2002-2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caroline Lusin Der ‚Pate‘ ist tot: Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) Über das Wie der Kritik Katja Holweck Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in der Anthologie Mindstate Malibu (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sina Schuhmaier Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos Olga Vrublevskaya René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene . . <?page no="6"?> III. 189 211 231 255 Von Katastrophen, Untergangsszenarien und (mangelnden) Alternativentwürfen Johannes Fehrle Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Margaret Atwoods Oryx and Crake (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Schwander „Another World Is Possible“: Arundhati Roys anti-kapitalistische Vision in The Ministry of Utmost Happiness (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Eser Literarische Kapitalismuskritik in der Romania: apokalyptische Szenarien und utopische Gegenentwürfe im Zeichen des ‚kapitalistischen Realismus‘ Marlon Lieber Lebende Tote im langen Abschwung: Colson Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Danksagung Der vorliegende Sammelband hätte ohne das Mitwirken vieler Personen nicht zustande kommen können. Zuallererst möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren bedanken. Vielen Dank für die stets freundschaftliche Zusammen‐ arbeit, die aufgebrachte Ausdauer und vor allem für die spannenden Beiträge. Darüber hinaus bedanken wir uns herzlich bei dem Team des Narr Verlags um Kathrin Heyng für die sachkundige Unterstützung. Lisa Zimansky war uns eine enorme Hilfe bei der Drucklegung des Bandes. Vielen Dank für Deine Sorgfalt und Deinen Einsatz. Besonderer Dank gilt schließlich Prof. Dr. Caroline Lusin, die uns das Projekt überhaupt erst ermöglicht hat. <?page no="9"?> 1 Eine Figur in Eugenides’ Roman beginnt 1922 im Ford River Rouge Complex zu arbeiten. Die Erzählstimme kommentiert: „[P]eople stopped being human in 1913. That was the year Henry Ford put his cars on rollers and made his workers adopt the speed of the assembly line. […] [I]n 1922 it was still a new thing to be a machine“(109). 2 Wohlgemerkt bestand Fords Vorstellung des melting pot in der Erziehung von einge‐ wanderten Arbeitern in der englischen Sprache sowie US-amerikanischen Tugenden und der Ablegung von Einwanderer-Identitäten zugunsten der ‚amerikanischen‘. 3 Die ästhetisierte Abbildung solcher industrieller Ruinen in der Praxis des ‚ruin porn‘ spielt hingegen wieder in die Logik des Neoliberalismus und zeigt so auch die Mecha‐ nismen der Wiedereingliederung vermeintlicher ‚Nicht-Orte‘ auf. Zu ruin porn, vgl. auch Pitetti. Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier Die Abbildung auf dem Cover dieses Buches zeigt eine stillgelegte Produktions‐ halle der Ford-Fabrik in Highland Park, Detroit. Highland Park war nicht die erste Anlage der Ford Motor Company - ihr voraus gingen die Mack Avenue und Piquette Avenue Werke -, aber die erste, die Autos in Fließbandfertigung herstellte. Das Cover unseres Bandes bezieht sich also auf einen fast schon mythologischen Ort in der Geschichte des Kapitalismus, wo, wie es Jeffrey Eu‐ genides’ Roman Middlesex (2002) ausdrückt, der Mensch zur Maschine wurde, 1 die Autoindustrie Detroit zu einer der führenden Metropolen des Landes machte und Henry Ford im Kosmos seiner Fabriken den ‚melting pot‘ als Grundmodell der US-amerikanischen Gesellschaft erprobte. 2 Ein Mythos um die Detroiter Ford-Fabriken besteht nach wie vor; er verkündet mittlerweile allerdings auch das Ende der Phase des Fordismus und den langen Niedergang der Stadt. So zeigt unser Cover einen Ort, den der Kapitalismus ausgesondert hat und der nun, bar seiner Funktion, gewissermaßen als Nicht-Ort in Erscheinung tritt. 3 Dass auch dies nur eine Momentaufnahme sein könnte, belegen zwischenzeitliche - wenn zuletzt auch wieder eingestellte (vgl. Staes) - Bestrebungen, das Highland Park Werk in einen Museumskomplex zu verwandeln (vgl. Lukowski). Formal betrachtet nimmt die Abbildung einen bestimmten, künstlerisch überformten Blickwinkel gegenüber ihrem Gegenstand ein (so etwa in der Tie‐ <?page no="10"?> 4 Auch spiegeln sich wiederkehrende Themen der Beiträge dieses Bandes in der Ge‐ schichte des Highland Park Werkes: Sie zeigt auf, wie der Kapitalismus dasjenige, das nicht länger ‚brauchbar‘ ist (ob Orte oder Subjekte), ausstößt und entlegitimiert, und sie wirft symbolisch die Frage auf, wie Sphären außerhalb des Kapitalismus zu erreichen und zu bewahren sind angesichts dessen Einverleibungslogik. 5 Unser Dank geht auch an Stefan Glomb und die Teilnehmenden des Oberseminars „Recent Critiques of Capitalism“, das uns ein Forum bot, diese eingehend zu diskutieren. fenwirkung, Symmetrie, Belichtung, oder der Spiegelung des Dachgerüsts und des Himmels in Wasserpfützen auf dem Boden). Damit wird bereits angedeutet, was die in diesem Band diskutierten Werke auszeichnet: Gleich der Abbildung entwerfen sie durch die ihnen eigenen ästhetischen Mittel Perspektiven auf unterschiedliche Phänomene des Kapitalismus. 4 Dabei eint sie ein kritischer Fokus, auch dort, wo, systemtheoretisch gesprochen, die Literatur zu einer Beobachtung höherer Ordnung übergeht und ihrerseits (theoretische) Perspek‐ tiven auf den Kapitalismus reflektiert. Die hier versammelten Aufsätze, welche die spezifischen Möglichkeiten der Literatur herausarbeiten und diskutieren, gehen aus einer Ringvorlesung hervor, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim im Frühjahrssommersemester 2019 abgehalten wurde. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal allen Beitragenden unseren Dank aussprechen und freuen uns, dass wir den Großteil der Vorlesungsbeiträge in diesem Band abbilden können. Großer Dank gilt ebenfalls den Autor_innen, die zusätzlich zu diesem Band beitrugen. Ein besonderes Anliegen war es uns, den Austausch zwischen der anglistischen, amerikanistischen, germanistischen und romanistischen Literaturwissenschaft, den die Vorlesungsreihe ermöglichte, mit diesem Band weiterhin zu befördern. Die Idee zu einer Ringvorlesung und dem anschließenden Sammelband über literarische Perspektiven auf den Kapitalismus entstand aus einem Zusammen‐ spiel mehrerer Faktoren: der wahrnehmbaren Fülle aktueller kapitalismuskri‐ tischer Theorien, 5 einem gesellschaftlichen Diskurs, in welchem sich kapitalis‐ muskritische Stimmen mehren, und der Feststellung, dass sich zeitgenössische literarische Werke an diesem Diskurs beteiligen. Jedoch darf die Literatur nicht als ein weiterer Diskurs unter vielen gelten; vielmehr kommt ihr ein besonderer Stellenwert in der Verhandlung von gesellschaftlicher Realität zu, der in ihrer äs‐ thetischen Geformtheit begründet liegt. So hält auch Sieglinde Klettenhammer im Vorwort zu dem Sammelband Literatur und Ökonomie (2010) fest, „dass Literatur als ästhetisch komplex organisiertes symbolisches Zeichensystem immer wieder eine kritische Energie entfaltet, die Defizite und Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie aufzeigt und - von einem moralisch-ethischen Bewusstsein aus - Alternativen zum Bestehenden durchscheinen lässt“ (9). 10 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="11"?> 6 Vgl. hierzu Zapf: „In der Bestimmung […] [der] spezifischen kulturellen Funktionen der Literatur kommt paradoxerweise gerade dem entpragmatisierten, scheinbar zweck‐ freien Raum des ,Ästhetischen‘ eine besondere Bedeutung zu. […] Das Ästhetische […] stellt […] eine pragmatischen Alltagszwängen enthobene, metadiskursive Eigensphäre dar, die in ihrer Differenz und Konkurrenz zu anderen kulturellen Diskursformen dergestalt bestimmt ist, dass sie als symbolisch verdichtete Inszenierungs- und Steige‐ rungsform lebensanaloger Prozesse innerhalb der Gesamtheit der kulturellen Diskurse aufgefasst werden kann“ (5, Hervorhebung im Orig.). 7 Zapf beschreibt folgende drei Funktionsweisen von Literatur: Literatur als ‚kulturkri‐ tischer Metadiskurs‘, ‚imaginativer Gegendiskurs‘ und ‚reintegrativer Interdiskurs‘. Ersterer richtet sich auf „[d]ie Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten, Blindstellen und Widersprüche dominanter politischer, ökonomischer, ideologischer oder pragmatisch-utilitaristischer Systeme zivilisatorischer Macht“ (64). Literatur als imaginativer Gegendiskurs „[i]nszenier[t] [das], was im kulturellen Realitätssystem marginalisiert, vernachlässigt oder unterdrückt ist“ (ebd.). Literatur als reintegrativen Interdiskurs schließlich kennzeichnet „[d]ie Reintegration des Verdrängten mit dem kulturellen Realitätssystem, durch das Literatur zur ständigen Erneuerung des kultu‐ rellen Zentrums von dessen Rändern her beiträgt“ (65). Dabei ist wesentlich, dass die Literatur ein entpragmatisiertes Zeichensystem darstellt, über das sich Räume der Reflexion erschließen lassen, die den Status quo in Frage stellen. Was Çınla Akdere, Christine Baron und Bruna Ingrao als „thought-provoking and challenging role of literature“ (8) bezeichnen, tritt auch in allen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes zutage, die der „spezifische[n] Differenz der Literatur, ihre[r] durch die Fiktionalisierung von Erfahrung und die Ästhetisierung sprachlicher Weltbezüge bedingte[n] Eigendynamik als komplexes Reflexions-, Repräsentations- und Kommunikati‐ onsmedium kultureller Prozesse“ (Zapf 5) Rechnung tragen. Die Grundlage der folgenden Beiträge bildet ein an die Überlegungen Hubert Zapfs angelehntes Konzept von Literatur als ‚Metadiskurs‘: 6 Literatur ist in besonderer Weise dazu geeignet, gesellschaftliche Diskurse abzubilden, zu einen, zu kontrastieren und zu hinterfragen. Ohne direkte Bezugnahme deckt Klettenhammers Charakteri‐ sierung von Literatur sowohl ab, was Zapf als ‚kulturkritischen Metadiskurs‘ definiert, als auch dessen Idee des ‚imaginativen Gegendiskurses‘. 7 Als solch ein Gegendiskurs vermag Literatur alternative Szenarien zu entwerfen; ob und inwieweit sie in dieser Funktion an der Totalität des Kapitalismus scheitert, beleuchten nicht zuletzt einige Beiträge dieses Bandes. Kapitalismus und Kapitalismuskritik, Literatur und Literaturwissenschaft im beginnenden 21. Jahrhundert Wie verschiedentlich bemerkt, ist Kapitalismuskritik en vogue im frühen 21. Jahrhundert. So verweisen etwa Dirk Hempel und Christine Künzel in ihrem 11 Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes <?page no="12"?> 8 Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen der vergangenen Jahre zeugen von dieser vermehrten kritischen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus. Ein vollständiger Überblick kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden, verwiesen sei daher beispielhaft auf einige Ansätze, auf die die Beiträge dieses Bandes Bezug nehmen - darunter breiter und weniger breit rezipierte -, wie etwa Mark Fishers ‚kapitalistischer Realismus‘, der wiederum auf Überlegungen Fredric Jamesons und Slavoj Žižeks aufbaut, Jason W. Moores Ausführungen zum ‚Kapitalozän‘, sowie Rahel Jaeggis und Daniel Loicks Nach Marx (2013). 9 Dabei ist allerdings zu unterscheiden zwischen Positionen, die auf differenzierte Weise etwa die Dysfunktionalitäten oder die schädlichen Folgen des Kapitalismus aufzeigen, und solchen, die auf Simplifizierungen und einfachen Freund-Feind-Schemata fußen und oft mit reaktionären Ansichten Hand in Hand gehen. Sammelband ‚Denn wovon lebt der Mensch? ‘: Literatur und Wirtschaft (2009) auf Debatten um eine „Renaissance marxistischer Ideen“ (15) in Deutschland. Ähnlich leiten Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa ihre soziologi‐ schen Überlegungen zum Kapitalismus mit der Beobachtung ein, „[w]ohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden.“ (9) 8 Einer der Gründe für den enormen Zuwachs kapitalismuskritischer Überle‐ gungen sind sicherlich die in den vergangenen Jahren gehäuft und unübersehbar auftretenden mit dem Kapitalismus verbundenen Krisenerscheinungen. Fordert die Finanzkrise des Jahres 2008 dazu heraus, den finanzmarktgetriebenen, deregulierten Kapitalismus zu hinterfragen, so unterstreicht das seit der Jahr‐ tausendwende mit neuer Dringlichkeit diskutierte Problem des Klimawandels die Notwendigkeit einer Abkehr von kapitalistischen Praktiken, die untrennbar mit der Ausbeutung der Natur verbunden sind - eine Position, die durch die ‚Fridays for Future‘-Bewegung prominent vertreten wird. Doch auch über diese zwei konkreten Krisendiskurse hinaus hat ein kritisches Nachdenken über den Kapitalismus, insbesondere in seiner derzeitigen, unter dem Stichwort des Neoliberalismus verhandelten Form, Konjunktur. 9 Angesichts der unter dem Begriff des Neoliberalismus zusammengefassten Tendenzen, die seit den 1980er Jahren die Ausrichtung aller Lebensbereiche an einer kapitalistischen Effizienz- und Profitlogik auf die Spitze getrieben haben, drängt sich, so legt etwa David Harveys Kleine Geschichte des Neolibera‐ lismus (2005) nahe, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus geradezu auf. Diese vielbeschriebenen Tendenzen beinhalten unter anderem die Privatisierung vormals öffentlicher Bereiche und Güter mit dem Ziel, „der Kapi‐ talakkumulation neue Bereiche zu erschließen, die bis dato als dem Profitkalkül entzogen galten“ (Harvey 198), wie zum Beispiel den der Sozialleistungen. Sie beinhalten ferner die Verstärkung transnationaler Wirtschaftsverflechtungen durch Globalisierungsprozesse, oder die zunehmende Bedeutung des Finanz‐ 12 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="13"?> 10 Diese Tendenz spiegelt sich besonders im Trend der sogenannten ‚Gig Economy‘ wider. Die Folgen der mit ihr einhergehenden fehlenden Absicherung sowie des sich für jeden Einzelnen ergebenden Zwangs, die eigene Arbeitskraft zu Dumpingpreisen anzubieten, um die Konkurrenz immer weiter zu unterbieten, zeigen sich in der gegenwärtigen Krise um COVID-19 in drastischer Form, wie beispielsweise ein im Mai 2020 im Time-Magazin erschienener Artikel darlegt (vgl. Semuels). sektors und gehen einher mit der Hervorhebung der Eigenverantwortung des Individuums für ein gelingendes Leben, dem Druck zur Effizienzausrichtung und Selbstoptimierung, sowie mit einem Weltbild, das den Markt „als geeignete Leitinstanz - ja als ethisches Leitprinzip - für alles menschliche Handeln“ (ebd. 205) betrachtet. Wie Harvey unmissverständlich aufzeigt, werden dabei die mit dem Kapitalismus von jeher verbundenen sozialen und ökologischen Probleme in neue Höhen getrieben. Er beschreibt etwa, wie, befördert durch kurzfristige, an bestimmte Aufgaben geknüpfte Arbeitsverhältnisse und die zunehmende Mobilität des Kapitals, im Neoliberalismus „der Prototyp der ‚disponiblen Arbeitskraft‘ die weltwirtschaftliche Bühne“ (209) betritt, die gezwungen ist, jedwede Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, um der allzeit drohenden Arbeits‐ losigkeit zu entgehen. 10 Zentraler Aspekt der Neoliberalisierung, so Harvey, ist die Umverteilung von Reichtum durch einen Prozess, den er in Anlehnung an Marx‘ ursprüngliche Akkumulation als „Akkumulation durch Enteignung“ (198) beschreibt. Er weist beispielsweise darauf hin, dass ein strategisches Orchestrieren von Schuldenkrisen dazu dient, Reichtum von armen zu ohnehin schon reichen Ländern umzuverteilen (vgl. 200-1), der neoliberale Staat zum Agenten einer Umverteilung von unten nach oben wird, anstatt sozio-ökono‐ mische Gefälle innerhalb der Bevölkerung auszugleichen (vgl. 203), und der Finanzsektor als einer der bedeutendsten „Mechanismen der Umverteilung mittels Spekulation, Ausplünderung, Betrug und Diebstahl“ (199) fungiert. Dass ein solches System in vielerlei Hinsicht Anlass zu Kritik bietet, liegt auf der Hand. Einen imaginativen Spielraum für solche Kritik bietet die Literatur. Dabei führt sie zum einen klassische Genres fort, etwa den Industrieroman der 1830-1850er Jahre; zum anderen kristallisieren sich neue Genres heraus, die sich dezidiert mit dem neoliberalen Kapitalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts auseinandersetzen. Im anglo-amerikanischen Raum zum Beispiel prägte der Journalist Sathnam Sanghera den Begriff ‚crunch lit‘ für ein Genre, das, wie der Name schon andeutet, im Kontext der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2008 entstand - crunch referiert auf credit crunch, zu Deutsch Kreditkrise (vgl. Shaw 7). Gründete das Genre zunächst auf „financial confessional narratives“ der Insider des Londoner Finanzgeschehens und be‐ leuchtete die unethischen Verhältnisse und illegalen Machenschaften innerhalb 13 Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes <?page no="14"?> 11 Diesen Marktdynamiken widmet sich beispielsweise Paul Crosthwaite in The Market Logics of Contemporary Fiction (2019), indem er unter anderem den Begriff der ‚market metafiction‘ für solche Werke etabliert, die ihre eigene Abhängigkeit vom literarischen Markt reflektieren. dieser Welt, so deckt der Begriff crunch lit inzwischen eine Bandbreite fiktionaler Abhandlungen zur Finanzkrise ab (vgl. ebd.). Solche Genres sind Betrachtungsgegenstand einer Ausrichtung der Litera‐ turwissenschaft, die sich mit dem Verhältnis zwischen literarischen Texten und dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem befasst. Neben spezifischen Genres (vgl. beispielsweise Shaw) stehen etwa Figuren wie die des Unternehmers (vgl. beispielsweise von Matt) oder ökonomische Motive wie das des Geldes (vgl. beispielsweise Hörisch) im Zentrum literatur- und kul‐ turwissenschaftlicher Analysen. Gleichsam (und mitunter im Zusammenspiel mit den genannten Gesichtspunkten) finden sich Ansätze, die wirtschaftlichen Prozessen und Theorien aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive begegnen (vgl. beispielsweise Vogl), auf Gemeinsamkeiten der Systeme Literatur und Ökonomie hinweisen oder das Feld der Literatur im Kontext marktwirt‐ schaftlicher Zusammenhänge untersuchen. 11 Wichtige Impulse innerhalb dieses Forschungsgebiets gingen unter anderem vom sogenannten ‚new economic cri‐ ticism‘ aus. Unter diesem Begriff fassten Martha Woodmansee und Mark Osteen in den frühen 1990er Jahren einen Ansatz, der sich der wechselseitigen Betrach‐ tung von Literatur und Wirtschaft verschreibt und sowohl literarische Texte anhand wirtschaftlicher Denkfiguren als auch die Literarizität wirtschaftlicher Diskurse studiert (vgl. Urbatsch 567). In einer solch interdisziplinären Tradition verorten lässt sich ganz aktuell beispielsweise der Sammelband Economics and Literature: A Comparative and Interdisciplinary Approach (2018), herausgegeben von Ҫınla Akdere und Christine Baron, der Perspektiven der Literatur- und Wirtschaftswissenschaft vereint. Auch weitere Studien der vergangenen Jahre stellen das wechselseitige Verhältnis zwischen Literatur und Wirtschaft heraus, beispielhaft anzuführen wäre der gleichnamige, bereits genannte Sammelband ‚Denn wovon lebt der Mensch? ‘: Literatur und Wirtschaft von Dirk Hempel und Christine Künzel, der neben der „Wirtschaft ‚in der‘ Literatur“ auch die „Literatur ‚als‘ Wirtschaft bzw. Wirtschaft ‚als‘ Literatur“ betrachtet (Hempel/ Künzel 16-7, Hervorhebung im Orig.). Zielsetzung und Beiträge des vorliegenden Bandes Wo mit Titeln wie Literatur und Wirtschaft oder Economics and Literature eine gegenseitige Durchdringung beider Teilbereiche zum Ausdruck gebracht 14 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="15"?> wird, richtet der vorliegende Band das Augenmerk dezidiert auf die Literatur und, im engeren Sinne, auf die Darstellungsinhalte und -weisen literarischer Texte. Dieser Fokus ermöglicht im Gegenzug die Betrachtung einer Bandbreite von Gattungen - darunter Romane, TV-Serien, Theaterstücke und Song Lyrics - sowie verschiedener nationaler Literaturen und trägt damit dem gegenwär‐ tigen „Kapitalismus der ‚postnationalen Konstellation‘“ (Preglau 23) Rechnung. Die Beiträge sind als Schlaglichter in einem Band konzipiert, der keinen Anspruch auf eine allumfassende Darstellung erhebt; sie regen allerdings an vielen Stellen dazu an, Querverbindungen herzustellen und ergeben so ein facettenreiches Gesamtbild zeitgenössischer Literatur. Auch der gewählte zeitliche Fokus auf literarische Werke der Gegenwart unterscheidet sich von der diachronen Betrachtung vergleichbarer Publikationen; er erst macht es aber möglich, sich dem Gegenstand dieses Bandes in der gegebenen Breite und Tiefe zu nähern. Schließlich sollte aus den Darlegungen dieser Einleitung auch ersichtlich geworden sein, warum im Titel dieses Bandes gezielt das Schlagwort ‚Kapitalismus‘ gewählt wurde. Zum einen verweist dies auf eine spezifisch historische Situierung des Untersuchungsgegenstandes der folgenden Beiträge - gelegen ist uns weniger an Reflektionen über die Wirtschaft als solche als vielmehr an der Situation des Kapitalismus im 21. Jahrhundert im Spiegel der Literatur. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass das Erkenntnisinteresse dieses Bandes in der kapitalistischen Wirtschaftsform als Gesellschaftsform liegt. Es wäre daher kurzsichtig, wirtschaftliche Prozesse nicht in Verbindung mit weiteren gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, oder ökologischen Fragen zu denken, die im Folgenden adressiert werden. So beleuchtet die erste Sektion des Sammelbandes, „Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus“, den Kapitalismus als moralisches Problem. Diese Sektion nimmt vor allem die Auswirkungen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssys‐ tems in den Blick, indem sie illustriert, wie Menschen unter den Ungerech‐ tigkeiten desselben leiden. Dabei liefern sie eine differenzierte Darstellung davon, was, wie Rahel Jaeggis provokant formulierter Essay-Titel fragt, am Kapitalismus falsch ist. Stephanie Neu-Wendel eröffnet den Band mit ihren Überlegungen zum italienischen Kriminalroman der Gegenwart am Beispiel von Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006), die die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens do‐ kumentieren. Diese Romane, so die Autorin, bedienen sich einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen und Fiktion, um die Folgen illegaler Wirtschafts‐ kreisläufe für Mensch und Umwelt, beispielsweise die Umweltverschmutzung in Süditalien, zu kritisieren. Annika Gonnermann konzentriert sich in ihrem 15 Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes <?page no="16"?> 12 Vgl. Klettenhammer für Beiträge, die das Spannungsverhältnis der Literatur zwischen Kunstautonomie und Markteingebundenheit ausloten. 13 Unser herzlicher Dank gebührt Sebastian Baden, den wir als Diskussionspartner für die erste Sitzung unserer Ringvorlesung, „Kapitalismuskritik: Zum (Mehr-)Wert von Kunst und Literatur im 21. Jahrhundert“, gewinnen konnten. Beitrag auf die dem Kapitalismus inhärenten Beschleunigungstendenzen und zeichnet die individuellen wie gesellschaftlichen Folgen einer auf Effizienz fixierten Logik im Theaterstück Allelujah! (2018) des Briten Alan Bennett nach. Zentral sind hierbei Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Alter und zu den Folgen von Margaret Thatchers neoliberaler Politik im Großbritannien der 1980er Jahre. Katharina Motyl untersucht, welchen Zusammenhang die TV-Serie The Wire (2002-2008) zwischen der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der ‚punitiven Revolution‘ in den USA sieht. Besonders im Fokus stehen dabei, so Motyl, die komplexen Erzählstrukturen der Serie, die sich signifikant von anderen US-amerikanischen Krimiserien ihrer Ära unterscheiden und den Zuschauer_innen ein hohes Maß an Reflexion abverlangen. Caroline Lusin bietet mit ihren Überlegungen zur BBC-Serie McMafia (2018) einen Exkurs in die internationale Finanzwelt. Sie analysiert, wie die Serie mithilfe ihres Protagonisten, einem Mafia-Sohn, der sich im Span‐ nungsfeld zwischen familiärer Loyalität und geschäftlicher Unmoral bewegt, die Netzwerke der globalen Mafia im Zeitalter der Finanzialisierung kartographiert. Daraus speist sich das kritische Potential der Serie: Sie zeigt auf, in wie vielen Bereichen des Lebens bereits eine kommodifizierende Logik Einzug gehalten hat. Vor dem Hintergrund der unweigerlichen Teilhabe von Literatur an kapita‐ listischen Prozessen, 12 aber auch der Feststellung, dass etablierte Formen der Kapitalismuskritik heutzutage abgenutzt oder inadäquat erscheinen, bringt die zweite Sektion dieses Bandes „Über das Wie der Kritik“ Beiträge zu‐ sammen, die literarische Formen der Kapitalismuskritik in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen. Fast zeitgleich zu unserer Ringvorlesung zeigte die Mannheimer Kunsthalle eine zweiteilige Ausstellung unter dem Titel „Kon‐ struktion der Welt: Kunst und Ökonomie“, kuratiert von Eckhart Gillen, Ulrike Lorenz und Sebastian Baden. 13 Auch die Kunstausstellung legte einen Vergleich zwischen Formsprachen in der Auseinandersetzung von Künstler_innen mit der Wirtschaft nahe. Was der Kontrast zwischen Kunstwerken aus den Jahren 1919-1939 und den Jahren 2008-2018 vor Augen führte, war, dass die in der Regel schnell erschließbaren Ästhetiken und Botschaften der Zwischenkriegsjahre Darstellungsweisen gewichen sind, die auf Ambiguität und Komplexität setzen. 16 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="17"?> Ein solches Spiel mit Form und Aussage untersucht auch Katja Holweck in ihren Ausführungen zur Anthologie Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus (2018). Mindstate Malibu stimmt auf den ersten Blick in die Parolen des Neoliberalismus mit ein; tatsächlich aber bedient sich die Anthologie, wie die Autorin zeigt, der ‚subversiven Affirmation‘, einer Strategie, die das System von innen heraus affirmiert, bis es zur ‚Kenntlichkeit entstellt‘ ist. Setzt der Neoliberalismus ohnehin schon auf Performance - auf Selbstdarstellung und Quantität - so treiben die Beitragenden von Mindstate Malibu die neoliberale Oberflächenästhetik also auf die Spitze und darüber hinaus. Sina Schuhmaier lotet mit ihrem darauffolgenden Beitrag das kritische Potential zeitgenössischer britischer Songtexte aus. Im Fokus ihres Aufsatzes stehen die Alben Let Them Eat Chaos (2016) von Kae Tempest und Made in the Manor (2016) von Kano, die beide die neoliberale Reduktion von Wert und Werten auf Möglichkeiten der Wertschöpfung zum Ausgangspunkt ihrer Kritik nehmen. Schuhmaier betrachtet dabei anhand der Texte Kanos und des Grime-Genres, das dieser repräsentiert, ebenfalls den Aspekt der Performance des kapitalistischen, und spezifisch neoliberalen, Systems und zeigt auf, inwie‐ weit eine gezielte Inszenierung des Systems dessen Entwertungspraktiken und Ausschlussprozesse offenlegt. Schließlich wendet sich auch Olga Vrublevs‐ kaya Fragen der Darstellung zu; sie beleuchtet anhand des Theaterstückes „Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiss-Hotels“ (2002) allerdings, wie der Autor und Regisseur René Pollesch von gängigen Repräsentationspraktiken Abstand nimmt. So verhandelt Polleschs selbstreflexive Theaterpraxis in „In‐ sourcing des Zuhause“ in der Aneignung eines wissenschaftlichen Vorlagetextes nicht nur neoliberale Arbeitsverhältnisse und die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, sondern auch die Bedingungen im Theater, wie sie die Mitwir‐ kenden des Stückes erfahren. Die Autorin geht daher einer Kapitalismuskritik auf zwei Ebenen nach, die sich sowohl am Sujet des Stückes als auch an Polleschs Theaterkonzeption selbst festmachen lässt. Die Beiträge der dritten Sektion „Von Katastrophen, Untergangsszena‐ rien und (mangelnden) Alternativentwürfen“ stellen verschiedene litera‐ rische Ansätze vor, die die desaströsen Folgen des Kapitalismus für Mensch und Natur ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken. Dabei fragen sie stets auch danach, welches Licht die untersuchten Werke auf die Verfügbarkeit von Alternativentwürfen und auf die Möglichkeit einer Überwindung des Status quo werfen. Mark Fishers viel zitierte These über den kapitalistischen Realismus stellt dabei einen wiederkehrenden Bezugspunkt für die Diskussionen dar. Johannes Fehrle arbeitet heraus, wie Margaret Atwoods dystopischer Roman Oryx and Crake (2003) die ineinandergreifende Ausbeutung der menschlichen 17 Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes <?page no="18"?> und nicht-menschlichen Natur im Kapitalismus sowie ihre Konsequenzen für das Leben auf dem Planeten darstellt. Er zeigt damit auf, wie der Roman die im Kontext der Anthropozänbeziehungsweise Kapitalozän-Debatte in der Theorie erörterten Problematiken fiktional exploriert. Dabei stellt er fest, dass der Roman trotz seiner weitsichtigen Kritik einer Gruppe dystopischer Erzählungen angehört, die letztendlich dem von Fisher konstatierten kapitalis‐ tischen Realismus verhaftet bleiben. Im darauffolgenden Beitrag wendet sich Lisa Schwander Arundhati Roys Roman The Ministry of Utmost Happiness (2017) zu, der die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Wachstums‐ politik Indiens der vergangenen Jahrzehnte anprangert. Sie macht deutlich, wie der Roman durch ein selbstreferentielles Spiel mit literarischer Form unterstreicht, dass Ansätze für Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus im postkolonialen Indien zwar sehr wohl zu finden seien, deren Erwägung als ernst‐ zunehmende, zukunftsweisende Handlungsoptionen aber durch eine scheinbar unüberwindbare ideelle Verflechtung von ‚Entwicklung‘ und ‚Fortschritt‘ mit einer kapitalistischen Steigerungslogik von vornherein ausgeschlossen werden. Im Zentrum von Patrick Esers Beitrag stehen mit Sergio Chejfecs El Aire (1992) und Gabriela Cabezón Cámaras La virgen cabeza (2009) zwei Beispiele der jüngeren argentinischen Literatur, denen der Autor zwei frühe literarische Auseinandersetzungen mit der kapitalistischen Moderne aus der Romania entgegenstellt. Mit dieser Einbettung rückt eine aussagekräftige Gemeinsamkeit der gegenwärtigen Beispiele in den Fokus. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit - eine literarische Untergangsfantasie auf der einen, ein utopischer Gegenentwurf zum gegenwärtig Gelebten auf der anderen Seite -, so macht Eser deutlich, weisen beide ein Wegbrechen der Zukunftshorizonte als charakteristisch für die Gesellschaft des spätmodernen Kapitalismus aus. Wurde diese Sektion mit der Betrachtung einer Fiktion eingeleitet, die dystopische und postapokalyptische Züge vereint, so endet sie mit Marlon Liebers Analyse von Colson White‐ heads Zombieroman Zone One (2011) mit einem dezidiert postapokalyptischen Szenario. Indem er die Figur des modernen Zombies in ihrem historischen Entstehungszusammenhang betrachtet, argumentiert er dafür, sie als Sinnbild für die Situation der von Marx beschriebenen relativen Überbevölkerung zu lesen und die durch die Zombies hervorgerufene Zerstörung als Niedergang der kapitalistischen Ordnung anzusehen. Dabei zeigt er jedoch auf, dass die Gattung der Zombieerzählung, charakterisiert durch ihr Unvermögen, die Erzählung zu einem Abschluss zu bringen, auf eine Krise revolutionären Denkens hinweist, in der ein Entwurf einer alternativen Organisation der Produktion ein dringliches Desiderat darstellt. 18 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="19"?> Bei all ihrer Unterschiedlichkeit weisen die besprochenen Werke die Literatur als vitales Medium der Kapitalismuskritik aus. Dabei zeigen die in ihnen verhandelten Themen zugleich auf, wie dringlich eine solche Kritik aktuell ist. Daran, dass sich die Literatur auch in Zukunft mit dieser Aufgabe konfrontiert sehen wird, kann es keinen Zweifel geben: Hinsichtlich der fundamentalen Ungleichverteilung, die der Kapitalismus generiert - auf globaler ebenso wie auf lokaler Ebene -, ist kein Ausgleich in Sicht; der voranschreitende Klimawandel gestaltet sich weiterhin als drohender Gegenwarts- und Zukunftshorizont, aber auch die verschärfte Prekarität, die sich etwa im Zuge der aktuellen ‚Co‐ rona-Krise‘ abzeichnet, legt nahe, dass sich der Kapitalismus in den kommenden Jahren weiterhin der Frage nach seiner Legitimation zu stellen haben wird. Bibliographie Primärliteratur: Eugenides, Jeffrey. Middlesex. Picador, 2003. Sekundärliteratur: Akdere, Ҫınla und Christine Baron, Herausgeber. Economics and Literature: A Compara‐ tive and Interdisciplinary Approach. Routledge, 2018. Akdere, Çınla et al. „Introduction and Overview.“ Economics and Literature: A Compara‐ tive and Interdisciplinary Approach, herausgegeben von Çınla Akdere und Christine Baron, Routledge, 2018. S. 1-15. Crosthwaite, Paul. The Market Logics of Contemporary Fiction. Cambridge UP, 2019. Dörre, Klaus et al. „Soziologie - Kapitalismus - Kritik: Zur Wiederbelebung einer Wahlverwandtschaft.“ Soziologie - Kapitalismus - Kritik: Eine Debatte, herausgegeben von denselben, Suhrkamp, 2009. S. 9-18. Fisher, Mark. Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Übersetzt von Christian Werthschulte et al., VSA, 2013. Harvey, David. Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Übersetzt von Niels Kadritzke, Rotpunktverlag, 2007. Hempel, Dirk und Christine Künzel, Herausgeber. ‚Denn wovon lebt der Mensch? ‘: Literatur und Wirtschaft. Peter Lang, 2009. —. „Einleitung.“ ‚Denn wovon lebt der Mensch? ‘: Literatur und Wirtschaft, herausgegeben von denselben, Peter Lang, 2009. S. 9-18. Hörisch, Jochen. Kopf oder Zahl: Die Poesie des Geldes. Suhrkamp, 2010. Jaeggi, Rahel. „Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? Drei Wege der Kapitalismuskritik.“ Nach Marx: Philosophie, Kritik, Praxis, herausgegeben von Rahel Jaeggi und Daniel Loick, Suhrkamp, 2013. S. 321-49. 19 Zur Thematik und Aktualität dieses Bandes <?page no="20"?> Jaeggi, Rahel und Daniel Loick, Herausgeber. Nach Marx: Philosophie, Kritik, Praxis. Suhrkamp, 2013. Klettenhammer, Sieglinde, Herausgeberin. Literatur und Ökonomie. StudienVerlag, 2010. —. „Vorwort.“ Literatur und Ökonomie, herausgegeben von derselben, StudienVerlag, 2010. S. 7-10. Lukowski, Kristin. „The Future of the Highland Park Ford Plant Is in the Past.“ Metromode Metro Detroit, 8 Jan. 2015, www.secondwavemedia.com/ metromode/ features/ highlan dparkfordplant0371.aspx. Aufgerufen 5 Okt. 2020. Matt, Peter von. „Der Chef in der Krise: Zur Inszenierung des Unternehmers in der Literatur.“ ‚Denn wovon lebt der Mensch? ‘: Literatur und Wirtschaft, herausgegeben von Dirk Hempel und Christine Künzel, Peter Lang, 2009. S. 37-48. Moore, Jason W. „The Capitalocene Part II: Accumulation by Appropriation and the Centrality of Unpaid Work/ Energy.“ The Journal of Peasant Studies, 45.2 (2017). S. 1-43. —. „The Capitalocene Part I: On the Nature and Origins of Our Ecological Crisis.“ The Journal of Peasant Studies, 44.3 (2017). S. 594-630. Pitetti, Connor. „Returning to Nature, Dwelling in the City: Ecological Imagery and Models of History in Detroit Ruin Photography.“ Configurations, 27.3 (2019). S. 355-86. Preglau, Max. „Moderner Kapitalismus - ein gesellschaftliches Projekt und seine sozialen, ökologischen und kulturellen Kosten.“ Literatur und Ökonomie, herausgegeben von Sieglinde Klettenhammer, StudienVerlag, 2010. S. 11-23. Semuels, Alana. „‚It’s a Race to the Bottom‘: The Coronavirus is Cutting Into Gig Worker Incomes as the Newly Jobless Flood Apps.“ Time, 15 Mai 2020, https: / / time.com/ 5836 868/ gig-economy-coronavirus/ . Aufgerufen 1 Aug. 2020. Shaw, Katy. Crunch Lit. Bloomsbury Academic, 2015. Staes, Jer. „Report: Old Ford Highland Park Sales & Service Building Up For Sale.“ Daily Detroit, 15 Apr. 2019, www.dailydetroit.com/ 2019/ 04/ 15/ ford-history-sale/ . Auf‐ gerufen 5 Okt. 2020. Urbatsch, Katja. „New Economic Criticism.“ Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe, herausgegeben von Ansgar Nünning, 5. Aufl., J.B. Metzler, 2013. S. 567. Vogl, Joseph. Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes, 2010. Zapf, Hubert. Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Max Niemeyer Verlag, 2002. 20 Annika Gonnermann, Lisa Schwander, Sina Schuhmaier <?page no="21"?> I. Zu Moral und Unmoral im Kapitalismus <?page no="23"?> 1 Gomorra wurde sehr erfolgreich sowohl fürs Kino (2008, Regie: Matteo Garrone) als auch als Serie verfilmt (Regie: Stefano Sollima, Francesca Comencini, Claudio Cupel‐ lini); seit 2014 wurden bisher vier Staffeln ausgestrahlt (in Italien vom Privatsender Sky Italia). Saviano veröffentlichte nach Gomorra weitere (vor allem journalistisch-do‐ kumentarische) Werke, die sich beispielsweise mit dem internationalen Drogenhandel (unter anderem ZeroZeroZero, 2013), aber auch mit der Migration nach Italien befassen (In mare non esistono taxi, 2019). Saviano schreibt darüber hinaus für mehrere italieni‐ sche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch für die ZEIT (vgl. www.zeit.de/ autoren/ S/ Roberto_Saviano. Aufgerufen 6 Sept. 2019). 2 Im Folgenden wird in Bezug auf beide Werke die jeweilige deutsche Übersetzung zitiert. Kapitalismus, Moral und Ökologie: kritische Darstellungen der italienischen Gegenwart in Giancarlo De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Roberto Savianos Gomorra (2006) Stephanie Neu-Wendel 1. Literatur als Medium von Wirtschafts- und Gesellschaftskritik Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Darstellung der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität Italiens in der zeitgenös‐ sischen italienischen Literatur. Als Beispiele dienen zwei nach wie vor aktuelle Bestseller: der Kriminalroman Nelle mani giuste (2007), ins Deutsche übersetzt als Schmutzige Hände (2011), in dem der Richter, Schriftsteller und Journalist Giancarlo De Cataldo den Aufstieg Silvio Berlusconis thematisiert, sowie die „Dokufiction“ Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra  1 (2006) des Journalisten Roberto Saviano, die als Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra (2007) ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde. 2 In Gomorra schildert Saviano in einer Mischung aus faktenbasiertem Insiderwissen <?page no="24"?> 3 Der Romantitel basiert auf einem Wortspiel mit den beiden ähnlich klingenden Begriffen ‚Camorra‘ und ‚Gomorrha‘; das semantische Feld, das mit der biblischen ‚Sündenstadt‘ Gomorrha verbunden ist, wird somit fruchtbar gemacht, um das durch die Camorra verursachte Ausmaß an Gewalt und Korruption zu verdeutlichen. Die als Camorra bezeichnete kriminelle Organisation operiert vorwiegend in Neapel und in der Provinz Kampanien, während in Apulien die Sacra Corona Unita, in Kalabrien die ‘Ndrangheta und auf Sizilien die Cosa Nostra ansässig sind. Mit ‚Mafia‘ wird im engeren Sinne die Cosa Nostra bezeichnet; unter den Plural ‚Mafie‘ werden jedoch mitt‐ lerweile auch unter anderem die oben genannten Verbrecherorganisationen bezeichnet (vgl. Santino). 4 Relevant ist in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen einer semantischen und einer pragmatischen Dimension im Hinblick auf faktuale und fiktionale Texte; Kriterien, die für faktuale Texte gelten, sind in Bezug auf fiktionale Texte hinfällig: „The conditions for satisfying the criteria of factual narrative are semantic: a factual narrative is either true or false. Even if it is willfully false (as is the case if it is a lie), what determines its truth or its untruth is not its (hidden) pragmatic intention, but that which is in fact the case. The conditions for satisfying the criteria of fictional narrative are pragmatic: the truth claims a text would make if it (the same text, from the syntactic point of view) were a factual text (be these claims true or false) must be bracketed out“ (Schaeffer, Absatz 29). und Fiktion die Strukturen und Geschäfte der kriminellen Organisation Ca‐ morra 3 und ihre Verbindungen zu Politik und Wirtschaft. Den Leitfaden der folgenden Analyse bildet eine der Fragen, die von den Organisatorinnen der Ringvorlesung, auf der die folgenden Ausführungen basieren, formuliert wurde: „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapita‐ lismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur? “ Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf dem Themenfeld ‚Kapitalismus und Moral‘, das insbesondere in Nelle mani giuste im Zusammenhang mit dem darin geschilderten Aufstieg Berlusconis eine zentrale Rolle spielt. Dieser Themenkomplex wird ergänzt durch einen Exkurs zu ‚Kapitalismus und Ökologie‘; hier liegt der Fokus auf Praktiken der illegalen Müllentsorgung, wie sie Saviano in Gomorra eindrücklich vor Augen führt. Der Auseinandersetzung mit den literarischen Beispielen geht eine kurze theoretische Einführung voraus, in der dargelegt wird, welche Aspekte der Kapitalismuskritik als Folie für die Analyse dienen und welche Bezugspunkte sich konkret zu den beiden gewählten Werken ergeben. Die Betrachtung der beiden Textbeispiele kreist schließlich im Wesentlichen um die Frage, welche Möglichkeiten gerade literarische - und vor allem fiktionale - Texte bieten, Kritik an wirtschaftlichen und politischen (Fehl-)Entwicklungen zu üben, sei es durch eine Mischung von Fakten und Fiktion oder durch die Charakterisierung der Figuren. 4 24 Stephanie Neu-Wendel <?page no="25"?> 5 Korthals Altes legt dar, weshalb der Bezug auf antike Rhetorik für die Betrachtung aktueller literarischer Entwicklungen, aber auch für andere Disziplinen von Vorteil sein könne: „Ancient rhetoric […] keenly captured and systematized a variety of factors involved in persuasion, from the display of emotions to good sense and the commonality of knowledge and norms. Its fine-grained grid takes on renewed relevance in the light not only of current institutional sociology, discourse analysis, or communication studies but also of cognitive research on mind reading, on empathy and emotion, and more generally, on the need to fine-tune and calibrate world-views and values in culture“ (5). 6 In dem Artikel heißt es: „Skepsis zu wecken, lebenswichtiges demokratisches Miss‐ trauen, das ist De Cataldos erklärtes Ziel. Und wie weiland in den späten sechziger In Bezug auf die grundsätzliche, viel diskutierte Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Literatur bei der Darstellung gesellschaftlicher ‚Realitäten‘ lässt sich an Überlegungen des Schriftstellers und Journalisten Enno Stahl anknüpfen, dem zufolge die literarische Darstellung der ‚Wirklichkeit‘ eine (vom Autor interpretierte/ analysierte) Version der gesellschaftlichen Realität anbietet und so überhaupt erst kritisches Potential entfalten kann. Um eine blanke Abbildung der Wirklichkeit kann es heute also nicht mehr gehen, weder wirkungsnoch produktionsästhetisch. (108, Hervorhebung im Orig.) Stahl bringt explizit die ‚empirischen‘ Autorinnen und Autoren als ‚Interpreten der Wirklichkeit‘ ins Spiel; vergleichbare Überlegungen finden sich ebenfalls in den Ausführungen der Narratologin Liesbeth Korthals Altes, die sich - in Anlehnung an Aristoteles - mit dem auktorialen ethos auseinandersetzt. 5 Korthals Altes zufolge sei verstärkt eine Selbstdarstellung von Autorinnen und Autoren zu beobachten, für die soziales, gesellschaftliches Engagement und eine kritische, engagierte Haltung zentral seien: In reaction, it seems, to what was perceived as postmodern ‚anything goes‘ irony and disengagement, writers, like their fellow artists working in other mediums, have voiced their social or ethical commitment through their literary works, often alongside forms of social activism. Motivations for writing, such as wanting to make suppressed voices heard, to disclose history’s forgotten facets, or to defend causes such as homosexuality, are now widely recognized as central concerns of literature, rather than as exogenous, ‚heteronomous‘ ones. An author’s protestations about his or her social mission usually require as a backing that she or he radiate a convincing ethos of sincerity, experience-based authority, and so on. (9) Sowohl De Cataldo als auch Saviano melden sich auch außerhalb ihrer ge‐ sellschaftskritischen Romane zu Wort. So wird De Cataldo beispielsweise in einem Artikel in der ZEIT explizit als Streiter für demokratische Werte vorgestellt; 6 Saviano wiederum erscheint durch die unmittelbaren Folgen des 25 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="26"?> Jahren sieht er sich wieder in einer großen Allianz. Es ist die Internationale der demokratischen Kriminalschriftsteller. ‚Nehmen Sie meine Bücher oder die von Stieg Larsson, von Dominique Manotti oder Ian Rankin, dann sehen Sie: Wir schreiben alle ganz verschieden, aber über das eine zentrale Thema, unsere fragile Demokratie und wer sie gefährdet‘“ (Gohlis). 7 Ein Beispiel dafür ist Savianos Auftritt in der Talkshow Che tempo che fa (Rai Uno) vom 24. Februar 2019, in dem er in einem Monolog direkte Kritik an der aktuellen Immigrationspolitik der Regierung aus Lega Nord und Movimento 5 Stelle übt (vgl. RAI). 8 Berger gibt in erster Linie einen Überblick über Ausprägungen, Strukturen und Zukunftschancen kapitalistischer (westlicher) Wirtschaftssysteme und beleuchtet ver‐ schiedene Aspekte der Kritik am Kapitalismus; trotz gelegentlicher Stellungnahmen zu den dargestellten Argumenten entwirft er keine eigenen kapitalismuskritischen Positionen. Erscheinens von Gomorra - Morddrohungen durch die Camorra und ein ständiges Leben unter Polizeischutz an versteckten Orten - als besonders glaubwürdig; zudem äußert er regelmäßig in Zeitungsartikeln oder auch im Fernsehen Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen in Italien. 7 Die in außerfiktionalen Zusammenhängen zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Positionierungen können entsprechend auch auf die Rezeption der (fiktionalen) Werke zurückwirken; besonders deutlich wird dies am Beispiel von Gomorra, in dem die Grenze zwischen Erzähler- und Autorfigur bereits von der Anlage des Textes her durchlässig ist und sich fiktionale Erzählstrategien mit konkreten biographischen, faktenbezogenen Anteilen mischen. 2. Kritik am Kapitalismus in Nelle mani giuste und Gomorra: theoretische Bezugspunkte Wie in der Einleitung skizziert, spielt vor allem in Nelle mani giuste die Verflech‐ tung von Wirtschaft und Politik eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ließe sich die Frage stellen, ob die Darstellung dieser Allianz dem entspricht, was der Soziologe Johannes Berger als „Herrschaftskritik“, verstanden als „Kritik der politischen Herrschaft im Staat“ (33), beschreibt. 8 Wie Berger unter Bezugnahme auf marxistische Theorien erläutert, zeichnet sich dieser Aspekt der Kapitalismuskritik durch die Annahme aus, dass „[…] der Staat […] nichts anderes als ein ‚Instrument der herrschenden Klasse‘“ sei (33). Berger selbst steht dieser Sichtweise skeptisch gegenüber und bringt Argumente vor, die dagegen sprechen, „[…] im Staat nur den direkten oder indirekten Agenten des Kapitals zu erblicken“ (34). Er kommt zu dem Schluss, dass „die gegenwär‐ tige Lage des Staats in westlichen Gesellschaften […] insgesamt eher durch ‚Herrschaftsverlust und Sanktionsverzicht‘ gekennzeichnet zu sein [scheint] als durch zunehmende Repression“ (34). 26 Stephanie Neu-Wendel <?page no="27"?> 9 Beispielhaft dafür ist Bergers wertende Äußerung „Kritiken dieser Art, so bedenkens‐ wert sie auch sein mögen, leiden […] an ihrem unheilbaren Romantizismus“ (38). 10 Sandel gehört zum gemäßigten Flügel der Strömung des so genannten ‚Kommunita‐ rismus‘, der sich im Laufe der 1980er Jahre in den USA herausbildete: „Der Kommu‐ nitarismus ist republikanisch. Eine scharfe Abgrenzung zum Liberalismus läßt [sic! ] sich allerdings nicht bei jedem seiner Autoren ziehen. […] Allen Autoren gemeinsam ist die Frage, wieviel Gemeinschaft die Demokratie benötigt. Allen gemeinsam ist das Interesse, gegen utilitaristische und individualistische Tendenzen der Moderne traditionelle Quellen des gemeinschaftlichen Lebens in Erinnerung zu rufen oder neu zu beleben“ (Ottmann 320). Bergers Einwände erwecken den Eindruck einer idealtypischen Beschreibung demokratisch organisierter Staaten; im Gegensatz dazu zeigen Romane wie Nelle mani giuste auf, dass auch in Demokratien Regierungen sehr wohl - zum Beispiel durch die Wahl eines Vorzeige-Kapitalisten wie Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten - einer wirtschaftlich privilegierten Elite in die Hände spielen können. In diesem Sinne lässt sich De Cataldos Roman durchaus als „herrschaftskritisch“ bezeichnen. Eine besondere Rolle kommt, wie bereits angedeutet, in diesem Zusammen‐ hang auch der Frage nach Moral und Unmoral im kapitalistischen System zu; hierzu zähle laut Berger „die Betrachtung der Auswirkungen der kapitalisti‐ schen Expansion auf die soziale und natürliche Umwelt des Wirtschaftssystems“ (37). Kritik, die im Zusammenhang mit den Folgen für die „soziale Umwelt“ geäußert wird, ziele in erster Linie darauf ab, das kapitalistische Wertesystem unter moralischen Gesichtspunkten zu beleuchten und auf Entwicklungen hinzuweisen, die als negativ wahrgenommen werden: Das Argument vom Gemeinschaftsverlust (oder Moralverlust) als Folge der Expansion der Marktwirtschaft tritt in mehreren Varianten auf. Es ist z. B. präsent in den Befürchtungen der christlichen Kirchen, dass materialistische Einstellungen über‐ hand nähmen und andere, höherwertige moralische Orientierungen (‚Solidarität‘) verdrängten. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine breite Strömung der Kritik am Konsumismus und Hedonismus einer kapitalistisch geprägten Kultur, die an die Stelle älterer und höher geschätzter Lebensformen und Wertorientierungen träten. (38) Deutlicher und plakativer als Berger, der Kritik am kapitalistischen System zwar darstellt, aber nicht zwangsläufig teilt, 9 äußert sich der Philosoph Michael J. Sandel zum Einfluss der Wirtschaft auf die Gesellschaft, insbesondere zum Übergang von einer „market economy“ zu einer „market society“: 10 27 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="28"?> to decide where the market belongs, and where it should be kept at a distance, we have to decide how to value the goods in question - health, education, family life, nature, art, civic duties, and so on. These are moral and political questions, not merely economic ones. […] The difference is this: A market economy is a tool - a valuable and effective tool - for organizing productive activity. A market society is a way of life in which market values seep into every aspect of human endeavor. It’s a place where social relations are made over in the image of the market. (10-1) Ebenfalls aus einer soziologischen Perspektive zeichnen Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher und Philipp Ramos Lobato ein ähnlich düsteres Bild des „‚postfordistisch‘ transformierten Kapitalismus“ (9), in dem „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens unter das Warenverhältnis und zur Verdinglichung der sozialen Beziehungen, endgültig zu triumphieren [scheint], und zwar weltweit“ (ebd.). De Cataldo setzt in Nelle mani giuste ein vergleichbares Szenario literarisch um: Anhand der Überzeichnungen in der Figurendarstellung wird Politik als ein System dargestellt, in dem alle Beteiligten in erster Linie darum bemüht sind, ihren Profit zu maximieren, während das Gemeinwohl in den Hintergrund tritt. In Gomorra wiederum wird das System der organisierten Kriminalität als eine Parallelgesellschaft beschrieben, in der - Sandels Darstellung entsprechend - alles und jeder käuflich zu sein scheint und sowohl Objekte als auch (illegale) Dienstleistungen und Menschen einen ‚Preis‘ haben. Ein weiterer Aspekt der Kapitalismuskritik, der ebenfalls deutlich in Gomorra zu Tage tritt und mit der Darstellung der kriminellen Parallel-Marktgesellschaft zusammenhängt, betrifft Gefahren für die Umwelt. Auch hier lassen sich Anknüpfungspunkte an kapitalismuskritische Stimmen erkennen: Das wirtschaftliche Wachstum führt, so lautet der Tenor der Kritik, zu einer be‐ ängstigenden Verschmutzung von Luft, Erde und Wasser, es verbraucht in einem atemberaubenden Tempo die natürlichen Ressourcen, rottet Arten aus, vernichtet uralte Waldbestände und gefährdet damit nicht nur die Lebensräume vieler Arten, sondern letztlich auch die Lebensgrundlagen des Menschen. (Berger 38-9) Savianos Darstellung in Gomorra geht über diese generelle Kritik am Wirt‐ schaftswachstum beziehungsweise an einem fehlenden Bewusstsein für die Folgen der Expansion und Industrialisierung, für die nur die Profitmaximierung im Vordergrund steht, weit hinaus. Ausführlich werden die Praktiken der illegalen Müllentsorgung geschildert, von der mehrere Seiten profitieren: zum einen die legale Wirtschaft, da sie Geld spart, zum anderen die organisierte Kriminalität, hier insbesondere die Camorra, für die das Müllgeschäft zu einer lukrativen Einnahmequelle geworden ist. 28 Stephanie Neu-Wendel <?page no="29"?> 11 Auf die Romanveröffentlichung folgte 2005 die Verfilmung fürs Kino unter der Regie von Michele Placido; 2008-2010 wurde auf Sky Cinema eine gleichnamige Serie in zwei Staffeln ausgestrahlt (Regie: Stefano Sollima). 12 Vgl. zur Entwicklung des italienischen Kriminalromans unter anderem die Übersicht in Crovi sowie in Caspar. Sowohl in Bezug auf Nelle mani giuste als auch auf Gomorra lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass insbesondere Aspekte der Kapitalismuskritik, die mit moralischen und ökologischen Fragestellungen in Zusammenhang stehen, aufgegriffen und mit Mitteln der - fiktionalen - Literatur dargestellt werden. Wie sich diese Umsetzung der Kritik konkret gestaltet, wird in den folgenden beiden Abschnitten anhand ausgewählter Textpassagen näher ausgeführt. 3. Nelle mani giuste: Berlusconis Aufstieg an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Verbrechen Verstrickungen von Politik, Wirtschaft und Mafia sind nicht nur das zentrale Thema von Nelle mani giuste, sondern auch von dessen Vorgängerroman Romanzo criminale (2002), in dem De Cataldo ein umfassendes Panorama der Verflechtungen staatlicher, parastaatlicher und krimineller Strukturen in Italien von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart entfaltet. 11 Romanzo criminale trägt bereits im Titel eine Referenz auf den Kriminalroman, ein Genre, das sich in Italien bereits seit seiner Entstehung als kritische und engagierte Literatur präsentiert. 12 Der italienische ‚Giallo‘ - zu Deutsch ‚gelb‘; so benannt nach der Umschlagsfarbe einer Kriminalroman-Reihe des Verlags Mondadori - zeichnet sich zum einen durch einen hohen Lokalbezug aus; zum anderen beziehen sich Autorinnen und Autoren des ‚Giallo‘ immer wieder auf politisch brisante Themen wie ungelöste Kriminalfälle, in die Staat, Mafia und Wirtschaft verwickelt sind, um mit Mitteln der Fiktion literarische Hypothesen aufzustellen und nicht nachweisbare oder verschleierte Sachverhalte zu rekonstruieren. Der italienische Kriminalroman lässt sich entsprechend als Genre bezeichnen, „che affonda le radici nella realtà“ (Sangiorgi 21), also als eines, das in der Realität verwurzelt ist. Zu den Pionieren des ‚Giallo‘ zählt unter anderem Leonardo Sciascia, der in Romanen wie Il giorno della civetta (1961) und Todo modo (1974) die Verflechtungen von Mafia und Politik thematisiert. Seine Romane lassen sich als ‚Anti-Detektivromane‘ beschreiben, denn angesichts der scheinbaren Übermacht der Mafia und politischer Interessen sind den aufklärenden Er‐ mittlern die Hände gebunden, so dass die Wahrheit zwar aufgedeckt wird, 29 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="30"?> 13 Vgl. ausführlich zur Aushebelung ‚klassischer‘ Regeln des Detektivromans sowie zur Figur des scheiternden Ermittlers den nach wie vor grundlegenden Aufsatz von Ulrich Schulz-Buschhaus (zu Sciascia insbesondere u. a. S. 534-5). 14 „- Man wird ihn nicht finden, den Schuldigen; man wird ihn nie finden - sagte der Kommissar melancholisch.“ (Übersetzung der Verf.) Todo modo spielt innerhalb eines Hotels, in dem sich geistliche und weltliche (politische) Vertreter vorgeblich zu spirituellen Exerzitien einfinden, um - ähnlich wie in Nelle mani giuste - hinter den Kulissen die Machtverteilung im Staat zu verhandeln. 15 „Was versucht wird in diesem Roman fotografisch festzuhalten, ist ein grundlegender Wechsel in der Politikgeschichte in Italien, oder besser, in der Geschichte der Macht in Italien“ (Übersetzung der Verf.). 16 „Solange es Vorteile bringt, solange es Gewinne verspricht, können sich der Staat und die Mafia an einen Tisch setzen und auf Augenhöhe verhandeln; die Unternehmer können Schutzgelder an das politische System zahlen, die Politiker können ihre Vorstellungen anpassen und das Lager wechseln“ (Übersetzung der Verf.). aber nicht bekannt gemacht werden kann. 13 So wird in Todo modo zwar augenscheinlich die Lösung für eine Reihe von Mordfällen gefunden, aber nicht preisgegeben; der ermittelnde Kommissar äußert sich zudem nur vage und resigniert: „- Non si troverà, il colpevole; non si troverà mai - disse malinconicamente il commissario.“ (Sciascia 120) 14 De Cataldos Kriminalromane erweisen sich durch den konkreten Bezug auf reale, beim Namen genannte Personen und tatsächlich stattgefundene Ereignisse als noch anspielungsreicher als Sciascias Romane. Nelle mani giuste spielt zwischen 1992 und 1993, mitten in einer politischen Umbruchsituation Italiens: „Quello che si cerca di fotografare nel romanzo è un passaggio fon‐ damentale della storia politica in Italia o meglio, della storia del potere in Italia.“ (Amici 82) 15 Die Handlung setzt sich aus mehreren sich überkreuzenden Erzählsträngen zusammen: Vertreter der Mafia sowie Politiker und Journalisten, sowohl von links als auch von rechts, spielen eine Rolle, ebenso ein privater Unternehmer, der aufgrund von Verbindungen zur organisierten Kriminalität ins Visier der Ermittler gerät, sowie Mitglieder verschiedener Geheimdienste beziehungsweise paramilitärischer Organisationen. Ein zentrales Thema stellt das Gleichgewicht und Miteinander von Staat, Mafia und Unternehmertum dar: Finchè c’è convenienza, finchè c’è un tornaconto, Stato e mafia possono sedersi a un tavolo e trattare come due pari, gli imprenditori possono pagare tangenti al sistema politico, i politici possono adeguare le loro idee e scegliere un diverso schieramento. (Ebd.) 16 Parallel verfolgt der Roman den Aufstieg Silvio Berlusconis zum italienischen Ministerpräsidenten. Vor seinem Eintritt in die Politik zählte Berlusconi bereits zu den reichsten und einflussreichsten Managern Italiens. Als Medienmogul 30 Stephanie Neu-Wendel <?page no="31"?> 17 Die Ermittlung trug den Namen ‚Mani pulite‘, ‚Saubere Hände‘, eine Bezeichnung, auf die Nelle mani giuste sowohl im Originaltitel, übersetzt ‚In den richtigen Händen‘, als auch in der deutschen Übersetzung des Titels, Schmutzige Hände, anspielt. 18 Vgl. dazu ausführlicher Hausmann 152-4. 19 Ausführlich zu Dell’Utri und zur Verstrickung Berlusconis in das organisierte Verbre‐ chen vgl. Klüver, in dessen Aussagen sich Parallelen zu Amicis Beschreibung der „convivenza“ von Mafia und Politik erkennen lassen: „Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hat sich Berlusconi - so das mögliche aber bislang nicht bewiesene Szenarium - über Mitarbeiter wie Dell’Utri der Mafia bedient, sie aber fallen lassen, als er sie nicht mehr benötigte, um auf die Seite ihrer Gegner einzuschwenken. Ähnlich wie im Fall Andreotti [ehemaliger Ministerpräsident Italiens und eine politische Schlüsselfigur der Ersten Republik] lässt sich in Berlusconis Verhalten mehr als ein konkreter Straftatbestand vor allem politische Verantwortung einklagen. Trotzdem bleiben auch juristische Fragen offen, wie die nach der Finanzierung von Berlusconi-Unternehmen durch dunkle Kanäle in den 1980er Jahren und das Wissen um (mögliche) Verbindungen eines Vertrauten wie Marcello Dell’Utri zur Cosa Nostra“ (123). 20 Die 1978 gegründete Holding Fininvest stellt den Dreh- und Angelpunkt von Berlus‐ conis wirtschaftlicher Macht dar, in ihr laufen alle Fäden zusammen (vgl. Krempl 107). erwies sich Berlusconi den Machthabern der so genannten ‚Ersten Republik‘ Italiens als nützliches Sprachrohr und konnte im Gegenzug auf ihre Unterstüt‐ zung zählen (vgl. Krempl 117). Anfang der 1990er Jahre kam es zum Zusammenbruch des etablierten Partei‐ ensystems, das von Korruptionsskandalen erschüttert wurde: Im Rahmen einer großangelegten Ermittlung wurde das Ausmaß von Schmiergeldzahlungen aufgedeckt, in die alle großen Parteien verwickelt waren. 17 Von Mailand aus gerieten italienweit Städte und Kommunen ins Visier der Ermittler; die Gene‐ ralsekretäre aller Regierungsparteien mussten zurücktreten. Für einige Parteien wie die Democrazia Cristiana bedeutete der Skandal das Ende, die Partei spaltete sich in mehrere kleinere Gruppen auf. 18 Während die Ermittlungen noch liefen, verkündete Berlusconi im Januar 1994 die Gründung seiner Partei Forza Italia; treibende Kraft hinter der Gründung war sein Vertrauter Marcello Dell’Utri, der rund zehn Jahre später aufgrund von Kontakten zur Mafia zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden sollte. 19 Dell’Utri bediente sich bei der Vorbereitung der Parteikampagne der Werbesparte von Berlusconis Holding Fininvest,  20 der 1979 gegründeten Publitalia - ein erster Hinweis auf die Vermischung von wirtschaftlicher und politischer Ebene, die Berlusconis Politikstil charakterisiert: Als Inhaber der größten Werbeagentur Italiens muß [sic! ] er […] nicht groß umlernen, als Besitzer von drei Fernsehkanälen und mehrerer Zeitungen und Magazine stehen ihm alle Mittel zur Verfügung, die von seinen Marketing-Strategen erdachten Bot‐ schaften direkt unters Volk zu bringen. Und so macht Berlusconi, was er immer schon 31 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="32"?> 21 Insgesamt hatte Berlusconi vier Mal im Zeitraum von 1994 bis 2011 das Amt des Ministerpräsidenten inne (1994-1995, 2001-2005, 2005-2006 und 2008-2011), zeitweise besetzte er auch verschiedene Ministerposten (Außen-, Wirtschafts- und Gesundheits‐ minister); bis 2013 war er Abgeordneter des Parlaments, zeitweise auch Senator. 22 Der Hinweis auf die Logen-Zugehörigkeit Carús lässt sich als impliziter Hinweis auf die Bedeutung von geheimen Netzwerken für die Ausrichtung der italienischen Politik und in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch als Verweis auf die Geheim‐ loge Propaganda 2 verstehen, die 1981 enttarnt wurde: Die Loge, zu denen unter anderem Regierungsmitglieder, Führungskräfte aus der Wirtschaft sowie Mitglieder der italienischen Geheimdienste gehörten, zielte darauf ab, parastaatliche Strukturen zu entwickeln und die Macht in Italien zu übernehmen. Auf die Enttarnung folgten zahlreiche Prozesse, mitunter gegen den Anführer der Loge, Licio Gelli, der in einige der aufsehenerregendsten (und bis heute zum Teil offiziell nicht aufgeklärten) Attentate und Skandale der Ersten Republik verstrickt war, darunter der Anschlag auf den Bahnhof von Bologna im Jahr 1980 (vgl. „Gelli, Licio“). In Romanzo criminale greift De Cataldo diese Ereignisse auf und verwebt sie mit der fiktionalen Handlung des Romans. gemacht hat - Selbstvermarktung und Unternehmensführung - auch weiterhin, allerdings unter dem neuen Namen der ‚Politik‘. (Krempl 126-7) Nur zwei Monate später gewann Berlusconi die Wahlen in Italien. Er ging dabei Koalitionen mit der neofaschistischen Alleanza Nazionale und der rechten, populistischen und separatistischen Lega Nord ein. 21 In Nelle mani giuste tritt Berlusconi selbst nicht als Protagonist auf; stellver‐ tretend für seinen Politikstil steht die Figur Emanuele Carú. Carú wird als skru‐ pelloser, opportunistischer Journalist charakterisiert, der vormals der Linken angehörte und sich nun für die Rechte starkmacht. Im nachfolgend zitierten Kapitel „L’illuminazione di Carú“ („Carús Erleuchtung“) werden die Anfänge von Berlusconis politischen Bestrebungen geschildert; bei einem Abendessen im Kreise von Mitgliedern der Loge, der auch Carú angehört, 22 hört der Journalist zum ersten Mal von Berlusconis Absicht, in die Politik zu gehen: Später erfuhr Carú […], dass der Typ dem mittleren Management von Publitalia angehörte, der Werbeagentur von Berlusconis TV-Sendern. Am Anfang war er zwar ungläubig und auch ein wenig belustigt gewesen - Berlusconi in der Politik? Reagan war zwar auch Präsident der USA gewesen, immerhin - doch in den Tagen darauf sah er die Sache langsam in einem anderen Licht. […] Von Berlusconi ging eine gewisse Faszination aus. Er hatte Charisma. Er war skrupellos. Wer ihn kannte, behauptete, dass man sich seinem Charme kaum entziehen konnte. Er war glühender Antikommunist. Er war überzeugt, dass es die Linken auf ihn abgesehen hatten. Der Sieg der Roten war womöglich sein Untergang. Berlusconi hatte auch einen 32 Stephanie Neu-Wendel <?page no="33"?> 23 Im Folgenden wird auf Schmutzige Hände mit der Abkürzung SH verwiesen. 24 Durch die Wendung „so italienisch“ wird auf stereotype Merkmale der so genannten ‚italianità‘ hingewiesen, die es Berlusconi leicht machen würden, große Erfolge einzu‐ fahren. Angespielt wird hier auf eine Reihe von (Auto-)Stereotypen, zu denen Oppor‐ tunismus und Individualismus zählen; vgl. zur historischen Entwicklung entsprechend stereotyper Vorstellungen eines ‚Nationalcharakters‘ Patriarca. Haufen Schulden und eine politische Lösung konnte seinem Unternehmen nur nutzen. (Schmutzige Hände 216-7) 23 Für die Frage, in welcher Form in De Cataldos Roman Kritik an wirtschaftlichen beziehungsweise kapitalistischen Strukturen geäußert wird, sind in erster Linie die in freier indirekter Rede wiedergegebenen Überlegungen Carús zur Rolle Berlusconis von Bedeutung. Aus Carús Visionen für die politische Zukunft Italiens geht deutlich hervor, dass durch Berlusconi als Schlüsselfigur eine klare Trennung zwischen Staat und Wirtschaft beziehungsweise Unternehmertum nicht mehr möglich ist. Zentral hierfür ist die Aussage: „Berlusconi hatte auch einen Haufen Schulden und eine politische Lösung konnte seinem Unternehmen nur nutzen.“ Zudem wird die fast schon paranoide Angst Berlusconis vor „den Kommunisten“ genannt, etwa in der Formulierung „[d]er Sieg der Roten war womöglich sein Untergang“ - ein Hinweis darauf, dass mögliche Staats- und Wirtschaftsformen jenseits des Kapitalismus für einen Unternehmer wie Berlusconi ein ‚worst case scenario‘ darstellen. Weitere Beispiele aus dem Roman verstärken diesen Eindruck. Exemplarisch dafür ist ein Kapitel, in dem Carú sich mit dem ehemaligen Kommissar Scialoja - einer bereits aus Romanzo criminale bekannten Figur - trifft und versucht, ihn davon zu überzeugen, sich ebenfalls an einer möglichen zukünftigen Regierung Berlusconi zu beteiligen: Scialoja hatte wie betäubt zugehört, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Neue Partei … unvorstellbares Szenarium … der Unternehmer wird Staatsmanager, beziehungsweise der Manager des Staates … eine faszinierende Idee, nein, mehr noch, eine verführerische Idee … Berlusconi … der so sympathisch ist … so gerissen … so italienisch … (SH 308). Hier wird die Verknüpfung, ja mehr noch, die komplette Verschmelzung von Politik und Wirtschaft deutlich: In der freien indirekten Rede der Figur Scialoja wird Berlusconi nicht mehr als Ministerpräsident, sondern als „Staatsmanager“, als „Manager des Staates“ bezeichnet. 24 Auch ein weiterer Aspekt der Kapitalismuskritik, der mögliche Moral- und Gemeinschaftsverlust in kapitalistischen Gesellschaften, kommt in Nelle mani giuste zum Tragen. Berlusconi als exemplarischer Kapitalist wird aus der 33 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="34"?> 25 Im Original werden die Begriffe „concedersi in locazione“ („sich verpachten“) und „profitto“ verwendet (192). figuralen Perspektive Carús explizit als „skrupellos“ (SH 217) bezeichnet; die Figur Carú selbst, die sich ganz in den Dienst Berlusconis und der ‚neuen Rechten‘ stellt, steht ihm in dieser Hinsicht in nichts nach: Carú nahm sich nie ernst. Carú nahm keine Idee ernst. Carú hielt das rechte Gedankengut für Dreck. Carú hielt das linke Gedankengut für Dreck. Carú hielt jedes Gedankengut für Dreck. Carú dachte, dass sich ein intelligenter Mensch gewissermaßen eine Zeitlang von einer Idee pachten lässt, um größtmöglichen Profit daraus zu schlagen. Keine Minute länger, keine Minute weniger. (SH 214-5) Carú wird als Repräsentant einer Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft in‐ szeniert, für die nur die Profitmaximierung und das eigene Weiterkommen zählt; die anaphorische Wiederholung seines Namens unterstreicht diese Ich-Bezo‐ genheit. Die Verwendung eines marktwirtschaftlichen Vokabulars - pachten, Profit 25 - verweist auf das bereits angesprochene Themenfeld der Kapitalismus‐ kritik, das sich mit Fragen von Moral oder Unmoral befasst: Carù steht dabei für einen politischen Akteur, dessen ‚Engagement‘ von Profitgier und Eigennutz und nicht vom Interesse am Gemeinwohl bestimmt ist. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Fiktion im Falle von Nelle mani giuste die Möglichkeit bietet, anhand entsprechend gezeichneter - und auch bewusst überzeichneter Figuren, wie das Beispiel Carús verdeutlicht - komplexe Zusammenhänge sowie Kritik an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf den Punkt zu bringen. Eine entsprechende Äußerung De Cataldos findet sich auch im Vorwort zu Nelle mani giuste; hier spricht der Autor gezielt von der Funktion solcher fiktionaler Freiheiten: Abgesehen von den bewusst genannten realen Personen sind die Protagonisten dieses Romans jedoch frei erfunden; Firmennamen, öffentliche Strukturen, Medien und Politiker werden nur genannt, um Figuren, Bilder und das Wesen der kollektiven Träume zu benennen, die sie wesentlich mitgeprägt haben. Nur die metaphorische Überhöhung gestattet es, die Personen, die dem Autor als Vorbild gedient haben, in literarische Archetypen zu verwandeln. (SH 5) In De Cataldos Anmerkungen zu seinem Roman finden sich Bezugspunkte zu den bereits eingangs angesprochenen Merkmalen fiktionalen Erzählens, die es auf einer pragmatischen Ebene von faktualem Erzählen unterscheiden: 34 Stephanie Neu-Wendel <?page no="35"?> 26 Diese pragmatische Definition geht unter anderem auf sprachphilosophische Überle‐ gungen John Searles zurück, insbesondere auf seinen Aufsatz „The logical status of fictional discourse“ (1975). 27 Ein Unterschied zur sizilianischen Mafia besteht unter anderem darin, dass diese hier‐ archischer organisiert ist: „The greater frequency of violence between rival Camorra gangs in comparison with the Mafia is explained by the relative lack of mediation between gangs, at least at the lower and medium level of Camorra activity: the Camorra has never had the equivalent of the Mafia’s hierarchical cupola or ‚commission‘.“ (Behan 111, Hervorhebung im Orig.) In seinem 2019 verfilmten Roman La paranza dei […] what distinguishes fictional narrative from factual narrative is not that the former is referentially void and the latter referentially full. What distinguishes them is the fact that in the case of fictional narrative the question of referentiality is irrelevant, whereas in non-fictional narrative contexts it is important to know whether the narrative propositions are referentially void or not. (Schaeffer, Absatz 26) 26 Bedeutet diese Aussage, dass fiktionales Erzählen nicht daran gemessen werden kann, ob die darin getroffenen Aussagen einen konkreten Bezug in der ‚realen‘ Welt haben, heißt dies im Umkehrschluss aber nicht zwangsläufig, dass dies nicht der Fall sein darf - in De Cataldos Fall ist der Verweis auf reale Personen und Ereignisse sogar eminent wichtig, damit die Leserinnen und Leser einen Bezug zur konkreten Situation in Italien erkennen und zu kritischer Reflexion angeregt werden können. 4. Gomorra: ‚hautnahes‘ Erleben der Folgen illegaler Wirtschaftskreisläufe für Mensch und Umwelt Obwohl die Inhalte von Gomorra sich von denen in Nelle mani giuste unter‐ scheiden, geht Saviano ähnlich vor wie De Cataldo und verbindet Fakten mit fiktionalen Erzählanteilen - mit dem Unterschied, dass Gomorra nicht explizit, zum Beispiel durch den Zusatz ‚Kriminalroman‘, als Fiktion gekennzeichnet ist und keinem bestimmten Genre zugeordnet wird, sondern als hybrider Text, als ‚Dokufiktion‘ bezeichnet werden kann. Gomorra ist in zwei Teile gegliedert, deren Kapitel sich mit verschiedenen Aspekten der Camorra, des organisierten Verbrechens in der süditalienischen Region Kampanien, vor allem in Neapel und in der Provinz Caserta, befassen. Geschildert werden dabei unter anderem die verschiedenen Tätigkeitsfelder, in welche die Camorra verstrickt ist, vom Dro‐ genhandel über die illegale Textilindustrie, in der gefälschte Markenkleidung hergestellt und international vertrieben wird, bis hin zu den Aktivitäten als ‚Ökomafia‘ bei der illegalen Beseitigung von zum Teil giftigem Müll. Gleichzeitig bietet Gomorra einen Einblick in die Strukturen der Camorra-Clans, 27 zeigt 35 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="36"?> bambini (2016) beschreibt Saviano eine weitere Entwicklung im Kontext der Camorra: den Aufstieg von Gangs, die aus Kindern und Jugendlichen bestehen. Vgl. für eine ausführliche Dokumentation zur Camorra die digitale Bibliothek der Università degli Studi di Napoli Federico II, Cultura della Legalità e Biblioteca digitale sulla camorra. 28 Der Begriff ‚ecomafia‘ wurde erstmals von der Umweltschutzorganisation Legambiente verwendet und umfasst mehrere Sektoren, darunter neben der illegalen Entsorgung den Alltag in den von der Camorra beherrschten Gebieten und präsentiert ihre Akteure sowie engagierte Persönlichkeiten, die sich dem organisierten Verbrechen entgegenstellen. Deutlich geht aus Savianos Schilderungen hervor, dass die Camorra das politische und private Leben in den Gebieten, die von ihr kontrolliert werden, in allen Facetten durchdringt, wie es auch in anderen Quellen dargestellt wird: Camorra control becomes a widely known fact, conditioning both the local population and the political structure. When this position of power is reached, all manner of criminal activities can flourish, privately sanctioned by local political leaders. (Behan 112) Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang auch, dass das Ziel aller Ca‐ morra-Gangs und ihrer Anführer nicht die - territoriale und politische - Kontrolle als Selbstzweck sei, sondern die wirtschaftliche Dominanz: „The Ca‐ morra’s governing drive remains economic and not political or social: physical control over a given territory and domination of local politicians, i.e. the exercise of power, are means towards the end of capital accumulation and enrichment.“ (Ebd.) Savianos Buch ist entsprechend nicht das einzige, das sich mit dem organi‐ sierten Verbrechen Italiens und seinen lokalen sowie globalen Verstrickungen und Geschäften befasst, aber kein anderes erreichte den Bekanntheitsgrad von Gomorra. So wird beispielsweise in Mafia export (2009) des Journalisten und Politikers Francesco Forgione detailliert und mit Verweis auf konkrete Namen und Orte dargestellt, in welche legalen Geschäfte - unter anderem in der Gastronomie und im Baugewerbe - kriminelle italienische Organisationen weltweit verwickelt sind. Bei Mafia export allerdings handelt es sich explizit um ein Sachbuch, während sich Gomorra als hybrider Text präsentiert: Der Anspruch, die Wahrheit zu erzählen und die neapolitanische Verbrechenswelt im Bereich der ecomafia aufzudecken, versperrt dem Werk den Weg in die reine Fiktion. Aber der Text präsentiert sich auch nicht als Sachbuch, er ist kein saggio [Essay], das dafür nicht ausreichend Konstanz und Distanz aufweist. (Conrad von Heydendorff 288) 28 36 Stephanie Neu-Wendel <?page no="37"?> von Müll auch nicht genehmigte Bautätigkeiten sowie den Handel mit seltenen Tieren (vgl. „Rapporto Ecomafia“). 29 Die Narration des Erlebens ‚am eigenen Leib‘ lässt sich als Kennzeichen der ‚Wahrheit‘ beschreiben, die in Gomorra vermittelt wird: „the truth of Gomorra differs from the informative truth of a typical reportage in that it is a narrative and fabulatory truth, aimed at forming rather than informing, namely at forming readers’ consciousness about the shocking gravity of the reality of the ‚system.‘ Saviano pursues this goal through constantly plunging himself into the facts and stories that he tells, with the result that readers are, in turn, also plunged into such facts and stories and forced to feel implicated in them“ (Pocci 239-40). 30 Legambiente veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht mit Zahlen und Daten zu den Aktivitäten der Ökomafia. Der aktuelle Bericht für das Jahr 2018 zeigt deutlich, dass die vier ‚klassischen‘ Regionen des organisierten Verbrechens - Kampanien, Sizilien, Apulien, Kalabrien - zu den Hochburgen im Bereich der illegalen Müllentsorgung gehören. Vgl. dazu http: / / noecomafia.it/ 2019/ italia/ rifiuti/ numeri/ il-ciclo-illegale-dei-r ifiuti-i-numeri-del-2018/ . Aufgerufen 6. Sept. 2019. Gerade diese Mischung aus Fakten und Fiktion, die Kombination von Sachtex‐ telementen - allerdings ohne Angaben von Quellen - und persönlichen Erfah‐ rungen lässt sich als eine mögliche Erklärung für das ‚literarische Phänomen‘ Gomorra anführen: Gomorra und den Erfolg des Werkes ohne die tatsächliche Person, den realen Autor, die Figur des Ich-Erzählers Roberto Saviano zu denken, ist unmöglich. Der Text bezieht seine Wahrhaftigkeit in großen Teilen aus dem Umstand, dass der Ich-Erzähler nicht schlicht ein Detektiv oder Journalist ist, sondern eine Person, die (zumindest partiell) ‚selbst erlebte‘ Ereignisse erzählt. (Ebd. 300) 29 Dass der Autor, der gleichzeitig zum Ich-Erzähler in Gomorra wird, sich als unmittelbar Betroffener und in die Geschehnisse involvierter Zeuge inszeniert, wird insbesondere am Beispiel des letzten Kapitels von Gomorra deutlich, das den Titel „Terra dei fuochi“, „Feuerland“, trägt. In diesem letzten Kapitel geht es um die illegale Beseitigung, unter anderem durch Verbrennen, von Giftmüll in einem Gebiet zwischen den Provinzen Neapel und Caserta. 30 Christiane Conrad von Heydendorff sieht in diesem abschließenden Kapitel gleichzeitig das Ziel der persönlichen „Entwicklungsreise“ des Ich-Erzählers, die eng mit der Beschreibung und Erfassung der im Text geschilderten Wirtschaftskriminalität verknüpft ist: Es scheint […] durchaus ein Entwicklungsprozess des erzählenden Protagonisten angelegt zu sein, der jedoch an die zyklische Transformation der Waren gekoppelt ist: an die Wirtschaftskriminalität in einem kapitalistischen System. Dieser zyklische Transformationsprozess, der im Romanganzen Geld zu Ware, Ware zu Müll und Müll 37 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="38"?> 31 Vgl. zu einer Darstellung der Handelswege illegaler Mülltransporte sowie zu Einzelfall‐ darstellungen und Akteuren ausführlich Mattioli/ Palladino. 32 Im Folgenden wird auf Gomorrha mit der Abkürzung Gom verwiesen. wiederum zu Geld werden lässt, findet sein erzählerisches Ende im Kapitel „Terra dei fuochi“ [Feuerland] (299). Bei dem hier beschriebenen illegalen Wirtschaftskreislauf handelt sich um einen globalen Markt, der weit über Italien hinausreicht und an dem neben den kriminellen Akteuren auch politische und ‚reguläre‘ wirtschaftliche Kräfte beteiligt sind. 31 Dieser globale Markt ist - wie bereits im zweiten Kapitel des vorliegenden Beitrags angedeutet - „durch „[d]ie ‚Logik‘ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens“ (Eickelpasch et al. 9) gekennzeichnet. Am unteren Ende der Ausbeutungskette stehen die Menschen in der durch Giftmüll verseuchten Region Süditaliens, in die sich der Ich-Er‐ zähler im letzten Kapitel von Gomorra begibt. Dieses Kapitel führt beispielhaft sowohl Hintergrundinformationen als auch unmittelbares eigenes körperliches Erleben des Ich-Erzählers zusammen. Ein Beispiel für allgemeine Informationen und Überlegungen zum Wirtschaftssystem, das die illegale Müllverbrennung begünstigt, findet sich am Anfang des Kapitels: Mülldeponien können den Wirtschaftskreislauf am besten veranschaulichen. Auf ihnen sammelt sich an, was der Konsum hinterlassen hat, und das ist mehr als nur der Rest dessen, was einmal produziert wurde. Der Süden ist Endstation sämtlicher giftiger Abfälle, sämtlicher wertlosen Überbleibsel, sämtlicher Rückstände aus der Produktion. Der gesamte illegal entsorgte Müll ergibt nach einer Schätzung der Umweltschutzorganisation Legambiente vierzehn Millionen Tonnen, das entspricht einem 14 600 Meter hohen Berg auf einer drei Hektar großen Grundfläche. […] In meiner Vorstellung gleicht diese gewaltige Erhebung den Endlossträngen einer DNA, auf der alles gespeichert ist - Handelsoperationen, die Subtraktionen und Additionen der Finanzexperten, die Profitraten. (Gomorrha 341) 32 Anhand dieses Auszugs lässt sich ein Bezug zu einem der eingangs genannten Aspekte der Kapitalismuskritik herstellen: Die Gefahren für die Umwelt durch das Wirtschaftswachstum werden hier explizit benannt; am Beispiel der durch Zahlen benannten Mengen an illegal entsorgtem Müll, darunter Giftmüll, aus der industriellen Produktion wird veranschaulicht, welche Folgen ein auf Pro‐ fitmaximierung ausgerichtetes Wirtschaftssystem für die Umwelt haben kann. Zwei Charakteristika von Savianos Erzählweise werden ebenfalls verdeutlicht: Das Aufzählen von Daten erfolgt ohne Quellenangabe; gleichzeitig meldet sich das erzählende Ich mit persönlichen Assoziationen zu Wort, als jemand, der 38 Stephanie Neu-Wendel <?page no="39"?> 33 Die Originalversion entspricht der Übersetzung: „Il contadino si catapultò dal trattore e iniziò a raccogliere freneticamente tutti i brandelli di danaro“ (Gomorra 312). „In fliegender Hast“ entspricht hier dem Adverb „freneticamente“; durch das Verb „cata‐ pultare“ (katapultieren) wird der Sprung des Landwirts von seinem Traktor im Original sogar noch plakativer beschrieben. 34 Die Satzstruktur deckt sich im Wesentlichen mit der Originalfassung, in der ebenfalls eine Steigerung zu erkennen ist: „Migliaia e migliaia di banconote, centinaia di migliaia“ (Gomorra 312). stellvertretend für seine Leserinnen und Leser versucht, den Wirtschaftskreis‐ lauf zu verstehen, um Kritik daran üben zu können. Eingebettete anekdotische Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nicht über‐ prüft werden kann, tragen ebenso wie die eindringliche Assoziation zwischen den anfallenden Müllmengen und der Form eines gigantischen Berges dazu bei, den abstrakten Fakten ein ‚Gesicht‘ zu geben - im folgenden Beispiel das eines Landwirtes, der beim Pflügen seines Feldes auf giftigen Restmüll stößt: Eines Tages pflügte ein Bauer seinen Acker, der genau an der Grenze zwischen den Provinzen Neapel und Caserta lag; er hatte das Stück Land gerade erst gekauft. Der Motor seines Traktors ging immer wieder aus, als wäre das Erdreich an diesem Tag ganz besonders fest. Und auf einmal beförderten die Pflugscharen Papier zutage. Geld. Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen. Der Bauer sprang von seinem Traktor und fing an, in fliegender Hast die Fetzen aufzusammeln, als wäre es die versteckte Beute aus einem großen Banküberfall. Aber es waren nur Pa‐ piergeldschnipsel, die Farbe ausgebleicht. Geschredderte Banknoten der italienischen Staatsbank. Tonnenweise zu Ballen gepreßte [sic! ] Lirescheine, die man aus dem Verkehr gezogen hatte. Die alte italienische Währung, die man hier verscharrt hatte, vergiftete jetzt einen Blumenkohlacker mit Blei. (Gom 344-5) Auffällig an diesem Auszug sind Savianos narrative und rhetorische Strategien: Er schmückt die Episode um den Bauern aus Caserta durch plakative Beschrei‐ bungen seines Verhaltens aus, zum Beispiel durch die Wendung „in fliegender Hast“, 33 so dass der Eindruck entsteht, als Augenzeuge ‚live‘ dabei zu sein. Die Klimax „Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen“ 34 unterstreicht hyperbolisch die Menge an Geldscheinen, die im Acker vergraben sind. Dass es sich gerade um Banknoten handelt, kann ebenfalls als geschickter rhetorischer Einfall gesehen werden, da Geld und Gewinn Dreh- und Angel‐ punkt des ganzen illegalen Wirtschaftskreislaufs bilden. 39 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="40"?> 5. Literarische (fiktionale) Darstellungen als Ergänzung und Weiterführung theoretischer Überlegungen Unter Rückbezug auf die eingangs zitierte Frage - „Wie lassen sich gegenwärtige Theorien der Kapitalismuskritik auf literarische Texte anwenden und welche Leerstellen der Theorie füllt wiederum die Literatur? “ - lässt sich zusammen‐ fassend feststellen, dass die in theoretischen Ausführungen dargelegte Kritik an kapitalistischen Strukturen und ihrem Einfluss insbesondere auf Moralvorstel‐ lungen und auf das ökologische System in Nelle mani giuste und Gomorra in konkrete, greifbare Handlungen und Figuren ‚übersetzt‘ wird: Beispiele dafür liefern die zugespitzte Darstellung des Journalisten Carú in Nelle mani giuste oder die anekdotische Episode um den ‚Geldacker‘ in Gomorra. Sowohl Nelle mani giuste als auch Gomorra zeigen die Freiheiten und Möglichkeiten gerade der fiktionalen Literatur auf, Kritik an entsprechenden Strukturen eindringlich darzustellen und - im Falle von De Cataldos Roman - die bekannten Fakten neu zu kombinieren und Vermutungen anzustellen, die in einem journalistischen Text, in dem alle Aussagen belegbar sein müssen, nicht möglich wären. Der Kriminalroman eignet sich - dies gilt, wie bereits zu Beginn kurz erwähnt, insbesondere für Italien - als Textsorte, die zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität genutzt werden kann. Durch beispielsweise politisches Engagement oder das Ausüben von Berufen im Bereich der Justiz, mit denen Integrität assoziiert wird, gewinnen auch die Autorinnen und Autoren von ‚Gialli‘ an Glaubwürdigkeit und ethos im Sinne von Korthals Altes, was sich wiederum auf die Rezeption ihrer Werke auswirken kann. Gomorra nimmt in diesem Panorama eine Sonderstellung ein: Es handelt sich hierbei nicht um einen Kriminalroman, sondern um eine Darstellung krimineller Aktivitäten mit hohem Realitätsbezug, die als Dokumentation und investigative journalistische Recherche angelegt ist. Roberto Saviano nennt entsprechend konkrete Namen und Orte, allerdings - und das ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert - ohne Quellenangaben. Für die Darstellung der geschilderten Fälle und Schicksale bedient der Autor sich darüber hinaus narrativer Strategien, die der fiktionalen Literatur entlehnt sind. Warum er‐ scheinen die Schilderungen dennoch glaubwürdig? Es mag auf den ersten Blick paradox scheinen, aber es sind gerade die erwähnten Fiktionalitätsstrategien - vor allem die Schilderungen aus der Sicht des ‚erlebenden Ich‘ Roberto Saviano -, die den Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum Geschehen vermitteln und ein ‚Mitfühlen‘ ermöglichen (vgl. dazu Conrad von Heydendorff 412). Festzuhalten ist abschließend, dass es sich in beiden Fällen nicht um eine dezidierte Kritik am Kapitalismus per se handelt: Eine kapitalistische Ordnung 40 Stephanie Neu-Wendel <?page no="41"?> 35 So stellt Christiane Conrad von Heydendorff in Bezug auf Gomorra fest, dass sich die „immer stärker zuspitzende Kapitalismuskritik […] in einer Anthropomorphisierung von Stadt und Ware und einer Reifizierung der dargestellten Personen [äußert]“ (413). der Gesellschaft wird von De Cataldo und Saviano nicht grundsätzlich - zu‐ gunsten anderer Staats- und Wirtschaftsformen - in Frage gestellt. Offengelegt werden jedoch Entwicklungen innerhalb dieses Systems, die moralische Fragen aufwerfen, sowohl in Bezug auf individuelles (Fehl-)Verhalten als auch auf die Verwischung der Grenzen zwischen legalem und illegalem Unternehmertum sowie hinsichtlich des ausbeuterischen Umgangs mit natürlichen Ressourcen und mit dem Stellenwert des (menschlichen) Lebens, das in beiden hier betrach‐ teten Texten zu einer ‚Ware‘, zu einer vernachlässigbaren Größe im Kampf um Geld und Einfluss oder zu einer (politischen) ‚Verhandlungsmasse‘ in Form von Wählerstimmen beziehungsweise Konsumentinnen und Konsumenten deklassiert wird. 35 Bibliographie Primärliteratur: De Cataldo, Giancarlo. Nelle mani giuste. Einaudi, 2007. —. Schmutzige Hände. Übersetzt von Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2011. Saviano, Roberto. Gomorra: Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Mondadori, 2016. —. Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra. Übersetzt von Friederike Hausmann und Rita Seuß, Carl Hanser Verlag, 2007. Sciascia, Leonardo. Todo modo. Einaudi, 1974. Sekundärliteratur: Amici, Marco. „Dall’epopea criminale all’ambiguità dei giorni nostri: Alcune considera‐ zioni su Romanzo criminale e Nelle mani giuste di Giancarlo De Cataldo.“ Memoria in Noir: Un’indagine pluridisciplinare, herausgegeben von Monica Jansen und Yasmina Khamal, Peter Lang, 2010. S. 77-86. Arlacchi, Pino. Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus: Die unternehmerische Mafia. Übersetzt von Norbert Neumann, Cooperative Verlag, 1989. Behan, Tom. The Camorra. Routledge, 1996. Berger, Johannes. Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik. Springer VS, 2014. Caspar, Marie-Hélène, Herausgeberin. Trent’anni di giallo italiano, Sonderausgabe von Narrativa, 26 (2004). 41 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="42"?> Conrad von Heydendorff, Christiane. Zurück zum Realen: Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur. V&R unipress, Mainz UP, 2017. Crovi, Luca. Tutti i colori del giallo: Il giallo italiano da De Marchi a Scerbanenco a Camilleri. Marsilio, 2002. Cultura della Legalità e Biblioteca digitale sulla camorra, herausgegeben von Università degli Studi di Napoli Federico II, letzte Aktualisierung Februar 2018, www.bibliocam orra.altervista.org/ . Aufgerufen 6 Sept. 2019. Eickelpasch, Rolf et al. „Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik - eine Einfüh‐ rung.“ Metamorphosen des Kapitalismus - und seiner Kritik, herausgegeben von Rolf Eickelpasch et al., VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008. S. 9-17. Forgione, Francesco. Mafia export: Come ’ndrangheta, cosa nostra e camorra hanno colonizzato il mondo. Baldini Castoldi Dalai, 2009. „Gelli, Licio.“ Enciclopedia Treccani, www.treccani.it/ enciclopedia/ licio-gelli/ . Aufgerufen 6 Sept. 2019. Gohlis, Tobias. „Alles eine Erfindung? “ ZEIT Online, 30 Okt. 2012, www.zeit.de/ 2012/ 45 / Giancarlo-De-Cataldo-Zeit-der-Wut. Aufgerufen 6 Sept. 2019. Hausmann, Friederike. Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis zur Ära nach Berlusconi. Erweiterte Neuaufl., Wagenbach, 2006. „Il ciclo illegale dei rifiuti. I numeri del 2018.“ Legambiente, 5 Juli 2019, http: / / noecomafia.i t/ 2019/ italia/ rifiuti/ numeri/ il-ciclo-illegale-dei-rifiuti-i-numeri-del-2018/ . Aufgerufen 6 Sept. 2019. Klüver, Henning. „Berlusconi und die Mafia: Materialien zu einer Geschichte, die offen bleibt.“ Berlusconi an der Macht: Die Politik der italienischen Mitte-Rechts-Regierungen in vergleichender Perspektive, herausgegeben von Gian Enrico Rusconi et al., Olden‐ bourg Wissenschaftsverlag, 2010. S. 109-23. Korthals Altes, Liesbeth. Ethos and Narrative Interpretation: The Negotiation of Values in Fiction. U of Nebraska P, 2014. Krempl, Stefan. Das Phänomen Berlusconi. Die Verstrickung von Politik, Medien, Wirtschaft und Werbung. Peter Lang, 2006. Mattioli, Sandro und Andrea Palladino. Die Müllmafia: Das kriminelle Netzwerk in Europa. Herbig, 2011. Ottmann, Henning. Geschichte des politischen Denkens, Bd. 4.2. Das 20. Jahrhundert: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung. Metzler, 2012. Patriarca, Silvana. Italian Vices: Nation and Character from the Risorgimento to the Republic. Cambridge UP, 2010. Pocci, Luca. „‚Io so‘: A Reading of Roberto Saviano’s Gomorra.“ MLN, 126 (2011). S. 224-44. RAI. „Roberto Saviano e il razzismo in Italia - Che tempo che fa 24/ 02/ 2019.“ YouTube, hochgeladen von RAI, 25 Feb. 2019, www.youtube.com/ watch? v=sgZj2ahQ7u4. Auf‐ gerufen 6 Sept. 2019. 42 Stephanie Neu-Wendel <?page no="43"?> „Rapporto Ecomafia.“ Legambiente, 5 Juli 2019, www.legambiente.it/ rapporto-ecomafia/ . Aufgerufen 6 Sept. 2019. Sandel, Michael J. What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets. Farrar, Straus and Giroux, 2012. Sangiorgi, Marco. „Introduzione.“ Il giallo italiano come nuovo romanzo sociale, heraus‐ gegeben von Marco Sangiorgi und Luca Telò, Longo, 2004. S. 15-23. Santino, Umberto. „Von der Mafia zum transnationalen Verbrechen. Die sizilianische Mafia: Von der Unbestimmtheit zum Paradigma der Komplexität.“ Centro Siciliano di Documentazione „Giuseppe Impastato“ - Onlus, übersetzt von Susanne Hackmann et al., https: / / www.centroimpastato.com/ von-der-mafia-zum-transnationalen-verbre chen/ . Aufgerufen 6 Sept. 2019. Ursprünglich publiziert in Nuove Effemeridi, 59 (Dezember 2000). S. 92-101. Schaeffer, Jean-Marie. „Fictional vs. Factual Narration.“ Living Handbook of Narratology, 19 Aug. 2012, überarbeitet 20 Sept. 2013, www.lhn.uni-hamburg.de/ node/ 56.html. Aufgerufen 6 Sept. 2019. Schulz-Buschhaus, Ulrich. „Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardisti‐ schen Erzählliteratur.“ Der Kriminalroman: Poetik, Theorie, Geschichte, herausgegeben von Jochen Vogt, Wilhelm Fink Verlag, 1998. S. 523-48. Stahl, Enno. „Scheinrealismus und literarische Analyse.“ Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik, herausgegeben von Ingar Solty, Verbrecher Verlag, 2016. S. 101-10. 43 De Cataldos Nelle mani giuste (2007) und Savianos Gomorra (2006) <?page no="45"?> „Have There Been Unexplained Deaths? “: Kapitalismus, Beschleunigung und die Rolle des Theaters in Alan Bennetts Allelujah! (2018) Annika Gonnermann 1. Alan Bennetts Kapitalismuskritik: Menschenwürde versus Effizienz Hinter dem in Deutschland und auf dem Rest des europäischen Kontinents relativ unbekannten Namen Alan Bennett verbirgt sich einer der produktivsten und beliebtesten Dramatiker, den England im ausklingenden 20. Jahrhundert hervorgebracht hat (vgl. McKechnie 1). Nach fünf Jahrzehnten im Showbusiness ist Bennett das, was in Großbritannien gerne als „household name“ oder - in den Worten McKechnies - als „cultural icon“ bezeichnet wird (5); Joseph O’Mealy nennt ihn sogar „England’s best-loved playwright“ (xiii). Geboren 1934 im nordenglischen Leeds hat sich der studierte Historiker bereits zu Beginn der 1960er Jahre mit seinen Auftritten in der satirischen Revue Beyond the Fringe einen Namen gemacht. Später folgten zahlreiche Theaterstücke, darunter sein bislang wohl bekanntestes, The Madness of George III (1990), ein satirischer Kommentar auf Prinz Charles, dessen Status als ewiger Thronfolger bereits in den 1990er Jahren ein Running Gag war und es - der Thronfolger ist auch nicht mehr der Jüngste - nach wie vor ist (vgl. Huber/ Schaff). Seinen Platz in der britischen TV-Geschichte sicherte sich Bennett mit Talking Heads (1988, 1998), einer Serie dramatischer Monologe, ausgestrahlt von der BBC, in der die Charaktere (dargestellt von Größen des englischen Theaters wie Maggie Smith oder Julie Walters und sogar Alan Bennett selbst) Einblicke in ihr turbulentes Seelenleben gewähren und dabei, oftmals unfreiwillig komisch, die Zuschauer_innen zu Komplizen ihrer Affären, Einsamkeit und Skurrilität machen. Bennetts Stücke haben sich schon immer für die Ausgestoßenen der Gesell‐ schaft interessiert und sich dabei vor allem dadurch ausgezeichnet, authentische Dialoge wiederzugeben, die sowohl die Gewohnheiten der unteren als auch die <?page no="46"?> 1 Im Folgenden werden alle Belege für Allelujah! lediglich unter Verweis auf die Seiten‐ zahlen angeführt. der oberen Schichten einfangen (vgl. McKechnie 190). Themen, die sich wie ein roter Faden durch Bennetts Schaffen ziehen, sind das britische Klassensystem, Anstand und Schicklichkeit, sowie die Unterschiede zwischen Nord und Süd (vgl. Dowd). Dabei bewahrt Bennett immer eine ironisch-komische Distanz und ist um Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen bemüht. So gibt er zu, „that is one of the reasons why I write plays: one can speak with a divided voice“ (Allelujah! x). 1 Als Schauplatz für sein neuestes Stück, Allelujah! (2018), wählt Bennett einen geriatric ward, die geriatrische Station des Bethlehem-Krankenhauses in Yorkshire mit seinen alternden Bewohner_innen. Die Themen des Stücks sind die (finanzielle) Zukunft des britischen National Health Service (NHS), die Privatisierung des Gesundheitssektors und das Effizienz-Diktat der derzeitigen neoliberalen Regierung, kombiniert mit der von Margaret Thatcher prominent vertretenen Überzeugung, dass es ‚die Gesellschaft‘ nicht gibt, sondern nur einzelne Männer und Frauen, die für sich selbst sorgen müssen. Es geht um fundamentale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich auf das Bethlehem projizieren lassen: Ist die Gesellschaft für ihre Mitglieder verant‐ wortlich und wenn ja, wie geht sie mit denen um, die im kapitalistischen Sinne, aus Alters- oder Gesundheitsgründen, nicht mehr ‚nützlich‘ sind? Diese Frage scheint für die jüngeren Charaktere des Stücks bereits beant‐ wortet: Das Bethlehem steht kurz vor der Schließung, denn in Zeiten der Profitmaximierung und Spezialisierung (vgl. Taylor), so denkt jedenfalls der Beamte Colin, rechnen sich solche Institutionen nicht mehr, die die Menschen vor Ort von der Wiege bis zur Bahre begleiten: „The notion of a hospital caring for a community from birth to death is a sentimantal one. It’s the stuff from television. We do not need these birth-to-death emporiums.“ (36) Das Allheilmittel aller medizinischen (und vor allem finanziellen) Probleme sieht Colin in „[c]entres of excellence“ und „[s]pecialist units“ (ebd.). Anders, so Colin, sei das Krankenhaus nicht rentabel zu führen. In diesem ideologischen Graben‐ kampf steht ihm gegenüber, der zupackende, leicht narzisstische Vorsitzende der Krankenhausstiftung, Salter (vgl. Trueman); er weigert sich, das „Beth“ aufzugeben (vgl. Billington): „Beth short for Bethlehem, so called when it was founded in the eighteenth century because, like the inn, nobody was turned away.“ (11) Mit dem kapitalistischen Profitdenken auf der einen, und einer (zumindest augenscheinlich) von christlicher Nächstenliebe (die Assoziationen mit Bethlehem und der biblischen Weihnachtsgeschichte liegen auf der Hand) 46 Annika Gonnermann <?page no="47"?> 2 Siehe auch Paul Taylors Rezension zu Allelujah! : „Old people have always been to Bennett what daffodils were to Wordsworth; witness the marvellous parts he has written for veterans of the calibre of Thora Hird and Liz Smith. Among the 25 characters in this new piece we meet 12 patients played by such superb senior actors as Julia Foster, Jeff Rawle and Gwen Taylor“. geprägten Handlungsmaxime auf der anderen Seite, scheinen die Fronten geklärt. Vordergründig dominieren die Themen Alter und Tod das Geschehen im Stück - kein Wunder, immerhin besteht der 25-köpfige Cast aus gleich einem Dutzend Schauspieler_innen im Rentenalter (vgl. Billington), 2 die die Bewohner_innen und Patient_innen der geriatrischen Station darstellen. Aller‐ dings sind - wie bereits angedeutet - die Themen Effizienz, Rationalisierung, Flexibilität, Profit und Beschleunigung ebenfalls präsent. Diese werden vor allem von den Charakteren des Colin Coleman und der Schwester Gilchrist verkörpert, die sich sogleich im augenscheinlichen Gegensatz zu den alternden, langsamen, mitunter geistig nicht mehr ganz fitten Bewohnern positionieren. Wie groß der Gegensatz ist, wird dem Publikum allerdings erst gegen Ende des Stückes klar: Ihrer Taten überführt, gibt Schwester Gilchrist zu, für die Todesfälle verantwortlich zu sein, die den Krankenhausalltag und die Rezeption des Stückes gleichsam immer wieder unterbrechen. Indem sie immer diejenigen Patienten „discharged“ (46), also ‚entlässt‘, beziehungsweise umbringt, die in‐ kontinent werden, sorgt Gilchrist auf unkonventionelle Art für freie Betten auf der Station und somit dafür, dass immer wieder neue Patienten aufgenommen werden können: Mit der simplen Aussage, „we have better things to do than empty bedpants“ (14), rechtfertigt Gilchrist ihr Handeln. Indem Bennett die Beziehung zwischen kapitalistischer Effizienz und Men‐ schenwürde (vor allem im Alter) zum zentralen Punkt seines Stückes erklärt, stellt er sich in diejenige Traditionslinie der Kapitalismuskritik, die Rahel Jaeggi als „ethische Kritik am Kapitalismus“ zusammenfasst. Diese postuliert: Das durch den Kapitalismus geprägte Leben ist ein schlechtes oder ein entfremdetes Leben. Es ist verarmt, sinnlos oder leer und destruiert wesentliche Bestandteile dessen, was zu einem erfüllten, glücklichen, vor allem aber auch ‚wahrhaft freien‘ menschlichen Leben gehört. Kurz: Die ethische Kritik thematisiert den Kapitalismus als Welt- und Selbstverhältnis. (341) In dieser Traditionslinie wird der Kapitalismus unter Verweis auf die vermin‐ derte Lebensqualität kritisiert. Das menschliche Leben verkommt zu einer sinnlosen, leeren Existenz, bar all dessen, was Jaeggi unter den Aspekten der Erfüllung (im Beruf oder im Privaten), Freiheit, Autonomie und schlussend‐ 47 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="48"?> 3 Alternative Gesichtspunkte der Moderne fasst Rosa zu Beginn seiner Ausführungen zusammen: „In der einschlägigen Literatur über die Moderne und die Modernisierung werden diese Veränderungen meist als Prozesse der Rationalisierung (wie bei Weber und Habermas), der (funktionalen) Differenzierung (wie in den Theorien Durkheims und Luhmanns), der Individualisierung (wie bei Georg Simmel und heute bei Ulrich Beck) oder der Domestizierung und Kommodifizierung (wie bei jenen Theoretikern von Marx zu Adorno und Horkheimer, die ihr Augenmerk auf die Steigerung menschlicher Produktivität und den Aufstieg der instrumentellen Vernunft richten) interpretiert und diskutiert“ (15, Hervorhebung im Orig.). lich Glück zusammenfasst. Dass Allelujah! auf diese Art der Kritik abzielt, ist offensichtlich. Diejenigen Charaktere, die sich dem Effizienz-Direktiv des freien Marktes verschrieben haben, geben sich die größte Mühe, das Leben der Bewohner_innen auf jede erdenkliche Weise weniger erfüllt, frei und glücklich zu machen: Colin, indem er das Bethlehem gleich ganz schließen will; Gilchrist, weil sie bereitwillig Menschenleben den Arbeitsabläufen unterordnet. Um diese Art der Kapitalismuskritik zu formulieren, bedient sich Allelujah! also einer Gegenüberstellung zweier Lebensentwürfe: Das Stück zeigt, dass ein kapitalistischer Effizienzbegriff, der vor allem durch eine beschleunigte Arbeitswelt und dynamische Flexibilität geprägt ist, einem Leben und Altern in Würde diametral entgegensteht. Allelujah! denkt die Implikationen dieses neoliberalen Ansatzes konsequent zu Ende und hält der Gesellschaft, die diese Ideen zum neuen Idealzustand erhoben hat, den Spiegel vor. Kapitalismus wird in diesem Stück vor allem als eine Steigerung der Effek‐ tivität und als konstante Beschleunigung begriffen. Damit drückt Allelujah! ähnliche Gedanken aus, wie die, die der Soziologe Hartmut Rosa unter anderem in Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmo‐ derner Zeitlichkeit (2013) vertritt. Darin diagnostiziert Rosa für die Moderne eine Veränderung der Zeitstruktur, welche nunmehr der „Herrschaft und Logik eines Beschleunigungsprozesses untersteht“ (9). 3 Laut Rosa entwickelt sich dieser Beschleunigungsprozess zum „ständige[n] Begleiter des modernen Menschen“ (16). Die Gründe für die tatsächliche und gefühlte Zeitknappheit, beziehungs‐ weise das Gefühl der ‚rasenden Zeit‘, lassen sich nach Rosas Theorie auf die kapitalistische Produktionsweise zurückführen: Wenn wir nach den Mechanismen suchen, die in der modernen Gesellschaft die Prozesse der Beschleunigung und des Wachstums antreiben und miteinander ver‐ binden, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass dabei die grundlegenden Prinzipien und Profitgesetze der kapitalistischen Ökonomie eine wesentliche Rolle spielen. Die simple Identifikation von Zeit und Geld, die wir aus Benjamin Franklins berühmtem Ausspruch kennen, ist in verschiedenen Hinsichten zutreffend. (35) 48 Annika Gonnermann <?page no="49"?> 4 Als Beispiel führt Rosa hier Schwangerschaften oder geologische Prozesse an (vgl. 99). Rosa definiert den Kapitalismus also zwingend über sein Zeitdiktat und weist darauf hin - wie bereits viele vor ihm, unter anderem Benjamin Franklin -, dass Zeit und Geld in einer kausalen Beziehungskette zu stehen scheinen: je schneller, desto effizienter, desto profitabler. Rosa unterscheidet zwischen einer „technische[n] Beschleunigung“, der „Beschleunigung des sozialen Wandels“ und der „Beschleunigung des Lebens‐ tempos“ (vgl. 20-44). Grundsätzlich gilt jedoch festzuhalten, dass alle drei Formen sich gegenseitig bedingen und gemeinsam, „meist hinter dem Rücken der Akteure, das menschliche Weltverhältnis als solches, also unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und zur Gesellschaft“, verändern (ebd. 60). Dies fasst Rosa folgendermaßen zusammen: Die soziale Beschleunigung produziert neue Zeit- und Raumerfahrungen, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind - und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren. (66, Hervorhebung im Orig.) Die Beschleunigung verändert also den Zugang zu sich selbst, zu anderen, und letztendlich zur Welt (vgl. ebd. 60). Der Kapitalismus ist aufgrund seiner Profitorientierung und der damit ein‐ hergehenden Jagd nach Wettbewerbsvorteilen seit jeher durch ein Denken in kurz- und mittelfristigen, und eben nicht langfristigen, Intervallen geprägt - noch mehr so, seit sich die größten Transaktionen auf den internationalen Aktienmärkten vollziehen. Da sich menschliches beziehungsweise organisches Leben aber nicht im selben Maße beschleunigen lässt, spricht Rosa von „[s]chäd‐ liche[n] Formen der Desynchronisierung“ (104), 4 um das Verhältnis der beiden Zeitstrukturen in Verbindung zu setzen: Der Mensch hat zusehends das Gefühl, ‚nicht mehr hinterher zu kommen‘. Die Folge ist ein entfremdetes, unglückliches und - wie in Bennetts Drama ausführlich diskutiert - menschenunwürdiges Leben. Im Folgenden werde ich daher aufzeigen, dass Bennetts Theaterstück Alleluljah! das Effizienzdiktat des modernen Kapitalismus unter Verweis auf die negativen Folgen für Individuum und Gesellschaft kritisiert. Im Kontext des Krankenhauses und geriatric ward wird besonders deutlich, welch großen zwischenmenschlichen Schaden die neoliberale Beschleunigung und der profit‐ orientierte Effizienzgedanke anrichten können. Dabei arbeitet Alleluljah! nicht nur mit einer simplen Gegenüberstellung von Alt und Jung, sondern zeigt auf, dass im Kapitalismus alle zu Verlierern werden, sobald sie sprichwörtlich 49 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="50"?> ‚nicht mehr mithalten können‘. Besonderes Augenmerk liegt zum Abschluss der Analyse noch auf der Raumhaftigkeit des Theaters, das sich schon als Medium der Zeitfokussierung des Kapitalismus entgegenstellt. 2. Neoliberale Weltbeziehungen: Allelujah! , Margaret Thatcher und die Privatisierung Allelujah! liefert die ‚praktischen‘ Anschauungsbeispiele zu Rosas theoretischen Vorüberlegungen: Das Stück portraitiert eine neoliberale Welt, in der das Leben zunehmend als Geschäftsvorgang begriffen wird und schildert somit Rosas „[s]chädliche Formen der Desynchronisierung“ (104). Dies wird bereits in der allerersten Szene des Dramas deutlich. Mrs Maudsley, Neu-Bewohnerin des Beth und „an old lady in a wheelchair, very decrepit but with a good voice“, leitet das Stück mit den Worten „[i]t was my house“ (3) ein, die sie sogleich noch einmal wiederholt. Noch fehlt den Zuschauern der Kontext, um diese Aussage richtig einzuordnen. Auf die Frage, wem das Haus mittlerweile gehöre, antwortet Mrs Maudsley später, „[t]hieves“ (14), und erweckt damit den Eindruck, das Haus sei ihr von Dieben gestohlen worden. Das Tragikomische dieser Szene entfaltet sich beim Auftritt von Mrs Maudsleys Verwandtschaft, ihrer Tochter Mrs Earnshaw und deren Ehemann Mr Earnshaw. Schnell wird klar, dass Mrs Maudsley mit „thieves“ ihre eigene Tochter und ihren Schwiegersohn meint, die vor sechs Jahren das Haus auf deren Namen überschrieben haben: EARNSHAW. Six years ago she made over the house. MRS EARNSHAW. Only because she wanted to. EARNSHAW. In order to avoid estate duty. MRS EARNSHAW. Perfectly legally. The Queen Mother did it. (15) Dass der Eigentümerwechsel nicht ganz so einvernehmlich stattgefunden hat, wie Mr und Mrs Earnshaw so nachdrücklich behaupten („she made over the house“, Hervorhebung der Verf.), kann das Publikum aufgrund der übereifrigen Rechtfertigungen des Paares erahnen. Gegenüber Salter geben sich die Ehe‐ leute alle Mühe, den Vorgang als harmonisch darzustellen. Mrs Earnshaws ellipsenartiger Einschub, „[o]nly because she wanted to“, soll noch einmal die innerfamiliäre Harmonie unterstreichen, die offenkundig für Mrs Maudsley - sie spricht über ihre Familie als Diebe - bereits längst nicht mehr existiert. Die Überbetonung der Legalität des Vorgangs („[p]erfectly legal[]“) dient lediglich als rhetorisches Feigenblatt: Dem Paar ist scheinbar durchaus bewusst, dass sie zwar rechtlich gesehen nichts falsch gemacht haben, dass sie aber moralisch durchaus belangt werden können. Sie haben Mrs Maudsley, die nach ihren 50 Annika Gonnermann <?page no="51"?> 5 Diese und alle folgenden Übersetzungen des Textes von Bennetts Allelujah! sind die der Verfasserin. 6 Das Stück feierte seine Premiere im Juli 2018 im neu eröffneten Bridge Theater in London (vgl. Cavendish). Mr Earnshaws Zeitplanung („three months“ bis September) entspricht also der Kalenderrechnung des Publikums: Auch für die Zuschauer_innen sind es noch drei Monate bis September. Durch die sich entsprechenden Zeitachsen des Publikums und der Charaktere öffnet das Stück also eine Vergleichsbasis, die vor allem den Fiktionalisierungsgrad des Stücks reduziert und somit die Kapitalismuskritik über das Theater hinaus in die ‚wirkliche Welt‘ projiziert. eigenen Angaben topfit ist und einen Appetit „wie ein Scheunentor hat“ 5 („like a navvy“, 14), in ein Altenheim abgeschoben, in der Hoffnung, Steuern zu sparen. Ihr schlechtes Gewissen kann dann auch der Verweis auf die Queen Mother nicht beruhigen: Auch wenn diese Steuerspar-Praxis vom Königshaus, scheinbar der höchsten gesellschaftlichen Instanz Großbritanniens, betrieben wird, so wird sie deshalb nicht weniger moralisch zweifelhaft. Selbst in der ‚besseren Gesellschaft‘ diktiert kapitalistische Effizienz den Familienalltag. Das Interesse der Earnshaws an Mrs Maudsley ist rein finanzieller Natur. Schon die Namensgebung verrät, wie die Loyalitäten liegen: Maudsley gehört nicht zu Earnshaw. Die altersschwache Rollstuhlfahrerin wird längst nicht mehr als Familienmitglied, sondern als Investition angesehen. EARNSHAW. She put the house in our name and come September it will be ours free of tax … SALTER. I am familiar with the arrangement. EARNSHAW. I told you. Everybody does it. Only what I want is reassurance that she’s going to last those three months. SALTER. This is a hospital. We make people … last … as long as possible. And once they’ve dealt with the gallstones she may be out quite soon. (15) Die vorrangige Sorge der Eheleute gilt nicht der an Gallensteinen erkrankten Mutter und Schwiegermutter, sondern der Erbschaftssteuer, die bei dem frühzei‐ tigen Tod von Mrs Maudsley, das heißt vor September, anfallen würde. 6 Während seine Frau noch moralische Skrupel hat, hat Mr Earnshaw keine Hemmungen, mit Verweis auf die scheinbare Allgemeingültigkeit der Steuerspar-Praxis diese Überlegungen laut auszusprechen: „I told you. Everybody does it.“ Für ihn muss Mrs Maudsley noch drei Monate am Leben bleiben, der Rest interessiert den Hausbesitzer wenig. Dass Mrs Maudsleys Los kein Einzelschicksal ist, erfährt das Publikum von Dr. Valentine: „unwaged, unpensioned, disendowed of their homes“ (16), so fasst er das Schicksal der Bewohner_innen zusammen, die alle losgelöst von ihren Besitztümern und ihrem alten Leben haltlos dahintreiben. Ihre Stellung 51 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="52"?> als Individuen haben diese Rentner_innen eingebüßt - ihre Familien betrachten sie als Hindernisse auf dem Weg zum Erbe. Entsprechend ungehalten reagieren die Earnshaws auf den - aus ihrer (steuerlichen) Sicht - viel zu frühen Tod der Rentnerin. VALENTINE. She slept away. Try to think of it as a blessing. EARNSHAW. A blessing to her maybe. Not to us. We’ve lost money. Where’s the blessing in that? (59) Die Verwendung des Wortes „blessing“ ermöglicht einen Vergleich der Perspek‐ tiven zwischen Valentine und den Eheleuten und betont deren jeweilige Prioritä‐ tensetzung: Während ersterer auf das Glück eines friedlichen Entschlafens ohne Schmerzen hinweist, ärgert sich Mr Earnshaw über sein verlorenes Geld („We’ve lost money“), also über die nun anstehende Erbschaftssteuer: „Where’s the bles‐ sing in that? “ Dass sie eigentlich aus dem verlängerten körperlichen Leiden der (Schwieger-)Mutter Kapitel schlagen wollten, ignoriert das Paar. Menschliches Leben wird hier mit finanziellen Verlusten verglichen und verliert in diesem Kontext folgerichtig nicht nur seine Würde, sondern auch sein bedingungsloses Existenzrecht. Mrs Maudsleys Leben, beziehungsweise ihr Tod, lassen sich in die finanzielle Situation ihrer Tochter und ihres Manns übersetzen: Ihr verfrühter Tod kostet Geld. Mr Earnshaws Einspruch, „we want compensation“ (ebd.), ist dieser Logik verhaftet und daher für ihn nur folgerichtig. Nun ist er es, der sich als der Ausgeraubte versteht: „Robbed, that’s what we’ve been. By an eighty-eight-year-old woman. It must be a record.“ (60) Die metaphorische Klammer des Diebstahls, die mit Mrs Maudsley („thieves“) beginnt und mit Mr Earnshaw endet („[r]obbed“), verbindet diesen Handlungsbogen, der von enttäuschten finanziellen Hoffnungen statt familiärer Zuwendung geprägt ist. Offenbar, so suggeriert der Text, hinterlässt die Hoffnung auf finanziellen Wohlstand am Ende nur Verlierer. Generell diagnostiziert das Stück eine Verschiebung der Selbst- und Weltbe‐ ziehungen, um in Rosas Terminologie zu bleiben: Der Mensch wird im Neolibe‐ ralismus neu kontextualisiert. Mit „we’re all customers now“ (21) beschreibt Joe, der Vater des Ministeriumsangestellten Colin und Bewohner der Station, die neuen Gesetzmäßigkeiten. Die einzig verfügbare Rolle des Individuums ist die des Konsumenten. Das Leben verkommt zu einem kapitalistischen Wettrennen um den Zugriff auf Ressourcen und Vorteile. Abermals formuliert Joe diesen Gedanken: „Everything’s a competition these days. Just ask my lad [Colin]. Competition brings out the best in people. That’s what Mrs Thatcher taught us apparently.“ (53) Mit der Betonung auf „apparently“, scheinbar, bringt Joe seine Zweifel gegenüber dieser Lebenseinstellung zum Ausdruck, die - geprägt 52 Annika Gonnermann <?page no="53"?> von Margaret Thatchers neoliberaler Politik - antithetisch seiner jetzigen Situation gegenübersteht. Wettbewerb, so wird schnell klar, hält Joe nicht für die geeignete Art, das Beste aus den Menschen ‚herauszuholen‘ („brings out the best“). Im Gegenteil, gerade der kapitalistische Wettbewerb ist verantwortlich für jene Formen des menschlichen Zusammenlebens, die Rosa als „[s]chädliche Formen der Desynchronisierung“ (104) bezeichnet. Mit dieser Meinung steht Joe alleine und machtlos einem gesellschaftlichen Konsens gegenüber, der vor allem von seinem Sohn repräsentiert wird. Wie weit diese Überzeugungen inzwischen zum Gemeinplatz geworden sind, zeigt die Figur der Schwester Gilchrist. Einer perversen Logik der Effizienz folgend, bringt sie - wie eingangs bereits erwähnt - diejenigen Bewohner um, die ‚zu viel‘ Arbeit machen. Es trifft ausschließlich diejenigen, die nicht mehr ‚einhalten‘ können. Joe hat dies als einziger der Bewohner durchschaut. Entspre‐ chend panisch reagiert er, als ein Praktikant aus Rache für Joes Unhöflichkeiten ihm gegenüber Flüssigkeit in seinen Schoß schüttet und damit Gilchrists Skepsis weckt: JOE. It was him [Andy]. It was him. It wasn’t me. PINKNEY. You’ve only wet your ‘jamas. It’s not a tragedy. JOE. It is for me. PINKNEY. Why? JOE. If it goes down on her list, I’m done for. (68) Zwar attestiert Schwester Pinkney ihrer Kollegin einen „economy drive“ (69), al‐ lerdings übersieht sie deren von Kaltblütigkeit geprägte Effizienz. Hier errichtet das Drama eine ‚discrepant awareness‘ zwischen den Charakteren und dem Publikum. Nur letzteres wird Zeuge, als Gilchrist kurz nach Joes Unfall mitten in der Nacht einen verdächtigen Anruf tätigt: Later. The ward. Night. Gilchrist, alone on stage, makes a phone call. GILCHRIST. Ramesh. Don’t get over-excited. We may have a bed coming up. Tonight or first thing. I’ll be in touch. (69-70) Gilchrists Vorhersage trifft ein - verdächtigerweise tun sie das immer - und Betten werden frei. Doch im Gegensatz zum Publikum wird keine der Figuren im Drama skeptisch. „Have there been unexplained deaths? “ (73) fragt sich zwar Colin, aber alles in allem will das so genau gar niemand wissen. No questions 53 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="54"?> 7 Gilchrist als Figur erinnert an spektakuläre Kriminalfälle der vergangenen Jahre und an Fälle, in denen Angestellte aus dem Gesundheitssektor ihre Patienten ermordeten. So erschien der deutsche Krankenpfleger Nils Hoegel europaweit in den Schlagzeilen, weil er den Tod von mehr als 100 Patienten zu verantworten hatte (vgl. Eddy). Allelujah! greift diese allgemein bekannten Narrative auf und kontextualisiert sie innerhalb der kapitalismuskritischen Tradition. Gilchrist tötet nicht aus Lust am Töten, sondern aus einem Gefühl der Zeitknappheit („we have better things to do than empty bedpants“, 14) und der Überforderung heraus. Das Diktat der Effizienz tut schließlich sein Übriges. asked - mit diesem Motto reagieren die Verantwortlichen auf die willkommenen freien Betten auf der Station. 7 Gilchrist fliegt schließlich auf, als ein Kamera-Team zufällig ihre Machen‐ schaften aufdeckt. In einem an das Publikum adressierten Monolog erklärt sich Gilchrist in dem abschließenden Interview zur Vollstreckerin einer modernen Effizienzlogik: „I was a facilitator, self-appointed, I agree, and in any other profession - and nursing is a profession if it is allowed to be - in any other profession, I would be called a progress-chaser.“ (79) Gilchrist sieht sich als fortschrittliche Prozessbegleiterin, die sich streng an die Vorgaben zur Effekti‐ vitätssteigerung hält. Dass diese mittlerweile nur mit Methoden erreichbar ist, die unvereinbar mit der Vorstellung einer unveräußerlichen Menschenwürde sind, stört Gilchrist nicht weiter. Sie ist in der Tat nur ein „facilitator“, eine Umsetzerin dessen, was gesellschaftlich und diskursiv verhandelt worden ist. Dabei ignoriert Gilchrist im Einzelnen und der gesellschaftliche Diskurs im Ganzen, dass die Selbst- und Weltbeziehungen im Kapitalismus zunehmend erodieren. Die Pflege von kranken und alternden Menschen, so Allelujah! , ist aber kein Beruf wie jeder andere, sondern gerade hier sind Werte gefragt, die nicht finanziell kompensierbar und übersetzbar sind. Gerade in der Figur der Krankenschwester, die sich selbst als „progress-chaser“ beschreibt, manifestiert sich also eine Form des Fortschrittglaubens und der Effizienz, die mit einer westeuropäischen Werteordnung und dem Glauben an die Würde des Menschen unvereinbar ist. Die Ursachen dieses Denkens lokalisiert Allelujah! in der Thatcher-Ära, auf die mehrmals explizit referenziert wird. Vor allem der britische Bergar‐ beiterstreik von 1984/ 1985, bei dem Margaret Thatcher den Gewerkschaften erheblichen Schaden zugefügt hat, wird immer wieder thematisiert. In der Figur des Joe, der früher im Bergbau gearbeitet hat, sammeln sich diese Überlegungen. Naturgemäß ist er nicht besonders gut auf Thatcher zu sprechen: „I was a miner and with the mining I got a bad chest. Black lung. That was before Mrs Thatcher put paid to the mines.“ (6) Obwohl Joe erhebliche gesundheitliche Probleme durch seinen Beruf erlitten hat, („Staublunge“, 34), gilt sein Abscheu nicht den Arbeitsbedingungen per se. Seine Wortwahl, „Mrs Thatcher put paid to the 54 Annika Gonnermann <?page no="55"?> mines“, deutet vielmehr an, dass sich seine Abneigung auf die bis heute als Premierministerin höchst umstrittene Margaret Thatcher richtet: Sie hat den Bergbau „zunichte gemacht“ (47). Mit Thatcher hat die Privatisierungs-Bewe‐ gung im Vereinigten Königreich ein Gesicht gewonnen, das bis heute bei vielen Arbeitern verhasst ist, steht es doch für die rücksichtslose Privatisierung und den Abbau der Gewerkschaften im Zeichen kapitalistischer Profitmaximierung. Allelujah! bezieht sich auf diese Zeit, in der der Grundstein für die jetzigen Missstände gelegt wurde. 3. Jung versus Alt, Schnell versus Langsam Bislang, so scheint es jedenfalls, arbeitet Allelujah! mit einer klar gezogenen Trennung zwischen jenen, die am schnelllebigen Erfolg teilhaben, und den langsamen Verlieren des kapitalistischen Systems, den inzwischen zu Rentnern gewordenen Vertretern der Arbeiterklasse, die jetzt nicht mehr die Mittel haben, beziehungsweise diese noch nie hatten, um sich gegen Privatisierungen und Gewinnstreben durchzusetzen. Dieser Eindruck wird zu Beginn des Stückes klar durch die Art der Fortbewegung suggeriert, die den Figuren zu eigen ist. Die bereits erwähnte Mrs Maudsley kommt im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, einem medizinischen Gefährt, das vor allem mit Begriffen wie Lang‐ samkeit, Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit und Behinderung konnotiert ist. Als Schwester Gilchrist auf der Bühne erscheint, und die Patientin fortschiebt („takes her off “, 3), erweitern Assoziationen wie Hilflosigkeit und Willkür das Bild, das sich das Publikum von den Bewohner_innen und deren Lebenssituation machen kann. Doch nicht nur Mrs Maudsley ist durch ihren Rollstuhl und die damit verbundenen Einschränkungen in ihrer Mobilität gekennzeichnet: Viele Patient_innen werden in Betten liegend über die Bühne geschoben, oder erleichtern sich das Laufen mithilfe von Gehstöcken. Meistens sitzen sie ohnehin auf Krankenhausstühlen (9). In frappierendem Gegensatz zu den Patient_innen steht Colin: Der junge Verwaltungsmitarbeiter „cycles into view, Lycra-clad and on a posh racing bike. Mobile in ear, he talks and rides without holding the handlebars.“ (3) Ausgestattet mit Fahrradtasche, rotfarbenem, eng-anliegendem Trainingsdress, sowie Helm und Sonnenbrille - Trinkflasche inklusive - radelt Colin dynamisch auf die Bühne (vgl. Bridge Theatre). Trotz seiner Aussage, er sei „a hundred and ninety-eight miles“ (3) unterwegs gewesen, wirkt Colins Leistung allerdings nicht besonders beeindruckend. Das grelle, hautenge Sportleroutfit lässt ihn statt sportlich eher lächerlich und aufgesetzt wirken. Mehrere Charaktere kommentieren seine Aufmachung entsprechend und sprechen damit aus, was 55 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="56"?> sich das Publikum bereits denkt: „Got up like that? “ (22) Hier befindet sich Allelujah! irgendwo im „territory between ‚funny‘ and ‚sad‘“ (McKechnie 190) - ein Markenzeichen von Bennetts Stil. Zwar wirkt Colin so, als könne man ihn nicht besonders ernst nehmen; trotzdem hat seine Ankunft für die Bewohner gewichtige Konsequenzen, die ihr Leben gehörig auf den Kopf stellen werden. Der Spott der anderen lässt den Beamten allerdings kalt. Wenn der aus London herbei geradelte Colin also erklärt, „I cycle. I’ve won races“ (26), dann stellt er damit nicht nur seinen sportlichen Erfolg unter Beweis. Vielmehr will er seine Fahrradtrophäen als Karriereschritte verstanden wissen: Er hat die Distanz zwischen London und Leeds, zwischen gut bezahltem Ministeriums-Posten und Sohn eines arbeitslosen Minenarbeiters, erfolgreich überwunden. Seine Fahrradausstattung ist Colin nicht peinlich, sondern vielmehr eine Zierde, die er stolz vor sich herträgt. Mit seinem Rennrad ist er buchstäblich Teil der Beschleunigung. Darüber hinaus verbindet das Fahrrad die beiden jüngsten Charaktere auf der Station: Colin und Andy, der Praktikant, der eigentlich „irgendetwas mit Computern machen will“ (23). Mit den Worten „do you want a go? “ (22) leiht ihm Colin das Fahrrad. Unweigerlich kommt das Gespräch der beiden auf den abgehängten Norden, in dem es für die beiden Jüngeren keine Chancen zu geben scheint. Oder, wie Joe es ausdrückt: „You, you’re going nowhere. One won’t get you far.“ (66, Hervorhebung der Verf.) Erfolg ist scheinbar an Mobilität, Schnelligkeit, und die Überwindung von Distanzen gebunden („won’t get […] far“). Das Fahrrad wird dabei zum Symbol der Wahl. Es steht für all jene erfolgsversprechenden Eigenschaften - allen voran Mobilität, sowohl im physischen, wie auch im übertragenen Sinne -, die von Nöten sind, um den Norden hinter sich zu lassen: Es symbolisiert quasi ein Fluchtmittel, mit dem man es aus eigener Kraft weit bringen kann. London, die Hauptstadt im Süden des Vereinigten Königreiches, ist so ein Ziel, das sich in jedweder Hinsicht (kulturell bedeutender, liberaler, finanziell stärker, politisch mächtiger) vom Norden unterscheidet: ANDY. What’s London like? COLIN. Beats this. ANDY. Clubs and that? COLIN. Clubs. Food. Everything. (27) Der Norden, Andys und Colins Heimat, ist vor allem durch das Negative gekenn‐ zeichnet: Perspektivlosigkeit und eine gewisse konservative Rückschrittlichkeit (zum Beispiel die homophoben Ressentiments) scheinen diesen Teil Großbri‐ tanniens aus der Sicht der beiden jungen Charaktere zu charakterisieren. Der 56 Annika Gonnermann <?page no="57"?> gesamtgesellschaftliche Minderwertigkeitskomplex, unter dem der lange Zeit wirtschaftlich und kulturell abgehängte Norden gelitten hat und nach wie vor leidet, erzeugt einen Fluchtreflex bei der jungen Bevölkerung, das heißt, den Wunsch, in den mondänen, fortschrittlichen Süden zu fliehen. Im direkten Vergleich zur Landeshauptstadt zieht Leeds laut Colin nämlich deutlich den Kürzeren („[b]eats this“). Mit „this“ ist aber nicht zwangsläufig nur die Stadt gemeint, sondern im konkreten Fall auch das geriatric ward und seine alten Bewohner_innen. Diese werden von den jüngeren Charakteren zunehmend als Belastung oder als Hindernis verstanden - auch deshalb sind sie das Opfer systematischer Altersdiskriminierung: Wenn Lucille auf die Frage, wieso sie im Beth sei, antwortet, „[w]ell, because I’m old“ (5), dann beschreibt sie damit eine Lebensform, die die Alten aus der Mitte der Gesellschaft verbannt, weil sie alt sind. Abgeschoben in Altersheime und Krankenhäuser (noch ist das gemütliche Beth eine Ausnahme, aber nicht mehr für lange, denn „cosy is lazy. Cosy means stagnation“, 33) gehören die Alten per definitionem nicht mehr zu einer Gesellschaft, die Wert auf Effizienz und gesteigerte Produktivität legt: JOE. I’m entitled to respect. ANDY. You’re old. You’re entitled to fuck-all. (67) Abermals ist es die Figur des Andy, der mit seinem respektlosen, frustrierten Verhalten die Grenzziehung zwischen Alt und Jung vornimmt. Angewidert von seinem Praktikum misshandelt er die Senioren verbal und physisch und benutzt sie als Ventil seiner Aggressionen, aufgestaut aufgrund seiner eigenen abgehängten Lebenssituation. 4. Die Darstellung des Alters im Stück und das Aufbrechen der Dichotomien Bislang bewegt sich Allelujah! mit seiner vermeintlich dichotomen Struktur ( Jung versus Alt, Schnell versus Langsam) auf vertrauten und konventionellen Pfaden, die dem öffentlichen Diskurs und vor allem der gängigen Darstellung des Alters entsprechen zu scheinen. Guardian-Journalistin Caroline Baum beschreibt diese Bildsprache in ihrem Artikel „The Ugly Truth about Ageism“ (2018): „You see them in most aged-care facilities, seated on pastel-coloured lounges, being babysat by a TV they are mostly not watching. Some are asleep, some are sedated, some are cognitively impaired.“ Ganz so simpel und vorher‐ sehbar will sich das Stück aber nicht verstanden wissen. Anstatt gängige Bilder und Vorurteile gegenüber dem Alter aufzunehmen, eröffnet es stattdessen eine Perspektive, die die Unterschiede zwischen den jungen und alten Charakteren 57 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="58"?> überwindet. Allelujah! erhebt damit seine Stimme in einem altersdiskriminie‐ renden Diskurs, der vor allem von jungen Menschen geführt wird. Das Drama tritt vehement einem Verständnis entgegen, das ältere Menschen diskriminiert und argumentiert daher gegen ageism, das heißt, Diskriminierung aufgrund des Alters. Als literarisches Werk ist es dafür besonders geeignet, da es sich des Mediums der Sprache bedient - laut dem Schriftsteller Ashton Applewhite also genau das Medium, das die Grundlagen für Abgrenzung erst schafft: [I]f we diminish our regard for the senior members of our society verbally, we are likely to do the same when it comes to the way we frame policy - removing their dignity and sense of agency in condescending generalisations that assume vulnerability and dependence instead of resilience and independence. (zit. nach Baum) Indem es sich generalisierende Meinungen verbietet, erinnert das Stück vor allem Jüngere daran, dass Senioren_innen nicht als alte Menschen auf die Welt gekommen sind. Wie Baum es formuliert: „[S]eeing them like this, it’s hard to remember they were once young, vital and independent. What’s harder is thinking that it might one day be you.“ Ältere Menschen, so macht das Drama klar, sind den Jungen nur zeitlich etwas voraus: one day, it might be you, wie Baum betont. Allelujah! arbeitet ebenfalls viel mit Musik, um die Unterschiede zwischen Jung und Alt zu nivellieren. Ungefähr ein halbes Dutzend Schlager und Rock’n’Roll ‚Oldies‘ der 1950er und 60er Jahre wie Frank Sinatras „Love and Marriage“ oder Little Richards „Good Golly, Miss Molly“ durchbrechen den eintönigen Krankenhausalltag. Immer dann erwachen die Bewohner_innen aus ihrer Stasis und fangen an - gleichsam in ihre Jugend zurückversetzt - zu tanzen, Spaß zu haben, und das Leben zu genießen: „[T]he music transforms, the hospital dissolves, and the old people rise from their chairs“. Die Transformation der Alten, „as if young again“, reichert die Darstellung der Senioren um eine weitere, bislang wenig gezeigte und wenig diskursiv verhandelte Dimension des Alterns an: MUSIC: ‚You Made Me Love You‘. The old people sing from song sheets. A few seconds into the number, the music transforms, the hospital dissolves, and the old people rise from their chairs, throw their sticks away, and dance as if young again. By the end of the number, they are old again, in their chairs. (9) Allelujah! unterstreicht die Komplexität des Alters, das nicht auf seine nega‐ tiven Aspekte reduziert werden darf. Stattdessen betont das Stück, wie ‚jung‘ Rentner_innen sein können, wenn sie nicht als Last oder Beeinträchtigung wahrgenommen werden. Dabei geben die schnellen Rock’n’Roll-Lieder den 58 Annika Gonnermann <?page no="59"?> Rentner_innen nicht nur ihre Jugend, sondern auch ihre Beweglichkeit und damit Gesundheit wieder. Tanzend bewegen sie sich „als ob sie noch jung wären“ (58): MUSIC: ‚Good Golly, Miss Molly‘ (Little Richard). The old people - in a memory of their younger selves - perform a full-out song and dance. (58) Allelujah! ändert die Rezeption des Alterungsprozesses: Durch die Lieder glei‐ chermaßen aus ihrer Lethargie und buchstäblich aus ihren Rollstühlen gerissen, problematisieren die tanzenden Senioren die vorher geschaffene Dichotomie. Auch sie waren einmal jung, beziehungsweise sind es immer noch, wenn man ihnen das menschenwürdige Leben erlaubt, das Zeit lässt für „song and dance“. Indem das Drama immer wieder aufzeigt, wie viel Lebensmut die Senior_innen trotz des kargen Krankenhausalltags beim Singen und Tanzen in sich tragen, plä‐ diert es für eine Rekontextualisierung des Alters, das vorher vom Effizienz- und Schnelligkeitsdiktat des Neoliberalismus negativ konnotiert wurde. Allelujah! zeigt, dass Alter und verminderte Lebensqualität nicht zusammengehören, wohl aber Kapitalismus und verminderte Lebensqualität. Diese Technik durchzieht das gesamte Stück: Gleich zu Beginn des zweiten Aktes erinnert Allelujah! das Publikum daran, dass Altern ein universeller Prozess ist, indem es die Bewohner in ihre Jugendtage zurückversetzt. Die Sing- und Tanzeinlagen „allow this doddery gaggle to evoke remembered happiness and the inner spirit that remains unquelled by infirmity, even if some of them are still tethered to their drip stands“ (Taylor). Musik eröffnet also die Möglichkeit zu Empathie und lädt jüngere Charaktere wie Publikum gleichermaßen dazu ein, die Patienten nicht als lästige Pflicht anzusehen, sondern als Menschen mit Ver‐ gangenheit, Erinnerungen und vor allem Würde. Musik, so die vielleicht etwas kitschige Zusammenfassung, überwindet Altersgrenzen und Diskriminierung. Sogar Gilchrist, die normalerweise strengstens dagegen ist, den Aufenthalt der Bewohner_innen durch Freizeitangebote wie Chöre zu verschönern, kann sich dem nicht entziehen: Gilchrist plugs her iPhone into some speakers. It plays dance music as she levers Joe out of his chair. MUSIC: ‚Love and Marriage‘. [Joe] dances with her in a beautiful olde-tyme dancing way. As they dance - COLIN. He can’t walk but he can dance still. GILCHRIST. It happens. (27) 59 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="60"?> Die Kombination aus Sinatras Hit von 1954 und der Technologie aus dem 21. Jahrhundert, Gilchrists iPhone, symbolisiert eine Symbiose aus Alt und Jung, Langsam und Schnell: Mp3-Format und Schallplatte existieren genauso nebeneinander wie Rentner_innen und junge Erwachsene. Losgelöst von der Beschleunigung der Moderne schaffen es die beiden Seiten recht schnell und un‐ kompliziert, sich einander anzunähern (im wortwörtlichen Sinne beim Tanzen) und Verständnis füreinander zu erlangen. Allelujah! geht noch einen Schritt weiter in der Negierung der Unterschiede zwischen den beiden Personengruppen. Der Arzt Valentine adressiert in seinem letzten Monolog das Publikum und kommentiert die biologischen Gemeinsam‐ keiten von Jung und Alt: Through observing and even participating in colorectal surgery, I was struck by something extraordinary, namely that the flesh of the bowel of mature and even aged patients was no different from that of the flesh of a child or a young person. Unique among every department of the body, the bowel does not seem to age. So these ancient and faltering persons, carry within their venerable bodies a remnant of their infant selves, part of them still young and ageless. (86) Allelujah! betont damit abermals die Gleichheit von Jung und Alt. Ähnlich wie die Musik, fungiert der Darm hier als ein Symbol der Jugendlichkeit: „[T]he bowel does not seem to age“. Valentine buchstabiert die Implikationen für seine Zuhörer noch einmal explizit aus, wenn er sagt, „these ancient and faltering persons, carry within their venerable bodies a remnant of their infant selves“. Das Wort „remnant“, Relikt oder Überbleibsel, ist in diesem Kontext von besonderer Bedeutung: Alte Menschen sind nicht einfach nur alt; der Körper mag „ancient“ und „faltering“ sein, aber ihr Innerstes - konkret der Darm - ist „still young and ageless“ und entzieht sich damit den Klassifikationsmustern, welche gesellschaftlich angewendet werden, um Menschen zu kategorisieren. Darüber hinaus besteht das Drama nicht nur darauf, die Senior_innen als gleichwertige, das heißt, im Innersten - um bei der Darm-Symbolik zu bleiben - junge Charaktere zu lesen. Vielmehr zeigt es an einer Stelle dezidiert auf, dass der Kapitalismus und sein Effizienz-Diktat gemeinsame und universelle Probleme schaffen, die alle Charaktere unabhängig von Alter, Erfolg, Herkunft und Geschlecht gleichermaßen betreffen. Valentine, beispielsweise, hat mit dem Migrationsamt zu kämpfen, das ihn lediglich als Arbeitskraft sieht, aber ansonsten baldmöglich wieder abschieben möchte: „I see you had a student visa but stayed on. Well, at least you didn’t come in with a truckload of oranges. So, what makes you think you would be an asset to this country? “ (80) Und auch Schwester Pinkney erfährt, was es heißt, nicht mehr gebraucht zu werden: 60 Annika Gonnermann <?page no="61"?> „Nurse Pinkney was right when she said Tadcaster was going to be heaven. Only she never got to be an angel there, a casualty of the downsizing that privatisa‐ tion inevitably involves.“ (84) Vom Effizienzgedanken wegrationalisiert, spürt Schwester Pinkney, eigentlich eine Figur, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit zu den Gewinnern gehören müsste, am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, zum Opfer von Beschleunigung und Rationalisierung zu werden. Sie wird im neuen Krankenhaus nicht mehr gebraucht. Der freie Markt, so das Stück, ist also nicht in eine Gewinner- und Verliererseite eingeteilt, die sich auf der einen Seite durch dynamische, wettbewerbsorientierte, junge Arbeitnehmer_innen und auf der anderen Seite durch langsame, sozialistisch-geprägte, arbeitslose Rentner_innen auszeichnet; vielmehr, so betont Allelujah! , produziert die kapi‐ talistische Beschleunigung der Arbeitsprozesse Verlierer auf allen Seiten. 5. Gegen das Primat der Zeit: Die Betonung des (Theater-)Raumes In seinen Überlegungen vertritt Hartmut Rosa die Überzeugung, dass der Raum als solcher innerhalb des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung verliert, denn die Zeit und nicht der Ort, bestimmt Gewinn und Umsatz - etwa beispielsweise bei der Entwicklung neuer Güter, beim Kauf von Aktien oder bei der Lieferung von Produkten: [D]er Raum [verliert] für die meisten sozialen Handlungen und Interaktionen seine vorrangige Bedeutung. Dies wird durch die Tatsache eher bestätigt als widerlegt, dass gerade aufgrund dieser lokalen und räumlichen ‚materiellen‘ Bedeutungslosigkeit den sekundären Qualitäten des Raums mehr Bedeutung zukommt. Da es zum Beispiel nicht länger ökonomisch ins Gewicht fällt, wo ein Call Center eröffnet wird, kann man es genauso gut in einer ökologisch attraktiven Umwelt ansiedeln. (Rosa 61) Dieser kapitalistischen Akzentuierung der Zeitachse setzt Allelujah! eine Neu-Gewichtung des Raumes gegenüber: Theater als sozialer Treffpunkt von Publikum und Schauspieler_innen ist explizit im Raum verhaftet. Anders als Romane, Lyrik, Filme und Fernsehserien zeichnet sich das Drama vor allem durch seine Raumhaftigkeit aus, die laut Erika Fischer-Lichte erst durch die Aufführung performativ entsteht: Räumlichkeit „existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung, sondern wird - ebenso wie Körperlichkeit und Lautlichkeit - immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht“ (187). In ihrer Ästhetik des Performativen (2004) betont Fischer-Lichte das ‚Ereignis‘ des Theaters als solches: Es gibt kein ‚Spiel‘ auf der Bühne, das so tut, als fände es in Abwesenheit eines Publi‐ kums statt, sondern eine produktive ‚Feedback-Schleife‘ zwischen der Performanz der 61 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="62"?> 8 Vgl. den Aufsatz „René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene“ von Olga Vrublevskaya in diesem Band. Akteure und den unmittelbaren Reaktionen ihrer Zuschauer. Zeit fügt sich nicht zum Bogen einer ‚Erzählung‘, sondern stiftet Form durch ‚Rhythmus‘ und ‚Time Brackets‘. („Sanfte Wende“) Ohne die Form des Raums festlegen zu wollen (Art der Bühne, Verhältnis Zuschauer-Schauspieler, Bewegungsradius der Darsteller, et cetera) besteht Fischer-Lichte auf dem zentralen Aspekt des Raums für ihren Begriff des Performativen: Es bedarf eines Raumes, um Aufführungen überhaupt erst stattfinden zu lassen. Aus dem „geometrischen Raum“, dem Theaterhaus, der Bühne, den Sitzreihen des Publikums, entsteht der „performative Raum“, der die Wahrnehmung des Publikums steuert (vgl. 187). Alan Bennetts Allelujah! scheint sich der Wirkung des Theaters als Plattform für Gesellschaftsanalyse und -kritik bewusst, denn zu Ende des Stückes eröffnet das Drama eine Meta-Ebene, die genau diese Dimension verhandelt. Nachdem der ursprünglich ach-so leidenschaftlich für das Krankenhaus kämpfende Salter zugibt, nach der Schließung des Instituts die Gebäude für seine eigene Immobi‐ lienfirma abzugreifen, tritt Colin ein letztes Mal auf und eröffnet dem Publikum, was mit den Figuren passiert, nachdem der Vorhang gefallen ist: Salter notwithstanding, the sale represents a healthy capital gain for NHS funding, the hospital having reinvented itself as a boutique hotel, with, in a graceful acknowled‐ gement of its previous existence, the principal suites named after Florence Nightingale and Edith Cavell. For the moment, its best-known nurse remains uncommemorated, though a play about her is threatened at the local theatre. (85) Mit der Ankündigung, das lokale Theater werde Gilchrists Biographie auf die Bühne bringen, weißt Allelujah! nicht nur über seine eigenen textuellen Grenzen hinaus, zurück in die extratextuelle Wirklichkeit der Zuschauer, sondern betont noch einmal die Stellung des Theaters im gesellschaftlichen Diskurs: Es schafft Räume zur Diskussion gesamtgesellschaftlicher Fragen wie die Zukunft des NHS und zur Aufarbeitung von Konflikten wie die Bewahrung der Menschenwürde in Zeiten konstanter kapitalistischer Beschleunigung und neoliberaler Profitma‐ ximierung. 8 Dabei ist seine Raumhaftigkeit von besonderer Bedeutung. Allein die Tatsache, dass Aufführungen im Raum verhaftet sind, und nicht beliebig oft reproduzierbar, positioniert das Theater als kapitalismuskritische Instanz, die sich dem Effizienzdiktat widersetzt. Allelujah! stößt also nicht nur inhaltliche Denkprozesse an, sondern verweigert sich als Kunstform den Logiken, die es selbst kritisiert. 62 Annika Gonnermann <?page no="63"?> 6. Bennett: Ein unpolitischer Autor? In seinem Aufsatz „Alan Bennett: Political Playwright“ (1996) beschreibt Richard Scarr das Paradoxon, das Alan Bennett als Schriftsteller umgibt: Bennett is not usually thought of as a political writer. His work is seldom compared with that of pronounced left-wing dramatists such as Wesker, Edgar, of Griffiths. More often he is cited alongside such apolitical and conservative (or in some instances, Conservative) contemporaries as Alan Ayckbourn, Michael Frayn and Simon Gray - that is, polite, educated, middle-class writers producing ‚nice‘, well-made, intelligent theatre. Yet Bennett belongs to neither of these groups. Instead he walks a middle ground making poignant political statements in a way which is often so covert that audiences are unaware of the full resonances and ramifications of his work until after they have left the theatre. (309) Mit Allelujah! legt Bennett ein solches Stück vor, das, zugegebenermaßen, einen unterhaltsamen Theaterabend verspricht, zugleich aber als „State of the Nation“-Play tief in die Seele Großbritanniens schaut (vgl. Billington): Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd, Ageism und Migrationspolitik vermischen sich mit der ethischen Kritik am Kapitalismus zu einem schlichten Gesamtwerk, das trotz oder gerade wegen seiner Alltäglichkeit den Finger in die Wunde legt und aufzeigt, wie der freie Markt die Selbst- und Weltbeziehungen des Einzelnen so fundamental stört, dass selbst Eingriffe in die Würde des Men‐ schen durch das Effizienzdiktat möglich werden. Das „hospital a[s] microcosm of modern society“ (Billington) steht für das große Ganze der Gesellschaft. Zwar verliert Bennett dabei niemals seinen charakteristischen Humor in Alle‐ lujah! , allerdings ist sein jüngstes Stück auch eines seiner unversöhnlichsten: Allelujah! , so der Theaterkritiker Ben Brantley, „is the most openly angry play of this master satirist’s career“. Mit seinem kapitalismuskritischen Inhalt dürfte es auch eines der relevantesten sein. 63 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="64"?> Bibliographie Primärliteratur: Bennett, Alan. Allelujah! Faber & Faber, 2018. Sekundärliteratur: Baum, Caroline. „The Ugly Truth about Ageism: It’s a Prejudice Targeting our Future Selves.“ The Guardian, 4 Sep. 2018, www.theguardian.com/ lifeandstyle/ 2018/ sep/ 14/ the-ugly-truth-about-ageism-its-a-prejudice-targeting-our-future-selves. Aufgerufen 14 Mai 2019. Billington, Michael. „Allelujah! Review - Alan Bennett’s Hospital Drama is full of Quiet Anger.“ The Guardian, 18 Juli 2018, www.theguardian.com/ stage/ 2018/ jul/ 18/ alleluja h-review-alan-bennett-bridge-theatre. Aufgerufen 26 Juni 2019. Brantley, Ben. „Review: Song Trumps Senility in the Angry ‚Allelujah! ‘.“ The New York Times, 18 Juli 2018, www.nytimes.com/ 2018/ 07/ 18/ theater/ allelujah-alan-bennett-bra ntley-in-britain.html. Aufgerufen 26 Juni 2019. Bridge Theater. „Allelujah! | Official Trailer.“ YouTube, hochgeladen von Bridge Theatre, 10 Aug. 2018, www.youtube.com/ watch? v=KcFGSvwFkG0. Aufgerufen 1 Feb. 2020. Cavendish, Dominic. „Allelujah Review, Bridge Theatre: Alan Bennett’s Hospital Drama is just what the Doctor Ordered.“ The Telegraph, 18 Juli 2018, www.telegraph.co.uk / theatre/ what-to-see/ allelujah-review-bridge-theatre-alan-bennetts-hospital-drama/ . Aufgerufen 26 Juni 2019. Dowd, Siobhan. „Alan Bennett.“ Encyclopædia Britannica, 5 Mai 2019, www.britannica.c om/ biography/ Alan-Bennett. Aufgerufen 8 Aug. 2019. Eddy, Melissa. „German Nurse Convicted of Killing 85 Patients.“ The New York Times, 6 Juni 2019, www.nytimes.com/ 2019/ 06/ 06/ world/ europe/ germany-nurse-killed-pati ents.html. Aufgerufen 26 Aug. 2019. „Sanfte Wende.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22 Jan. 2005, www.faz.net/ aktuell/ feuille ton/ buecher/ rezensionen/ sachbuch/ sanfte-wende-1215027.html. Aufgerufen 24 Aug. 2019. Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Suhrkamp, 2017. Jaeggi, Rahel. „Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? Drei Wege der Kapitalismuskritik.“ Nach Marx: Philosophie, Kritik, Praxis, herausgegeben von Rahel Jaeggi und Daniel Loick, Suhrkamp, 2013. S. 321-49. Huber, Werner und Barbara Schaff. „The Madness of King George III.“ Kindlers Literatur‐ lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, www.kll-aktuell.cedion.de/ nxt/ gat eway.dll/ kll/ b/ k0067800.xml/ k0067800_010.xml? f=templates$fn=index.htm$vid=defa ult$3.0. Aufgerufen 8 Aug. 2019. McKechnie, Kara. Alan Bennett. Manchester UP, 2007. 64 Annika Gonnermann <?page no="65"?> O’Mealy, Joseph H. Alan Bennett: A Critical Introduction. Routledge, 2001. Rosa, Hartmut. Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spät‐ moderner Zeitlichkeit. Suhrkamp, 2013. Scarr, Richard. „Alan Bennett: Political Playwright.“ New Theatre Quarterly, 12.48 (1996). S. 309-22. Taylor, Paul. „Allelujah! Bridge Theatre, London, Review: Alan Bennett’s New NHS Play Is a Surprisingly High-Spirited Occasion.“ The Independent, 19 Juli 2018, www.ind ependent.co.uk/ arts-entertainment/ theatre-dance/ reviews/ allelujah-review-alan-ben nett-bridge-theatre-nhs-nicholas-hytner-a8454376.html. Aufgerufen 26 Juni 2019. Trueman, Matt. „London Theater Review: ‚Allelujah! ‘ by Alan Bennett.“ Variety, 19 Juli 2018, www.variety.com/ 2018/ legit/ reviews/ allelujah-review-alan-bennett-120287842 4/ . Aufgerufen 26 Juni 2019. 65 Kapitalismus und Beschleunigung in Bennetts Allelujah! (2018) <?page no="67"?> 1 Während 1975 noch 380.000 Menschen in den USA in Haft waren, war ihre Zahl 2000 auf 1.966.000 angestiegen (vgl. Schiraldi/ Ziedenberg). 2016 saßen 2.162.400 Erwachsene in Haft (vgl. Kaeble/ Cowhig 2). 2 Angesichts der Privatisierungswelle, die die USA seit Beginn der 1980er Jahre erfasst hat, ist es geradezu erstaunlich, dass das Gefängniswesen nur zu einem sehr geringen Teil privatisiert worden ist: Auf dem Höhepunkt des privaten Betriebs von Gefäng‐ nissen im Jahre 2010 waren ‚nur‘ sechs Prozent der US-Gefängnisse in privater Hand (vgl. Wacquant, „Prisoner Reentry“ 610). Das in aktivistischen wie wissenschaftlichen Die Kriminalisierung der Armen: Zum Zusammenhang von Gefängnisexpansion und neoliberaler Vernachlässigung in den USA aus Sicht der Quality-TV-Serie The Wire (2002-2008) Katharina Motyl 1. Gefängnisexpansion im neoliberalen Zeitalter: Eine Paradoxie? Im Jahr 2018 lebten etwa 4,4 Prozent der Weltbevölkerung in den USA, es befanden sich aber 19,7 Prozent der weltweit Gefangenen hinter US-amerika‐ nischen Gittern (vgl. Walmsley 6, 17). Der aus diesen Zahlen abzulesende bevorzugte Rückgriff des amerikanischen Staats auf Haftstrafen ist dabei keine historische Konstante: Die Zahl der Gefangenen in den USA ist zwischen 1975 und 2000 um ein Fünffaches gestiegen. 1 Diese so genannte Gefängnisex‐ pansion hat nicht alle demografischen Gruppen in vergleichbarem Ausmaß getroffen: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stammen amerikanische Gefangene überdurchschnittlich häufig aus armen Verhältnissen und aus communities of color. Bemerkenswerterweise wurde die Gefängnisexpansion von denselben präsidentiellen Administrationen vorangetrieben, die sich dem neoliberalen Prinzip des small government (also geringen staatlichen Ausgaben und geringer staatlicher Intervention im Markt) verschrieben hatten - den Administrationen Ronald Reagans (1981-1989) und Bill Clintons (1993-2001). Auf den ersten Blick stellt die Gefängnisexpansion im neoliberalen Zeitalter also eine Paradoxie dar, da sie mit enormen Kosten für die öffentliche Hand einherging 2 und somit den <?page no="68"?> Kreisen recht verbreitete Konzept des „prison-industrial complex“ (vgl. Davis; Gilmore), das suggeriert, die Gefängnisexpansion sei auf die Profitmaxime zurückzuführen, ist also kritisch zu hinterfragen. entgegengesetzten Effekt hatte, den Reagan und Clinton (zumindest rhetorisch) mit dem Abbau des Sozialstaats zu erzielen suchten. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werde ich, nach einer kurzen Skizzierung der Neoliberalisierung der amerikanischen sozioökonomischen Ordnung sowie des strafjustiziellen Hintergrunds der Gefängnisexpansion, argumentieren, dass es sich nicht um eine Paradoxie handelt. Unter Berufung auf den französischen Soziologen Loïc Wacquant werde ich zeigen, dass die law-and-order-Politik auf dem Feld der Strafjustiz in einem funktionalen Verhältnis zur Neoliberalisierung steht: Reagan und Clinton griffen auf das Strafjustizsystem zurück, um die soziale Unordnung zu managen, die ihre neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik erzeugt hatte; diese drakonische Kriminalitätspolitik führte zu einer Kriminali‐ sierung der Armen, wobei die schwarzen Bewohner_innen der Innenstädte in besonderem Maße betroffen waren und sind. Sodann werde ich mich im zweiten Teil der von David Simon geschaffenen Quality-TV-Serie The Wire (2002-2008) zuwenden. Nominell eine im Baltimore der Jahrtausendwende spielende Krimiserie, ist The Wire jedoch mehr an einer Auseinandersetzung mit den Lebens- und Machtverhältnissen in der neolibe‐ ralen amerikanischen Großstadt interessiert. Ich werde analysieren, welche Kritik die für den Pay-TV-Sender HBO produzierte Serie in den Staffeln eins bis drei an der Neoliberalisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie an der „punitiven Revolution“ in der Strafverfolgung übt, und aufzeigen, welchen Zusammenhang die Serie zwischen beidem suggeriert. Aus Sicht von The Wire, so mein Argument, hat die postfordistisch-neoliberale Wende Drogenhandel und andere kriminelle Tätigkeiten in der amerikanischen Großstadt genährt, während der War on Drugs die sozialen Bedingungen, die er eigentlich ein‐ dämmen soll, reproduziert. 2. Die Parallelität von Neoliberalisierung und punitive turn im Strafjustizsystem Die folgenden Worte, die der republikanische Präsident Ronald Reagan in seiner Amtsantrittsrede äußerte, dürfen als paradigmatisch für seine Sozial- und Wirtschaftspolitik gelten: „In this present crisis, government is not the solution to our problem; government is the problem“ („First Inaugural Address of Ronald Reagan“). Unter Reagan entwickelten sich die USA, gemeinsam mit dem von Margaret Thatcher regierten Vereinigten Königreich diesseits des Atlantiks, 68 Katharina Motyl <?page no="69"?> 3 Mit diesem Begriff fasse ich ein politisches Projekt, das sich aus den Thesen der neoklassischen Wirtschaftstheorie speist, und dessen Grundannahme besagt, eine möglichst geringe staatliche Einmischung in den Markt führe zu größtmöglichem gesellschaftlichen Wohlstand (vgl. Harvey 5-38). 4 Clintons Sozialhilfereform versieht Menschen, die wegen eines Drogendelikts in Haft waren, mit einem lebenslangen Verbot, Essensmarken und Sozialhilfe zu beziehen. Es liegt auf der Hand, dass Ex-Häftlinge, besonders jene mit Drogendelikten im Strafregister, unter den geschilderten Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut kriminell werden, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. zur globalen Avantgarde des Neoliberalismus. 3 Dem Prinzip der trickle-down economics folgend, senkte Reagan Steuern für Unternehmen und Wohlhabende, baute staatliche Regulierungen des Wirtschaftssektors und des Arbeitsmarkts ab und nahm drastische Kürzungen staatlicher Ausgaben in der Wohlfahrtspflege vor. Der von Reagan initiierte Abbau des Sozialstaats wurde ein paar Jahre später vom demokratischen Präsident Bill Clinton ‚vollendet‘, der im Wahlkampf versprach, „to end welfare as we know it“ („The Welfare Bill“). Mit der 1996 verabschiedeten Reform sozialer Hilfen setzte er dieses Versprechen schließlich in die Tat um (vgl. Wacquant, Prisons 56-7). Die durch Reagan und Clinton ohnehin abgemagerten Sozialleistungen können von Menschen, die eine felony (Haftstrafe von mindestens einem Jahr) verbüßt haben, übrigens zumeist nicht beansprucht werden. 4 Die Wirtschaftsordnung der neoliberalen Ära in den USA weist jedoch auch einige Merkmale auf, die nicht nur durch neoliberale Wirtschaftspolitik (etwa durch Abbau von Zöllen) herbeigeführt wurden - wir sprechen hier am besten von einer Gleichzeitigkeit des Neoliberalismus und des Postfordismus. Letzterer bezeichnet eine wirtschaftliche Entwicklung (vornehmlich in westlichen Län‐ dern), durch die sich der Produktionsschwerpunkt von der Massenherstellung standardisierter Produkte (Fordismus) in den Dienstleistungssektor verschoben hat. Gleichzeitig ist die industrielle Produktion von Gütern überwiegend in Niedriglohnländer verlagert worden (offshoring). Dies hat zur Folge, dass nur noch ein geringer Bedarf an niedrigqualifizierten Arbeitskräften besteht. Letz‐ tere sind also größtenteils von Arbeitslosigkeit bedroht (vgl. Schimank), können angesichts neoliberaler Sozialpolitik aber nur noch sehr begrenzt staatliche Hilfen in Anspruch nehmen. Communities of color sind von diesem Dilemma besonders betroffen: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Arbeitslosenquote in den USA bei acht Prozent, in den Zentren der Großstädte, in denen vornehm‐ lich Schwarze und Latin@s leben, jedoch bei 30 bis 50 Prozent (vgl. Wacquant, Prisons 57). Parallel zur geschilderten drastischen Beschneidung des Sozialstaats kam es zu einer (durch Steuergelder finanzierten) Kostenexplosion im Bereich des 69 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="70"?> 5 Wacquant hat belegt, dass US-Gefangene um die Jahrtausendwende vornehmlich aus der armen sozialen Schicht stammten. Weniger als die Hälfte hatte zum Zeitpunkt der Verhaftung einen Vollzeitjob; zwei Drittel kamen aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen, das nicht einmal die Hälfte der Armutsgrenze betrug (vgl. Wacquant, „Rassenstigma“ 106). 6 Die Zahl der Gefangenen, die wegen eines (gewaltfreien) Drogendelikts eine Haftstrafe verbüßen, hat sich von knapp 41.000 im Jahr 1980 auf knapp 453.000 im Jahr 2017 erhöht (vgl. „Trends in U.S. Corrections“ 3). [Diese Zahlen beziehen sich auf Gefangene, deren schwerwiegendstes Vergehen ein Drogendelikt war]. 7 Vgl. Alexander für eine Analyse des War on Drugs in Buchlänge und Motyl für einen Aufsatz in deutscher Sprache. Strafvollzugs. 1980 betrug das zusammengefasste Budget des Bundes und der Bundesstaaten für den Strafvollzug sieben Milliarden Dollar; 2000 war es auf 57 Milliarden Dollar angestiegen (vgl. Wacquant, „Class“ 76). Wie bereits ange‐ deutet, hat die kostspielige Gefängnisexpansion nicht alle gesellschaftlichen Gruppen in gleichem Maße betroffen. So hat sich die Anzahl inhaftierter afroamerikanischer Männer von 143.000 im Jahr 1980 auf 791.600 im Jahr 2000 erhöht (vgl. Butterfield). Obwohl Schwarze im Jahr 2010 nur 12,6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten (vgl. Humes et al. 4), betrug ihr Anteil an der Gefangenenpopulation im Jahr 2009 39,4 Prozent (vgl. West). Wie konnte es zu dieser dezidiert überproportionalen Repräsentation von Afroamerikaner_innen in Gefängnissen kommen? Das Strafjustizsystem hat nicht ‚farbenblind‘ gehandelt, sondern zunehmend Schwarze aus der Unter‐ schicht diskriminiert, wie auch die unteren sozialen Klassen im Allgemeinen. 5 Der Gefängnisstaat greift also bevorzugt auf jene zu, die vom Neoliberalismus abgehängt wurden. Die strafende Wende brachte unter anderem eine Politik der Nulltoleranz gegenüber (gewaltfreien) Störungen der öffentlichen Ordnung mit sich. Im Zuge dessen implementierte der republikanische Präsident Richard Nixon 1972 den War on Drugs, der den Hauptgrund für den überproportionalen Zugriff des Gefängnisses auf Schwarze aus der Unterschicht und einen gewichtigen Motor für die Gefängnisexpansion insgesamt darstellt (vgl. Alexander; Wacquant, „Deadly Symbiosis“). 6 Die Kriminologin Michelle Alexander schreibt: „Nothing has contributed more to the systematic mass incarceration of people of color in the United States than the War on Drugs“ (60). Die strafjustiziellen Reformen, die im Rahmen des War on Drugs erlassen wurden, kann ich an dieser Stelle lediglich in groben Zügen umreißen. 7 So findet seit der Präsidentschaft Nixons eine polizeiliche Hyperüberwa‐ chung der Innenstädte statt, in denen überwiegend die afroamerikanische 70 Katharina Motyl <?page no="71"?> 8 Hintergrund dieser Entwicklung ist der Wegzug Weißer aus den Städten in die Vororte (white flight) nach 1945 als Reaktion auf die afroamerikanische great migration in den Norden und die anschließende Abwanderung wirtschaftlich besser gestellter Schwarzer aus den Innenstädten in die vormals von Weißen bewohnten städtischen Gegenden. 9 Der bemerkenswerte Anstieg der Gefangenenzahl ist aber nicht ausschließlich auf die drakonische Ahndung von Drogendelikten zurückzuführen. Die strafende Wende beinhaltete außerdem eine strengere Bestrafung von Schwerverbrechen und schaffte die Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung nahezu ab (vgl. Gottschalk xvii; vgl. Thompson 710). Unterschicht lebt. 8 Die Bundesregierung versprach jenen Polizeibehörden groß‐ zügige finanzielle Unterstützung, die gewillt waren, dem ‚Krieg gegen die Drogen‘ höchste Priorität einzuräumen (vgl. Alexander 73-8). Hinzu kam die Legalisierung der so genannten stop-and-frisk-Praktik durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Terry v. Ohio (1968): Polizist_innen dürfen jemanden anhalten und durchsuchen, von dem sie aus plausiblem Grund („reasonably“) annehmen, er sei gefährlich und gehe einer kriminellen Tat nach (vgl. ebd. 63). Wie die zuletzt gehäuft bekannt gewordenen Fälle tödlicher Polizeigewalt gegen unbewaffnete Afroamerikaner_innen unterstreichen, lesen einige Poli‐ zeibeamte Schwarze a priori als gefährlich und kriminell. Nach Nixon erkannten dann weitere Politiker_innen beider Parteien, dass sich mit law-and-order-Positionen Wahlkämpfe gewinnen ließen. Um die Jahr‐ tausendwende hatten 24 Bundesstaaten three strikes-Gesetze erlassen, die so genannte „Gewohnheitstäter“ bei der dritten Verurteilung für den Rest ihres Lebens hinter Gitter bringen; 1980 hatte es in keinem Bundesstaat ein solches Gesetz gegeben (vgl. Thompson 710). Auf Bundesebene legte der US-Kongress drakonische Strafen für Drogenhandel, aber auch -besitz fest. So implementierte der Anti-Drug Abuse Act (1986) verbindliche Mindeststrafen für eine Vielzahl an Drogendelikten. Wenn beispielsweise ein Dealer vor einem Bundesgericht stand, dem der Besitz von einem Kilogramm Heroin nachgewiesen wurde, war die Richterin gezwungen, ihn zu mindestens zehn Jahren Haft zu verurteilen. Der War on Drugs beinhaltete außerdem Gesetze, die implizit rassistisch waren: So verhängte der Anti-Drug Abuse Act ein Mindeststrafmaß von fünf Jahren Haft ohne vorzeitige Haftentlassung für den Besitz von fünf Gramm Crack (das heißt, Kokain in Kristallform, das geraucht wird und als ‚Ghetto-Droge‘ gilt), während erst der Besitz von 500 Gramm Kokain in Puderform, das als Droge wohlhabender Weißer gilt, zum gleichen Strafmaß führte. Die Disparität im Strafmaß war also eins zu 100. 9 71 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="72"?> 10 Vgl. Wacquant, Prisons 79-83 für eine Analyse der Auswirkungen einer strengen Strafjustiz auf den Arbeitsmarkt. 3. Die Gefängnisexpansion als neoliberales Management sozialer Unsicherheit Die soeben geschilderte Gefängnisexpansion auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers stellt nur auf den ersten Blick einen Widerspruch zur neoliberalen Sparpolitik im sozialen Bereich dar; vielmehr suchten die Regierungen Reagan und Clinton Sicherheit im Bereich der Strafjustiz zu schaffen, um von der sozialen Unsicherheit abzulenken, die ihre neoliberale Wirtschafts- und Sozial‐ politik hervorgerufen hatte. Wacquant schreibt, „an expansive and expensive penal system is not just a consequence of neoliberalism […] but an integral component of the neoliberal state itself “ (Prisons 175, Hervorhebung im Orig.). Reagan, Clinton und andere neoliberale Kräfte griffen auf die Polizei, die Gerichte und das Gefängnis zurück, um die soziale Unordnung in den Griff zu bekommen, die sie selbst durch neoliberale Politik geschaffen hatten. 10 In Bezug auf die Gefängnisexpansion in den USA trifft Gilles Deleuzes ein‐ flussreiche These über die Machtmechanismen in neoliberalen Gesellschaften also nicht zu. Deleuzes Argument, neoliberale „Kontrollgesellschaften“ (vgl. 3) seien nach der Logik des marktwirtschaftlichen „Unternehmens“ organisiert (vgl. 5) und beinhalteten einen größtmöglichen freien Fluss von Gütern und Menschen bei gleichzeitiger totaler Überwachung, ist im Hinblick auf Entwick‐ lungen in den USA zwar in großen Teilen zuzustimmen. Eine gewichtige Ausnahme betrifft aber seine Prognose über den Niedergang ‚einsperrender Umgebungen‘ (vgl. 3-4): Das Gefängnis (und damit die logikorganisierende Institution der Foucauldianischen Disziplinargesellschaft), so Deleuze, werde in neoliberalen Gesellschaften keine große Rolle mehr spielen (vgl. ebd.) und durch mobile Formen der Strafe wie Fußfesseln ersetzt werden (vgl. 7). In den USA ist das Gefängniswesen in der neoliberalen Ära jedoch nicht nur stark angewachsen; es ist zudem ganz überwiegend in öffentlicher Hand geblieben (vgl. Fußnote 2). Bemerkenswerterweise übt die Gefängnisexpansion einen staatlichen Sti‐ mulus auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt aus - mehr Häftlinge bedeuten auch einen erhöhten Bedarf an Gefängnisgebäuden, Sicherheitspersonal, et cetera. Ich habe bereits erwähnt, dass das Budget des Bundes und der Bundes‐ staaten für das Gefängniswesen zwischen 1980 und 2000 von sieben auf 57 Milliarden Dollar angestiegen war; im frühen 21. Jahrhundert hatte sich das Gefängniswesen ferner zum drittgrößten Arbeitgeber der USA entwickelt (vgl. 72 Katharina Motyl <?page no="73"?> 11 Ich danke Marlon Lieber dafür, dass er mir Harveys Argument in Erinnerung gerufen hat. Wacquant, „Rassenstigma“ 104). Derartige Keynesianische Wirtschaftspolitik unterläuft offensichtlich das von Neoliberalen vertretene Dogma, der Staat habe sich aus dem Markt herauszuhalten. Wie David Harvey aber darlegt, weichen politische Eliten immer wieder von den Positionen der neoklassischen Theorie ab, wenn dies dazu angetan ist, die Hegemonie der sozialen Klassen zu sichern, denen sie selbst angehören, beziehungsweise von deren Gunst sie am meisten abhängig sind (vgl. 21). 11 Der Verweis auf das Interesse der herrschenden Klassen, ihre Hegemonie zu sichern, ist auch das entscheidende Stichwort im Hinblick auf den überpropor‐ tionalen Zugriff des Gefängnisses auf sozial schwache Afroamerikaner_innen. Die Gefängnisexpansion ist auch als ein Mittel rassischer Kontrolle anzusehen, durch das die angebliche Gefahr eines Bevölkerungssegments, das in der Gesellschaft keinen Platz hatte, symbolisch gebannt wurde. Traditionell hatten im Norden Schwarze aller sozialen Klassen in urbanen Enklaven wie Harlem zusammengelebt. Das Ghetto diente der rassischen Kontrolle, indem Weiße Schwarze ausschlossen, um sie auszubeuten und von ihrer eigenen Lebens‐ sphäre fernzuhalten. Durch den Wegzug von Schwarzen der Mittelschicht in Folge von white flight (vgl. Fußnote 8) war die Klassenmischung in den Innenstädten nicht mehr gegeben; gleichzeitig wurde die Arbeitskraft von Schwarzen mit geringer Bildung, die zu Zeiten des Fordismus noch diverse Jobs erfüllt hatten, nun nicht mehr gebraucht. Die Funktion des Ghettos als Reservoir an niedrigqualifizierten Arbeitskräften war also obsolet geworden. Soziale Hilfen waren für sie infolge der neoliberalen Wende aber auch nicht vorgesehen. Es gab nun also eine Bevölkerungsgruppe, die arbeitslos war, wirtschaftlich durch den Wegfall sozialer Hilfen nicht über die Runden kam und zum Müßiggang prädestiniert war. Wacquant argumentiert, dass nun auf das Gefängnis zurückgegriffen wurde, um die Gefahr symbolisch zu bannen, die aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft von Schwarzen der Unterschicht ausging, die sie für „deviant […] und gefährlich“ hielt („Rassenstigma“ 109). Diese Eigenschaften unterstellte wohl auch der damalige US-Präsident Donald J. Trump Afroamerikaner_innen, wie sich in einer Kontroverse um präsidentielle Tweets im Sommer 2019 offenbarte. 73 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="74"?> 4. The Wire als Kritik des Neoliberalismus Trump suchte den präsidentiellen Vorwahlkampf zu emotionalisieren, indem er mithilfe seines berüchtigten Twitter-Accounts den demokratischen Ab‐ geordneten Elijah Cummings und die von ihm vertretene Stadt Baltimore schmähte: Baltimore sei ein ekelhaftes und rattenbefallenes Chaos („disgus‐ ting, rat and rodent infested mess“); kein Mensch wolle dort freiwillig leben („no human being would want to live there“) (vgl. Stracqualursi). Um die Stoßrichtung von Trumps Tweets zu verstehen, sind folgende Informationen essentiell: Cummings, der im Oktober 2019 verstarb, war schwarz, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung in der von ihm vertretenen Südstaatenstadt (vgl. „Baltimore, Maryland Population“). Trump versuchte offensichtlich, durch das Schüren rassistischer Ressentiments ökonomisch abgehängte weiße Wähler in swing states zu mobilisieren, in denen er 2020 zwingend würde gewinnen müssen, um wiedergewählt zu werden. Trump setzt Ungeziefer und Kriminalität semantisch mit Schwarzen in Bezug, wodurch die afroame‐ rikanische Bevölkerung als inhärent unhygienisch und deviant erscheint. Des Weiteren erlaubt die Aussage, kein Mensch wolle umringt von Ungeziefer und Verbrechen leben, den Rückschluss, die Bevölkerung Baltimores falle nicht in die Kategorie des Menschen; hier betreibt Trump also eine diskursive Entmenschlichung von Schwarzen. Auch in der Quality-TV-Serie The Wire geht es um Kriminalität in Baltimore und steht Ungeziefer metonymisch für die Lebensbedingungen in den verarmten schwarzen Stadtteilen - mit dem großen Unterschied, dass The Wire die men‐ schenunwürdigen Lebensumstände und die hohe Kriminalitätsrate in der inner city als Konsequenzen neoliberaler Politik sowie des War on Drugs darstellt, anstatt, wie Trump, die Bewohner der inner city als Untermenschen zu schmähen. Vielfach als beste TV-Serie aller Zeiten gepriesen (vgl. Jones), verbindet The Wire die Konventionen der Krimidrama-Serie mit einer Analyse sozialer Macht‐ strukturen - wobei man eher von einer Dekonstruktion der Krimidrama-Kon‐ ventionen sprechen muss. Denn den Serienmachern geht es nicht darum, Zuschauer durch Autojagden oder andere Krimi-Gepflogenheiten zu amüsieren, sondern die Polizei und andere Institutionen kritisch zu beleuchten, die aus Sicht der Serie das Leben der Menschen in der postindustriellen, neoliberalen amerikanischen Stadt prägen. Anstatt das Publikum gegen Ende jeder Episode mit einer Auflösung zu erfreuen, wie es ‚herkömmliche‘, für Network TV produ‐ zierte Krimiserien tun, weist The Wire komplexe Erzählstrukturen auf, die dem Publikum aufmerksames Zuschauen und Reflexionsbereitschaft abverlangen, es im Gegenzug aber dadurch belohnen, selbständig Kausalzusammenhänge 74 Katharina Motyl <?page no="75"?> 12 Der ‚Realitätseffekt‘ (Roland Barthes) der Serie liegt unter anderem in der Mitwirkung von Laienschauspieler_innen begründet, die früher selbst in Drogendeals oder Schwer‐ verbrechen involviert waren. 13 Nun gehen die Literatur- und Kulturwissenschaften seit Roland Barthes davon aus, dass die autorintendierte Bedeutung nur eine Bedeutung des Textes unter vielen ist; zudem hat Kelleter zurecht moniert, viele Journalist_innen und Wissenschaftler_innen übernähmen unkritisch die Selbstbeschreibungen der Serie und gingen somit ihrer seriellen Logik ‚auf den Leim‘. Bezüglich des Sujets der Serie fällt meine Diagnose aber nicht viel anders aus als Simons. 14 Diese geben der Serie ihren Namen (wire bedeutet Abhöraktion). und symbolische Bedeutungen erkennen zu können. Binäre Kategorien wie „gut“/ „böse“ vermeidet die Serie, während sie Parallelen zwischen Figuren in solch unterschiedlichen Milieus wie Polizei und Drogenmafia zieht, und bei‐ spielsweise dem heroinabhängigen Bubbles (dargestellt von Andre Royo) mehr Ehrbarkeit zubilligen mag als dem korrupten state senator Clay Davis (Isiah Whitlock). Mit anderen Worten, die Aufgabe der Zuschauerin ist es weniger, den Verbrecher zu identifizieren, als vielmehr eine Meinung zu entwickeln, was als Verbrechen gilt (vgl. Lipsitz 97). Die Serie ist vielfach für ihren sozialen Realismus gelobt worden; 12 dieser, gepaart mit den komplexen Erzählstrukturen und dem analytischen Impetus, veranlasst nicht wenige Rezipient_innen, The Wire in der Tradition des realis‐ tischen Romans des 19. Jahrhunderts à la Charles Dickens zu sehen. Frank Kelleter, Laura Bieger und andere haben aber zurecht darauf verwiesen, dass die Serie in puncto Weltsicht eher in der Tradition des amerikanischen Natura‐ lismus des späten 19. Jahrhunderts zu verorten ist. In den Worten Kelleters, „[m]any ruling assumptions of the series, such as its […] fascination with the lower classes, and above all its belief in the priority of environment over character, derive from (American) naturalism’s philosophical investment in scientism, anti-gentility, and determinism“ (17). Der Schöpfer der Serie, David Simon, situiert ihr Anliegen wie folgt: „The Wire is […] about fate and systematic predestination, with the Olympian gods supplanted by postmodern institutional authority.“ (zit. nach Kelleter 11) 13 Wenn die Zuschauerin in der Position einer Beobachterin zweiter Ordnung eine polizeiliche Sonderkommission für Schwer‐ verbrechen dabei beobachtet, wie sie durch Überwachungsmaßnahmen 14 Ver‐ strickungen zwischen dem organisierten Verbrechen und Politik, Wirtschaft, et cetera zu Tage fördert, offenbart sich ihr auch ein Netzwerk an Kräften, die auf das Individuum einwirken und - je nach Lesart - seine agency beeinflussen (Actor-Network Theory) oder sein Schicksal vorherbestimmen (Naturalismus). Im Folgenden möchte ich aufzeigen, a) welchen Zusammenhang The Wire in den Staffeln eins bis drei zwischen neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik 75 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="76"?> 15 Im Folgenden werden alle Belege für The Wire lediglich unter Verweis auf die Episoden- und Zeitangaben angeführt. sowie dem War on Drugs suggeriert, und b) wie die TV-Serie die Auswirkungen der neoliberalen sowie der punitiven Revolution auf die Lebenswelten der schwarzen und weißen unteren sozialen Klassen in der amerikanischen Groß‐ stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts imaginiert. Folge sechs der ersten Staffel beginnt mit einer Totalaufnahme der auf einem Auto liegenden Leiche von Omars festem Freund Brandon (Michael Kevin Darnall), der von der Barksdale Crew, die den Drogenhandel in West Baltimore dominiert, gefoltert, getötet und sodann auf einem Auto in einem Hinterhof platziert wurde, um andere Bewohner_innen davon abzuhalten, sich mit Avon Barksdale (Wood Harris) zu überwerfen. Es folgt ein Kamera‐ schwenk, der Details der Wohngegend und schließlich das Innere eines der Reihenhäuser preisgibt, in dem Wallace (Michael B. Jordan), ein 16-jähriger schwarzer Straßendealer, lebt. Da der furchterregende Anblick von Brandons Leiche das Publikum schockiert, nimmt es erst einmal nicht wahr, wie besorg‐ niserregend die Lebensumstände in Wallaces squat (leerstehendes, besetztes Haus) sind, das metonymisch für die Lebensbedingungen in Baltimores afro‐ amerikanischer inner city steht. Durch dieses clevere ästhetische Manöver ist die Zuschauerin nach dem Anblick einer Szene roher physischer Gewalt gewissermaßen abgestumpft, wenn sie die darauffolgende Szene sieht, die Aus‐ wirkungen struktureller Gewalt imaginiert. Wallace und zahlreiche ‚elternlose‘ Kinder, derer er sich angenommen hat, wohnen in einem Obdach, in dem nicht einmal Tiere leben sollten, geschweige denn Menschen, wie der von der Stadtverwaltung auf der Haustür angebrachte Hinweis „If Animal Trapped, Call [Telefonnummer]“ (The Wire S1/ E6 0: 02) 15 symbolisch hervorhebt. Die Scheiben sind eingeschlagen; die Bewohner_innen leben ohne fließendes Wasser (Wallace verwendet eine Wasserflasche zum Zähneputzen); Strom zapfen sie notwendigerweise stümperhaft vom Strommasten ab, was eine hohe Gefahr eines Kurzschlusses mit Brandfolge birgt; an Möbeln ist nur das Nötigste vorhanden - einen Kühlschrank gibt es immerhin, allerdings nicht genug zu essen, so dass das kleinste Kind ohne Chips und Safttüte ausgeht, die Wallace für das Mittagessen während der Schulpause verteilt. (Die Lebensbedinungen in den Sozialwohnungen sind laut The Wire freilich kaum angenehmer, wie ich noch darlegen werde). Diese Folge wirft natürlich die Frage auf, wie es sein kann, dass einem Teenager die Sorge für kleine Kinder obliegt. Das Jugendamt (Child Protective Services) ist über die Situation der Kinder anscheinend nicht im Bilde; auch 76 Katharina Motyl <?page no="77"?> 16 Der Kritik bürokratielastiger Institutionen der Jugendhilfe und neoliberaler Reformen im Bildungsbereich widmet The Wire dann die gesamte vierte Staffel. Während Bürger_innen, die Pflegschaften übernehmen wollen, aus Sicht der Serie in langwie‐ rigen Prozessen auf ihre erzieherische Tauglichkeit hin geprüft werden, verrohen die Jugendlichen in group homes (betreutem Wohnen). die Lehrer_innen scheinen die Lebensumstände ihrer Schüler_innen nicht zu kennen und sich erst zu sorgen, wenn letztere allzu offensichtlich verhaltens‐ auffällig werden - so drängt Wallace seine Zöglinge, sich zu beeilen, da sie sonst zu spät zur Schule kämen und in Pflegefamilien gesteckt würden (S1/ E6 0: 01). In jedem Fall artikuliert diese Folge ein Versagen staatlicher Institutionen, die für Kindeswohl zu sorgen haben. 16 Nachdem Wallace gegen Ende der ersten Staffel auf Befehl Stringer Bells (Idris Elba) erschossen wird, erfährt die Zuschauerin nichts über das weitere Schicksal der Kinder in Wallaces Obhut; das Nachdenken über diese Frage ruft Beklemmung hervor, wie die Serie ihrem Publikum auch insgesamt ein hohes Maß an Reflexion abverlangt und manchmal keine narrative closure anbietet. Doch kommen wir für den Moment auf die dargestellten Lebensumstände in den verarmten schwarzen Vierteln Baltimores zurück; man kann The Wire nicht vorwerfen, die Serie habe sich in dieser Darstellung viel künstlerische Freiheit erlaubt. Das unter Reagan und Clinton drastisch gekürzte Budget für public housing führte nicht nur zu einem Mangel an Sozialwohnungen (vgl. Wacquant, Prisons 56), sondern auch zu einer ungenügenden Instand‐ haltung der Objekte. Beispielsweise organisierten afroamerikanische Frauen 1993 eine politische Aktion, bei der sie Politiker_innen der Stadt Baltimore zu einer ‚Übernachtungsparty‛ in ihrem Sozialwohnungskomplex einluden, damit sich letztere ein Bild von den Lebensbedingungen machen konnten: kein Heißwasser, Überschwemmungen, offen liegende Elektrodrähte, Kinder, die aufgrund der hygienischen Verhältnisse erkrankt waren, Rattenbefall und ein nicht reagierendes Gebäudemanagement (vgl. Williams 229-30). Die zahlreichen dem Verfall preisgegebenen Wohnhäuser in Baltimore, die in The Wire als menschenunwürdige Behausung fungieren oder als Leichende‐ ponie der Opfer der Drogengangs, sind hingegen auf eine Kombination aus strukturellem Rassismus und staatlicher Nichtregulierung der Finanzwirtschaft zurückzuführen. Wie George Lipsitz verdeutlicht, steht die Vielzahl leer ste‐ 77 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="78"?> 17 Zwischen den 1930er und 1960er Jahren teilten Banken bei der Vergabe von (teilweise staatlich geförderten) Immobilienkrediten Stadtgebiete basierend auf der ethnischen Zugehörigkeit der Bevölkerung in vier Kategorien ein; afroamerikanische Stadtgebiete wurden rot - also als hochriskant - markiert; ungeachtet der persönlichen Kreditwür‐ digkeit wurde Menschen, die in einem redlined Gebiet eine Immobilie kaufen wollten, der Kredit verwehrt. So wurde der Immobilienbesitz unter Schwarzen gering gehalten. In den 1950ern kam es zum blockbusting: Als durch den Wegzug Weißer in die Vororte Eigenheime frei wurden, schürten „unscrupulous speculators and real estate brokers“ (Lipsitz 103) unter den weißen städtischen Hausbesitzern ‚Ängste‘, Schwarze könnten ihre Nachbarn werden; die Weißen ‚flohen‘ in die Vororte (white flight) und verkauften in Panik zu niedrigen Preisen ihre Häuser, die Immobilienmakler dann zu hohen Preisen an Afroamerikaner_innen weiterverkauften. Die Immobilienwerte in diesen Gegenden sanken sodann drastisch. Zuletzt wurden Schwarze in Baltimore überdurchschnittlich häufig Opfer von Zwangsvollstreckungen, da Banken wie Wells Fargo ihnen „deceptive, predatory, and otherwise unfair loans“ (Lipsitz 107) gegeben hatten. Diese Praxis wird als reverse redlining bezeichnet (vgl. ebd. 106). Lipsitz wirft den The Wire-Machern nicht zu Unrecht vor, diese Gründe für die vielen verlassenen Häuser in Baltimores inner city nicht ausreichend zu diskursivieren. 18 The Greeks kultureller Hintergrund ist, dem Spitznamen zum Trotz, ungeklärt; seinem Akzent nach scheint er nicht gebürtiger Amerikaner zu sein, sondern stammt wahr‐ scheinlich aus Süd- oder Osteuropa. hender Häuser in Zusammenhang mit der Praxis des blockbusting, des redlining sowie des reverse redlining (103-7). 17 In der zweiten Staffel steht The Wires Kritik an den Auswirkungen des Neo‐ liberalismus auf die Lebenswirklichkeiten der blue-collar (niedrigqualifizierten) Arbeiterschaft im Vordergrund. Die Handlung dreht sich um eine Gewerkschaft von Schiffsbeladern (stevedores), die überwiegend polnisch-amerikanische, aber auch ein paar schwarze Mitglieder hat. Aufgrund der postfordistischen Wende ist Baltimores Hafen chronisch unterausgelastet; die Schiffsbelader fristen ein Dasein als Tagelöhner: Sie gehen morgens zum Dock in der Hoffnung auf Schiffsladungen und Arbeit. Da in der Gewerkschaft das Senioritätsprinzip herrscht, finden sich insbesondere junge Schiffsbelader wie Nick Sobotka (Pablo Schreiber) in prekären Umständen. Nicks Onkel, der polnisch-amerikanische Gewerkschaftschef Frank Sobotka (Chris Bauer), hat sich angesichts der finan‐ ziellen Prekarität der Mitglieder zu kriminellen Schritten entschlossen: Mithilfe ein paar eingeweihter Kollegen entlädt er für einen Mafiaboss namens The Greek (Bill Raymond) 18 routinemäßig Container, deren Cargo von Heroin bis osteuropäischen Zwangsprostituierten reicht. Das gezahlte Schmiergeld verwendet Sobotka einerseits, um Gewerkschaftsmitgliedern in Not zu helfen (etwa, wenn einem Schiffsbelader nach einem Arbeitsunfall ein Bein amputiert werden muss, der Arbeitgeber aber keine Invalidenrente vorsieht); mit dem weitaus größeren Teil des Schmiergelds besticht Sobotka aber Politiker wie 78 Katharina Motyl <?page no="79"?> den state senator Davis, damit sie für eine Vertiefung des Hafens und eine Wiedereröffnung eines geschlossenen Landungsstegs stimmen. Davon erhofft sich Sobotka eine stärkere Frequentierung des Hafens und somit mehr Arbeits‐ möglichkeiten für die Gewerkschafter. Pointiert formuliert wird Frank Sobotka also kriminell, um Möglichkeiten zur Lohnarbeit für die Gewerkschaft zu schaffen - Verbrechen für Arbeit. Auch Nick Sobotka wird aus Desillusionierung über seine Lebensverhältnisse kriminell; obwohl der junge Mann Mitte 20 ist und mit seiner Freundin eine Tochter hat, kann er sich keine eigene Wohnung leisten, sondern lebt im Keller seiner Eltern, deren katholische Moral Übernachtungen seiner Partnerin verbietet. The Wire imaginiert die sozioökonomische Krise, in die der postfordis‐ tisch-neoliberale Wandel gering gebildete weiße Männer gestürzt hat, also auch als Maskulinitätskrise. In der Hoffnung, seine finanzielle Lage aufzubessern, stiehlt Nick eine Ladung Digitalkameras, die er an The Greeks Dunstkreis verkauft. The Greek verspricht Nick sodann attraktive Bezahlung, wenn es ihm gelingen sollte, einen Container mit Chemikalien für die Verarbeitung von Drogen einzuschmuggeln; Nick sagt zu und lässt sich nach erfülltem Auftrag halb in Bargeld und halb in Heroin bezahlen; seine Karriere als mid-level dealer beginnt. Bemerkenswerterweise kann Nick entgegen seiner Erwartungen nicht einmal mithilfe seiner illegalen Einnahmen eine Wohnung kaufen; mit diesem Handlungsstrang symbolisiert die TV-Serie, wie weit die Erfüllung bourgeoiser Träume im postindustriellen, neoliberalen Amerika außerhalb der Reichweite männlicher blue-collar workers liegt. Aufgrund der Ermittlungen der Sonderkommission kommen die illegalen Machenschaften von Neffe und Onkel schließlich ans Licht; Nick lässt sich auf einen Deal der Polizei ein, die ihm Straffreiheit im Gegenzug für eine Aussage gegen The Greek garantiert und ihn mit Freundin und Tochter in das Zeugenschutzprogramm des Bundes aufnimmt. Seinen Onkel ereilt ein härteres Schicksal: The Greek findet durch einen Tipp eines korrupten FBI-Agenten heraus, dass Frank der Polizei seine Kooperation angeboten hat, und lässt ihn ermorden. In der ikonischen Schlusssequenz der zweiten Staffel alternieren in einer Montage Aufnahmen von Nick, der weinend durch einen Maschendrahtzaun auf Baltimores Hafen blickt, mit Aufnahmen, die den Fortgang des Menschen- und Drogenschmuggels im Hafen darstellen sowie die Grundsteinlegung für Luxuswohnungen am Ort des stillgelegten Landungsstegs. Der von Nick be‐ weinte Wandel des Hafens ist als Allegorie der Umwälzungen zu lesen, die Baltimore und andere amerikanische Städte im späten 20. Jahrhundert erfahren haben: Sinnbildlich werden hier die postindustrielle Wende und die damit ein‐ 79 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="80"?> hergehende Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung von blue-collar Arbeit repräsentiert, die wiederum einen idealen Nährboden für Drogenhandel und andere illegale Geschäfte bieten, sowie die Hegemonialisierung der staatlich kaum regulierten Finanzwirtschaft innerhalb des amerikanischen Kapitalismus (metonymisch dargestellt durch die beim Luxusbau involvierte Immobilienspe‐ kulation). Als Soundtrack begleitet diese Sequenz der Song „Feel Alright“ des Alterna‐ tive Country Sängers Steve Earle. Der Songtitel steht in bewusst ironischem Kontrast zur Diegese, wie auch die Wahl der Serienmacher eines Songs, der das quintessentiell amerikanische Genre der Countrymusik abwandelt, suggeriert, das diegetisch Dargestellte (der postindustrielle Verfall und die Hegemonie der Finanzspekulation) sei zwar amerikanisch, aber eigentlich eine Abwandlung der amerikanischen wirtschaftlichen Tradition. Letztere, so legt The Wire nahe, erlaubte es (zumindest weißen) Arbeiter_innen, durch harte Arbeit Wohlstand zu generieren und nach dem American Dream zu greifen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass The Wire dezidiert den Neolibera‐ lismus kritisiert, von einer Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung per se aber Abstand nimmt. Mit den Worten von Liam Kennedy und Stephen Shapiro, „[t]he complaint in the series is not about capitalism, only about a late stage of capitalism“ (159). Für die Misere der postindustriellen amerikanischen Stadt im frühen 21. Jahrhundert macht die Serie die Abwanderung des industriellen Großkapitals und die staatliche Nichtregulierung der Finanzwirtschaft verant‐ wortlich sowie eine hypertrophe staatliche Bürokratie, die hauptsächlich an ihrer eigenen Bereicherung interessiert sei und lediglich Schönheitsmakulatur sozialer Probleme betreibe, anstatt das Großkapital zu regulieren und echte Lösungen für die durch die Deindustrialisierung verschärften sozialen Probleme zu entwerfen. Denn dass der War on Drugs soziale Unordnung nicht gelöst, sondern verschlimmert hat, stellt einen zentralen ideologischen Fluchtpunkt der Serie dar. 5. The Wire als Kritik des War on Drugs Aus Sicht der TV-Serie reproduziert der War on Drugs die sozialen Bedingungen in der inner city, die er laut seinen politischen Schöpfern (zumindest nominell) eindämmen sollte. Stephen Wakeman argumentiert: „The Wire depicts a core paradox of contemporary drug policy; this [drug] market only exists in the form it does as a response to the legal arrangements implemented to counter it.“ (230) Die kriminalitätsreproduzierende Logik der drakonischen Drogenpolitik symbolisieren die Serienmacher beispielsweise durch die ‚elternlosen‘ Kinder, 80 Katharina Motyl <?page no="81"?> 19 Vgl. Bieger für eine detaillierte Analyse der „data-gathering mania“ (127) der Son‐ derkommission und der ideologischen Position der TV-Serie gegenüber staatlicher Überwachung. derer sich Wallace angenommen hat; ihre Eltern befinden sich wohl hinter Gittern, so dass die Kinder ihr Überleben selbst sichern müssen und dies tun, indem sie Dealer gegen ein Taschengeld vor der anrückenden Polizei warnen. The Wire verweist auch wiederholt auf die ‚kriminalitätsverstärkende‘ Wirkung des Neoliberalismus: So suggeriert die Serie, afroamerikanische Teenager in der inner city brächen die Schule ab, um Dealer zu werden, weil es für sie fast keine Jobaussichten auf dem regulären Arbeitsmarkt gäbe - diese Teenager verstehen Verbrechen als Arbeit. Da viele Eltern in Haft oder aufgrund von Perspektivlosigkeit in der Sucht versunken sind, brauchen diese Kinder und Jugendlichen Mentoren anderer Art, die an sie glauben und Alternativen zu einer Dealerkarriere aufzeigen. Angesichts massiver Einsparungen im Sozial- und Bildungsbereich, unterstreicht The Wire, ist diese Mentorenfunktion durch Schulen und Sozialarbeiter_innen aber nicht gewährleistet. Die Jugendlichen, die einen ehrenamtlichen Mentor wie Cutty (Chad Coleman) an der Seite haben, der nach seiner Haftentlassung eine - ironischerweise mit einer von Avon Barksdale erbetenen Spende finanzierte - Boxhalle für junge Männer in West Baltimore eröffnet, haben Glück - der Rest ist auf sich allein gestellt. Darüber hinaus stellt The Wire den War on Drugs als ineffektiv und die Relation zwischen gesetzeswidrigem Handeln und Strafe als arbiträr und als politische Setzung dar. Erstens finden sich zahlreiche Szenen, in denen die Polizei - der englische Terminus law enforcement ist hier besonders trefflich, um die Ironie des Geschilderten zu betonen - das Gesetz bricht. Dies reicht von der Misshandlung Verhörter bis zur zunehmend unzulässigen Anwendung der Abhörtechnologie. 19 Während das Baltimore Police Department, zweitens, zuhauf Drogenabhängige und niedrigschwellige Dealer festnimmt, ersetzen die Drogenbosse letztere einfach aus dem großen Pool der Teenager, die bereit sind, mit kriminellem Verhalten Geld zu verdienen. Die Ressourcen, die die Polizei auf die Festnahme dieser so genannten low-level offenders verwendet, fehlen dann bei den Ermittlungen gegen die Drogenbosse, derer die Sonderkommission nur schwer habhaft wird - nicht zuletzt, weil es Seilschaften zwischen der Drogenmafia und der politischen und wirtschaftlichen Elite Baltimores gibt, die die Ermittlungen behindern. Indem der zutiefst korrupte state senator Davis immer wieder strafrechtlicher Verfolgung und schließlich einer Verurteilung entgeht, Junkies und Straßen‐ dealer aber von den Polizeibeamten Carver (Seth Gilliam) und Herc (Domenick Lombardozzi) triumphierend verhaftet werden, fordert The Wire das Publikum 81 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="82"?> 20 Da das Konsumieren alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum in den USA ver‐ boten ist, behelfen sich beispielsweise Obdachlose, indem sie ihre Bierflasche in eine braune Papiertüte stecken; die Polizei ignoriert den Gesetzesverstoß des öffentlichen Alkoholtrinkens, da er unsichtbar gemacht wird. heraus, eine eigene Sicht auf den Nexus von Moral, kriminellem Verhalten und Schuld zu entwickeln. Das Schuldverständnis, das die Serie als kulturell dominant darstellt, brandmarkt sie als korrumpiert: Aus der Gruppe derer, die sich gesetzeswidrig verhalten, gelten im juristischen wie moralischen Sinn nur diejenigen als schuldig, deren Verhalten richterlich verurteilt wird - die Wahr‐ scheinlichkeit einer Verurteilung ist aber nicht für alle gleich. Während jene mit ökonomischem und sozialem Kapital zumeist einem Gerichtsprozess, zumindest aber einer Verurteilung entgehen und trotz ihrem gesetzeswidrigen Handeln nicht moralisch sanktioniert werden, trifft die Verurteilten umfangreiche gesell‐ schaftliche Ächtung, die auch mit der Haftentlassung nicht endet. Entgegen dem Resozialisierungsgedanken tragen Ex-Häftlinge ein Leben lang ein Stigma, ob sie nun wegen eines Drogendelikts oder eines Gewaltverbrechens einsaßen; wie Cutty in der Serie, dürfen ehemalige felons in einigen US-Bundesstaaten zum Beispiel nicht wählen (vgl. Uggen et al.). In seiner Desillusionierung über den War on Drugs entschließt sich der kurz vor der Pensionierung stehende afroamerikanische Kommandant des Western District, Major Colvin (Robert Wisdom), zu einem folgenreichen Schritt: Da er der Meinung ist, der War on Drugs hielte ihn und seine Mitarbeiter_innen davon ab, „police work that’s actually worth the effort“ (S3/ E2 0: 55) zu verrichten, führt Colvin in Eigenregie und unter Geheimhaltung eine Methode ein, die er als „brown paper bag for drugs“ 20 bezeichnet (S3/ E2 0: 56). In drei leer stehenden, ehemaligen Wohngebieten des Western District richtet er free zones ein, in denen Drogenabhängige und Dealer unter polizeilicher Aufsicht und ohne Strafverfolgung ihre Interessen verfolgen können. Der Plan geht auf: Die free zones sorgen dafür, dass Drogenabhängige ohne Strafe konsumieren und Dealer ohne Anlass zu Gewalttätigkeit Profit machen, während die Bewohner des Western District nicht mehr von Drogenhandel und Gewalt vor ihren Türen belästigt werden. Zusätzlich werden bei der Polizei personelle Ressourcen freigesetzt, um ‚wahre‘ Polizeiarbeit zu verrichten. Zwar gelingt es Colvin durch die Einführung der free zones, die Quote an Schwerverbrechen im Western District signifikant zu reduzieren; er entspricht damit der Maßgabe des Rathauses, die von Polizeipräsident Burrell (Frankie Faison) und seinem Stellvertreter Rawls ( John Doman) mit großer Härte an die Kommandanten der Bezirke weitergegeben wird, und die andere Komman‐ danten durch Fälschen von Statistiken zu erreichen suchen. Als Burrell und 82 Katharina Motyl <?page no="83"?> Rawls aber erfahren, dass Colvin seine Werte durch das Nichtverfolgen von Drogendelikten erreicht hat, kennt ihr Zorn keine Grenzen; sie versetzen ihn in einen niedrigeren Dienstgrad und schicken ihn (nunmehr mit reduzierter Pension) in den Ruhestand. Das Polizeipräsidium und die politischen Eliten in The Wire sind also nicht an der Sache interessiert (Gewaltrückgang und sozialer Frieden), sondern verfolgen den War on Drugs als reine Symbolpolitik. Ein anarchistischer Gestus, der der Institution Polizei die Daseinsberechti‐ gung abspricht, liegt The Wire aber fern. The Wire vertritt die Position, die Polizei trage grundsätzlich zum Funktionieren der Gesellschaft bei, und glaubt an die Existenz von good police; als solcher wird die Hauptfigur Jimmy McNulty (Dominic West) wiederholt stilisiert, obwohl er die Befehlsordnung immer wieder missachtet und sich zwielichtiger Methoden zur Verbrechensaufklärung bedient. Die Kritik, die die TV-Serie äußert, bezieht sich auf den von ihr diagnostizierten Wandel der Polizei in eine paramilitärische Vereinigung im Zeichen des War on Drugs, die sich als antagonistisch anstatt partnerschaftlich zu den Nachbarschaften begreift, für die sie zuständig ist - in den Worten des executive producer Ed Burns: „The police have become an army of occupation“ (zit. nach Rotella 127). Anstatt niedrigschwellige und gewaltfreie Delikte wie Drogenbesitz zu ahnden, so legt die Serie besonders durch den oben analysierten free zones-Handlungsstrang nahe, solle sich die Polizei besser auf ‚wahre Polizeiarbeit‘ konzentrieren. Wie Carlo Rotella plausibel argumentiert, verkörpert der gewissenhafte schwarze detective Lester Freamon (Clarke Peters) allegorisch diese ‚wahre‘ Art der Polizeiarbeit (vgl. 124-5); er bringt seinen jüngeren Kolleg_innen bei, dass lästige, bürokratische Dokumentenrecherche vonnöten ist, um das organisierte Verbrechen belangen und seine Verbindungen zu den gesellschaftlichen Eliten nachweisen zu können: „You follow drugs, you get drug addicts and drug dealers; but you start to follow the money, and you don’t know where the fuck it’s gonna take you.“ (S1/ E9 0: 12) Auch wenn diese Ermittlungen kaum einen Politiker je zu Fall bringen, fördern sie dennoch die Wahrheit zu Tage - und dies stellt aus Sicht der Serie einen Wert an sich dar (hier offenbart sich freilich der ehemalige berufliche Hintergrund Simons als Journalist). In dieser Weltsicht auf Wahrheit zeigt sich metafiktional auch The Wires Selbstverständnis als ‚Kunstwerk‘, wie ich im Folgenden darlegen will. 6. Eine Abkehr von law-and-order und Neoliberalismus? Da die Serienmacher den fiktionalen Charakter der Serie bewusst herunter‐ spielen, spreche ich von The Wires Selbstverständnis als ‚Kunstwerk‘ (in An‐ 83 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="84"?> 21 Vgl. Kelleter für eine ausführliche Kritik. führungszeichen). In der Betonung der (vermeintlichen) dokumentarischen und journalistischen Qualität ihres Werks offenbart sich ihr Anspruch, die realen politischen Verhältnisse und Lebensbedinungen der Abgehängten im neoliberalen Amerika eingefangen zu haben. So beschreibt Simon sein Anliegen im Schaffen der Serie wie folgt: „[W]enn ich am Ende Unterhaltung produziert habe, die es nicht wert ist, dass man sich politisch damit auseinandersetzt, habe ich meine Zeit verschwendet. Ich benutzte ‚The Wire‘ wie Essays und Leitartikel“ (Simon). Einige Journalist_innen und Wissenschaftler_innen haben diese Selbstbeschreibung der Serie unkritisch übernommen; 21 so ist The Wire vereinzelt sogar als Primärquelle sozialwissenschaftlicher Studien und Lehrver‐ anstaltungen verwendet worden (vgl. Chadda/ Wilson). Meines Erachtens liegt der bleibende Eindruck, den die Serie bei vielen Zuschauer_innen hinterlässt, aber genau in ihrem Ausschöpfen der Mittel fiktionaler Medien begründet, etwa durch Handlungsverdichtung, Schaffung ikonischer Figuren wie dem schwulen Robin Hood der inner city, Omar (Michael K. Williams), und Einsatz visueller ästhetischer Stilmittel. Der Verdienst der Serie muss angesichts dessen etwas differenzierter formuliert werden: The Wire entwirft eine erzählte Welt, die den Gesetzmäßigkeiten der realen Welt ähnelt, und entspricht damit den Konventionen des realistischen Genres in einem fiktionalen Medium. Die Machtmechanismen und gesellschaftlich-politischen Verhältnisse, die in der erzählten Welt greifen, erscheinen dem Publikum auch hinsichtlich der realen neoliberalen US-Großstadt plausibel. Dass die Serie einige Zuschauer_innen affiziert und dazu anregt, die politischen Verhältnisse in der realen Welt in Frage zu stellen, eine veränderte Einstellung gegenüber den inner cities zu entwickeln, et cetera, liegt in ihrem Realismus und in ihrer cleveren Verwendung ästhetisch-narrativer Mittel begründet. Laut der naturalistischen Weltsicht der Serie ist politischer Wandel unwahr‐ scheinlich, da sie die Handlungsfähigkeit von Individuen als äußerst begrenzt einschätzt. Wie sieht aber die reale politische Situation zu Beginn der 2020er Jahre in den USA aus? Ist ein Abbau des Gefängniswesens und eine Abmilde‐ rung der sich verschränkenden Marginalisierung der schwarzen Unterschicht durch neoliberale Vernachlässigung und law-and-order-Politik, die The Wire dramatisiert, politisch realistisch? Ende der 2000er Jahre wurden Stimmen unterschiedlicher ideologischer Provenienz laut, die eine deutliche Reduktion der Gefangenenzahl in US-Gefängnissen forderten; einige argumentierten mit der strafjustiziellen Diskriminierung Schwarzer, andere mit den Kosten für den Steuerzahler. Eine Deeskalation des War on Drugs galt vielen als probates Mittel, 84 Katharina Motyl <?page no="85"?> 22 Die afroamerikanische community ist entsetzt, dass Bitten weißer Eltern, Sucht als Krankheit anstatt als Verbrechen zu behandeln, bei Politikern Gehör finden, die gleichgültig blieben, solange Verurteilungen für Drogendelikte hauptsächlich Schwarze betrafen (vgl. Savali). 23 Zwar hat Biden in seiner jahrzehntelangen Karriere als Senator im US-Kongress für Strafgesetze gestimmt, die zur Gefängnisexpansion geführt haben; er unterstützt aber mittlerweile Reformen, die dazu angetan sind, die Gefangenenzahl zu reduzieren (vgl. Glueck). um die Gefängnisexpansion rückgängig zu machen, denn im Jahr 2017 saß jede/ r fünfte Gefangene wegen gewaltfreier Drogendelikte ein (vgl. „Trends in U.S. Corrections“ 3). Erste Schritte wurden unternommen: Beispielsweise halbierte der Smarter Sentencing Act 2013 die verbindlichen Mindeststrafen für einige Drogendelikte. Aus der Legalisierung von Cannabis in einigen Bundesstaaten lässt sich auch ablesen, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung heute nichts mehr von drakonischer Drogenpolitik hält. Eine Deeskalation des War on Drugs schien außerdem wahrscheinlich, weil eine substantielle Zahl weißer Jugendlicher aus der Mittelschicht in den letzten Jahren heroinabhängig geworden ist. 22 Seit die Trump-Administration vereidigt wurde, ist eine Reduktion der Gefangenenzahl jedoch deutlich unrealistischer geworden. Der von Januar 2017 bis November 2018 amtierende Justizminister Jeff Sessions machte gleich zu Be‐ ginn seiner Amtszeit Reformen seines demokratischen Vorgängers Eric Holder rückgängig und wies Staatsanwälte des Bundes an, selbst bei niedrigschwelligen Drogendelikten die höchstmögliche Strafe zu fordern (vgl. Ford). Von der Präsidentschaft des Demokraten Joe Biden sind Reformen im Straf‐ justizsystem zu erwarten, wenn auch nicht in dem Ausmaß, das sich die Parteilinke wünschen würde. 23 Jedoch bedarf es, wie The Wire verdeutlicht, auch umfangreicher Investitionen in Sozialwohnungen, das Bildungssystem, et cetera, um die Zahl an Neueinweisungen ins Gefängnis gering zu halten. Eine Abkehr vom neoliberalen Paradigma ist von der Administration Joe Bidens aber nicht zu erwarten (vgl. Marcetic). Eine solche wäre nur ansatzweise realistisch gewesen, hätten Bernie Sanders oder Elizabeth Warren die Vorwahlen der Demokraten und sodann die Präsidentschaftswahlen gewonnen. 85 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="86"?> Bibliographie Primärliteratur: The Wire. Staffel 1. Regie von David Simon, HBO Original Programming, 2002. The Wire. Staffel 2. Regie von David Simon, HBO Original Programming, 2003. The Wire. Staffel 3. Regie von David Simon, HBO Original Programming, 2004. Sekundärliteratur: Alexander, Michelle. The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness. Vorwort von Cornel West, The New Press, 2011. „Baltimore, Maryland Population.“ Census Viewer, censusviewer.com/ city/ MD/ Baltimore. Aufgerufen 2 Aug. 2019. Bieger, Laura. „The Wire, Big Data, and the Specter of Naturalism.“ Studies in American Naturalism, 12.1 (2017). S. 127-39. Burns, Ed et al. „The Wire’s War on the Drug War.“ Time, 5 März 2008, content.time.com / time/ magazine/ article/ 0,9171,1720240,00.html. Aufgerufen 31 Juli 2019. Butterfield, Fox. „Study Finds Big Increase in Black Men as Inmates Since 1980.“ The New York Times, 28 Aug. 2002, www.nytimes.com/ 2002/ 08/ 28/ us/ study-finds-big-increase -in-black-men-as-inmates-since-1980.html. Aufgerufen 5 Aug. 2019. Chadda, Anmol und William Julius Wilson. „‚Way Down in the Hole‘: Systemic Urban Equality and The Wire.“ Critical Inquiry, 38.1 (2011). S. 164-88. Davis, Angela Y. Are Prisons Obsolete? Seven Stories Press, 2003. Deleuze, Gilles. „Postscript on the Societies of Control.“ October, 59 (1992). S. 3-7. „First Inaugural Address of Ronald Reagan.“ The Avalon Project: Documents in Law, History and Diplomacy, avalon.law.yale.edu/ 20th_century/ reagan1.asp. Aufgerufen 2 Dez. 2019. Ford, Matt. „Jeff Sessions Reinvigorates the Drug War.“ The Atlantic, 12 Mai 2017, www .theatlantic.com/ politics/ archive/ 2017/ 05/ sessionssentencing-memo/ 526029/ . Aufge‐ rufen 1 Juli 2017. Gilmore, Ruth Wilson. Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California. U of California P, 2007. Glueck, Katie. „Biden, Scrutinized for Crime Bill, Unveils Plan to Reduce Mass Incarce‐ ration.“ The New York Times, 23 Juli 2019, www.nytimes.com/ 2019/ 07/ 23/ us/ politics/ b iden-criminal-justice.html. Aufgerufen 16 Apr. 2020. Gottschalk, Marie. Caught: The Prison State and the Lockdown of American Politics. Princeton UP, 2015. Harvey, David. A Brief History of Neoliberalism. Oxford UP, 2005. 86 Katharina Motyl <?page no="87"?> Humes, Karen R. et al. „Overview of Race and Hispanic Origin: 2010.“ 2010 Census Briefs, März 2011, www.census.gov/ prod/ cen2010/ briefs/ c2010br-02.pdf. Aufgerufen 5 Aug. 2019. Jones, Emma. „How The Wire Became the Greatest TV Show ever Made.“ BBC, 13 Apr. 2018, www.bbc.com/ culture/ story/ 20180412-how-the-wire-became-the-greatest -tv-show-ever-made. Aufgerufen 8 Jan. 2020. Kaeble, Danielle und Mary Cowhig. „Correctional Populations in the United States, 2016.“ Bureau of Justice Statistics Bulletin, Apr. 2018, www.bjs.gov/ content/ pub/ pdf/ cpus16. pdf. Aufgerufen 15 Juli 2019. Kelleter, Frank. Serial Agencies: The Wire and its Readers. Zero Books, 2014. Kennedy, Liam und Stephen Shapiro. „Tales of the Neoliberal City: The Wire’s Boundary Lines.“ The Wire: Race, Class, and Genre, herausgegeben von denselben, U of Michigan P, 2012. S. 147-69. Lipsitz, George. „The Crime The Wire Couldn’t Name: Social Decay and Cynical Detach‐ ment in Baltimore.“ How Racism Takes Place, Temple UP, 2011. S. 95-113. Marcetic, Branko. „Joe Biden, Neoliberal.“ Jacobin Magazine, 8 Juli 2018, jaco‐ binmag.com/ 2018/ 08/ joe-biden-neoliberal-democrat-conservative-lobbying. Aufge‐ rufen 16 Apr. 2020. Motyl, Katharina. „Der War on Drugs, die Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroame‐ rikaner und Perspektiven der Strafrechtsreform.“ Von Selma bis Ferguson: Rasse und Rassismus in den USA, herausgegeben von Michael Butter et al., transcript, 2016. S. 191-213. Rotella, Carlo. „The Case against Kojak Liberalism.“ The Wire: Race, Class, and Genre, herausgegeben von Liam Kennedy und Stephen Shapiro, U of Michigan P, 2012. S. 113-29. Savali, Kirsten West. „‚Gentler War on Drugs‘ for Whites Is a ‚Smack‘ in Black America’s Face.“ The Root, 8 Nov. 2015, www.theroot.com/ articles/ culture/ 2015/ 11/ _gentler_w ar_on_drugs_for_whites_is_a_smack_in_black_america_s_face.html. Aufgerufen 28 März 2016. Schimank, Uwe. „Vom ‚fordistischen‛ zum ‚postfordistischen‛ Kapitalismus.“ Bundeszen‐ trale für politische Bildung, Dossier Deutsche Verhältnisse: Eine Sozialkunde, 31 Mai 2012, www.bpb.de/ politik/ grundfragen/ deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/ 137 994/ vom-fordistischen-zum-postfordistischen-kapitalismus. Aufgerufen 22 Juli 2019. Schiraldi, Vincent und Jason Ziedenberg. „The Punishing Decade: Prison and Jail Esti‐ mates at the Millennium.“ Justice Policy Institute, 1 Mai 2000, www.justicepolicy.org/ images/ upload/ 00-05_rep_punishingdecade_ac.pdf. Aufgerufen 10 Jan. 2016. Simon, David. „Zur Hölle mit den Quoten! “ Interview von Tobias Rüther. FAZ, 3 Okt. 2010, www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ fernsehen/ im-gespraech-david-simon-the-wir 87 Gefängnisexpansion und neoliberale Vernachlässigung in The Wire (2002-2008) <?page no="88"?> e-zur-hoelle-mit-den-quoten-11054791.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2. Aufgerufen 14 Jan. 2020. Stracqualursi, Veronica. „Trump attacks another African American lawmaker, and calls Baltimore a ‚disgusting, rat and rodent infested mess‘.“ CNN, 28 Juli 2019, edition.cnn. com/ 2019/ 07/ 27/ politics/ elijah-cummings-trump-baltimore/ index.html. Aufgerufen 2 Aug. 2019. „The Welfare Bill: Text of President Clinton’s Announcement on Welfare Legislation.“ The New York Times, 1 Aug. 1996, www.nytimes.com/ 1996/ 08/ 01/ us/ text-of-presiden t-clinton-s-announcement-on-welfare-legislation.html. Aufgerufen 2 Dez. 2019. Thompson, Heather Ann. „Why Mass Incarceration Matters: Rethinking Crisis, Decline, and Transformation in Postwar American History.“ The Journal of American History, 97.3 (2010). S. 703-34. „Trends in U.S. Corrections.“ The Sentencing Project, 22 Juni 2018, www.sentencingproje ct.org/ publications/ trends-in-u-s-corrections/ . Aufgerufen 6 Aug. 2019. Uggen, Christopher et al. „State-Level Estimates of Felon Disenfranchisement in the United States, 2010.“ The Sentencing Project, Juli 2012, sentencingproject.org/ doc/ publications/ fd_State_Level_Estimates_of_Felon_Disen_2010.pdf. Aufgerufen 14 Jan. 2020. Wacquant, Loïc. „Prisoner Reentry as Myth and Ceremony.“ Dialectical Anthropology, 34 (2010). S. 605-20. —. „Das Rassenstigma in der Produktion des amerikanischen Bestrafungsstaates.“ Krimi‐ nologisches Journal, 42.2 (2010). S. 102-14. —. „Class, Race and Hyperincarceration in Revanchist America.“ Daedalus, 139.3 (2010). S. 74-90. —. Prisons of Poverty. Erweiterte Aufl., U of Minnesota P, 2009. —. „Deadly Symbiosis: When Ghetto and Prison Meet and Mesh.“ Punishment and Society, 3.1 (2001). S. 95-134. Wakeman, Stephen. „‚No one wins. One side just loses more slowly‘: The Wire and Drug Policy.“ Theoretical Criminology, 18.2 (2014). S. 224-40. Walmsley, Roy. „World Prison Population List: Twelfth Edition.“ Institute for Criminal Policy Research, 6 Nov. 2018, www.prisonstudies.org/ sites/ default/ files/ resources/ do wnloads/ wppl_12.pdf. Aufgerufen 3 Dez. 2019. West, Heather C. „Prison Inmates at Midyear 2009 - Statistical Table.“ Bureau of Justice Statistics, Juni 2010, www.bjs.gov/ content/ pub/ pdf/ pim09st.pdf. Aufgerufen 10 Jan. 2016. Williams, Rhonda Y. The Politics of Public Housing: Black Women’s Struggles against Urban Inequality. Oxford UP, 2004. 88 Katharina Motyl <?page no="89"?> Der ‚Pate‘ ist tot: Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) Caroline Lusin 1. Kapitalismuskritik im Mafiaroman und -film von The Godfather zu McMafia Behind every successful fortune there is a crime. (Balzac) Mario Puzo, The Godfather (1969) Honoré de Balzacs Roman Le père Goriot (1834/ 35) fungiert als treffender Intertext für Mario Puzos Porträt der italo-amerikanischen Mafia in New York: Hier wie dort geht es um Geld, Gier und Macht. Das Motto, das Puzo The Godfather (1969) voranstellt, ist jedoch eigentlich eine Fehlübersetzung. Das Originalzitat aus dem neunten Teil von Balzacs titanischem Romanzyklus La Comédie humaine stellt nicht jedes Vermögen unter Generalverdacht; angezwei‐ felt wird lediglich solcher Reichtum, dessen Ursprung im Dunkeln liegt: „Das Geheimnis der großen Vermögen, deren Entstehung unbekannt ist, ist irgendein Verbrechen, das man vergessen hat, weil es geschickt begangen wurde.“ (Vater Goriot 142) Geld ist in Balzacs Oeuvre omnipräsent und omnipotent, wie Allan H. Pasco betont: „For Balzac, the love of money is the root of life in society […]. Money, in whatever form, was power.“ (67) Gleiches gilt zweifellos für The Godfather, die Vorlage für Francis Ford Coppolas erfolgreiche Filmtrilogie gleichen Namens. Das Thema Geld ist dabei auch deswegen so zentral, weil beide Romane entscheidende Momente in der Geschichte des Kapitalismus thematisieren. Balzac skizziert in seiner Comédie humaine den Wandel von einer Gesellschaft, die auf Landbesitz gründet, hin zu einer kapitalistischen (vgl. Pasco 70); Puzo dagegen widmet sich einem Amerika, das nach dem Ersten Weltkrieg zur Weltmacht aufgestiegen war und nach dem Zweiten Weltkrieg einen Wirtschaftsboom erlebte, das ‚Golden Age of Capitalism‘. Hiermit steht The Godfather ganz in der Tradition des klassischen amerikanischen Gangsterfilms, der am Übergang zu einem neuen, kapitalistischen Amerika angesiedelt ist (vgl. <?page no="90"?> 1 Zu diesen Kräften des Wandels zählt Pardini die zunehmende Urbanisierung, den Zustrom von Migranten aus Europa und der Karibik, die neue imperiale Stellung der USA innerhalb der Weltpolitik, die Prohibition sowie Massenproduktion und die Entstehung einer Massenkultur. 2 So beschreibt Phoebe Poon den klassischen amerikanischen Gangster im Film unter Berufung auf Robert Warshow als „a powerful symbol representing the contradictions within the optimistic American belief in success“ („Chronicles“ 188). 3 George S. Lark-Walsh beschreibt speziell die Entwicklung des amerikanischen Gangs‐ terfilms nach 1967 als „a continuous text that perpetuates Mafia mythologies“ (5); wie nicht zuletzt McMafia zeigt, lässt sich dies durchaus auch auf europäische Gangsterfilme erweitern, auch wenn McMafia freilich kein Gangsterfilm im klassischen Sinn ist, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Pardini). 1 Der Blickwinkel von The Godfather allerdings ist ein kritischer, wie der Gangster im klassischen amerikanischen Gangsterfilm der 1930er Jahre überhaupt dazu dient, die Widersprüche im amerikanischen Fortschrittsglauben aufzudecken. 2 Wenn The Godfather und sein französischer Intertext Le père Goriot kritische Zeitpunkte in der Geschichte des Kapitalismus beleuchten, so lässt sich diese Reihe um einen dritten Text (im weitesten Sinn) ergänzen, der auf The God‐ father rekurriert. James Watkins’ Filmserie McMafia (BBC One/ AMC, 2018) weist nicht nur in Figurenkonstellation, Plot, Themen und Motiven zahlreiche Parallelen zu ihrer italo-amerikanischen Vorlage auf; schon der Name des Protagonisten, Alex Godman ( James Norton), stellt einen Bezug zum Vorgänger her. McMafia schreibt die kapitalismuskritische Tradition von Le père Goriot und The Godfather im 21. Jahrhundert fort, setzt aber eigene Akzente. 3 Die Serie erzählt die Geschichte eines hocherfolgreichen Harvard-Absolventen, der einen Investmentfonds betreibt. Alex selbst, die Personifikation des korrekten englischen Gentlemans, ist peinlich auf seine eigene Lauterkeit bedacht und legt größten Wert darauf, ausschließlich legale Geschäfte zu machen. Seine besondere Sensibilität im Hinblick auf den durchaus ambivalenten Ruf seiner Profession erklärt sich aus seiner Herkunft: Er stammt aus einer russischen Familie, die zur Zeit des Niedergangs der Sowjetunion in Moskau ein Vermögen machte und schließlich vor ihren Konkurrenten ins Exil nach London fliehen musste. Welches Verbrechen genau, frei nach Balzac, hinter dem offenbar beträchtlichen Reichtum der Godmans steckt, bleibt offen - dass das Geld aber eher kriminellen Ursprungs ist, wird deutlich suggeriert. Alex hat sich von der mafiösen russischen Vergangenheit seiner Familie streng distanziert, doch sein Onkel Boris (David Dencik) erweist sich zu Beginn der Serie als Auf‐ traggeber eines gescheiterten Bombenanschlags auf den russischen Erzrivalen 90 Caroline Lusin <?page no="91"?> 4 Die Schreibweise russischer und anderer nicht-englischer Namen von Figuren sowie Schauspieler_innen folgt der Schreibweise der Internet Movie Database. 5 Die ‚Diebe im Gesetz‘ waren ursprünglich die hoch respektierten Anführer in der Gefängnishierarchie der Kriminellen, denen ihr Titel im Rahmen einer Art Krönungs‐ zeremonie verliehen wurde (vgl. Schütz). Der Titel ging einher mit einem strengen Ehrenkodex, dem Diebesgesetz, das etwa Heirat oder Familiengründung verbot (vgl. ebd.). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machten sich die ‚Diebe im Gesetz‘ auch als Anführer von Schutzgruppen der organisierten Kriminalität einen Namen. der Godmans, Vadim Kalyagin 4 (Merab Ninidze). Kurz nachdem Alex’ Fonds durch Gerüchte über unlautere Machenschaften in Schwierigkeiten geraten ist, wird Boris in Alex’ Anwesenheit als Rache für das Attentat auf Kalyagin brutal ermordet. Auch der Rest der Familie - Alex’ Eltern Dimitri (Aleksey Serebryakov) und Oksana (Mariya Shukshina) sowie seine Verlobte Rebecca Harper ( Juliet Rylance) - gerät in Lebensgefahr. Um sie zu schützen, lässt sich Alex selbst auf mafiöse Geschäfte ein, mit dem Ziel, Vadim Kalyagins Macht zu brechen, indem er dessen Konkurrenten stärkt. Im Laufe der Serie verstrickt er sich jedoch immer tiefer in die Netzwerke der globalen Mafia, und seine Motivation wird zunehmend ambivalent. Geht es ihm wirklich immer noch nur darum, seine Familie und sich selbst zu schützen, oder wird sein Streben nach Macht allmählich zum Selbstzweck? Anders als in David Cronenbergs thematisch verwandtem Thriller Eastern Promises (2007) geht es in McMafia nicht darum, die Machenschaften der russischen Mafia in London in all ihrer Brutalität nachzuvollziehen oder ein detailliertes Porträt der russischen Mafiakultur mit ihren berüchtigten ‚vory v zakone‘, den sogenannten ‚Dieben im Gesetz‘, 5 zu liefern. Auch die menschen‐ verachtende Grausamkeit der Prostitution als Form moderner Sklaverei klingt in McMafia nur an; im Vordergrund stehen in der Serie vielmehr die Netzwerke der globalen Mafia im Zeitalter der Finanzialisierung. Der Begriff ‚Finanziali‐ sierung‘ bezieht sich auf die Tatsache, dass der Finanzsektor als wichtigste wirtschaftliche Kraft die Industrie überflügelt hat. Wie Gerald Epstein in seiner Einleitung zu Financialization and the World Economy (2005) schreibt: „[F]inan‐ cialization means the increasing role of financial motives, financial markets, financial actors and financial institutions in the operation of the domestic and international economies“ (zit. nach Thomson/ Dutta 4). Die zunehmende Liberalisierung, Individualisierung und Deregulierung des Finanzsystems seit den 1980er und 1990er Jahren - man denke nur an die Reformen Margaret Thatchers und Ronald Reagans - hat dabei längst zu einer Situation geführt, in der die komplexen Prozesse der globalen Finanzwelt selbst für Experten nur noch schwer durchschaubar sind. Nicht umsonst bezeichnet Nicky Marsh die Finanzwirtschaft als „one of the most powerful and yet least understood 91 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="92"?> 6 Dieser und weiterer Instrumente bedient sich insbesondere auch das sogenannte Schattenbankensystem (‚shadow banking‘), bestehend aus einem „neuen Typus finan‐ zieller Institutionen und Praktiken […], die nicht Gegenstand der gleichen Regeln und Bestimmungen sind wie traditionelle Handelsbanken“ („new types of financial institutions and practices […] that are not subject to the same regulations as traditional commercial banks“, Thomson/ Dutta 7, Übersetzung der Verf.) und somit jenseits staatlicher Regulierung operieren, wie beispielsweise Investmentfonds. 7 Zu moralischen Fragestellungen in der Kapitalismuskritik am Beispiel mafiöser Struk‐ turen siehe auch Stefanie Neu-Wendels Beitrag in diesem Band. 8 In jüngster Zeit verhandelt das Verhältnis von Kapitalismus und Moral etwa Ute Frevert in Kapitalismus, Märkte und Moral (2019), kommt dabei allerdings zu einem positiven Schluss, ähnlich wie auch Deirdre Nansen McCloskey in Why Liberalism Works: How True Liberal Values Produce a Freer, More Equal, Prosperous World for All (2019). political forces of the contemporary“ (1). Hochspezialisierte Instrumente wie Derivate, CDOs (‚collateralized debt obligations‘), Kreditausfallversicherungen und zweitklassige Hypotheken sind ebenso riskant wie umstritten und haben während der Finanzkrise 2007/ 08 ihr zerstörerisches Potenzial zur Genüge ent‐ faltet. 6 Der Mangel an Regulierung des Finanzsektors mag die Finanzwirtschaft fördern; er öffnet, wie McMafia zeigt, jedoch auch dem organisierten Verbrechen Tür und Tor. Wie Misha Glenny in seiner Reportage McMafia: A Journey through the Global Criminal Underworld (2008) schreibt, auf deren Einsichten die gleichnamige Serie basiert: „The opacity of financial markets […] has allowed all manner of criminals and corrupted individuals from across the world to realize the profits of their illegal businesses.“ (ix) Wenn also Alex Godman in McMafia einen Investmentfonds betreibt, setzt ihn dies eng zum modernen globalen - und in weiten Teilen korrupten - Finanzsystem in Beziehung. Zwar hat die Kritik längst bemerkt, dass McMafia stark auf The Godfather rekurriert (vgl. etwa Stubbs), doch der Kern dieser Hommage wurde bisher nicht berücksichtigt. Wie The Godfather kontrastiert McMafia die Familie als Sphäre der Loyalität und Moral mit einer außerfamiliären Sphäre der Amoral oder Unmoral - hier allerdings spezifisch mit dem Ziel, das Verhältnis zwischen Wirt‐ schaft beziehungsweise Kapitalismus und Moral auszuloten. Spätestens nach der Finanzkrise von 2007/ 08 stellt sich verschärft die Frage nach gegenseitiger Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit und Moral, wie sie die Kapitalismuskritik schon länger beschäftigt. 7 Christoph Rottwilm stellt im Manager Magazin fest, „dass Moral in der Wirtschaft allzu häufig nur eine Rolle spielt, solange sie dem kommerziellen Erfolg nicht im Wege steht“, und der französische Philosoph André Comte-Sponville überlegt im Titel seines Essays ganz generell: „Kann Kapitalismus moralisch sein? “ (2009; „Le capitalisme est-il morale? “, 2004). 8 Hier liegt auch der Kern des Mottos von The Godfather und seine Relevanz für McMafia. Wie McMafia zeigt, bietet sich die Welt der organisierten Kriminalität 92 Caroline Lusin <?page no="93"?> besonders für kapitalismuskritische Reflexionen an. Francis Ford Coppola be‐ zeichnet das organisierte Verbrechen in einer Dokumentation aus dem Jahr 2012 als ‚Kapitalismus in Reinkultur‘ („capitalism in its purest form“, zit. nach Par‐ dini), und Samuele Pardini stellt fest: „[I]n terms of political economy the mafia and capitalism fit each other to a T“. Tatsächlich finden sich in der erzählten Welt von McMafia die drei Säulen des Kapitalismus - Privatbesitz, freier Markt und Lohnarbeit - in einer Weise bis zur Perversion gesteigert, die das kapitalistische System grundsätzlich in ein kritisches Licht rückt. McMafia situiert diese Kritik allerdings in einer ganz bestimmten historischen Übergangszeit, nämlich dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Niedergang des Kommunismus und dem darauffolgenden Triumph des zunehmend globalisierten kapitalistischen Systems. 2. Konsum und die Netzwerke des Kapitalismus nach dem Niedergang der Sowjetunion Das Setting von McMafia ist wahrhaft global. Allein die erste Episode umfasst als Schauplätze die Arabische Halbinsel, London, Moskau, Tel Aviv, Paris sowie unbenannte ländliche Settings in England und Russland. Der Serientitel wird in einer schnellen Folge verschiedener Sprachen und Skripte eingeblendet, und das Titelmenü selbst sendet eine unmissverständliche Botschaft (vgl. Abb. 1). Es präsentiert nicht nur eine vielfältige Collage von Bildern unterschiedlicher Schauplätze weltweit; rote Linien markieren die Routen von Straßen und Flugzeugen, die Bilder sind hinterlegt mit Graphiken finanzieller Statistiken, und die roten Linien verschmelzen mit dem Auf und Ab der Graphiken von Börsenkursen, um im Kabel einer Computermaus zu enden. Bilder von Dro‐ genschmuggel wechseln sich ab mit solchen von Zollkontrollen, Geldstapeln, Prostituierten, Geschäftsleuten, Menschenhandel und Bombenexplosionen; den Schluss bildet eine Schar parallel fliegender Pistolenkugeln, die sich am Ende zu einer Weltkarte fügen. Die Bedeutung der Collage ist klar: Die globalen Netz‐ werke der Finanzwelt verschmelzen mit denen des organisierten Verbrechens. Ein Mausklick kontrolliert alles - die Geschicke der Welt werden vom Computer aus gelenkt. Dieser globalen Perspektive entspricht in McMafia der Businessplan von Semiyon Kleiman (David Strathairn), einem schwer durchschaubaren russisch-israelischen Politiker und Geschäftsmann - ein unter dem Deckmantel der Legalität operierender Mafiaboss, wie sich herausstellt -, der Alex für seine 93 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="94"?> 9 Im Folgenden werden alle Belege für McMafia lediglich unter Verweis auf die Episoden- und Zeitangaben angeführt. Der Artikel basiert dabei lediglich auf der ersten Staffel; eine zweite Staffel ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt im März 2020 zwar angekündigt, aber noch nicht erschienen. Geschäfte gewinnt: „I want to expand my franchise in Europe, Asia, Africa“ (McMafia E1 0: 45), 9 beschreibt Kleiman seine Ideen für die Zukunft. Abb. 1: Die Titelsequenz von McMafia Schon der Vorspann lässt keinen Zweifel: Globalisierung ist gleichbedeutend mit globalem Kommerz, der untrennbar mit den Netzwerken der globalen Kri‐ minalität verwoben ist, und die Ware Mensch fungiert als zentrales Handelsgut. Durch Semiyon Kleiman wird Alex Teil eines globalen Netzwerks von Men‐ schenhändlern, deren völlige Skrupellosigkeit und Brutalität McMafia anhand eines individuellen Beispiels illustriert, das sich auch in Wirklichkeit ähnlich zugetragen hat. In seinem Buch schildert Misha Glenny die Geschichte der jungen Ludmila Balbinova aus Tiraspol in der moldawischen Splitterrepublik 94 Caroline Lusin <?page no="95"?> Transnistrien, die im Sommer 2002 in die globalen Netzwerke der modernen Sklaverei verstrickt wird (vgl. 105-10). In dem Glauben, in Israel als Kellnerin an‐ gestellt zu werden, lässt sie sich unwissentlich als künftige Zwangsprostituierte rekrutieren. Ihr Martyrium führt sie von Tiraspol über Chişinău und Odessa nach Moskau, wo ihr der Pass abgenommen wird. Von dort verläuft die Route über Kairo mit Beduinen durch die Wüste nach Beer Sheba und schließlich nach Tel Aviv, neben Dubai dem zweiten großen Umschlagplatz für Zwangsprostitu‐ ierte im Nahen Osten (vgl. Glenny 104). Ludmilas fiktionalisiertes Alter Ego im Film, Lyudmilla Nikolayeva (Sofya Lebedeva), hat zumindest etwas mehr Glück: Unter einem ähnlichen Vorwand entführt, gelangt sie auf der gleichen Route nach Tel Aviv, wo sie jedoch nicht zur Prostitution gezwungen, sondern für Semiyon Kleiman als Hostess rekrutiert wird - ihrer Freiheit allerdings ist sie damit dennoch beraubt. Dass die Frauen im Zuge dieser kriminellen Geschäfte zu einer austauschbaren und nicht einmal sehr wertvollen Ware degradiert werden, zeigt sich im Buch wie im Film am grausamen Schicksal einer der entführten jungen Frauen, die fast noch Mädchen sind: Als sie versucht, aus der Gefangenschaft bei den Beduinen zu entkommen, zerschmettern diese ihr mit Pistolenschüssen die Kniescheiben und lassen sie zum Sterben allein in der Wüste zurück. Wer diese menschenverachtende Kommodifizierung der Frau dem geographischen Osten zuschreiben möchte, liegt jedoch falsch. Die brutalen Szenen von Lyudmillas Leidensweg zeigen die finstere Schattenseite der glamourösen Szene, mit der nach dem Vorspann die eigentliche Serie einsetzt: Auf einer Veranstaltung einer Kinderhilfsorganisation, der auch die Familie Godman beiwohnt, ist im Rahmen einer Wohltätigkeitsauktion ein ‚dinner date‘ mit einem Supermodel zu ersteigern, für das Alex’ Onkel 15.000 Pfund bietet. Auch die glänzende Fassade dieser Veranstaltung täuscht nicht darüber hinweg, dass hier ebenso der Mensch - genauer gesagt: die Frau - zur Ware degradiert wird. Bei allem Augenmerk auf die globale Dimension stellt Alex’ Familienge‐ schichte die Kapitalismuskritik in McMafia in einen spezifischen historischen Kontext, der die Aspekte von Kommerz, Kommodifizierung und Kapitalismus besonders in den Vordergrund rückt. Die Rede ist vom Niedergang und Zerfall der Sowjetunion, im Zuge dessen sich das neue kapitalistische System in den ehemals kommunistischen Staaten von seiner negativsten Seite zeigte. Wie Misha Glenny darlegt, hatte der Niedergang des Kommunismus nicht nur „an orgy of consumption and decadent behaviour“ (52) zur Folge; die mangelnde Erfahrung der betroffenen Staaten mit dem kapitalistischen System und das Fehlen regulierender Institutionen schafften zudem große Freiräume für das organisierte Verbrechen. Der Zerfall des Systems hinterließ eine Vielzahl juris‐ 95 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="96"?> 10 Gleichzeitig fungiert der Kaviar aus dem Kaspischen Meer allerdings auch als erschüt‐ ternder Beleg für den zerstörerischen Charakter solcher Unterfangen, die rein auf Profit ausgerichtet sind, wurde der Stör durch die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen dort doch inzwischen nahezu ausgerottet. Er gilt heute als die am stärksten bedrohte Tierart der Welt (vgl. „Eine Zukunft für die Riesen der Donau“). tischer Lücken und rechtsfreier Räume, die es den frischgebackenen Kapitalisten ermöglichten, sich an den natürlichen Ressourcen Russlands zu bereichern oder florierende Importgeschäfte in Gang zu setzen und das Monopol für diese zu verteidigen. Da es in der Übergangszeit an einer funktionierenden Polizeigewalt ebenso mangelte wie an einschlägigen Gesetzestexten, etablierten sich schnell kriminelle Banden, die sich dem Schutz der konkurrierenden Geschäftsleute verschrieben (vgl. Glenny 52-67). Für Glenny repräsentiert der Zerfall der So‐ wjetunion daher den Meilenstein in der Entwicklung des globalen organisierten Verbrechens schlechthin: „The collapse of the Communist superpower, the Soviet Union, is the single most important event prompting the exponential growth of organized crime in the world in the last two decades.“ (52) In diesem Wandel von Kommunismus zu Kapitalismus, der von extremer Liberalisierung und Deregulierung geprägt war, manifestiert sich der Neoliberalismus in Rein‐ kultur. Nicht umsonst bezeichnet Glenny die Vertreter der russischen Mafia als die ‚midwives of capitalism‘ (47). So zitiert er ein damaliges Mitglied des russischen Handelsministeriums mit der Aussage: „‚We dismantled everything […]. We began liberalization in the absence of any controls[‘].“ (56) Kurzum: Die Etablierung des Kapitalismus im Ostblock zeigt diese Wirtschaftsform von ihrer schlechtesten Seite. Um die Kapitalismuskritik in McMafia voll zu würdigen, ist es unumgänglich, die Serie vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation im Russland der 1990er Jahre zu betrachten, die leitmotivisch immer wieder aufgerufen wird. Russischer Kaviar, das Signum von Wohlstand und Reichtum schlechthin, spielt in zwei Schlüsselszenen der Serie eine wichtige Rolle. Als Alex’ Onkel Boris ermordet wird, sind seine Mörder bei ihm zu Gast, und Alex kommt dazu, als sich Boris anschickt, zu Ehren seiner Gäste eine Dose Kaviar zu öffnen - es ist ironischerweise das Kaviarmesser, mit dem der Attentäter ihn ersticht. Diese Szene hat ihre Parallele in dem ersten Treffen zwischen Alex und Vadim Kalyagin in Versailles, bei dem Alex sich um eine Versöhnung bemüht. Wieder bietet der Gastgeber, diesmal Vadim, Kaviar an - mit dem Hinweis auf dessen besonders erlesene Qualität. Wie Glenny illustriert, ist der Handel mit dem begehrten wilden Kaviar aus dem Kaspischen Meer mit seiner Wertsteigerung von über 100.000 Prozent (vgl. 49) untrennbar mit dem Erfolg der russischen Mafia verbunden (vgl. ebd.). 10 Kaviar dient im Film McMafia somit nicht nur 96 Caroline Lusin <?page no="97"?> 11 Auch die Geschichte von Alex’ Businesspartner Semiyon Kleiman ist eng mit den Entwicklungen nach dem Niedergang der Sowjetunion verknüpft. Wie Misha Glenny schildert, bildete die Reisefreiheit durch die leicht zu erlangende israelische Staatsbür‐ gerschaft einen großen Anreiz für russische Geschäftsleute und Mafiosi (vgl. 99-103). 12 So beschwert sich etwa Karel Beneš, die rechte Hand von Vadims tschechischem Konkurrenten, gegenüber Alex und Semiyon in Prag: „Russians. Drinking our beer. Pimping our girls. Like ’89 never happened“ (E2 0: 22). dem Geltungskonsum; er fungiert als Fingerzeig auf den kapitalismuskritischen Kern der Serie. Am tiefsten ist der Russlandbezug in McMafia auf der Figurenebene veran‐ kert. Alex Godman auf der einen Seite sowie sein Onkel Boris, sein Vater Dimitri und Vadim Kalyagin auf der anderen repräsentieren nicht nur unterschiedliche Generationen, sondern auch verschiedene Stufen in der Wirtschaftsgeschichte Russlands, die wiederum für unterschiedliche Stadien des Kapitalismus stehen. 11 Die ältere Generation ist assoziiert mit dem Moskau der 1990er Jahre - in den Worten Misha Glennys „a breath-taking Babylon of guns, enterprise, money, violence, and fun“ (53) - in dem sie ihr Vermögen machte; ihre Geschäftspraktiken sind krude und basieren auf den alten politischen und sozialen Strukturen der Sowjetunion. 12 Alex dagegen steht für eine neue, stark digital geprägte Generation, die sich der unauffälligen Methoden der modernen Finanzwirtschaft bedient. Als sein russischer Verhandlungspartner Grigory Mishin (Danila Kozlovsky) ihn gegen Ende fragt, wie das Problem ‚Vadim‘ gelöst werden soll, entgegnet Alex: „The mafia culture he represents is outdated. His methods are violent, inefficient. Draws too much attention. Attention which doesn’t reflect well on this country. He lets emotion get in the way of business, which isn’t good for any of us.“ (E8 0: 30) Dieser Kontrast geht schließlich auch aus den Wohnräumen der Figuren hervor. Vadim lebt in einem alten Gutshaus, das einer anderen Zeit angehört und die Herrschaftsstrukturen des Zarenreichs evoziert; Alex und Rebecca leben in London in umgebauten Stallungen (‚converted mews‘), einer der gesuchtesten Immobilienarten dort (vgl. „London’s hottest properties“). Dieser Haustyp reflektiert nicht nur ihren hohen sozialen und finanziellen Status, sondern steht auch für Neuerung, Umbau und Innovation. Überhaupt evoziert McMafia verschiedentlich eine historische Dimension, in der weitere Stadien in der Entwicklung kapitalistischer Strukturen und Netzwerke aufscheinen. Während Rebecca auf einer Veranstaltung ihres Chefs, des hocherfolgreichen Financiers Sydney Bloom (Tim Ahern), eine Rede über die Möglichkeit eines ‚ethischen‘ Kapitalismus hält, erfolgt ein Schnitt zum Schloss von Versailles, wo sich Alex mit Vadim trifft. Versailles, die prächtige 97 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="98"?> 13 Das British Museum verfügt über die größte Sammlung altägyptischer Kunstobjekte außerhalb Ägyptens (vgl. „Key Stage 2“). Residenz der Könige von Frankreich, ursprünglich für Ludwig XIII. erbaut und vom ‚Sonnenkönig‘ Ludwig XIV. umgebaut, steht mit seiner Prachtentfaltung wie kaum eine andere Palastanlage für Reichtum, Macht, Luxus und einen höchst verschwenderischen Lebensstil. Die durch Versailles aufgerufene Ver‐ gangenheit, die in den luxuriösen Umständen von Alex’ und Vadims Treffen wieder lebendig wird, bildet einen ironischen Kontrapunkt zum ‚ethischen Kapitalismus‘, den Rebecca in ihrer Rede heraufzubeschwören sucht, indem sie zeigt, wie Geld noch immer eine ungleiche Welt regiert, in der Ausbeutung an der Tagesordnung ist. Auch Großbritanniens imperialistische Vergangenheit lässt die Serie subtil lebendig werden, und zwar in ähnlich subversiver Weise. Eine Veranstaltung von Sydney Bloom in der zweiten Episode spielt im Great Court des British Museum; die Tatsache, dass viele, wenn nicht sogar die Mehrzahl der Artefakte im British Museum zur Zeit des British Empire akquiriert wurden, steht in einer ironischen Spannung zu Blooms Logo, das groß und leuchtend an der Wand prangt: „Trade Not Aid“. Es scheint, als würde das Logo ungewollt den eigentlichen Zweck des Empires - ökonomische Ausbeutung anstatt der vorgeblichen Zivilisierung - entlarven, was auch Blooms vermeintlich ‚ethische‘ Form des Kapitalismus in ein zweifelhaftes Licht rückt. Die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gehen hier jedoch noch weiter: Um einen Anruf von Semiyon Kleiman entgegenzunehmen, zieht sich Alex von dem Empfang im Great Court in die stillen Tiefen der Ägyptensammlung zurück. 13 Es kann aus ästhetischer Perspektive kaum Zufall sein, dass Lyudmilla in eben jener Episode mit falschen Versprechungen in die ägyptische Hauptstadt Kairo gelockt und dort entführt wird. Überhaupt ist das Erbe des British Empire im geographischen Layout der Serie mehrfach präsent. So überschreiten die Schmuggler illegaler Waren heimlich mehrere Grenzen, die als artifizielle politische Konstrukte Großbritanniens entstanden sind, wie die Grenzen zwischen Ägypten und Israel sowie Indien und Pakistan. Diese historischen Parallelen zeigen vor allem eines: Die zeitgenössischen Formen des Kapitalismus sind, bei aller teils glänzenden Fassade, in den ausbeuterischen politischen und sozialen Strukturen der Vergangenheit verwurzelt - und moralisch ebenso zweifelhaft. 98 Caroline Lusin <?page no="99"?> 14 So schreibt auch Glenny: „In both banking and commodity trading, the criminal operates much closer to home than we think“ (xix). 15 So befindet auch Poon: „Although he [Michael] is a member of the domestic ‚family‘ he despises, and distances himself from, the ‚Family‘ as a criminal enterprise“ („Morality and Legality“ 30). 3. Macht, Moral und Identität im globalen Kapitalismus Das Spannungsfeld zwischen Macht und Moral ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Serie zieht und die unterschiedlichen Motivkomplexe verbindet. In der Logik von McMafia repräsentiert die Zeit nach dem Niedergang der So‐ wjetunion vor allem auch eine Zeit kapitalistischer Machtentfaltung jenseits der limitierenden Faktoren von Gesetz und Moral, wie Misha Glenny betont: „It is important to reiterate that from 1992 to 1999, the most abnormal circumstances prevailed in Russia (and much of the rest of the former Soviet Union) whereby a distinction between legality and illegality, morality and immorality, barely existed.“ (58) In Alex Godmans Finanzwelt des 21. Jahrhunderts ist diese Zeit zwar schon Vergangenheit; das Legale und Illegale, Moral und Immoral liegen jedoch auch hier wesentlich näher beieinander, als es zunächst den Anschein haben mag. 14 An dieser Stelle kommt Mario Puzos The Godfather als zentrale intertextuelle und intermediale Folie der Serie ins Spiel. Die Filmtrilogie und das Buch The Godfather umfassen wie McMafia zwei Generationen und verhandeln zentral die Frage, ob etwas moralisch sein kann, auch wenn es nicht legal ist (vgl. Poon, „Morality and Legality“). Sowohl der ursprüngliche ‚Pate‘ Vito Corleone (Marlon Brando) als auch sein Sohn Michael (Al Pacino) handeln, so suggeriert die Trilogie, in erster Linie zum Schutz der Familie, erfüllen in dieser Hinsicht aus ihrer eigenen Perspektive also ihre (moralische) Pflicht als Familienoberhaupt, selbst wenn sie dabei Gesetze brechen (vgl. ebd.). Die Parallelen zu McMafia gehen dabei weit über den Namen ‚Godman‘ hinaus. Wie Alex Godman ist auch Michael Corleone bei aller Loyalität zu seiner Familie anfangs daran gelegen, sich von ihren kriminellen Machenschaften zu distanzieren, wobei ‚the family‘ auch Freunde und Geschäftspartner umfasst. 15 So beteuert Michael in The Godfather gegenüber seiner Freundin und späteren Frau Kay (Diane Keaton): „That’s my family, Kay, it’s not me.“ (zit. nach Poon, „Morality and Legality“ 33) In The Godfather stehen die beiden Generationen wie in McMafia für unterschiedliche Wirtschaftssys‐ teme, für das alte kapitalistische System der Mafia auf der einen und den globalen Kapitalismus auf der anderen Seite, dem sich Don Vito noch zu 99 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="100"?> 16 „His refusal to enter the narcotics business, the forerunner of the global capitalism that his youngest son will be forced to deal with, is the Don’s attempt to keep total control over the modern world when such a world is actually entering his world, to which, eventually, it puts an end“ (Pardini). 17 „This paternalistic attitude and desire for legitimacy extracts Don Vito from the evil and corruption associated with the common gangster and elevates him into an iconic father figure who deserves the loyalty of the clan“ (Poon, „Chronicles“ 190). 18 „Central to the narrative of the Godfather Trilogy is a conflict between the ‚outsider‘ and ‚insider‘, the broad interests of society and the narrow interests of the Family“ (Poon, „Morality and Legality“ 44). entziehen sucht, indem er den Drogenhandel ablehnt (vgl. Pardini). 16 Zwar ist Michael wie Alex zunächst von dem Wunsch getrieben, fortan nur noch legale Geschäfte zu betreiben, wie er seiner künftigen Frau verspricht: „Kay, my father’s way of doing things is over, it’s finished. Even he knows that. I mean, in five years, the Corleone family is going to be completely legitimate. Trust me, that’s all I can tell you about my business.“ (zit. nach Poon, „Morality and Legality“ 33) Es kommt jedoch in beiden Fällen anders. Wo Michael Corleone zwei Mordanschläge auf seinen Vater zwingen, seine Distanz gegenüber dem mafiösen Familienunternehmen aufzugeben, sieht sich Alex durch den Mord an seinem Onkel genötigt, sich auf dubiose Geschäftspraktiken einzulassen, um das kriminelle Imperium Vadim Kalyagins zu zerstören, und damit auch Vadim selbst. Ganz wie Michael handelt Alex so, um seine Familie zu schützen, begibt sich also zunächst aus durchaus moralischen Gründen in die Sphäre der Illegalität; die Serie als ganze stellt diese Motivation jedoch umso mehr in Frage, als Alex’ Handeln zunehmend eine eigene Dynamik gewinnt. Die Familie fungiert sowohl in The Godfather als auch in McMafia als ein moralisches Zentrum, das gegenüber dem Rest der Gesellschaft Priorität hat und Loyalität wie Vertrauen kultiviert. Don Vito verschreibt sich dem kollektiven Wohl der Familie (vgl. Poon, „Chronicles“ 190) 17 und wünscht sich, ganz wie Alex’ Vater, eine bessere Zukunft für seinen Sohn. Mehr noch: Don Vitos Mafia-‚Familie‘ operiert nach einem strikten Ehrenkodex, der sie von gewöhnlichen Gangstern unterscheidet (vgl. ebd. 189). Die Mafia aus The Godfather ist also durchaus einem - wenngleich fragwürdigen - moralischen System verpflichtet. Hieraus ergibt sich, wie Phoebe Poon für The Godfather konstatiert, ein besonderer Kontrast zwischen ‚Insider‘ und ‚Outsider‘, der für die Trilogie zentral ist (vgl. „Morality and Legality“ 44). 18 In McMafia bekräftigt Onkel Boris ebenfalls: „Мы семя. А семя единственные кто поможет тебя не уставляя условий. Да? “ (E1 0: 19; „Wir sind Familie. Und nur die Familie hilft Dir, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen. Stimmt’s? “, Übersetzung der Verf.) Durch die auch im englischen Original verwendete russische Sprache, 100 Caroline Lusin <?page no="101"?> 19 Entsprechend ist auch die schlimmste Drohung, die Vadim gegenüber Alex äußern kann, der ironische Spruch: „My regards to your family“ (E5 0: 54). die für das Gros des Publikums unverständlich sein dürfte, wird der Aspekt des Insidertums noch verstärkt. Alex selbst stimmt dieser Haltung unverbrüchlich zu. So erklärt er Semiyon Kleiman, als dieser sich darüber wundert, dass Alex so weit geht, ihn zu erpressen: „I respect you very much. But the only reason we’re in business together is my uncle. There isn’t anything I wouldn’t do for him. Or my family.“ (E5 0: 43) 19 Die Ironie freilich liegt darin, dass Alex und Kleiman nur deswegen zusammenkommen, weil Boris seinen Neffen verrät - wie sich herausstellt, war es Boris, der Alex’ Fonds gezielt in Verruf brachte, um ihn dazu zu bringen, Kleiman als Kunden zu akzeptieren. Alex’ Loyalität gegenüber seiner Familie, die sein Handeln zumindest bis zu einem gewissen Grad als moralisch erscheinen lässt, steht also von Anfang an auf tönernen Füßen. Wie in The Godfather vollzieht sich in McMafia ein Wandel in der Identität des Protagonisten der zweiten Generation, der mit der zunehmenden Absorp‐ tion der jungen Männer durch das moderne Finanzsystem in Verbindung gebracht wird. Die Godfather-Trilogie schildert im Endeffekt Michaels morali‐ schen Niedergang, oder, wie Poon es formuliert, „Michael’s decline from a state of innocence to a state of moral desolation“ („Morality and Legality“ 40). Wenn Michael am Ende des zweiten Teils der Trilogie alleine in einem herbstlichen Park sitzt und dabei von abgefallenen Blättern umgeben ist, steht dies laut Poon sinnbildlich für seinen moralischen Verfall (vgl. ebd.). Dieser Verfall geht in The Godfather damit einher, dass sich das etablierte italienische Familienunternehmen mit seinem Ehrenkodex zu einem modernen, globalen Wirtschaftsbetrieb wandelt: „Under Michael’s patriarchy, the Family business is degenerating into a corporate organization as rapidly as the domestic family is losing its ethnic heritage.“ (Poon, „Chronicles“ 192) Ähnlich rückt auch in McMafia Alex’ ursprünglicher moralischer Beweggrund - der Schutz der Familie - immer mehr in den Hintergrund; an seine Stelle tritt ein Streben nach Macht, das zumindest Alex’ Umfeld zunehmend als Selbstzweck begreift. So konfrontiert Kleiman Alex mit der Einsicht: „It’s a gift to be able to convince yourself of something and believe in it with all your heart. You think you are doing this for him [uncle Boris]? You are doing this for power. The same as all of us. Except there is no telling how far you will go.“ (E5 0: 44) In McMafia allerdings ist dieser Wandel des Protagonisten in einer gegenläufigen Bewegung zu Michael in The Godfather mit Alex’ Re-Russifizierung verbunden. Alex’ russische Wurzeln stellen von Beginn an den Dreh- und Angelpunkt dar, über den sich seine Identität definiert; zunächst grenzt er sich strikt davon 101 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="102"?> 20 Dieses Streben nach Transparenz spiegelt sich auch in seinem Büro: Es besteht aus einem kleinen Kubus mit transparenten Wänden. Dass Alex sich in seinem transpa‐ renten Büro im Laufe der Serie zunehmend sichtlich unwohl fühlt, weist deutlich auf seinen persönlichen und geschäftlichen Wandel hin. 21 Als es tatsächlich zu Verhandlungen mit den Südamerikanern kommt, bezeichnet Guillermo, einer der Hauptgeschäftspartner, Russland explizit als „your country“ (E7 0: 31) und spricht von Russen als „your fellow countrymen“ (ebd. 0: 30). 22 „It’s so easy to forget that you grew up in a tiny little flat in Moscow. That you were a rough little boy with no money. No education. And then everything changed. And then, you got rich. And they sent you here to learn to pretend to be civilised. But you are not. You’ve got manners, and you do some of the right things, but that’s not who you are“ (E7 0: 48-9). ab, um sie dann jedoch mehr und mehr zu affirmieren. Zu Beginn der Serie betonen immer wieder sowohl Alex selbst als auch andere dessen fundamentale ‚Englishness‘: „Of course now he’s an English Gentleman, he wants nothing to do with me“ (E1 0: 07), klagt sein Onkel, und auch sein Vater konstatiert: „[Т]ы Англичанин“ (ebd. 0: 10; „Du bist Engländer“, Übersetzung der Verf.). Als Schüler grenzt sich Alex bewusst von den russischen Gesten seines Onkels ab (E1 0: 18-9) und weigert sich auch als Erwachsener meist, Russisch zu sprechen. Für ihn ist dies eine Frage nicht nur der persönlichen Identität, sondern auch des Geschäftsethos. Wie Alex selbst zu Anfang der Serie konstatiert: „I started the fund from scratch. I never took a penny from my family or their friends and I’ve made it a policy not to invest in Russia. It’s because of my family background. I’ve been careful to be completely transparent and have always maintained the highest ethical standards.“ (E1 0: 13) 20 Zunächst gereichen seine russischen Wurzeln Alex trotz aller Bemühungen noch zum Nachteil, insbesondere als sein Fonds durch die falschen Gerüchte in Misskredit geraten ist. So bekennt Rebeccas Kollege Alan Raynott (Sam Hoare) bezüglich dieser Gerüchte unverblümt, als Alex ihn um finanzielle Unterstützung bittet: „If you were American, or German or Spanish, then you would issue a denial and that’d be the end of it. But because of where you come from, these rumours tend to stick.“ (E1 0: 14) Ab einem gewissen Punkt jedoch kehrt Alex seine russischen Wurzeln hervor, um sie als Verhandlungsvorteil einzusetzen. Als Antonio (Caio Blat), ein Mittelsmann der südamerikanischen Drogenmafia, Alex fragt, warum seine Partner ausgerechnet mit Alex Geschäfte machen sollten, entgegnet er: „Because I’m Russian, and they’re not.“ (E7 0: 27) 21 Rebecca begreift diesen radikalen Wandel als Ausweis dafür, dass Alex’ englische Identität schon immer nur Fassade gewesen sei - 22 eine Einschätzung, die der Filmkritiker David Stubbs teilt: „This is who he was and is; the construction of Englishness funded 102 Caroline Lusin <?page no="103"?> 23 Auch kurz darauf positioniert Alex sich noch ganz klar, diesmal gegenüber seinem Onkel: „I’m not a money launderer“ (E1 0: 28). 24 Für Alex’ Mutter, die die Geschäfte seines Vaters verteidigt, erscheinen die Begriffe ‚Gangster‘ und ‚Geschäftsmann‘ ohnehin beliebig vertauschbar: „In Russia they call everyone a gangster. Papa was a businessman.“ (E1 0: 28) Ähnlich beliebig lässt auch Boris in einem ironischen Kommentar die Unterscheidung zwischen ‚Oligarch‘ und ‚Schurke‘ erscheinen: „[I]f a Russian gives to charity, they call him an oligarch instead of a crook“ (E1 0: 05). 25 Dies wird etwa auch in einem Gespräch zwischen Antonio und Alex sehr deutlich. Als Antonio zweifelnd feststellt, „You’re not a drug dealer, Alex“, beschönigt Alex die by his family is a lie.“ Eigentlich aber liegt der Kern von Alex’ Identitätswandel darin, dass er seine Identität zu Geschäftszwecken funktionalisiert. In gleichem Maße, wie Alex sich aus pragmatischen Gründen mehr als Russe denn als Engländer definiert, wandelt sich sein Selbstverständnis als transparenter Banker, der sich ethischen Maximen verpflichtet fühlt. Wie sehr sich Alex selbst über seine Funktion innerhalb des Finanzsystems definiert, wird deutlich, als ihn seine Compliance-Beauftragte Karin (Kemi-Bo Jacobs) nach seinem persönlichen Befinden fragt. Automatisch bezieht Alex die Frage auf den Fonds anstatt auf sich selbst: KARIN. Are you ok? ALEX. Yeah, sure, we’re back on track. KARIN. I meant you, not the fund. ALEX. I’m fine. (E2 0: 24) Zu Beginn der Serie verortet sich Alex dabei noch klar in der Sphäre der Lega‐ lität. So erteilt er Kleiman auf dessen Bitte, illegale finanzielle Transaktionen durchzuführen, zunächst eine deutliche Absage: „That’s not what we do.“ (E1 0: 27) 23 Im Laufe der Serie verschwimmen die Grenzen zwischen Finanzwelt und Kriminalität jedoch mehr und mehr, und damit wird auch Alex’ eigene Identität ambivalent. Zwar beharrt er bei seinem zweiten Gespräch mit Kleiman zunächst noch auf seiner beruflichen Integrität: „I’m a banker, not a gangster.“ (E1 0: 48) Er setzt Kleiman jedoch nichts mehr entgegen, als dieser insistiert: „All I need is a banker. These wars are fought in boardrooms, not on the street. Money. Moving money is your weapon.“ (Ebd.) ‚Banker‘ und ‚Krimineller‘ werden mehr und mehr synonym. 24 Wenn Grigory Mishin, einer von Alex’ neuen Geschäftspartnern in Russland, feststellt, „I studied business at Harvard like you, Mr. Godman“ (E8 0: 30), verwischt dies dezidiert die Grenze zwischen globaler Finanzelite und globaler Kriminalität. Die Unterscheidung erscheint zunehmend mehr als eine Frage der Sprache als der Substanz, 25 und seine 103 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="104"?> Fakten wie folgt: „Not a dealer, a broker. And I’m not doing this for profit, I’m doing this to survive“ (E7 0: 26). 26 Damit - und spätestens, nachdem er Vadim erschossen hat - ist Alex nun den südamerikanischen Mafiosi gleich, über die Kleiman sagt: „Alex, do you have any idea what kind of people you are dealing with? They dress like bankers, they speak a dozen languages, they eat in the best restaurants, stay in the best hotels, but underneath all that sophistication, there is an open grave in the Mexican desert with 50 headless corpses inside“ (E4 0: 01). 27 „Godman is an enigma, perhaps to himself as much as to anyone else. His gradual hardening, and the reasons he makes the decisions he does, are what the show is all about“ (Stubbs). Identität gerät für Alex zur Maskerade. So stellt sein Bodyguard Joseph (Oshri Cohen) gegen Ende der Serie verwundert fest: „It says on your card you’re still a banker.“ (E5 0: 51) Entweder spiegelt die Visitenkarte, eigentlich Ausweis der Identität, falsche Tatsachen vor, oder ‚Banker‘ und ‚Mafioso‘ bedeuten ein und dasselbe. 26 Im Endeffekt erscheint Alex so weniger als „Enigma“ (Stubbs), 27 denn als Prototyp des neoliberalen Menschen, wie ihn der belgische Psychologe Paul Verhaeghe definiert. Laut Verhaeghe erfordert und belohnt die neolibe‐ rale Leistungsgesellschaft bestimmte menschliche Eigenschaften: eine hervor‐ ragende Kommunikationsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstdarstellung, ein gutes soziales Netzwerk, ein überzeugendes Auftreten auch dann, wenn man lügt, Flexibilität und Impulsivität sowie eine gewisse Verantwortungs- und Gewissenlosigkeit. Durch all diese Eigenschaften zeichnet sich auch Alex mit seinen geschliffenen Umgangsformen und seinem rhetorischen Geschick aus, einschließlich der Undurchschaubarkeit und einer gewissen Skrupellosigkeit. So befindet sein Onkel gleich zu Anfang gegenüber Rebecca, „You never know what he’s thinking. He’s got this beautiful smile, but underneath, maybe he’s thinking, ‚Screw you […]‘“ (E1 0: 07), und Grigory Mishin stellt fest: „Oleg told me you could be humble when it suited you. But ruthless, too.“ (E8 0: 30-1) Verhaeghe schreibt weiter: Natürlich ist diese Beschreibung überzeichnet. Trotzdem illustriert etwa die Finanz‐ krise auf makrosozialer Ebene […], was eine neoliberale Leistungsgesellschaft mit den Menschen macht: Solidarität wird zum Luxus. An ihre Stelle treten befristete Allianzen. In erster Linie geht es darum, mehr Profit aus einer Situation zu ziehen als die Konkurrenz. Die Intensität der Beziehung zu den Kollegen und die Verbundenheit mit der eigenen Firma lassen nach. Die befristeten Allianzen, von denen Verhaeghe spricht, kennzeichnen auch Alex’ Welt, in der Geschäftspartner austauschbar sind, wie etwa Kleiman im 104 Caroline Lusin <?page no="105"?> 28 Auch Alex’ Allianz mit Antonio erweist sich als befristet: Bei den entscheidenden Verhandlungen mit den Südamerikanern schließt er ihn aus (E8 0: 56), und am Ende ergreift er nicht Antonios zum Abschied ausgestreckte Hand, sondern lässt ihn einfach stehen (ebd. 0: 58). 29 „Instrumental rationalization is the Godfather’s modus operandi, the way he conducts himself and his business, which happen to be one and the same thing“ (Pardini). Hinblick auf Alex’ Beziehungen zum südamerikanischen Drogenkartell um Antonio feststellt: „You think they are any different to Vadim? You are only changing an enemy for more dangerous friends.“ (E5 0: 43) 28 Selbst sein eigener Fonds, anfangs noch Objekt großen Stolzes, wird allmählich zum reinen Vehikel für die kriminellen Geschäfte degradiert, in die Alex mehr und mehr involviert wird. 4. Wirtschaft, Profit und die Frage des ‚ethischen Kapitalismus‘ Wenn sich Alex als Prototyp des neoliberalen Menschen im Laufe der Serie immer aktiver in die Netzwerke der globalen Kriminalität einbringt, weichen moralische Überlegungen zunehmend dem Prinzip von Rationalisierung und Instrumentalisierung, wie auch in The Godfather. 29 Als Alex mit Grigory Mishin über die Ausweitung des südamerikanischen Drogennetzwerks nach Russland spricht, lösen sich die Grenzen zwischen Wirtschaft und Verbrechen gänzlich auf, und Zahlen werden zur einzigen Verhandlungsbasis. Wie Mishin über seine Kollegen sagt: „They’re economists like you. You present your proposal, go over the numbers, and then they make their decision.“ (E8 0: 33) Alex steigt nicht nur auf diese rationalisierende Logik ein; er führt sie sogar noch weiter, indem er die menschliche Dimension der kriminellen Transaktionen vollkommen ausblendet und buchstäblich ‚wegrationalisiert‘. Mishin macht Alex darauf aufmerksam: „The profit you’re talking about comes at a human cost.“ (E8 0: 29) In seiner Replik erwähnt Alex jedoch Profit und Kosten im gleichen Atemzug, ohne die unterschiedlichen Bezugspunkte zu benennen: „What I’m proposing to do is increase the profit whilst reducing the cost.“ (Ebd.) Dies ist reine Augenwischerei - dadurch, dass Russland nur als Transitland für den Drogenhandel genutzt werden soll, wird das Leid nur geographisch verschoben, nicht aber reduziert. Zudem verspricht Alex Mishin im Gegenzug für die Transiterlaubnis mit folgendem Argument eine Provision: „The commission I’m talking about could in turn be used to boost the legal economy, build hospitals, schools, even fight the war on crime.“ (E8 0: 30) Er verleiht dem Verbrechen so eine pseudo-humanitäre Dimension, die den ubiquitären Charakter der organisierten Kriminalität er‐ ahnen lässt, deren finanzielle Netzwerke mehr oder minder alle Lebensbereiche 105 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="106"?> durchdringen. Dass durch kriminelle Machenschaften erwirtschaftete Gelder dazu genutzt werden sollen, die Kriminalität zu bekämpfen, ist die absurde Pointe einer Wirtschaftsweise, die jeglicher Ethik entbehrt. Ähnlich janusköpfig und absurd sind auch die Hintergründe der Organisa‐ tion, die in McMafia für das Konzept eines ‚ethischen Kapitalismus‘ steht, nämlich die Bloom Foundation. Rebeccas Arbeitgeber Sydney Bloom fungiert in der Serie als „the ethical face of capitalism“ (E2 0: 27), das seine eigene Botschaft unterminiert, denn das Konzept erhält einen tiefen Riss, als Alex von Blooms Vorgeschichte erfährt: „Do you know how he made his money? Stripping down African ports.“ (E2 0: 28) Die Tatsache, dass diese Szene im British Museum mit seiner Geschichte kolonialer Expansion spielt, verleiht Blooms ausbeuteri‐ schen Geschäften eine historische Dimension, die seine Biographie in ein noch negativeres Licht rückt. Durch die Schnitttechnik wird dieser Effekt zusätzlich verstärkt: Der Empfang im British Museum folgt in der Chronologie der Serie direkt auf die Szene, in der die Beduinen der Mitgefangenen Lyudmillas die Knie zertrümmern und sie zum Sterben in der Wüste zurücklassen. Die Botschaft der Szenenfolge ist klar: Blooms Konzept eines ‚ethischen Kapitalismus‘ ist nichts als schöne Fassade, die jeder Realität entbehrt. Die Zuschauer müssen sich so die gleiche Frage stellen wie Rebecca: „The question we have to ask is whether ethical capitalism is possible.“ (E1 0: 49) Geht man von McMafia aus, ist der Frage keine positive Antwort beschieden. Die Unmöglichkeit eines ‚ethischen Kapitalismus‘ liegt McMafia zufolge darin begründet, dass eine Wirtschaftsform, die auf Profit und Profitsteigerung basiert, von vornherein nicht moralisch sein kann. Rebecca erläutert Sydney Blooms Ansichten zum ‚ethischen Kapitalismus‘ wie folgt: „Sydney’s theory is that the markets are amoral. They are designed to work like machines, but unethical behaviour like greed or dishonesty get [sic! ] in the way.“ (E3 0: 48) Beim Markt handle es sich also um eine Sphäre jenseits der Moral, die lediglich durch unmoralisches menschliches Verhalten korrumpiert werde. Ihr Gegenüber wendet jedoch ein: „Greed and desire are crucial to our economy.“ (Ebd.) In einer Welt, in der die Wirtschaft - ganz im Sinn von Balzacs Le père Goriot - auf Gier als treibender Kraft basiert, kann Kapitalismus nicht moralisch sein. Mehr noch: Der Erfolg von Alex und seinen Partnern, der sich gegen Ende der Serie nur noch in finanziellem Profit bemisst, korreliert direkt mit Entwicklungen, die aus humanitärer Perspektive keinesfalls erstrebenswert sind. So heißt es in einem Dialog zwischen Oleg (Alexander Diachenko), einem Freund von Alex’ Vater, der die Kontakte nach Russland vermittelt, und Alex: „‚In a world without conflict, we don’t profit. Don’t you agree? ‘ ‚I agree.‘“ (E7 0: 07) Mit dem Ende der Serie lässt Alex so jegliche moralischen Überlegungen 106 Caroline Lusin <?page no="107"?> 30 So definiert Alex auch sein künftiges Arbeitsverhältnis mit den Russen wie folgt: „I work on your behalf. I don’t work for you. I don’t mean that as a mark of disrespect. I just think it’s the best way for all of us to make money“ (E8 0: 57). 31 Analog triumphiert Mr. Chopras Konkurrent Dilly (Nawazuddin Siddiqui), nachdem er Mr. Chopra hat umbringen lassen und über seiner Leiche steht: „Who is God now, Chopra? “ (E4 0: 58). 32 „[T]he Russian mafia as it developed was not guided by family loyalties but solely by transactions“ (Glenny 62). 33 Indem Alex seinen Kontrahenten Vadim gegen Ende eigenhändig erschießt, entscheidet er nun auch gottgleich über Leben und Tod. Mit diesem Mord ist auch die letzte moralische Grenze überschritten. hinter sich - was zählt, ist nur noch das Geld. 30 Er wird damit Teil einer Welt, die Gott als einstmalige moralische Instanz durch das ökonomisch und machtpolitisch erfolgreichste Individuum ersetzt. Nicht umsonst lauten die ersten Worte, die in der Serie gesprochen werden, „Good god, Mr Vadim! “ (E1 0: 00), und noch im Prolog prahlt Mr. Chopra (Atul Kale), der ‚Pate‘ von Mumbai: „I own the port authorities, I own the police. In Mumbai, I am God! “ (E1 0: 01) 31 Allerdings ist Alex gegenüber dem italo-amerikanischen Vorbild kein ‚Godfather‘, sondern ‚Godman‘. Enge familiäre Beziehungen sind, wie die Serie mehr als deutlich macht, in diesem Geschäft nur hinderlich, und hier erschließt sich auch eine weitere Facette von Alex’ Russifizierung: Wie Misha Glenny erläutert, baute die russische Mafia schon zur Zeit ihrer Entstehung eben nicht auf die Loyalität der ‚Familie‘, wie der eines Don Corleone, sondern basierte auf rein finanziellen Transaktionen (vgl. 62). 32 Der Name ‚Godman‘ wird so im Laufe der Serie zunehmend Programm. 33 5. Agency, Choice und das kapitalismuskritische Potenzial der Fernsehserie Alex’ Rückbesinnung auf seine russischen Wurzeln endet damit, dass er die einstige Wohnung seiner Familie in einer tristen Moskauer Plattenbausiedlung aufsucht. Eine Frau (Madlen Dzhabrailova) gewährt ihm Zutritt in die ärmlichen Räume, und die beiden wechseln einige Worte. Vor dem Hintergrund der Handlung und insbesondere der Rolle der Familie wirkt der Dialog, der sich entspinnt, mehr als ironisch: „‚A чем вы занимаетесь? ‘ ‚Я банкир.‘ ‚Банкир, это хорошо. Вы заработаете, можете помогать семи.‘“ (E8 0: 53; „‚Was sind Sie von Beruf ? ‘ ‚Ich bin Banker.‘ ‚Banker, das ist gut. Da können Sie Ihrer Familie helfen‘“, Übersetzung der Verf.) Der Abgrund an Bedeutung, der sich hinter diesen harmlosen Worten auftut, ist symptomatisch für die Art und Weise, wie das organisierte Verbrechen in McMafia Alex’ Identität unterwandert und 107 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="108"?> schließlich vereinnahmt: Zu diesem Zeitpunkt ist er eher ein führender Kopf der Mafia als ein Banker, und um seine Familie allein geht es längst nicht mehr. Hierin sieht der Regisseur von McMafia, James Watkins, den besonderen Reiz der Serie und des Buches von Misha Glenny. Das Buch erfasse den Zeitgeist gerade dadurch, dass es die Grenzen zwischen Legalität und Kriminalität verwische - „the corporate becoming criminal and the criminal corporate“ (McMafia, Bonus, „The McMafia World“ 0: 01). Diese Doppelgesichtigkeit setzt sich in McMafia auch auf der Darstellungs‐ ebene in der Schnitttechnik und Szenenfolge fort, die immer wieder Simultane‐ ität suggerieren. Auf das erwähnte brutale ‚knee capping‘ in der Wüste folgt in der Sequenz der Handlung die Veranstaltung des ‚ethischen Kapitalisten‘ Sydney Bloom im British Museum; während Vadim und seine Tochter eine Hundeausstellung besuchen, erleidet Lyudmilla die Pein ihrer Entführung; wäh‐ rend die entführten jungen Frauen im Angesicht ihres ungewissen Schicksals in einer Bauruine verzweifelt schluchzen, feiern Alex und Rebecca mit Gästen eine Party; und während Rebecca im Rahmen der „Bloom Foundation Lectures: Business Ethics & Capitalism“ ihre Rede zum ‚ethischen Kapitalismus‘ hält, reist Alex nach Versailles, um Vadim zu treffen. All diese Szenen beleuchten die Schattenseiten der glänzenden Fassade des Konsums, dessen globale Dimension Alex’ Mutter auf den Punkt bringt: „Anyway, the whole world is the same now. Gucci here, Gucci there.“ (E8 0: 50) Szenenwechsel wie diese entfalten eine Suggestivität, die in Kombination mit der historischen Tiefendimension der Serie eine machtvolle Wirkung auf die Zuschauer zu entfalten vermag, vielleicht mehr noch als es in der Gattung der Erzählprosa möglich wäre. Die Wirkmacht der Ambivalenz gipfelt in der Darstellung von Alex und dessen moralischer Bewertung, die bis zuletzt zwischen gegensätzlichen Polen oszillieren. Da weite Teile der Handlung aus Alex’ Perspektive fokussiert sind, fungiert er für die Zuschauer als zentrales Orientierungszentrum, gestattet aber keine unproblematische Identifikation. Zu vieles bleibt im Dunkeln, und seine zunächst moralische Motivation wird zunehmend vom Streben nach Macht überlagert. Wieder und wieder jedoch betonen unterschiedliche Figuren Alex’ moralischen Kern. Sein Vater bekräftigt gegenüber Rebecca, „You married a good Godman“ (E6 0: 32), und selbst der eher außenstehende Karel Beneš (Karel Roden), Alex’ tschechischer Geschäftspartner, bestätigt diese Einschätzung: „You’re a good man. This isn’t your world. I’m sorry you got mixed up in it. But this business turns us into people we don’t like.“ (E6 0: 47) Auch Alex selbst beteuert gegenüber Rebecca im Hinblick auf seine früheren Ideen zu moralischer Integrität, in Abgrenzung von der Vergangenheit seiner Familie: „I still believe in those things.“ (E4 0: 54) Gleichzeitig verteidigt er sein eigenes 108 Caroline Lusin <?page no="109"?> 34 Kleiman führt ein ähnliches Argument an, wenn er gegenüber Alex konstatiert: „That’s how they corrupt you - they let you think you’re making all the decisions, but in the end, they get what they want“ (E4 0: 01). 35 „Because of his wealth, Bulstrode is linked directly or indirectly to every character in the novel, and he influences everyone in town“ (Otis 94). Handeln im Gespräch mit Mishin mit dem Argument: „I haven’t always had a choice.“ (E8 0: 31) 34 So ergibt sich das Bild eines außengelenkten Individuums, das eher reagiert denn agiert. Die Außengelenktheit entsteht hier allerdings nicht, wie der amerikanische Soziologe David Riesman in The Lonely Crowd (1950) für die moderne US-amerikanische Gesellschaft befand, durch „normierende Einflüsse von Massenmedien, die Abhängigkeit der Einzelnen von der Meinung anderer und von den gesellschaftlichen Normen und Konventionen“ (Liebsch 121); vielmehr sind es die Netzwerke der globalen Kriminalität als prototypische Repräsentanten kapitalistischer Prinzipien, gegen die Alex sich zu behaupten sucht. Auch da erweist er sich als Erbe der Corleones: „In typical modern fashion the increasingly modern world that the Godfather does everything to control ends up by increasingly controlling him.“ (Pardini) Spätestens am Ende der Serie findet sich Alex Godman so unausweichlich in einem unsichtbaren (vgl. Böhme 26) Netzwerk aus Familienbindungen, finanziellen Verpflichtungen und Vergangenheitsbezügen wieder, wie es schon die Figuren in George Eliots Middlemarch (1872) entscheidend bestimmte: Nicht umsonst bildet die Idee eines vielgestaltigen ‚web‘ die zentrale Metapher des Romans (vgl. Otis 81-119), gleichsam in Vorausschau darauf, dass das ‚Netz‘ und das ‚Netzwerk‘ zu „kulturellen Leitmetaphern der modernen Gesellschaft und ihrer Wissenschaften“ (Böhme 26) werden sollten. Schon zur viktorianischen Zeit, in der sich auch erste Tendenzen zur Finanzialisierung zeigen (vgl. Korn‐ bluh 942), ist der Cash Nexus allgegenwärtig. So spielt Geld in Middlemarch, wie schon in Balzacs Le père Goriot, eine wesentliche Rolle, denn alle Fäden laufen bei dem Bankier Nicholas Bulstrode zusammen. 35 Der Reichtum des nur scheinbar unbescholtenen Bürgers allerdings stammt aus dem Verkauf gestohlener Güter - er ist sozusagen der ‚Pate‘ in der fiktiven mittelenglischen Kleinstadt, in der sich die modernen Netzwerke des globalen Kapitalismus bereits andeuten. Bulstrodes puritanische Religiosität hat ihre Parallele in Alex’ strenger Wirtschaftsethik, und beide werden letztlich zum Mörder. Der Aspekt der persönlichen agency steht hier wie dort in Frage: „For there is no creature whose inward being is so strong that it is not greatly determined by what lies outside it“ (Middlemarch 838), befindet Eliots Erzähler im Finale. McMafias Alex Godman ist hierfür zweifellos ein glänzendes Beispiel. Es ist jedoch Ausweis der Qualität beider Werke, dass sie eindeutige Schuldzuweisungen verweigern. 109 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="110"?> Ihr Ziel ist ein anderes: „to examine the mixture of external circumstances and personal choice that determines the success or failure of lives that are always solitary yet also always connected“ (Henry 90). Gerade hierin liegt auch die Wirkmacht ihrer Kritik an den Netzwerken des Kapitalismus. Bibliographie Primärliteratur: Balzac, Honoré de. Vater Goriot. Übersetzt von Franz Hessel. Gobseck. Übersetzt von Alice und Hans Seiffert. Oberst Chabert. Übersetzt von Alice Seiffert, Aufbau-Verlag, 1984. Der Pate: The Coppola Restoration [The Godfather]. Regie von Francis Ford Coppola, Paramount, 2008. Eastern Promises. Regie von David Cronenberg, BBC, 2007. Eliot, George. Middlemarch. Herausgegeben mit einem Vorwort und Anmerkungen von Rosemary Ashton, Penguin, 1994. McMafia. Staffel 1. Regie von Hossein Amini und James Watkins, BBC, 2018. Puzo, Mario. The Godfather. G. P. Putnam’s Sons, 1969. Sekundärliteratur: „Eine Zukunft für die Riesen der Donau.“ WWF, www.wwf.at/ de/ stoer/ . Aufgerufen 5 März 2020. „Key Stage 2: Ancient Egypt.“ The British Museum, www.britishmuseum.org/ learn/ scho ols/ ages-7-11/ ancient-egypt. Aufgerufen 5 März 2020. „London’s hottest properties - converted mews houses.“ Lurot Brand, www.lurotbrand. co.uk/ news/ latest-news/ 37-london-mews-insights/ 910-londons-hottest-mews---con verted-mews-houses. Aufgerufen 5 März 2020. Böhme, Hartmut. „Einführung: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruk‐ tion.“ Netzwerke: Eine Kulturtechnik der Moderne, herausgegeben von Jürgen Barkhoff et al., Böhlau, 2004. S. 17-36. Comte-Sponville, André. Kann Kapitalismus moralisch sein? Diogenes, 2009. Epstein, Gerald A. „Introduction: Financialization and the World Economy.“ Financializa‐ tion and the World Economy, herausgegeben von demselben, Edward Elgar Publishing Ltd, 2005. S. 3-16. Glenny, Misha. McMafia: A Journey through the Global Criminal Underworld. Vintage Books, 2009. Henry, Nancy. The Cambridge Introduction to George Eliot. Cambridge UP, 2008. Kornbluh, Anna. „The Economic Problem of Sympathy: Parabasis, Interest, and Realist Form in Middlemarch.“ English Literary History, 77.4 (2010). S. 941-67. 110 Caroline Lusin <?page no="111"?> Larke-Walsh, George S. Screening the Mafia: Masculinity, Ethnicity and Mobsters from The Godfather to The Sopranos. McFarland & Company, 2010. Liebsch, Katharina. „Identität und Identifikationen.“ Soziologische Basics: Eine Einführung für pädagogische und soziale Berufe, herausgegeben von Albert Scherr, Springer, 2013. S. 119-25. Marsh, Nicky. Money, Speculation and Finance in Contemporary British Fiction. Conti‐ nuum, 2007. Otis, Laura. Networking: Communicating with Bodies and Machines in the Nineteenth Century. The U of Michigan P, 2001. Pardini, Samuele F.S. „In the Name of the Father, the Son and the Holy Gun: The Godfather and Modernity.“ Americana: E-Journal of American Studies in Hungary, 11.2 (2015), http: / / americanaejournal.hu/ vol11no2/ pardini. Aufgerufen 27 Okt. 2019. Pasco, Allan H. „Balzac, Money and the Pursuit of Power.“ The Cambridge Companion to Balzac, herausgegeben von Owen Heathcote und Andrew Watts, Cambridge UP, 2017. S. 67-80. Poon, Phoebe. „Morality and Legality in Francis Ford Coppola’s The Godfather Trilogy.“ Philament: Surveillance, 10 (2007). S. 26-45. —. „The Corleone Chronicles: Revisiting The Godfather Films as Trilogy.“ Journal of Popular Film and Television, 33.4 (2006). S. 187-95. Riesman, David mit Nathan Glazer und Reuel Denney. The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character. Yale UP, 1953. Rottwilm, Christoph. „Keine Moral, keine Vernunft, keine Gemeinschaft.“ Manager Magazin, 7 Juli 2017, www.manager-magazin.de/ finanzen/ boerse/ g20-und-boerse-3-g ruende-warum-die-kapitalismus-gegner-recht-haben-a-1156190-2.html. Aufgerufen 5 März 2020. Schütz, Birger. „Die Könige der Unterwelt.“ Moskauer deutsche Zeitung, 3 April 2019, https: / / mdz-moskau.eu/ die-koenige-der-unterwelt/ . Aufgerufen 5 März 2020. Stubbs, David. „McMafia: was it TV’s answer to The Godfather or a dull dud? “ The Guardian, 12 Feb. 2018, www.theguardian.com/ tv-and-radio/ 2018/ feb/ 12/ mcmafia-w as-it-tvs-answer-to-the-godfather-or-a-dull-dud. Aufgerufen 27 Okt. 2019. Thomson, Frances und Sahil Dutta. „Financialisation: A Primer.“ Transnational Institute, 6 Jan. 2016, www.tni.org/ files/ publication-downloads/ primer_financialisation-01-16. pdf. Aufgerufen 17 Juni 2017. Verhaeghe, Paul. „Der neoliberale Charakter.“ der Freitag: Die Wochenzeitung, 43 (2014), www.freitag.de/ autoren/ the-guardian/ der-neoliberale-charakter. Aufgerufen 5 März 2020. 111 Macht, Markt und Moral in der BBC-Serie McMafia (2018) <?page no="113"?> II. Über das Wie der Kritik <?page no="115"?> Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in der Anthologie Mindstate Malibu (2018) Katja Holweck Kurt Prödel @KurtProedel 10. Nov. 2017 Köln, Dom 1 BEttler kniet auf den boden &bettelt der domplatz ist menschenleer es läutet die messe ist vorbei 1000 Gründer aus den Sillicon Valley kommen aus dem Dom heraus sie sehen dem bettler & würden gerne in ihn investieren aber er passt nichts in ihr portfolio Alle weimen Joshua Groß et al., Mindstate Malibu (316) 1. Zum Verhältnis von Literatur und Kritik in der jungen deutschen Gegenwartsliteratur Die Frage danach, inwiefern Literatur gesellschaftliche Relevanz für sich be‐ anspruchen kann, ist wohl keine neue, erweist sich aber als ungebrochen aktuell. So sind die Themen, zu denen Literatur in unserer komplexen Gegen‐ wart Stellung beziehen kann, zahlreich: Kapitalismus, Globalisierung, soziale Ungleichheit, Diskriminierung et cetera prägen den Alltag jedes Einzelnen. Das öffentliche Bedürfnis nach einer Analyse und einer Diskussion des gesellschaft‐ lichen Status quo, nach einem Nachdenken über Alternativen - gerade von einem intellektuellen Standpunkt aus - ist dementsprechend groß (vgl. Wagner). Ein Blick auf das deutsche Feuilleton zeigt, dass die gesellschaftliche Rolle der Literatur, ihre Möglichkeiten Kritik zu üben und in bestehende Verhältnisse einzugreifen, ein sowohl von Schriftsteller_innen wie auch von der Literatur‐ <?page no="116"?> 1 Billers kryptisch anmutender Titel erklärt sich dadurch, dass im Artikel insbesondere Saša Stanišić und dessen kurz zuvor erschienener Roman Vor dem Fest (Luchterhand Literaturverlag, 2014) zur Zielscheibe der Kritik wurden. Kritisiert wurde, dass der aus Bosnien stammende Autor in seinem Debüt Wie der Soldat das Grammofon repariert (Luchterhand Literaturverlag, 2010) mit der Verhandlung des Bosnienkriegs noch gesellschaftlich brisante Themen aufgegriffen hätte, sich aber bereits mit seinem zweiten Roman, für den er als Schauplatz ein Dorf in der Uckermark wählte, an die vermeintlich apolitische Haltung seiner Schriftstellerkolleg_innen angepasst hätte. Da Biller in seinem Artikel die deutsche Literatur aufgrund ihrer in seinen Augen schwindenden Relevanz als „todkranke[] Patient[i]n“ bezeichnet, lässt sich der Titel dahingehend interpretieren, dass für ihn auch der in seinen Augen ‚systemkonforme‘ kritik kontrovers diskutiertes Thema ist. Verwiesen sei beispielsweise auf die vor wenigen Jahren geführte „Kesslerdebatte“: 2014 lieferte der Schriftsteller und Literaturkritiker Florian Kessler in seinem in der Zeit erschienenen Artikel „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! “ eine überaus kritische Bestandsauf‐ nahme der jungen deutschen Gegenwartsliteratur. Dieser warf er vor, allgemein zu „brav und konformistisch“ zu sein, sich einer kritischen Haltung zu verwei‐ gern und in der Folge keine gesellschaftliche Relevanz mehr beanspruchen zu können. Die Ursache hierfür sah Kessler darin, dass die in den Schreibschulen von Hildesheim und Leipzig ausgebildeten deutschen Nachwuchsautor_innen zum Großteil aus demselben saturierten, bildungsbürgerlichen Milieu stammen würden und der Literaturbetrieb in seiner Gesamtheit ein sich selbst reprodu‐ zierender, elitärer Zirkel sei. Erfolg haben würden in diesem nur diejenigen, die sich an das herrschende Geschmacksdiktat anpassen und eben nicht auf Agonalität setzen. Kessler, selbst Hildesheimer Absolvent, beschrieb in diesem Zusammenhang den „Heintje-Effekt der deutschen Literatur: Immer jüngere Autoren verhalten sich immer braver immer älter“. Wenn es „bei Literaturwett‐ bewerben […] zu Texten mit gesellschaftlicher Dringlichkeit“ käme, so der Autor weiter, „bedeutet das alles Mögliche, bloß keine Repolitisierung der deutschsprachigen Literatur“. Durch den Sachverhalt, in Ärzte-, Lehrer- oder Juristenfamilien aufgewachsen und somit durch das Kapital des Elternhauses finanziell abgesichert zu sein, seien die Jungautor_innen weder selbst von gesellschaftlichen Missständen betroffen noch für die existentiellen Sorgen der weniger Privilegierten sensibilisiert - was laut Kessler dazu führe, dass eine „satte Form von ästhetischer Bürgerkinder-Anspruchslosigkeit“ die deutsche Gegenwartsliteratur präge. Der provokative Artikel sorgte für rege Diskussionen und erfuhr ebenso Zustimmung wie energischen Widerspruch. Neben Florian Kessler war der Schriftsteller Maxim Biller einer der Hauptakteure der Debatte. In seinem Ar‐ tikel „Letzte Ausfahrt Uckermarck“, 1 der ebenfalls in der Zeit erschien, tat auch 116 Katja Holweck <?page no="117"?> Stanišić sich an der ‚Grablegung‘ der deutschen Literatur beteilige, indem er mit seiner zweiten Veröffentlichung nicht nur seine Leser_innen in die Brandenburger Peripherie, sondern auch die Gegenwartsliteratur durch eine gefällige Themenwahl ins (gesellschaftliche) Niemandsland führe. 2 Hierzu Solty/ Stahl: „Diese also durchaus politisch motivierte Debatte wurde vom Groß-Feuilleton relativ schnell abgewürgt, und zwar auf eine ganz einfache Weise: Die sozialkritischen Implikationen wurden einfach außen vor gelassen und die Diskussion allein auf die ziemlich uninteressante, weil geschmäcklerische Frage verlegt, ob die deutsche Literatur gut oder schlecht sei. […] Die kritischen Anmerkungen zu Erschei‐ nungsbild und Funktionsweise des literarischen Felds wurden […] restlos ignoriert, die Debatte mit Verweis auf ihren rekursiven Charakter (‚kommt alle paar Jahre mal wieder auf…! ‘) für unnötig erklärt“ (12). er seinen Unmut über die angeblich unpolitische deutsche Gegenwartsliteratur kund und qualifizierte letztere in diesem Zug als „unglaublich langweilig“, „kraftlos[]“ und „provinziell[]“. In seiner Polemik sah Biller die Wurzel allen Übels darin, dass eine kleine Gruppe von Agenten, Verlegern und Händlern den Literaturbetrieb dominiere und jegliche Diversität und kritische Töne unter‐ drücke. Literarische Innovationen würden einzig die Texte von Autor_innen mit Migrationshintergrund versprechen - doch auch diese würden es letztendlich vorziehen, sich anzupassen, statt „die Freiheit [ihrer] […] Fremdperspektive zu nutzen“, um sich ihrer verwerfungsreichen Gegenwart zu stellen und in ihren Werken den gesellschaftlichen Status quo kritisch zu hinterfragen. Nachdem Biller mit seinem Artikel den Disput also weiter anfachte und politisierte, seine und Kesslers Thesen in der Presse und in den sozialen Netzwerken rege diskutiert wurden, versank die Diskussion über das gesellschaftskritische Potential der jungen deutschen Gegenwartsliteratur nach knapp drei Monaten wieder im Feuilleton, 2 um dort jedoch weiter zu schwelen. 2. Kapitalismus/ Kritik in Mindstate Malibu: Zum Gegenstand und zur Agenda dieses Beitrags Von der oben knapp skizzierten Debatte lässt sich der Bogen vom Jahr 2014 in die Gegenwart und zum Gegenstand des vorliegenden Beitrags schlagen - denn es zeigt sich, dass auch knapp fünf Jahre später das Verhältnis von Kritik und literarischer Praxis immer noch ein spannungsreiches ist: Im Spät‐ jahr 2018 ist es erneut die Zeit, welche die Diskussion über das angeblich fehlende kritische Potential der jungen deutschen Gegenwartsliteratur aufgreift. Besprochen wird unter dem auf Billers Artikel explizit Bezug nehmenden Titel „Letzte Ausfahrt Malibu“ (Eimermacher) ein kurz zuvor erschienenes Werk, das kaum dem von Kessler und Biller skizzierten Bild einer in „Ästhetik und 117 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="118"?> 3 Das Feuilleton erklärte in Anbetracht der Vielzahl an einschlägigen Publikationen die Kapitalismuskritik - nicht ohne kritischen Unterton - gar zu den „beliebtesten und berüchtigtsten Geistern der Gegenwartsliteratur“. Björn Hayer in seinem in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Artikel weiter: „Nachdem eine Wirtschafts-, Banken- und Rettungskrise auf die nächste folgt, ist Kapitalismuskritik zum erfolgsversprechenden Gassenhauer avanciert. […] [M]ehr und mehr gewinnt man den Eindruck, dass die li‐ terarische Kapitalismuskritik zu einer Projektionsfläche geworden ist, auf der sämtliche gesellschaftlichen Prozesse - angefangen beim digitalen Wandel, bei der Verstädterung, dem demografischen Wandel bis hin zur Veränderung von Geschlechterbilden - verhandelt werden“. Themenwahl an[ge]pass[t]en“ (Biller), unkritischen Gegenwartsliteratur zu entsprechen scheint: So schreibt sich die von Joshua Groß, Johannes Hertwig und Andy Kassier in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg herausgegebene Anthologie Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus (2018) auf die Agenda, das vermeintlich überkommene Engagement der Literatur neu zu beleben und insbesondere für ein jüngeres Publikum wieder attraktiv zu machen. Hierzu versammelt der Band die Arbeiten einer jungen Riege von Kunstschaffenden, die gleichermaßen spielerisch wie kritisch gesellschaftliche Fragestellungen verhandeln und dabei - wie zu zeigen sein wird - einen unkonventionellen Zugriff wagen. In den Fokus der heterogenen Beiträge rückt hierbei insbesondere ein Sujet: die alle Lebensbereiche durchdringende kapitalistische Wirtschaftsordnung unserer Gegenwart. Dieser thematische Schwerpunkt mag zunächst kaum sonderlich innovativ anmuten, blickt doch gerade die literarische Kapitalismus‐ kritik auf eine lange Tradition zurück. Auch lässt sich gegenwärtig beobachten, dass dieses Thema genreübergreifend die Literaturschaffenden umzutreiben scheint, ja sich eines regelrechten ‚Booms‘ erfreut - was kaum verwundern mag, steht doch die Brisanz des Sujets angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrisen der vergangenen Jahre außer Frage (vgl. Kunisch; Häring). 3 Als unkonventionell erweist sich Mindstate Malibu tatsächlich weniger in Hinblick auf den gewählten Gegenstand als auf den vorgeschlagenen Umgang mit ihm. Artikulieren will die Anthologie ihre kapitalismuskritische Haltung nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern auf undogmatische Weise und mit neuer Formensprache - eben mit dem im Titel angekündigten „Mindstate Malibu“: unterhaltsam und spielerisch, oszillierend zwischen Scherz- und Ernsthaftigkeit. Eingeschrieben wird sich dabei inhaltlich wie formal in die Traditionslinien der Popliteratur. So spiegelt Mindstate Malibu die von neuen Medienformaten geprägte Erfah‐ rungswelt der am Band Beteiligten, mit ihren Texten und Bildern „[z]itieren, [p]rotokollieren, [k]opieren und [i]nventarisieren“ (Schumacher 13) jene ihren multimedial geprägten Alltag. Neben jüngeren, unbekannteren Autor_innen, 118 Katja Holweck <?page no="119"?> 4 Martin Eimermacher dazu in seiner Rezension: „Wenn sie nicht gerade Literaturpreise entgegennehmen (Setz), für Titanic schreiben (Werner) oder Musikvideos produzieren, in denen animierte Delfine zu sphärigem Nuschel-Rap über Palmeninseln flattern (Prödel), erreichen manche der Autoren mit ihren 280-Zeichen-Aphorismen auf Twitter ein Millionenpublikum und beeinflussen die Popkultur der Republik. Zu ihren Fans gehören auch Altstars von Jan Böhmermann bis Jan Delay“. 5 Im Folgenden werden alle Belege für Mindstate Malibu im Fließtext unter Verweis auf die Seitenzahlen angeführt. die sich durch die Veröffentlichung nun einem größeren Publikum vorstellen, finden sich auch bereits in der popkulturellen Szene etablierte Autoren wie beispielsweise Clemens Setz, Leif Randt, Rafael Horzon, Dax Werner oder Kurt Prödel. 4 Um was geht es in diesem Band nun konkret? Die in Mindstate Malibu versammelten Beiträger_innen eint ein kritischer Blick auf das kapitalistische Gesellschaftssystem unserer Gegenwart und die Intention, dieses über ihre künstlerische Praxis zur Diskussion zu stellen. Zur Zielschreibe ihrer Kapita‐ lismuskritik werden hierbei insbesondere der Neoliberalismus und seine Aus‐ wüchse: die mit ihm verbundene Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, der gesellschaftliche Zwang zu (Selbst-)Optimierung, ‚Performance‘ und Wett‐ bewerb sowie insbesondere die dem Neoliberalismus eigene Sprache, die jene Ideen vermittelt und verbreitet. Hinsichtlich der Umsetzung ihrer Kritik teilen sie die Überzeugung, dass eine Opposition in Form einer radikalen Ablehnung des Status quo sowie eines Festhaltens an einer vermeintlich klaren Rollenver‐ teilung (die Kritikübenden auf der einen Seite, die Kritisierten auf der anderen) nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei. Stattdessen plädieren die Beitragenden dafür, sich der eigenen Teilhaberschaft am Kapitalismus bewusst zu werden - sei doch in einer ‚hyperkapitalistischen‘ Welt, die sich jegliche Kritik einverleibt und sie vermarktbar macht, kein kritisches Außen mehr möglich. Die einzig überzeugende Form des Widerstands sei es nach Mindstate Malibu, die eigene Teilhaberschaft zu nutzen, um mittels subversiver Affirmation Kritik zu üben: In Anschluss an das Roland Barthes’sche Diktum „Ist die beste Subversion nicht die, die bestehenden Codes zu entstellen, statt zu zerstören? “ eignen sich die Autor_innen das (Bild-)Vokabular des Neoliberalismus strategisch an, um diesen zu unterwandern und dabei nicht zuletzt zu verhandeln, wie in unserer Gegenwart noch gesellschaftskritische Kunst zu schaffen ist (Mindstate Malibu 18-9). 5 Geliefert wird mit der Anthologie, wie sich hier bereits andeutet und im Fol‐ genden an Text- und Bildmaterial aufgezeigt werden soll, ein Plädoyer für eine sich als engagiert verstehende Literatur, die an der Formierung einer kritischen Öffentlichkeit Anteil nimmt. Beleuchtet werden soll im Rahmen dieses Beitrags, 119 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="120"?> wie in Mindstate Malibu Kapitalismuskritik im Medium der Literatur konkret Form annimmt. Leitend wird hierbei die Frage sein, welcher ästhetischen Strate‐ gien sich die Beitragenden bedienen, um ihre Gesellschaftskritik zu artikulieren und inwiefern diese Strategien Innovationspotential aufweisen. In den Fokus der Analyse soll gleichermaßen die Faktur des Gesamttexts wie, exemplarisch, die einzelner Beiträge rücken, auf deren formale Vielfältigkeit bereits verwiesen wurde. Zurückführen lässt sich die formale Heterogenität der Anthologie auf den für die Beitragenden und deren künstlerische Praxis besonderen Stellenwert des Internets. So wird dieses einleitend als „Ausgangsbasis“ (18), als Inspirations‐ quelle und Sammelpunkt der Kunstschaffenden bezeichnet. Das Internet dient den Beitragenden als Experimentierwerkstatt, um ihre Formensprache, ja Poetik zu entwickeln. In der Folge haben die im Netz gebotenen medialen Formate auf verschiedene Art Eingang in den Band gefunden. Untersucht soll werden, welche Rolle jenes für den künstlerischen Schaffensprozess, für die Vernetzung der Kunstschaffenden sowie für deren Austausch mit dem Publikum spielt. Ebenso wird danach gefragt, warum sich trotz der ‚Internetbegeisterung‘ für eine Publikation in Printform entschieden wurde. Auf Basis einer Analyse von Form wie Inhalt des Bandes soll abschließend in den Blick genommen werden, inwiefern Mindstate Malibu - insbesondere durch die Verbindung von digitalem und analogem Text- und Bildmaterial - einen spannungsreichen Vorschlag dazu liefert, wie sich mittels künstlerischer Praxis eine kapitalismuskritische Haltung artikulieren lässt. 3. Ein „unfreiwilliges Generationenporträt“ - Fragen der Faktur Mindstate Malibu ist im Herbst 2018 erschienen und wird seit der Veröffentli‐ chung von Seiten des Feuilletons als das neue Generationenbuch gehandelt, soll es doch die Geisteshaltung oder, mit dem Titel des Bandes gesprochen, den „Mindstate“ der twentie something unserer Zeit artikulieren (vgl. Eimermacher; Stephan). Auch im Klappentext wird der Band als „Manifest für die Jungen“ und „unfreiwilliges Generationenporträt“ etikettiert, er verspricht folglich - zumindest laut Verlag - die geteilten Wirklichkeitserfahrungen einer Genera‐ tion zu repräsentieren. Dieses ‚Etikett‘ mag aus literaturwissenschaftlicher Sicht wohl verwundern, lässt sich doch kaum antizipatorisch festlegen, welcher Text tatsächlich zum Generationenbuch wird. So lässt sich dieses Genre - wenn es ernst genommen beziehungsweise darüber definiert wird, dass es das Denken und Fühlen einer Gruppe zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt literarisch zu kondensieren vermag - doch nur in der Rückschau, mit Wissen um den (Verkaufs-)Erfolg bei eben jener Generation zuweisen. Ob Mindstate 120 Katja Holweck <?page no="121"?> Malibu tatsächlich an wirkmächtige Texte wie beispielsweise Kurt Pinthus’ Anthologie Menschheitsdämmerung von 1919, Rolf Dieter Brinkmanns Acid von 1975 oder an den 1999 von Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre veröffent‐ lichten Gesprächsband Tristesse Royale anknüpfen kann, wie das Feuilleton in Aussicht stellt (vgl. Stephan), oder das erfolgsversprechende Etikett vielmehr aus marketingstrategischen Gründen von Seiten des Verlags ‚usurpiert‘ wurde, wird die Rezeption des Bandes noch zeigen. Aufschlussreicher als die von außen beziehungsweise von Verlag und Literaturkritik vorgeschlagenen Ein‐ ordnungen und Wertungen erweist sich ohnehin der Blick auf die von den Her‐ ausgebern einleitend vorgenommene Konzipierung des Bandes als „Anthologie“ (18), womit weniger das Portraitieren einer Generation als die Absicht einer ‚Blütenlese‘ beziehungsweise Werkschau der sich zur „neue[n] Avantgarde“ (ebd.) erklärenden Beiträger_innen in den Fokus rückt: Mindstate Malibu lässt sich so als eine Sammlung ausgewählter Texte verstehen, die darauf zielt, den Leser_innen einen Einblick in das Schaffen der Beiträger zu ermöglichen, deren Geschmack widerzuspiegeln und somit indirekt den Zeitgeist beziehungsweise ein sozial- und mentalitätsgeschichtliches Moment im Medium der Literatur zu dokumentieren. Wie in den einleitenden, die eigene Vorgehensweise beschreibenden Essays artikuliert wird, setzt die Anthologie im Rahmen ihres kapitalismuskritischen Impetus programmatisch auf Unterhaltung und (auf den ersten Blick) ver‐ gleichsweise leichte Konsumierbarkeit: Mindstate Malibu ist die Suche nach einer neuen Form, Gegenwart zu beschreiben, zu analysieren und zu kritisieren. Wavy wie Palmen, prickelnd wie Softdrinks, und mit glitzernder Oberfläche wie das Meer. […] An der Oberfläche bleibt der Mindstate Malibu. Mit möglichst viel Fun und Lust am Spiel. […] Wer auf Unterhaltung verzichtet, verzichtet auf Publikum. (19-25) Geliefert wird den Leser_innen auf 320 Seiten eine Collage verschiedener Text- und Bildformen, die „sowohl abbilden als auch einordnen, an welchen avantgardistischen Sprachspielen im deutschen Internet aktuell so gewerkelt wird“ (Eimermacher). Neben Essays und Interviews finden sich Beiträge aus den sozialen Medien wie Twitter und Instagram, Chatverläufe, Zeichnungen und Fotostrecken. Durch das knappe Format der einzelnen Beiträge, die ‚poppige‘ Aufmachung des Bandes (durch eine bunte Farbgestaltung, den Wechsel von Bild- und Textmaterial, das leserfreundliche Layout), die formale wie inhaltliche Anlehnung an digitale Kommunikationsformen (beispielsweise durch die For‐ mulierung von Aphorismen in Tweet-Form, das co-writing einer Kurzgeschichte 121 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="122"?> in einem Chat, das wiederholte ‚Durchbrechen‘ des Fließtexts durch Fotografien und Screenshots) und die Arbeit mit der Alltagssprache als Material wird insbesondere ein jüngeres Publikum adressiert. Wenn der Band trotz der eben skizzierten formalen Gestalt dem Bereich der Gegenwartsliteratur zugeordnet werden soll, kommt somit an dieser Stelle ein recht weit gefasster Begriff von Literatur zur Anwendung. So arbeitet die Anthologie nur marginal mit ‚schöner‘, fiktionaler und ästhetisch geformter Literatur und spielt über ihre Faktur mit der Frage danach, was überhaupt als Literatur zu bezeichnen ist. Um gegenwartstauglich Kritik zu üben, so scheint der Band im Sinne des McLuhan’schen Ausspruchs „the medium is the message“ über seine Form zu kommunizieren, muss auf vergleichsweise unkonventionelle Formen von Literatur zurückgegriffen werden, wobei insbesondere das Internet als ‚Text‐ produktionsmaschine‘ fungiert. 4. „Dieses verdammte Internet“ - Digitales und Analoges in Mindstate Malibu Zusammengeführt wurden die Beitragenden der Anthologie durch das Internet, jenes wird zur „Ausgangsbasis“ dieser „neue[n] Avantgarde“ (18) und spielt mit seinen spezifischen kommunikativen und gestalterischen Möglichkeiten demnach für den Band eine bedeutsame Rolle. So dient es den Beitragenden zur Vernetzung, zum Austausch und zur Kooperation sowie als Inspirationsquelle für ihr künstlerisches Schaffen: Das ist die neue Welt. Oder jedenfalls ein Teil von ihr. Hier passiert es, irgendwie. Hier sind die Träumer und Revoluzzer, Realisten und Creators. Hier grindet eine neue Avantgarde, die den angesammelten Datenhaufen als Ausgangsbasis nutzt und darüber hinaus ein Gegengewicht zur nicht-digitalen Wirklichkeit schafft. Mit einer Agenda und einer eigenen Poetik. (18) Mit avantgardistischem Gestus präsentieren sich die Autorinnen und Autoren in ihrem von Manifestrhetorik geprägten Vorwort als Zusammenschluss gleichge‐ sinnter Kunstschaffender, die gemeinsam eine neue Sprache und neue Formen suchen, um ihre Gegenwart zu erfassen und kritisch zur Diskussion zu stellen - ohne hierbei in gestalterischer Hinsicht auf Einheitlichkeit abzielen zu wollen: „Es ist dieser Mindstate, der alle in dieser Anthologie versammelten Menschen eint, so unterschiedlich die Ergebnisse sind.“ (19) Interessant ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass sich die Beteiligten aus ganz Deutschland und eben nicht allein aus der ‚Kunst- und Kulturhauptstadt‘ Berlin rekrutieren. Mindstate Malibu erweist sich damit als Produkt des Zusammen‐ 122 Katja Holweck <?page no="123"?> schlusses von Kunstschaffenden sowohl aus den Metropolen wie der Peripherie, was als programmatisch zu verstehen ist: „[v]on Duisburg-Marxloh bis zur Karl-Marx-Straße. Dieses Mindset kennt keine Breiten- und Längengrade“ (19). Das Streben nach Austausch lässt sich jedoch nicht nur zwischen den Beitra‐ genden feststellen, sondern auch in Hinblick auf das Publikum. Angesprochen werden über die Konzeption des Bandes insbesondere die digital natives: Mit dem Internet und dessen eigenen Kommunikationsformen vertraut, können jene die im Band genutzten Formate problemlos einordnen, sind sie doch mit den ästhetischen ‚Codes‘ vertraut und kennen wohl auch - falls sie an der deutschen popkulturellen Szene Interesse haben - zumindest einen Teil der Künstler_innen, Schriftsteller_innen, Journalist_innen, Satiriker_innen und influencer, die sich für den Band zusammengeschlossen haben. Der Sachverhalt, dass ein Teil der Beiträger_innen (wie Andy Kassier, Kurt Prödel oder Clemens Setz) mit Instagram und Twitter soziale Medien nutzen, ermöglicht nicht nur die bereits angesprochene Interaktion mit anderen Künstlern, sondern auch die mit dem Publikum - was sich als strategisch sinnvoll erweist: So sind es in erster Linie die Mitglieder der digital community, die aufmerksamkeitsökonomisch die entscheidende Rolle spielen, sorgen sie doch durch Reaktionen in Form von re‐ posts, Kommentaren et cetera aktiv für Verbreitung und demnach Wirksamkeit. Zwar kann es im Medium des Buchs zu keiner Interaktion zwischen Künstler und Publikum kommen, über die Internetpräsenz eines Großteils der Beitra‐ genden sind jedoch eine Weiterverfolgung deren künstlerischen Schaffens, ein digitales In-Verbindung-Treten und somit Anschlusskommunikation möglich. Angesichts des intermedialen Charakters des Bandes und der von den Beitra‐ genden wiederholt betonten zentralen Rolle des Internets mag es verwundern, dass für die ‚Werkschau‘ auf eine Print-Publikation zurückgegriffen und dazu die digital entstandenen Texte in Papierform überführt wurden: Zugespitzt formuliert lässt sich der Band als ‚ausgedrucktes Internet‘ zwischen zwei Buchdeckeln bezeichnen. Über die Motivation hierfür ließe sich spekulieren: Plausibel wäre beispielsweise die Annahme, dass mit der Veröffentlichung der Anthologie das Ziel verfolgt wird, auch außerhalb der digitalen Welt ein Publikum zu erreichen beziehungsweise das bisher im Internet aufgebaute und bestehende ,Netzwerk‘ denjenigen zu zeigen und zu öffnen, die sich nicht in jenen digitalen Welten bewegen, in denen sich die Beitragenden zusammenge‐ funden haben und künstlerisch aktiv sind. Ebenso mag der Gedanke einleuchten, dass die aufwendig gestaltete Anthologie dem Erarbeiteten Materialität und Dauer verleihen soll: So lässt sich zwar einerseits konstatieren, dass alles, was einmal Eingang in das Internet gefunden hat, nur schwerlich wieder daraus verschwindet; andererseits drohen wiederum einzelne Inhalte allzu schnell 123 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="124"?> 6 Für ihre Konzeption, Gestaltung und Verarbeitung gewann die Anthologie 2019 den Preis der Stiftung Buchkunst im Wettbewerb der „Schönsten Deutschen Bücher“. angeeignet, aus dem Zusammenhang gerissen und verändert zu werden oder aber auch im Überangebot an Informationen schlicht unterzugehen. Stützen ließe sich diese These mit dem Verweis auf einen der einleitenden Essays des Bandes, problematisiert dieser doch die oben genannten Charakteristika des Internets gleich zu Beginn: Dieses verdammte Internet. Ein Ort, in dem alles, was seinen Weg einmal hineinge‐ funden hat, recycelt, rekontextualisiert, manipuliert und invertiert werden kann und wird. […] Und das Heer der Aufmerksamkeitsnarzissten trifft sich im Traffic-Treib‐ sand sozialer Netzwerke. (18) Neben der unüberschaubaren Masse an digitalen Inhalten könnte auch der dem Internet eigenen Dynamik, seinem Beiträger_innen wie Inhalte verschlin‐ genden „Traffic-Treibsand“ mittels der statischen Papierform etwas entgegen‐ gesetzt werden. Dieser Interpretation zufolge ließe sich der Band als bewusste Stillstellung eines Schaffensprozesses und als dokumentarisches „Fazit […], als Rückschau auf ein popkulturelles Jahrzehnt, das sich derzeit schon wieder dem Ende zuneigt“ (Stephan), und somit als Archivierung eines kulturgeschichtli‐ chen Moments auffassen. Einer letzten hier vorgeschlagenen Lesart zufolge kann die Mindstate Ma‐ libu auszeichnende Kombination von ‚konventionell‘ und digital entstandenen Texten auch als Versuch gesehen werden, Print- und digitalem Medium zu einer Art Symbiose zu verhelfen und somit beide in ein produktives Wechsel‐ verhältnis zu bringen - was nicht zuletzt auch aufmerksamkeitsökonomisch motiviert sein mag. So funktioniert bekanntermaßen auch der Literaturmarkt nach kapitalistischen Prinzipien, denen man sich nicht entziehen kann, sofern man sein Publikum erreichen will. Die Anthologie macht die zuvor zum Großteil nur digital und demnach kostenfrei verfügbaren Inhalte, indem sie diesen über die Printform Materialität verleiht, zur Ware, die nun mit anderen auf dem Buchmarkt konkurriert. Die unkonventionelle Aufmachung der Publikation zieht den Blick der potentiellen Käufer_innen auf sich, 6 sie wird zum unique selling point, der den Band von der Konkurrenz abhebt und das Publikum vom Kauf überzeugt - selbst um den Kapitalismus zu kritisieren, gilt es also nach seinen Spielregeln zu spielen, damit die geäußerte Kritik im ‚Wettbewerb der Reichweiten‘ überhaupt ihr Publikum findet. 124 Katja Holweck <?page no="125"?> 5. Zum Konnex von Kritik und Affirmation Wie zu Beginn bemerkt, plädieren die Beitragenden dafür, sich im Hinblick auf die Einnahme und Artikulation einer kritischen Haltung der eigenen Teilhaber‐ schaft am kapitalistischen System bewusst zu werden und diese strategisch zu nutzen. Statt zur kollektiven Empörung aufzurufen, verschreibt sich Mindstate Malibu in der Folge einer Kritik mittels Affirmation: Diese Grind-Gang weiß, dass der Neoliberalismus die Ablehnung, die ihm entgegen‐ schlägt, bereits mitdenkt, und nur mit und aus sich selbst heraus geschlagen werden kann. Die Verhandlung der Gegenwart auf breiter Basis ist also möglich, in Form maximaler Affirmation. […] Je perfekter die Kritik mit ihrem Gegenstand verschmilzt, desto erfolgreicher funktioniert sie jenseits ihrer eigenen Grenzen. Man gesteht sich die eigene Unfreiheit ein, ein Teil des Marktes und damit auch auf der Seite des Gegners zu sein. Doch diese Position ist auch die einer möglichen Kritik. (18-9) Mit Kritik im Zeichen der Affirmation ist eine Form der versteckten Kritik ge‐ meint, mit der Intellektuelle wie Kunstschaffende bereits seit den 1980er Jahren arbeiten (vgl. Krieger 171) und die sich in der engagierten Gegenwartskunst einer neuen Konjunktur erfreut: In der zeitgenössischen Kunst spielen gesellschaftspolitische Themen […] eine be‐ merkenswert prominente Rolle […] - dabei ist jedoch auffällig, dass systematisch Strategien zur Vermeidung von Eindeutigkeit eingesetzt werden. […] Zwar handelt es sich um ‚engagierte Kunst‘ in dem Sinne, dass die KünstlerInnen damit durchaus ein soziales oder politisches Engagement verbinden […], doch hat diese engagierte Kunst einen vollkommen anderen Charakter als wir es von früheren Beispielen engagierter Kunst […] kennen. An die Stelle mühelos erschließbarer politischer Botschaften sind komplexe, ambivalente, übercodierte oder vollends unbestimmte Zeichenkonglome‐ rate getreten, die den Rezipienten ein Höchstmaß an Auseinandersetzungsbereitschaft und -fähigkeit abverlangen und vielfach auch nach längerer Deutungsaktivität nicht auf eine bestimmte Aussage hin entschlüsselbar sind. (Krieger 160-1) Will Kunst in der Gegenwart also Kritik üben beziehungsweise politisch sein, dann tut sie dies zumeist nicht mehr mit der ‚Holzhammermethode‘, also durch die Propagierung unmissverständlicher politischer Botschaften, sondern sie setzt programmatisch auf Uneindeutigkeit. Statt mit klar entschlüsselbaren Botschaften wird mit der Kombination von Widersprüchen, der Vermeidung eindeutiger Aussagen und spielerischer Nichtfestlegbarkeit gearbeitet, kurz, mit Ambiguität. Verabschiedet wird damit eine Idee der Künstler_in als moralische 125 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="126"?> 7 Vgl. hierzu erneut Eimermacher: „Mindstate Malibu, das bedeutet: Alles wegaffirmieren. Mitspielen und irgendwann den Stecker ziehen. Sich unter falscher Flagge durch die Kabelschächte graben und Internetdiskurs um Internetdiskurs kapern. […] Gleichwohl sind die Taktiken aus Mindstate Malibu, ähnlich wie die Mikrofilme der Geheimagenten im Kino, mit einem Mechanismus versehen: Bevor man ihrer Bedeutung habhaft werden kann, zerstören sie sich. Und irgendwann, so hofften die Autoren, haben sie die Verhältnisse derart untergraben, dass der herrschende Jargon in sich zusammenfällt“. Instanz, das Publikum stattdessen eigenverantwortlich zur kritischen Reflexion des Gezeigten angehalten. Eine spezifische Spielart der Ambiguität stellt das Konzept der ‚subversiven Affirmation‘ dar, mit der sich die ästhetischen Strategien von Mindstate Malibu fassen lassen. Wer Kritik mittels subversiver Affirmation übt, lehnt den Status quo zwar entschieden ab, zeigt seine Ablehnung jedoch nicht offen, sondern tarnt diese durch (scheinbare) Affirmation. Um Kritik zu üben, gibt man vor, das, was man eigentlich kritisiert, zu vertreten, um es dadurch jedoch zu unterlaufen. Gearbeitet wird hierbei zumeist mit einer Form des reclaiming: Vorgefundene Diskurse werden sich angeeignet und verfremdet, um damit dekonstruktive Effekte zu generieren. Damit Kunst im Zeichen der subversiven Affirmation jedoch als subversiv wahrgenommen wird, muss ihr kritisches Moment erkannt werden. Benötigt wird ein affirmierendes und ein die Affirmation störendes Element. Dieses sorgt bei den Rezipient_innen für Irritation und macht deutlich, dass das Gezeigte dechiffriert werden muss, die ‚Botschaft‘ weniger unmissver‐ ständlich ist, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die scheinbare Affirmation soll dadurch letztendlich in ihr Gegenteil umschlagen: Ziel der subversiven Affirmation ist es, durch Kritik in Gestalt vermeintlicher Affirma‐ tion das Publikum zu einer aktiven Auseinandersetzung und letztendlich zur Selbstaufklärung anzuregen (vgl. Krieger 174-9). Wie bereits angedeutet, nutzen die Beitragenden im Rahmen ihrer Gesell‐ schaftskritik Strategien, die Momente der Irritation und Störung aufweisen. Mit der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt der Kritik, kapitalistischen Akteuren und Gegnern, soll gebrochen oder, besser, gespielt werden. Konkret äußert sich dies bei Mindstate Malibu so, dass sich der neoliberale Diskurs, seine Sprache und seine Bilder anverwandelt werden, indem diese neu kontextuali‐ siert und in der Folge umcodiert werden: 7 Überaffirmation ist sich bewusst, dass Systemkritik Teil des Systems ist. Also lässt sie diese links liegen und verhält sich maximal konform - so sehr, dass das System im Spiegel zu seiner eigenen Fratze wird. […] Aus dem Kontext gerissene Muster in einem anderen Kontext, ein wissendes Bejahen mit kritischem Gestus also, das kann das System heißlaufen lassen. (34-5) 126 Katja Holweck <?page no="127"?> Bereits in Hinblick auf die Wahl des Titels und des Covers lässt sich diese Vorgehensweise beobachten: Abb. 1: Cover des Bandes Mit dem plakativ auf dem Umschlag platzierten Begriff des „Mindstate“ wird ein neoliberales buzzword aufgegriffen, das zumeist dann in einschlägiger Ratgeberliteratur Verwendung findet, wenn es um die Voraussetzungen des individuellen (Geschäfts-)Erfolgs geht: So verspricht eine Ausrichtung der eigenen Geisteshaltung, Denkweise und Einstellung auf das zu erreichende Ziel, dieses letztendlich auch zu erreichen. Der Schlüssel zum Erfolgt liegt damit im unternehmerischen Selbst begründet und zwar nicht nur in dessen Wissen und Fähigkeiten, sondern insbesondere in dessen mentaler Optimierung. In Kombination mit dem Zusatz „Malibu“ mag das Publikum wohl in diesem Fall einen Mindstate assoziieren, der sich dem sorgenlosen good life verschreibt - verbindet man doch mit Malibu wohl in erster Linie eine amerikanische Bilderbuchkulisse von zerklüfteten Küsten und endlosen Sandstränden sowie den Luxuswohnort all jener, die es (zumindest finanziell) ‚geschafft‘ haben und kaum von existentiellen Nöten geplagt sind. Passend dazu mögen die 127 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="128"?> Abb. 2: Tweet Startup Claus (316) Gegenstände und Farben auf dem Cover zunächst erscheinen, erinnern sie doch an tropische Palmen im Sonnenuntergang. Jedoch lassen sich beim zweiten Blick Störmomente ausmachen: Ein genaueres Hinsehen und das Aufschlagen des Bandes eröffnen den Leser_innen, dass es sich beim Gezeigten nicht um eine paradiesische Strandkulisse handelt, sondern, weitaus weniger glamourös, lediglich um Zimmerpflanzen im Licht der Neonröhren - so finden sich ein‐ deutige, die Illusion aufhebende Fotografien eben dieses Arrangements in der Anthologie wieder (95, 104, 108). Wie verhalten sich also Titel und Cover zueinander? Deutlich wird, dass dem mit dem „Mindstate Malibu“ assoziierten Feel-Good-Versprechen eine eher triste Alltagswirklichkeit gegenübersteht, Schein und Sein auseinanderklaffen - was sich auch als Lektüreanweisung an das Publikum des Bandes verstehen lässt, gilt es doch statt passiv zu konsumieren einen Blick unter die Oberfläche zu werfen und zu hinterfragen, ob ‚Hülle‘ und eigentlicher Inhalt korrespondieren oder auseinandergehen. Augenfällig wird somit bereits hier, dass der erste Blick ein trügerischer sein kann und nur eine intensivere Auseinandersetzung den Rezipient_innen Text- und Bildmaterial erschließt. Dass dies für den Band in seiner Gesamtheit programmatisch ist, lässt sich ebenso am Beispiel eines der zahlreichen, den Band eröffnenden und schließenden Tweets aufzeigen: In seinem Text, den man als ‚Aphorismus in Tweet-Form‘ bezeichnen könnte, betreibt die Kunstfigur Startup Claus ein Spiel mit dem neoliberalen Busi‐ ness-Kasper-Sprech und verschreibt sich dem ‚Kapern‘ von Diskursen. Typi‐ sche Phrasen des kapitalistischen Argots werden sich angeeignet, in neue Zusammenhänge gebracht und gehen in der Folge in den sozialen Medien wie Twitter ,viral‘, werden geliked und geteilt. Rezipiert man einen solchen Tweet, mag man sich die Frage stellen, welche Aussageintention hinter ihm steht: Ist dieser Satz ernst, zynisch oder ironisch gemeint? Handelt es sich um einen Witz, eine Blödelei zu Unterhaltungszwecken? Oder wird hierbei Kritik geübt: Kritik am Arbeitsmarkt, am Umgang mit Arbeitssuchenden, an einer Gesellschaft, die sich zunehmend durch ungleiche Vermögensverhältnisse in 128 Katja Holweck <?page no="129"?> ‚Gewinner‘ und ‚Verlierer‘, Großverdiener und Niedriglöhner segregiert? Ver‐ birgt sich hinter Startup Claus ein Kapitalismuskritiker, hinter seinem Text ein gesellschaftskritischer Impetus? Die Rezipient_innen werden wohl zur Einsicht kommen, dass sich die Frage nach Ernst oder Unernst nicht mit Sicherheit beantworten lässt. Gesetzt wird mit dem Oszillieren zwischen Affirmation und Subversion demnach auf Nicht-Festlegbarkeit, ja Widerspenstigkeit. Zum Ziel wird es, Störfaktoren zu erzeugen - und zwar durch das Spiel mit Symboliken, Ästhetik und Codes. Als Störfaktoren identifizierbar sind die durch Sprecher, Ko- und Kontext aufkommenden Irritationsmomente. Während der Satz „Die erste Million ist die schwerste“ zunächst kein Innovationspotential aufweist, wirkt der (die boo‐ mende junge Gründerbeziehungsweise Startup-Szene aufs Korn nehmende) Name des Sprechers, der Vorschlag der Wandtattoo-Form und der Platzierung buchstäblich ‚fehl am Platz‘. Die dadurch hervorgerufene Irritation lenkt den Blick auf die Ausgangsbotschaft, deren problematischer Inhalt - ‚zur Kenntlich‐ keit entstellt‘ - den Leser_innen erst jetzt ins Auge sticht: So greift der Tweet implizit die neoliberale Idee der Meritokratie auf, der zufolge jeder den Platz in der Gesellschaft besetzt, den er sich erarbeitet und somit verdient hat. In dieser Logik sind die Arbeitssuchenden ausnahmslos selbst für ihr Schicksal verantwortlich, was ein Vorführen jener, wie es der Tweet auf den ersten Blick anstrebt, vermeintlich legitimiert. Der Spruch nimmt diese Rhetorik auf und führt nicht nur ihre Geschmacklosigkeit, sondern auch ihre Unzutreffendheit vor, verweist er doch mit seinem Inhalt auf den zentralen Fehler unseres Wirtschaftssystems, das soziale Ungleichheit generiert und verstärkt - und eben nicht den individuellen Verdienst bei Chancengleichheit zum Maßstab erklärt: Wenn die erste Million die schwerste ist, bedeutet dies, dass jemand, der eine Million hat, leichter sein Vermögen vergrößern kann, als jemand, der keine Million hat. Oder pointiert: Wer hat, dem wird gegeben. Während Reiche bei gleicher Leistung immer reicher werden, werden Arme immer ärmer. Am Beispiel des Tweets lässt sich somit feststellen, dass subversive Affirma‐ tion im Sinne eines ‚performing the system‘ auf das Sichtbar-werden-lassen von Strukturen setzt, um das Publikum zu einer kritischen Reflexion anzuregen. Das kapitalismuskritische Moment muss hierbei erst durch die Rezipient_innen aufgedeckt werden. Statt eine klare Botschaft vermittelt zu bekommen, muss das Publikum sich kritisch mit dem Gezeigten beschäftigen und eigenständig eine Haltung beziehen. Angestrebt wird somit eine Selbstaufklärung des Publikums: Die Notwendigkeit, den Text zu dechiffrieren, um hinter seine eigentliche Aussageabsicht zu kommen, ‚zwingt‘ die Leser_innen, sich intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. 129 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="130"?> Ausgegangen wird im Rahmen der Kritikübung über Affirmation also von einem ‚emanzipierten‘ Publikum, das diese Selbstaufklärung leisten kann. Ob dies jedoch vorausgesetzt werden kann, lässt sich hinterfragen. Tatsächlich sind mit der Affirmation ‚Risiken und Nebenwirkungen‘ verbunden, die nicht außer Acht gelassen werden sollten: So stellt die Affirmation stets eine Repräsentation und Fortschreibung der eigentlich zu kritisierenden Missstände dar, die kritische Absicht läuft Gefahr, nicht erkannt zu werden und sich somit nicht gegenüber der Affirmation behaupten zu können. Um dies zu erläutern, zwei Aufnahmen aus der von Andy Kassier zum Band beigesteuerten Fotostrecke: Abb. 3: Andy Kassier, „naked snow“ (74-5) Unter der Überschrift „Success is just a smile away“ liefert der Künstler und influencer Andy Kassier eine Reihe von Fotografien, die sich ganz seiner Person sowie seinem extravaganten Lebensstil widmen und sich in der Folge als regelrechte Werbekampagne in eigener Sache perspektivieren lassen. In ver‐ schiedenen Settings (so beispielsweise beim Golfspiel, neben einem Sportwagen, beim Detox unter Palmen) präsentiert sich Kassier als ein in Luxus schwelgendes Mitglied der High Society. Die unter seinen Selbstportraits platzierten neolibe‐ 130 Katja Holweck <?page no="131"?> ralen Bekenntnisse („My competitors buried me under tons of stones. I just stand up, shake off the dust and go on. They call me the Grinder, cause even stones ain’t hard enough for me.“, 78) unterstützen das Bild des in allen Lebensbereichen exzellierenden selfmade man, der sein Publikum zum einen an seinem Erfolg teilhaben lassen will und zum anderen dieses durch motivational speeches wie „Taking risks and succeeding makes you a winning player. Never forget that you could have become a tree instead of a human, so be happy in every second of your life. Just be yourself “ (71) bei der Selbstoptimierung nach seinem Vorbild zu unterstützen sucht. Mit der Ästhetik und Themenwahl seiner Bilder knüpft Kassier an einschlä‐ gige Instagram-Accounts wie „Rich Kids of the Internet“ an, deren Inhalte sich ganz der Ausstellung des dekadenten Lebensstils von Jugendlichen und jungen Erwachsenen widmen und damit (an der Zahl der follower und Werbepartner gemessen) großen Erfolg haben. Auch Kassier verbreitet die im Band abgedruckten Aufnahmen via Instagram, erreicht damit insbesondere ein junges, formbares Publikum und affirmiert - wenn der parodistische Impetus nicht erkannt wird - einen sich der Oberflächlichkeit und dem Ma‐ terialismus verschreibenden Lebensstil. So mag das auf der oben abgedruckten Aufnahme zu sehende ethisch fragwürdige Tragen eines Pelzes, der zur Schau gestellte Körperkult und der offenkundige Drang, sich seiner Umwelt möglichst aufsehenerregend und an außergewöhnlichen Orten zu zeigen, auf den ersten, oberflächlichen Blick vermeintlich ‚authentisch‘ wirken und auf Bewunderung, gar Nachahmung zielen. Nur denjenigen Rezipient_innen, die genau hinsehen und eben nicht nur mit oberflächlichem Blick die Bilderflut auf Instagram oder auch im Band überfliegen, erschließen sich die Fissuren in der Selbstinszenierung Kassiers: So zeigt sich, dass der influencer mit seinem Selbstportrait auf dem schneebedeckten Gipfel den Trend zur digitalen Selbstdarstellung und -vermarktung nicht nur buchstäblich auf die Spitze treibt, sondern noch darüber hinaus, um ihn in der Folge kollabieren zu lassen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Irritieren und zum Hinterfragen anregen mag neben dem widersinnig anmu‐ tenden Sachverhalt, den Portraitierten zwar in einen Mantel gehüllt, jedoch mit dem Gesäß nackt im Schnee sitzend zu sehen, das auf dem Foto in Szene gesetzte Spiel mit den ikonographischen Traditionslinien der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit, welche nicht zuletzt in Werbeaufnahmen immer wieder aufs Neue zitiert werden. Während das exponierte Thronen auf dem Berggipfel, der Blick in die Ferne und die stolze Entblößung des durchtrainierten und behaarten Oberkörpers die Virilität des Portraitierten in Szene setzt, scheint die Kombination aus edlem Pelz und Nacktheit verführerisch-gefähr‐ 131 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="132"?> liche Femininität auszustellen, wohingegen die grazil überschlagenen Beine als Ausdruck weiblich konnotierter Schamhaftigkeit gedeutet werden können, die der ‚Zeigefreude‘ oberhalb der Gürtellinie entgegenläuft. Angesichts des Spiels mit Virilität und Femininität, der Zurschaustellung und des Verbergens, der Pose und der (fehlenden) Bekleidung, wird deutlich, wie Kassier bei seiner Selbstdarstellung Geschlechterstereotype und -klischees aufruft, diese jedoch nur zum Teil inszeniert und sich gegenseitig konterkarieren lässt: Statt des perfekten Bildes nach dem Vorbild ‚glatter‘ Werbeästhetik passen die einzelnen Bildelemente nicht zusammen, sorgen für Irritation und stören damit die Kassier’sche Selbstinszenierung. Festhalten lässt sich demnach Folgendes: Dem nur flüchtig Betrachtenden zeigt die Aufnahme Kassier als reichen Lebemann, der im Luxus schwelgend buchstäblich über den Niederungen des Alltags thront und es sich leisten kann, sich auf diese außergewöhnliche Art und Weise zu präsentieren. Interpretieren lässt sich die Fotografie in dieser ‚Lesart‘ als Dokument digitaler Selbstdarstel‐ lung, die gleichermaßen dazu dient, den Narzissmus des Portraitierten wie den Wunsch des Publikums nach nichtalltäglichem Bildmaterial zu befriedigen. Der genauere Blick zeigt jedoch, dass die Selbstdarstellung Kassiers eben nicht dieses Programm mit affirmativer Absicht verfolgt, sondern vielmehr auszustellen und zu unterlaufen sucht. So erweist sich, dass die Aufnahme nicht eine ‚au‐ thentische‘ Abbildung seiner Individualität liefert, sondern als eine par la force betriebene Selbstinszenierung zum Zwecke der eigenen Selbstvermarktung zu verstehen ist. Als Prototyp des unternehmerischen Selbst macht sich Kassier zu einem Produkt, das es zu verkaufen und dementsprechend zu bewerben gilt: Gesetzt wird hierzu vordergründig auf vermeintliche Nicht-Alltäglichkeit, letzt‐ endlich bedient sich der Künstler bei der Inszenierung seiner Selbst jedoch eines obsessiv um den Moment des Erfolgs und Selbstverwirklichung kreisenden und demnach stereotyp anmutenden neoliberalen (Bild-)Vokabulars. Durch dessen hyperbolischen Einsatz und dessen Unterwanderung durch Störmomente wie in der obigen Abbildung wird bei Kassier die digitale Selbstinszenierung ridiküli‐ siert und somit ausgehöhlt. 132 Katja Holweck <?page no="133"?> Abb. 4: Andy Kassier, „africa high (tennis)“ (84-5) Auch beim zweiten Bild, das sich nachgeordnet in der Bilderstrecke im Band findet, lassen sich subversive Elemente in der Inszenierung des Kassier’schen good life entdecken. Zwar zeigt sich der influencer erneut als vermeintliches Mitglied der High Society, geht er doch ganz in weiß auf einer von exotischen Palmen gesäumten Sportstätte in edler Ausrüstung und akkurat frisiert einer recht elitären Freizeitbeschäftigung nach. Aber auch hier ist ein Störmoment auszumachen: Kassier präsentiert sich zwar auf den ersten Blick in athleti‐ scher, seinen Körper optimal zur Schau stellender und dabei den berühmten „Becker-Hecht“ (einen in Hechtsprung geschlagenen Volley) zitierender Gewin‐ nerpose, offenkundig hat er jedoch den Tennisball knapp verpasst, statt des sonst plakativ ausgestellten Erfolgs wird sein Publikum zum Zeugen eines Moments des Scheiterns. Das Verharren Kassiers erweist sich als gleichermaßen gestellt wie widersinnig: So scheint der Ball, der Schlägerhaltung und Blickrichtung zufolge, offenkundig aus dem Off gekommen oder zumindest von Kassier, womöglich die Spielregeln nicht beherrschend, von dieser Seite erwartet worden zu sein - was die Frage aufwirft, ob der Portraitierte sich hier überhaupt im Ballwechsel befindet oder nicht vielmehr sein ‚Spiel‘ mit den Betrachtenden 133 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="134"?> 8 Gerade in ihrer ‚Fehlerhaftigkeit‘ erinnert auch diese Aufnahme an die Ästhetik von Werbefotografien, die auf den ersten Blick vermeintlich perfekte Bilder liefern, jedoch des Öfteren peinliche Fehler aufweisen: So beispielsweise Werbeanzeigen für Werkzeuge, Musik- oder Sportinstrumente, die in der Werbeanzeige falsch verwendet, gespielt oder gehalten werden. treibt. 8 Das Bild des in allen Bereichen erfolgreichen ‚Alphamanns‘ wird durch die Aufnahme in Frage gestellt, der sich um den Ball vergeblich bemühte Selbstdarsteller der Lächerlichkeit preisgegeben und damit die (realitätsferne) Inszenierung im Rahmen der Selbstdarstellung vorgeführt: Ob der Ball getroffen und der Punkt gemacht wird oder man stattdessen strauchelt und stürzt ist nebensächlich - Hauptsache, so ließe sich zugespitzt formulieren, man sieht dabei gut aus. Ein Blick auf die Gesamtheit der Kassier’schen Fotostrecke zeigt, dass nicht alle Arbeiten Kassiers ein Moment der Irritation, wie es anhand der beiden Aufnahmen beschrieben wurde, aufweisen. In diesem Zusammenhang ein letztes Beispiel: Abb. 5: Andy Kassier, „work out“ (90-1) Auch hier lässt Kassier sein Publikum an seinem exklusiven Lebensstil teilhaben: Während andere sich in überfüllten Fitnessstudios plagen, stählt Kassier mü‐ 134 Katja Holweck <?page no="135"?> 9 Demnach wäre der einleitend genutzte Begriff der „maximalen“ Affirmation (18) zu problematisieren - so weist die maximale Affirmation keinen Irritationsmoment mehr auf, was dem Publikum in der Folge eine Dechiffrierung des kritischen Impetus nahezu unmöglich macht und somit das kritische Moment zum Verschwinden bringt. helos und in sein Spiegelbild versunken seinen bereits optimierten Körper; ein Störmoment ist hierbei nur schwerlich auszumachen. Das durch seine stilvolle Farbgestaltung, den symmetrischen Aufbau und die formvollendete Pose den Eindruck von Perfektion vermittelnde Bild zeigt somit, dass es eines Wissens um die ‚Gesamtperformance‘ des Künstlers beziehungsweise dessen künstlerische Praxis bedarf, um die damit verfolgte Intention zu verstehen - sonst bleibt die intendierte Kritik den Betrachtenden womöglich verborgen, das subversive Moment unerkannt. Festhalten lässt sich demnach, dass Kritik im Zeichen der Affirmation auf eine Selbstaufklärung des Publikums zielt: Statt den omnipräsenten Neoliberalismus beziehungsweise dessen Einfluss auf die individuelle Konzipierung des eigenen Selbst anzuklagen, überlassen es die Kunstschaffenden den Rezipient_innen sich ein Urteil zu bilden. In der Konsequenz zeigt sich, dass der subversiven Affirmation eine gewisse moralische ‚Unabgeschlossenheit‘ innewohnt - wird das subversive Moment nicht identifiziert, läuft der kritische Impetus ins Leere; statt einer Schwächung erfolgt eine Stärkung des eigentlich abzulehnenden Systems. Daraus ergibt sich der Schluss, dass mit dieser anspruchsvollen Form von Kritik stets eine „Segregierung des Publikums nach seinem Vermögen zur Dechiffrierung“ (Krieger 179) miteinhergeht, erschließen sich die ästhetischen Codes womöglich nicht jedem. Mit Blick auf die Konzipierung des Bandes lässt sich jedoch festhalten, dass eine ‚Fehllektüre‘ der in der Anthologie versammelten Arbeiten dem Publikum nur schwerlich möglich ist. So liefern die einleitenden Essays sowohl eine Selbstverortung des Bandes wie Erläuterungen zur eigenen Agenda und geben so eine Lektüreanweisung und Rezeptionshal‐ tung vor. 9 Ebenso weisen die Beiträge durch ihre Rahmung wie beispielsweise den Sachverhalt, dass der Band beim unabhängigen Verlag Starfruit Publications erschienen ist, und durch die am Ende des Bandes gelieferten Informationen zu Vita und künstlerischer Praxis der Beteiligten allesamt Störmomente auf, die den Leser_innen kaum nahelegen, jene als tatsächliche Affirmation des Kapita‐ lismus zu verstehen. Lesen könnte man die Anthologie demnach auch als eine ‚Gebrauchsanweisung‘ für eine (weitere) Begegnung mit den künstlerischen Arbeiten außerhalb des Bandkontextes. 135 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="136"?> 6. Kapitalismus, Kritik und die Frage nach deren Reichweite Konstatieren lässt sich auf Basis der oben geleisteten Analyse, dass Mindstate Malibu im Rahmen seiner Kritikübung ebenso an Traditionslinien anknüpft wie einen innovativen Zugriff wagt. So ist eine Kritik in Form von Affirmation keine neue, von den Beiträger_innen des Bandes entwickelte Praxis, sie wird aber über den mit ihr verhandelten Gegenstand und die gewählte Formensprache aktualisiert. In diesem Zusammenhang ist abschließend auf die bereits ange‐ sprochene Bedeutsamkeit des Internets sowie das Spannungsfeld zwischen den (zuvor) digital verfügbaren Inhalten und ihrer Zusammenstellung in Printform zurückzukommen. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Kapitalismus kaum noch einzelne Akteure und konkrete Feindbilder festzumachen sind und somit jener dem Individuum vermeintlich als undurchsichtiges, anonymes System gegenübertritt, nutzen die Beitragenden das Internet, um eine kritische Öffentlichkeit im Sinne eines Gegengewichts zu formieren: „Es geht darum ebenso dezentral zu agieren wie ein Netzwerk, und als Bewegung so viele Teil‐ öffentlichkeiten mit Inhalten zu fluten, bis eine kritische Masse erreicht ist.“ (35) Die Mechanismen des ‚Gegners‘ adaptierend, wird es zum Ziel, das ‚gegnerische System‘ zu unterwandern und so dem Kapitalismus und dessen eigener infla‐ tionärer Textproduktion etwas entgegenzusetzen. In Printform dokumentiert wird dieses Netzwerk vorerst geschlossen und stillgestellt; mit der Publikation präsentieren sich die Beitragenden ihrem Publikum als geschlossener Kreis. Spätestens hier erweist sich das Verhältnis zwischen avantgardistischem Gestus und angestrebter ‚Mobilmachung‘ der Gesellschaft als spannungsreich, versteht sich die Avantgarde allgemein doch gerade in ihrer elitären Abgrenzung von der ‚breiten Masse‘ (vgl. van den Berg/ Fähnders 12): So strebt sie zwar nach der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, aber nicht nach deren direkter Teilhabe - diese wird erst wieder möglich, wenn die im Band zu beobachtende Bewegung von der digitalen in die analoge Welt wieder in die gegensätzliche Richtung läuft. Beabsichtigt wird - um zu einem Fazit zu kommen - beim Aufruf zum „Mindstate Malibu“ beziehungsweise einer kapitalismuskritischen Haltung im Zeichen der subversiven Affirmation nicht eine konkrete Formulierung von Ideen, Wünschen und Forderungen, über die sich eine Gemeinschaft außerhalb des Bandkontextes konstituieren kann. Statt auf den Entwurf von Utopien setzen die Autoren, wie gezeigt wurde, auf eine Ästhetik der Störung, die die Beobachter_innen zum Nachdenken über den eigenen Blick auf sowie die eigene Rolle im kapitalistischen System anregen soll - ob dadurch der Kapitalismus von innen heraus unterwandert werden kann, bleibt abzuwarten. 136 Katja Holweck <?page no="137"?> Bibliographie Primärliteratur: Groß, Joshua et al., Herausgeber. Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Starfruit Publications, 2018. Sekundärliteratur: Berg, Hubert van den und Walter Fähnders. „Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahr‐ hundert - Einleitung.“ Metzler Lexikon Avantgarde, herausgegeben von denselben, Metzler Verlag, 2011. S. 1-19. Biller, Maxim. „Letzte Ausfahrt Uckermark.“ Die Zeit, 20 Feb. 2014, www.zeit.de/ 2014/ 09 / deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Eimermacher, Martin. „Letzte Ausfahrt Malibu: Ein Sammelband zeigt, was gegen die immer gleichen Debatten hilft.“ Die Zeit, 28 Nov. 2018, www.zeit.de/ 2018/ 49/ mindsta te-malibu-kapitalismus-internet-buch. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Häring, Norbert. „Die Systemfrage kehrt zurück - Fünf Bücher zum Thema Kapitalismus‐ kritik.“ Handelsblatt, 11 Juli 2019, www.handelsblatt.com/ arts_und_style/ literatur/ buchtipps-zum-thema-kapitalismus-die-systemfrage-kehrt-zurueck-fuenf-buecher-z um-thema-kapitalismuskritik/ 24574882.html? ticket=ST-1319873-c0KdUX7ZptJKBH Wea7sQ-ap4. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Hayer, Björn. „Das Geld verschlingt uns.“ Neue Zürcher Zeitung, 30 Apr. 2016, www.nzz.c h/ feuilleton/ literatur-und-kapitalismuskritik-das-geld-verschlingt-uns-ld.17116. Auf‐ gerufen 15 Aug. 2019. Kessler, Florian. „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! “ Die Zeit, 16 Jan. 2014, ww w.zeit.de/ 2014/ 04/ deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Krieger, Verena. „Ambiguität und Engagement: Zur Problematik politischer Kunst in der Moderne.“ Blindheit und Hellsichtigkeit: Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft der Gegenwart, herausgegeben von Cornelia Klinger, Akademie-Verlag, 2014. S. 159-88. Kunisch, Hans-Peter. „Kapitalismuskritik: Smartphones bitte umgehend entsorgen.“ Die Zeit, 10 Apr. 2015, www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2015-04/ literatur-kapitalismus-kritik. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Rüdenauer, Ulrich. „Engagierte Literatur: Die Rückkehr des politischen Romans.“ SWR2 Wissen, 5 Okt. 2017, www.swr.de/ swr2/ literatur/ engagierte-literatur,broadcast‐ contrib-swr-30354.html. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Schumacher, Eckhard. Gerade Eben Jetzt: Schreibweisen der Gegenwart. Suhrkamp, 2003. Solty, Ingar und Enno Stahl. „Vorwort.“ Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik, herausgegeben von denselben, Verbrecher Verlag, 2016. S. 8-19. 137 Zum Konnex von Kapitalismus und Kritik in Mindstate Malibu (2018) <?page no="138"?> Stephan, Felix. „Performance am Limit.“ Süddeutsche Zeitung, 26 Nov. 2018, www.sueddeu tsche.de/ kultur/ literatur-und-internet-performance-am-limit-1.4217249. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Wagner, Sabrina. „Symposium ‚Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik‘: Gute Li‐ teratur findet ihr Publikum.“ Tagesspiegel, 20 Apr. 2015, www.tagesspiegel.de / kultur/ symposium-schriftsteller-kapitalismus-kritik-gute-literatur-findet-ihr-publik um/ 11658180.html. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Cover Mindstate Malibu, Groß, Joshua et al., Herausgeber. Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Starfruit Publications, 2018. Abb. 2: Tweet Startup Claus, Groß, Joshua et al., Herausgeber. Mindstate Malibu: Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Starfruit Publications, 2018. Abb. 3: Andy Kassier, naked snow, 2014. Abb. 4: Andy Kassier, africa high (tennis), 2015. Abb. 5: Andy Kassier, work out, 2018. 138 Katja Holweck <?page no="139"?> Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos Sina Schuhmaier and whose world is it? If it belongs to these corporates the People are left on the doorstep. Kae Tempest, Let Them Eat Chaos (43) Wonder why we worship cars and clothes, man We don’t own land so we’re stuck in no man’s „Kano - A Roadman’s Hymn Lyrics“ 1. The Condition of England: Kapitalismuskritik damals und heute Zu Hard Times, harten Zeiten, erklärte Charles Dickens seine Gegenwart mit dem gleichnamigen Roman von 1854, ein Titel, der sich gleichermaßen für jedes Werk anbieten würde, das dem Condition of England-Genre zuzurechnen ist. Im Zentrum dieser Gattung steht die Diagnose gesellschaftlicher Missstände, welche Dickens auf eine zunehmende Mechanisierung und Rationalisierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sphäre zurückführt, Prozesse, die er einer organisch wachsenden Vorstellungskraft und zwischenmenschli‐ chen Werten antagonistisch gegenüberstehen sieht. Das unverhohlene Ziel Dickens’ satirisch zugespitzter Gesellschaftskritik ist die liberale politische Ökonomie seiner Zeit, allem voran das Laissez-faire-Prinzip und der Utilita‐ rismus, mittels welcher sich ein zweckorientiertes Kosten-Nutzen-Kalkül in alle Lebensbereiche einschreibt, oder jene verdrängt, die mit dieser allumfassenden Ökonomisierung nicht kompatibel sind. Dickens knüpft damit an die Kulturkritik des viktorianischen Universalge‐ lehrten Thomas Carlyle an, dem er seinen Roman widmet, und wiederholt insbesondere das Argument eines ‚Zeitalters der Mechanisierung‘, das Carlyle in seinem Essay „Signs of the Times“ (1829) ausformuliert hatte. Es war auch Carlyle, der in seiner Schrift Chartism (1839) den Begriff der ‚Condition of <?page no="140"?> 1 Diese tritt freilich nicht in allen Werken zutage, die dem Genre zugerechnet werden, darf aber zu jenen konstitutiven Merkmalen des Genres gezählt werden, die auch die gestalterischen Möglichkeiten späterer Ausprägungen umreißen. 2 1845 beschrieb der Romancier und spätere Premierminister Benjamin Disraeli mit seinem Industrieroman Sybil; or, The Two Nations eine Kluft zwischen arm und reich, die der zweier separater Nationen gleichkomme. Neben dieser ungebrochen aktuellen Gleichung ist man heute geneigt, eine vergleichbare Spaltung zwischen ‚remainers‘ und ‚leavers‘ auszumachen. 3 So etwa wenn die Austeritäts-Maßnahmen der 2010er Jahre, auf die ich im Folgenden noch weiter eingehe, arme Bevölkerungsschichten weiter verarmen lassen. England-Frage‘ prägte, der dem literarischen Genre seinen Namen gab. Jene übersetzt sich in die Frage nach der Lage der Arbeiterklasse Englands, der sich wenige Jahre später auch Friedrich Engels zuwandte; eine Klasse, die im frühen industriellen Kapitalismus ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, unsicheren Arbeitsbedingungen und elendigen Wohnsituationen ausgesetzt ist. So entsteht das Condition of England-Genre mit dem ‚Industrieroman‘ der 1830er bis 50er Jahre, welcher sein Augenmerk dezidiert auf die Arbeiterklasse, Fabrikarbeit - insbesondere Kinderarbeit - und das Verhältnis zwischen Arbeiter und Fabrikbesitzer richtet. Mit der Reformierung dieser Verhältnisse in sukzessiven Factory Acts (vgl. Simmons 338, 343-4, 350) wird der Condition of England-Roman mitnichten „all but superfluous“, praktisch überflüssig, wie James Richard Sim‐ mons Jr. aus der Warte des 21. Jahrhunderts argumentiert (349); das Romangenre wendet sich seither zahlreichen aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen zu und erlebt gerade im neuen Millennium ein veritables Comeback (vgl. Lusin, „The Condition of England Novel“ 247). Was die zeitgenössischen Diagnosen der Lage der Nation mit ihren viktoria‐ nischen Vorläufern eint, so eine erste, basale These dieses Beitrags, ist eine im Genre angelegte Kritik am Kapitalismus. 1 Wo der viktorianische Industrieroman überhaupt erst als Reaktion auf die Herausbildung des industriellen Kapita‐ lismus entstand, porträtieren heutige Condition of England-Texte nach wie vor eine Nation, die in arm und reich gespalten ist (vgl. ebd. 259); 2 sie betrachten nach wie vor die Auswirkungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems (und dessen Krisen) auf die Arbeits- und Lebensbedingungen des Individuums, und sie analysieren noch immer den Einfluss dieses Wirtschaftssystems auf die Norm- und Wertvorstellungen der Gesellschaft. Dreh- und Angelpunkt der gegenwärtigen Kritik ist der Neoliberalismus wie er in den 1980er Jahren unter der Regierung Margaret Thatchers initiiert wurde, und welcher nicht nur gesellschaftliche Ungleichheit generiert (und deren Abgehängte stigmatisiert), 3 sondern auch ein Regime errichtet, das das Ökonomische privilegiert und Wert auf dieser Grundlage zu- oder abspricht. So prangert beispielsweise John 140 Sina Schuhmaier <?page no="141"?> 4 Der Begriff, welcher der Natur spekulationsgetriebener Finanzmärkte Ausdruck ver‐ leiht, wurde im deutschsprachigen Raum zuletzt von Hans-Werner Sinn popularisiert, der unter dem Titel Kasino-Kapitalismus: Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist (2009) die Hintergründe der Finanzkrise untersucht. 5 Geld durchdringt nicht nur Lanchesters Roman, sondern hat sich zu einem zentralen Gegenstand zeitgenössischer Condition of England-Texte entwickelt (vgl. Lusin, „The Condition of England Novel“ 248; „Surviving Boom and Bust“ 80). 6 Zu nennen ist vor allem die britische Tradition des sozialen Realismus (social realism), insbesondere das sogenannte ‚kitchen sink drama‘ und dessen Erbe mit aktuelleren Filmen wie Shane Meadows’ This Is England (2006) oder Ken Loachs I, Daniel Blake (2016). Lanchesters Roman Capital (2012), den J. Russell Perkin in dieser Hinsicht ganz zurecht als „Dickensian“ beschreibt, vor dem Hintergrund der Finanzkrise von 2008 die Allgegenwärtigkeit monetärer Werte an sowie einen rücksichtslosen, von der modernen Finanzwirtschaft eingeläuteten ‚Kasino-Kapitalismus‘, 4 in dem es für jeden Gewinner zahlreiche Verlierer und nichts dazwischen gibt. Ganz abgesehen von der Referenz zu Marx zeigt Capital die Dominanz des Kapitals über nationale Geschicke bereits im doppeldeutigen Titel an, welcher die Hauptstadt London - und metonymisch die gesamte Nation - mit ‚Kapital‘ überlagert. 5 Während sich neben dem Roman längst auch Theaterstücke, Filme, und Fernsehserien der Condition of England zuwenden, 6 sind es Songtexte, die heutzutage den womöglich populärsten Kommentar zur Lage der Nation liefern. Mit den Zeilen „This is England / This knife of Sheffield steel / This is England / This is how we feel“ („The Clash - This Is England Lyrics“) leisten The Clash 1985 einen Abgesang auf die britische Stahlindustrie im postindustriellen Zeitalter und halten der Thatcher-Ära zugleich einen düsteren Spiegel vor. Wo ein Messer aus Sheffield-Stahl einst Sinnbild der Prosperität und industriellen Vormachtstellung Englands war, signalisiert es nun innerstädtische Gewalt und Unsicherheit. Der Titel „This Is England“ fungiert damit als Korrektiv jener patriotischen Bilder Englands, die die Thatcher-Regierung propagiert. Unterdessen verweist der Songtext mit der Nennung der einstigen Stahlmetro‐ pole Sheffield auf das Gefälle zwischen Nord und Süd, welches den ärmlichen, (post-)industriellen Norden vom wohlhabenden, ländlichen Süden Englands trennt. Damit knüpft „This Is England“ an die Ursprünge des Condition of England-Genres und insbesondere Werke wie Elizabeth Gaskells North and South (1854) an, welches die literarische Repräsentation Englands, die sich allzu schnell im pastoralen Süden erschöpft, um den industriellen Norden erweitert und den Fokus vom Adel oder traditionell wohlsituierten Gesellschaftsschichten auf die Arbeiterklasse verlagert. 141 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="142"?> 7 Kae Tempest veröffentlichte Let Them Eat Chaos noch unter dem Namen Kate Tempest. Im Sommer 2020 gab Kae Tempest die Namensänderung und Wahl einer nicht-binären Geschlechtsidentität bekannt. 8 Fisher betont, dass gewisse anti-kapitalistische Figuren dem kapitalistischen Realismus genauso zu eigen seien wie Affirmationen desselben und konstatiert: „Far from under‐ mining capitalist realism, this gestural anti-capitalism actually reinforces it“ (12). 9 Für weitere Beiträge zum Verhältnis zwischen literarischen Texten und dem kapitalis‐ tischen Realismus, siehe Teil III dieses Bandes. In ganz ähnlicher Weise sind die zeitgenössischen Texte der englischen Rapper Kae Tempest und Kano in den Wurzeln des Genres verhaftet. Im Folgenden sollen zwei Alben näher betrachtet werden, die beide 2016 erschienen und sich beide auch als Kommentar zur Lage der Nation verstehen, Kae Tempests Let Them Eat Chaos  7 sowie Kanos Made in the Manor. In den Lyrics von Kae Tempest, Musiker_in, Lyriker_in, Roman- und Theaterautor_in, hallt insbesondere die romantische Kulturkritik Dickens’ wider, die im Spätkapita‐ lismus des 21. Jahrhunderts zugleich ihre Grenzen offenbart. Der Grime-Rapper Kano wiederum schreibt - oder rappt - das Condition of England-Genre fort, indem er sich in die literarische Tradition einschreibt und so eine wichtige Aktualisierung der Parameter des Genres vornimmt. Beide Künstler artikulieren eine Kapitalismuskritik, die den Neoliberalismus und dessen Primat des Öko‐ nomischen anprangert. Wo Kae Tempest Werte jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik einfordert, weist Kano auf die Entwertung von Subjekten hin, die - oftmals auf rassistischer Grundlage - als ‚nutzlos‘ oder ‚kriminell‘ stigmatisiert werden, und beansprucht somit wiederum die Autonomie für sich, die ihm diese Entwertungspraktiken entziehen. In diesen Unterfangen sind beide Künstler schließlich mit grundlegenden Fragen konfrontiert, die die Kapitalismuskritik heutzutage auf die Probe stellen: Wie ist (literarische) Kritik am Kapitalismus effektiv möglich, wenn das Wissen um die Perfiditäten des Kapitalismus nichts bewirkt, weil unser Vorstellungs‐ horizont vom Kapitalismus begrenzt wird, oder weil Kritik am Kapitalismus diesen nur bestätigt? Schließlich leben wir längst, möchte man Mark Fisher Glauben schenken, im ‚kapitalistischen Realismus‘, 8 welcher gedankliche Alter‐ nativen zum Kapitalismus annihiliert und sich zum einzig ‚vernünftigen‘ Modus erhoben hat, der Welt zu begegnen, die - selbstverständlich - kapitalistisch operiert. 9 Fisher zeichnet in Capitalist Realism (2009) eine düstere Prognose für die Kapitalismuskritik insbesondere in der Popmusik. In Zeiten des kapita‐ listischen Realismus vereinnahme der Kapitalismus Gegenkulturen nicht nur rückwirkend - nichts lässt sich im Kapitalismus besser vermarkten als Kritik am Kapitalismus - sondern mittlerweile auch im Vorhinein: „What we are dealing with now“, so Fisher, „is not the incorporation of materials that previously 142 Sina Schuhmaier <?page no="143"?> 10 So titelt beispielsweise der Guardian von einem „tale of two cities“, das sich im Bezirk Tower Hamlets im Osten der Hauptstadt abspiele, wo eine Lebensmitteltafel nur wenige Gehminuten entfernt von den Unternehmenssitzen großer Banken liegt (Neate). Tragische Berühmtheit erlangte auch der als nobel geltende Stadtteil Kensington als im Jahr 2017 ein Großbrand im Grenfell Tower tobte; hier vermag das Durchschnitts‐ einkommen der Anwohner_innen um das Zehnfache zu sinken, wenn man nur eine Straße überquert (vgl. Gentleman). 11 Für eine Beschreibung des Prekariats siehe beispielsweise Berthold Vogel: „Im Prekariat spiegelt sich die strukturelle, erwerbsbiografische, rechtliche und betriebliche Verste‐ tigung unsicherer Lebens- und Beschäftigungsformen. […] Wir können die Prekarier als Grenzgänger einer veränderten Arbeitswelt beschreiben“ (201). 12 Von den sozialwissenschaftlichen Debatten um Prekarisierung unterscheidet sich meine Verwendung des Begriffs insofern, als dass sie nicht das Arbeitsverhältnis zum Ausgangspunkt nimmt. seemed to possess subversive potentials, but instead, their precorporation“ (9, Hervorhebung im Orig.). Für Künstler, die der Condition of England heutzutage nachgehen - und insbesondere für Songschreiber - stellt sich also zusätzlich die Frage, ob überhaupt noch Kritik am Kapitalismus geübt werden kann, zumal wenn davon auszugehen ist, dass das Medium der Kritik das kritische Unterfangen einholt, beziehungsweise immer schon eingeholt hat. So lese ich die Songtexte Kae Tempests und Kanos auch als Metakommentar zur Frage der Möglichkeit von Kapitalismuskritik im 21. Jahrhundert. 2. Housing Crisis, soziale Entwertung und Austerity: Zur Prekarisierung der Lebensverhältnisse im neoliberalen England Das vorrangige Sujet beider Künstler ist das Leben in der englischen Hauptstadt, insbesondere in jenen Stadtteilen, die als minderprivilegiert aus dem internen Stadtgefälle hervorgehen. Wie bei Lanchester wird London hier auch immer zur Metonymie für die Nation und deren Gespaltenheit, die in der Hauptstadt in Extremen sichtbar wird. 10 Gründe für das, was ich die zunehmende Prekari‐ sierung der Lebensverhältnisse bestimmter sozialer Schichten im Vereinigten Königreich und speziell in London nennen möchte, sind in den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen vier Jahrzehnte, also der Phase des Neoliberalismus im Vereinigten Königreich, auszumachen. Mit Prekarisierung bezeichne ich nicht nur die Entwicklung eines ‚Prekariats‘ im neoliberalen Kapitalismus, also einer wachsenden Schicht, die sich unsi‐ cheren und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen beugen muss, 11 sondern im weiteren Sinne die Zuspitzung sozialer Ungleichheit und das Immer-schwie‐ riger-Werden eines gelingenden Lebens für die ‚Verlierer‘ dieser Ungleichheit. 12 Gefasst werden soll mit dem Begriff ein sich verschärfender Wegfall von 143 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="144"?> 13 Eine literarische Personifizierung des ASBO liefert Martin Amis mit seiner Figur Lionel Asbo im gleichnamigen Roman Lionel Asbo: State of England (2012). Lebensgrundlagen und -möglichkeiten verbunden mit Erfahrungen der sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung; Phänomene, die ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit und Instabilität hinterlassen. Zunächst gilt es, einige Eckpfeiler der unter Thatcher beginnenden Reformen im Wohnungswesen und -bau zu nennen, die in der heutigen ‚housing crisis‘ kulminieren, einer dramatischen Knappheit erschwinglichen Wohnraums ge‐ rade in der Hauptstadt. Im Zuge der Privatisierung staatlichen Besitzes entwarf die konservative Regierung unter Thatcher das Right to Buy-Programm von 1980, welches es Mietern sozialer Unterkünfte ermöglichte, zu reduzierten Kosten ein Eigenheim zu erstehen, aber zugleich den Effekt hatte, dass dem Staat langfristige Einnahmen aus Mieten entgingen, im Gegenzug Mieten für Sozialwohnungen stiegen und, angesichts niedriger Zahlen an Neubauten, sozialer Wohnraum knapper wurde (vgl. Beckett). Eine weitere Verschärfung der Wohnsituation einkommensschwacher Haushalte bedeutete eine von New Labour ausgerufene Aufwertung der Innenstädte, die als ‚urban renaissance‘ vermarktet wurde (vgl. Perera 14). Im Dienste ‚positiver Gentrifizierung‘ sollten sozial benachteiligte Nachbarschaften mit Mietern der Mittelklasse versetzt werden, um die ansässigen Gemeinschaften zu ‚resozialisieren‘ (vgl. ebd.). Der Effekt dieser Maßnahmen war eine umfassende Gentrifizierung und damit Ver‐ drängung der Einheimischen, argumentiert auch Jessica Perera: „London’s poor communities have increasingly been marginalised through state-led gentrifica‐ tion projects“ (14). Schließlich hat die von David Cameron geführte Koalition dazu beigetragen, dass Londons Sozialwohnbausiedlungen Gegenstand von privaten Investitionen und Kapitalspekulation, also zunehmend ‚finanzialisiert‘ wurden, eine Entwicklung, die unter der konservativen Regierung ab 2015 zunahm (vgl. ebd. 15). Was Kritiker als ‚social cleansing‘ (vgl. Perera 11) bezeichnen bedeutet nicht nur, dass sozial benachteiligte Gruppen zunehmend aus den Innenstädten verdrängt und bestehende Gemeinschaften zerrissen werden, ferner legiti‐ mieren sich diese Maßnahmen über eine Stigmatisierung und Kriminalisie‐ rung dieser Menschen, vorwiegend Bewohner von council estates, Sozialwohn‐ bausiedlungen, die von Kommunen betrieben werden. Schon New Labour sanktionierte „anti-soziales Verhalten“ durch die Einführung des berüchtigten anti-social behaviour order, kurz ASBO, welcher Kommunen dazu befugte, Ge‐ richtsbeschlüsse gegen sozial auffällige Personen ab dem Alter von 14 Jahren zu beantragen, die deren Verhalten und Bewegungsradius einschränkten. 13 Kurzum 144 Sina Schuhmaier <?page no="145"?> 14 Zu sogenannten ‚sink estates‘ werden Wohnsiedlungen laut Perera allerdings erst durch eine gezielte Praxis des ‚managed decline‘: Häuser werden so lange nicht instandgehalten, bis sie nahezu unbewohnbar werden (vgl. 18). Dies rechtfertigt eine umfassende ‚regeneration‘ wie sie das Estate Regeneration Programme der konservativen Regierung vorsieht; unter dem Deckmantel der Schaffung neuen Wohnraums werden bis dato ansässige Bewohner_innen allerdings aus der Hauptstadt verdrängt. 15 Die Regierung stellt solche Erkenntnisse zu Armut im Vereinigten Königreich in Frage: Vertreter widersprachen sowohl den Ergebnissen eines Berichts des UN-Sonderbericht‐ erschuf die Blair-Administration hiermit eine Maßnahme, die das Verhalten unterer sozialer Schichten präemptiv kriminalisierte und insbesondere deren Jugendliche als delinquent markierte. Ferner ist der council estate als solcher, oftmals bezogen auf Hochhaussiedlungen, zum Schlagwort für urbane Krimi‐ nalität und Verkommenheit avanciert; so hat sich der Terminus ‚sink estate‘ für sozial und wirtschaftlich besonders abgehängte Wohnsiedlungen etabliert, dessen „imaginary of dirt, degeneration and deviance“ (Perera 18) als solches be‐ reits eine menschenunwürdige Umgebung suggeriert. 14 Premierminister David Cameron erkannte in solchen sink estates nach den Unruhen von 2011 demnach auch die Brutstätte für „gangs, ghettos and anti-social behaviour“ (zit. nach Perera 20) und damit den Ursprung der Aufstände. Eine solche Rhetorik fußt auf rassistischen Figuren. Analog zum ‚mugger‘ vergangener Jahrzehnte (vgl. Hall et al.) handelt es sich bei der Rede von ‚gangs‘ und ‚gang culture‘ um eine diskursive Konstruktion, die besonders auf schwarze Jugendliche abzielt (vgl. Perera 20-1). Damit erschufen Politik und Medienberichterstattung einen Sündenbock, der von dem ablenkt, was die Aufstände von 2011 tatsächlich ausgelöst hat: prekäre Lebensumstände, die von einer Politik der Austerität weiter destabili‐ siert wurden. Kürzte schon die Thatcher-Administration Sozialleistungen, so vollenden die unter Cameron implementierten Sparmaßnahmen die Aushöh‐ lung des britischen Wohlfahrtstaates. Die Koalitionsregierung reagierte mit dem umstrittenen austerity programme auf das Haushaltsdefizit in der Rezession der späten 2000er Jahre. Wie Kritiker bemängeln, wurde mit den austerity-Maß‐ nahmen das soziale Sicherheitsnetz des Vereinigten Königreichs ausgehebelt (vgl. „Poverty in the UK“): Seit 2010 flossen mehr als 30 Milliarden Pfund weniger in die Sozialhilfe, in Wohngelder und in soziale Dienste (vgl. Kingsley). Die Folgen dieser Politik sind heute spürbar. Im Jahr 2018 lebte ein Fünftel der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs in Armut (vgl. „UN Poverty Expert“). Zwischen 2013 und 2017 verdoppelte sich die Inanspruchnahme von Lebens‐ mitteltafeln nahezu (vgl. Kingsley). Auch Menschen in Beschäftigung fallen immer öfter unter die Armutsgrenze; in etwa jeder achte Erwerbstätige gilt als „working poor“ (Partington). 15 Einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters zu 145 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="146"?> erstatters Philip Alston (vgl. Kingsley; „Poverty the UK“) als auch denen einer Studie der Joseph Rowntree Foundation (vgl. Partington). extremer Armut und Menschenrechten zufolge hat die Politik der Austerität eine „systematic immiseration“ bewirkt und Strukturen erzeugt, die einer „digital and sanitised version of the 19th Century workhouse, made infamous by Charles Dickens“ nahekommen (zit. nach „Poverty in the UK“). Zusätzlich fallen öffentliche Einrichtungen und Angebote weg, wo Kom‐ munen gezwungen sind mit drastisch gekürzten Budgets zu haushalten. So wächst in sozial und wirtschaftlich ohnehin schon abgehängten Milieus eine Generation heran, die sich durch die Schließung von Büchereien, Unterfinan‐ zierung von Jugendzentren oder den Verkauf öffentlichen Raums (vgl. „UN Poverty Expert“) als vernachlässigt, ausgegrenzt und perspektivlos erfährt. Dazu trägt in England unter anderem die Abschaffung des Educational Mainte‐ nance Allowance-Programms im Jahr 2010 bei, das die höhere Bildung junger Erwachsener aus einkommensschwachen Familien unterstützte und dessen Wegfall besonders Jugendliche aus BAME-Familien (Black, Asian, and minority ethnic) betraf (vgl. Perera 20). All diese Entwicklungen sind im Lichte eines neoliberalen Regimes zu bewerten, das sich in seiner Privilegierung des Wirt‐ schaftlichen als alternativlos geriert und damit Wertsetzungen verschleiert, die, zum einen, Werte jenseits der ökonomischen Sphäre aberkennen, und, zum anderen, Bevölkerungsschichten entwerten, die keinen Profit generieren. 3. Zeit, aufzuwachen: Kae Tempests Let Them Eat Chaos Kae Tempest legt mit dem für den Mercury Prize nominierten Let Theam Eat Chaos ein Album vor, das dazu anhält, nationale Grenzen zu überwinden und so als Kommentar zur Lage der Nation zu verstehen ist, der sich in eine umfassendere „state-of-the-world address“ (Clark) einfügt, gerichtet vor allem an den Global North. Der erste Titel „Picture a Vacuum“ lädt dazu ein, die Erde aus der Vogel‐ schau zu betrachten, und fokussiert dann auf London, Schauplatz der folgenden Songs. Diese erzählen von sieben Figuren, die sich nicht kennen, aber in der gleichen Straße leben und alle zur gleichen Zeit früh morgens wach sind: It’s 4: 18 a. m. At this very moment, on this very street, seven different people in seven different flats are wide awake. 146 Sina Schuhmaier <?page no="147"?> 16 Im Folgenden werden alle Belege für Lyrics aus Let Them Eat Chaos lediglich unter Verweis auf den entsprechenden Songtitel sowie Seitenzahlen angeführt. Die Seiten‐ zahlen beziehen sich auf Tempests Gedicht Let Them Eat Chaos. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Zeilentrennung orientieren sich an dem Gedichttext. Die Albuml‐ yrics weichen an mehreren Stellen vom Gedichttext ab; in diesem Fall werden die Albumlyrics basierend auf meiner Transkription wiedergegeben. Tempest experimen‐ tiert im Gedichttext mit Einrückungen und Leerzeilen, diese wurden zur besseren Übersichtlichkeit nicht reproduziert. They can’t sleep. (Let Them Eat Chaos, „Lionmouth Door Knocker“; Let Them Eat Chaos 7) 16 Nach und nach führt uns das Album hinter die Haustüren dieser Personen, allesamt aufgewühlt und einsam, ein erzählerisches Mittel des Condition of England-Genres (vgl. Perkin 104), das beispielsweise auch Lanchester in Ca‐ pital bedient, und das über die materielle Umgebung einer Figur auch deren Lebensumstände und sozialen Status vermittelt (vgl. Schuhmaier). Auch diese Straße trifft das Schicksal so vieler Gegenden Londons: Während Bradley seine komfortabel ausgestattete Wohnung erst vor kurzem bezogen hat („Pictures on a Screen“), zieht Zoe nebenan aus einer vernachlässigten Wohnung aus, weil sich die Miete verdreifacht hat („Perfect Coffee“). Die durch eine jahrzehntelange neoliberale Politik beförderte Gentrifizierung und ihre Folgen sind überall zu be‐ obachten; neben Bradleys Wohnung musste ein inhabergeführter Plattenladen schließen („Pictures on a Screen“) und auch Zoe beobachtet: „The squats we used to party in / are flats we can’t afford“ („Perfect Coffee“; 52). Die Wohn-, aber auch Entfaltungsmöglichkeiten für sozial und wirtschaftlich schwächer gestellte Schichten, genauso wie das kulturelle Leben der Stadt werden immer weiter eingeschränkt, mittlerweile gleicht London, so Zoe „a walled fort, / it’s all for the rich“ (ebd.; 53). Auf lyrischer Ebene präsentiert das Album einen zusammenhängenden Text, der es in diesem Sinne als Konzeptalbum qualifiziert, und der als solcher auch in Buchform als ein langes Gedicht, zu Deutsch Sollen sie doch Chaos fressen, veröffentlicht wurde, das nicht in die 13 einzelnen Songs des Albums unterteilt ist. Tempests Titel spielt sowohl im Deutschen als auch im englischen Original auf Marie Antoinettes berühmte Phrase an und betont so die Kluft zwischen Klassen, die in London Einzug gehalten hat, transformiert diese im Zeichen zwischenmenschlicher Verständigung aber zugleich in „Chaos“. Dem Gedicht sind zwei Epigraphen vorangestellt, die Tempests Text literarisch situieren und den Kernpunkt seiner Anklage der kapitalistischen westlichen Welt verdeutli‐ chen, zum einen ein Auszug aus William Blakes Marriage of Heaven and Hell (1790-1793), und zum anderen der erste Johannesbrief 4,18: „There is no fear in 147 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="148"?> love; but perfect love casteth out fear: because fear hath torment. He that feareth is not made perfect in love.“ (zit. nach Let Them Eat Chaos) Diese Bibelpassage erklärt die Wahl der Uhrzeit, zu der sich Tempests Figuren schlaflos finden, und beleuchtet zugleich, was ihnen fundamental fehlt: bedingungslose Liebe, Vertrauen, Anteilnahme, Solidarität. Diese zwischenmenschlichen Werte, so Tempests These, hat eine auf kapitalistischer und neoliberaler Logik basierende Welt ausgemerzt und stattdessen Grenzen gezogen, Verbindungen gekappt, und eine Subjekt-Objekt-Trennung implementiert, die die (nicht-menschliche und menschliche) Umwelt zum Untertan macht - und nun zur Atomisierung der Individuen in Wohlstandsgesellschaften führt. Um diesen Zustand der Verblendung zu verbildlichen, wählt Tempest eine Motivik des Nichtsehens und Schlafens (vgl. Schuhmaier), beziehungsweise Sehens und Erwachens. Eine „Tunnel Vision“, der Titel des letzten Songs, charakterisiert die Subjekte im Kapitalismus, welche von der kapitalistischen Ideologie in einen tiefen Schlaf gelullt werden: „We sleep so deep / It don’t matter how they shake us.“ („Tunnel Vision“; 67) So wie das eindimensionale Sehen hier figurativ besetzt ist, steht demgegenüber auch ein Sehen, das metaphorisch als Erkennen einer verborgenen Wahrheit, als Vision, zu verstehen ist und mit Aufwachen gleichgesetzt wird. Das Leitmotiv des Erwachens zieht sich durch das gesamte Album und erklingt als Frage „What am I gonna do to wake up? “ mehrfach im Song „Europe Is Lost“ (17, 22, 24), dem vierten Titel des Albums. Im Folgenden möchte ich primär anhand dieses Songs herausarbeiten, was die Kernpunkte der Kapitalismuskritik Tempests sind und was für eine Art der Kritik Tempest wählt. „Europe Is Lost“, das als Single bereits im November 2015 veröffentlicht wurde, lässt sich als Manifest des Albums lesen, da es dessen Anliegen in der Manier eines protest songs (vgl. Wilkinson) kondensiert. Der Aufbau von „Europe Is Lost“ gleicht dem der meisten Songs auf Let Them Eat Chaos: Auf einen expositionsartigen Einstieg, der die Figur Esther vorstellt, folgt eine Gedankenwiedergabe Esthers, die im Tonfall und der musikalischen Umsetzung um einiges dringlicher und rauer klingt als die Passagen der Erzählstimme, die empathisch an ihre Figuren heranführt. Esther ist eine über‐ arbeitete Pflegerin, die von einer Doppelschicht in ihre Untergeschosswohnung zurückkehrt. Das Motiv des Schlafs begegnet den Zuhörer_innen schon ganz zu Beginn des Songs: Esthers Wohnung flankieren Garagen, wo Leute ihre ausgedienten Matratzen entsorgen (vgl. Schuhmaier). Mit dem Wechsel in die Innenperspektive verändert sich der beschreibende Duktus des Songs zu dem einer Anklage; „Europe Is Lost“ verkündet, die westliche Welt - Europa, Amerika, London - sei verloren. Dem folgt eine umfassende Diagnose aktueller 148 Sina Schuhmaier <?page no="149"?> 17 Diese Dimension fällt im gedruckten Gedicht mit folgenden zusätzlichen Zeilen aus‐ führlicher aus: „We clothe the corpse of our culture / parade it as Great Britain, / hark back to dead times and dead thinking“ (17, Hervorhebung im Orig.). Für eine Analyse der Sehens-Metaphorik in „Europe Is Lost“ im Kontext kolonialistischer Vergangenheit und nationaler Identität, vgl. Schuhmaier. Hier zeige ich auch auf, in welcher Hinsicht Kae Tempest gegen blinde Flecke des Condition of England-Genres anschreibt. 18 2015 legte Lord John Sewel seinen Sitz im Oberhaus nieder, nachdem ein Video veröffentlicht worden war, das ihn beim Schnupfen weißen Pulvers von der Brust einer Prostituierten zeigte. David Cameron wurde 2015 bezichtigt, er habe im Zuge eines Initiationsrituals einer Studentenverbindung sein Geschlechtsteil in das Maul eines toten Schweins eingeführt. Die Anschuldigungen wurden nie bestätigt. gesellschaftlicher Missstände, die sich unter einem Nenner zusammenbringen lassen: Kapitalismus, beziehungsweise Neoliberalismus. Diesen fasst Tempest als ein System, das sich wie der Verkehr in der Großstadt unaufhaltsam nach vorne bewegt, fortschreitet und expandiert, aber eigentlich eine beständige Stagnation bedeutet (vgl. Schuhmaier). Tempests Figuren, beispielsweise Bradley, haben das Gefühl, dass das Leben an ihnen vorbeizieht. Wenn sie nicht wie Esther beständig überarbeitet, erschöpft und schlafentzogen sind, sind sie, wie Bradley, apathisch und unfähig, Beziehungen zu ihrer Umwelt einzugehen („Pictures on a Screen“), werden aber vom Alltagstrott aus Arbeiten und scheinbarem „excess“ unvergesslicher bald vergessener Nächte („Europe Is Lost“; 16), dem neoliberalen „dream“ (ebd.; 17) vom Aufstieg in einer meritocracy, sowie von den Ersatzbefriedigungen des Konsums davon abgehalten, ‚aufzuwachen‘: „People are dead in their lifetimes / Dazed in the shine of the streets.“ (Ebd.; 16) Diese Sediertheit, Mark Fisher würde von Sterilität sprechen (vgl. 7), kennzeichnet die gesamte kulturelle Sphäre, die geprägt ist von gefälligen „saccharine / ballads“ („Europe Is Lost“; 21), Selbstbezüglichkeit - einem Interessenhorizont, der kaum über das Individuum hinausgeht, versinn‐ bildlicht in „selfies“ (ebd.) und dem Social Media-Kult - und einem morbiden Zelebrieren Englands, 17 das sich in Nationalismus und Xenophobie äußert (vgl. Schuhmaier). Dieser tranceartige Zustand verschleiert die Übel eines Systems, das nach maximalem Profit strebt. Bereits zu Beginn hält der Text fest: „All that is meaningless rules“ („Europe Is Lost“; 15). Das „big business“ behält die Oberhand und kreiert „[t]op-down violence. / Structural viciousness“ (ebd.; 17-8). Hege‐ monialer Machterhalt führt dazu, dass die politische Elite sich alles erlauben kann - der Text spielt auf den Drogen- und Prostituiertenskandal um Lord Sewel sowie auf die Anschuldigungen gegen David Cameron, die als ‚Piggate‘ bekannt wurden, an 18 - während Jugendliche im Kapuzenpulli, die ein paar Joints mit sich führen, zu bedrohlichen Kriminellen stilisiert werden. Eine dringliche 149 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="150"?> Warnung vor den Folgen der globalen Erwärmung wird unterbrochen von der Zeile „ STOP CRYING START BUYING ! ! “ (ebd.; 18). Genauso unbeachtet wie der Klimawandel und ökologische Desaster bleibt die Ausbeutung des Globalen Südens in ihrer historischen, imperialistischen, sowie gegenwärtigen Dimension (vgl. Schuhmaier). Diese affektive Dissoziation normalisiert eine kapitalistische Ideologie, die nur monetäre Werte als bedeutungsvoll anerkennt: „The Money / The Money / The Oil.“ („Europe Is Lost“; 23) Es findet sich, so das Resümee des Songs zur Lage der Nation, [n]o trace of love in the hunt for the bigger buck. Here in the land where nobody gives a fuck. (Ebd.; 24) Abstrakt gesprochen beklagt Tempest, dass der Kapitalismus in ganz ent‐ scheidender Weise die Weltbeziehungen seiner Subjekte affiziert. Auf globaler Ebene werden Menschen und Natur als Ressourcen erfahren; auf der gesell‐ schaftlichen stellt sich ein Gemeinschaftsverlust ein, den neoliberale Para‐ digmen weiter befördern: „The myth of the individual / Has left us disconnected lost / and pitiful.“ („Tunnel Vision“; 72) Let Them Eat Chaos antwortet auf diese Pathologien mit dem Bild eines Sturms, der einerseits als biblisch-apokalypti‐ sche Vergeltung ausgestaltet ist und die „four horsemen“ („Don’t Fall In“; 39) auf den Plan ruft und andererseits die Züge einer Naturkatastrophe als unwei‐ gerliche Folge kapitalistischer Umweltzerstörung und -verschmutzung trägt. Dieser „[h]ard rain“ (ebd.; 40), eine Anspielung auf Bob Dylans Prophezeiung drohenden Unheils in „A Hard Rain’s a-Gonna Fall“, soll auf alle „half-hearted“ (ebd.), all diejenigen, die im permanenten Halbschlaf wandeln, herunterpras‐ seln. Dabei agiert der Sturm nicht als rächende, Auslöschung bringende, sondern als einende Kraft, die die Grenzziehungen einebnet, die kapitalistische Struk‐ turen Individuen aufnötigen: Er führt die sieben vereinsamten Figuren des Albums zusammen und lässt sie auf der offenen Straße einen Moment der Verbundenheit erleben, den der Song „Breaks“ schildert. Damit versinnbildlicht der Sturm das ‚Chaos‘, das Kae Tempests Album als solches entfachen möchte, wie auch im Appell der Schlussworte von Let Them Eat Chaos deutlich wird: I’m out in the rain it’s a cold night in London 150 Sina Schuhmaier <?page no="151"?> And I’m screaming at my loved ones to wake up and love more. I’m pleading with my loved ones to wake up and love more. („Tunnel Vision“; 72) Die emphatische Aufforderung, mehr zu lieben, schließt nicht zufällig an den ersten Johannesbrief 4,18 an. Diese thematische Rahmung des (gedruckten) Textes wendet sich entschieden gegen die Dominanz monetärer Werte und Privilegierung wirtschaftlicher Geschicke im Neoliberalismus und verweist auf Normsysteme jenseits des kapitalistischen, etwa die christliche Wertelehre. Tempest kritisiert also das kapitalistische Wertesystem und dessen fehlgeleitete Wertsetzungen, die nur ökonomisch fundiert sind, und rekurriert damit im Wesentlichen auf eine etablierte Kritik des Gemeinschaftsverlusts und der Ero‐ sion moralischer Werte in kapitalistischen Gesellschaften, der Johannes Berger abfällig einen „unheilbaren Romantizismus“ unterstellt (38). Differenzierter betrachtet handelt es sich hierbei um eine Kulturkritik, mit der Tempest an romantische Denkfiguren anknüpft. So schallt durch Tempests Album auch Blakes London-Gedicht, das die Korrumpiertheit einer Stadt beklagt, in der Straßen und Themse „chartered“, kommerzialisiert, sind („London“). Mehr noch aber überträgt Tempest Dickens’ Abgesang auf eine Kultur, die sich von einseitiger zweckorientierter Rationalität und self-interest im Zeichen einer wirtschaftsliberalen Doktrin leiten lässt, auf das neoliberale Zeitalter, abermals ‚harte Zeiten‘. „It’s 4: 18“ lässt uns fast jeder Song wissen und impliziert so auch, es sei höchste Zeit. In einem semantischen Spiel mit der Begrifflichkeit von Zeit als ‚Uhrzeit‘ und als ‚Zeitalter‘ weist sich Tempests Text, im Stile viktorianischer Vorgänger, als kritische Zeitdiagnose aus. Tempest ruft also diejenigen, die schlafen „like a gloved hand covers our eyes“ („Europe Is Lost“; 22) - eine Anspielung auch auf die invisible hand des Marktes - auf, aufzuwachen. Die Stimmen des Albums selbst, inklusive der Erzählstimme, die in „Tunnel Vision“ in den Vordergrund tritt, nehmen immer wieder die Rolle des Sehenden ein, des Propheten einer Kultur, die vom rechten Weg abgekommen ist. Mit dieser bisweilen elitären Position aber untergräbt Tempest die Empathie, die Let Theam Eat Chaos einfordert und mit der das Album seinen sieben Figuren begegnet, die ja gerade vorführen, dass das neoliberale System seine Verfehlungen zwar individuellem Versagen zuschreibt, es aber einer strukturellen Kritik bedarf, um diesem System zu begegnen (vgl. Schuhmaier). Stattdessen wird suggeriert, das Subjekt im Kapitalismus sei zu unverständig und träge, um die Augen zu öffnen. Darüber hinaus noch erzeugt Tempest mit der Motivik von Schlafen und Sehen eine Dichotomie von Sein und Schein, 151 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="152"?> 19 Grime hat längst weitere Städte und Länder ebenso wie den britischen Mainstream erreicht. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vorranging auf Grime als eine London-spezifische Musikkultur. die die Wirkweise kapitalistischer Ideologie simplifiziert (vgl. ebd.). Tempests Album reflektiert die Schwierigkeit, wirkungsvoll Kritik zu formulieren, aber verharrt schließlich in einer Kulturkritik, die einseitig zwischen gut und falsch, Wahrheit und Illusion unterscheidet und so die Komplexität einbüßt, mit der Tempests Texte ihrem Sujet eigentlich begegnen. 4. ‚Keeping it real‘: Kanos Made in the Manor Eine Rezension bezeichnet Kanos Made in the Manor, das wie Let Them Eat Chaos auf der Shortlist für den renommierten Mercury Prize stand, als „grime 2.0“ (Vinti). Damit ist gemeint, dass sich Kanos Album in eine Renaissance des Genres einreiht (vgl. Bakare), das zu Beginn des Jahrtausends Bekanntheit erlangte und einige namhafte Künstler hervorbrachte. Überdies stellt Made in the Manor eine Rückschau auf eben jene frühen Tage dar; Kano spricht aus der Perspektive des gereiften Künstlers (vgl. ebd.; Adams 451), der Begebenheiten aufarbeitet, stellenweise nostalgisch zurückblickt und die Folgen seines Erfolgs Revue passieren lässt. Dabei betont Kano, wie sehr ihn seine Umgebung - bezeichnet als ‚ends‘, oder auch ‚manor‘ - geprägt hat, er ist Made in the Manor. Kano spielt hier mit einer dreifachen Mehrdeutigkeit: Neben ‚manor‘ im Sinne einer urbanen Gegend lebte Kano als Kind mit seiner Familie in der Manor Road (vgl. „Made in the Manor Documentary“); ‚manor‘ benennt aber auch ein Areal, das im Feudalismus von einem Gutsherrn verwaltet wurde, wovon heute noch zahlreiche manor houses zeugen. Mit diesem scharfen Kontrast führt Kano die Klüfte im britischen Klassensystem vor Augen - manor houses gelten heute als Inbegriff eines gehobenen, ländlichen Lebenswandels und Teil des nationalen Erbes - und unterwandert jenes zugleich, indem er eine Zugehörigkeit zu ebendiesem Englandbild für sich beansprucht. Ferner beschreibt die Formel Made in the Manor treffend das Selbstverständnis der Grime-Szene, die sich innerhalb eines schmalen Radius im Osten Londons herausbildete. 19 Ein durch Örtlichkeit bestimmtes Zugehörigkeitsgefühl verbindet sich im Grime, zu Deutsch ‚Schmutz‘, mit einer schonungslosen Beschreibung der ends. Grime thematisiert eine feindselige, urbane Lebenswelt der jugendlichen Arbeiterklasse, die geprägt ist von Aussichtslosigkeit und trostlosen council estates, und verhandelt, oftmals auf rhetorischer Ebene, Gewalt und (Klein-)Kri‐ minalität. In dieser Hinsicht weist Grime Parallelen zum US-amerikanischen Gangsta-Rap auf, will sich aber nachdrücklich als erstes bedeutsames britisches 152 Sina Schuhmaier <?page no="153"?> 20 Am nennenswertesten afro-karibische Musiktraditionen; unmittelbarer geht Grime aus den Genres Jungle und UK Garage hervor. 21 Die beiden Konzepte stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, das eine eindeutige Differenzierung nur schwer möglich macht. Im Kontext dieses Beitrags sei festzuhalten: ‚Britishness‘ tritt im Vergleich als offener, aber auch formaler Begriff hervor, während ‚Englishness‘ eine affektive nationale Identifikationsfläche stellt, in vielen ihrer Erschei‐ nungsformen allerdings auf Ein- und Ausschlusskriterien beruht, die Schwarze nicht als Teil der nationalen Gemeinschaft anerkennen. So ist die Kategorie ‚black British‘ etabliert (wenngleich nicht unumkämpft), während ‚black English‘ im Sprachgebrauch nicht geläufig ist. Grime-Künstler loten sowohl Vorstellungen von Britishness als auch von Englishness, wie das Beispiel Kanos zeigt, neu aus. 22 Ich folge der Begriffsverwendung Jon Strattons und Nabeel Zuberis: „Our use of the term ‚black popular music‘ also acknowledges the historical experiences of the African diaspora and the power relations involved in racism and the racialisation of culture“ (5). Rap-Genre verstanden wissen. Zum einen grenzt sich Grime durch seinen Sound von der US-amerikanischen Produktion ab, der mit einem schnellen Tempo von zumeist 140 beats per minute die ends widerspiegelt, gemeinhin als düster und rau beschrieben wird und eine Vielzahl musikalischer Einflüsse vereint, die spezifisch für Großbritanniens postkoloniale Verfasstheit sind. 20 Zum anderen bringt Grime eine kulturelle Identität zum Ausdruck, die sich als selbstverständlich Britisch begreift, die herkömmlichen Parameter von Britishness, beziehungsweise Englishness, 21 damit aber gleichzeitig neu definiert. Grime hat sich als Ausdrucksmedium vorwiegend schwarzer Künstler etabliert und gilt als schwarze Musikform (vgl. Adams 439) - eine Zuschreibung, die auf ein Terrain der politischen Auseinandersetzung um Zugehörigkeit und Repräsentation hinweist, 22 das Grime absteckt -; zugleich stellt Grime aber eine inklusive, hybride kulturelle Identität zur Schau, die sich primär über den Ort formiert, wie Ruth Adams aufzeigt (vgl. 444). Im Unterschied zu Tempests lyrischem Konzeptalbum, das für sich eine inhaltliche Kohärenz beansprucht, in die alle Stücke eingegliedert sind, besteht Made in the Manor aus 13 (die Bonustracks eingerechnet 15) separaten Titeln, die nicht allesamt und schon gar nicht als zusammenhängender Kommentar zur Lage der Nation zu verstehen sind. Nichtsdestotrotz reflektiert Kanos Album diese; so fügt sich beispielsweise die Beschreibung der ends, die fast in jeden Song Einzug hält, in eine literarische Tradition der Condition of England, die die Lebensumstände unterer sozialer Schichten offenkundig macht. Ein Song zeichnet sich zudem ganz eindeutig als dem Condition of England-Genre zugehörig aus, auch, indem er diese Lebensumstände ausführlich referiert und bereits im Titel erklärt „This Is England“. Das Album, und insbesondere „This Is England“, porträtieren eine Nation, in der kapitalistische Prinzipien 153 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="154"?> 23 Im Folgenden werden alle Belege für Lyrics aus Made in the Manor lediglich unter Ver‐ weis auf den entsprechenden Songtitel angegeben. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Zeilentrennung sind der Internetplattform Genius Lyrics entnommen. ohne jegliche soziale Absicherung herrschen - ob in der formal oder informal economy. Das alltägliche Leben gestaltet sich als Überlebenskampf, in dem jeder auf sich allein gestellt und mit Gewalt und Kriminalität konfrontiert ist. Der einzige Ausweg, der sich bietet, ist die Musik. Dies bedient die Konventionen des (Gangsta-)Rap, konstitutiver Teil derer der battle zwischen Künstlern ist, den lyrisches Können entscheidet, gründet aber auch in der Lebensrealität der Grime-Szene, die Chris Campion wie folgt beschreibt: „These are the bastard sons of Blair’s Britain, trapped in long abandoned pockets of the country where violent crime is rife and the street economy holds sway. Music is their only way out of the grime.“ Diese Musik lebt - und profitiert - wiederum von ihrer ‚authentischen‘ Dar‐ stellung dieser Umstände, die die Selbstbeschreibung ‚real‘ im Hip-Hop-Jargon auf den Punkt bringt. Wenn Kanos Songpersona beteuert, „I can keep it real“ (Made in the Manor, „This Is England“; „Kano - This Is England Lyrics“), 23 dann dient dies zum einen der Profilierung als Künstler, der sich nicht an die Musikindustrie ausverkauft und seinen Wurzeln trotz Erfolgs treu bleibt (vgl. Reynolds), und zum anderen als Entlarvungsgeste einer neoliberalen Realität: „‚Real‘ also signifies that the music reflects a ‚reality‘ constituted by late capitalist economic instability, institutionalised racism, and increased surveillance and harassment of youth by the police. ‚Real‘ means the death of the social“ (ebd.). Anders als Kae Tempest ergründet Kano also kein Außerhalb des kapitalistischen Realismus, sondern redet einem deterministischen Weltbild das Wort, das fest im kapitalistischen Realismus verhaftet ist, und weist diesen ferner noch als real aus. „That’s just the endz“ bemerkt der Rapper beispielsweise schulterzuckend auf dem Track „Endz“ („Kano - Endz Lyrics“). Vor diesem Hintergrund beklagt Mark Fisher, „[f]or much hip hop, any ‚naïve‘ hope that youth culture could change anything has been replaced by the hard-headed embracing of a brutally reductive version of ‚reality‘“ (10). Er verkennt dabei das Kritikpotential, das gerade in der Inszenierung des kapitalistischen Realismus liegt. Nicht nur verfährt Kanos Album gesellschafts- und kapitalismuskritisch in der Tradition der Condition of England, indem es ein soziales Milieu beleuchtet, das neoliberale Maßnahmen erschaffen haben und nun kriminalisieren, Made in the Manor verweist zudem kontinuierlich auf den Standpunkt, von welchem aus es seine Reiteration kapitalistischer Parameter - Konkurrenzkampf, Aufstieg, Geldgewinn - voranbringt und welchen das kapitalistische System grundsätz‐ 154 Sina Schuhmaier <?page no="155"?> 24 Zur Entwertung ‚unprofitabler‘ gesellschaftlicher Gruppen im Kapitalismus siehe auch die Beiträge Annika Gonnermanns und Katharina Motyls in diesem Band. 25 Gemeint ist ein pittoreskes Bild Englands, wie es insbesondere in den Thatcher-Jahren popularisiert wurde und das auf eine nationale Vergangenheit historischer Kulturgüter (unter anderem manor houses), gehobener Gesellschaftsschichten und eines ländlichen Englands rekurriert. Diese auf Konservatismus und Nostalgie gründende Darstellung ist beispielsweise im Heritage-Film etabliert. lich marginalisiert. Kano verdeutlicht, wie einer bestimmten sozialen Schicht zugehörige Individuen vom kapitalistischen Gesellschaftssystem gar nicht erst als autonome Subjekte anerkannt und strategisch entwertet werden. 24 Dass er mittels einer ‚Hyperinszenierung‘ demonstriert, das kapitalistische System zu durchschauen, ist entscheidend für seine Kritik, die die Stimme derer ist, die das System ausschließt. Dieser Ausschluss ist vor allem eine Frage der sozialen Klasse, aber in dem Maße wie ‚race‘ ‚class‘ bedingt auch rassistisch determiniert. Dies möchte ich im Folgenden anhand von „This Is England“ aufzeigen, ein Titel, der sich, ähnlich des gleichnamigen The Clash Songs, auch als Revision gängiger Bilder der Nation verstanden wissen möchte. Zum einen wirft „This Is England“ einen nostalgischen Blick auf die frühen Tage der Grime-Szene, zum anderen weitet es diesen Blick aus, wie Adams festhält: „[I]n the epic ‚This Is England‘ he [Kano] draws not just on his own story and that of the grime scene, but also a broader English history and culture, if not quite the ‚National Trust 25 version‘“ (451). Der Schauplatz von Kanos England ist der Osten Londons mit seiner ganz eigenen Tradition, die sich auf den Lokalstolz der weißen Cockney-Arbeiterklasse und deren Bräuche - „[j]ellied eels, pie and mash, two pints of that Pride on tap“ („This Is England“; „Kano - This Is England Lyrics“), ein Wortspiel mit dem Bier ‚London Pride‘ - sowie das Vermächtnis der legendären Kray-Zwillinge, die das organisierte Verbrechen und Nachtleben in den 1950ern und 60ern dominierten, beruft. Diese Tradition aktualisiert Kano, indem er den Anblick von „ASBO kids“ und den Zeichen von Alkohol- und Drogenkonsum mit in sie einschließt (ebd.). In dieser „hood“ bleibt soziale Mobilität eine Fantasie und Bildung bietet keine Aufstiegschancen: „[Y]ou’ve never seen a man buy a Bentley with a book“ (ebd.). Die Luxusautos von Bentley, so impliziert die Zeile, werden mit dem ‚schnellen Geld‘ erworben, das die Kriminalität und vor allem der Drogenhandel versprechen und das Teil der ‚Tradition‘ East Londons ist. Dabei verklärt „This Is England“ die informal economy nicht, vielmehr bietet sie die einzige Perspektive, sich aus ärmlichen Verhältnissen ‚nach oben zu arbeiten‘, und zugleich natürlich überhaupt keine Perspektive. Der Song zeigt vor allem auf, wie schnell man von dieser Umgebung eingeholt wird: Kanos Songpersona versucht in einer Stadt voller Gauner 155 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="156"?> 26 Zur Kapitalismuskritik im Gangster-Genre, siehe auch Caroline Lusins Beitrag in diesem Band. „straight“ zu bleiben und macht dennoch die Erfahrung des „getting caught up in the rough“ (ebd.). Das ist das England des Songs, wo Geld zu verdienen ins Gefängnis führt und die Lebenskunst darin besteht, dies zu vermeiden: „Where you make money, make it out, avoid pen“ (ebd.). Dieser Ausweglosigkeit begegnet der Song mit einer Abgeklärtheit, dem „idi‐ ot’s guide to the manor“ (ebd.), die der Gebärde des kapitalistischen Realismus entspricht, sich keine Illusionen über die kapitalistische Realität zu machen. Mantrisch wiederholt der Refrain, wie sehr die Lebenswelt dieses Englands auf das ultimative Ziel, Geld zu verdienen, bezogen ist. Die Zahnräder des kapitalistischen Systems drehen sich unaufhaltsam weiter, ohne dass dadurch eine wirkliche Veränderung eintritt: „The wheels keep on turning, we keep on earning“ (ebd.). Was dabei herauskommt ist nicht viel, wie der Song „A Roadman’s Hymn“ aufzeigt: „Work all day just for toast and spaghetti“ („Kano - A Roadman’s Hymn Lyrics“). Dennoch strukturiert der Mythos des Aufstiegs die Imagination verschiedener Rap-Genres. Kanos „This Is England“ fasst den beschwerlichen, einsamen (und im Grunde aussichtslosen) Kampf an die Spitze mit dem Bild des Boxsports, nicht nur klassischerweise ein Sport der Arbeiter‐ klasse (auch die Kray-Brüder boxten), sondern auch ein adäquates Bild für eine ‚Realität‘ des kapitalistischen Realismus. So beschreibt auch Simon Reynolds die Bedeutung von ‚real‘ im Hip-Hop, auf die Fisher wiederum als exemplarisch für den kapitalistischen Realismus verweist: „To ‚get real‘ is to confront a state-of-nature where dog eats dog, where you’re either a winner or a loser, and where most will be losers.“ Dies ist auch die Weltsicht des Gangsterfilms, der selbst immer wieder den kapitalistischen Aufstiegstopos inszeniert, und gerade für den Gangsta-Rap eine wichtige Vorlage ausmacht (vgl. Fisher 11; Reynolds). Letztlich erzählt der Gangsterfilm natürlich von einem pervertierten Traum, von der Unmöglichkeit des Erfolgs im kapitalistischen System, die im Aufstieg und unweigerlichen Fall des Gangsters eine narrative Form findet. Weder der Gangsterfilm noch Gangsta-Rap sind als platte Bestätigung des kapitalistischen Status quo abzutun, sondern beide weisen über ihr Begehren immer wieder auf ihren Standpunkt als einen hin, der die Teilnahme am kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem negiert. 26 So begründet auch Kano die Relevanz materialistischer Statussymbole, die so zentral in der Selbststilisierung des Gangsta-Rap sind, in „A Roadman’s Hymn“: „Wonder why we worship cars and clothes, man / We don’t own land so we’re stuck in no man’s / And gangsters are like superheroes to us“ („Kano 156 Sina Schuhmaier <?page no="157"?> - A Roadman’s Hymn Lyrics“). Die zweite Zeile verweist auf den marginalen Status einer Gesellschaftsschicht, die im Zuge neoliberaler Reformen ‚enteignet‘ wurde. Nicht nur besitzen Familien mit Migrationshintergrund oft kein eigenes „land“, vor allem Wohnungen oder Häuser, und sind so wirtschaftlich benach‐ teiligt, auch wurden untere gesellschaftliche Schichten und BAME-communities in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aus ihrem Wohnraum verdrängt, da dieser wegfiel oder unerschwinglich wurde, und von der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen, das sich zuvor in öffentlichen Räumen und Institutionen abgespielt hatte, die in austerity-Britain rar werden. Auf einer symbolischen Ebene vollzieht sich diese Marginalisierung durch eine Stigmatisierung und Kriminalisierung sozialer Gruppen wie der Grime-Szene (vgl. Perera 26-9), die Kano in „This Is England“ thematisiert wenn er auf die Anfänge der Szene zurückblickt: „We used to spit 16s“ - also zu rappen - „til they called police“ („Kano - This Is England Lyrics“). Kanos Lyrics legen nahe, dass bei deren Einsätzen auch „CS“ (ebd.) Verwendung fand, ein Tränengas, das die britische Polizei in Sprayform zur Verteidigung einsetzt. Allerdings verwehrt sich Kano der passiven Opferrolle und betont: „[W]e used to get the party gassed“ (ebd., Hervorhebung der Verf.) - ‚gassed‘ bedeutet auch so viel wie freudig erregt. Kano beruft sich hier auf ein Anti-Establishment-Ethos, das auch in der Idee besteht, das System, das einen eigentlich unterdrückt, auszuspielen, und das im Gangsterfilm und Gangsta-Rap immer wieder bedient wird. Wenn die Polizei wie erwartet anrückte, „you covered your face and dossed out the back“ (ebd.). Genauso durchbricht Kano die Auferlegung von Stigmata, indem er dem ‚roadman‘ eine Hymne widmet, eine pejorative Bezeichnung für Jugendliche, die auf der Straße (wiederum ein Sinnbild ihrer ‚Enteignung‘) herumlungern und sich in kleinkriminellen Aktivitäten üben. Der Rapper setzt damit der stigmatisierenden und rassistisch fundierten Rhetorik neoliberaler Politiker etwas entgegen und zeichnet ein abweichendes Bild Englands. Dabei hebt Kano immer wieder den Standpunkt hervor, von welchem aus Grime enunziert wird. Diesen machen auch die zahlreichen Bezüge in „This Is England“ zur afro-amerikanischen Kultur deutlich: vom Gangsta-Rap zu Sam Cookes „A Change Is Gonna Come“, das im Kontext des Civil Rights Movements entstand, zum Boxer Jack Johnson, der erste afro-amerikanische Weltmeister im Schwergewicht von 1908-15, in einer Hochzeit der Rassentrennung unter den Jim Crow-Gesetzen. Kanos Wahl der US-amerikanischen Vorlage in einem Titel über England führt auch vor Augen, dass Fragen von ‚race‘ und institu‐ tionalisiertem Rassismus aus dem (historischen) Selbstverständnis Englands weitestgehend ausgeklammert bleiben. Kano erklärt hingegen „This Is England“ und verweist kontinuierlich auf die Position der gesellschaftlichen und ökono‐ 157 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="158"?> mischen Marginalisierung, von der aus seine Songpersona spricht. Grime-Musik ruft diese Umstände ihrer Entstehung per Konvention mit auf. Genau sie, und auch davon erzählt Kanos Song, ermöglicht ironischerweise natürlich auch den Ausweg aus diesen Umständen. Keeping it real, das habe ich bereits dargelegt, bedeutet sich diesen Erfolg nicht zu Kopf steigen zu lassen; genauer bedeutet es, den Standpunkt, von dem aus sich Grime artikuliert, nicht aufzugeben. Darüber hinaus klingt in den afro-amerikanischen Vorbildern des Songs eine historische Dimension des black Atlantic an, innerhalb welcher auch Kanos Kritik der Entwertung des Subjekts im Kapitalismus zu lesen ist. Paul Gilroy beschrieb 1987 in ‚There Ain’t No Black in the Union Jack‘ eine anti-kapitalistische Grundhaltung, die der schwarzen britischen Kultur gemein ist und als „denunciation of capitalist social relations for which the memory of slavery serves as an enduring metaphor“ sowie als „a critique of the commodity form to which black humanity was reduced during the slave period“ zutage tritt (198). Diese Erinnerung an Kommodifizierung und Dehumanisierung rufen auch die bereits zitierten Zeilen aus „A Roadman’s Hymn“ auf, indem sie auf die andau‐ ernde (materielle und soziale) Enteignung und Ausgrenzung von Schwarzen innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems verweisen: „We don’t own land so we’re stuck in no man’s“. Eines der kapitalismuskritischen Hauptmotive schwarzer Ausdrucksformen erkennt Gilroy in einem Fokus auf Geschichte und Geschichtsschreibung, der als „antidote to the suppression of historical and temporal perception under late capitalism“ dient (ebd. 199). Kapitalismus und Rassismus greifen hier ungehindert ineinander. Derart dehistorisiert bleibt das soziale Dasein Schwarzer, so Gilroy, auf zwei Funktionen beschränkt: „the roles of being either a problem or a victim“ („One Nation Under a Groove“ 362). Fast wortwörtlich erfasst „This Is England“ diesen Einschnitt in die Autonomie und Menschenwürde schwarzer Subjekte: „This is England, this is England / Where you could be a villain or a victim“ („Kano - This Is England Lyrics“). Der kapitalistische Realismus des Grime wird somit zur Ermächtigungsgeste. So, wie Kano sich in ein nationales Narrativ einschreibt, dessen Mainstream-Ver‐ sion ihn ausblendet - indem er reklamiert „This Is England“ -, verschafft er sich Gehör und Handlungsmacht in einem System, das ihn ausschließt und degradiert. Kanos Diagnose der Condition of England verhandelt damit gemäß den Konventionen des Genres zum einen das britische Klassensystem und dessen stählerne Trennwände, zum anderen reflektiert sie aber auch die Frage von race, die im Genre bisher wenig Beachtung fand. „This Is England“ führt ganz explizit die literarische Tradition der Condition of England fort. So folgt das Musikvideo zum Song, in welchem Kano zahlreiche Schauplätze besucht, die als (symbolisch) repräsentativ für die Nation gelten, einer Route gen Norden, 158 Sina Schuhmaier <?page no="159"?> 27 Diese Erkenntnis verdanke ich Julian Wackers Vortrag „Griming the Nation: Estates and Aesthetics in Kano’s ‚This is England‘ (2016)“ im Rahmen der GAPS-Konferenz „Nationalism and the Postcolonial“, abgehalten an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2018. 28 Auch Jeremy Gilbert schreibt über das sogenannte ‚hardcore continuum‘, als Teil dessen Grime gilt: „[T]he music scenes of the hardcore continuum have been notable for their detachment from any kind of politics, their embrace of competitive entrepreneurial values, and their defence of masculinist and heterosexist norms“ (zit. nach Gilbert 182, Hervorhebung im Orig.). wie bereits Gaskells North and South oder The Clashs „This Is England“. Noch augenfälliger stellt das Musikvideo Szenen aus Shane Meadows’ Spielfilm This Is England nach. Wo Meadows die Identitätskrise einer weißen Arbeiterklasse und deren Xenophobie ergründet, richtet Kano gezielt das Augenmerk auf die schwarze Arbeiterklasse. 27 Zentral ist hierbei die materielle Präsenz Kanos als schwarzer Künstler. Er fordert wortwörtlich seinen Platz innerhalb des nationalen Terrains ein, etwa, wenn er im Schlussbild des Videos auf Hadrian’s Wall Platz nimmt. So vollzieht Kanos Titel eine Aktualisierung des Condition of England-Genres, die dessen Kapitalismuskritik fortsetzt, indem sie ‚class‘ gekoppelt an ‚race‘ erfasst. 5. Zur (Un-)Möglichkeit von Kapitalismuskritik im 21. Jahrhundert Mit Mark Fisher lässt sich die Nähe zwischen Grime und dem Gangsterfilm, ob über den Umweg des Gangsta-Rap oder direkt, in einer geteilten Weltsicht und einem Repräsentationsmodus festmachen, der den ontologischen Status des kapitalistischen Realismus sowohl bezeugt als auch perpetuiert. Wo dies gemäß Fisher die Kritikfähigkeit dieser Ausdrucksformen entscheidend zu behindern droht, habe ich eine andere Sichtweise aufzuzeigen versucht, die den Fokus auf Akte der Selbstdarstellung und Positionierung im sozialen Raum richtet und nach der der kapitalistische Realismus zur Strategie wird, oder zumindest werden kann. Trotz Fishers pessimistischer Prognose ob der Kritikfähigkeit gegenwärtiger und künftiger musikalischer Subkulturen lotet gerade Grime die Möglichkeit von Kritik nicht nur innerhalb, sondern mittels des kapitalisti‐ schen Realismus aus. Dabei sind die Grenzen zwischen Kritik und Affirmation gewiss fließend. Sowohl die Reiteration des Gangster-Mythos als auch die im Grime immer wieder vorgebrachte Idee des Erfolgs und Lebenswandels über den Aufstieg in der Musikbranche rekurrieren auf den neoliberalen Grundge‐ danken, der Individuen eigenverantwortlich für ihr Schicksal macht, das allein durch Ausdauer und Können entscheidbar sei. Dieser unternehmerische Geist bestätigt in letzter Konsequenz kapitalistische Parameter 28 und konterkariert 159 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="160"?> kritische Impulse; anstatt das kapitalistische System zu hinterfragen, projizieren sich Künstler an dessen Spitze. Die Kontextualisierung und Historisierung, die für das kritische Unterfangen nötig sind, bedient Grime allerdings bereits durch seine Genre-Konventionen in der Darstellung der ends. Wie auch im Gangsterfilm überführt sich hier der Topos des Aufstiegs selbst als Mär. In Kanos Fall ist es besonders die Selbstreflexivität seiner Songpersonae - wiederum eine Konvention des Rap -, die ein Wissen darüber und ein Beharren darauf kommuniziert, aus welcher Position Grime vorgetragen wird; eine prekäre Position, die die Pathologien des Neoliberalismus drastisch vor Augen führt. Ein umfassendes Bild dieser Pathologien zeichnet auch Kae Tempests Album; das dem kapitalistischen Realismus gezielt etwas entgegen zu setzen sucht. Dabei verheißen Tempests Lyrics eine Besserung, die allein dadurch eintrete, dass man die Augen öffne oder aufwache. Die Vorstellung, dass eine andere Art des Sehens vonnöten wäre, versperrt sich der dichotom strukturierten Motivik Tempests hingegen. Auf der analytischen Ebene greift Tempests Kapitalismus‐ kritik, will sie eine effektive darstellen, kurz; es gilt aber genauso die Wahl des gesprochenen, beziehungsweise gesungenen Wortes zugunsten des geschrie‐ benen zu beachten (selbst der gedruckten Fassung von Let Them Eat Chaos gehen die Worte voraus „This poem was written to be read aloud“). Wo Tempest schwindende Weltbeziehungen im Neoliberalismus einklagt, stellen sich diese durch den Vorrang der per se verkörperten und kollektiven Performance, also einer Form, die auf zwischenmenschlicher Interaktion und gemeinschaftlicher Erfahrung beruht, potentiell wieder her. So zeigen beide Künstler, dass es die Gattung des Songs ist, die heutzutage nicht nur einen vitalen Beitrag zur Lage der Nation, sondern auch zur Kapitalismuskritik im Allgemeinen zu leisten vermag. Bibliographie Primärliteratur: Blake, William. „London.“ The Penguin Book of Romantic Poetry, herausgegeben von Jonathan und Jessica Wordsworth, Penguin Books, 2005. S. 368-9. Carlyle, Thomas. „Signs of the Times (1829).“ The Spirit of the Age: Victorian Essays, herausgegeben von Gertrude Himmelfarb, Yale UP, 2007. S. 31-49. Dickens, Charles. Hard Times: For These Times. Herausgegeben mit einem Vorwort und Anmerkungen von Kate Flint, Penguin Books, 2003. Kano. Made in the Manor. Parlophone, 2016. —. „This Is England.“ YouTube, hochgeladen von demselben, 24 März 2016, www.youtub e.com/ watch? v=uPmNxobIoWI. Aufgerufen 17 Aug. 2020. 160 Sina Schuhmaier <?page no="161"?> —. „Made in the Manor Documentary.“ YouTube, hochgeladen von demselben, 26 Feb. 2016, www.youtube.com/ watch? v=aIXx4nHauyU. Aufgerufen 17 Aug. 2020. „Kano - A Roadman’s Hymn Lyrics.“ Genius Lyrics, https: / / genius.com/ Kano-a-roadma ns-hymn-lyrics. Aufgerufen 17 Aug. 2020. „Kano - Endz Lyrics.“ Genius Lyrics, https: / / genius.com/ Kano-endz-lyrics. Aufgerufen 17 Aug. 2020. „Kano - This Is England Lyrics.“ Genius Lyrics, https: / / genius.com/ Kano-this-is-england -lyrics. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Lanchester, John. Capital. Faber and Faber, 2013. Tempest, Kae. Let Them Eat Chaos. Caroline (Universal Music), 2016. —. Let Them Eat Chaos. EBook, Picador. „The Clash - This Is England Lyrics.“ Genius Lyrics, https: / / genius.com/ The-clash-this-i s-england-lyrics. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Sekundärliteratur: Adams, Ruth. „‚Home sweet home, that’s where I come from, where I got my knowledge of the road and the flow from‘: Grime Music as an Expression of Identity in Postcolonial London.“ Popular Music and Society, 42.4 (2019). S. 438-55. Bakare, Lanre. „Kano: Made in the Manor Review - Grime Mainstay Finds a Reflective Maturity.“ The Guardian, 10 März 2016, www.theguardian.com/ music/ 2016/ mar/ 10/ k ano-made-in-the-manor-review-grime-mainstay-finds-a-reflective-maturity. Aufge‐ rufen 17 Aug. 2020. Beckett, Andy. „The Right to Buy: The Housing Crisis that Thatcher Built.“ The Guardian, 26 Aug. 2015, www.theguardian.com/ society/ 2015/ aug/ 26/ right-to-buy-margaret-tha tcher-david-cameron-housing-crisis. Aufgerufen 5 Aug. 2020. Berger, Johannes. Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik. Springer VS, 2014. Campion, Chris. „Inside Grime.“ The Guardian, 23 Mai 2004, www.theguardian.com/ arts / features/ story/ 0"1223537,00.html. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Clark, Alex. „Kate Tempest: Let Them Eat Chaos Review - A State-of-the-World Address.“ The Guardian, 9 Okt. 2016, www.theguardian.com/ stage/ 2016/ oct/ 09/ kate-tempest-le t-them-eat-chaos-review. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Fisher, Mark. Capitalist Realism: Is There No Alternative? Zero Books, 2009. Gentleman, Amelia. „Grenfell Tower MP Highlights Huge Social Divisions in London.“ The Guardian, 13 Nov. 2017, www.theguardian.com/ inequality/ 2017/ nov/ 13/ grenfell -tower-mp-highlights-huge-social-divisions-in-london. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Gilbert, Jeremy. „Break/ Flow/ Escape/ Capture: The Energy and Impotence of the Hard‐ core Continuum.“ Black Popular Music in Britain Since 1945, herausgegeben von Jon Stratton und Nabeel Zuberi, Routledge, 2017. S. 169-84. 161 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="162"?> Gilroy, Paul. „One Nation under a Groove: The Cultural Politics of ‚Race‘ and Racism in Britain.“ Becoming National: A Reader, herausgegeben von Geoff Eley und Grigor Suny, Oxford UP, 1996. S. 352-69. —. ‚There Ain’t No Black in the Union Jack: ‘ The Cultural Politics of Race and Nation. Hutchinson, 1987. Hall, Stuart et al. Policing the Crisis: Mugging, the State and Law and Order. 2. Aufl., Red Globe Press, 2013. Kingsley, Patrick. „British Austerity is ‚Inflicting Unnecessary Misery,‘ U.N. Poverty Expert Says.“ The New York Times, 16 Nov. 2018, www.nytimes.com/ 2018/ 11/ 16/ worl d/ europe/ uk-un-poverty-austerity.html? module=inline. Aufgerufen 5 Aug. 2020. Lusin, Caroline. „The Condition of England Novel in the Twenty-First Century: Zadie Smith’s NW (2012) and Jonathan Coe’s Number 11, Or Tales That Witness Madness (2015).“ The British Novel in the Twenty-First Century: Cultural Concerns - Literary Developments - Model Interpretations, herausgegeben von Vera Nünning und Ansgar Nünning, WVT, 2018. S. 247-63. —. „Surviving Boom and Bust: Finance, Responsibility, and the State of the World in Nicholas Pierpan’s You Can Still Make a Killing (2012).“ Finance, Terror, and Science on Stage: Current Public Concerns in 21st-Century British Drama, herausgegeben von Kerstin Frank und Caroline Lusin, Narr Francke Attempto, 2017. S. 79-100. Neate, Rupert. „A Tale of Two Cities: London’s Rich and Poor in Tower Hamlets.“ The Guardian, 23 Dez. 2019, www.theguardian.com/ society/ 2019/ dec/ 23/ a-tale-of-two-cit ies-londons-rich-and-poor-in-tower-hamlets. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Partington, Richard. „Four Million British Workers Live in Poverty, Charity Says.“ The Guardian, 4 Dez. 2018, www.theguardian.com/ business/ 2018/ dec/ 04/ four-million-bri tish-workers-live-in-poverty-charity-says. Aufgerufen 5 Aug. 2020. Perera, Jessica. „The London Clearances: Race, Housing and Policing.“ Institute of Race Relations, Background Paper No. 12 (2019), https: / / irr.org.uk/ publications/ issues/ the -london-clearances-race-housing-and-policing/ . Aufgerufen 17 Aug. 2020. Perkin, J. Russell. „John Lanchester’s Capital: A Dickensian Examination of the Condition of England.“ Journal of Modern Literature, 41.1 (2017). S. 100-17. „Poverty in the UK is ‚Systematic‘ and ‚Tragic‘, Says UN Special Rapporteur.“ BBC, 22 Mai 2019, www.bbc.com/ news/ uk-48354692. Aufgerufen 5 Aug. 2020. Reynolds, Simon. „Slipping Into Darkness.“ The Wire, 148 (1996), www.thewire.co.uk/ inwriting/ essays/ the-wire-300_simon-reynolds-on-the-hardcore-continuum_4_hardst ep_jump-up_techstep_1996_. Aufgerufen 17 Aug. 2020. Schuhmaier, Sina. „Singing the Nation: The Condition of Englishness in the Lyrics of PJ Harvey and Kate Tempest.“ Nationalism and the Postcolonial, herausgegeben von Sandra Dinter und Johanna Marquardt, Brill, 2020 (i.E.). 162 Sina Schuhmaier <?page no="163"?> Simmons, James Richard Jr. „Industrial and ‚Condition of England‘ Novels.“ A Companion to the Victorian Novel, herausgegeben von Patrick Brantlinger und William B. Thesing, Blackwell, 2002. S. 336-52. Stratton, Jon und Nabeel Zuberi. „Black Popular Music in Britain Since 1945: An Introduction.“ Black Popular Music in Britain Since 1945, herausgegeben von denselben, Routledge, 2017. S. 1-10. „UN Poverty Expert Says UK Policies Inflict Unnecessary Misery.“ Office of the High Commissioner for Human Rights, 16 Nov. 2018, www.ohchr.org/ EN/ NewsEvents/ Pag es/ DisplayNews.aspx? NewsID=23884&; LangID=E. Aufgerufen 5 Aug. 2020. Vinti, Mike. „Kano: Made in the Manor.“ Crack Magazine, https: / / crackmagazine.net/ art icle/ album-reviews/ kano-made-in-the-manor/ . Aufgerufen 17 Aug. 2020. Vogel, Berthold. „Das Prekariat - eine neue soziale Lage? “ Prekarität, Abstieg, Ausgren‐ zung: Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, herausgegeben von Robert Castel und Klaus Dörre, Campus, 2009. S. 197-208. Wilkinson, Matt. „Kate Tempest’s ‚Europe Is Lost‘ is the Protest Song the World Has Been Waiting for.“ NME, 30 Nov. 2015, www.nme.com/ blogs/ nme-blogs/ kate-tempests-euro pe-is-lost-is-the-protest-song-the-world-has-been-waiting-for-13550. Aufgerufen 17 Aug. 2020. 163 Wert und Werte im Kapitalismus: Die Songtexte Kae Tempests und Kanos <?page no="165"?> 1 Es fehlt nach wie vor eine vollständige Übersicht über Polleschs Stücke. René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene Olga Vrublevskaya 1. Theater und Kapitalismuskritik Die Auseinandersetzung mit der Ökonomie, den Widersprüchen des Kapita‐ lismus und vor allem mit den prekären gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen und deren Auswirkungen auf einzelne Subjekte hat in den vergangenen Jahr‐ zehnten eine große Bedeutung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erlangt, sodass beinahe von einem etablierten Gegenstand literarischer Ausein‐ andersetzungen die Rede sein kann. Auch das Gegenwartstheater widmet sich zunehmend ökonomischen Fragestellungen, indem es die Problematiken der neoliberalen Gesellschaft auf die Bühne bringt und dort darüber reflektiert. Autor_innen und Dramatiker_innen wie Gesine Danckwart, John von Düffel, Rolf Hochhuth, Elfriede Jelinek, Falk Richter, Kathrin Röggla oder Urs Widmer, um nur einige aufzuführen, brachten eine große Zahl an Stücken hervor, in denen das kapitalistische Wirtschaftssystem und insbesondere die Paradoxien der Arbeitswelt thematisiert werden. Auch der zeitgenössische Theaterregisseur René Pollesch beschäftigt sich intensiv mit den genannten Aspekten, jedoch auf eine eigene Art und Weise, was im Folgenden illustriert wird. Der seit Ende der 1980er Jahre agierende Autor und Regisseur zählt zu den produktivsten Theatermachern der Gegenwart, denn er hat bis dato über 150 Inszenierungen auf die Bühne gebracht. 1 Anerkennung im Kulturbetrieb bekam er allerdings erst gegen Ende der 1990er Jahre mit der Uraufführung der Heidi-Hoh-Trilogie (UA: 15. Mai 1999, 10. Mai 2000, 28. Juni 2001 Po‐ dewil, Berlin). Auch in der Forschung werden Polleschs Stücke seitdem aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt, und zwar meist in Anlehnung an das von Hans-Thies Lehmann entwickelte Konzept des ‚postdramatischen‘ <?page no="166"?> 2 Zu den wenigen Ausnahmen gehört beispielsweise Natalie Bloch, die Polleschs Theater vielmehr mit Rekurs auf Brechts episches Theater untersucht (vgl. 165-82). Theaters. 2 Im Mittelpunkt seiner Texte stehen kritische Reflektionen über die radikale Orientierungslosigkeit des modernen Menschen, über gesellschaftliche Konstruktionen - seien es Geschlechterkonstruktionen und -zuschreibungen, stereotype oder medial vermittelte Wirklichkeitsbilder - sowie über den Raum des Theaters im Kontext der Globalisierung. Zudem zeichnet sich sein Theater durch die spezifische Bearbeitung zeitgenössischer theoretischer Abhandlungen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Berei‐ chen aus: So weisen Polleschs Theatertexte unter anderem starken Bezug auf philosophische ( Judith Butler, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean-Luc Nancy) sowie stadtsoziologische Theorien (Brigitta Kuster, Renate Lorenz, Walther Jahn, Stephan Lanz, Klaus Ronneberger) und nicht zuletzt auf TV-Un‐ terhaltungsformate und Filme auf, sodass sein Theater als „TheorieTrashThe‐ ater“ (Leskau 205), „Lehrstück-Theater“ (Matzke 119), „diskursiv-intellektuelles Sprechtheater“ (Schössler, „Fremdheit und Kapitalismuskritik“ 142) oder gar als „Cool Fun“ (H.-T. Lehmann 214) in der Forschung bezeichnet wird. Die theore‐ tischen Vorlagen dienen dabei als Ausgangspunkt für Inszenierungstexte, die erst während des wohl mühsamen Probenprozesses in enger Zusammenarbeit mit den Schauspieler_innen zu ‚fertigen‘ Theaterstücken werden. Die kritische Auseinandersetzung mit diversen Aspekten des Kapitalismus, insbesondere mit den neoliberalen Arbeits- und Lebensverhältnissen, ist vor allem für die früheren Arbeiten des Regisseurs charakteristisch. Ein Beispiel dafür liefert der zweite Teil der Prater-Trilogie „Insourcing des Zuhause: Men‐ schen in Scheiss-Hotels“ (UA: 30. Oktober 2002 Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin): Das Stück kreist um das Phänomen ‚Boarding‐ house‘, das als Reaktion auf die Neukonzeptualisierung des Verhältnisses von Arbeit und Zuhause im Zeichen des Kapitalismus zu verstehen ist und auf das anschließend genauer eingegangen wird. Dies ist allerdings nicht der einzige Grund, warum der Text im Kontext der zentralen Fragestellung des vorliegenden Sammelbands von besonderem Interesse ist. Denn der Inszenierungstext basiert auf dem gleichnamigen Aufsatz von Brigitta Kuster und Renate Lorenz „Das Insourcing des Zuhause“ (2000), der am Beispiel des bereits genannten Phänomens Boardinghouse die Durchökono‐ misierung aller (vor allem privater) Lebensbereiche veranschaulicht. Es ist al‐ lerdings nicht so, dass der theoretische Vorlagetext unter den Schauspielerinnen schlechthin verteilt wird. Vielmehr werden die Überlegungen der Autorinnen kritisch unter die Lupe genommen und an bestimmten Stellen präzisiert bezie‐ 166 Olga Vrublevskaya <?page no="167"?> 3 Zur Funktion und Rolle des Theaters als Ort der Kapitalismuskritik, siehe auch den Beitrag zu „,Have There Been Unexplained Deaths? ‘: Kapitalismus, Beschleunigung und die Rolle des Theaters in Alan Bennetts Allelujah! (2018)“ von Annika Gonnermann in diesem Band. hungsweise anders perspektiviert und nicht zuletzt auf das Theater, sprich auf die Ausbeutungsverhältnisse innerhalb dieser Institution, bezogen. Dadurch zeigt sich eine analytische und durchaus kritische Auseinandersetzung mit einem theoretischen Text, der seinerseits einen kapitalismuskritischen Gestus aufweist. Im vorliegenden Artikel wird daher die These vertreten, dass es sich in diesem Fall um eine Kapitalismuskritik auf mehreren Ebenen handelt: Einerseits thematisiert das Stück inhaltlich Phänomene der Globalisierung, andererseits lässt sich Polleschs Theaterkonzeption an sich, sprich der Umgang mit den theoretischen Vorlagen sowie die Position der Schauspieler_innen im Arbeitsprozess, als Kritik begreifen, was im Folgenden konsequent nachverfolgt und erläutert wird. 3 2. René Polleschs Theaterkonzeption: Theorie - Praxis - Realität Lehmanns eingangs erwähnte Überlegungen zum postdramatischen Theater der Gegenwart basieren auf dem veränderten Verhältnis zwischen Theater und Text: Der Text sei nur ein „Element, Schicht und ‚Material‘ der szenischen Gestaltung“ und somit nicht mehr der „Herrscher“ (13) im Rahmen der Insze‐ nierung. Diese Diagnose gilt ebenfalls für Polleschs Theaterästhetik: Während das konventionelle dramatische Theater für die Realisierung der Dramentexte ausgelegt ist, dienen die von Pollesch geschriebenen Texte, die erst während der Proben zu den Inszenierungstexten avancieren, nur als Ausgangspunkt, als ‚Motor‘ für die konkrete Inszenierung (vgl. Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 119-20). Die Vorlagen, an denen sich der Regisseur und die Schauspieler_innen abarbeiten, werden während der Proben grundlegend diskutiert und für die Bühne transformiert. Die Idee ist, dass das Theater nicht mehr als Repräsen‐ tationsapparat schlechthin, sondern als Ort in Erscheinung tritt, an dem aktu‐ elle Verhältnisse und Problemkonstellationen exemplarisch verhandelt werden können. So kommen Texte zustande, die sich stets zwischen Realität und Fiktion bewegen und in denen Alltags-, Wissenschafts-, Film- und Theatersprache, geschriebene und gesprochene Sprache kombiniert werden. Die Sprecher_innen stellen dabei keine Figuren im herkömmlichen Sinne dar, mit denen sich die Zuschauer_innen identifizieren könnten. Vielmehr sind sie Sprechfiguren oder „Sprechmaschinen“ (Heimburger 328), die den Text herausschreien oder flüsternd vortragen. 167 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="168"?> 4 Die sogenannten ‚Clips‘, die Pollesch konsequent in seine Inszenierungen einbaut, stellen meist durch die Musik begleitete Szenen dar, die nach dem Zufallsprinzip entstehen, den Ablauf des Bühnengeschehens unterbrechen und grundlegend, so Pollesch, der Entspannung dienen (vgl. Pollesch, „Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt“ 318). Durch die Versprachlichung werden Theorien und Ergebnisse von Studien, die thematisch meist um den Gegenwartskapitalismus, neue Technologien, Arbeitsverhältnisse (auch innerhalb des Theaterbetriebs) und die dadurch evo‐ zierten Konflikte kreisen, in die theatrale Praxis ‚übersetzt‘ und aufs Neue thematisiert. Im Mittelpunkt der Arbeit am Text steht also nicht die Nach‐ ahmung oder bloße Abbildung, sondern eine „dekonstruierende Praktik der (Wieder-)Aufführung von selektierten Ausschnitten, Gestalten und Diskursele‐ menten“ (Englhart, „Theatrales Mimikry in der Glokalisierung“ 325). Auffallend ist zudem die Tatsache, dass die Inszenierungstexte selten direkte Auszüge aus den entsprechenden Theorien enthalten. Der Fokus wird vielmehr auf die grundlegenden Thesen, das Handwerkzeug, das Vokabular sowie auf die Möglichkeit gelegt, eigene Verhältnisse vor dem Hintergrund theoretischer Ansätze zu betrachten (vgl. Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 122). Es ist nur konsequent, dass Polleschs performativ-diskursive Texte sowohl für die Leser als auch für die Zuschauer eine Herausforderung darstellen: Auf den ersten Blick dialogisch strukturiert, scheint der Text keinen sofort nachvoll‐ ziehbaren Sinnzusammenhang zu vermitteln. Ein knappes Personenregister, das sowohl die Figurenals auch die Darstellernamen beinhaltet, der programma‐ tische Verzicht auf eine Einteilung in Akte (die einzelnen Szenen werden durch Clips 4 getrennt), auf lineare Narration und auf die übrigen Grundkonstituenten eines konventionellen Theaters - all das verweist auf den nicht-dramatischen Charakter der Texte. Zudem funktioniert der Dialog nur in formaler Hinsicht: Entweder sind die Repliken der Protagonist_innen kaum aufeinander bezogen, oder sie wiederholen bestimmte Inhalte beziehungsweise Textstellen, unter an‐ derem auch aus früheren Inszenierungen. Polleschs konsequente Rekapitulation auf bestehende Themen, Vorlagen und Aussagen verweist, wie Birgit Lengers zutreffend formuliert, auf die „Prozessualität seiner Arbeitsweise“ (151). Der ambivalente Status der Texte zwischen Theorie und Kunst wird nicht zuletzt durch die ungewöhnliche Wahl des Publikationsmediums hervorge‐ hoben: So erschien beispielsweise der erste Teil der Heidi-Hoh-Trilogie nicht im Rowohlt Verlag, wie der größte Teil von Polleschs Texten, sondern im von Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz 1999 herausgegebenen Sam‐ melband Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause, der diverse Aufsätze zur Neuperspektivierung des Arbeitsbegriffs im Kontext der 168 Olga Vrublevskaya <?page no="169"?> 5 Die Beiträge von Diedrich Diederichsen („Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen: Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch“, 2002), Birgit Lengers („Ein PS im Medienzeitalter: Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch“, 2004), Judith Gerstenberg und Matthias Günther („Uns geht es gut: Postdramatik, Poptheater, der Einbruch des Realen und die Neuerfindung des Bürgerlichen am Theater Basel“, 2004) oder Andreas Englhart („Theatrales Mimikry in der Glokalisierung - René Polleschs transkulturelle Produktion ‚Jackson Pollesch‘ am Warschauer Teatr Rozmaitości“, 2015 sowie sein einschlägiger Band Theater der Gegenwart, 2013) - um nur einige zu nennen - gehen explizit darauf ein. Es fällt allerdings auf, dass bei dieser Diagnose sowohl auf die Präzisierung, was unter dem Begriff ‚Diskurstheater‘ zu verstehen ist, als auch auf die Argumentation beziehungsweise Analyse, die zu solcher Schlussfolgerung führen würde, weitgehend verzichtet wird. Meist wird die Feststellung, Polleschs Theater sei Diskurstheater per se, auf die Einbettung unter‐ schiedlicher theoretischer Konzepte in die Inszenierungstexte zurückgeführt, sodass Diskurstheater mit dem Theorietheater im Allgemeinen gleichgesetzt wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Patrick Primavesi, der darauf hinweist, dass die Etikettie‐ rung ‚Diskurstheater‘ gerade aufgrund des Umgangs mit den theoretischen Materialien zu eingeschränkt für Polleschs Theaterpraxis sei: „Im Unterschied zu einer bloßen Inszenierung aktueller Diskurse über Stadtpolitik, Selbstausbeutung und Entfremdung arbeitet Pollesch immer zugleich an den Heterotopien des Theaters. So findet bei ihm das Nachdenken über den Theaterapparat und die Thematik der Entfremdung im Kurzschluss von Arbeit und Konsum ihren gemeinsamen Niederschlag im Problem des Orts“ („Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen“ 20). Verschränkung von Arbeit und Zuhause sowie zum Zusammenhang zwischen Ökonomie, Gefühlswelt und Geschlechterordnung vereint. Der zweite Teil der Heidi-Hoh-Trilogie wird des Weiteren im soziologischen Aufsatz „Das Insour‐ cing des Zuhause“ von Kuster und Lorenz, auf den noch im Zusammenhang mit Polleschs gleichnamiger Inszenierung eingegangen wird, an mehreren Stellen ohne jegliche Stellungnahme dazu zitiert. Polleschs Anliegen ist es somit, ein ‚anderes‘ Theater zu machen, das sich als fruchtbar für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Problematiken erweisen soll (vgl. Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 120). Dieses andere Theater wird oft in Forschung, Feuilleton und Kritik als ‚Diskurstheater‘ bezeichnet. 5 Dies liegt zum einen daran, dass seine Stücke vor dem Hintergrund der theo‐ retischen Ansätze Facetten der gegenwärtigen Globalisierung behandeln, und zum anderen an der Einbindung dieser Ansätze in die Inszenierungstexte, und zwar mit dem Ziel, die ‚Theorietauglichkeit‘ beziehungsweise den Gebrauchs‐ wert von Theorien zu überprüfen. Dieses besondere theatrale Verfahren hat die Thematisierung von gegenwärtigen Angelegenheiten zum Ziel, die der unmittelbaren Erfahrungswelt der Schauspieler_innen, des Publikums und des Theatermachers angehören. Im Mittelpunkt von Polleschs Theaterkonzeption stehen die allumfassenden Globalisierungsphänomene, vor allem in puncto moderne Arbeitsverhältnisse, sowie die dadurch erzeugten Widersprüche. Nicht 169 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="170"?> die Kapitalismuskritik an sich ist das zentrale Anliegen seiner Tätigkeit, auch wenn sie sich daraus deutlich ablesen lässt, sondern die Position des einzelnen Menschen „in der Zeit der eingesetzten Globalisierung“: Als ich Ende der 90er Jahre Heidi Hoh geschrieben habe, über Arbeit, die outgesourct wird, wo man statt wie früher im Büro nun plötzlich zu Hause sitzt, weil es für die Firma billiger ist, einen Computer nach Hause zu liefern als ein Büro anzumieten, war das Hauptproblem des Textes nicht, daß jemand arm ist, sondern daß jemand nicht mehr wußte, wo er sich befindet. Ist er jetzt bei der Arbeit oder ist er zu Hause? Diese Frage führt zu einem anderen Umgang mit dem Problem der Globalisierung auf dem Theater. Eben nicht als erweiterte Kapitalismuskritik, sondern als Frage: ‚Was ist eigentlich das Problem der Globalisierung? ‘ Das spiegelt genau meine Situation. (Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 120) Das neue Theater soll, so Pollesch, deutlich von dem traditionellen Reprä‐ sentationstheater abgegrenzt werden, indem es sich erstens stets zwischen Autobiographie und Repräsentation bewegt und zweitens, indem das ‚Normale‘ problematisiert, wenn nicht sogar komplett aufgegeben wird. Dies liegt daran, dass der ‚Normalität‘ eine gewisse Hierarchisierung innewohnt, weil sie stets bestimmten Interessen entsprechen soll (vgl. Pollesch, „Der Ort, an dem Wirk‐ lichkeit anders vorkommt“ 317). Die in Frage gestellte Normalität ist dabei als ein Oberbegriff konzipiert, der sowohl auf das Theater als Institution als auch auf die Sprache und alle menschlichen Verhältnisse (Arbeit, zwischen‐ menschliche Beziehungen, geschlechtliche, gesellschaftliche sowie politische Ordnung) bezogen wird. So wechseln die Schauspieler_innen beispielsweise das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, den Beruf oder gar den Namen, um den Rahmen des ‚Normalen‘ zu sprengen. Um den Alltag und das, was ihn ausmacht, problematisieren und bearbeiten zu können, muss die Normalität dementsprechend als gesellschaftliches Konstrukt, dessen Allgemeingültigkeit zu überprüfen ist, entlarvt werden. Dem Repräsentationstheater, das darauf abzielt, „die eigene Realität zu ver‐ gessen“ (Pollesch, „Neues und gebrauchtes Theater“) steht Polleschs Theater, das die eigene mit Repräsentationen aufgeladene Realität thematisiert, entgegen. Das Problem eines Repräsentationstheaters liege darin, so Pollesch, dass seine Sichtweise sehr eingeschränkt ist: Es zielt auf allgemeingültige Maximen, pocht auf Universalität, das heißt beschränkt sich auf eine einzige Perspektive, aus der erzählt wird, spricht quasi für alle, und blendet dementsprechend das aus, was aus dem Rahmen fällt, „was nicht weiß, männlich und heterosexuell ist“ (Pollesch, „Lebe im Selbstwiderspruch! “ 13). Pollesch arbeitet hingegen am 170 Olga Vrublevskaya <?page no="171"?> paradoxen Denken, wechselt stets die Perspektive, um die Ganzheit, die er dem Begriff der Universalität gegenüberstellt, zu erreichen (vgl. ebd.). Das andere Theater setzt sich zwar nicht die Kapitalismuskritik als Hauptziel, ist aber trotzdem aus ihr heraus entstanden: Die Kritik ist Polleschs Theater insofern inhärent, als es sich als Abgrenzung zum traditionellen Theater posi‐ tioniert, das Nicht-Markierte, sprich ‚Normale‘, infrage stellt und die kritische Auseinandersetzung mit den Texten, die ihrerseits einen kapitalismuskritischen Gestus aufweisen, in den Vordergrund rückt. Wie dies vollzogen wird, wird im Folgenden am Beispiel der bereits genannten Inszenierung „Insourcing des Zuhause“ illustriert. Zunächst muss aber auf die Rolle der Schauspieler_innen eingegangen werden, denn auch deren Positionierung in Polleschs Theater dient, so ist die These, einer Kritik, die sich nicht zuletzt gegen Ausbeutungsver‐ hältnisse innerhalb des Theaters als Teil der „widersprüchlichen Gesellschaft“ (Pollesch, „Lebe im Selbstwiderspruch! “ 14) richtet. 3. Schauspieler auf der Bühne: zwischen Realität und Fiktion „Schauspielen erscheint und reflektiert sich im Theater von René Pollesch“, so Patrick Primavesi, „nicht bloß als ästhetische Kunstleistung, sondern als gesellschaftlich bedingte Praxis“ („Schauspielen“ 157). Es ist also nicht nur das hierarchische Verhältnis zwischen Theater und Text, das bei Pollesch hinter‐ fragt wird, sondern auch die ‚Herrschaftsverhältnisse‘ zwischen Regisseur und Schauspieler_innen, denen eine gewisse Autonomie verliehen wird, sodass die Proben zu lebhaften Diskussionen werden (vgl. Pollesch, „Den Markt umgehen“ 349). Diese Autonomie bezieht sich in erster Linie auf die vom Regisseur vorge‐ schlagenen Texte: Es geht nämlich nicht darum, dass die Schauspieler_innen sich die zugrundeliegenden Theorien aneignen. Vielmehr soll die Diskussion zum grundlegenden Verständnis des behandelten Problems führen. Ist dies nicht der Fall, so haben die Schauspieler_innen die Möglichkeit, die Texte zu modifi‐ zieren, indem sie autobiographische Aspekte einbringen, oder ganz auf sie zu verzichten. Sie sind also „nicht in eine Geschichte oder in einen Plot, sondern in ein Problem [involviert], das die heutigen Lebenszusammenhänge derer betrifft, die da ins Theater kommen“ (Gerstenberg/ Günther 216). Sie müssen sich im Text wiederfinden und genau wissen, welches Problem im jeweiligen Text behandelt wird und ob sie diesen Stoff auf ihre eigene Lebenssituation beziehen können, um dies schließlich auf der Bühne vorzuführen. Diese Grundvoraussetzung gilt für jede Inszenierung und lässt sich auf Polleschs Theaterkonzeption, auf die Andersartigkeit seiner Ästhetik, zurückführen, die sich unter anderem auch in der eigentlichen ‚Aufgabe‘ der Schauspieler_innen widerspiegelt. Denn auch sie 171 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="172"?> 6 Der Begriff ist in Anführungszeichen zu verwenden: Zwar verweist Pollesch darauf, dass die Inszenierungstexte in Kooperation mit den Schauspieler_innen entstehen und dass sie ebenfalls Autor_innen sind (vgl. „Der Pollesch-Code“ 119), dennoch erscheinen die Texte im Nachhinein nur unter seinem Namen. gehen einen Schritt über ihre herkömmliche Rolle hinaus, worauf Claudia Splitt, eine der drei Schauspielerinnen, die in „Insourcing des Zuhause“ auftritt, bereits hingewiesen hat: Man spricht immer von einer Metaebene aus. Es geht nie darum, dass wir als Figuren sprechen oder uns eine Rolle ausdenken, sondern man soll so sachlich wie möglich auf einen Gefühlszustand blicken. […] Man muss die Sachen extrem selbstbewusst und sicher sprechen. Ich glaube, deshalb ist es René so wichtig, dass man überhaupt weiß, wovon man spricht. Je mehr du der Logik des Textes folgst, desto sicherer kannst du deine Sätze auch präsentieren. (179) Dass die Schauspieler_innen ihre eigenen Erfahrungen in die Texte integrieren, indem sie eine Verbindung zwischen in den Texten behandelten Phänomenen der Globalisierung und ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit herstellen, ver‐ ändert auch deren Status im Rahmen des Theaters, denn sie bewegen sich stets zwischen Realität und Fiktion. Wie Diedrich Diederichsen sehr treffend formuliert, „befinden [sie] sich erkennbar nicht in einem alltäglichen Modus der Selbst-Identität, doch ihre Präsenz ist auch überhaupt nicht vom Begriff des Schauspiels gedeckt. Sie sind konstitutiv nicht ganz sie selbst wie sie auch nicht jemand anders sind.“ („Maggies Agentur“ 107) Die ‚doppelte Autorschaft‘ 6 wird somit ins Zentrum von Polleschs Theaterkonzeption gerückt, denn die Schauspieler_innen dürfen mitbestimmen, ob der Text überhaupt für die Bühne geeignet ist: Wenn wir arbeiten, gibt es keinen Text, den sich die Spieler unbedingt aneignen müssen, sondern sie können zu dem Text, den ich vorschlage, auch nein sagen. Ich bringe dann zur nächsten Probe andere Texte mit. Die Spieler schaffen sich auch nicht ab, wenn sie nein zu einem Text sagen. Es wird weitere Texte geben. […] Er [der Spieler] kann auch sagen, dieser Text interessiere ihn nicht. Dann ist der Text weg. […] Wenn ich Texte schreibe, sind sie mir wichtig. Ich weiß allerdings nicht, ob sie für die jeweilige aktuelle Produktion wichtig sind. (Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 119) Es ist daher nur konsequent, dass Pollesch seine Stücke nicht zum Nachspielen freigibt, denn, so konzipiert, sind die Texte auf konkrete Beteiligte, Inszenie‐ rungsabende und Situationen angewiesen und unter anderen Umständen nicht 172 Olga Vrublevskaya <?page no="173"?> mehr vollständig wiederholbar: „Die Schauspieler erinnern sich, während sie das Stück aufführen, an die Diskussion. Man kann sie nicht einfach einem anderen Ensemble geben, das sie als Fertigprodukt nutzt.“ (Pollesch, „Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt“ 313) Diese Vorgehensweise scheint nun gerade vor dem Gesichtspunkt der Ka‐ pitalismuskritik von besonderem Interesse zu sein, denn die Einbettung der Schauspieler_innen in den Produktionsprozess und deren Position im Theater‐ betrieb führt auf das Konzept des ‚anderen‘ Theaters zurück, das im Zeichen der Globalisierung entstanden ist. Globalisierung, so Pollesch, „verändert die Räume insgesamt und bringt alles in Bewegung bis hin zu einer Künstlerposition“ (Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 120). Es wäre somit fehlerhaft, das Theater als einen Ort zu betrachten, der von allumfassenden Globalisierungsprozessen abgekapselt wäre. Ganz im Gegenteil: Die zentralen Anforderungen an die arbeitenden Subjekte im Kontext des Kapitalismus, nämlich Flexibilität und Kreativität, sind die Qualitäten, die die schauspielerische Tätigkeit per se definieren. Darum müssen die Schauspieler_innen nicht mehr eine „Fürspre‐ cherposition“ übernehmen, um über die Ausbeutungsprozesse auf der Bühne zu reflektieren, vielmehr sollten sie ihre eigene Lage durch die Texte zum Ausdruck bringen, damit das, was gesagt wird, „auch eine Wirkung ha[t]“ (Pollesch, „Der Pollesch-Code“ 120). Auch aus dieser Perspektive kann das konventionelle Theater, in dem tiefgreifende Wandlungsprozesse nur aus einer neutralen, distanzierten Position heraus thematisiert werden können, kein geeigneter Ort der Kritikausübung sein. Das ‚andere‘ Theater ist hingegen die Kritik per definitionem, denn es stellt auch die Arbeit im Theater als Paradebeispiel der modernen Arbeits- und Berufswelt heraus. Dieses Theater beruht auf der Neukonzeptualisierung des Inszenierungs‐ textes (praktische Anwendung von Theorie) und der Rolle von Schau‐ spieler_innen (als Koautoren), liefert allerdings dabei keine eindeutige Lösung des Problems: Vielmehr geht es darum, die prekären Arbeits- und Lebensverhält‐ nisse in einer neoliberalen Welt spielerisch offenzulegen, um einen schärferen Blick auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konstruktionen zu werfen und darüber nachzudenken, was verändert werden sollte. Wie dies von Pollesch und seinem Team tatsächlich vollzogen wird, wird im Folgenden anhand 173 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="174"?> 7 Die Wahl des Textes liegt zum einen daran, dass die Inszenierung zu den früheren Ar‐ beiten Polleschs gehört, die sich intensiver mit Globalisierungsphänomenen, vor allem mit der Arbeitswelt, beschäftigen. Zum anderen illustriert der Text die Arbeitsweise mit der theoretischen Vorlage, die als solche durch die Titelübernahme herausgestellt wird, und thematisiert nicht zuletzt die Position der Schauspieler_innen im Theaterbetrieb als Beispiel für die behandelten theoretischen Überlegungen. ausgewählter Stellen aus dem Inszenierungstext „Insourcing des Zuhause“ 7 exemplarisch aufgezeigt. 4. Das Phänomen ‚Boardinghouse‘: „Was ist das hier? “ Im Dezember 2000 erschien ein spezielles Heft der Widersprüche-Zeitung (Zeit‐ schrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich), das den „Transformationen des städtischen Alltags und de[n] damit verbundenen veränderten Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von Kollektiven und Indi‐ viduen“ („Editorial“ 4) nachging. Unter allen wissenschaftlichen, essayistischen und journalistischen Beiträgen zum aufgestellten Schwerpunkt ist der Aufsatz „Das Insourcing des Zuhause“ von Brigitta Kuster und Renate Lorenz von besonderem Interesse, denn es handelt sich um eine Textvorlage für Polleschs zweite Prater-Inszenierung „Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiss-Ho‐ tels“. Der Aufsatz behandelt die Vermarktung aller Lebensbereiche mitsamt der damit verbundenen Gefühlswelt, was in einen engen Zusammenhang mit dem Problem der Verortung beziehungsweise der Ortlosigkeit in einer globalisierten Gesellschaft gebracht wird. Im Vordergrund steht dabei das aus den Vereinigten Staaten transportierte Konzept des Boardinghouse, das eine neue Wohnform zwischen dem klassischen Hotel und dem Zuhause angesichts der zunehmenden Mobilität und Flexibilität arbeitender Subjekte darstellen soll (vgl. Kuster/ Lorenz 13). Wurde das Zuhause ursprünglich als ein Ort konzipiert, der vom Arbeitsplatz deutlich abgegrenzt wurde, so verschwimmt erstens diese Grenzziehung im Kontext der gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse und zweitens verbringen arbei‐ tende Subjekte zunehmend mehr Zeit unterwegs als zu Hause. Das Zuhause wird häufig zu einem imaginären Ort, der primär in den Wunschvorstellungen der arbeitenden Subjekte existiert. Die zentrale Fragestellung der Autorinnen be‐ zieht sich somit darauf, wie diese Vorstellung von Zuhause, das ‚Zuhausegefühl‘, durch ein Substitut wie das Boardinghouse produziert und zumindest zeitweise aufrechterhalten werden kann und wie dies die Arbeitssowie Lebensverhält‐ nisse der Beschäftigten beeinflusst (vgl. 14-5). 174 Olga Vrublevskaya <?page no="175"?> 8 Der Begriff ‚Entgrenzung‘ wird im soziologischen Diskurs hauptsächlich zur Charak‐ terisierung des aktuellen sozioökonomischen Wandels und somit der neuen Arbeits‐ verhältnisse herangezogen und bedeutet unter anderem die Instrumentalisierung der privaten Sphäre zugunsten des Berufs, was zum Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Ökonomischen und dem Privaten führt (vgl. Voß 473-87). 9 Die Autorinnen verweisen durch diesen Begriff nicht auf eigentliche Sexarbeit, sondern darauf, dass solche Erwerbstätigkeit, die an den Einsatz des Persönlichen gebunden ist, immer mit tradierten Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und Heteronormativität einhergeht. Die Autorinnen skizzieren die historischen Vorläufer des Konzepts (kollektive Wohnformen des 19. und 20. Jahrhunderts) und weisen darauf hin, dass diese im Laufe der Zeit modernisiert wurden, um den neuen Anforderungen der neoliberalen Welt - der maximalen Flexibilität und Mobilität - entsprechen zu können. Im Vergleich zu einem Hotel geht das moderne Boardinghouse einen wesentlichen Schritt weiter und präsentiert sich als ein Unternehmen, in dem das durchaus illusionäre Zuhause als Produkt angeboten und gleichzeitig ‚ingesourct‘ wird: „Das Zuhause ist ein Marketingkonzept und Element der Fir‐ menkultur, das durch verschiedene Maßnahmen - wie etwa die Einrichtung, die Festanstellung von Reinigungskräften oder durch den Einkaufsservice - in den Hotelbetrieb eingegliedert wird.“ (Kuster/ Lorenz 18) Die Idee ist nun, dass das Boardinghouse - ganz dem Konzept der entgrenzten Arbeit entsprechend 8 - zum Ort wird, an dem Zuhause und Arbeit für die Gäste ineinander übergehen. Die Vorstellung von Zuhause kann jedoch nur durch eine besondere Arbeitsleistung seitens der Mitarbeiter_innen erreicht werden, die die Autorinnen als ‚sexuelle Arbeit‘ 9 bezeichnen (vgl. 20-1): Die angebotenen Dienstleistungen müssen dem Gast maximal ‚persönlich‘, das heißt ‚häuslich‘ vorkommen, was bedeutet, dass die bezahlte Tätigkeit der Mitarbeiter_innen den Einsatz persönlicher Anteil‐ nahme beziehungsweise Fähigkeiten erfordert. Sie müssen ‚echt‘ und unbezahlt agieren, das Familienverhältnis ‚performen‘ und somit über ‚schauspielerische Begabung‘ verfügen: „Die Gäste können etwa der Mitarbeiterin am Empfang - entsprechend der traditionellen Vorstellung von einer Ehefrau - ‚schnell ein Fax schicken vom Büro oder kurz mal anrufen‘, um bestimmte Lebensmittel zu bestellen, die sie dann später in ihrem Kühlschrank vorfinden.“ (Ebd. 20) Damit beschreiben die Autorinnen ein Modell, das einerseits die Ökonomisierung von privater Sphäre, Subjektivität sowie Sexualität schildert - und an der Stelle tauchen maximal stereotypisierte Geschlechterrollenbilder auf - und das andererseits Reminiszenzen an die schauspielerische Tätigkeit enthält. Die skizzenhaft erläuterten zentralen Thesen des Aufsatzes wurden für die gleichnamige Inszenierung des Autors und Regisseurs übernommen, um, wie Stephanie Lehmann treffend formuliert, die Argumentationslinie zu prä‐ 175 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="176"?> 10 Im Folgenden werden alle Belege für Insourcing des Zuhause lediglich unter Verweis auf die Seitenzahlen angeführt. zisieren und an bestimmten Stellen zu erweitern: „Dennoch stellt Insourcing des Zuhause keine bloß in Dialoge aufgeteilte Argumentation theoretischer Texte dar. Polleschs Inszenierung bleibt nicht bei der Wiedergabe des Materials stehen, sondern denkt sie weiter.“ (Die Dramaturgie der Globalisierung 299) Dies bestätigen auch die Autorinnen des Aufsatzes in einem Gespräch mit René Pollesch: RENÉ. […] Bei ‚Insourcing‘ versucht der Abend schon, sich entlang Eurer Analyse zu bewegen. BRIGITTA KUSTER. Und geht auch darüber hinaus. Vom Textschreiben aus fand ich das total interessant, weil es unseren Text inhaltlich weiter produziert an Stellen, wo wir aufgehört haben. (Becker et al. 223) Was den Regisseur am Text vor allem interessiert, sind die angekündigten Grenzverwischungen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit: Der ambivalente Cha‐ rakter des Ortes Boardinghouse als Hotel und gleichzeitig als Fabrik, die das Gefühl des Zuhause-Seins produziert, wird in den Vordergrund des Stückes ge‐ rückt. So übernimmt Pollesch beinahe wörtlich die zentrale Frage des Aufsatzes und wirft sie zu Beginn des Inszenierungstextes auf: „Ja, gut, aber durch welche sozialen Praktiken soll hier eine Vorstellung von Zuhause produziert werden? Durch was denn? “ („Insourcing des Zuhause“ 43). 10 Drei Schauspielerinnen (Nina Kronjäger, Christine Groß und Claudia Splitt), die im Stück unter ihren eigenen Namen auftreten, versuchen zu klären, was das Zuhause ist und wie es im Hotel dargestellt wird, indem sie bestimmte Stellen des Aufsatzes aufgreifen und darüber im ‚Dialog‘ reflektieren. Auch hier wird das Zuhause als ein Ort markiert, der nur in den Erinnerungen der Figuren vorhanden ist und im Hotel als immaterielles Produkt angeboten wird (43). Dabei sind diese Erinnerungen deutlich brüchig, denn Polleschs Figuren haben kein klares Bild von Zuhause mehr: „[D]as erinnert mich alles an IRGENDWAS ! Zuhause oder Dingsda oder WAS DA MAL WAR ! ! “ (47, Hervorhebung im Orig.) oder „ WAS IST ZUHAUSE ! Ich hab das irgendwie nicht mehr, da war mal was, da war mal jemand, der immer auf mich wartete zu Hause, aber war es das? WAR ES DAS ! ? “ (48, Hervorhebung im Orig.). Das Zuhause ist somit weniger ein geographisch genau lokalisierbarer Ort, als vielmehr eine Assoziationskette: Es zeichnet sich durch eine Reihe von besonderen Qualitäten oder Erfahrungen, wie individuelle Abgeschiedenheit und Geborgenheit, aus, die ein Mensch in höchstem Maße nur dort genießen kann. Zudem definiert 176 Olga Vrublevskaya <?page no="177"?> 11 Siehe dazu auch Bergmann. es sich durch eine spezielle Beziehungsart, nämlich durch das persönliche Verhältnis der Angehörigen zueinander. So ist das Ziel der ‚Hotelfabrik‘, das „Zuhausegefühl“ (44) zu realisieren, indem dieses Verhältnis imitiert wird. Das Boardinghouse-Personal muss folglich so agieren, als ob das persönliche Verhältnis nicht bezahlt, sondern authentisch wäre (46). Die höchste Glaub‐ würdigkeit kann allerdings erst dann erreicht werden, wenn die persönliche Anteilnahme gegenseitig ist. Dies bedeutet, dass auch der Gast am ‚Produk‐ tionsprozess‘ beziehungsweise an der Performance aktiv teilnehmen, sprich emotionale Gegenleistung erbringen sollte. Im Unterschied zu einem Hotel, bei dem beiden Parteien bewusst ist, dass die Erfüllung der Wünsche eines Gastes gegen entsprechende Bezahlung erfolgt, wird hier die Illusion erzeugt, dass die Leistungen ihm aufgrund der ihm individuell entgegengebrachten Wertschätzung zustehen. Die Schauspielerinnen, die im Stück die Rolle des Boardinghouse-Personals ‚anprobieren‘, verweisen verzweifelt darauf, dass es grundsätzlich keine ‚echten‘ Gefühle mehr geben kann, wenn auch die Gefühls‐ welt durchökonomisiert wird: „All diese Gefühle, die ich fühle, das ist alles bloß Dienstleistung! “ (53) Diese Replik erlaubt zudem eine selbstreferenzielle Lesart: Die Schauspielerinnen verweisen durch die erste Person Singular auf ihre eigene Position im Theaterbetrieb, in dem die glaubwürdige Darstellung auf der Bühne im Vordergrund ihrer Tätigkeit steht. Die Durchökonomisierung von Gefühlen wird zudem im Stück buchstäblich mit der Prostitution gleichgesetzt („Love-Hotel“, 45, „Und die arbeiten als Huren“, 52): ein Beruf, der per defini‐ tionem den Einsatz von persönlichen beziehungsweise intimsten Leistungen impliziert. Die mehrfach betonte Performance von familiären Verhältnissen zwischen Gästen und Angestellten führt, so die Protagonistinnen, zur Verstär‐ kung von Geschlechterdifferenzen und Heteronormativität: C. Die Produktion von Zuhause als einem Ort der Abgeschiedenheit, der Familie, der heterosexuellen Ordnung und der ethnischen Zugehörigkeit ist ein Mittel[,] über das Normalisierung hergestellt wird. (48) An dieser Stelle schafft der Inszenierungstext eine Verknüpfung zwischen zwei Bereichen, nämlich zwischen kapitalistischen Arbeitsverhältnissen und dem tradierten Geschlechtersystem - ein Themenkomplex, mit dem sich Pollesch und seine Schauspieler_innen ausführlicher unter anderem in der Heidi-Hoh-Trilogie sowie im dritten Teil der Prater-Trilogie „Sex: Nach Mae West“ auseinandersetzen. 11 Die Verstärkung der Heteronormativität im privaten Bereich rekurriert auf die herkömmlichen Vorstellungen, das Zuhause, sprich 177 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="178"?> 12 Siehe auch den Beitrag „Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Margaret Atwoods Oryx and Crake (2003)“ von Johannes Fehle in diesem Sammelband. Hausarbeit sowie Fortpflanzung, gehöre einem weiblichen Tätigkeitsbereich an, der aufgrund seiner Einordnung in die private Sphäre keiner Entlohnung unterliegt. 12 Dies gehört zu den Aspekten, die die ‚Normalität‘ ausmachen und die Pollesch programmatisch in seinen Inszenierungen infrage stellt. Die Ausbeutungsprozesse innerhalb der Arbeitsverhältnisse werden somit mit den Ausbeutungsverhältnissen im familiären Bereich verknüpft. Bemerkenswert erscheint auch die räumliche Ausstattung des Boarding‐ house, die es ebenfalls von einem klassischen Hotel abgrenzt, und zwar die Abwesenheit von ‚öffentlichen Räumen der Selbstpräsentation‘: Auf Mini-Bars, Hotellobbys und Restaurants wird hier zugunsten der Verstärkung des Zuhau‐ segefühls verzichtet (44-5). Kritisch aufgegriffen wird hier auch die Anmerkung der Autorinnen des Vorlagetextes, die Suiten im Boardinghouse würden gemäß dem Stand in der Firmenhierarchie differenziert: So gibt es beispielsweise Chief Executive-, Manager- oder Sekretärinnen-Suiten (vgl. Kuster/ Lorenz 23). Die Schauspielerinnen vermitteln dabei eine andere Perspektive auf die interne Einteilung, indem sie darauf hinweisen, dass der tatsächliche Beruf des Gastes keine Rolle spielt: „Ich muss kein Manager sein, um mich in der Manager-Suite einzumieten.“ (51) Das moderne Boardinghouse geht somit einen wesentlichen Schritt weiter als sein historischer Vorläufer in den USA, der Wert auf den sozialen Status des Gastes legte, und bietet die Möglichkeit, die gewünschte berufliche Identität durch den Einzug in das entsprechende Zimmer zu erwerben. Zudem wird an dieser Stelle betont, dass im Boardinghouse nur die hochbewerteten, an Profit gekoppelten Berufe angesehen sind. Es werden beispielsweise keine Suiten für Fahrer der Müllabfuhr angeboten: C. Da arbeiten all diese Manager in Management-Suiten. Und Sekretärinnen im Sekretärinnen-Hotel. Und die Mobilität von Müllwagenfahrern ist nicht so hoch bewertet, also haben die auch keine eigenen Hotels. T. MÜLL HAT KEINE EIGENEN HOTELS! N. Die fahren einfach weiter auf ihren TOLLEN MÜLLWAGEN DURCH DIE GEGEND! (51, Hervorhebung im Orig.) Der Vertreter eines ‚minderwertigen‘ Berufs mit maximaler Flexibilität und Mobilität, insofern, als er an keinen festen Arbeitsplatz, sondern nur an sein Fahrzeug gebunden ist, verfügt über keinen eigenen Raum der Repräsentation. Betrachtet man das Boardinghouse als Sinnbild der herrschenden kapitalisti‐ schen Ordnung, so werden hier beispielhaft die Mechanismen der Selektion und 178 Olga Vrublevskaya <?page no="179"?> Exklusion in der neuen Arbeitswelt abgebildet: Inkludiert werden hier nur die hoch bewerteten Berufe, während die weniger qualifizierten aus der internen Eingliederung zuerst einmal ausgeschlossen sind. Die berufsorientierte Differenzierung von Hotelzimmern ist zudem auf das andere wesentliche Merkmal eines Boardinghouse zurückzuführen: Das Boardinghouse ist grundsätzlich nur für arbeitende Subjekte gedacht. Es ist zwar möglich, mit einem Partner einzuziehen, die Anwesenheit von Kindern ist jedoch nicht erwünscht, denn sie verkörpern einen Störfaktor im Arbeits‐ prozess (56). Die Gäste sind auf ihre Funktionen innerhalb der Arbeitswelt reduziert: Die übrigen sozialen Rollen werden weder beim Einzug beachtet („Ich werde nicht als Ehefrau oder Mutter angesprochen“, 55), noch sind sie als Identifikationsangebot im Boardinghouse vorhanden. Kinder werden im Stück als Ergebnisse einer „heterosexuellen Produktion“ bezeichnet, an denen die „kapitalistische Produktionsweise ja weitergegeben [wird]“ (57). Durch die Reduktion der Kinderproduktion auf die ökonomische Notwendigkeit der Reproduktion menschlicher Arbeitskraft wird an der Stelle erneut kritisch auf die gänzliche Durchökonomisierung der privaten Sphäre hingewiesen, indem der Institution Familie primär wirtschaftliche Relevanz zugeschrieben wird. Das Boardinghouse bietet Abgeschiedenheit, Sicherheit und Ordnung als maximales Prestige an, während sich der Gast seinerseits dem sozialen Ansehen des Hauses entsprechend verhalten soll. So wurde beispielsweise eine Protago‐ nistin der Inszenierung vom Portier nicht eingelassen, weil sie im Hausanzug erschienen ist (77). Das soziale Ansehen und die ökonomische Komponente werden also zu leitenden Prinzipien, denn alles wird in Wert umgesetzt. Der Begriff ‚Profit‘ wird dabei auch auf die arbeitenden Subjekte (und an der Stelle werden nicht nur die Kunden, sondern auch die Mitarbeiter_innen des Boardinghouse gemeint) und ihre Körper angewandt (52). Nicht nur das Zuhause, sondern auch das Hotelpersonal wird hier als Produkt behandelt, indem dessen Arbeitsfähigkeit und -qualität ständigen „Gefühls“beziehungsweise „Waren‐ tests“ unterliegt (63). Genauso entindividualisiert erscheinen die drei Sprechfiguren der Insze‐ nierung: Das vorgefertigte Textmaterial, das, wie bereits erläutert, zum Teil wortwörtlich aus dem Vorlagetext übernommen, zum großen Teil aber auch transformiert wird, bildet den Kern der ‚Dialoge‘, die von keinen autonomen Subjekten zur Sprache gebracht werden, denn die Schauspielerinnen ändern stets ihre Perspektive, Position und ‚Rolle‘. Ihre Individualität zeigt sich nur in der Emotionalisierung des Ganzen durch „ AAAAHHHH “-, „ SCHEISSE “-, „ DAS WILL ICH NICHT ! “-, oder „ DAS HALT ICH EINFACH NICHT AUS ! “-Aus‐ rufe (45, 49, 54, 67, Hervorhebung im Orig.). John von Düffel bezeichnet 179 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="180"?> Polleschs Figuren als „Funktionen“ (von Düffel/ Schössler 44-5): Sie fungieren als „Laut-Sprecher“ (Eke 179) des schriftlichen Textes, als Träger der Theorie und deren verunsicherte Stimme, als Störsignale, „die alltägliche Erfahrungen zugleich komisch und erschreckend bewusst machen“ (Primavesi 19). Die Dialoge beziehungsweise die „dialogisch gesprochen[en] Monolog[e]“ (Lengers 152) drücken Verzweiflung und Verunsicherung, Widerstand und Des‐ orientierung aus und suspendieren dadurch die Sinnhaftigkeit sowie die kon‐ ventionelle Rolle der Schauspieler_innen im Theater. Die Schauspieler_innen, die, wie bereits beschrieben, am Produktionsprozess der Inszenierungstexte teilhaben, verleihen dem Text ihre Stimmen und scheitern daran, harmonisch mit ihm umzugehen. Die Abwesenheit von Harmonie, die für Polleschs Texte und Inszenierungen beinahe konstitutiv ist, erweitert das Potenzial seines Schaf‐ fens: Je komplizierter und unharmonischer die Texte sind, desto größer wird der dadurch erschaffene theatrale ‚Denkraum‘. Dieser Denkraum unterscheidet sich jedoch von dem einer institutionellen Debatte, was in der Forschung zu Polleschs Inszenierungen durchaus betont wird. So führt Franziska Bergmann diese Unterscheidung - in Anlehnung an Diedrich Diederichsen - auf den Effekt des Komischen zurück, der unter anderem durch die Transformation des theo‐ retischen Materials in die erste Person Singular ausgelöst wird (vgl. „Enacting Theory“ 54-5). Was aber den theatralen Denkraum primär auszeichnet, ist das Anliegen, weder Lösungen anzubieten noch das Publikum zu ‚belehren‘, son‐ dern einen Raum zu schaffen, der einen neuen Blickwinkel auf die Wirklichkeit, auf den Alltag, auf die allgemein gültigen Normen und Traditionen, sowie auf die Rolle der Schauspieler_innen ermöglicht. Dass der ‚andere‘ theatrale Raum eine geeignete Form dafür zu sein scheint, lässt sich am Beispiel von Polleschs „Insourcing des Zuhause“ gut erkennen: Die neukapitalistischen Arbeitsverhältnisse, die im theoretischen Prätext am Beispiel des Boardinghouse illustriert werden, werden als ‚Schauspiel‘ und ‚Performance‘ beschrieben, also in einen engen Zusammenhang mit den dar‐ stellenden Künsten gebracht. Der dadurch geschaffene Bezug zur alltäglichen Wirklichkeit weist zudem darauf hin, dass das Theater - ganz Polleschs For‐ mulierung entsprechend - keinen Ort darstellt, an dem eine ‚andere‘ Welt thematisiert wird, sondern als Laboratorium zu begreifen ist, innerhalb dessen theoretische Entwürfe durchgespielt und exemplarisch angewandt werden können (vgl. Bergmann, „Enacting Theory“ 60). Durchgehende Verweise der Schauspielerinnen auf das Hier und Jetzt lassen sich unter anderem auf ihre eigene Situation im Theater zurückführen: So gesehen ist die Parallelisierung von Theater und Boardinghouse als Unternehmen („Dann ist das hier eine Fabrik für Kommunikation“, 45) und somit rein kapitalistisches Phänomen insofern 180 Olga Vrublevskaya <?page no="181"?> von besonderer Bedeutung, als die Theaterarbeit in die gegenwärtigen Abhand‐ lungen über die Ausbeutungsprozesse in der prekären neoliberalen Arbeitswelt eingebettet wird. Es sind nicht nur die Angestellten größerer Konzerne, son‐ dern auch die Schauspieler_innen, die den Anforderungen von Flexibilität, Selbstorganisation, Kreativität sowie Identifikation mit dem Beruf und somit den Grenzverwischungen zwischen dem Privaten und Öffentlichen ausgeliefert sind. Dieser selbstreflexive Gestus, der in den späteren Inszenierungen von Pollesch noch mehr in den Vordergrund rückt, charakterisiert das Theater als die Schnittstelle zwischen Kunst und wirtschaftlichen Praktiken, was sich unter anderem durch die „Affinitäten des Theaters zur Börse, die zumindest der kollektiven Wahrnehmung nach auf Spiel, Spannung und Unterhaltung basiert, oder auch zum Kaufhaus, das (insbesondere zu seiner Entstehungszeit) Sensationen bietet“ (Schössler, „Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell“ 93), zeigt. 5. Metakapitalismuskritik auf der Bühne Die hier vorgebrachten Überlegungen sollten illustrieren, warum Polleschs Theaterästhetik stets den Anspruch erhebt, eine besondere Position im Kultur‐ betrieb, vor allem im Kontext der Kapitalismuskritik, einzunehmen. Denn hier umfasst der kapitalismuskritische Gestus alle Ebenen von der Theaterkonzep‐ tion bis hin zur einzelnen Aufführung. Auf der Ebene der Theaterästhetik wird davon ausgegangen, dass sich das herkömmliche Repräsentationstheater, in dem den Schauspieler_innen bestimmte Rollen zugeteilt werden, als nicht gerade kritiktauglich erweist. Pollesch unternimmt den Versuch, ein ‚anderes‘ Theater zu errichten, um die Thematisierung unserer Probleme und somit die ‚geeignete‘ Kritik zu ermöglichen. Auf der Ebene der Entstehung von Inszenierungstexten, an der auch die Schauspieler_innen aktiv teilnehmen, wird häufig mit theoretischen Vorlagetexten gearbeitet, die unter anderem auch kapitalismuskritische Züge aufweisen. Ganz plakativ steht dafür die zweite Inszenierung der Prater-Trilogie „Insourcing des Zuhause“, die den Titel der theoretischen Vorlage übernimmt und diese unter die Lupe nimmt. Ausgewählte Aspekte, etwa die allumfassende Durchökonomisierung im Zeichen des Kapitalismus, die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit und die daraus resultierende Ent‐ fremdung sowie die Orientierungslosigkeit der Individuen, werden dabei direkt in den Inszenierungstext montiert und zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht. Dass diese Transformation für die Bühne einen analytischen und nicht zuletzt kritischen Charakter trägt, zeigt sich daran, dass die Thesen des 181 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="182"?> Vorlagetextes durchaus neu perspektiviert werden. So wird das Eindringen der marktwirtschaftlichen Konzepte in das Private ad absurdum geführt, indem das Private buchstäblich als Ware und Dienstleistung akzentuiert wird. Hervorge‐ hoben werden zudem die Selektions- und Exklusionsprozesse, die am Beispiel des Boardinghouse die herrschenden Arbeitsverhältnisse illustrieren. Es stellt sich somit die Frage, ob das in unterschiedlichen Diskursen zirkulierende ‚flie‐ ßende Ineinander-Übergehen vom Privaten und Öffentlichen‘ gar als Mythos im Stück herausgestellt wird und ob das ‚Ineinander-Übergehen‘ tatsächlich die Exklusion des Privaten impliziert. Nicht zuletzt wird auch Bezug auf den Theaterbetrieb und die Position von Schauspieler_innen genommen - ein Aspekt, der in späteren Inszenierungen René Polleschs noch mehr an Bedeutung gewinnt. Denn ihre Tätigkeit stellt sich als Inbegriff der Anforderungen heraus, die an arbeitende Menschen im neoliberalen Kapitalismus gestellt werden. Die Parallelisierung von Theater und Boardinghouse als spezifisches, durch die Herausbildung des Kapitalismus entstandenes Phänomen hebt zudem die Grenzverwischung nicht nur zwischen Arbeit und Zuhause, sondern auch zwischen Ökonomie und Kunst hervor, was sich unter anderem in der Beschreibung der Arbeit des Boardinghouse-Personals als ‚Performance‘ zeigt. Die Selbstreferenz sowie der kritische Umgang mit dem theoretischen Stoff lassen sich zusammenfassend als Kapitalismuskritik auf einer Metaebene charakterisieren und eröffnen einen neuen fruchtbaren Blick auf René Polleschs Theaterwelt, die sich für weitere Untersuchung empfiehlt. Bibliographie Primärliteratur: Pollesch, René. „Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiss-Hotels.“ Wohnfront 2001-2002: Volksbühne im Prater, herausgegeben von Bettina Masuch, Alexander Verlag, 2002. S. 43-80. Sekundärliteratur: Becker, Jochen et al. „Das Material fragt zurück: Ein Gespräch zwischen Jochen Becker, Walther Jahn, Brigitta Kuster, Stephan Lanz, Isabell Lorey, Katja Reichard, Bettina Ma‐ such und René Pollesch.“ Wohnfront 2001-2002: Volksbühne im Prater, herausgegeben von Bettina Masuch, Alexander Verlag, 2002. S. 221-36. Bergmann, Franziska. „Enacting Theory: Zur theatralen Rezeption humanwissenschaft‐ licher Diskurse bei René Pollesch am Beispiel von Das purpurne Muttermal.“ Theorie und Theater: Zum Verhältnis von wissenschaftlichem Diskurs und theatraler Praxis, herausgegeben von Astrid Hackel und Mascha Vollhardt, Springer VS, 2014. S. 53-67. 182 Olga Vrublevskaya <?page no="183"?> —. „Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch: Zur Verschrän‐ kung von Neoliberalismus und Gender.“ Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, herausgegeben von Franziska Schössler und Christine Bähr, transcript, 2009. S. 193-208. Bloch, Natalie. „‚ICH WILL NICHTS MEHR ERZÄHLEN! ‘ Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch.“ SUBversionen: Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, herausgegeben von Thomas Ernst et al., transcript, 2008. S. 165-82. Boudry, Pauline et al., Herausgeberinnen. Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause. 2. Aufl., b-books, 2000. Diederichsen, Diedrich. „Maggies Agentur: Das Theater von René Pollesch.“ Dramatische Transformationen: zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutsch‐ sprachigen Theater, herausgegeben von Stefan Tigges, transcript, 2008. S. 101-10. —. „Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen: Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch.“ Theater heute, 3 (2002). S. 56-63. Düffel, John von und Franziska Schössler. „Gespräch über das Theater der neunziger Jahre.“ Theater fürs 21. Jahrhundert, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, edition text + kritik, 2004. S. 42-51. „Editorial: Zu diesem Heft.“ Widersprüche, 78 (2000). S. 3-4. Eke, Norbert Otto. „Störsignale: René Pollesch im ‚Prater‘.“ Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, herausgegeben von Franziska Schössler und Christine Bähr, transcript, 2009. S. 175-91. Englhart, Andreas. „Theatrales Mimikry in der Glokalisierung - René Polleschs transkul‐ turelle Produktion ‚Jackson Pollesch‘ am Warschauer Teatr Rozmaitości.“ Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989, herausgegeben von Carsten Gansel und Monika Wolting, V&R unipress, 2015. S. 317-34. —. Das Theater der Gegenwart. Verlag C.H.Beck, 2013. Gertenberg, Judith und Matthias Günther. „Uns geht es gut: Postdramatik, Poptheater, der Einbruch des Realen und die Neuerfindung des Bürgerlichen am Theater Basel.“ Theater fürs 21. Jahrhundert, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, edition text + kritik, 2004. S. 209-18. Heimburger, Susanne. Kapitalistischer Geist und literarische Kritik: Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten. Edition text + kritik, 2010. Kuster, Brigitta und Renate Lorenz. „Das Insourcing des Zuhause.“ Widersprüche, 78 (2000). S. 13-26. Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren, 2015. Lehmann, Stephanie. Die Dramaturgie der Globalisierung: Tendenzen im deutschspra‐ chigen Theater der Gegenwart. Schüren, 2014. 183 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="184"?> Lengers, Birgit. „Ein PS im Medienzeitalter: Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch.“ Text + Kritik: Theater fürs 21. Jahrhundert, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, edition text + kritik, 2004. S. 143-55. Leskau, Linda. „TheorieTrashTheater: Eine Untersuchung der Theatertexte von René Pollesch.“ Stimmen der Gegenwart: Beiträge zu Literatur, Film und Theater seit den 1990er Jahren, herausgegeben von Corinna Schlicht, Laufen, 2011. S. 203-20. Matzke, Annemarie. „Theorien auf die Bühne schmeißen: René Polleschs Lehr‐ stück-Theater.“ Das Buch von der angewandten Theaterwissenschaft, herausgegeben von Annemarie Matzke et al., Alexander Verlag, 2012. S. 119-33. Pollesch, René. „Neues und gebrauchtes Theater: René Pollesch im Gespräch mit Carl Hegemann.“ Interview von Carl Hegemann. Rowohlt, www.rowohlt.de/ fm/ 200/ sixcm s_filename/ pollesch_interv_hegemann.114129.pdf. Aufgerufen 11. Mai 2020. —. „Der Pollesch-Code: Im Jenseits der Repräsentation oder jenseits des Repräsentati‐ onstheaters. René Pollesch im Gespräch mit Frank M. Raddatz.“ Interview von Frank M. Raddatz. Lettre international, 108 (2015). S. 119-22. —. „Den Markt umgehen: Wie kann man im Warenkorb Theater machen, ohne selber abkassiert zu werden? Ein Küchengespräch von Christoph Braun mit René Pollesch über Bühnenarbeit und seine Favela-Trilogie.“ Interview von Christoph Braun. Liebe ist kälter als das Kapital: Stücke Texte Interviews, herausgegeben von Corinna Brocher und Anne Quiñones, Rowohlt, 2010. S. 347-56. —. „Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt: Pollesch über den Künstler als Vorzeigeobjekt und das Grauen im Theater.“ Interview von Cornelia Niedermeier. Liebe ist kälter als das Kapital: Stücke Texte Interviews, herausgegeben von Corinna Brocher und Anne Quiñones, Rowohlt, 2010. S. 313-18. —. „Wie kann man darstellen, was uns ausmacht? René Pollesch im Gespräch mit Romano Pocai, Martin Saar und Ruth Sonderegger.“ Interview von Romano Pocai et al. Liebe ist kälter als das Kapital: Stücke Texte Interviews, herausgegeben von Corinna Brocher und Anne Quiñones, Rowohlt, 2010. S. 327-46. —. „Lebe im Selbstwiderspruch! Perspektivwechsel eines Theatergenius - der Autor und Regisseur René Pollesch im Gespräch mit Frank Raddatz.“ Interview von Frank Raddatz. Theater der Zeit, 11 (2008). S. 12-5. Primavesi, Patrick. „Schauspielen (das gab es doch mal) bei René Pollesch.“ Schauspielen heute: Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, herausgegeben von Jens Roselt und Christel Weiler, transcript, 2011. S. 157-76. —. „Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen.“ Text + Kritik: Theater fürs 21. Jahrhundert, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, edition text + kritik, 2004. S. 8-25. 184 Olga Vrublevskaya <?page no="185"?> Schössler, Franziska. „Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell: Das Festival Palast der Projekte.“ Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, herausgegeben von Franziska Schössler und Christine Bähr, transcript, 2009. S. 93-114. —. „Fremdheit und Kapitalismuskritik: Okkulte Ökonomien und das Ende des Subjekts in René Polleschs Prater-Saga (2005).“ Acta Germanica: German studies in Africa. Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika, 37 (2009). S. 141-51. Splitt, Claudia. „Fliegende Texte: Claudia Splitt im Gespräch mit Jens Roselt.“ Inter‐ view von Jens Roselt. Schauspielen heute: Die Bildung des Menschen in den performa‐ tiven Künsten, herausgegeben von Jens Roselt und Christel Weiler, transcript, 2011. S. 177-84. Voß, Günter G. „Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft: Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit.“ Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31.2 (1998). S. 473-87. 185 René Polleschs ‚Theorie-Theater‘: Kapitalismuskritik auf zweiter Ebene <?page no="187"?> III. Von Katastrophen, Untergangsszenarien und (mangelnden) Alternativentwürfen <?page no="189"?> Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Margaret Atwoods Oryx and Crake (2003) Johannes Fehrle 1. Atwoods Weg zum Anthropozän Der 2003 erschienene Roman Oryx and Crake der kanadischen Autorin Margaret Atwood stellt eine dystopische Vision des Endes der Menschheit dar. Wie schon Atwoods frühere Dystopie, The Handmaid’s Tale (1985), reflektiert Oryx and Crake die Gegenwart, in der der Roman verfasst wurde, durch den Entwurf einer fiktionalen Zukunft. Während die beiden Romane gewisse Positionen verbinden, vorrangig die feministische Beleuchtung der Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft, hat sich in den zwanzig Jahren, die beide Veröffent‐ lichungen trennen, der Fokus des Schreckensszenarios erweitert. Der 1985 erschienene Text The Handmaid’s Tale stellt eine Reaktion auf den Rückschlag, den ‚backlash‘, gegen feministische Errungenschaften der späten 1960er und 1970er Jahre dar, den Atwood und andere Feminist_innen Mitte der 1980er beobachteten (vgl. hierzu Faludi) und der im Roman durch eine faschistoide, patriarchale Gesellschaft überzeichnet dargestellt wird, in der junge Frauen als Sexsklavinnen und Gebärmaschinen für mächtige Funktionäre fungieren. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich Oryx and Crake - wie auch die weiteren Bände der MaddAddam-Trilogie (The Year of the Flood, 2009, und MaddAddam, 2013) - vorrangig mit der seit der Jahrtausendwende immer offensichtlicher werdenden irreversiblen Veränderung des Weltklimas und der gesamten Weltökologie durch den Menschen. Die Romane tun dies jedoch ohne dabei die Aspekte von Geschlecht und der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen aus den Augen zu verlieren. Im Kontext von Atwoods Werk kann man zudem eine Rückkehr zu Themen wie der Beziehung zwischen Mensch und Natur feststellen, die bereits in ihrem Frühwerk wie Surfacing (1972) angelegt waren. Die Veränderungen des Weltökosystems, die Geolog_innen und Klima‐ tolog_innen in Anschluss an Paul Crutzen („Geology of Mankind“, 2002) mit dem Begriff des ‚Anthropozän‘ bezeichnen, werden in Oryx and Crake auf eine Weise beleuchtet, die hellsichtig ihre komplexen Verflechtungen mit jenem <?page no="190"?> 1 Der Begriff „capitalocene“ (Kapitalozän) wurde ursprünglich von Andreas Malm als „a more scientifically accurate designation“ (391) für das Anthropozän vorgeschlagen (vgl. Moore, Anthropocene or Capitalocene? xi), wird mittlerweile aber wohl am meisten mit den Schriften von Jason Moore verknüpft. 2 Der Aspekt der geschlechterspezifischen Ausbeutung durch eine anhand ethnischer Kategorien gestaffelte Prostitution, in der bestimmte Frauen entbehrlicher sind als andere und traumatisierten Schwerverbrechern ‚zum Fraß vorgeworfen‘ werden, gerät insbesondere im Folgeroman The Year of the Flood durch die Erzähllinie um Ren in den Fokus (etwa 130-1, 201-2). Auch in MaddAddam wird dies durch die zwei entflohenen „pain baller“ (selbst entmenschlicht durch ein an den Film Running Man, 1987, erinnerndes Strafregime, in dem sie gegen andere Strafgefangene um ihr Leben kämpfen müssen) und die von ihnen missbrauchte und traumatisierte Amanda weiter ausgeführt. kapitalistischen Gesellschaftssystem aufzeigt, deren ungeplantes Nebenprodukt sie sind (vgl. hierzu Malm). Im Folgenden werde ich zeigen, wie Atwood die verschiedenen Aspekte der verzahnten Ausbeutung von Menschen und nicht-menschlicher Umwelt darstellt. Ich werde mithilfe der gesellschaftstheo‐ retischen Ansätze des Anthropozän beziehungsweise ‚Kapitalozän‘ 1 theoretisch beleuchten, was Atwood narrativ ausbreitet, und zeigen, dass die Autorin nicht nur die Veränderung unserer Umwelt durch eine Abstraktion „des Menschen“ (anthropos) konstatiert, sondern diese klar mit kapitalistischen Gesellschafts‐ strukturen verknüpft. So wird in Atwoods Romantrilogie klar, dass es sich bei der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht ausschließlich um die Ausbeu‐ tung des Menschen durch den Menschen handelt, die früher im Fokus linker Kritik stand, sondern um eine Gesellschaftsordnung, deren Verwertungszwang sich nicht nur die Arbeitskraft des Menschen aneignet, sondern sowohl die menschliche als auch die nicht-menschliche Natur. Oryx and Crake zeigt dabei auf, wie eine globalisierte, staatlich nur minimal regulierte, kapitalistische Gesellschaft auf der Ausbeutung ihrer Arbeiter_innen in den Industriestaaten, der Eingliederung ‚natürlicher‘ Ressourcen in den Verwertungsprozess (von Rohstoffen bis nicht-menschlichen Tieren) und der Entmenschlichung von Menschen fußt; einer Form der Entmenschlichung, die in den sogenannten Industrie- und ‚Entwicklungsländern‘ auf unterschiedliche und geschlechtsspe‐ zifische Art funktioniert. 2 Auf diese Art und Weise entwickelt der Roman nicht nur eine extrapolierte Darstellung derjenigen Veränderungen, die Wissenschaftler_innen als bezeich‐ nend für das Anthropozän beschreiben, sondern beweist auch eine erstaunliche Anschlussfähigkeit an gesellschaftswissenschaftliche Theorien dieser Verände‐ rungen. Ich werde daher Aspekte der Kapitalozän-Konzeption nutzen, die vor allem mit Jason Moores Werk verknüpft wird. Moores Ansatz ist - trotz einiger gravierender methodologischer Schwächen und seiner irritierenden Tendenz 190 Johannes Fehrle <?page no="191"?> 3 Alle weiteren Zitate aus Oryx and Crake werden lediglich unter Verweis auf die Seitenzahlen angeführt. zu Strohmann-Argumenten - hilfreich, um große Zusammenhänge in der Verwertungslogik des Kapitals aufzuzeigen, wie sie fiktional auch bei Atwood dargestellt werden. Ich werde zunächst die Handlung des Romans umreißen, dann die Debatte zwischen Anthropozän und Kapitalozän und ihre (oft gar nicht so unterschiedlichen) Kernpunkte darstellen und schließlich Oryx and Crake, speziell die Unterkapitel „OrganInc Farms“ (Oryx and Crake 25-32), 3 „Oryx“ und „Birdcall“ (131-47), analysieren. Abschließend werde ich den Roman zum von Mark Fisher und anderen beschriebenen ‚capitalist realism‘ in Beziehung setzen. 2. Der Roman Oryx and Crake wird in der dritten Person erzählt. Als Fokalisationsfigur fungiert Jimmy, genannt Snowman, dessen Perspektive, vor allem in jungen Jahren, teilweise durch eine - nicht klar zu identifizierende - Erzählstimme ergänzt und kommentiert wird. Jimmy lebt als zunächst scheinbar letzter menschlicher Überlebender in einer Welt, in der beinahe alle Menschen und die meisten nicht genmanipulierten Tiere ausgelöscht worden sind. Neben Snowman wird diese entvölkerte und durch die Klimaerwärmung und das Abschmelzen der Polkappen in eine postapokalyptische Hölle verwandelte Welt von einer Gruppe menschenähnlicher, naiver Wesen namens „Craker“ bewohnt. Diese betrachten Snowman als eine Art Prophet, da nur er ihren Erschaffer Crake und ihre Lehrerin und Quasi-Gottheit Oryx kannte. Zudem gibt es Tiere wie die „Pigoons“, Schweine, die genmanipuliert wurden, um menschliche Organe zu züchten, und die nun ungewöhnlich intelligent und aggressiv sind. Der Roman hat eine doppelte Handlungsebene. In der postapokalyptischen Gegenwart unternimmt der ausgemergelte Snowman eine ‚Expedition‘, um in den Ruinen der menschlichen Zivilisation Medikamente, Lebensmittel und Waffen zu suchen. Der Großteil des Romans allerdings beschäftigt sich mit Jimmys Vergangenheit: Im Fokus stehen neben seiner Kindheit besonders die Beziehung zur ehemaligen Sexsklavin Oryx, die vor der Apokalypse seine und Crakes Geliebte war, sowie zu Crake, seinem Schulfreund und dem genialen Wissenschaftler, der nicht nur die Craker geschaffen hat, sondern auch das Virus, das - als eine Art letzter Rettung für den Planeten - die Menschheit beinahe auslöschte. Durch die kontrastive Darstellung der Kindheiten von Jimmy und Oryx entwirft der Roman ein Bild einer nur wenige Jahre in der Zukunft liegenden Gesellschaft, die von monopolistischen Konzernen und 191 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="192"?> ihren Polizeieinheiten (den CorpSeCorps) dominiert wird und in der sich die Klassengegensätze sowohl in den USA als auch global dramatisch verschärft haben. In den USA leben technokratische Eliten in gated communities, während eine abjekte, für die kapitalistische Wirtschaft größtenteils nutzlos gewordene industrielle Reservearmee in Slums, den sogenannten Pleeblands, haust; global ist die Welt in kapitalistische Industriestaaten und neo-koloniale, abgehängte Gebiete unterteilt. 3. Anthropozän und Kapitalozän: Aspekte einer (Schein)debatte Zur Analyse des Romans ist es notwendig, zunächst das aus den Naturwissen‐ schaften stammende Konzept des Anthropozän zu erklären und ihm eine, vor allem von Jason Moore vorangetriebene, Konzeptualisierung unseres gegen‐ wärtigen Zeitalters als ‚Kapitalozän‘ entgegenzustellen. Moore stellt diesen von ihm maßgeblich geprägten Ansatz als notwendige Intervention in die Debatte um das Anthropozän dar, indem er behauptet, das Anthropozän könne nicht erklären „how these alarming changes [die es beschreibt] came about“ („Introduction“ 5). Leider verzerrt er hier jedoch häufig die Gegenposition, verschweigt Gemeinsamkeiten oder (ver)wechselt die Disziplinen, indem er die empirische Beschreibung einer gegenwärtigen globalen Krise als schlechte Historisierung darstellt oder ihr ein fehlendes Verständnis des Zusammenhangs von Mensch und Natur vorwirft. Zwar hat Moores Periodisierung den Beginn des Anthropozän an den Beginn des Kapitalismus im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert zu verlegen historisch einige Vorteile, allerdings schießt Moore damit in gewisser Weise am Ziel vorbei. Entgegen seiner Rhetorik der Dringlich‐ keit, kann man die Debatte, mit Dipesh Chakrabarty, tatsächlich stellenweise als „a little bit silly“ betrachten („Ep. #19“). Statt Grabenkämpfe über eine angeblich überlegene Terminologie zu führen, täte man besser daran die Stärken beider Ansätze zu verbinden, um ihre jeweiligen Schwächen auszugleichen, als sich in Polemiken über die angebliche Naivität der Gegenseite zu verlieren. Ein für die Geistes- und Sozialwissenschaften zentraler Text der frühen Anthropozänkritik ist der 2008 erschienene Artikel „The Climate of History: Four Theses“ von Dipesh Chakrabarty. Hierin fasst Chakrabarty die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung über den Einfluss von vor allem durch die Verwendung fossiler Brennstoffe und die Massentierhaltung entstehenden Treibhausgasen auf das Weltklima zusammen und bringt diese mit Prozessen der Globalisierung und der kapitalistischen Industrialisierung in Verbindung. Hieraus entwickelt er vier Thesen: erstens, den Zusammenbruch einer Tren‐ nung von menschlicher Geschichte und Naturgeschichte, der daraus entstehe, 192 Johannes Fehrle <?page no="193"?> 4 „Während man nicht bestreiten kann, dass der Klimawandel eng mit der Geschichte des Kapitals zu tun hat, ist eine Kritik des Kapitals nicht ausreichend, um Fragen der menschlichen Geschichte zu beantworten, sobald die Krise des Klimawandels anerkannt wurde und das Anthropozän sich drohend am Horizont unserer Gegenwart erhebt“ (Übersetzung des Verf.). dass der Mensch seiner Rolle als rein biologischer Akteur entwachsen und zur geologischen Kraft geworden sei: „[I]t is no longer a question simply of man having an interactive relation with nature. This humans have always had […]. Now it is being claimed that humans are a force of nature in the geological sense.“ („Four Theses“ 207) Zweitens, die erste These habe einen wesentlichen Einfluss auf die menschliche Geschichte der Moderne. Drittens, das Anthropozän zwinge uns dazu, die globale Geschichte des Kapitals mit der Geschichte der menschlichen Spezies zusammenzubringen; und viertens, diese Verbindung von Speziesgeschichte und Geschichte des Kapitals gehe an die Grenzen unseres historischen Verstehens. Umstritten in der Debatte zwischen Anthropozän und Kapitalozän ist, neben der grundlegenden Uneinigkeit über die angeblichen terminologischen Fall‐ stricke einer Fokussierung auf eine Abstraktion des Menschen (anthropos) beziehungsweise des Kapitalismus, vor allem Chakrabartys dritte These. Hier findet sich etwa die Beobachtung: „While there is no denying that climate change has profoundly to do with the history of capital, a critique of capital is not sufficient for addressing questions relating to human history once the crisis of climate change has been acknowledged and the Anthropocene has begun to loom on the horizon of our present.“ („Four Theses“ 212) 4 Für Chakrabarty macht es die Krise des Anthropozän notwendig, eine Kritik des Kapitals mit „species thinking“ zu verbinden (ebd. 213). Während Chakrabarty sich - entgegen der wiederholten Vorwürfe aus dem Lager des Kapitalozän - sehr wohl der Schwierigkeiten des Begriffs des ‚Menschen‘ beziehungsweise der ‚Spezies‘ Mensch bewusst ist, welche Gefahr laufen, Unterschiede zwischen Arm und Reich, globalem Norden und Süden sowie den Einfluss der kapitalistischen Produktionsweise et cetera zu verklären, argumentiert er dennoch für die Notwendigkeit einer Speziesgeschichte: It seems true that the crisis of climate change has been necessitated by the high-energy-consuming models of society that capitalist industrialization has created and promoted, but the current crisis has brought into view certain other conditions for the existence of life in the human form that have no intrinsic connection to the logics of capitalist, nationalist, or socialist identities. They are connected rather to the history of life on this planet, the way different life-forms connect to one another, and 193 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="194"?> 5 „Es scheint wahr, dass die Krise des Klimawandels vom Energie-verschlingenden Gesellschaftsmodel erforderlich gemacht wurde, das die kapitalistische Industrialisie‐ rung erschaffen und gefördert hat. Allerdings hat die gegenwärtige Krise andere Bedingungen der Existenz des menschlichen Lebens in den Blick gerückt, die keine inhärente Verbindung zur Logik kapitalistischer, nationalistischer und sozialistischer Identitäten haben. Sie sind stattdessen an die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten geknüpft, daran, wie verschiedene Lebensformen miteinander verbunden sind, und daran gekoppelt, wie das Aussterben einer Art eine Gefahr für eine andere darstellt. Ohne eine solche Geschichte des Lebens hat die Krise des Klimawandels keine menschliche ‚Bedeutung‘“ (Übersetzung des Verf.). 6 Auch hier scheiden sich allerdings die Geister. Während zum Beispiel Žižek diese Po‐ sition Chakrabartys unkommentiert lässt und sich im Wesentlichen darauf beschränkt, Chakrabartys Argument zu referieren (vgl. Living 332 bzw. 330-6), kritisieren Malm und Hornborg (66-7) wie im Folgenden besprochen Chakrabartys Bild der angeblich nicht vorhandenen Rettungsboote. 7 Vgl. hierzu die Ansätze der Environmental Justice-Schule, etwa Bullard. the way the mass extinction of one species could spell danger for another. Without such a history of life, the crisis of climate change has no human ‚meaning‘. (Ebd. 217) 5 Insofern stelle das Anthropozän eine „shared catastrophe“ dar, in die wir als Menschen - unabhängig von sozio-ökonomischen, historisch-sozialen und Identitätskategorien - gemeinsam ‚gefallen‘ seien (ebd. 218) und die unsere Existenz als Spezies so universell bedrohe, dass es keine „lifeboats […] for the rich and privileged“ gebe (ebd. 221). Es ist vor allem diese Beobachtung Chakrabartys, welche die Tür für linke Kritik öffnet. 6 Jüngere Konzeptionen eines „tipping point“, ab dem sich die Klimaerwärmung verselbstständigt und irreversibel zu Verhältnissen führt, die das Leben der menschlichen (und vieler anderer) Spezies unmöglich machen (vgl. Steffen et al. 2), zeigen zwar, dass der Klimawandel potentiell alle Leben bedroht. Dennoch sollte man die Resilienz der ungleichen Ressourcenverteilung und die damit verbundenen asymmetrischen Auswirkungen von Klimakatastrophen nicht unterschätzen. 7 Statt Chakrabartys Spezies-Solidarität zu verfallen, teile ich daher Andreas Malm und Alf Horn‐ borgs Einschätzung: „For the foreseeable future - indeed, as long as there are human societies on Earth - there will be lifeboats for the rich and privileged. If climate change represents a form of apocalypse, it is not universal, but uneven and combined“ (66-7, Hervorhebung im Orig.). Tatsächlich wird die zynische Logik des Kapitals es sich zweifelsohne nicht nehmen lassen, auch Umweltkatastrophen als Möglichkeit zu nutzen, Profite zu erwirtschaften. Ein weiterer Vorwurf Moores ist die angeblich zu kurze Historisierung des Anthropozän, das - wie er nicht müde wird zu erwähnen - bereits vor der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts angefangen habe. Während die geowis‐ senschaftlichen Beschreibungen des Anthropozän ihren Beginn an messbare kli‐ 194 Johannes Fehrle <?page no="195"?> matologische Veränderungen durch massiv erhöhten CO 2 -Ausstoß beziehungs‐ weise den Beginn des Atomzeitalters anknüpfen und hier die technologischen beziehungsweise sozio-ökonomischen Grundlagen dieses Effekts tatsächlich nicht im Zentrum stehen, ist dies in historischen und sozialwissenschaftlichen Debatten häufig der Fall. Durch den Hinweis auf klima- und ‚prä-historische‘ Entwicklungen wie die Veränderungen des Weltklimas während des Übergangs vom Pleistozän ins Holozän, 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, und der damit verbundenen Schaffung der Grundlagen sesshaften menschlichen Lebens, die nun durch einen Übergang ins Anthropozän bedroht sind, weist zum Beispiel Chakrabartys Ansatz ironischerweise sogar eine viel längere Periodisierung auf als Moores. Dies ist vor allem deshalb paradox, da Moore Theoretiker_innen des Anthropozän (inklusive Chakrabarty) wiederholt vorwirft, durch ihren (bei Crutzen und seinen Nachfolgern tatsächlich auftauchenden) Fokus auf die Zeit seit der sich intensivierenden Industrialisierung und die damit verbundene massenhafte Verwendung fossiler Brennstoffe historisch zu kurz zu denken und die notwendigen Vorentwicklungen des Kapitalismus zu ignorieren. Auf der anderen Seite weisen jedoch Malm und Hornborg auf die Fallstricke einer sol‐ chen sehr langen Periodisierung à la Chakrabarty und einer zu großen Insistenz auf eine Speziesgeschichte hin: „To invoke ultraremote causes of this kind [etwa die notwendige Vorbedingung des Feuermachens für die Erschließung fossiler Brennstoffe] ‚is like explaining the success of the Japanese fighter pilots in terms of the fact that prehumans evolved binocular vision and opposable thumbs[‘]“ (64). Moores Hinweis auf die Vorgeschichte der Industrialisierung als Geschichte des Kapitalismus hat insofern den Vorteil auf die systemischen Voraussetzungen und Zwänge hinzuweisen, auf denen die technologischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts aufbauen, und so das Anthropozän als Kapitalozän zu entlarven. Dass dies früheren Kritikern gänzlich unbekannt gewesen sei, ist jedoch eine Falschdarstellung, wie Chakrabartys wiederholter Hinweis auf die Rolle des Ka‐ pitals zeigt. Tatsächlich scheint vor allem die Fragestellung eine andere: die nach den technischen Grundlagen der Klimaveränderung oder den gesellschaftlichen. Gleichzeitig hat Chakrabartys Hinweis auf die klimatologischen Grundlagen sesshaften menschlichen Lebens und deren drohendes Ende durch ein Hot Earth-Szenario, welches Klimawissenschaftler_innen entwerfen, den Vorteil den Fokus auf eine existenzielle Bedrohung menschlichen (und anderen) Lebens zu lenken. Diese Bedrohung tritt bei Moores historisierender und wechselnd technokratischer oder mystisch anmutender „web of life“-Beschreibung des Kapitalismus so weit in den Hintergrund, dass die Debatte häufig um zwei unterschiedliche Dinge zu kreisen scheint, was auch Vorwürfe und Missver‐ ständnisse zwischen den Lagern erklären mag. Auf der einen Seite steht die 195 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="196"?> Analyse eines durch die Klimaerwärmung hervorgerufenen Bedrohungsszena‐ rios, auf der anderen Moores historisches und strukturelles Argument über den Kapitalismus als „a way of organizing nature“ (Capitalism 2, Hervorhebung im Orig.). Tatsächlich gleitet Moore häufig in ein primär historisches Argument über die Akkumulationsweise des Kapitalismus ab, in dem über ein Ende der erschließbaren ‚cheap nature‘ eine Krise des Kapitalismus vorhergesagt wird (vgl. etwa „The Rise of Cheap Nature“ 113-4) und hierbei stellenweise die Essenz der Anthropozändebatte verloren geht: das Insistieren auf politische, soziale und/ oder wirtschaftliche Veränderungen, welche die speziesbedrohende Krise einer irreversiblen geo-klimatologischen Veränderung verhindern können. Ent‐ gegen seiner marxistischen Rhetorik und seinen Vorwürfen gegenüber seinen theoretischen Gegenspielern, fällt Moore so stellenweise sogar hinter die Warn‐ rufe und den Fokus des Anthropozänlagers zurück. Es lohnt sich trotzdem zu analysieren, in welchen Punkten das Konzept des Kapitalozän diese doch recht komplexe Sichtweise einer menschen- und - bei Chakrabarty und anderen Sozialwissenschaftler_innen - sogar spezifisch kapitalgemachten Krise hilfreich erweitert. Laut Moore hat der Begriff des Anthropozän zwei Bedeutungsebenen, eine geochronologische, in welcher er ein formell klar umrissenes wissenschaftliches Konzept sieht, das die durch menschliche Aktivitäten verursachten empirisch belegbaren Veränderungen des Planeten in einem so großen Ausmaß beschreibe, dass man von einem neuen geologischen Zeitalter sprechen muss. Dieses erkennt Moore - entgegen einiger Aussagen seiner ebenfalls oft polemisierenden Kritiker_innen - als nützliches Konzept an (vgl. zum Beispiel „Anthropocene and the Capitalocene Alternative“ 72). Laut Moore stehe demgegenüber allerdings ein populäres Verständnis des Anthropozän als von einer abstrakten Menschheit (anthropos) gemachten Klimawandel (vgl. „Anthropocene and the Capitalocene Alternative“ und - größtenteils wortgleich - „Capitalocene Part II“ 1-6). Gegen dieses - zwar in Crutzens einseitigen think piece angelegten, aber in jüngeren Beiträgen größtenteils deutlich komplexer verhandelten - populäre Anthropozän schlägt Moore das Konzept des Kapitalozän als besseren Erklärungsansatz vor. Der Kern von Moores Argument ist es, den Beginn dieses Wandels nicht, wie in der Anthropozän-Debatte angeblich üblich, in die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung der industriellen Revolution und ihrer Verwendung von Kohle zu setzen, sondern bereits ins 16. Jahrhundert, mit dem Beginn des mo‐ dernen Kapitalismus. Ein weiterer Punkt ist die Vermeidung eines angeblichen kartesianischen Dualismus, der Gesellschaft und Natur als gesonderte Entitäten denkt und laut Moore mit einer „double internality“, „capitalism through nature“ und „nature through capitalism“ (Capitalism 1), ersetzt werden solle, welche 196 Johannes Fehrle <?page no="197"?> die Verbindung der beiden beschreibe, allerdings bei Moore häufig an der Grenze zum poststrukturalistischen Obskurantismus schwebt. Dieser Vorschlag steht kurioserweise der Kritik Malm und Hornborgs entgegen, die auf den Wert einer konzeptuellen Trennung von Natur und Gesellschaft bestehen und Wissenschafter_innen des Anthropozän exakt die Vermischung, die Moore ver‐ misst, vorwerfen. Sie weisen - richtigerweise - auf eine zentrale materialistische Erkenntnis hin: „that the physical mixing of nature and society does not warrant the abandonment of their analytical distinction“ (Malm/ Hornborg 62-3). Auch wenn die Erkenntnis, dass es sich beim Anthropozän um ein Produkt des Kapitalismus handelt, zunehmend auch bei Theoretiker_innen des Anth‐ ropozän Anklang findet, scheint mir der Vorteil des Begriffes ‚Kapitalozän‘ darin zu liegen, den Fokus deutlicher auf den Kapitalismus als menschliche Gesellschafts- und Produktionsform zu legen, welche die Klimaerwärmung maßgeblich vorangetrieben hat und dies auch weiter tut. Zudem weist der Begriff Kapitalozän viel klarer als der des Anthropozän darauf hin, dass die Dynamiken, die zur Klimaerwärmung geführt haben, dem Kapitalismus und seinem permanenten Kapitalvermehrungszwang inhärent sind. Sie sind somit dauerhaft nicht ohne permanente und massive staatliche Kontrolle durch einen grünen Kapitalismus zu beseitigen - auch wenn diese Beobachtung im Umkehrschluss allerdings nicht die Notwendigkeit leugnen soll, bestimmte Eindämmungsmaßnahmen des CO2-Ausstoßes sofort, also bereits im Kapita‐ lismus, anzugehen. Auf der anderen Seite wird, wie die Geschichte des soge‐ nannten ‚realexistierenden Sozialismus‘ gezeigt hat, ein Ende des Kapitalismus nicht automatisch ein Ende des Vorantreibens der Klimaerwärmung bedeuten. Dennoch scheint die Überwindung des Kapitalismus ein notwendiger Schritt für eine radikale Änderung der menschlichen Lebensweise in Richtung einer Gesellschaft, die nicht auf lange Sicht ihre eigene Lebensgrundlage vernichtet. Denn der Selbstverwertungszwang des Kapitals, das heißt die Tatsache, dass seine zu Grunde liegende Daseinsberechtigung immer die größtmögliche Ver‐ mehrung von eingesetztem Kapital ist, führt durch den Zwang der permanenten Kostenreduzierung beziehungsweise Profitmaximierung beinahe zwangsläufig zum Raubbau an der (menschlichen und nicht-menschlichen) Natur in einem in früheren Gesellschaftsformen nicht dagewesenen Maße. Die Geschichte der Moderne zeigt, wie dieser Zwang sowohl mit Kosten für die Menschheit (etwa durch die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen in den Kolonien) als auch mit Kosten für die nicht-menschliche Natur einhergeht. In seiner Rekonzeptualisierung des Kapitalismus schließt Moore an Kri‐ tiker_innen der Ökokritik und des Ökofeminismus seit den 1970ern an. Er weist nicht nur auf den essentiellen Teil „unproduktiver“ (das heißt im Marx’‐ 197 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="198"?> 8 Beispiele hierfür finden sich etwa in Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“ (1891): „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum! ) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (15, Hervorhebung im Orig.) In Die Deutsche Ideologie (1846/ 1932) konstatieren Marx und Engels: „Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig. […] Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. […] Alle Ge‐ schichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.“ (18) Entsprechende Passagen finden sich bis ins Kapital (1867-94), wo sie - wenn auch am Rande - die Natur als vorgesellschaftliche und gesellschaftlich überformte Grundlage der Wertschöpfung und Quelle von Gebrauchswerten im Marx’schen Denken erkennen lassen. schen Sinne nicht „wertschöpfender“) beziehungsweise „reproduktiver“ Arbeit am kapitalistischen Reproduktionsprozess hin, sondern begreift zudem den Menschen und seine gesellschaftlichen Beziehungen als untrennbar mit der nicht-menschlichen Natur verwoben. Hiermit ist die Theorie grundsätzlich zum einen anschlussfähig an materialistische Grundüberzeugungen, die bereits bei Marx und Engels angelegt sind; 8 zum anderen, der Rhetorik ideologischer Grabenkämpfe zum Trotz, an den Mainstream der Anthropozän-Debatte, die - selbst in ihrer naturwissenschaftlichen, nicht-politischen Ausprägung - vom Zusammenbruch der Trennung von menschlicher und geo-historischer Perio‐ disierung ausgeht (vgl. Chakrabarty, „Four Theses“ 201-7). Aufbauend auf feministischer Theorie seit den 1970ern (vgl. etwa Knittler/ Birkner; Gonzalez/ Neton), erweitert Moore den Fokus von der bezahlten Arbeit, die bei Marx’ Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses als sogenannte wertschaffende, „produktive Arbeit“ im Zentrum stand, und hebt den Beitrag der „unbezahlten Arbeit“ am Wertschöpfungsprozess hervor. Wie die feminis‐ tische Kritik herausgearbeitet hat, stellt die sogenannte „unproduktive“ Arbeit die zumeist unsichtbare Basis der produktiven Arbeit dar, die ideologisch verschleiert wird, zum Beispiel in der Höherbewertung von traditionell durch Männer verrichteter Lohnarbeit im Vergleich zu traditionell überwiegend von Frauen verrichteter Arbeit im Haushalt, bei der Kindererziehung und so weiter. Was bei Marx bereits angelegt ist, aber nicht im Zentrum stand, wird nun in der feministischen Theorie und auch in der Theorie des Kapitalozän zentral. Bezahlte Lohnarbeit ist nämlich nur ein Teil der Arbeit, die sich das Kapital aneignet. Unbezahlte Arbeit wird ebenfalls im großen Stil angeeignet. Zum 198 Johannes Fehrle <?page no="199"?> einen kann dies etwa durch Sklavenarbeit geschehen, zum anderen kümmerte sich in der traditionellen heteronormativen Mittelklassefamilie des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts die Frau - natürlich ohne Bezahlung - um den Haushalt und sorgte so dafür, dass ihr Mann am Morgen erfrischt wieder auf der Arbeit sein konnte. Zudem lieferte sie in Form der Kinder des Paares neue Arbeiter für die Gesellschaft, und dies alles durch Arbeit, die nicht als Arbeit angesehen wurde, weil sie nicht in dem Sinne ‚produktiv‘ war, dass sie Produkte schaffte, die auf dem Warenmarkt verkauft werden konnten. Wie Feminist_innen immer wieder betonen, wird Reproduktionsarbeit auch jetzt, wo viele Frauen Lohnarbeit verrichten, in Form einer Doppelbelastung nach wie vor überdurchschnittlich von Frauen verrichtet und - wo sie durch Bezahlung an andere übertragen wird - von ‚women of color‘ (vgl. Arruzza et al.). Bei Moore taucht diese von Feminist_innen herausgearbeitete Basis als Teil dessen, was er als „Cheap Nature“ bezeichnet, auf - ein Begriff, der bewusst eine doppelte Dimension enthält: „to make Nature’s elements ‚cheap‘ in price; and also to cheapen, to degrade or to render inferior in an ethico-political sense, the better to make Nature cheap in price“ („Introduction“ 2-3, Hervor‐ hebung im Orig.). Historisch wird diese Arbeit vor allem von Frauen und den Kolonien geliefert; bei Moore wird sie zudem um natürliche Ressourcen erweitert und methodologisch durchaus fragwürdig zu einer Kategorie als „unpaid work / energy“ zusammengefasst („Capitalocene Part II“). Trotz der theoretischen Fallstricke und rhetorischen Strohmannargumente, die Moores Ansatz schwächen (vgl. etwa Nayeri; Angus), ist es eine der Stärken seines Ansatzes, verstärkt auf die grundlegende Rolle einer cheap nature in Form von unbezahlter, appropriierter Arbeit und Energie abzuzielen. Diese Elemente sind insofern kein ‚voller‘ Teil des kapitalistischen Wertschöpfungsprozesses, als dass sie unbezahlt sind (und insofern bei Marx nur als kostenlose Grundlagen am Rande vorkommen, sei dies in der patriarchalen Sphärenteilung, der Erschlie‐ ßung natürlicher Ressourcen oder der Sklavenarbeit, in der der Mensch zu Besitz und somit zu einer Ware wird, über deren Verkauf er, im Gegensatz zu seiner Rolle auf dem Arbeitsmarkt des Kapitalismus, nicht selbst bestimmen kann). Tatsächlich beruht der real existierende Kapitalismus laut Moore zentral auf der Erschließung dieser „billigen Natur“, auch wenn diese oft unsichtbar ist, da sie außerhalb oder an den Rändern des Marktes und des kapitalistischen Pro‐ duktions- und Austauschprozesses stattfindet. Wie Moore schreibt: „Capitalism thrives when islands of commodity production and exchange can appropriate oceans of potentially Cheap Nature - outside the circuit of capital but essential to its operation.“ („Capitalocene Part II“ 6) Diese „Ozeane“ finden sich, wie gesagt, sowohl in den Kolonien mit ihren Ressourcen und Sklaven (vgl. hierzu auch 199 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="200"?> Mignolo), als auch in der unbezahlten Arbeit vor allem von Frauen und der häufig staatlich subventionierten Erschließung quasi kostenloser natürlicher Ressourcen wie Kohle. Moore versteht den Beginn des modernen Kapitalismus und des Zeitalters des Kapitalozän daher nicht nur als die gewaltsame Trennung von Menschen von ihrem Grund und Boden - also der Schaffung von Lohnar‐ beitern im modernen Sinne, „befreit“ von feudalistischen Abhängigkeiten aber auch vom Eigentum an den Produktionsmitteln, die so nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft (vgl. hierzu Marx, Kapital 741-91). Es findet zeitgleich ein weitreichender Prozess der Erschließung einer ‚billigen Natur‘ statt - sei dies in Form von ‚kostenloser‘ Arbeit oder ‚kostenloser‘ Energie wie Öl, Kohle, et cetera. Moore beschreibt dies wie folgt: „The accumulation of abstract social labor is possible only to the degree that unpaid work (human and extra-human) can be appropriated by forces and relations that are not themselves economic.“ („Capitalocene Part II“ 6) Moores Konzept rückt also stärker die Verbindung menschlicher und nicht-menschlicher ‚Ressourcen‘ außerhalb der traditionellen Marktprozesse in den Blick und liefert damit ein Modell, das den Menschen nicht ohne die Natur und umgekehrt auch die Natur nicht ohne den Menschen zu denken versucht, eine Notwendigkeit deren Dringlichkeit spätestens die globalen Veränderungen des Kapitalozän offensichtlich gemacht haben. 4. Kapitalozän und cheap nature in Oryx and Crake Oryx and Crake denkt die Verbindung zwischen der Ausbeutung bezahlter Arbeit und der Aneignung ‚billiger Natur‘ in Form von unbezahlter Arbeit und Energie, welche laut Moore die Moderne kennzeichnen, konsequent weiter. Der Roman zeichnet ein vielschichtiges Bild einer wenige Jahre in der Zukunft angesiedelten Gesellschaft, das ein Gespür für die komplexen Verbindungen zwischen Aspekten der kapitalistischen Weltausbeutung vermittelt. Die bespro‐ chenen Kapitel stehen exemplarisch für die Verwebung der verschiedenen Prozesse dieser Ausbeutung beziehungsweise Aneignung. Auf der einen Seite wird Jimmys Kindheit als Sohn zweier Biotechniker in den USA dargestellt, auf der anderen Oryx’ Kindheit in einem nicht weiter identifizierten ost- oder südostasiatischen Land, in dem ihre Mutter gezwungen ist, sie nach dem Tod des Vaters in die Sklaverei zu verkaufen. Beide Ausschnitte stellen auf unterschiedliche Art und Weise die vom Ka‐ pitalstreben gelenkte Aneignung dessen dar, was bei Moore „Cheap Nature“ heißt. Der ‚Gebrauch‘ von Tieren als - aus finanziellem Anreiz geborene - biologische Ersatzteillager, den der privilegierte Jimmy als Kind beobachtet, steht dabei Oryx’ ‚Verwertung‘ als Sklavin entgegen. Beide laufen insofern 200 Johannes Fehrle <?page no="201"?> parallel, als dass sie letztlich aus der Verwertungslogik des Kapitals entspringen, welche gesellschaftliche Zwänge zur Aneignung ‚billiger (menschlicher und nicht-menschlicher) Natur‘ aufbaut und gleichzeitig ideologisch verschleiert. Diese Zwänge wirken durch die Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft hindurch und oft - um eine Formulierung von Marx zu borgen - „hinter dem Rücken“ (Kapital 59) der Akteure, da durch die kapitalistische Systemlogik jeder permanent in einer Konkurrenzsituation mit allen anderen steht, und individuelle ethische Entscheidungen ein Luxus sind, der im schlimmsten Falle nur zum Wettbewerbsvorteil der Anderen gereicht. Im Wesentlichen gibt es drei Dimensionen, in denen der Roman die Ausbeu‐ tung bezahlter Arbeit und die Erschließung unbezahlter Arbeit beziehungsweise Energie darstellt, welche der Leser zu einer vielschichtigen Systemkritik zusam‐ mensetzen kann. Zum einen erzählt er von Jimmys Unterwerfung unter den Arbeitsmarkt und zeigt - vor allem in den Fortsetzungen - immer wieder Blicke in die Slums voll ‚unverwertbarer‘ Menschen. Jimmy, ein Liebhaber von Literatur mit künstlerischen Ambitionen, wird ‚gezwungen‘, sich in der Werbebranche zu betätigen, da dies der einzige Zweig ist, der Menschen mit einer humanistischen Ausbildung geblieben ist. Wie zu erwarten, ist seine Existenz zunächst prekär und wenig erfüllend, aber dennoch einer Zukunft vorzuziehen, in der er in die Horde im kapitalistischen Reproduktionsprozess nutzlos gewordener, weil unqualifizierter Mitmenschen eingegliedert wird oder sein Glück in einer Arbeit im Servicesektor sucht, wie viele der Charaktere der Trilogie, die als Fastfood-Verkäuferinnen, Tänzerinnen / Prostituierte oder Kosmetikerinnen arbeiten. Nur Crake, der schon in seiner Studienzeit in einem Elitecollege als Genetiker einen viel höheren Marktwert hatte, holt Jimmy schließlich in seinen Konzern und hebt ihn somit in die Reste einer oberen Mittelklasse. Die zweite Dimension der Ausbeutung wird von Oryx personifi‐ ziert, einer Frau, deren wirklichen Namen wir nie erfahren und die durch ihre Kindheit in einem unbestimmten Land außerhalb der Industriestaaten die Ausbeutung des menschlichen Teils der ‚billigen Natur‘ in Form der Versklavung von, häufig weiblichen, Nicht-Lohnarbeitern darstellt. Jimmy glaubt Oryx aus einem Onlinepornofilm zu erkennen, den er als Jugendlicher gesehen hat und in dem Oryx - oder jemand in derselben Position wie Oryx - als Kindersexsklavin missbraucht wurde. Die dritte und letzte Dimension ist der Einfluss der kapita‐ listischen Gesellschaft auf eine abstraktere ‚billige Natur‘ in Form einer sich - auf Grund der übermäßigen Verwendung fossiler Brennstoffe - veränderten Biosphäre, die unter anderem zum Anstieg der Meeresspiegel und dem mas‐ senhaften Aussterben von Tieren führte. Greifbarer wird die Objektifizierung der nicht-menschlichen Umwelt durch genetisch manipulierte Tiere wie die 201 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="202"?> Pigoons, die tierische Ersatzteillager darstellen; oder die Chickienobs, gehirnlose Fleischberge, die das ‚Material‘ für Chicken Nuggets liefern. Beide Arten sind zur Kapitalreproduktion genetisch manipuliert worden und symbolisieren so, in überzeichneter Form, die tagtägliche Aneignung und Eingliederung der (menschlichen und) nicht-menschlichen Natur in den Reproduktionsprozess des Kapitals. Um dies konkret zu analysieren, möchte ich zunächst das fünfte Unterkapitel des Romans, „OrganInc Farms“, untersuchen. Hier wird beschrieben, wie Jimmy als Kind seinen Vater, einen Spezialisten für genetische Veränderungen, bei seinem Arbeitgeber besucht. Zudem gibt das Kapitel einen Einblick in die Klassengesellschaft der von Atwood entworfenen USA der Zukunft. Die Passage nutzt geschickt die naive Perspektive des Kindes Jimmy, um sie mit der kühlen Rationalität des Kapitals zu kontrastieren, die von den ideologisch verblendeten Erwachsenen vertreten wird. In der Annahme, dass ihre Sicht die einzig richtige und vernünftige und Jimmy jetzt ‚alt genug‘ sei, um herauszufinden wie die Dinge ‚wirklich sind‘, wird Jimmy die Logik erklärt, nach der die Pigoons möglichst kosteneffizient gezüchtet und gehalten werden, in Käfigen, die Jimmy zur Überlegung führen: „He was glad he didn’t live in a pen, where he’d have to lie around in poop and pee“ (30). Die Parallelen zu heute verbreiteten Praktiken der Tierhaltung liegen auf der Hand. Auch in den Tierfabriken des realexistierenden Kapitalismus werden Schweine und andere Tiere in möglichst engen Käfigen in ihren eigenen Exkrementen gehalten und sind ständigen Op‐ timierungsprozessen unterworfen, die sie noch größer und schneller wachsen lassen, oder noch resistenter gegen Infektionen machen sollen. All dies passiert natürlich nicht um ihrer selbst willen, sondern zu ihrer größeren ökonomischen Verwertbarkeit. Dabei wird diese Realität von den meisten Konsument_innen genauso durch tägliche Kaufentscheidungen akzeptiert und bestätigt wie die Züchtung der Pigoons von den Angestellten von OrganInc, die durch ihren zynischen Humor in der Kantine oder ihre technokratischen Begründungen einen für die Leser verstörenden Status quo rechtfertigen. Wenn die Tiere so gezüchtet werden, dass ihre Extraorgane mehrfach ‚abgeerntet‘ werden können, wird dies als „less wasteful“ bezeichnet, „as it took a lot of food and care to grow a pigoon“ (26). Der Roman macht hier klar, dass die Tiere gänzlich versachlicht sind. Sie sind dies im doppelten Sinne: im Sinne einer Objektifizierung, die sie als Dinge anstatt als fühlende Wesen erscheinen lässt, und, dem zugrunde liegend, im marxistischen Sinne der Verdinglichung, indem sie nämlich über ihren Tauschwert als Ware im Geflecht menschlicher Beziehungen definiert werden, die im Kapitalismus primär über Warenaustausch funktionieren. Es ist allerdings genauso verkürzt 202 Johannes Fehrle <?page no="203"?> diese Verdinglichung auf individuelle ethische Verfehlungen auf Seiten der Angestellten von OrganInc zu reduzieren, wie die heutige Massentierhaltung der fehlenden ethischen Integrität einzelner Landwirte zur Last zu legen. Statt‐ dessen stellen beide die verdinglichende Logik kapitalistischer Akkumulation und der „Zwangsgesetze der Konkurrenz” (Marx, Kapital 335) dar, die durch die Produzenten wirken, sie zwingen mindestens so schnell und günstig wie ihre Konkurrenten zu produzieren (ob diese nun Bio- oder konventionelle Landwirte sind), da sie sonst vom Markt verdrängt würden. Das Tierwohl, geschweige denn das Lebensrecht nicht-menschlicher Tiere, tritt dabei gänzlich in den Hintergrund. Wie Steven McMullen in seinem Artikel „Is Capitalism to Blame? Animal Lives in the Marketplace“ (2015) darlegt, macht es daher mehr Sinn, die industrielle Landwirtschaft im Zeichen des Kapitalismus zu sehen anstatt als Zeichen individueller ethischer Unzulänglichkeiten. Exakt dies veranschaulicht die durch die Erwachsenen vertretene Logik, die die Pigoons ausschließlich als Ware und Teil einer appropriierten ‚billigen Natur‘ sieht, wie die Erzählstimme klarmacht: „In the OrganInc brochures and promotional materials, glossy and discreetly worded, stress was laid on the efficacy and comparative health benefits of the pigoon procedure“ (27). Demgegenüber steht der kindliche Jimmy, für den die Tiere „creatures much like himself“ darstellen (ebd.). Er findet die Ferkel süß, da er in seinem jungen Alter noch nicht voll in die Marktprozesse integriert ist und damit noch nicht gelernt hat, die Tiere wie sein Vater lediglich als Objekte kapitalistischer Produktionsprozesse oder wegen ihres erhöhten Aggressionspo‐ tentials und ihrer Intelligenz als Gefahren zu sehen. Interessanterweise befasst sich das Kapitel allerdings nicht nur mit der profit‐ orientierten Produktion künstlicher menschlicher Organe in genetisch manipu‐ lierten Schweinen, sondern deutet eine ähnliche Versachlichung in Bezug auf diejenigen an, die in den Pleeblands wohnen. Auch wenn dieser Dimension der gesellschaftlichen Trennung in den anderen Teilen der Oryx and Crake-Trilogie mehr Platz eingeräumt wird, so erkennt man bereits hier einen Mechanismus der Abgrenzung und Unterteilung zwischen „our people“ (32, Hervorhebung im Orig.) und den Bewohnern der inneramerikanischen Slums. Als Teil des „OrganInc“ Un‐ terkapitels ist er deshalb so effektiv, da er in unmittelbarer Nähe zur Ausgrenzung der Pigoons aus der Kategorie der „creatures much like himself [das heißt Jimmy]“ steht. Wenn auch mit etwas mehr Handlungsmacht, so sind die Bewohner der Pleeblands doch ebenso aus der Gesellschaft von Menschen wie Jimmys Vater ausgegrenzt, da sie aus offiziellen kapitalistischen Produktions- und Kon‐ sumptionsprozessen größtenteils ausgeschlossen sind und nur durch ihre eigene Schattenökonomie der Drogen, Gewalt, Fälschungen und Prostitution überleben. Wie wir später erfahren, nutzen die Bewohner der Compounds die Pleeblands 203 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="204"?> teilweise als Naherholungsziel, um sich - von Konzernsöldnern beschützt - mit halblegalen oder gänzlich illegalen Tätigkeiten auf Kosten der Pleeblanders zu amüsieren. Die Pleebs (der ‚Pöbel‘) ihrerseits sind vom privilegierten Leben derer ausgeschlossen, die in ‚Burgen‘ leben und sich als Ritter und Herzoge bezeichnen, wie die Erklärung des Status quo durch Jimmys Vater klar macht: „Long ago, in the days of knights and dragons, the kings and dukes had lived in castles, with high walls and drawbridges and slots on the ramparts so you could pour hot pitch on your enemies […], and the Compounds were the same idea.“ (32) Figuren wie Jimmys Vater verklären also ihre sozio-ökonomischen Vorteile unter Rückgriff auf die Muster von Märchen, die ja bekanntlich moralisch aufgeladen mit binären Denkmustern von Gut und Böse operieren, und somit eine auf sozio-ökonomischer Gewalt beruhende privilegierte Position als auf moralischer Überlegenheit beruhend verschleiern können. „Oryx“ und „Birdcall“, die ersten Unterkapitel des sechsten Hauptkapitels, sind noch interessanter, da sie die Komplexität von Atwoods Verständnis der systemischen Ungerechtigkeit einer globalisierten, kapitalistischen Gesellschaft zeigen. Hier ist Jimmys Perspektive deutlich weniger positiv als im gerade besprochenen Kapitel. Seine Anteilnahme an Oryx’ Lebensgeschichte ist pater‐ nalistisch und eigennützig. Obwohl Oryx nicht über ihre Vergangenheit reden möchte, da sie mit ihr abgeschlossen (oder sie verdrängt) hat, zwingt Jimmy sie, ihm davon zu erzählen, stellt gleichzeitig aber ihre Deutungshoheit in Frage und erhebt sich über ihre Perspektive. Als Oryx beschreibt, wie ihr Vater einen Husten entwickelte und daran starb und die Erklärung der Dorfbewohner als „bad water, bad fate, bad spirits“ (134) wiedergibt, gleichzeitig aber ihr Unwissen über die tatsächliche Ursache konstatiert, vermutet Jimmy den wahren Grund im vermeintlichen Rauchen des Vaters: „Of course they all probably smoked like maniacs when they could get the cigarettes: smoking dulled the edge“ (ebd.). Eine Ergän‐ zung in Klammern - „(He’d congratulated himself on this insight.)“ (ebd.) - distanziert sich von dieser Anmaßung und grenzt sich klar ab von der stereotypen, überheblichen Interpretationshoheit des weißen Mannes. Es bleibt jedoch unklar, ob dies ein Kommentar der Erzählstimme oder eine verspätete Einsicht des als Fokalisationsfigur fungierenden Snowman ist, also des Jimmy der diegetischen Gegenwart. Doch nicht nur Jimmys damalige Affirmation seiner überlegenen Interpretation ist anmaßend. Jimmy verschiebt zudem die systemischen Ursachen der Krankheit - die steigende Wahrscheinlichkeit mit geringem sozio-ökonomischem Status keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung zu haben, die ungleichen Auswirkungen von Umweltverschmutzung, welche die Ärmsten am härtesten trifft, kosmische 204 Johannes Fehrle <?page no="205"?> Ungerechtigkeit, Pech, oder welche Parameter sonst zum „bad fate“ des Vaters geführt haben mögen. Diese Ursachen werden im klassischen Sinne des west‐ lichen Individualismus (insbesondere amerikanischer Prägung) auf schlechte Entscheidungen des Individuums geschoben, das wohl wie ein Verrückter geraucht habe, auch wenn der Arme ja - auf Grund seiner unglücklichen Lebensumstände - nicht anders konnte um sich den Schmerz zu nehmen. Dieser Glaube an die Macht individueller Entscheidungen durchzieht Jimmys Interpretation von Oryx’ Kindheit und steht im Gegensatz zu ihrem distanzier‐ teren und weit differenzierteren Verständnis der Sachzwänge ihrer Heimat. Während Jimmy aus dem Privileg seiner westlichen Position heraus die Dorfbe‐ wohner dafür kritisiert, ihre Kinder zu verkaufen, begreift Oryx weit klarer die materiellen Zwänge, unter denen diese standen und die Alternativlosigkeit ihrer Position, die in der westlichen Mär der Hoheit individueller Entscheidungen zu kurz kommt. Der Roman zelebriert zwar nicht die Entscheidung von Oryx’ Mutter und stimmt auch nicht Oryx’ Zwangsoptimismus zu, wenn auf Seite 141 - wieder von der unlokalisierbaren Erzählstimme, die sich nur in Klammern äußert - angemerkt wird: „Oryx took this double sale [den Verkauf ihrer selbst und ihres Bruders, damit sie nicht alleine sind] as evidence that her mother had loved her. She had no images of this love. She could offer no anecdotes. It was a belief rather than a memory.“ Gleichzeitig verdammt der Roman den Verkauf aber auch nicht mit plattem Moralismus, sondern beschreitet eine ambivalentere und realistischere Position. Diese erkennt die Sachzwänge an, in denen sich die Dorfbewohner befinden, und deutet als wahre Ursache des Verkaufs eine kapitalistische Gesellschaft an, welche an der Peripherie nicht nur Menschen verdinglicht (also auf ihre Position im Warenaustausch reduziert), sondern zudem Schuld am Klimawandel hat, dessen Auswirkungen letztlich hinter den wegbrechenden Lebensgrundlagen der präkapitalistischen Gesellschaft stecken, aus der Oryx stammt. In dieser Passage kommen auch klar die Grenzen einer Freiheit auf, die in einer Klassengesellschaft mit abnehmender sozio-ökonomischer Stellung ebenfalls abnimmt. Wie der Text klar macht, ist die Freiheit, die eigenen Kinder zu verkaufen, keine wirkliche Freiheit, sondern eine ‚Freiheit zu‘ ohne ‚eine Freiheit von‘. Sie ist damit eine durch ein postkoloniales Machtungleichgewicht potenzierte Version der ‚Freiheit‘ des Arbeiters im Kapitalismus: die Freiheit, die eigene Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, die aber stets mit dem Zwang einhergeht, dies auch zu tun, wenn man menschenwürdig leben möchte, wird hier zur ‚Freiheit‘ des Marktteilnehmers entstellt, seine Kinder als Waren in die Sklaverei zu verkaufen, um das Überleben der restlichen Familie zu sichern. Für die Mitglieder von Oryx’ Dorf ist die Scheinfreiheit des kapitalistischen 205 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="206"?> Marktes natürlich potenziert und viel lebensbedrohlicher, denn nicht nur gibt es dort keine Sozialsysteme, sondern die Arbeitskraft der Dorfbewohner ist zudem nutzlos ohne die natürlichen, agrarischen Ressourcen, die der Klimawandel zerstört hat, und ohne eine sonstige Möglichkeit Waren zu produzieren, die über den Markt verkaufbar wären. Sie sind insofern gezwungen, nicht wie in entwickelten kapitalistischen Regionen ihre Arbeitskraft zu verkaufen (denn diese hat keine Käufer), sondern ihre Kinder. Die Scheinfreiheit dieses Aktes fasst der Roman treffend zusammen: „They felt as if this act, done freely by themselves (no one had forced them, no one had threatened them), had not been performed willingly.“ (140) Die fehlende Freiheit von Sachzwängen, durch den Verkauf der eigenen Kinder, des einzigen vermarktbaren Gutes, das man besitzt, das Überleben der restlichen Familie zu sichern, negiert insofern die Freiheit, diese Verkaufsentscheidung zu treffen. Es entsteht so das Bild einer komplexen Situation, in der das einzige, was schlimmer wäre, als die eigenen Kinder zu verkaufen, wäre, die Kinder nicht verkaufen zu können, denn dann würde - wie Oryx pizzaknabbernd bemerkt - die ganze Familie sterben (138). Dementsprechend ist auch das einzige Szenario, das schlimmer ist, als den schmierigen Verkäufer mit seinen Lügen lächelnd willkommen zu heißen, dasjenige, in dem er nicht mehr im Dorf auftaucht, um seine Machtposition zu missbrauchen, und in diesem Missbrauch den Dorfbewohnern trotz alledem auf perverse Weise das Leben zu ermöglichen. Im Moment ihres Verkaufes wird Oryx also als Teil der ‚billigen Natur‘ als Kindersklavin in den Kapitalismus integriert, und niemand sieht dies klarer als sie selbst. Dieser Verkauf und ihre Reduktion auf ihren Tauschwert (der wiederum auf ihrer Fähigkeit als ‚kostenlose‘ Arbeiterin Wert zu produzieren beruht) resultieren zwar in einem Verzicht auf Liebe, einem Zwang zu Tätig‐ keiten bis zur Kinderprostitution, doch ist dies - aus Oryx’ Perspektive - immer noch besser als die Alternative, gar keinen Wert zu besitzen: [L]ove was undependable, it came and then it went, so it was good to have money value, because then at least those who wanted to make a profit from you would make sure you were fed enough and not damaged too much. Also there were many who had neither love nor money value, and having one of these things was better than having nothing. (147) Mit anderen Worten: Die vollständige Verdinglichung sichert zumindest das Überleben. 206 Johannes Fehrle <?page no="207"?> 5. Atwoods ‚kapitalistischer Realismus‘ Trotz der scharfsichtigen Art, mit welcher der Roman die in den Debatten des Kapitalozän beziehungsweise Anthropozän theoretisch ergründeten Zu‐ sammenhänge zwischen kapitalistischer Ausbeutung und Aneignung ‚billiger Natur‘ und den katastrophalen Auswirkungen auf das menschliche und nicht-menschliche Leben auf unserem Planeten narrativ auffächert, bewegt sich seine ‚Lösung‘ für das Kapital-gemachte Problem der Klimaerwärmung, der Ausbeutung und Vernichtung menschlichen und nicht-menschlichen Lebens, letztlich innerhalb üblicher post-apokalyptischer Parameter. Crakes Entschei‐ dung, das menschliche Leben auf der Erde (und damit den Kapitalismus) auszurotten, um dem verbleibenden nicht-menschlichen Leben eine Chance zu geben, drückt eine Position aus, die Mark Fisher als ‚capitalist realism‘ bezeichnet hat, die Akzeptanz, dass das Ende der Menschheit wahrscheinlicher sei als ein Ende des Kapitalismus. Diese findet sich bei Fredric Jameson, Slavoj Žižek (vgl. 334) und Fisher selbst (vgl. 2) in ähnlichen Worten mit unklarer Quelle (zum Ursprung des bon mots vgl. Beaumont 79-80 und, früher, Qlipoth). In Jamesons Worten (auf dessen lückenhaftes Gedächtnis das Zitat wohl ursprünglich zurückgeht) liest sich die Position wie folgt: „Someone once said that it is easier to imagine the end of the world than the end of capitalism. We can now revise that and witness the attempt to imagine capitalism by way of imagining the end of the world.“ Neben dem Aspekt der narzisstischen Allmachtsfantasie Crakes, der die postapokalyptische Welt mit seinen ‚verbesserten‘ und nach ihm benannten Menschen bevölkert, stellen diese Wesen, die laut ihrem Chefdesigner weder Religion noch Libido kennen, sich vegan ernähren und aggressionsgehemmt in Stammesgemeinschaften leben, eine Art dystopische Utopie dar. Allerdings entsteht diese Utopie erst nach einer dystopischen Zukunft, die in einem globalen Genozid (oder Humanozid) endet - und ist, wie insbesondere der Abschluss der Trilogie MaddAddam zeigt, klar gebrochen. Nicht nur ist Crakes Humanozid unvollständig, die Craker weisen - in Oryx and Crake bereits angedeutet und in den anderen Romanen der Trilogie weiter ausgeführt - zum Beispiel sehr wohl eine starke Tendenz zu religiösem Denken auf. Diese ist zunächst in ihrer Verehrung von Crake und Oryx (und in MaddAddam von Zebb und Toby) erkennbar und gipfelt in Oryx and Crake in einer Art ‚Beschwörung‘ von Snowman. Zudem wird die Menschheit, wie das Ende von MaddAddam andeutet, wenn auch nur in der Form einer Mischung aus Menschen und Crakers, überleben. 207 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="208"?> Nicht nur durch diese Brechungen fallen auch Atwoods Romane in den ständig wachsenden Kanon dystopischer Erzählungen, seien dies Filme oder Romane, die - trotz ihrer Brillanz und ihres kritischen Potentials - den Refrain des kapitalistischen Realismus wiederholen, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Die Auslöschung eines Großteils der Menschheit durch Crake kommt scheinbar lediglich der langsameren und qualvolleren kapitalozänen Auslöschung zuvor. Aus der post-humanen Sicht des Zynikers Crake birgt sie insofern ein gewisses utopisches Potential als seine Taten zumindest den Raum für das Fortbestehen einer menschenähnlichen Art schaffen. Für (nicht biotechnologisch versierte und nicht soziopathische) Leser drängt sich dennoch die von Fisher in seinem Untertitel formulierte Frage auf: „Is there no Alterna‐ tive? “ Oder - optimistischer formuliert: What is the Alternative and how do we get there from here? Dass Atwoods Dystopie aufzeigt, dass diese Lösung nicht in den Heilsversprechungen der kapitalistischen Biotechnologie liegt, ist, neben der narrativ packenden Darstellung der komplexen sozio-ökonomischen Verstrickung des globalen Kapitalismus, ihr höchster Verdienst. Bibliographie Primärliteratur: Atwood, Margaret. MaddAddam. Virago Press, 2014. —. The Year of the Flood. Anchor Books, 2010. —. Oryx and Crake. Virago Press, 2004. Sekundärliteratur: Angus, Ian. „Knocking Down Straw Figures.“ International Socialist Review, 103 (Winter 2016-2017), https: / / isreview.org/ issue/ 103/ knocking-down-straw-figures. Aufgerufen 15 Aug. 2019. Arruzza, Cinzia et al. Feminism for the 99%: A Manifesto. Verso, 2019. Beaumont, Matthew. „Imagining the End Times: Ideology, the Contemporary Disaster Movie, Contagion.“ Žižek and Media Studies: A Reader, herausgegeben von Matthew Flisfeder und Louis-Paul Willis, Palgrave Macmillan, 2014. S. 79-89. Bullard, Robert D. Dumping in Dixie: Race, Class, and Environmental Quality. 3. Aufl., Westview, 2000. Chakrabarty, Dipesh. „The Climate of History: Four Theses.“ Critical Inquiry, 35.2 (2009). S. 197-222. —. „Ep. #19 - Dipesh Chakrabarty.“ Cultures of Energy Podcast, 10 Juni 2016, http: / / cultu resofenergy.com/ ep-19-dipesh-chakrabarty/ . Aufgerufen 5 Aug. 2019. Crutzen, Paul J. „Geology of Mankind.“ Nature, 415.6867 (2002). S. 23. 208 Johannes Fehrle <?page no="209"?> Faludi, Susan. Backlash: The Undeclared War against Women. Vintage, 1992. Fisher, Mark. Capitalist Realism: Is there no Alternative? Zero Books, 2009. Gonzalez, Maya und Jeanna Neton. „The Logic of Gender: On the Separation of Spheres and the Process of Abjection.“ Contemporary Marxist Theory: A Reader, herausgegeben von Adrew Pendakis et al., Bloomsbury, 2014. S. 149-74. Jameson, Fredric. „Future City.“ New Left Review, 21 (2003), https: / / newleftreview.org/ is sues/ II21/ articles/ fredric-jameson-future-city. Aufgerufen 20 Aug. 2019. Knittler, Käthe und Martin Birkner. „Frau am Herd & Arbeitswert: Zur Geschichte und möglichen Zukunft feministischer Auseinandersetzung mit der marxschen Kritik der politischen Ökonomie.“ Das Kapital neu lesen: Beiträge zur radikalen Philosophie, herausgegeben von Jan Hoff et al., Westfälisches Dampfboot, 2006. S. 324-50. Malm, Andreas. Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming. Verso, 2016. Malm, Andreas und Alf Hornborg. „The Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative.“ The Anthropocene Review, 1.1 (2014). S. 62-9. Marx, Karl. Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. MEW 23, Dietz Verlag, 1973. —. „Kritik des Gothaer Programms.“ MEW 19, Dietz Verlag, 1962. S. 13-32. Marx, Karl und Friedrich Engels. Die Deutsche Ideologie: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. MEW 3, Dietz Verlag, 1969. S. 5-530. McMullen, Steve. „Is Capitalism to Blame? Animal Lives in the Marketplace.“ Journal of Animal Ethics, 5.2 (2015). S. 126-34. Mignolo, Walter D. „Kolonialität: Die dunkle Seite der Moderne.“ [2009] Lateinamerika‐ nische Kulturtheorien: Grundlagentexte, herausgegeben von Isabel Exner und Gudrun Rath, Konstanz UP, 2015. S. 367-86. Moore, Jason W. „The Capitalocene Part II: Accumulation by Appropriation and the Centrality of Unpaid Work/ Energy.“ The Journal of Peasant Studies, 45.2 (2018). S. 1-43. —. „Anthropocene & the Capitalocene Alternative.“ Azimuth, 9.1 (2017). S. 71-9. —. „The Capitalocene Part I: On the Nature and Origins of Our Ecological Crisis.“ The Journal of Peasant Studies, 44.3 (2017). S. 594-630. —. „Introduction: Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism.“ Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, herausgegeben von demselben, PM Press, 2016. S. 1-11. —. „The Rise of Cheap Nature.“ Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, herausgegeben von demselben, PM Press, 2016. S. 78-115. —. Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital. Verso, 2015. Moore, Jason W., Herausgeber. Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism. PM Press, 2016. 209 Anthropozän, Kapitalozän und Apokalypse in Atwoods Oryx and Crake (2003) <?page no="210"?> Nayeri, Kamran. „‚Capitalism in the Web of Life‘ - A Critique.“ Climate & Capitalism, 19 Juli 2016, https: / / climateandcapitalism.com/ 2016/ 07/ 19/ capitalism-in-the-web-of-l ife-a-critique/ . Aufgerufen 20 Aug. 2019. Qlipoth. „Easier to Imagine the End of the World…“ Qlipoth, 11 Nov. 2009, http: / / qlipoth.b logspot.com/ 2009/ 11/ easier-to-imagine-end-of-world.html. Aufgerufen 20 Aug. 2019. Steffen, Will et al. „Trajectories of the Earth System in the Anthropocene.“ Publications of the National Association of Science, 115.33 (2018). S. 8252-9. Žižek, Slavoj. Living in the End Times. Verso, 2011. 210 Johannes Fehrle <?page no="211"?> „Another World Is Possible“: Arundhati Roys anti-kapitalistische Vision in The Ministry of Utmost Happiness (2017) Lisa Schwander 1. ‚Globalized development‘ und Roys Suche nach Alternativen In zahlreichen politischen Essays und journalistischen Beiträgen ist Arundhati Roy als Kritikerin eines politischen Dogmas aufgetreten, das eine ‚Entwicklung‘ Indiens durch einen Kurs der Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung herbeizuführen sucht. Die frühen 1990er Jahre markierten den Anfang einer folgenreichen Neuausrichtung der indischen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinne dieser Lehre: Hatte die Politik in den vier Jahrzehnten nach der Unabhän‐ gigkeit Indiens überwiegend unter den Zeichen zentralisierter Planung und staatlicher Kontrolle über den Markt sowie den sozialen Sektor gestanden und die indische Wirtschaft möglichst von Einflussnahme von außen abzuschotten versucht (vgl. Chakrabarti et al. 169-70), so wurden diese Maßnahmen in der Folgezeit weitgehend in ihr Gegenteil verkehrt. Eine Serie von Reformen verband Indien fest mit globalen Wirtschaftsstrukturen und initiierte eine Politik, die Anjan Chakrabarti, Anup Kumar Dhar und Byasdeb Dasgupta als das „post-planning policy paradigm of India” (142) zusammenfassen. In der Tat standen die Reformen am Beginn einer Phase enormen Wachstums und wurden überwiegend enthusiastisch begrüßt. Roy steht dem auf Wachstum ausgerichteten Kurs jedoch kritisch gegenüber; kontinuierlich hebt sie die sozialen und ökologischen Kosten - Roy spricht von „‚ecocide‘“ (Listening to Grasshoppers xv) - hervor, die unter Verweis auf Indiens ‚Entwicklung‘ billigend in Kauf genommen werden. Unter den Bedingungen eines von Korruption und Einflussnahme geprägten politischen Systems werde eine Politik verfolgt, die die Natur sowie den Großteil der Bevölkerung dem Wohlstand einiger Privilegierter opfere. In Capitalism: A Ghost Story (2014) beschreibt Roy etwa: In India the 300 millions of us who belong to the new, post-International Monetary Fund (IMF) ‚reforms‘ middle class […] live side by side with spirits of the netherworld, <?page no="212"?> 1 Die große Zahl der Enteigneten sowie der den Freitod wählenden Bauern, auf die die Passage verweist, führt Roy als besonders eindrückliche Beispiele für die Folgen der Globalisierungspolitik an. In Capitalism: A Ghost Story beschreibt sie etwa detail‐ liert, wie ganze Bevölkerungsgruppen unter Aussetzung jeglicher Menschenrechte mit unglaublicher Brutalität zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen werden, um den Großprojekten sich neu ansiedelnder Megakorporationen Platz zu machen (vgl. 12-3). Auch das viel diskutierte Problem der ‚farmer suicides‘ wird in einer prominent durch Vandana Shiva vertretenen Lesart auf die Bedingungen der Globalisierung zurückgeführt, insbesondere auf die einflussreiche Position globaler Konzerne wie der inzwischen von Bayer aufgekauften US-Firma Monsanto in Indien, die, nach dieser Sicht, den Bauern die Bedingungen des Anbaus diktieren und sie durch kostspielige Prozeduren oftmals in den Ruin treiben. the poltergeists of dead rivers, dry wells, bald mountains, and denuded forests; the ghosts of 250,000 debt-ridden farmers who have killed themselves, and of the 800 million who have been impoverished and dispossessed to make way for us. (8) Die kahlen, gerodeten Berge und die ausgetrockneten Flüsse werden hier ebenso zur Anklage an der vorherrschenden Politik wie die menschlichen Opfer der ‚Entwicklung‘, 1 die Roy immer wieder in den Fokus ihrer Überlegungen stellt. Nicht nur die Politik selbst zieht also Roys Kritik auf sich, sondern insbeson‐ dere auch ihre rhetorische Begrüßung als ‚Entwicklung‘. Sie stellt fest: „[W]ords like ‚Progress‘ and ‚Development‘ have become interchangeable with economic ‚Reforms‘, Deregulation and Privatization“ (Listening to Grasshoppers xiii). Damit klagt sie eine semantische Verschiebung an, die von einer fatalen Einen‐ gung der Zukunftsperspektiven zeugt: Gleichgesetzt mit dem im dominanten Sprachgebrauch emphatisch positiv besetzten Begriffspaar von Entwicklung und Fortschritt, wird die eingeschlagene politische Richtung zum singulären Weg ‚nach vorne‘. Roys Stellungnahmen weisen deutliche Parallelen auf zu der Argumentation, die Aseem Shrivastava und Ashish Kothari in Churning the Earth (2012) entwickeln. Genau wie Roy kontrastieren sie den ‚Fortschritt‘, den ein neu erlangter Wohlstand angeblich bezeuge, mit dem Schicksal derjenigen, zu deren Lasten diese Entwicklung geht: Has India ever had it so good? It is today perceived as one of the centres of the world. It is one of the fastest-growing economies. There are real hopes all around that one day we will finally overcome the defeatist legacies of centuries of feudalism and foreign rule and become a fully industrialized, developed country that can hold its head high in the family of world nations, if not also turn into a formidable superpower. The promise of globalization is immense. […] This book, however, is written to throw light on the fate of people and communities who are being left behind or being abandoned 212 Lisa Schwander <?page no="213"?> 2 Sie stellen dabei klar, dass ihr Anspruch nicht etwa sei, einen „comprehensive blueprint“ (255) für eine alternative Gesellschaft zu liefern, sondern sie stattdessen dem Globali‐ sierungs- und Wachstumskurs entgegengesetzte Tendenzen aufzeigen wollen. 3 Im Folgenden werden alle Belege für The Minstry of Utmost Happiness lediglich unter Verweis auf die Seitenzahlen angeführt. 4 So steht das erstmals 2001 im brasilianischen Porto Alegre abgehaltenen Weltsozial‐ forum, eine Plattform für Kritiker der neoliberalen Globalisierung, explizit unter dem Motto „Another World Is Possible“. in India’s pursuit of prosperity through globalized development. (Shrivastava/ Kothari xvi) Auch Shrivastava und Kothari kritisieren also ein an den globalisierten Kapi‐ talismus und an Wachstumsversprechungen geknüpftes Fortschrittsnarrativ, das sie, unter dem Begriff des „globalized development“ zusammengefasst, hier mit deutlicher Ironie wiedergeben. Im zweiten Teil ihrer Arbeit nehmen sie ihre Kritik zum Anlass, über Möglichkeiten eines ‚alternativen Indiens‘ nachzudenken, 2 das sich an den zwei Prinzipien der „ecological sustainability“ (260, Hervorhebung im Orig.) und der „human equity“ (ebd., Hervorhebung im Orig.) ausrichtet. Dabei rücken sie insbesondere innerhalb der indischen Bevölkerung bereits existierende Ansätze in den Blick; sie weisen hin auf „initiatives […] which are already pointing to alternative visions of relating to nature and each other“ (256). Ihr Denken zeichnet sich somit durch eine Verbindung von Kritik an der offiziellen politischen Linie und Überlegungen zu alternativen Wegen aus, die, wie zu zeigen sein wird, auch Roys The Ministry of Utmost Happiness charakterisiert. Wie schon Roys Essays, so wendet sich auch dieser 2017 erschienene Roman immer wieder denjenigen zu, die durch einen auf den globalen Kapitalismus ausgerichteten, neoliberalen Kurs ‚abgehängt‘ wurden. Eine in den Roman ein‐ gebettete sarkastische Darbietung der ihren eigenen Gewinn rechtfertigenden Wirtschaftsexperten - „Experts aired their expert opinions for a fee: Somebody has to pay the price for Progress, they said expertly“ (The Minstry of Utmost Happiness 99, Hervorhebung im Orig.) 3 - wird zugleich zur Aussage, aus der der Roman eine Agenda der kritischen Aufklärung ableitet. Diesen ‚Preis‘ in seinem ganzen Ausmaß darzustellen ist ein zentrales Thema des Romans. Von ihrem Land vertriebene Menschen, die einer kapitalistischen Ausbeutung schutzlos ausgeliefert sind, sind ebenso allgegenwärtig in der erzählten Welt wie industrielle Verschmutzungen. Als an einer zentralen Stelle des Textes ein Fernsehteam Passanten dazu aufruft, die Möglichkeit einer ‚anderen Welt‘ in ihrer jeweiligen Muttersprache zu bekräftigen (110), lässt der Roman diesen - insbesondere aus Globalisierungsdebatten - wohlbekannten Slogan 4 als Kom‐ 213 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="214"?> mentar mit durchaus metafiktionaler Dimension erkennen, der ein für The Ministry of Utmost Happiness zentrales Unterfangen auf den Punkt bringt: die Suche nach Visionen für eine alternative Gesellschaft. Kontinuierlich präsentiert der Roman einen zu verändernden Zustand Seite an Seite mit seinen Überlegungen zu alternativen Lebens- und Gesellschaftsent‐ würfen. Einerseits ist Roys triste Gesellschaftsdiagnose nicht zu übersehen: Der wirtschafts- und sozialpolitische Kurs ist neben dem aufsteigenden Hindu-Na‐ tionalismus, der insbesondere durch den seit 2014 amtierenden Premierminister Indiens Narendra Modi immer mehr zu Leitlinie der Politik wird, dem Kasch‐ mirkonflikt oder der ungebrochenen Wirkmacht des Kastenwesens nur eines von vielen Problemfeldern des gegenwärtigen Indiens, die der Roman ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Andererseits, so wurde verschiedentlich bemerkt, beschränkt sich The Ministry of Utmost Happiness keinesfalls auf diese tristen ‚Realitäten‘: Parul Sehgal beschreibt den Roman etwa als „a compendium of alternatives - alternative structures of kinship, resistance, and romance“. Ähnlich haben Lisa Lau und Ana Cristina Mendes darauf aufmerksam gemacht, dass der Roman neben seiner verheerenden Diagnose zum Zeichen der Hoffnung wird, indem er immer wieder in romantisierten Passagen Lebens- und Gemeinschaftsentwürfe darstellt, die dem Kritisierten explizit entgegenstehen. Sie argumentieren: „the trope of romance in Roy’s writing constitutes a form of rescue of societal and political woes, the lotus in the mud […], the hope when there is no rational reason to hope“ (6). Im Kontext dieses zweigleisigen Ansatzes, der einerseits gesellschaftliche Missstände rücksichtslos aufdeckt und andererseits Überlegungen zu deren Überwindung anstellt, findet auch die Auseinandersetzung des Romans mit Indiens wachstums- und globalisierungs‐ orientierter Ausrichtung statt, die im Zentrum dieses Beitrags steht. Die von Sehgal beschriebenen ‚alternative structures‘ schließen deutlich erkennbar auch einen anti-kapitalistischen Entwurf mit ein. Dass der Roman auf der Möglichkeit einer ‚anderen Welt‘, oder zumindest eines anderen Indiens, besteht, das kapitalistischen Praktiken etwas entge‐ genzusetzen vermag, ist besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund der von Mark Fisher aufgestellten Diagnose, nach der die Gegenwart ganz unter dem Zeichen des ‚capitalist realism‘ stehe. In seiner viel zitierten Definition beschreibt er capitalist realism als „the widespread sense that not only is capitalism the only viable political and economic system, but also that it is now impossible even to imagine a coherent alternative to it“ (2, Hervorhebung im Orig.). Der Kapitalismus sei also zur einzig denkbaren Formation geworden. Fisher zufolge agiert der Kapitalismus „as a kind of invisible barrier constraining thought and action“ (16); er bestimmt also die Grenzen des Vorstellbaren und 214 Lisa Schwander <?page no="215"?> des Handelns gleichermaßen. Es mag zu weit gehen, in Roys Roman eine ‚kohärente Alternative‘ zum Kapitalismus entwickelt zu sehen. Dennoch endet das Vorstellbare in The Ministry of Utmost Happiness eben gerade nicht an den durch den Kapitalismus abgesteckten Grenzen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, arbeitet sich Roy an einer anderen Problemstellung ab als Fisher: Ihr Roman beklagt nicht den Mangel an Alternativen - ganz im Gegenteil weist er entschieden auf die Existenz von Gegenentwürfen hin -, sondern deren systematische Marginalisierung und die daraus folgende Ausblendung als reale Optionen für eine Zukunftsgestaltung. Dem entgegenwirkend setzt Roy in The Ministry of Utmost Happiness literarische Darstellungsweisen gezielt dazu ein, ein konsequentes Übersehen vorhandener Konzepte und Lebenspraktiken, die dem Kapitalismus entgegenstehen, zu kritisieren und diese stattdessen ins Zentrum ihrer politischen Vision zu stellen. 2. Realitätsbezug und Fiktion: Roys Spiel mit Form The Ministry of Utmost Happiness ist Roys zweiter Roman, erschienen genau 20 Jahre nach ihrem mit dem Bookerpreis ausgezeichneten literarischen Debut The God of Small Things (1997). In einem episodenhaften, sich einer linearen Abfolge sperrenden Erzählformat schildert The Ministry of Utmost Happiness die Schicksale verschiedener Protagonist_innen, die vor allem durch zwei Figuren verbunden sind. Eine davon ist die als Hermaphrodit geborene Anjum. Als Sohn ihrer Eltern aufgewachsen, lässt sie ihre bisherige Identität sowie ihre Familie im Jugendalter hinter sich und schließt sich einer Gruppe von Hijras an, die als ‚drittes Geschlecht‘ an den Rändern der indischen Gesellschaft angesiedelt sind. In ihrer Rolle als Hijra wird sie in den westlichen Medien zur Berühmtheit, bis sie, nach einer Operation nunmehr mit dem Körper einer Frau ausgestattet, sich schließlich von der Gemeinschaft der Hijras zurückzieht und einen Friedhof als ihre neue Wohnstätte wählt. Zunächst nur widerwillig geduldet, wird sie dort bald zur Institution: Sie gründet ein ‚Gästehaus‘, das zum Sammelplatz für all diejenigen wird, die durch das Raster der Gesellschaft fallen, und Raum für alternative Lebensentwürfe bietet. Der zweite große Erzählstrang zentriert sich um die nicht minder exzentrische Tilo und die verschiedenen Männer, die sie lieben. Tilo, die ihren Geliebten Musa in Kaschmir verliert, sucht schließlich Zuflucht auf Anjums Friedhof, nachdem sie ein in Delhi ausgesetztes Baby aufgenommen hat und daraufhin als Entführerin gesucht wird. Stellen diese, in groben Zügen wiedergegeben, die zentralen Handlungslinien des Romans dar, so sind darin immer wieder Momente verflochten, in denen eine unverhohlene Anklage der politischen und sozialen Verhältnisse im gegenwärtigen Indien 215 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="216"?> 5 Filippo Menozzi argumentiert in seiner Analyse des Romans ebenfalls dafür, den scheinbaren Gegensatz zwischen Realitätsbezug und Fiktion, auf den der Text immer wieder verweist, als Form der politischen Kritik zu lesen. Da sich seine Analyse in einigen Punkten mit der hier vorliegenden überschneidet, wird im Folgenden immer wieder auf ihn verwiesen (für eine etwas ausführliche Diskussion s. Kapitel 3). deutlich in den Vordergrund tritt und das fiktionale Narrativ beinahe in ein politisches Essay überzugehen scheint. Hatte sich Roy nach dem enormen Erfolg ihres ersten Romans zunächst aus‐ schließlich auf nicht-fiktionales Schreiben verlegt, haben Fans dieses Romans Roys Rückkehr zur Fiktion dringlich herbeigesehnt. Einige zeigten sich jedoch enttäuscht von The Ministry of Utmost Happiness; zu sehr sahen sie sich in Stil und Inhalt an Roys journalistische, kommentierende Politikbeobachtungen erinnert. Ein Rezensent beschwerte sich etwa: „Reading The Ministry of Utmost Happiness is actually like reading a collection of political and social essays in a form of an [sic! ] novel. And that, at least for me, is the problem with the book.“ (Iwanek) Ein solches Urteil zeigt aber nicht nur eine mangelnde Bereitschaft, sich auf die experimentelle Form des Textes einzulassen, sondern ignoriert darüber hinaus eine gänzlich andere Ebene des Romans. Passagen, die stark an den Ton von Roys Essays erinnern, wird ein dezidierter ‚story-telling‘ Gestus ent‐ gegengesetzt: Lau und Mendes heben zurecht die „touches of surrealism and the fantastic“ (6) des Romans hervor. Die scheinbare Unentschlossenheit zwischen ‚essayistischem‘ und ‚fiktionalem‘ Schreiben ist kein Zeichen von Roys Unver‐ mögen, sich von dem Ton ihrer Essays zu verabschieden, sondern vielmehr als zentrales Stilmittel des Romans zu werten. Roys literarische Darstellung macht immer wieder ironisch auf einen Diskurs aufmerksam, in dem das ‚Reale‘ auf den Kapitalismus beschränkt und die Existenz nicht-kapitalistischer Alternativen schlichtweg ausgeblendet wird. Dafür konstruiert sie spielerisch einen angeblichen Gegensatz zwischen einer ‚realitätsbezogenen‘ Schreibweise, die ein kapitalistisches Indien abbildet, und einem fabulierenden Modus, der einen anti-kapitalistischen Gegenentwurf als angeblich phantastisches Szenario beschreibt. 5 Die beobachteten Übereinstimmungen mit ihrem essayistischen Stil sind Teil dieses strategischen Spiels mit literarischer Form. Von Anfang an setzt Roy also scheinbar zwei literarische Modi zueinander in Konkurrenz, die sich durch ein phantastisches Erzählen einerseits und ein betont realistisches Schreiben mit sozialkritischem Impetus andererseits unterscheiden. Indem sich Roy jedoch beide Darstellungsweisen unverkennbar überzogen zu eigen macht und sie gleichzeitig immer wieder unterminiert, macht sie sich sichtbar über das Spannungsverhältnis lustig, das ihr Text angeblich konstruiert. Die Schilderung der Geburt Anjums ist ein Beispiel 216 Lisa Schwander <?page no="217"?> hierfür: „She was the fourth of five children, born on a cold January night, by lamplight (power cut), in Shahjahanabad, the walled city of Delhi.“ (7) Zunächst scheint die Geburt unter schlechten Lichtbedingungen in einer kalten Januarnacht in eine kinderreiche Familie geradezu klischeehaft in eine sozial‐ romantische, beinahe märchenhafte Geschichte einzuleiten. Diese Geste wird aber zugleich unterminiert durch einige Faktoren. Bei genauerem Hinsehen irritiert, dass die Geburt nicht etwa bei Kerzenschein, sondern bei weit weniger romantisch anmutendem ‚Lampenlicht‘ stattfindet. Darüber hinaus stört die in Klammern hinzugefügte Information des Stromausfalls die gerade aufgebaute Stimmung empfindlich. Erstens erweckt diese im Roman häufig verwendete Technik, zusätzliche Informationen in Klammern bereitzustellen, den Eindruck der sachlichen Gründlichkeit eines journalistischen Reports und unterbricht damit den Geschichtenmodus. Zweitens nimmt der inhaltliche Zusatz - die Information des Stromausfalls - auch den letzten Rest an märchenhafter At‐ mosphäre, indem er die Geburt Anjums, entgegen der zunächst erweckten Erwartungshaltung, in der industrialisierten Welt unseres Alltags verortet. Der Roman antizipiert hier schon ein später deutlicher akzentuiertes Schwanken zwischen zwei scheinbar konkurrierenden Schreibmodi von Fabulieren und sozialkritischer Dokumentation, wobei zugleich eine unübersehbar ironische Dimension in Roys Umgang mit beiden zu Tage tritt. Diese ironisch gebrochene Aneignung zweier Modi, die angeblich auf die entgegensetzten Sphären der Realität und der Fiktion verweisen, baut Roy in der Folge weiter aus. Immer wieder macht der Roman mit deutlichen Gesten auf einen Modus des Fabulierens aufmerksam. Indem die textuellen Hinweise auf die Fiktionalität des Dargestellten jedoch wiederholt durch gezielt eingewobene Unstimmigkeiten unterlaufen werden, wird die Zuordnung des Erzählten zu einem rein phantastischen, nicht-realen Bereich in Frage gestellt (vgl. dazu auch Menozzi). So präsentiert Roy etwa einen Ritt zweier Figuren durch Delhi auf eine Weise, die das Trio aus Reitern und Pferd deutlich dem Bereich der Fiktion zuordnet: A horse’s hooves echoed on an empty street. Payal the thin day-mare clop-clipped through a part of the city she oughtn’t to be in. On her back, astride a red cloth saddle edged with gold tassels, two riders: Saddam Hussain and Ishrat-the Beautiful. In a part of the city they oughtn’t to be in. (135) Die Gestalt der Reiter auf ihrem herrschaftlich roten, mit Goldquasten ge‐ schmückten Sattel, denen die Stute als archaisches Transportmittel dient, gibt inmitten der Großstadt ein absurdes Bild ab. Anstatt sich darum zu bemühen, den Eindruck von ‚realistischen‘ Figuren zu erwecken, konstruiert Roy sie 217 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="218"?> 6 Menozzi geht sogar so weit, die „contradiction between fiction and history“ (23) als zentrales Strukturelement zu beschreiben, das die Zeichnung aller Figuren des Textes bestimmt. gezielt als eine Art Märchenfiguren; ein Eindruck, der durch den Namen Ishrat-the-Beautiful noch verstärkt wird. Roy kennzeichnet ihr Trio damit als Angehörige einer fiktionalen Welt, deren Gegensatz zur ‚realen‘ Welt der Roman in Szene setzt. Allerdings geht das Bild nicht ganz auf: Mit der dürren Stute, die so gar nicht zur ihrem herrschaftlichen Aufzug passt, wird die märchenhafte Erscheinung des Trios deutlich ironisiert, und der Name Saddam Hussain, den sich einer der Protagonisten gegeben hat, ohne über die Politik seines Vorbildes informiert zu sein, stellt einen deutlichen Bezug zur ‚realen Welt‘ dar, der dem selbst-referentiell fiktionalen Darstellungsmodus widerspricht. 6 Noch deutlicher wird der Roman an anderer Stelle, an der er seine Figuren in einer Charakterisierung durch Anjum explizit als ‚nicht-real‘ erklären lässt. Anjum selbst beschreibt sich und die anderen auf dem Friedhof ansässigen Protagonist_innen: ‚Once you have fallen off the edge like all of us have, including our Biroo,‘ Anjum said, ‚you will never stop falling. And as you fall you will hold on to other falling people. The sooner you understand that the better. This place where we live, where we have made our home, is the place of falling people. Here there is no haqeeqat. Arre, even we aren’t real. We don’t really exist.‘ (84, Hervorhebung im Orig.) Die auf dem Friedhof Versammelten, verbunden durch ihre gemeinsame Lage als Außenseiter der Gesellschaft, befänden sich außerhalb aller ‚haqeeqat‘, aller Realität; sie selbst existierten gar nicht. Wie Filippo Menozzi anmerkt, stellt der Roman aber auch diese Behauptung in Frage: „This claim to non-reality is, however, in sheer contrast with the characters’ participation in real political events and even in Anjum’s exchange with a really existing political leader.“ (30) Die Hinweise auf den rein phantastischen Status der gezeigten Passagen werden also immer wieder durch den Text selbst unterlaufen. Anstatt sich selbst der Sicht zu verschreiben, eine bestimmte Dimension seines Narrativs sei weniger ‚real‘ als eine andere - und wie später zu zeigen sein wird, überschneidet sich dieser angeblich phantastische Bereich genau mit der anti-kapitalistischen Vision des Textes - scheint der Roman eine solche Sichtweise vielmehr spöttisch vorzuführen. Während die beschriebenen Passagen also ihr Geschehen und ihre Figuren in einer scheinbar nicht-realen Sphäre verorten, inszeniert Roy an anderer Stelle förmlich das Übergreifen eines sozialkritisch-dokumentierenden Modus über ihr phantastisches Geschichtenerzählen. Dieser erlaubt ihr eine eindrückliche 218 Lisa Schwander <?page no="219"?> Kritik an der Vernachlässigung ganzer Bevölkerungsgruppen durch Politik- und Wirtschaftseliten. Zugleich erfüllt die Darstellungsweise selbst aber auch einen bestimmten Zweck. Indem Roy hier einen deutlichen Gegenpol zu der betont phantastischen Schreibart entwickelt, suggeriert sie, dass nun dasjenige präsentiert wird, das als ‚Realität‘ anerkannt ist - und dies bewegt sich er‐ kennbar innerhalb des durch den Kapitalismus abgesteckten Rahmens. Der Roman kombiniert also strategisch einen in Szene gesetzten ‚Realismus‘ mit der kritischen Darstellung einer kapitalistischen Lebenswelt. So werden die Figuren in einigen Fällen mit solcher Deutlichkeit zu sozialen ‚Typen‘ reduziert (vgl. auch Lau/ Mendes 12) und für eine Kritik am globalen Kapitalismus instrumentalisiert, dass das Primat der ‚Dokumentation‘ vor dem ‚Fabulieren‘ schlichtweg bemerkt werden muss. In einer sich um das Jantar Mantar in Delhi abspielenden Passage gibt die Erzählung etwa schlaglichtartig das Schicksal des dort eingeschlafenen Wächters eines Honda-Werbeplakates, Gulabiya Vechania, wieder: But for now, Gulabiya slept soundly and dreamed deep. In his dream he had enough money to feed himself and send a little home to his family in his village. In his dream his village still existed. It wasn’t at the bottom of a dam reservoir. Fish didn’t swim through his windows. Crocodiles didn’t knife through the high branches of the Silk Cotton trees. Tourists didn’t go boating over his fields, leaving rainbow clouds of diesel in the sky. In his dream his brother Luariya wasn’t a tour-guide at the dam-site whose job was to showcase the miracles the dam had wrought. His mother didn’t work as a sweeper in a dam-engineer’s house that was built on the land that she once owned. She didn’t have to steal mangoes from her own trees. She didn’t live in a resettlement colony in a tin hut with tin walls and a tin roof that was so hot you could fry onions on it. In Gulabiya’s dream his river was still flowing, still alive. (113) Gulabiya spielt keine weitere Rolle im Roman. Er ist offensichtlich nicht als fiktionaler Charakter mit Tiefenschärfe von Interesse, sondern die Darstellung seines Traums dient einzig und allein dazu, die ökologischen und sozialen Folgen des kapitalistischen Treibens aufzuzählen und in die Romanform einzubetten. Indem sie das Schicksal von Gulabiyas Familie in Form eines Traums darstellt, unterstreicht Roy ihr Spiel mit literarischen Darstellungsweisen noch einmal. Die Erzählung innerhalb des Traums greift die kapitalistischen Verhältnisse ex negativo an: Sie macht die Konsequenzen dieser genau dadurch sichtbar, dass sie dem Leben unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus eine andere, nun für Gulabiya unerreichbar gewordene Existenzweise gegenüberstellt. Indem Roy diese dem globalisierten Kapitalismus entgegenstehende Lebensweise je‐ doch innerhalb einer Traumsequenz darstellt, macht sie erneut durch ihre Darstellungsweise spielerisch auf eine Begrenzung des ‚Realen‘ auf den Kapi‐ 219 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="220"?> talismus aufmerksam: Roy inszeniert hier, wie der Traum, traditioneller Platz‐ halter für das Phantastische innerhalb der ‚realistischen‘ Darstellungsweise, scheinbar die einzige Möglichkeit bietet, die Referenz auf ein Leben außerhalb des globalisierten Kapitalismus in die ‚realistische‘ Sphäre einfließen zu lassen, die, in dem Vorstellungshorizont, auf den der Roman scheinbar verweist, fest an den globalen Kapitalismus geknüpft ist. Roy macht keinerlei Anstalten, die Instrumentalisierung ihrer Charaktere für eine Sozialdokumentation zu verbergen. Im Gegenteil, der Roman fordert geradezu zu dem Vorwurf heraus, seine - dabei ohne Zweifel ernstgemeinte - Sozialkritik allzu fadenscheinig in eine fiktionale Form verpackt zu haben. Auch Figuren, die eine größere Rolle im Roman spielen, sind vor einer zeitweiligen Reduktion zur typisierten Darstellung von Sozialschicksalen nicht gefeit: So erscheint auch Saddam in einer Schilderung unverhohlen als Beispiel für eine Gruppe auf Lohn angewiesener Arbeitswilliger, die ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert sind. Er erzählt, wie er sein Augenlicht beinahe voll‐ ständig eingebüßt hat, weil er sich als Angestellter einer Sicherheitsfirma den Launen eines in Berlin lebenden Künstlers beugen und dessen stählernes, das Sonnenlicht gnadenlos reflektierende Kunstwerk im Blick behalten musste, während seine Vorgesetzte seinen Wunsch, eine Sonnenbrille zu tragen, als unschicklich ablehnte (77). Durch die unverblümte Ausrichtung der Figuren‐ zeichnung an einer kapitalistischen ‚Realität‘ sticht das so Dargestellte aber - im Gegensatz zu dem vorgeblich Phantastischen - genau in seiner Eigenschaft als das anerkanntermaßen ‚Reale‘ hervor. Vor dem Hintergrund dieses Spiels mit der Form betrachtet erscheinen auch die quasi-essayistischen Passagen in neuem Licht. Sie stellen den Kulminations‐ punkt von Roys inszeniertem ‚realitätsbezogenem‘ Schreiben dar. In Kapitel drei nimmt die Erzählstimme die Anwesenheit des Babys, Anjums und Tilos um das Jantar Mantar etwa zum Anlass, über 20 Seiten hinweg die sozialpolitischen Entwicklungen Indiens der vergangenen Jahrzehnte zu präsentieren. Dabei entfernt sich die Erzählung spürbar von ihren Protagonistinnen und wird, in deutlicher Nähe zu Roys Argumentation in Capitalism: A Ghost Story, zur Anklage eines ‚globalized development‘. Erneut stellt Roy die Veränderungen Delhis zur globalisierten, modernen Metropole - „supercapital of the world’s favourite new superpower“ (96) - den Opfern dieser Entwicklung entgegen: Die Erzählstimme schildert, wie Menschen in Delhi auftauchen, die förmlich von einem globalisierten Kapitalismus überrollt wurden - ihr gesamtes Leben „flattened by yellow bulldozers imported from Australia“ (99) - und sich nun an den industriell verpesteten Randbezirken Delhis ansiedeln müssen (100-1). Dabei macht die Erzählinstanz immer wieder selbst mit einem Augenzwinkern 220 Lisa Schwander <?page no="221"?> auf ihr scheinbares Abschweifen von ihrem - ‚fiktiven‘ - Erzählgegenstand aufmerksam: Mehrmals werden die essayistischen Überlegungen durch einen Hinweis auf ‚our baby‘ wieder in die Handlung zurückgeholt, nur um sich scheinbar gleich wieder in politischen Betrachtungen zu verlieren. Wie in der zitierten Erzählung von Anjums Geburt ist Roys Gegenüberstellung von einem fiktionalen und einem dokumentarischen Pol auch hier unverkennbar spielerisch und lenkt die Aufmerksamkeit auf den inszenierten Gegensatz selbst. Der Roman gibt sich also ironisch als zwischen den zwei Modi des kritischen Dokumentierens der Realität und des freien Phantasierens hin- und hergerissen, wobei die ‚Realität‘, die er dergestalt abbildet, fest in der Hand des Kapitalismus ist. Im Gegensatz dazu, wie die folgende Sektion zeigen wird, bietet gerade der angeblich phantastische Bereich Raum für nicht-kapitalistische Gegenentwürfe. 3. Anti-kapitalistische Lebensentwürfe und die Grenzen des ‚Realen‘ In ihrer bereits zitierten Selbstzuschreibung zu einer Sphäre außerhalb der ‚Rea‐ lität‘ bindet Anjum diesen Status an ihren neuen Lebensort des Friedhofs: „Here, there is no haqeeqat.“ Als Zentrum der als phantastisch gekennzeichneten Welt wird der Friedhof, nicht zufällig als eine der von Michel Foucault analysierten Heterotopien ein traditioneller ‚Gegenort‘ innerhalb der Gesellschaft, ein Ort der gesellschaftlich Abtrünnigen: Er fungiert deutlich erkennbar als Alternative zu kapitalistisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Auf humoris‐ tische Art und Weise lässt Roy im Friedhof eine spontane Initiative entstehen, die sich der Privatisierung und Ausbeutung von Ressourcen entgegensetzt und sich dem Wohl des menschlichen und nicht-menschlichen ‚Anderen‘ verschreibt, auf dessen Ausbeutung der Kapitalismus beruht. Mit beispiellosem Pragmatismus nimmt Anjum schlicht den Friedhof als Gemeindeland in Beschlag, errichtet dort mit ihrem ‚Gästehaus‘ eine Zufluchtsstätte für Schutzsuchende - mit dem viel‐ sagenden Namen ‚Paradise‘ - und zapft die Stromversorgung der Leichenhalle an, um ihre neue Behausung mit Elektrizität zu versorgen (68). Orientiert sie sich hier an der Idee allgemein zugänglicher Ressourcen, so wird diese insgesamt zum leitenden Prinzip der Friedhofsgemeinschaft. Mit der Frage „‚Why should only rich people have swimming pools? Why not us? ‘“ (400) errichtet sie ein Schwimmbad, das trotz seiner Ermangelung von Wasser - es besteht vorerst nur aus einem leeren Becken - Besucher anlockt und als „People’s Pool“ (ebd.) für seine gemeinschaftliche Ausrichtung geschätzt wird. Auch wird der Friedhof zum Zentrum der freien Bildung. Mit Tilos Einzug im Friedhof beginnt sie, die ansässigen Kinder zu unterrichten; ein anderer Bewohner, ermutigt 221 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="222"?> 7 Harvey stellt fest: „The era of neoliberalization also happens to be the era of the fastest mass extinction of species in the Earth’s recent history” (173). durch ihren Erfolg, gibt Musikstunden für alle Interessierten (397-8). Mit den aufeinanderfolgenden Errungenschaften von „a People’s Pool, a People’s Zoo and a People’s School“ (400) steht die Friedhofsgemeinschaft sinnbildlich für ein Zusammenleben jenseits des Profits. Anjum weist damit jene ‚business ontology‘ zurück, die Fisher beschreibt: „Over the past thirty years, capitalist realism has successfully installed a ‚business ontology‘ in which it is simply obvious that everything in society, including healthcare and education, should be run as a business.“ (17, Hervorhebung im Orig.) Der Ansatz der Friedhofsgemeinschaft steht einem solchen geschäftsmäßigen Modell diametral entgegen. Genau wie ihre sozialpolitische Ausrichtung die Friedhofsgemeinschaft als Gegenentwurf zu einem kapitalistischen System kennzeichnet, so stellt auch ihre ökologische Politik ein Gegengewicht zu den Folgen kapitalistischen Handelns dar. Im „People’s Zoo“ etwa überschneiden sich frei zugängliche Unterhaltungs- und Bildungsangebote für die Anwohner mit Gesichtspunkten des Naturschutzes. Als „a Noah’s Ark of injured animals“ (399) ist der Zoo kein Ort, an dem Tiere gefangen gehalten werden, sondern er erfüllt vielmehr die Funktion, parallel zu der vom Friedhof als Ganzem verkörperten Zufluchtsstätte für Menschen, heimatlosen Tieren Schutz zu bieten: Hier tummeln sich ein Pfau, der nicht fliegen kann, Wellensittiche, die aus dem Käfig eines Verkäufers befreit wurden, eine ausgesetzte Schildkröte und ein lahmender Esel (ebd.). Insbeson‐ dere die hohe Zahl kränklicher, eingeschränkter Tiere setzt die Institution mit einer auf Effizienz ausgerichteten ‚Nutztierhaltung‘ in Kontrast. Neben diesem Zoo macht auch ihr Gemüseanbau die Gemeinschaft zum Bollwerk gegen die Zerstörung von Flora und Fauna, die, wie David Harvey anmerkt, im Zeitalter des Neoliberalismus neue Dimensionen angenommen hat: 7 Although nobody was particularly keen on eating vegetables […], they grew brinjals, beans, chillies, tomatoes and several kinds of gourds, all of which, despite the smoke and fumes from the heavy traffic on the roads that abutted the graveyard, attracted several varieties of butterflies. (399) Der Anbau liefert nicht nur eine, wenn auch nicht besonders wertgeschätzte, nachhaltige Art, die Gemeinschaft zu ernähren, sondern er schafft zudem ein Gegengewicht zu den Abgasen des Verkehrs und hilft dabei, die Artenvielfalt zu erhalten. Der Friedhof wirkt den Problemen der Umweltverwüstung damit explizit entgegen. In ihrer humoristisch dargestellten Friedhofsgemeinschaft deutet Roy damit eine Vision eines Indiens an, das sich von der kapitalistischen 222 Lisa Schwander <?page no="223"?> Ausrichtung nach Effizienz und Profit abwendet und stattdessen auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit hinwirkt. Dass Roy ausgerechnet einen Friedhof als Schauplatz für ihre Alternativge‐ sellschaft wählt, ist ein weiteres Mittel, durch das der Roman spielerisch auf den marginalisierten Status der vorgestellten anti-kapitalistischen Lebensentwürfe hinweist. Ist er als Heterotopie einerseits prädestiniert dazu, von der Norm abweichenden Strömungen innerhalb einer Gesellschaft Raum zu geben, so erscheint er gleichzeitig, verstanden als das Reich der Toten, als denkbar ungeeigneter Ort für eine alternative Gesellschaftsvision, die ihrer Natur nach auf das zukünftige Leben ausgerichtet ist. Mit ihrem Schauplatz spielt Roy, wie schon mit ihrer ironischen Kennzeichnung der dort Versammelten als angeblich ‚nicht-real‘, erneut auf die Vorstellung an, dass anti-kapitalistische Alternativen in einer an die Zukunft denkenden und voll im Leben stehenden Gesellschaft keinen Platz hätten. Wie schon den angeblichen phantastischen Status seiner Figuren unterminiert der Roman jedoch auch diese konventionell mit dem Friedhof verknüpften Erwartungen gezielt. Umgedeutet zum ‚Paradies‘ wird er zur Oase, die eben nicht auf Verwesung beschränkt ist, sondern im Gegenteil zum Ort des blühenden Lebens wird - nämlich genau für diejenigen, die in der kapitalistischen Gesellschaft nicht überleben können. In der eingangs beschriebenen Passage erhebt der Roman so auch seine Friedhofsgemeinschaft explizit zur politischen Vision. Ein junges Dokumentar‐ filmteam, dessen Projekt es ist, verschiedene Protestgruppierungen jeweils in ihrer Sprache „‚Another World Is Possible‘“ (110) sagen zu lassen, bittet Anjum um Partizipation. Durch Anjums Antwort verbindet der Roman spielerisch die Suche nach politischen und ökonomischen Alternativen, die dem Filmprojekt zugrunde liegt, mit der Friedhofsgemeinschaft, die er um Anjum aufgebaut hat: Anjum, for her part, completely uncomprehending, stared into the camera. ‚Hum doosri Duniya se aaye hain,‘ she explained helpfully, which meant: We’ve come from there…from the other world. (Ebd.) Anjums Worte legen nahe, dass ein Modell für eine andere Welt durchaus existiert: nämlich in lokal oder situativ begrenzten Handlungen, wie denen auf dem Friedhof, die einer kapitalistischen Praxis entgegenlaufen. Gleichzeitig macht Anjums eigene frühere Aussage, sie alle seien aufgrund ihrer Teilhabe an der Friedhofsgemeinschaft ‚nicht real‘, darauf aufmerksam, dass diese situativen Gegenentwürfe für die Gestaltung einer ‚anderen Welt‘ eben nicht nutzbar gemacht werden, da sie als real existierende Alternativen verleugnet werden. Ohne sich mit der kapitalismuskritischen Ausrichtung des Romans näher zu befassen hat Filippo Menozzi darauf hingewiesen, dass die Darstellungsweise 223 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="224"?> 8 Menozzi hebt insbesondere auf die marginalisierte Rolle der Hijras ab, deren Realität keinen Platz in der heteronormativen indischen Gesellschaft habe (vgl. 23, 29). In Bezug auf die gerade zitierte Passage, in der Anjum dem Filmteam gegenüber versichert, aus einer ‚anderen Welt‘ zu kommen, macht er zum Beispiel auf die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚duniya‘ aufmerksam, das für Hijras eine spezifische Bedeutung hat: In ihrem Vokabular steht ‚duniya‘ für diejenige Welt, von der sie ihre eigene, marginalisierte Welt unterscheiden (vgl. 29). Menozzi hebt hervor, dass der Roman vorführe, wie die von Anjum suggerierte Bedeutung an ihren Adressaten vollkommen vorbei geht und dadurch den Ausschluss der Realität der Hijras aus dem dominanten Diskurs unterstreiche (vgl. ebd.). Die mit den Hijras verbundene marginalisierte Realität ist aber nur eine von vielen unterdrückten Perspektiven, die Roy in dem Roman beschäftigen. darauf abzielt, den in einem hegemonialen Diskurs unterdrückten Perspektiven Gehör zu verschaffen. Er liest das inszenierte Schwanken des Romans zwischen dokumentarischem und fiktionalem Schreiben als Strategie, durch die Roy das Konzept dessen, was als ‚real‘ gilt, auf seine Lücken hin hinterfragt. In Anlehnung an das Epigraph des Romans „To, The Unconsoled“ entwickelt er das Konzept der ‚aesthetics of the inconsolable‘. Unter Verweis auf eine breitere Debatte um Realismus im postkolonialen Kontext stellt er fest, dass Roy, indem sie den angeblich nicht-realen Status bestimmter Bereiche und Figuren ihres Narrativs hervorhebt, anklagt, dass die mit ihnen verbundenen Perspektiven, Weltanschauungen und Lebensformen in dem zur ‚Realität‘ Erklärten keinen Platz finden: „Through her inconsolable characters and unreconciled narratives, Arundhati Roy reclaims a role for fiction as repository of experiences at odds with hegemonic ways of living and understanding the contemporary world.“ (32) Er liest den Roman daher als „an act of protest, in which fiction constantly contradicts and disrupts the very concept of reality, showing how the making of the real is the product of battle and survival“ (30). 8 Menozzis Überlegungen gehen in eine für die Untersuchung von Roys literarischer Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und dessen möglichen Alternativen gewinnbringende Richtung. Wie beschrieben geht er davon aus, dass Roy die Verleugnung derjenigen Perspektiven, die dominanten Weltdeu‐ tungen entgegenlaufen, sichtbar macht und kritisiert, indem sie diese ironisch als ‚nicht-real‘ kennzeichnet. Genau um solche unterdrückten Perspektiven geht es auch im Kontext des Kapitalismus. Während sie die Existenz von alternativen Ansätzen aufzeigen, stellen Shrivastava und Kothari explizit fest: „The all-pervasive nature of the ,development‘ ideology makes any presentation of an alternative vision rather difficult“ (255). Wie Roy selbst in ihrem eingangs zitierten Essay konstatiert, muss der Versuch, sich mögliche Alternativen für die Zukunft Indiens vorzustellen, gegen die dominante Gleichsetzung von ‚Modernisierung‘ und ‚Entwicklung‘ mit globalem Kapitalismus ankämpfen. 224 Lisa Schwander <?page no="225"?> 9 Insbesondere in diesem Kontext lässt sich Roys Darstellung gut zusammen mit den von Chakrabarti et al. angestellten Überlegungen lesen. Sie beschreiben „capitalist develop‐ ment“ (65-6, Hervorhebung im Orig.) als „hegemonic formation“ (65) im postkolonialen Indien, in deren Kontext all dasjenige, das nicht der Logik des globalen Kapitalismus entspricht, umgedeutet wird als „lacking other“ (66, Hervorhebung im Orig.). Eine in die Zeit des Kolonialismus zurückreichende Modernisierungsdebatte, die die Vorstellung propagiert, eine angeblich rückständige Welt bedürfe der ‚Entwicklung‘ durch den Kapitalismus (vgl. Chakrabarti et al. 65), hat sich verselbstständigt und ist zur unhinterfragten Meinung geworden. Innerhalb dieses Vorstellungshorizonts gelten nur diejenigen Handlungsoptionen, die sich im durch den Kapitalismus abgesteckten Rahmen bewegen, als überhaupt der Beachtung wert, wenn es um die Frage der Zukunftsgestaltung geht. In Anschluss an Menozzis Überlegungen lässt sich Roys ironische Kennzeichnung ihrer dem Kapitalismus entgegengesetzten Entwürfe als ‚nicht-real‘ damit als Anklage daran lesen, dass existenten Gegenentwürfen unter der Allmacht der Entwicklungsideologie ihr Status als ernst zu nehmende Alternativen abgespro‐ chen wird. Der Roman selbst leistet einer solchen Deutung Vorschub: Wie das abschließende Kapitel der Analyse zeigen wird, hebt er die Deutungshoheit eines Narrativs hervor, das ein ‚modernes‘ Indien an seine Ausrichtung am globalen Kapitalismus knüpft, und macht darauf aufmerksam, dass Anjums anti-kapitalistische Perspektive darin schlichtweg keinen Platz als gegenwärtige Handlungsoption hat. 9 4. Globaler Kapitalismus und die Vorstellung eines ‚modernen‘ Indiens Immer wieder nimmt der Roman spöttisch auf die Idee Bezug, die Hinwendung Indiens zum globalen Kapitalismus sei sowohl gleichbedeutend mit seiner ‚Modernisierung‘, als auch notwendige Voraussetzung dafür. Innerhalb dieses Deutungshorizontes, so führt Roy vor, erscheinen alle nicht-kapitalistischen Handlungsformen als rückständige Praktiken, die in einem ‚modernen Indien‘ nichts zu suchen haben und daraus herausgeschrieben werden müssen. So beschreibt die Erzählstimme etwa die Veränderung Delhis zur „supercapital of the world’s favourite new superpower“ (96) sarkastisch als die Bemühung, eine „[t]housand-year-old-sorceress“ (ebd.) durch die Attribute des globalen Kapitalismus zu ‚modernisieren‘: „Her new masters wanted to hide her knobby, varicose veins under imported fishnet stockings, cram her withered tits into saucy padded bras and jam her aching feet into pointed high-heeled shoes.“ (Ebd.) Diese Schilderung der Verwandlung Delhis stellt eine beißende Kritik an 225 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="226"?> 10 Für eine Infragestellung dieser Dichotomie siehe insbesondere Dipesh Chakrabarty. 11 Indem Roy Anjum ironisch als Teil eines ‚exotischen‘ Indiens darstellt, bedient sie sich einer Strategie, die Graham Huggan als „strategic exoticism“ (32) beschreibt. Huggan zeigt auf, dass postkoloniale Autoren oftmals ironisch - und mit deutlich kritischem Impetus - die Erwartungshaltung eines westlichen Publikums bedienen, nach der sie, aufgrund ihres Hintergrundes, Einblicke in eine ‚exotische‘ Welt bieten sollen. Das Konzept des ‚strategic exoticism‘ kann auch den Blick dafür öffnen, wie gerade durch das Exotisieren von Figuren oder Schauplätzen Kritik an eben jenem Diskurs geübt werden kann, nach dem Praktiken, die dem dominanten Gesicht der westlichen Moderne entgegenstehen, als exotisch und damit als anti-modern beschrieben werden. Roy setzt hier solch ein ‚strategisches Exotisieren‘ dafür ein, die einseitige Bindung eines modernen Indien an den Kapitalismus zu kritisieren. den politischen Verhältnissen sowie an vorherrschenden Denkmustern dar. Die ‚neuen Herren‘, denen Delhi sich fügen muss, und die Kleidungsstücke, die diese für die Stadt auswählen, evozieren deutlich das Bild der Prostitution. Tatsächlich beschreibt Roy den Prozess dann auch explizit als Delhis Veränderung zur ‚Hure‘ (ebd.): Die Stadt - und Indien mit ihr - muss sich dem globalen Kapitalismus feilbieten. Darüber hinaus spielt Roy durch die Personifizierung Delhis als tausendjährige Zauberin ironisch auf die Dichotomie an, nach der ein exotisches, anti-modernes Indien einem ‚entzauberten‘, durch den globalen Kapitalismus geprägten, modernen Indien entgegenstehe. 10 Ersteres muss sich, um als ‚modern‘ zu erscheinen, symbolträchtig unter der importierten, und freizügigen, Mode einer globalisierten Welt verstecken: Es muss also, so sugge‐ riert Roys Bild, alle Elemente, die nicht den Erwartungen an eine globalisierte Metropole entsprechen, verleugnen. Ist in dieser Vorstellungswelt eine nicht-kapitalistische Alternative mit einem modernen Indien schlichtweg unvereinbar, so verbindet der Roman dann auch Anjum explizit mit dem ironisch heraufbeschworenen exotischen Indien. 11 Da sie sich eben weigert, sich am globalen Kapitalismus auszurichten, darf sie im modernen, ‚fortschrittlichen‘ Indien nicht existieren. In einem scheinbar beiläufigen Kommentar über die Ablösung Anjums als Lieblings-hijra der globalen Medien durch Saeeda gibt der Roman die Anschauung wieder, nach der Anjum nicht zeitgemäß sei und eben einem ‚exotischen‘ Indien angehöre: Also, Saeeda had edged Anjum out of the Number One spot in the media. The foreign newspapers had dumped the old exotics in favour of the younger generation. The exotics didn’t suit the image of the New India - a nuclear power and an emerging destination for international finance. (38) Während die Passage Anjum den ‚old exotics‘ zurechnet, deckt sie zugleich spöttisch auf, worauf die Vorstellung eines ‚exotischen‘ Indiens beruht: Anjum 226 Lisa Schwander <?page no="227"?> wird genau deshalb zur Exotin erklärt, weil sie nicht den Bedürfnissen des globalisierten Kapitalismus entspricht. Eine ‚moderne‘ zeitgemäße Repräsen‐ tantin Indiens ist hingegen Saeeda, die als begeisterte Leserin westlicher Mode‐ zeitschriften einen deutlichen Verweis auf das neu eingekleidete und seiner Erscheinung als Zauberin beraubte Delhi darstellt. Macht sich der Roman hier schon deutlich über die Vorstellung lustig, dass ein modernes Indien ausschließlich auf den globalen Kapitalismus verweisen darf, karikiert die Darstellung Anjums an anderer Stelle noch deutlicher die Verbannung nicht-kapitalistischer Praktiken in eine exotische, anti-moderne ‚andere Welt‘. In einer besonders symbolträchtigen Passage beschreibt der Roman einen Ausflug der Friedhofsbewohner in ein Einkaufszentrum: A mall. The passengers in the Merc fell dead silent as it turned into the underground parking lot, lifted its bonnet and its boot like a girl lifting her skirts, for a quick bomb-check, and then drifted down into a basement full of cars. When they entered the bright shopping arcade, Saddam and Zainab looked happy and excited, completely at ease in the new surroundings. The others, including Ustaniji, looked as though they had stepped through a portal into another cosmos. The visit began with a hitch - a little trouble on the escalator. Anjum refused to get on. It took a good fifteen minutes of coaxing and encouragement. Finally, when Tilo carried Miss Jebeen the Second, Saddam stood next to Anjum on the step with his arm around her shoulders, and Zainab stood on the step above her, facing her, holding both her hands. Thus reinforced, Anjum went up wobbling and roaring Ai Hai! as though she was risking her life in a dangerous adventure sport. (410, Hervorhebung im Orig.) Der ‚mall‘, dem Symbol des globalen Kapitalismus, wird Anjum als Angehö‐ rige eines ‚anderen Kosmos‘ gegenübergestellt. Die überzogene Darstellung der völlig überwältigten Anjum, für die selbst die Fahrt auf der Rolltreppe zum Extremsport wird, spielt auf die herablassende Haltung an, mit der die globalisierte, kapitalistische Moderne alle Lebensformen, die ihren eigenen Normen entgegenlaufen, als zurückgeblieben belächelt. Anti-kapitalistische Lebensentwürfe, wie derjenige, für den Anjum steht, finden dabei kein Gehör als ernstzunehmende Optionen. Obwohl Anjums alternativer Entwurf, wie die Friedhofspassagen deutlich zeigen, gerade in Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Praktiken ihrer Gegenwart entstanden ist, wird er als zurück‐ geblieben abgetan - eine Paradoxie, auf die Roy aufmerksam macht. Der Roman weist damit selbst darauf hin, auf was sein Spiel mit literarischen Darstellungsmodi abzielt. Indem er die um Anjum herum beschriebenen alter‐ nativen Lebenskonzepte ironisch auf den Bereich des Irrealen reduziert, imitiert 227 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="228"?> er spöttisch, wie im Kontext einer an den globalen Kapitalismus geknüpften Heilserwartung nicht-kapitalistische Praktiken als reale Möglichkeiten für eine Zukunftsgestaltung ausgeblendet werden. An die Bewusstwerdung über solche Alternativen knüpft der Text hingegen vorsichtig die Aussicht auf eine ‚andere Welt‘. Lau und Mendes sprechen also zu Recht von einer positiven, hoffnungsvollen Vision, die den als phantastisch gekennzeichneten Bereichen des Romans innewohnt. Allerdings bedarf ihre Beobachtung einer Ergänzung: Alle Hoffnung, zu der der Roman Anlass geben mag, ist daran geknüpft, dass die Reduktion seiner alternativen Entwürfe auf das ‚Nicht-Reale‘ - das Phantastische - eines Tages überwunden wird. 5. Die Romanform und Roys kapitalismuskritische Überlegungen The Ministry of Utmost Happiness liefert ein besonders eindrückliches Beispiel für das spezifische Potential literarischer Texte, zu einer Debatte über den Kapitalismus im 21. Jahrhundert beizutragen. Roys Roman verschreibt sich dem Projekt, einer Einengung des Vorstellungshorizontes und der Zukunftsper‐ spektiven auf den Kapitalismus im gegenwärtigen Indien entgegenzuwirken. Dabei semantisiert Roy die literarische Darstellungsweise selbst im Sinne einer Art metadiskursiver Diskussion über vorherrschende Denkmuster: Indem sie spielerisch literarische Darstellungsmodi des realitätsbezogenen und des phantastischen Scheibens einander gegenüberstellt und sich ironisch in deren literarische Konventionen einschreibt, kritisiert sie einen Diskurs, der ein ‚mo‐ dernes‘, ‚fortschrittliches‘ Indien ausschließlich mit dem globalen Kapitalismus verbindet. Roy nutzt somit die Möglichkeiten der Romanform selbst dazu, sich ihrem Thema auf eine Art und Weise zu nähern, die über die geradlinige, oft schlicht anklagende Diskussion in vielen ihrer Essays deutlich hinausgeht. Für seine Überlegungen zu einem alternativen Indien richtet der Roman den Blick nicht etwa auf eine weit entfernte, utopische Zukunft, sondern insistiert vielmehr darauf, aus der Gegenwart selbst Ausgangspunkte für eine andere Zukunft zu gewinnen. Anstatt die Notwendigkeit einer allumfassenden Vision zu postulieren, knüpft Roy die Möglichkeit einer alternativen Zukunft daran, die Perspektive nicht länger auf diejenigen Lebensentwürfe, die im Zentrum einer an den Kapitalismus gebundenen Konzeption von Moderne stehen, zu verengen. Sobald anderweitige Lebens- und Gemeinschaftsentwürfe ernsthaft in Betracht gezogen würden, könnten Grundzüge einer alternativen Gesellschaftsvision entstehen. Roys Überlegungen stimmen damit nicht nur in vielen Punkten mit den Beobachtungen von Shrivastava und Kothari überein, sondern rücken auch in die Nähe zu Denkern wie Prasenjit Duara: In seinem viel besprochenen The 228 Lisa Schwander <?page no="229"?> Crisis of Global Modernity: Asian Traditions and a Sustainable Future (2014) hebt er hervor, dass sich gleichzeitig zu der als ‚modern‘ bekannten Lebensform, die an eine lineare Entwicklungslogik gebunden ist und mit einander in Konkurrenz stehende Nationen hervorgebracht hat, in der gegenwärtigen Welt andere Ansätze fänden. Gerade diese könnten, zum Beispiel durch einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen über national begrenzte Verantwortlich‐ keitsbereiche hinaus, den Weg in eine nachhaltigere Zukunftsgestaltung weisen. Auf ähnliche Weise gibt auch der Roman zu verstehen, dass es Modelle für eine alternative Gesellschaft zur Genüge gäbe; zu verändern wäre ihr margi‐ nalisierter Status in einer sich durch den Kapitalismus selbst definierenden Moderne. Bibliographie Primärliteratur: Roy, Arundhati. The Ministry of Utmost Happiness. Penguin, 2017. —. Capitalism: A Ghost Story. Verso, 2014. —. Listening to Grasshoppers: Field Notes on Democracy. Penguin, 2009. Sekundärliteratur: Chakrabarti, Anjan et al. The Indian Economy in Transition: Globalization, Capitalism and Development. Cambridge UP, 2016. Chakrabarty, Dipesh. Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Diffe‐ rence. Princeton UP, 2008. Duara, Prasenjit. The Crisis of Global Modernity: Asian Traditions and a Sustainable Future. Cambridge UP, 2014. Fisher, Mark. Capitalist Realism: Is There No Alternative? Zero Books, 2009. Foucault, Michel. „Of Other Spaces.“ Übersetzt von Jay Miskowiec. Diacritics, 16.1 (1986). S. 22-7. Harvey, David. A Brief History of Neoliberalism. Oxford UP, 2005. Huggan, Graham. The Postcolonial Exotic: Marketing the Margins. Routledge, 2001. Iwanek, Krzysztof. „The God of Great Things, India’s Arundhati Roy Returns with a New Novel.“ The Diplomat, 6 Juni 2017, https: / / thediplomat.com/ 2017/ 06/ the-god-of-great -things-indias-arundhati-roy-returns-with-a-new-novel/ . Aufgerufen 13 Juni 2019. Lau, Lisa und Ana Cristina Mendes. „Romancing the Other: Arundhati Roy’s The Ministry of Utmost Happiness.“ The Journal of Commonwealth Literature, Jan. (2019). S. 1-16. Menozzi, Filippo. „‚Too Much Blood for Good Literature‘: Arundhati Roy’s The Ministry of Utmost Happiness and the Question of Realism.“ Journal of Postcolonial Writing, 55.1 (2019). S. 20-33. 229 „Another World Is Possible“: Roys The Ministry of Utmost Happiness (2017) <?page no="230"?> Sehgal, Parul. „Arundhati Roy’s Fascinating Mess.“ The Atlantic, Juli/ Aug. 2017, www.t heatlantic.com/ magazine/ archive/ 2017/ 07/ arundhati-roys-fascinating-mess/ 528684/ . Aufgerufen 15 Juni 2019. Shiva, Vandana. „The Seeds Of Suicide: How Monsanto Destroys Farming.“ Global Research, 21 Okt. 2018, www.globalresearch.ca/ the-seeds-of-suicide-how-monsanto-d estroys-farming/ 5329947. Aufgerufen 3 Juli 2019. Shrivastava, Aseem und Ashish Kothari. Churning the Earth: The Making of Global India. Penguin Viking, 2012. 230 Lisa Schwander <?page no="231"?> 1 Die Zeit um 1968 muss hier aus Ausnahme gelten, da es an manchen Universitäten gelang, Professuren mit marxistischen Forschungs- und Lehrprofilen zu besetzen (vgl. Fülberth, „Marxismus Emeritus“). 2 Vgl. auch Anderson, Zum Ende der Geschichte (1993). Literarische Kapitalismuskritik in der Romania: apokalyptische Szenarien und utopische Gegenentwürfe im Zeichen des ‚kapitalistischen Realismus‘ Patrick Eser 1. Die Zeiten der (literarischen) Kapitalismuskritik Die Kapitalismuskritik hat die Kulturwissenschaft erreicht. Zahlreiche De‐ batten, kritische Stellungnahmen renommierter Intellektueller und mittlerweile auch unzählige Sammelbände laden dazu ein, eine kritische Überprüfung der ge‐ genwärtigen Welt und ihrer Kulturdynamik in den Begriffen einer gesellschafts- oder auch kulturwissenschaftlich informierten Theorie des Kapitalismus vorzu‐ nehmen. War es in der BRD bis zum Ende des Systemkonflikts verpönt, mit den Begriffen der ‚Klasse‘ oder des ‚Kapitalismus‘ die Gegenwart zu beschreiben (be‐ ziehungsweise geriet man ins akademische Abseits, wenn man dies doch tat), 1 so scheint sich im Kontext des vermeintlichen, triumphierend proklamierten oder auch so gefühlten „Endes der Geschichte“ eine neue Toleranz durchzusetzen, die ein Nachdenken über die Gegenwart als eine kapitalistische nicht per se unter Kommunismusverdacht stellt. Ein wichtiger Impuls hierfür ging von Jacques Derridas Spectres de Marx (1993) aus, das, international breit rezipiert, schon frühzeitig Skepsis angesichts des Triumphalismus der liberal-kapitalistischen Erzählung artikulierte, 2 der zufolge nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus nun das Reich der Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte begonnen habe. Derrida diagnos‐ tizierte einen herrschsüchtigen dominierenden Diskurs, der eine manische, jubilierende und beschwörende Form annehme, gleich der Phase des Triumphes <?page no="232"?> 3 Die Figur des ,alten Maulwurfs‘ prägte Marx im „achtzehnten Brumaire“ (196), um die komplexe temporale Struktur revolutionärer Umbrüche sowie das beharrliche Wühlen und Graben der Revolution durch die Finsternis hindurch zu beschreiben. 4 Ein 1972 als „spät“ gekennzeichnetes und somit schon als überreif erachtetes Entwick‐ lungsstadium des Kapitalismus drückte freilich auch die politische Hoffnung des Trotzkisten Mandels auf ein baldiges Ende des Kapitalismus aus. Andere Periodisie‐ rungsvorschläge betonen eher das politische Momentum, so Eric Hobsbawm, für den das Jahr 1973 der zentrale Markstein der jüngsten Entwicklung ist, da hier der „große in der Trauerarbeit bei Freud. Eine Beschwörung, die sich auf ritualisierte Art an Zauberformeln klammere: Immer wieder intoniert sie die alte Leier und den Refrain. Im Rhythmus des Gleich‐ schritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus. (Derrida 88-9) Derrida prognostizierte, dass das Gespenst Marx’ weiter spuken und die mit ihm verbundene radikale Kapitalismuskritik weiterhin ihre Gültigkeit haben würde, sofern die grundsätzlichen mit dem Kapitalismus verbundenen sozialen Probleme nicht behoben seien. Anders, eher politisch denn ideengeschichtlich, stellt Frank Deppe angesichts des Stolperns „vom Systemgegensatz zu den Widersprüchen des entfesselten Kapitalismus“ fest, dass, „[i]m Taumel des Sieges […] gleichwohl nicht zur Kenntnis genommen [wurde], dass der ‚alte Maulwurf ’ keineswegs mit dem Ende des Sozialismus verstorben war“ (227). 3 Bedeutende Stimmen wie Fredric Jameson, Slavoj Žižek, Joseph Vogl und auch Mark Fisher haben kritische kulturtheoretische Diagnosen des globali‐ sierten Neoliberalismus formuliert, ohne zu verkennen, dass es sich dabei um die neue Formation eines kapitalistischen Akkumulationsregimes handelt. In letzter Zeit hat sich, nicht zuletzt ausgelöst von der Immobilien- und Finanz‐ krise 2008 ff. und den Debatten der globalisierungskritischen Bewegung, ein starkes Interesse an der Finanzmarktsphäre geregt, deren strukturelle Macht im Reproduktionsprozess des Kapitals diskutiert wird; dies hat wiederum neue Periodisierungsvorschläge inspiriert (so beispielsweise „Finanzmarktge‐ triebener Kapitalismus“; vgl. Huffschmid). Eine neue Epoche wird verkündet, eine vergangene begraben. Die Periodisierungsbemühungen und Versuche der Bestimmung, was die gegenwärtige Formation denn im Kontrast zur vorherigen ausmacht, liegen auch den kulturtheoretisch orientierten Kapitalismustheorien zugrunde, so ist die Theorie der Postmoderne von Jameson eingebettet in die Thesen über den Spätkapitalismus von Ernest Mandel (1972). Die Frage nach historischen Zäsuren 4 verhilft dazu, über die Verfasstheit der Gegenwart 232 Patrick Eser <?page no="233"?> Erdrutsch“ der politischen Linken anhebt: „Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist.“ (zit. nach Boris 8) Die Frage nach der Tiefe und Tragweite histo‐ rischer Umbrüche ist jedoch nie einfach zu bestimmen: „Wie tiefgreifend (‚epochal‘) eine historische Zäsur letztlich wirksam ist, kann nie sofort bestimmt werden. Nicht nur weil objektive Determinanten sich mit subjektiven Perzeptionsweisen mischen, sondern auch weil Zäsuren häufig erst nach einigen Jahren als solche wahrgenommen werden“ (Boris 12). aufzuklären, Orientierung hinsichtlich historischer Entwicklungstendenzen zu gewinnen, Potenziale für politische Veränderungen zu identifizieren und nicht zuletzt Einblicke zu erhalten in das kulturelle Selbstverständnis einer Epoche. Was macht die Gegenwart und deren Wahrnehmung aus, inwiefern und entlang welcher Kriterien setzt sie sich von der Vergangenheit und auch von der Zukunft ab? Was sagt es über die Gegenwart aus, wenn die ursprünglich als ideologisch kontaminierte Formel des ‚Kapitalismus‘ wieder in Gegenwartsanalysen, kul‐ turellen Debatten und auch künstlerischen Diskursen hoffähig geworden ist? Und was, wenn zur gleichen Zeit in ihr kaum mehr substanzielle positive Zukunftsentwürfe formuliert werden, sie dafür aber „exzessiv nostalgisch“ ist, „der Retrospektion ergeben und unfähig zur Generierung irgendeiner Art von echter Neuartigkeit“ (Fisher, Gespenster 70), wie Mark Fisher im Anschluss an Jamesons Thesen über die Kultur der Postmoderne behauptet? Dieser Befund treffe heutzutage noch viel stärker zu, nun, da keine politische[n] Systeme und Ideen [existieren], die zumindest dem Namen nach Alter‐ nativen zum Kapitalismus darstellten. Heute haben wir es mit einem tieferen, weitaus umfassenderen Gefühl der Erschöpfung, der politischen und kulturellen Sterilität zu tun (Fisher, Kapitalistischer Realismus 14). Da der Kapitalismus „nahtlos den Horizont des Denkbaren“ (ebd. 16) bestimme, seien die Möglichkeiten der kollektiven Vorstellungskraft limitiert, ein Zustand der kollektiven Mentalität, den Fisher mit der Formel des „kapitalistischen Realismus“ bezeichnet. Dieser sei das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politi‐ sche und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen (ebd. 8). Die Beschränkung des individuellen wie kollektiven Imaginären geht einher mit einem postmodernen Nostalgiemodus, den Fisher in Anschluss an Jameson beschreibt: Futuristische Referenzpunkte verschleiern auf der Ebene des Inhalts, wie sehr die Formen etablierten oder antiquierten Modellen verhaftet bleiben. Zugleich gelte der Ausspruch, der mal Slavoj Žižek, mal Fredric Jameson 233 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="234"?> 5 Als Repräsentanten dieser Rezeptionslinie können unter anderem Friedrich Engels, Karl Marx, Fredric Jameson, David Harvey und Wolfgang Pohrt gelten. zugeschrieben wird und dem zufolge es einfacher sei, „sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“ (Fisher, Gespenster 8). Der langwierige, krisenhafte Prozess der Etablierung der bürgerlich-kapita‐ listischen Gesellschaftsform, der sich auf nationaler und globaler Ebene zeitlich versetzt und höchst unterschiedlich entfaltet hat, wurde auf vielfältige Weise zum Gegenstand literarischer Imagination. Die Konsequenzen der von der kapitalistischen Entwicklungsdynamik getriebenen Modernisierung wurden hier oftmals unter dem Aspekt der Beschleunigung des Alltagslebens und dessen Durchdringung durch die Imperative der Kapitalwirtschaft ausgeleuchtet. Wie im Folgenden am Beispiel von Honoré de Balzac und Julián Martels einleitend gezeigt werden soll, gehen in den modernen Varianten literarischer Kapitalis‐ musdarstellung spezifische Zeitwahrnehmungen mit verschiedenen Formen des Krisenbewusstseins und dementsprechend auch Mustern der Kritik einher. Die ästhetischen Modellierungen der kapitalistischen Entwicklungsdynamik tragen in sich einen ‚Zeitkern‘. Sie sind historisch wandelbar, die in ihnen imaginierten Rhythmen, Illusionen und kulturellen Narrative der gesellschaftlichen Entwick‐ lung (aber auch der Stagnation, der Krise und der Dekadenz) variieren stark im Laufe der Zeit. Bevor im Rahmen dieses Aufsatzes anhand zweier Beispiele der argentinischen Gegenwartsliteratur - einer apokalyptischen Untergangsvision im Medium der Großstadtliteratur (2.) und eines utopischen Gegenentwurfs im Kontext des ‚kapitalistischen Realismus‘ (3.) - zeitgenössische Formen der gesellschaftlichen Zeitwahrnehmung diskutiert werden, die durch das Wegbre‐ chen von Zukunftshorizonten gekennzeichnet sind, soll im Folgenden anhand von zwei ausgewählten Beispielen aus den romanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts die fiktionale Exploration der Expansions- und Vertiefungsphase des Kapitalismus dargestellt werden. Literarische Imaginationen der kapitalistischen Moderne Honoré de Balzac hat in dem Romanzyklus La comédie humaine einen au‐ ßergewöhnlich vielschichtigen Einblick in die französische Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermittelt, was vor allem in einer kapitalis‐ muskritischen Rezeptionslinie hervorgehoben wurde und wird. Jene arbeitet heraus, wie Balzac die bürgerlich-kapitalistische Moderne in ihren sozioökono‐ mischen, alltagsbezogenen sowie kulturellen Konsequenzen anhand komplexer Konfliktkonstellationen und Figurenzeichnungen plastisch vor- und dargestellt hat. 5 Die Dynamik der akkumulationsgetriebenen und geldvermittelten Verge‐ 234 Patrick Eser <?page no="235"?> 6 Pohrt übernimmt damit eine Wendung Walter Benjamins, der Baudelaire als „Geheim‐ agent[en] - ein[en] Agent[en] der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft“ bezeichnet hat (Pohrt 26). Pohrt beansprucht diesen Titel allerdings auch für Balzac - denn es gelte „für beide, was der gegen Balzac äußerst ungerechte Benjamin nur Baudelaire zugestehen wollte“ (ebd.) - und macht jene Wendung zum Titel seines Balzac-Essays. sellschaftung bestimmt die Dramaturgie der variierenden Erzählungen der kapitalistischen Moderne in Paris, der ‚Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‘ (Walter Benjamin). Die von Balzac imaginierten sozialen Fresken setzen die ‚dämo‐ nischen’ Wechselwirkungen von Geld und Geist, Geld und Literatur, Geld und Kultur ins Bild und machen die faszinierenden, atemberaubenden und gespenstischen Wirkungen des Geldes und der Kapitalzirkulation zum neural‐ gischen Punkt ihrer Dramaturgie. Balzacs Gespür für die sich herausprägenden Formen der modernen Subjektivität zeigt sich in der Zeichnung der Figur des Wucherers Gobseck. Diesen denunziert er nicht als Widersacher, sondern entdeckt in „seiner mitleidslosen Härte, seiner widerlichen Pfennigfuchserei, seinem krankhaften Geiz und seiner triebhaften Geldgier jene monomanische Besessenheit, jene wahre Passion […], welche der des genusssüchtigen Schrift‐ stellers ähnelt“ (Pohrt 33). Die anthropologischen Erkenntnisse, die sich in der Figur des Gobseck ausdrücken, weisen Parallelen zu Marx’ Beschreibungen der Auswirkungen des Geldfetischs auf die Persönlichkeit der Subjekte auf. Gobseck erscheint als Manifestation der ökonomischen Kategorien, die Marx in seinen politisch-ökonomischen Schriften als begriffliche Abstraktionen entwickelt hat. Wenn Gobseck davon spricht, dass das Gold alle menschlichen Kräfte repräsentiere und zugleich irdischer Vergänglichkeit enthoben sei, entspricht das Marx’ Diktum, das Geld „stellt die himmlische Existenz der Waren dar, während sie seine irdische darstellen“ (Marx, Grundrisse 133). Am Beispiel der Literatur jenes Geheimagenten der Unzufriedenheit  6 lässt sich ein Rückblick auf die Moderne (Pohrt) nachvollziehen, der kritisch die Erscheinungen der bürger‐ lichen Gesellschaft durchleuchtet, in der die Kapitalzirkulation zum höchsten Gut und der Kapitalfetisch zur Alltagsreligion geworden ist. Die Darstellung des seelischen Innenlebens der Romanfiguren und ihrer an der Geldzirkulation haftenden Phantasien kann als Grundstein der literarischen Exploration des gespenstischen Spukens des Kapitals gelten. Werden bei Balzac in paradigmatischer Form die die Gesellschaft durch‐ dringenden Auswirkungen der kapitalistischen Dynamik in den imaginierten sozialen Fresken sichtbar gemacht und die ‚dämonischen‘ Auswirkungen des Geldes auf die Mentalitäten, die Kultur und die alltäglichen Handlungsdisposi‐ tionen ins Bild gesetzt, so nimmt der Krisenroman La bolsa (1891) des argenti‐ 235 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="236"?> 7 Drumont war Begründer der Ligue Antisémitique de France. Seine zweibändige Hetz‐ schrift, die die angeblich herausragende Stellung der ‚kapitalistischen‘ Juden in dem sich dynamisch entwickelnden französischen Kapitalismus hervorhob, wurde ein Ver‐ kaufsschlager und zum internationalen Referenzwerk des auflebenden Antisemitismus (vgl. Eser/ Ionescu). nischen Schriftstellers José María Miró, alias Julián Martel, ein Teilmoment der ökonomischen Dynamik des sich entfaltenden Kapitalismus in den Blick: die Börse. Der Roman spielt im Börsenmilieu des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der durch Kapitalströme und Finanzoperationen beschleunigten Metropole Buenos Aires. La bolsa erzählt die Geschichte des Niedergangs des Dr. Glow, der vom risikobereiten Spekulanten und Profiteur zum Opfer des Finanzgesche‐ hens wird. Der sozialkritisch inspirierte literarische Entwurf Martels - der Untertitel des Romans, „Estudio social“, kann als programmatische Etikettierung des sozialdokumentarischen Beschreibungsstils verstanden werden - richtet seine Kritik der zeitgenössischen Welt auf die Finanz- und Geldsphäre. Die evozierten Allegorien der Krise sind dabei eng bezogen auf modernekritische Motive, die eine allgemeine Vorurteilsstruktur gegenüber dem „Fremden“, den „Einwanderern“ und vor allem gegenüber jüdischen Figuren zum Ausdruck bringen. Dies zeigt sich in der Zeichnung der Figur des Glow, dessen Figurenrede Martel mit längeren Passagen aus dem antisemitischen Pamphlet La France juive (1886) des Ultrakatholiken Édouard Adolphe Drumont auskleidet. 7 Die Geisteshaltung, die in La bolsa ihren literarisch kondensierten Ausdruckt findet, besteht in einer Modernekritik, die den Materialismus, Egoismus, das Spekula‐ tionswesen und die Geldwirtschaft ablehnt und jene ‚Dekadenzphänomene‘ auf die Juden projiziert. Diese spezifische Moderne- und Kapitalismuskritik weist den Roman als ein in der argentinischen Literaturgeschichte klassisches Beispiel des literarischen Antisemitismus aus, wobei dessen Manifestationen mal deutlicher (Zeichnung der jüdischen Figuren, Annahme von Komplott- oder Verschwörungsstrukturen), mal vermittelter (in der abstrakten Geldkritik) sind. La bolsa kann ideologisch als rechte Spielart von Kapitalismuskritik eingestuft werden, in der eine rückwärtsgewandte Modernekritik mit chauvinistischen und antisemitischen Vorurteilen verschmilzt. Die ideologische Formel einer sich ausschließlich auf die Finanzsphäre konzentrierenden Kapitalismuskritik, die jene mit verschwörungstheoretischen Figuren eines Komplotts oder des ‚jüdischen Finanzkapitals‘ in Verbindung bringt und somit vereinfachende und 236 Patrick Eser <?page no="237"?> 8 Zu den ideologischen Affinitäten der gedanklichen Operationen in La bolsa mit zeitge‐ nössischen protofaschistischen Theoremen und dem völkischen Antikapitalismus (so die verkürzte Geldkritik und die Opposition von ,egoistischem‘, dekadenten Finanzka‐ pital und der ,ehrlichen Arbeit‘ der Nation) vgl. die ausführlichere Argumentation in Eser, „Die Rechte im Spiegel der argentinischen Literatur“. 9 Schon im so genannten Kommunistischen Manifest (1848) sprachen Marx und Engels jene raumzeitliche Dynamisierung an: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (465). unterkomplexe Sündenbock-Theorien kreiert, ist bis in die Gegenwart hinein noch zentraler Bestandteil dezidiert rechter Varianten von Antikapitalismus. 8 Balzac und Martel sind zwei frühe Beispiele der literarischen Exploration der kapitalistischen Moderne und ihrer Konsequenzen in den romanischen Literaturen. Für jene historische Epoche der Entwicklung und Expansion (so‐ wohl nach ‚innen‘ als auch nach ‚außen‘) des Kapitalismus entwickeln sie verschiedene erzählerische Verfahren und Perspektivenstrukturen, die extrali‐ terarische Impulse aufnehmen und symbolisch verdichten. Der Einbruch einer neuen, beschleunigten Epoche wird im Kontrast zur vergangenen ausgelotet. Die Modellierung der Zeitstrukturen der erzählten Welten ist dabei ein zentraler Aspekt, auch in dem Versuch, die dynamisierte Gegenwart durch die erzähle‐ rische Dramaturgie zu fassen. In den folgenden Ausführungen werden zwei Varianten zeitgenössischer literarischer Kapitalismusimaginationen diskutiert, wobei auch hier der Aspekt der Zeitlichkeit und der gesellschaftsbezogenen Zeitwahrnehmung in den Vordergrund gerückt wird. Welche Typen literari‐ scher Kapitalismusimagination lassen sich beobachten und durch welche Zeit‐ bezüge sind diese gekennzeichnet? In zahlreichen zeitdiagnostisch orientierten Essays wie auch in literarischen Kapitalismusnarrativen sind der Zeitbezug, die Bestimmung des Gegenwärtigen sowie seine Beschleunigung durch die Kapitalzirkulation von großer Bedeu‐ tung. Ein sachhaltiger Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass Zeit ein wichtiger Faktor für die Reproduktion des Kapitals ist. Letztere ist durch die permanente Revolutionierung und Dynamisierung der Produktionsstruktur gekennzeichnet, was sich in einer stetigen Reduktion zeitlicher und räumlicher Distanzen ausdrückt, wie David Harvey in der Diagnose einer zunehmenden „time-space-compression“ (284-307) gezeigt hat. 9 Der Herausforderung, das schwer oder unmöglich zu fixierende ‚Wesen‘ der kapitalistischen Produktions‐ weise wahrnehmbar zu machen, müssen sich die literarischen Imaginationen 237 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="238"?> 10 Die Auseinandersetzung mit dem komplexen intertextuellen Spiel kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht vertieft werden, es sei hier lediglich auf Radiografía de la Pampa (1933) von Ezequiel Martínez Estrada verwiesen, dessen Bilder vom urbanen Wandel für Chejfec eine zentrale Inspirationsquelle darstellten. Die im Roman verwendeten Eigen‐ namen, der Titel El aire und die Namen der Protagonisten, des „Barroso“ (Anspielung auf den schlammigen Río de la Plata) und der stets abwesenden „Benavente“ (Buenos des Kapitalismus stellen; und zwar verstärkt in der Gegenwart, in der die tendenzielle Undarstellbarkeit des Kapitals als dynamisches, komplexes gesell‐ schaftliches Verhältnis im Zuge der „erratischen und scheinbar irrationalen Bewegungen“ des Finanzgeschehens, „die vom zwanzigsten ins einundzwan‐ zigste Jahrhundert herüberreichen“ (Vogl 32), noch zugenommen hat. 2. Apokalypse und ,kapitalistischer Realismus‘ in Sergio Chejfecs El Aire El aire (1992) ist der dritte Roman des argentinischen Autors Sergio Chejfec, der mittlerweile zu einem bedeutenden Werk der argentinischen Gegenwarts‐ literatur geworden ist. Der Roman entwirft ein Untergangsszenario, das in der Metropole Buenos Aires angesiedelt ist und das sich zu einem nicht näher be‐ stimmten Zeitpunkt zuträgt. El aire wird aus der Perspektive des Protagonisten Barroso erzählt, der von seiner Frau verlassen wird und im Folgenden in eine tiefe Krise stürzt, die sich vor allem gesundheitlich ausdrückt. Die Erzählung erstreckt sich auf einen Zeitraum von sieben Tagen, am letzten stirbt Barroso, dessen gesundheitlicher Zustand sich zuvor deutlich verschlechtert hatte. Par‐ allel zum körperlichen Verfall des Protagonisten wird auch der Schauplatz der Erzählung, Buenos Aires, von einem Verfallsprozess eingeholt. Die Stadt wird zunehmend von der ‚Pampa‘ und der Natur erobert, die Muster der städtischen Zivilisation sowie die ökonomische Struktur der städtischen Gesellschaft bilden sich zurück. Der Roman entfaltet somit eine Untergangsvision, die gleicher‐ maßen die städtische Zivilisation wie auch den Protagonisten Barroso betrifft. Dieser beobachtet den äußeren sozialen Dekadenzprozess von seiner Wohnung aus oder wird dessen direkter Zeuge während seiner Spaziergänge durch die Straßen der Stadt. Die in Form von häufig auftauchenden Bewusstseinsberichten dargestellten inneren Zustände Barrosos nehmen den äußeren Verfall, wie auch den eigenen, zur Kenntnis und reflektieren beide jeweils. Es kommt in ihnen ein melancholisches Trauern, aber auch eine zunehmende Konfusion angesichts der sich radikal verändernden Umgebung zum Ausdruck. Die Allegorien des städtischen Zerfalls konstruieren zahlreiche intertextuelle Bezugnahmen auf das literatur- und kulturhistorische Imaginäre. 10 Von Relevanz sind in diesem 238 Patrick Eser <?page no="239"?> Aires auf Italienisch), weisen ebenfalls einen großen symbolischen Wert auf, der im Folgenden nicht weiter berücksichtigt werden kann. 11 Chejfec greift an mehrere Stellen das zeitgenössische soziologische Schlagwort der „nuevos pobres“ zur Kennzeichnung jener abgestiegenen Mittelschichten auf. 12 Im Folgenden wird auf El aire mit der Abkürzung EA verwiesen. Zusammenhang die Visionen des Untergangs der städtischen Zivilisation, die sozioökonomischen Dekadenzdiagnosen und die subjektive, emotionale Krise des Protagonisten. El aire konstruiert die Visionen des Sozialen und das Wissen von den sozialen Krisenerscheinungen auf verschiedene Arten: durch Barrosos Blicke von seiner Hochhauswohnung, die Spaziergänge des Protagonisten durch die Straßen der Stadt sowie durch seine Zeitungslektüren. Jene drei Informationsquellen ergänzen sich wechselseitig. Von seiner Wohnung aus beobachtet Barroso, wie die Dächer der benachbarten Hochhäuser von Wohnungssuchenden bevölkert werden, die sich dort einrichten und Hütten bauen. Es entstehen auf den Dächern der Großstadt neue Armutsviertel, deren soziales Substrat, wie Barroso im Rahmen seiner Zeitungslektüren erfährt, aus verarmten Mittelschichten besteht. Seine Beobachtungen bestätigen dies. Das geringe handwerkliche Geschick jener „neuen Armen“ 11 bei der Konstruktion der Hütten und die mit‐ gebrachten Gebrauchsgegenstände weisen auf einen vorangegangen sozialen Abstieg und die soziale Herkunft der neuen Hausbesetzer hin. Auf seinen Spa‐ ziergängen durch den Stadtraum wird Barroso mit Entwicklungen konfrontiert, die auf verschiedene Facetten eines sozialen Niedergangs hinweisen. Parallel zur „tugurización“ (El aire 13, 63, 111, 178) 12 - so wird die Verwilderung und prekäre Behausung der Dachterrassen in einem Zeitungsartikel bezeichnet - nimmt Barroso weitere Tendenzen der sozialen Dekadenz wahr. Er beobachtet auf den Straßen Familien, die in Mülltonnen nach Wert- oder Gebrauchsgegen‐ ständen suchen, sowie Mütter und Kinder, die vor Bäckereien und Restaurants stehen und auf verschenkte Reste warten (EA 165). Barroso nimmt wahr, wie Massen von Fußgängern vor Schaufenstern verharren und das dort ausgestellte Warenangebot begutachten, von dem sie ausgeschlossen sind und das sie nicht konsumieren können. Steht der Schaufensterbummel in der urbanen Konsum‐ kultur klassischerweise für eine Alltags- und Freizeitbeschäftigung nicht nur bürgerlicher Schichten, wird in der beschriebenen Szene der Ausschluss der rein passiv erscheinenden Passanten vom Konsum ins Bild gesetzt (EA 56-57). Die Phantasmagorie der Warenauslage, die einst die Wunschträume der Passanten anregte, also zwischen Wünschen und Wirklichkeiten eine Dynamik auslöste, wirkt nunmehr bloß noch als sedierender visueller Eindruck auf die träge Masse. 239 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="240"?> 13 Anlässlich der Neuauflage von El aire im Jahr 2008 wurde in den Besprechungen die These von dessen antizipatorischem Charakter vertreten. Dieser habe schon 1992 Tendenzen beschrieben, die sich erst eine knappe Dekade später, im Vorfeld und Nachgang der schweren Wirtschaftskrise von 2001, vollends manifestiert hätten; vgl. hierzu Eser, „Konfigurationen“ 172-4. Der städtebauliche Verfall macht sich auch in den conventillos bemerkbar, den Mietshäusern, die Barroso auf einem Ausflug in ein prekäres Wohnviertel, das er zuvor noch nie betreten hatte, entdeckt. Diese Häuser befinden sich in einem sehr heruntergekommenen Zustand. Die umgebende Natur scheint sich ihrer zu bemächtigen, während der Straßenrand von funktionslosen und ver‐ lassenen Autos gesäumt ist. Barroso stellt bei seinen Ausflügen in das ärmliche Stadtviertel die weitere Dekadenz und das immer deutlicher wahrnehmbare Vordringen der Natur in den Stadtraum fest. Er registriert ebenso veränderte Sprachformen in der Alltagskommunikation wie generell ein lethargisches Verhalten der Stadtbewohner. Zu guter Letzt gerät auch die Geldform, das heißt das Herzstück des kapitalistischen Zirkulationsprozesses, in Krise und erweist sich als obsolet. Verwundert beobachtet Barroso, dass die Stadtbevölkerung begierig Flaschen und Glas sammelt. Flaschen und Glas haben sich zu einem begehrten Gut entwickelt. An der Kasse eines Supermarktes stellt Barroso überrascht fest, dass Flaschen und Glas das Geld als Zahlungsmittel ersetzt haben, in großen Behältern wird das neue Zirkulationsmittel zur Schatzbildung am Eingang der Supermärkte gehortet. Der Kassierer im Supermarkt erläutert dem verblüfften Barroso, dass er seit Jahren nur noch mit Glas bezahlt: „Señor, hace años que compro con vidrio“ (EA 80). Eine genauere Erläuterung, warum Geld als Zahlungsmittel durch Glas ersetzt wurde, liefert der Roman nicht, die Dysfunktionalität dieses Wandels wird offensichtlich, aber nicht weiter kommentiert. Die verschiedenen Dekadenzentwicklungen resultieren in dem übergrei‐ fenden Eindruck der Fragmentierung der Stadt und der Auflösung der städti‐ schen Gesellschaft. Massenarmut, soziale Ungleichheit, prekäre Wohnverhält‐ nisse und kulturelle Verfallserscheinungen sind die Eckpfeiler des permanent gewordenen Krisenzustandes, der die neue Normalität des Stadtlebens cha‐ rakterisiert. Der soziale Erfahrungshorizont, der in El aire ausgelotet wird, besteht aus den Konsequenzen der neoliberalen Modernisierung, die sich in Argentinien seit den 1980er Jahren und dann vollends gegen Ende der 1990er Jahre bemerkbar gemacht haben. 13 Chejfec führt in den literarischen Diskurs der Erzählung soziale Signifikanten wie beispielsweise „nuevos pobres“ oder auch „tugurización“ ein. Anhand dieser wird ein Bezug zu den zeitgenössischen Diskursen des Sozialen hergestellt, sie reichern somit das übergreifende allego‐ 240 Patrick Eser <?page no="241"?> rische Dekadenznarrativ mit Welthaltigkeit an, ohne dabei direkte außerlitera‐ rische Referenzen herzustellen. Dies entspricht generell dem primären Interesse Chejfecs an der symbolischen Vermittlung sozialer Realitäten, das er in einem Interview wie folgt ausdrückte: „Me interesa una literatura que no quiere hablar necesariamente del mundo social sino del significado del mundo social, a través de una concienca particular, y no la representación de una significado histórico objetivo“ (Chejfec, „Entrevista“ 40). Die Subjektivität Barrosos steht in engem Verhältnis zu den übergreifenden sozialen und kulturellen Verfallsprozessen. Die für Barroso gewohnte Stadt‐ landschaft von Buenos Aires verändert sich radikal, was in ihm starke Ent‐ fremdungsgefühle sowie eine lähmende Passivität auslöst. Nicht nur sein Körper unterliegt einer permanenten Verschlechterung seines Zustands, auch seine psychisch-mentale Verfassung weist zunehmend pathogene Eigentüm‐ lichkeiten auf. Die auf der Straße und während seiner Spaziergänge wahrgenom‐ menen Gegebenheiten und Zeichen des Sozialen lösen in Barroso grübelndes Nachdenken aus. Er ist ein exzessiver Denker, der auf obsessive Art versucht, für die Geschehnisse in seiner Umwelt mathematische oder logische Erklärungen zu finden. Darüber hinaus überfallen ihn häufig und unwillkürlich Erinnerungen an seine Vergangenheit, entweder an seine Kindheit oder an die gemeinsame Zeit mit seiner verflossenen Partnerin Benavente. Oftmals wird das Entstehen der affektiv aufgeladenen Vergangenheitsbilder provoziert von der Wahrneh‐ mung des städtischen Raums. So löst etwa eine Blickperspektive auf einen Straßenzug die Erinnerung an seine ehemalige am Rande der Stadt gelegene Wohnung aus, die einen ähnlichen Ausblick hatte und in der er einst Zeit mit Benavente verbrachte. Es liegt nahe, die melancholischen Züge Barrosos in einem überindividuellen, ja sozialen Rahmen zu interpretieren. Es ist nicht nur das Leiden einer Person, die von ihrer geliebten Frau verlassen wurde, ihr melancholisches Bewusstsein ist vielmehr auch in Bezug zu setzen mit den gesellschaftlichen Bedingungen und den damit verbundenen düsteren Aussichten. Was den sozialen Verfall mit dem subjektiven Empfinden Barrosos verbindet und die kollektiven, kulturellen Bedingungen der melancholischen Subjektivität zum Ausdruck bringt, ist das Symbol der Ruine. Die Gebäudereste in der sich zunehmend im Stadtraum ausbreitenden Brachlandschaft erscheinen als Ruinen und werden als solche auch bezeichnet. Sie weisen zugleich voraus auf das künftige Vordringen der Natur und den weiteren Zerfall der städtischen Zivilisation, wie sie auch den bereits schon zu verzeichnenden Niedergang vergangener Standards anzeigen. Die in der Ruine verdichtete Dekadenzent‐ wicklung ist jedoch auch menschengemacht und nicht das Resultat einer 241 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="242"?> außermenschlichen Katastrophe: „Restos y ruinas no provenían de catástrofe alguna, sino tanto de la renuncia humana como del paso del tiempo: o sea, de la misma actividad de la gente mantenida con ignorancia día tras día.“ (EA 90) Die Ruine ist eine Wahrnehmungsfigur, die als Emblem der Vergänglichkeit die nostalgische Trauer um das Verlorene zum Ausdruck bringt. Dies entspricht der Gemütshaltung des melancholischen Spaziergängers, der Ausflüge auf der Suche nach Zerstreuung durchführt, die jedoch immer wieder durch plötzlich auftauchende Erinnerungsbilder unterbrochen werden. Die Ruine ist als dar‐ gestellte architektonische Realität im Stadtraum ebenso präsent wie auch als Zeichen der melancholischen Gefühlsstruktur Barrosos. Neben der beschriebenen Schaufensterszene und dem Zerbrechen des Fe‐ tischs der kapitalistischen Moderne, des Geldes, ist die Ruine ein weiteres der zentralen Motive aus Walter Benjamins Auseinandersetzung mit der mo‐ dernen urbanen Kultur, wie er sie in dem (letztlich nicht abgeschlossenen) Passagen-Werk umzusetzen vorhatte. Die starke Präsenz Benjamin’scher Intui‐ tionen in El aire legt nahe, noch eine weitere Bedeutungsschicht hinzuzuziehen, die Susan Buck-Morss in ihrer Rekonstruktion des Passagen-Werks herausgear‐ beitet hat: Die modernistische Vorstellung der Ruine weist neben dem Bild der Ruine als „Emblem der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der kapitalis‐ tischen Kultur“ jene auch als „Emblem der Destruktivität“ (Buck-Morss 204) aus. Auch die in El aire dargestellten Embleme der zeitgenössischen Welt erweisen sich als Zeichen der Destruktivität der kapitalistischen Kultur, verschiedene Referenzen verbinden diese mit Zeichen der neoliberalen Postmoderne. Die Figur der Ruine stellt insofern eine Verknüpfung zwischen der Ruine als historischer und kultureller Erscheinung und einem Zustand einer kollektiven Mentalität und ästhetischen Empfindung dar. Die psychische Entwicklung des Protagonisten wird durch Einblicke in sein Bewusstsein und seine Wahrnehmungen näher ausgeleuchtet. Ihn holen in seiner Gegenwart, inmitten der sozialen Umwälzungen und seiner körperlichen Krise, immer wieder Rückblenden in die Vergangenheit ein. Diese verleihen ihm zumindest auf der Ebene seiner prekären personalen Identität feste Refe‐ renzpunkte, seien dies Erinnerungen an seine Kindheit, jene „época idílica“ (EA 126), an die Sprache seiner Kindheit, jenes „vocabulario de la infancia“ (EA 13-4), in dem er sich damals bewegte, oder Erinnerungen an andere Stationen seiner „prehistoria“, so zum Beispiel als er noch am Stadtrand, im Conurbano, wohnte (EA 130). Die als „prehistoria“ vorgestellte Vergangenheit unterstreicht nochmals, wie tief die Kluft zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ist. Die fragmentierte Gegenwart steht in krassem Kontrast zu den Bildern der 242 Patrick Eser <?page no="243"?> Vergangenheit, die so zahlreich evoziert werden, dass fast schon von einer in dem Roman angelegten Theorie der Erinnerung gesprochen werden kann. Barrosos Nostalgie drückt sich in zahlreichen, wehmütigen Rückblenden in seine Kindheit, Adoleszenz und einst glückliche Beziehung zu Benavente aus. Jene obsessiven Rückwendungen hin zur Vergangenheit gehen einher mit der Zerstörung oder Entleerung jeglicher Vorstellung von Zukunft. Die Gegenwart erscheint als zähes Kontinuum, in dem kaum mehr eine zeitliche Progression wahrgenommen werden kann: fue la circunstancia que le permitiría soportar la agotadora tensión de su época: el pasado era el olvido, el futuro era irreal; quedaba por lo tanto el presente aislado del universo, como una burbuja suspendida en el aire que necesita sin embargo de ese mismo tiempo del que está exiliada para permanecer flotando sobre su ambigüedad. (EA 13) Das sich in Barroso ausbreitende Zeitgefühl ist durch Trägheit und die empfun‐ dene Schwere der Gegenwart gekennzeichnet. Der Blick nach vorne und die Zu‐ kunft haben keine Realität in sich, sie werden von der erschöpfenden Spannung der Epoche überdeckt und ausgekleidet mit den Bildern des Schwebens, des Exils und der Haltlosigkeit. Die „erschöpfende Spannung seiner Epoche“ („agotadora tensión de su época“) ist ein weiterer Hinweis auf die soziale Bedingtheit des Unglücks Barrosos und seiner Orientierungslosigkeit im zeitlichen Gefüge der Gegenwart, die als Monotonie erscheint, als „mero vacío suspendido en el aire“ (EA 127). Die in El aire dargestellte Zeitlichkeit der Epoche ist neben den wiederholt auftretenden melancholischen Rückblicken in die Vergangenheit von dem trägen und passiven Verharren in der Jetztzeit gekennzeichnet. Ein möglicher‐ weise in die Zukunft gerichteter Blick ist darin die große Leerstelle. Die in der Erzählung gezeichnete Epoche ist charakterisiert durch soziale Anomie, die Regression der städtischen Zivilisation und die Eroberung der Stadt durch die Pampa auf der einen Seite und durch die Psychopathologie und den körperlichen Verfall Barrosos als Repräsentant des zeitgenössischen Subjekts auf der anderen Seite. Kollektive und individuelle Aspekte der Dekadenz, kulturelle, körperliche und psychische vollziehen sich Hand in Hand. Es liegt nahe, die in El aire vorherrschende Form der individuellen und kollektiven Subjektivität vor dem Hintergrund der These über die Kultur der Postmoderne zu interpretieren, wie sie Fredric Jameson in seinem Essay über die „Cultural Logic of Late Capitalism“ (1984) geprägt hat. Sowohl in der Gestaltung der Zeitkonstellation des Romans wie auch in der Zeitwahrnehmung des Protagonisten ist das von Jameson für die Kultur der Postmoderne als typisch 243 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="244"?> herausgearbeitete „Schwinden von Historizität“ (57) festzustellen. Dieses werde begleitet von einer Nostalgiewelle, da ein historisches Verständnis von Zeit zusammengebrochen sei. Das langatmige, träge Kontinuum der Gegenwart gehe einher mit einer Leere der Zukunft. Der Horizont der Zukunft verschwinde beziehungsweise verblasse in der postmodernen Konstellation, die sich dadurch kennzeichne, dass sie „exzessiv nostalgisch [ist], der Retrospektion ergeben und unfähig zur Generierung irgendeiner Art von echter Neuartigkeit“ (Fisher, Gespenster 70). El aire zeigt vor dem Hintergrund jener übergreifenden kultu‐ rellen Transformationen dann nicht bloß das individuelle Trauern um den Verlust eines geliebten Menschen - das auch (! ) -; die ausgelöste Melancholie ist jedoch letztlich, den Hinweisen Fishers und seinen Zuspitzungen der Thesen Jamesons folgend, mit dem Zeitgefühl der Postmoderne in Verbindung zu bringen. Deren Kultur charakterisiert ein sozial bedingtes, prekär gewordenes Zeitbewusstsein, in dem der exzessive, melancholische Hang zur Nostalgie mit dem gleichzeitigen Verlust einer Perspektive auf die Zukunft, oder mit dem „allmählichen Aufkündigen der Zukunft“ (Fisher, Kapitalistischer Realismus 15) einhergeht. Ruine und Nostalgie stehen für die trauernde Rückwendung hin zur Vergangenheit, auf die die Imaginationstätigkeit des postmodernen Subjekts gerichtet ist. Der Blick in die Zukunft existiert bloß noch als große Leere. In dem Roman endet die apokalyptische Vision von Buenos Aires in der Auflösung der Stadt, im vollständigen Niedergang der städtischen Zivilisation. Es ist wohl das erste Mal in der reichen Repräsentationsgeschichte von Buenos Aires, dass sich die Stadt auflöst, wie die Literaturkritikerin Beatriz Sarlo feststellt: Erstmalig erscheint Buenos Aires „en la ficción no como una ciudad llena, o una ciudad que se está colmando, sino como una ciudad que se vacía“ (zit. nach Reati 113). Der Raum der städtischen Zivilisation löst sich buchstäblich in Luft auf. Das Zentrum hat an Attraktivität verloren. Wer noch flüchten kann, so wie die Mittelschichten, tut dies. Sie verlassen die Kernstadt, um sich in der Peripherie niederzulassen (auch dies ist eine ‚reale‘ Tendenz, die sich in der urbanen Eigendynamik von Buenos Aires seit den 1990er Jahren manifestiert hat). Die im Verfall begriffene Metropole verändert ihr Gesicht, trägt kaum mehr wiedererkennbare Züge, die zivilisatorischen Standards der sie bewohnenden Bevölkerung scheinen sich ebenso aufzulösen. Die beschriebenen Menschen auf der Straße kämpfen um ihr Überleben, machen einen erschöpften Eindruck, erscheinen als entdifferenzierte Masse, als, wie es im Text heißt, „tribus flotantes“ (EA 57, 119, 142), die den Stadtraum auf der Suche nach Essbarem oder Verwertbarem durchstreifen. 244 Patrick Eser <?page no="245"?> 3. Utopische Gegenentwürfe im ,kapitalistischen Realismus‘? Gabriela Cabezón Cámaras La virgen cabeza Der Roman La virgen cabeza (2009) der argentinischen Schriftstellerin Gabriela Cabezón Cámara entwirft in seinem Kern die utopische Vision einer Gegen‐ gesellschaft im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen Argentiniens. Der Roman erzählt rückblickend aus einer nicht allzu weit entfernten Zukunft von einem Lebensabschnitt der beiden Protagonistinnen Cleo und Qüity. Alternierend berichten deren Erzählstimmen - bei deutlichem Übergewicht der Stimme Qüitys - von ihrer Zeit in einem Elendsviertel, in einer villa miseria, im Norden von Buenos Aires, in dem sie als Paar zusammengelebt haben. Cleopatra war ursprünglich Carlos Guillermo, widmete sich als Trans‐ vestit der Prostitution und führte ihr späteres Leben weiter als Cleopatra. Sie wurde wegen ihrer sexuellen Orientierung mehrmalig Opfer diskriminierender Gewalt, so wurde sie auf einer Polizeiwache von mehreren Polizisten auf brutalste Weise vergewaltigt und misshandelt. Sie überlebte jene Gewalt nur durch ein Wunder, als ihr die Jungfrau Maria erschien. Cleopatra stellte in diesem kritischen Moment fest, dass sie mit der Jungfrau in Kontakt treten kann. Diese Fähigkeit verlieh ihr ein unglaubliches Renommee, das sie von der Trans-Prostituierten zu der Heiligen in ihrem Wohnviertel machte. Cleo fungiert seitdem als irdisches Medium der Jungfrau und kommuniziert deren Botschaften im Rahmen religiöser Zeremonien im Viertel. Der Titel Virgen cabeza bringt folgende Spannung verdichtet auf den Punkt: Cleo ist zum einen die irdische Repräsentantin der Jungfrau Maria, sie ist ihre Stimme auf Erden, zum anderen spielt der zweite Teil des Kompositums, „cabeza“, auf ihre soziale Herkunft und ihren Status an. ‚Cabeza‘ ist ein Ter‐ minus der klassistische und rassistische Diskriminierung vereint. Er wird in Argentinien despektierlich zur Stigmatisierung armer und ungebildeter Bevöl‐ kerungsschichten verwendet und verweist als Kurzform von ‚cabecita negra‘ zudem auf eine relativ zum Durchschnitt dunklere Hautfarbe (also letztlich nicht-europäische Herkunft). Der „virgen cabeza“ gelingt es, durch ihre Pre‐ digten eine neue kollektive Atmosphäre in der Bevölkerung des Elendsviertels zu schaffen. Die Bewohner organisieren sich, es kommt zu einer geistigen Umorientierung, in deren Folge in dem Viertel eine Karpfenproduktion eröffnet wird. Die gemeinschaftliche Kooperation der Bevölkerung verläuft erfolgreich. Für das Projekt werden sämtliche in der lokalen Bevölkerung vorhandenen Mittel und Fertigkeiten mobilisiert (die ersten Karpfenexemplare werden aus dem japanischen Garten in der Parklandschaft des schicken Stadtteils Palermo geklaut). Im Zeichen dieses kollektiven sozioökonomischen Wandels wird eine 245 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="246"?> 14 Cumbia ist ein ursprünglich aus dem Karibikraum stammender Rhythmus, der in Argentinien im Laufe des 20. Jahrhunderts seine eigene Interpretation erfahren und in den letzten Dekaden in marginalisierten Stadtvierteln als „cumbia villera“ eine spezifische Form angenommen hat. 15 Im Folgenden wird auf La virgen cabeza mit der Abkürzung VC verwiesen. Transformation des Elendsviertels eingeleitet, die jenes zu einem erfolgreichen Modell des Zusammenlebens macht. Dies weckt zunehmend Interesse im Zen‐ trum von Buenos Aires, von wo neugierige Besucher der villa miseria angelockt werden. Die als glücklich beschriebene Epoche dieser einfachen Reproduktion des Viertels auf der Basis von Subsistenzwirtschaft findet ihr abruptes Ende als die villa eines Tages von der Polizei zerstört und geräumt wird, da es ein manifestes Interesse des Immobilienkapitals an dem Grundstück gibt. Die beiden Protagonistinnen flüchten, ziehen zunächst in Qüitys Wohnung in dem Mittelschichtviertel Palermo und reisen daraufhin in die USA aus, wo Cleo später ein außerordentlicher Erfolg als Medienstar beschieden ist. Ihr gelingt der Durchbruch als Popstar mit einer cumbia-Oper. 14 Wie so oft kommt auch an dieser zentralen Stelle die für den Roman charakteristische Mischung von Elementen der Hochkultur (Oper) oder sakralen Religiosität und anderen, stereotyp mit Vulgarität und der Kultur des ‚niederen Volkes‘ in Verbindung gebrachten Kulturelementen (cumbia) zum Tragen. In ihrer neuen Heimat Miami leben die beiden nun in einer luxuriösen Villa mit Blick auf die Karibik. Die primäre Erzählstimme (Qüity) wirft nostalgische Blicke zurück auf die Zeit, die sie beide in der villa verbrachten, in jenem „paraíso […] perdido“ (La virgen cabeza 79) 15 . Wie ist nun der melancholische Rückblick auf das verlorene Paradies der or‐ ganisierten villa, den die Erzählerin aus ihrer jetset-Villa entwirft, zu verstehen? Was kennzeichnet den utopischen Alternativentwurf jenes verlorenen Para‐ dieses, was sind seine konstitutiven Elemente? Zunächst ist der Exotismus zu betonen, der generell Qüitys Wahrnehmung des Elendsviertels zugrunde liegt. Für sie, die im Rahmen einer existenziellen Lebenskrise in die villa kam (sie lebte zuvor das ‚normale‘ exzessive Leben eines Mitglieds der Mittelschichten, als Journalistin, deren Existenz sich zwischen Drogenkonsum, häufig wechselnden Geschlechtspartnern und einem Alltag gefühlter depressiver Leere abspielte), stellte ihr Lebensabschnitt dort eine Abwechslung zu ihrem monotonen bür‐ gerlichen Dasein dar: Hier konnte sie ihrem Drang nach Rausch und freien sexuellen Beziehungen nachgehen (in diesen Bildern wird die Alltagsrealität in der villa tatsächlich gezeichnet), ohne dass dies aufgefallen oder problematisiert worden wäre. Ihr Aufenthalt in der villa war ein exotistisches Ausnahmeer‐ lebnis, ein Kick und eine Milieuerfahrung, die sie, wenn sie gewollt hätte, 246 Patrick Eser <?page no="247"?> 16 Eva Perón (1919-1952) war die Frau des argentinischen populistischen Politikers Juan Domingo Perón, die sich an dessen Seite als aktive Politikerin für eine offensive Politik der Fürsorge für Arme einsetzte. Als mildtätige Figur, die auf der Seite der Armen steht, ist sie in mythisierter Form fest im kollektiven Gedächtnis Argentiniens verankert. Internationale mediale Bekanntheit erlangte sie in der letzten Zeit durch den Hollywood-Film Evita (1996) von Alan Parker. jederzeit hätte revidieren können. Der Rückzug in ihre Eigentumswohnung im Mittelschichtsviertel Palermo war stets eine Option. Jene Abenteuererfahrung mit Rückversicherung steht in Verbindung zu ihrer nostalgischen Erinnerung an jenes verlorene Paradies. Der utopische Gegenentwurf, der als Kontrast zur argentinischen Gegen‐ wartsgesellschaft entworfen wird und scharf durch die Konturierung der verschiedenen Territorien und Milieus innerhalb des städtischen Raumes hervorsticht, wird entlang vergangenheitsbezogener Bilder imaginiert. Die Karpfenproduktion, die ökonomische Basis der vorgestellten Wende, verweist auf vorindustrielle Wirtschaftsweisen und spielt auf das christliche Bild der wunderbaren Vermehrung der Karpfen an. Auch die Zeichnung der Heldenfigur des Romans, der ehemaligen Prostituierten und dem Transvestit Cleopatra, erfolgt unter Bezugnahme auf Figuren aus der medialen und politischen Ver‐ gangenheit. So ist die Figur der Eva Perón 16 bezüglich Cleos äußerer Erscheinung und auch ihrer mildtätigen Haltung gegenüber den ausgegrenzten sozialen Schichten ein stark mythologischer Bezugspunkt, der einen nostalgischen Blick auf die Vergangenheit impliziert. Auch wenn intertextuelle Referenzen auf avantgardistische politische oder auch ästhetische Theorien in die Imagination des utopischen Gegenmodells der villa eingeflochten sind (so finden sich Bezüge auf die multitude-Konzeption von Michael Hardt und Toni Negri, auf gegenkulturelle Vorstellungen der sexuellen und kulturellen Diversität, auf die Ästhetik der prosa plebeya von Néstor Perlongher), gründet sie doch in den Kernaspekten auf nostalgischen Visionen der Vergangenheit. Insofern ist die entworfene Utopie auch nichts mehr als die Fortsetzung einer politöko‐ nomischen Grundlage aus der Vergangenheit, die in die Zukunft projiziert wird. Nostalgisch und mythologisch aufgeladene Vorstellungen einer einfachen und in sich harmonischen Produktionsweise, die auf Subsistenzwirtschaft und einfacher Reproduktion der lokalen Gemeinschaft fußt, konstituieren eine rück‐ wärtsgewandte Aussteigerphantasie, die lediglich die kritische Diagnose von Jameson und Fisher über die Kultur der Postmoderne und den kapitalistischen Realismus bestätigt: Es handelt sich weniger um eine erkenntnisproduktive Funktion von Melancholie, als vielmehr um eine Mischung aus Hilflosigkeit und Ohnmacht, die „unfähig zur Generierung irgendeiner Art von echter Neuigkeit“ 247 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="248"?> 17 Folgt man Fishers Konzept der Hauntologie, das an Derridas Marx-Interpretation anschließt und das das Kapital in seinen gespenstischen Wirkungen zu fassen versucht - und somit dem Spuk des nicht Gegenwärtigen und den rätselhaften Effekten sozialer Ursachen ohne (physische, körperliche) Existenz (vgl. Fisher, Kapitalistischer Realismus 30) nachgeht -, muss die ‚Kapitalistik‘ als „Wissenschaft vom Kapitalismus“ (Fülberth 7) in Analogie zur Psychoanalyse als Geisterwissenschaft oder „Geisterkunde“ (Vogl 7) durchgeführt werden. (Fisher, Gespenster 70) ist. Der fiktionale utopische Alternativentwurf von Virgen cabeza scheint zu bestätigen, dass es mittlerweile kaum mehr möglich ist, eine in die Zukunft ausgerichtete „kohärente Alternative“ (Fisher, Kapitalistischer Realismus 8) zu imaginieren, die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht. 4. Das Ende der Zukunft, Nostalgiewellen und die Hilflosigkeit der Utopie im ‚kapitalistischen Realismus‘ Die besprochenen literarischen Auslotungen des jeweiligen zeitgenössischen Kapitalismus beleuchten dessen undurchdringliche Realität aus verschiedenen Perspektiven und entwerfen unterschiedliche Bilder und narrative Rahmungen. Dass sie eine derartig große Variation aufweisen, sollte nicht verwundern, stammen sie doch aus ganz verschiedenen kulturellen und historischen Kon‐ texten. Doch auch ein weniger buntes Korpus hätte möglicherweise eine ähnlich große Varietät an literarischen Imaginationen des ‚Kapitals‘ hervorgebracht. Dass die Fiktionalisierungen der gespenstischen Realität des Kapitals variieren, liegt nicht nur, aber wesentlich auch an dem hauntologischen Charakter ihres Gegenstands. 17 Das Abstraktionsniveau, das erforderlich ist, um die gespenstischen Züge und Konsequenzen des Wirtschaftssystems ins Bild setzen zu können, ist hoch und lädt zu allerlei unterkomplexen Erklärungsmustern ein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Anspruch erhoben wird, eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zu leisten und dabei, aus intellektueller Ohn‐ macht, Unzulänglichkeit oder voluntaristischer Intention heraus, Narrative geschaffen werden, die eher der Konstruktion politischer Feindbilder und Sündenbockfiguren dienen, als zur kritischen Exploration des Gegenstands beitragen. Die in der Einleitung erwähnte Darstellung des (als jüdisch domi‐ niert imaginierten) Börsenkapitalismus in La bolsa ist ein Beispiel für diese unterkomplexe Spielart der Modellierung des Kapitalismus. Literarische Ima‐ ginationen, die ein tieferes Verständnis der widersprüchlichen Dynamik der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung ermöglichen, werden in jener 248 Patrick Eser <?page no="249"?> mit Ressentiment aufgeladenen Modernekritik, deren zentraler Hintergrund zudem ein antisemitisches Weltbild ist, nicht geschaffen. La bolsa fällt weit hinter die komplexen Darstellungen der kapitalistischen Moderne zurück, wie sie Balzac in seinen Gesellschaftspanoramen gezeichnet hat. El aire zeichnet ein Bild des Spätkapitalismus im Lichte einer Untergangs‐ phantasie, in der sich die städtische Zivilisation zurückbildet und die übrig gebliebene menschliche Population von körperlichen, kulturellen und psycho‐ logischen Pathologien und Verfallserscheinungen heimgesucht wird. Der Prot‐ agonist Barroso ist sowohl die zentrale Instanz der Beobachtung dieser Entwick‐ lung als auch zugleich deren sichtbarstes Symptom. Der hier ausgedrückten melancholischen Grundstimmung kommt insofern eine erkenntnisproduktive Funktion zu, als sie die Verstrickung des Subjekts in die Krisenerscheinungen der Gegenwart narrativ vermittelt und die in den Individuen zu beobachtende Niedergeschlagenheit in einen zeitdiagnostischen Erklärungszusammenhang über die Epoche zu stellen verhilft. Szenarien der sozialen wie gesundheitlichen Verwahrlosung sowie der Verfall der Stadt als bewohnbarer Raum sind in einem tief gründenden Krisenprozess Argentiniens angesiedelt. Die Wahrneh‐ mung der Zeit erweist sich in diesem Kontext als eine der Pathologien der Gegenwart, in der das Verschwinden einer Zukunftsperspektive einhergeht mit einer ausgeprägten Rückwendung hin zur Vergangenheit. El aire kann als literarische Untergangsphantasie bezeichnet werden; ein Genre, das zur Modellierung der sozialen, kulturellen sowie psychischen Konsequenzen des postmodernen Spätkapitalismus immer wieder verwendet wurde, so nicht zuletzt im Kontext der globalen Schulden- und Finanzkrise seit 2007 (vgl. Distelmeyer). Auf internationaler Ebene boomt dieses Genre in den Gegen‐ wartskulturen (im Film, in der Popmusik und in der Gegenwartsliteratur) und bringt unterschiedlichste Zusammenbruchsphantasien, Naturkatastrophen oder auch Zombie-Erzählungen hervor. El aire ist ein frühes Beispiel jenes Typus literarischer Imaginationen der Krise des zeitgenössischen Kapitalismus im Lichte des Ausfalls utopischer Energien: eine Erzählung, in der sich zentrale Grundpfeiler der kapitalistischen Vergesellschaftung wie das Geld auflösen, soziokulturelle Standards zurückbilden und in der sich, auf individueller wie kollektiver Ebene, Verfallsprozesse und Pathologien manifestieren. Ist es nun wirklich so, dass es im Zeichen des kapitalistischen Realismus einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus? La virgen cabeza mag mit Sicherheit nicht repräsentativ sein für die utopischen Gegenentwürfe in der argentinischen Gegenwartsliteratur, dennoch kann die Art und Weise, in der dort ein alternatives Modell gesellschaftlicher Entwick‐ lung vorgestellt wird, als symptomatisch gelten für eine spezifische Wahrneh‐ 249 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="250"?> mung der Gegenwart und die in sie eingelagerte Zeitmodellierung. La virgen cabeza verbindet in einem bunten Stil- und Genremix eine nationalkulturell gefärbte Nostalgie, in der die zentralen Referenzpunkte politische wie auch religiöse Figuren der popularen Kultur sind, mit der utopischen Vision einer als egalitär apostrophierten lokalen Gemeinschaft. In jener Heterotopie der villa miseria wird eine Alternative des gesellschaftlichen Zusammenlebens ima‐ giniert, in dem die wirtschaftliche Ausbeutung und die damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten ebenso überwunden sind wie die Unterdrückung des sexuellen Begehrens und die Diskriminierung geschlechtlicher Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm. Die sozioökonomische Struktur jenes alter‐ nativen Modells verweist jedoch wiederum auf die Vergangenheit: Es ist die gut funktionierende Karpfenproduktion, die in jenem kleinen Sozialraum des Elendsviertels eine Form von Subsistenzproduktion ermöglicht. Der imagina‐ tive Rückgriff auf vergangene, vorindustrielle Produktionsweisen bringt eine Rückwärtsgewandtheit zum Ausdruck, die eine Idealisierung jener historischen Produktionsstufe nahelegt und die nicht zuletzt auch den progressiven Eman‐ zipationsvorstellungen (Befreiung der sexuellen Identität, Überwindung von repressiven Sozialverbünden) diametral entgegensteht. Jene Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der sozioökonomischen Reproduktion sind heutzutage kaum mehr denkbar und scheinen im Lichte der errungenen Freiheiten auch nicht mehr als erstrebenswert. Die unter anderem von Jameson und Fisher für die zukunftslose Kultur der Postmoderne als charakteristisch dargestellte Nostalgie durchzieht auch die in La virgen cabeza entworfene Zukunftsvision. Identifizierte Marx in seinem kritischen Resümee der Niederlage der Revolu‐ tionsjahre 1848 ff. in Frankreich die Schwierigkeit, die sich in revolutionären Umbruchsphasen stelle, mit der Herausforderung, sich neue, emanzipatorische Modelle des gesellschaftlichen Zusammenlebens vorzustellen und diese durch‐ zusetzen, so kritisierte er zeitgleich die sich bei den revolutionären Akteuren (möglicherweise) einstellende imaginative Einfalt, wenn es darum geht, sich das ganz Neue und Andere vorzustellen. Die Grenzen dieser Vorstellungswelten seien nämlich oftmals von den ‚Geistern der Vergangenheit‘ gezogen: Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Welt‐ geschichtsszene aufzuführen. (Marx, „Der achtzehnte Brumaire“ 115) 250 Patrick Eser <?page no="251"?> Das Spuken der Geister der Vergangenheit und ihr Dialog mit den Vorstellungen von der Revolutionierung der Gegenwart schlagen sich in den ästhetischen Fiktionen des Kapitalismus in unterschiedlichen Formen nieder. Die Darstellung des subjektiven Zeiterlebens und die narrative Modellierung von Zeit steht dabei im Verhältnis zu den vorherrschenden historischen und gesellschaftlichen Zeitstrukturen. Die in den erzählten Welten modellierten Zeitstrukturen, die Einbrüche neuer Zeitabschnitte, die Darstellung tief greifender, ,epochaler‘ Krisen und die Gegenüberstellung der gegenwärtigen zu vergangenen oder zukünftigen Gesellschaftsformationen sind dabei von zentraler Bedeutung. Die besondere Herausforderung bei der Analyse der ästhetischen Gegenwarts- und Kapitalismusnarrative ist es, die Erzählung des Geschehens, die Darstellung der erzählten Zeit und die von ihr ausgehende Sinnstiftung (oder auch Sinnver‐ weigerung) rückzubeziehen auf die kulturellen Narrative der gesellschaftlichen Zeit(-wahrnehmung), drücken diese kollektive Erschöpfung, Endzeitphantasien oder auch hoffnungsvolle Visionen aus. Gelingt es, die Gestaltung der dynami‐ sierten Gegenwart in der erzählerischen Dramaturgie, das Wegbrechen positiv konnotierter Zukunftshorizonte, das Hereinragen der Vergangenheit in die Gegenwart im Medium der Nostalgie sowie die Fiktion utopischer oder apoka‐ lyptischer Antizipationsnarrative vor dem Hintergrund einer übergreifenden Theoretisierung und Periodisierung des zeitgenössischen Kapitalismus zu erör‐ tern, kann diesen Literaturanalysen ein bedeutender Symptomwert zukommen. Bibliographie Primärliteratur: Cabezón Cámara, Gabriela. La virgen cabeza. Eterna Cadencia, 2009. Chejfec, Sergio. El aire. Alfaguara, 2008. Martel, Julián. La bolsa (Estudio social). La nación, 1891. Sekundärliteratur: Anderson, Perry. Zum Ende der Geschichte. Rotbuch, 1993. Boris, Dieter. „Der ‚Erdrutsch‘ - zentraler Epochenbruch? Reflexionen über neuere Zäsuren: 1945 - 1973 ff. - 1989/ 91.“ Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 100.3 (2014). S. 11-20. Buck-Morss, Susan. Dialektik des Sehens: Walter Benjamin und das Passagen-Werk. Suhrkamp, 2000. Chejfec, Sergio. „Entrevista a Sergio Chejfec.“ Interview von Mariano Siskind. Hispamé‐ rica, 34.100 (2005). S. 35-46. Deppe, Frank. 1917 - 2017: Revolution & Gegenrevolution. VSA, 2017. 251 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="252"?> Derrida, Jacques. Marx’ Gespenster: Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Suhrkamp, 2004. Distelmeyer, Jan. Katastrophe und Kapitalismus: Phantasien des Untergangs. Bertz + Fischer, 2013. Eser, Patrick. „Die Rechte im Spiegel der argentinischen Literatur: Literaturhistorische Explorationen zu Antisemitismus und Antipopulismus.“ Rechtswende in Lateiname‐ rika: Radiographie der politischen Pendelbewegungen, sozioökonomischen Umbrüche und kulturellen Imaginarien in Geschichte und Gegenwart, herausgegeben von Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus, Mandelbaum, 2020. S. 110-49. —. „Konfigurationen des Urbanen: Die Fragmentierung des Sozialen und Krisendiskurse in El aire (Sergio Chejfec).“ Social Turn in der Literatur(wissenschaft), herausgegeben von Haimo Stiemer et al., Velbrück, 2017. S. 161-91. Eser, Patrick und Dana Ionescu. „Nationalismus und Antisemitismus.“ Handbuch Politi‐ sche Ideengeschichte: Zugänge - Methoden - Strömungen, herausgegeben von Samuel Salzborn, Metzler, 2018. S. 239-52. Fisher, Mark. Gespenster meines Lebens: Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft. Tiamat, 2015. —. Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. VSA, 2013. Fülberth, Georg. G Strich: Kleine Geschichte des Kapitalismus. Pappy Rossa, 2005. —. „Marxismus Emeritus: Die Vertreter des Historischen Materialismus an den deutschen Universitäten gehen in Rente. Eine Bilanz.“ Die Zeit, 22 Juli 1999, www.zeit.de/ 1999/ 3 0/ 199930.t_marx_.xml. Aufgerufen 16 Feb. 2020. Harvey, David. The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Blackwell, 1989. Huffschmid, Jörg. Politische Ökonomie der Finanzmärkte. VSA, 2002. Jameson, Fredric. Das politische Unbewusste: Literatur als Symbol sozialen Handelns. Rowohlt, 1988. —. „Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism.“ New Left Review, 146 (1984). S. 53-92. Marx, Karl. Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. MEW 23, Dietz Verlag, 1962. —. „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.“ MEW 8, Dietz Verlag, 1972. S. 115-207. Marx, Karl und Friedrich Engels. „Das Manifest der kommunistischen Partei.“ MEW 4, Dietz Verlag. S. 459-93. Mandel, Ernest. Der Spätkapitalismus: Versuch einer marxistischen Erklärung. Suhrkamp, 1972. Pohrt, Wolfgang. Der Geheimagent der Unzufriedenheit: Balzac, Rückblick auf die Moderne. 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Tiamat, 1990. 252 Patrick Eser <?page no="253"?> Reati, Fernando. Postales del porvenir: La literatura de anticipación en la Argentina neoliberal (1985-1999). Editorial Biblos, 2006. Vogl, Joseph. Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes, 2010. 253 Literarische Kapitalismuskritik in der Romania <?page no="255"?> 1 Im Folgenden werden alle Belege für Zone One lediglich unter Verweis auf die Seiten‐ zahlen angeführt. Lebende Tote im langen Abschwung: Colson Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation Marlon Lieber 1. Zombies und Kapitalismuskritik Zone One (2011), der fünfte Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Colson Whitehead, beginnt mit einem Blick aus dem Fenster. Mark Spitz, der Protago‐ nist, erinnert sich an Besuche bei seinem Onkel, aus dessen Hochhaus-Apart‐ ment er einen Blick auf die Bauwerke Downtown Manhattans werfen konnte: Die alten Herren von gestern, mit stattlichen Namen und ehedem berühmten Archi‐ tekten als Geburtshelfern, wurden vom Ruß der Verbrennungsmotoren und dem technischen Fortschritt im Bauwesen beleidigt. Die Zeit meißelte an eleganter Stein‐ metzarbeit, die als Staub und Splitter und Brocken auf den Bürgersteig rieselte oder fiel. Hinter den Fassaden wurde ihr Innenleben nach den neuen Nützlichkeitstheo‐ rien der nächsten Ära verhunzt [butchered], umgestaltet, neu verkabelt. Klassische Sechszimmerwohnung wurde zu Studiowabe, Sweatshop-Etage zu beengtem Groß‐ raumbüro. (Zone One 12) 1 Der Erzähler entwirft ein architektonisches Memento mori, doch bezieht sich die Passage nicht in erster Linie auf natürliche Verfallsprozesse. Zwar lässt die Zeit selbst die Steinfassaden bröckeln, es gibt aber noch einen anderen „Mechanismus“, der die „Metropole“ transformiert (10), und dieser ist ökono‐ mischer Natur. Der Erzähler beschreibt die postfordistische Verdrängung von Stätten der materiellen Produktion durch Büros, in denen Dienstleistungen erbracht werden, und anthropomorphisiert gleichzeitig die derartig verwan‐ delten Gebäude. Diesen wird Geburtshilfe geleistet, sie werden gekränkt und - die entscheidende Nuance geht in der deutschen Übersetzung verloren - <?page no="256"?> geschlachtet. Einige Seiten später - wir befinden uns mittlerweile in der diegetischen Gegenwart - erinnert sich Mark Spitz daran, wie er wenige Tage zuvor von einem Balkon die „verwitterten Stümpfe“ der alten Docks in New Jersey sah, „Überreste einer Ära von Seefahrt und Handel“ (71). Erneut versetzt der Roman seinen Protagonisten in eine erhöhte Position, lässt die Leser_innen mit ihm sozusagen in Vogelperspektive auf die Welt blicken und den Erzähler langfristige Prozesse sozioökonomischen Wandels zusammenfassen. Während die städtischen Gebäude geschlachtet wurden, sehen die Reste des verlassenen Hafens aus wie „verfaulte Zähne in einem monströsen Rachen“ (73). Die Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Bauten ist, in einem Wort, monströs. Die Wortwahl des Erzählers ist dabei kein Zufall. Dieser gibt hier in freier indirekter Rede die Gedanken des Protagonisten wieder. Dessen Erinnerung an den Blick auf die Docks wird ausgelöst durch den Anblick der „abgebrochenen Zähne“ eines Zombies, vor denen er soeben nur durch das Eingreifen eines Dritten gerettet wurde (71). Die monströse Zurichtung der gebauten Welt wird in Whiteheads Roman also in einen Zusammenhang mit der Verwandlung von Menschen in Monster gebracht. Tatsächlich wird diese Verbindung schon zu Beginn angedeutet. Aus dem Apartment seines Onkels sieht Mark Spitz Körperteile von Bürgern […], arrangiert von einem Kurator mit einem Sinn für Disparates: die gespreizten Nadelstreifenbeine eines urbanen Golfspielers, der in ein Sieb einlochte; ein halber Frauenoberkörper, in einem türkisfarbenen Blazer […]; eine auf einem Titanschreibtisch zitternde Faust. (11) Später werden wir feststellen, dass die visuelle Zerstückelung der New Yorker_innen eine antizipierende Funktion hat (vgl. Hoberek 409). In der postapokalyptischen Welt dieses Zombieromans werden Körper wiederholt wortwörtlich zerrissen. Der Blick auf die geschlachtete Metropole legt also bereits nahe, dass dieser Prozess auch ihre Bewohner_innen nicht unberührt lässt. Whiteheads Roman beschreibt in drei Kapiteln die Ereignisse dreier Tage, ist allerdings von zahlreichen Analepsen unterbrochen, in denen die Leser_innen mehr über die Vergangenheit erfahren. Die Handlung folgt Mark Spitz, der als sogenannter „Sweeper“ mit zwei Anderen im Auftrag der proviso‐ rischen US-Regierung Gebäude in der titelgebenden „Zone One“ nach Zombies durchsucht, die eine Angriff der Marines überstanden haben. Die Zone ist durch eine Mauer auf der Höhe der Canal Street vom Ansturm der Zombies geschützt, doch hält diese nicht stand. Am dritten Tag fluten Zombies die Straßen Manhattans. Angesichts der ausweglosen Lage entschließt sich Mark Spitz schließlich in das „Meer der Toten“ zu steigen, wählt also scheinbar den 256 Marlon Lieber <?page no="257"?> Freitod, wobei der Roman damit endet, dass er sein Versteck verlässt und auf die Straße tritt (302). Sicherlich ist es keine überraschende Einsicht, dass Zombiegeschichten sozi‐ alkritische Motive beinhalten. Johannes Fehrle etwa schreibt, dass die Gattung „(fast) immer“ (532, Übersetzung des Verf.) zumindest implizit Bezug auf den Kapitalismus nehme, doch gibt es Unterschiede zwischen den stets eine kritische Perspektive einnehmenden Filmen George A. Romeros und einem reaktionären Spektakel wie Daylight’s End (2016). Ebenso liegen Welten zwischen einer verkürzten Kapitalismuskritik, die finanzielle Spekulanten oder Geflüchtete als Quell allen Übels betrachtet, und der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie, welche versucht, die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise auf den Begriff zu bringen. Im Folgenden werde ich auf Marx selbst sowie auf einige jüngere Vertreter_innen der Marx’schen Tradition zurückgreifen, um aufzuzeigen, inwiefern Whiteheads Roman die Dynamik der Kapitalakku‐ mulation und deren potentiell katastrophale Folgen für die von ihren Zwängen betroffenen Menschen artikuliert. Dafür wird es zunächst nötig sein, die Figur des modernen Zombies zu historisieren. Es ist kein Zufall, so soll gezeigt werden, dass diese just dann auftritt, als der Nachkriegsboom in den einst führenden Industrienationen seinem Ende zugeht und die Arbeitslosigkeit zu einem „struk‐ turellen“ Problem wird (Zamora). Das unstillbare Verlangen nach Menschen‐ fleisch der Zombies lese ich als symptomatisch für den Zwang konsumieren zu müssen, dies aber nur auf illegitime, das heißt auf nicht geldvermittelte Weise tun zu können. Kurz, der moderne Zombie allegorisiert das Schicksal der „relativen Überbevölkerung“ (Marx), die ihre Arbeitskraft mangels Nachfrage nicht verkaufen kann, aber trotzdem Leib und Leben reproduzieren muss. Doch würde es zu kurz greifen, die Zombies als monströsen Vorschein eines neuen revolutionären Subjekts zu begreifen. Vielmehr werde ich argumentieren, dass die Unmöglichkeit eine Zombieerzählung abzuschließen als Symptom einer Krise revolutionären Denkens und Handelns in der Gegenwart gelesen werden muss. Diese Welt, so legt Zone One nahe, ist unweigerlich dem Untergang geweiht. Eine andere scheint nicht vorstellbar. 2. Der moderne Zombie als schlechter Konsument Die Geschichte des Zombies (vgl. Luckhurst) beginnt während der französi‐ schen Kolonialherrschaft auf Saint-Domingue, noch vor der haitianischen Revolution im Jahr 1791. Aufbauend auf Motiven, die westafrikanischen Glau‐ benssystemen entnommen waren und wohl auf synkretistische Weise mit dem Katholizismus der Kolonialherren vermischt wurden, entstand im Kontext der 257 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="258"?> Plantagensklaverei die Vorstellung von lebenden Toten, Wesen ohne Selbstbe‐ wusstsein oder Handlungsfähigkeit, die durch magische Kräfte zu schwerster Arbeit gezwungen wurden. Diese Vorstellung von willenlosen Zombiearbeitern lebte während der von 1915 bis 1934 andauernden Besatzung Haitis durch amerikanische Truppen nicht nur wieder auf, William Seabrooks Reisebericht The Magic Island (1929) machte sie zudem einem amerikanischen Publikum bekannt und es dauerte nicht lange, bis die entstehende Kulturindustrie sich des Monsters annahm und die ersten Zombiefilme erschienen. Diese haben jedoch mit den spätkapitalistischen Zombies wenig gemein: Waren die frühen Zombies Sinnbild der Schwerstarbeit unter heteronomen Bedingungen, treten sie mittlerweile lediglich als „gedankenlose Konsumenten“ auf (McNally 213, Übersetzung des Verf.). David McNallys Buch Monsters of the Market (2011), in dem dieser Formwandel des Zombies dargestellt wird, ist ein sehr lesenswertes Buch über die monströsen Fantasien, welche die Kapitalakkumulation gebiert, doch sieht er diesen Wandel lediglich als Verfallsgeschichte, in deren Verlauf dem Monster das kritische Potential abhandenkommt. Der Zombie wird zahnlos, gerade als er anfängt zu beißen. Dieses Urteil ist zu einem gewissen Ausmaß nachvollziehbar. Eine Kapita‐ lismuskritik, die lediglich auf ein angeblich falsches Konsumverhalten - ob individuell oder kollektiv - abzielt und die gesellschaftliche Organisation der Produktion ignoriert, ist, so viel weiß jede_r Marxist_in, vollkommen nutzlos. In einer Analyse von George A. Romeros Zombie (Dawn of the Dead, 1978) weist Evan Calder Williams nach, dass die Konsumkritik, die darin scheinbar zum Ausdruck kommt, reaktionäre Züge trägt und von einer zynischen Verachtung der konsumierenden Massen gekennzeichnet ist. Der Film, dessen Handlung größtenteils in einem Einkaufszentrum angesiedelt ist, setzt metaphorisch Zom‐ bies und Konsument_innen gleich. Das Publikum bekommt die Rolle des aufge‐ klärten Subjekts zugewiesen, das es besser wisse als die verblendeten Monster. Mehr noch: Das „Vergnügen“, das diese Fantasie dem Publikum bereitet, besteht darin, dass sie verspricht, die verachteten Massen könnten möglichst grausam niedergemacht werden (vgl. Williams 100, Übersetzung des Verf.). Kurz, die Konsumkritik artikuliert - typisch linksliberale - Ressentiments gegenüber den Wünschen der Proletarier_innen. Letztere werden hier als erbärmlich gesehen, als „deplorables“, wie sich die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton vor einigen Jahren mit Bezug auf die Unterstützer_innen ihres republi‐ kanischen Gegenkandidaten ausdrückte (zit. nach Chozick). Zunächst scheint die Verwandlung der Zombies in Konsumenten also tatsächlich deren kritisches Potential zu negieren. Interessanter, als in diesem Wandel aber à la McNally nur 258 Marlon Lieber <?page no="259"?> 2 Der ideologische Effekt ist, dass der Diskurs von einer gesellschaftlich-strukturellen Ebene - dem Austausch, der per Definition zwei Tauschende einschließt - auf eine persönliche verschoben wird: Es geht nur noch um Individuen und ihre Vorlieben. Es ist auch Unfug von ‚Konsumkapitalismus‘ zu sprechen, da überhaupt keine Gesellschaft ohne Konsum (verstanden als „Aneignung“ von Lebensmitteln zwecks Reproduktion der leiblichen Existenz) denkbar ist. Nicht die Rolle des Konsums ist die differentia specifica der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die Art und Weise, wie der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzent_innen organisiert ist. einen Verlust zu sehen, ist jedoch die Frage, warum dieser Ende der 1960er Jahre stattfindet. Zunächst stellt sich die Frage, was es überhaupt bedeutet, Zombies als Kon‐ sument_innen zu begreifen, denn oft überlagern sich zwei Bedeutungsebenen, wenn wir von Konsum sprechen. Die Konsumkritik meint Konsument_innen als Individuen, die ‚falsche’ Waren erwerben (was auch immer ‚wir’ aufgeklärten Subjekte als solche erachten). Die Handlung, die hier als Konsum bezeichnet wird, ist der Erwerb der Ware. Andererseits sprechen wir aber auch von Drogenkonsum, meinen damit aber das Verzehren der Substanz. Kurz, es geht um grundverschiedene Dinge: Entweder wechselt eine Ware im Austausch gegen Geld den Besitzer oder sie wird verzehrt. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Menschen über keinen unmittelbaren Zugang zu den Ar‐ beitsprodukten Anderer verfügen, sind beide Akte freilich vermittelt. Ich kann den Gegenstand meines Verlangens nicht konsumieren, ohne ihn davor gegen Geld auszutauschen. Gleichzeitig ist der Akt des Austauschs immer bereits beeinflusst durch meine Intention, ein bestimmtes Produkt zwecks Konsums zu erwerben. Nichtsdestotrotz handelt es sich um zwei formal unterschiedliche Praktiken. Diese Unterscheidung findet man beispielsweise bei Marx, der in der Einlei‐ tung der 1857-58 verfassten Grundrisse das Verhältnis von Produktion, Distri‐ bution, Austausch und Konsumtion bestimmt. Letztere meint die „individuelle[] Aneignung“ der Genussgegenstände, vermittels derer „der Mensch seinen eignen Leib produziert“ (Ökonomische Manuskripte 25, 26). Die Konsumkritik, die den Menschen vorwirft, die falschen Dinge zu kaufen, meint also eigentlich den Austausch und gar nicht den Konsum. 2 Allerdings, man muss es kaum er‐ wähnen, praktizieren Zombies keinen Austausch, sondern reine, unvermittelte Konsumtion. Sie eignen sich die Gegenstände an, die sie benötigen, um die Existenz des eigenen Leibes zu reproduzieren, ganz gleich wie blutig, verfault und zerstückelt dieser Leib auch sei. Nur freilich sind die Objekte, welche die Zombies verschlingen, etwas, das wir sonst eher als Subjekte bezeichnen würden - sie fressen Menschen. 259 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="260"?> Der Skandal, den diese Monster darstellen, ist allerdings letztlich weder ein ontologischer noch ein epistemologischer oder ethischer, wie es etwa eine dekonstruierende Lesart behauptet (vgl. Leverette), sondern ein politökonomi‐ scher. Der Konsum der Zombies besteht aus der Aneignung der Genussgegen‐ stände jenseits des geldvermittelten Austauschs, jenseits also der Art und Weise, wie in kapitalistischen Gesellschaften der Zusammenhang der „vereinzelten einzelnen“ (Marx, Ökonomische Manuskripte 20) hergestellt wird. Die Subjekt‐ form ist, dem sowjetischen Rechtstheoretiker Eugen Pashukanis zufolge, nichts als die Form des Warenbesitzers, des „Menschen als Verfüger über Produkte“ (112), der seinen Besitz, ob ein Arbeitsprodukt oder die Fähigkeit zu arbeiten, nur dann veräußert, wenn es seinem Willen entspricht. Zombies jedoch ignorieren diesen Willen, sind überhaupt miserable Vertragspartner, und nehmen sich, was sie brauchen. Daher stellen sie, zumindest aus kapitalistischer Perspektive, die Antithese der Subjektform dar. Die Figur des Zombies allegorisiert den Ausschluss aus der Sphäre der „einfachen Warenzirkulation“ (Marx, Kapital 1 163), der in der kapitalistischen Moderne tendenziell gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus der Gattung der Menschheit selbst ist. Die fiktionale Figur des Zombies stellt die politökonomische Differenz als ontologische dar, als Unterschied von lebenden Lebenden und lebenden Toten. Offen bleibt jedoch die Frage, weshalb der moderne Zombie zwischen 1968 (Die Nacht der lebenden Toten) und 1978 (Zombie) auftritt. Die ontologischen, epistemologischen und ethischen Probleme, die der Zombie aufwirft - was ist der Unterschied zwischen Leben und Tod, wie können wir diesen ohne Zweifel erkennen und was folgt daraus für unser Verhalten? - sind transhistorisch; das Problem, nicht am kapitalistischen Warentausch teilnehmen zu können hingegen, ist ein historisch spezifisches. In kapitalistischen Gesellschaften ermöglicht der Arbeitslohn der Mehrheit der Menschen den Zugang zu den für sie nützlichen Arbeitsprodukten Anderer. Das Problem, kein Geld für den Konsum zu besitzen, aber dennoch konsumieren zu müssen, um den „eignen Leib“ zu erhalten, stellt sich also vornehmlich für diejenigen, die dauerhaft keiner Lohnarbeit nachgehen. „Hunger ist Hunger“, schreibt Marx in der erwähnten Einleitung der Grundrisse, „aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabeln und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt“ (Ökonomische Manuskripte 27). Es ist die „Produktion“, die sich ihre Konsument_innen schafft, so Marx weiter (ebd.). Welche Veränderungen in der kapitalistischen Produktion seit den späten 1960er Jahren haben also eine Situation geschaffen, in der die Figur des Zombies, dessen Hunger durch den Konsum rohen Fleisches mittels „Hand, Nagel und Zahn“ gestillt wird, so populär geworden ist? 260 Marlon Lieber <?page no="261"?> 3 Genauer gesagt beschreibt der Roman also, frei nach Trotzki, eine ‚ungleiche und kombinierte‘ Geographie der Katastrophe. Neben (peri-)urbanen Regionen, in denen die provisorische Regierung ihr Gewaltmonopol durchsetzen kann, existiert ein weites 3. Eine vorübergehende Apokalypse Werfen wir zunächst einen Blick auf Zone One. Zombies treten seit Romero üblicherweise als menschenfressende, lebende Tote auf, doch bieten die meisten Beiträge zur Gattung Variationen dieses Themas. Whiteheads Roman stellt keine Ausnahme dar. Hier gibt es die „Skels“, die den aus Film und Fernsehen bekannten Zombies gleichen, sowie die „Irrläufer“ [straggler] (116). Letztere verharren apathisch an einem Ort, scheinbar auf Ewigkeit in einer bestimmten Pose erstarrt, und bieten dem Erzähler, der größtenteils die Eindrücke des Protagonisten in freier indirekter Rede wiedergibt, die Möglichkeit, Reflexionen über das Wesen der Monster anzustellen, ohne dass jener unmittelbarer Gefahr ausgesetzt wäre (vgl. Swanson 396). Die Skels dagegen erscheinen meist in Form einer homogenen Masse, deren Mitglieder von allen soziologischen Klassifika‐ tionsmustern befreit sind. Kategorien wie Geschlecht, ‚Rasse‘, Nationalität oder Religion haben in der postapokalyptischen Welt scheinbar jegliche Bedeutung verloren. „Die Geschichte eines Menschen“, so der Erzähler, „war der Stadt egal“ (285). Stattdessen sind die Skels reduziert auf das Wesentliche: Jetzt waren sie hauptsächlich Münder und Finger, Finger um Eingeweide aus weichen Leibeshöhlen herauszuziehen, und Münder, um die menschlichen Gesichter, die sie zu fassen bekamen, zu zerreißen und zu verschlingen, damit diese Gesichter weniger un‐ terscheidbare, entindividualisierte Lappen von zerbissenem Fleisch wurden, anonym gemacht wie sie, die Toten. (Ebd.) Diese Zombies sind nichts als die Körperteile, die nötig sind, um ganz basal zu konsumieren. Die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, ist nicht primär der Tod, sondern vielmehr, dass die Zombies ihre Opfer zu ihresgleichen machen. Kurz, die Gefahr ist, von einem bestimmten Individuum zum anonymen Teil der Masse zu werden, die keinen legitimen Zugang zu den Gegenständen des Konsums mehr hat. Aus Sicht der provisorischen US-Regierung besteht allerdings kein Zweifel, dass diese Gefahr wieder gebannt werden kann. Die im Roman beschriebene Welt befindet sich nicht in einer Art Hobbes’schem Naturzustand, sondern hat sich nach dem unerklärten Beginn der Katastrophe einigermaßen stabilisiert und die Regierung in Buffalo versucht, Herrin der Lage zu werden. Zwar sind weite Teile der Vereinigten Staaten unregierbar, doch existieren befestigte Lager, in denen Überlebende militärischen und zivilen Tätigkeiten nachgehen. 3 Die von 261 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="262"?> Hinterland, in dem die Ordnung zusammengebrochen ist. Für eine kritische Analyse des tatsächlichen amerikanischen ‚Hinterlandes‘, vgl. Neel. Buffalo propagierte Stimmung ist durchaus hoffnungsvoll. Während Mark Spitz sich der Worte seines Vaters erinnert, für den die Apokalypse bedeutete, „dass in der Zukunft alles noch schlimmer sein wird als jetzt“ (142), charakterisiert der Erzähler die Position der provisorischen Regierung ironisch mit den folgenden, dezidiert antiapokalyptischen Worten: [N]un war es [Buffalo] die erhabene Zukunftsschmiede. Der Nil, die Wiege des Wie‐ deraufbaus. Sämtliche Besten und Klügsten (und, am wichtigsten, noch Atmenden) waren nach Buffalo geflogen worden, wo sie […] die Katastrophe rückgängig machen [mussten]. […]. Wenn sie Manhattan neu starten konnten, warum dann nicht auch das ganze Land? Das bildete die Konturen des neuen Optimismus. (46) Hier wird die Katastrophe also als reversibler Prozess betrachtet, als bloße „Krise“, die sich überwinden lässt (Williams 4, Übersetzung des Verf.). Um die Überlebenden zu motivieren, am Wiederaufbau der alten Welt mitzuwirken, wird gar ein neues Vokabular geschaffen, in der die Überlebenden zum aus der Asche aufsteigenden „American Phoenix“ verwandelt werden (79). Aus Sicht der provisorischen Regierung ist die Zombieapokalypse also reversibel und bloß ein vorübergehendes Phänomen. Wichtiger als die neue Sprache sind allerdings die materiellen Verhältnisse, die in Zone One wiederhergestellt werden sollen. Die Regierung erfindet nicht nur „Modewörter“ (53), sondern verteilt auch Anweisungen, welche die Sweeper dazu anhalten, in den von ihnen geräumten Gebäuden keine Sachschäden zu begehen. Kurz, auch nach der Apokalypse wird das Privateigentum anzuer‐ kennen sein, denn letztlich geht es der provisorischen Regierung nur um den wirtschaftlichen Aufschwung, der aus ihrer Perspektive auf die Krise folgen muss (vgl. Cvek 11). „In Zukunft“, so denken die Menschen in Zone One, soll es „blühende, zukunftsträchtige Geschäftszweige“ geben (100). Dem militärischen Personal, das in einem gesetzlosen Raum auf Zombiejagd geht, wird mittels „Vorschriften über Plünderung“ untersagt, sich willkürlich Waren anzueignen (46). Wenn das Wesen der Zombies durch die unmittelbare Aneignung der Gebrauchsgegenstände (Menschenfleisch inklusive) gekennzeichnet ist, dann wird hier deutlich, dass die Grenze des Menschseins in Zone One dadurch ge‐ zogen ist, dass Menschen - jedenfalls in einer Gesellschaft, die auf universalem Warentausch beruht - der unmittelbare Zugang zu den Dingen, die sie zum Leben benötigen, verwehrt bleiben muss. Und diese Grenze wird durch die „tätige[n] Diener der Ware“ (Debord 21), die das staatliche Gewaltmonopol 262 Marlon Lieber <?page no="263"?> verkörpern, aufrechterhalten. Der Erzähler berichtet von „Banditen“, die einen „Mega-Drugstore“ plünderten, und daraufhin schnell vom Militär ausgeschaltet werden (46). Wer sich nicht an die Prinzipien des Warentauschs hält, wird bestraft. Ob dies lebendige Banditen oder lebende Tote sind, ist ganz gleichgültig. In der Logik des Romans sind beide Positionen strukturell homolog. Die in Zone One beschriebene Welt ist also von einer scheinbar unerklärlichen Katastrophe erschüttert, in deren Folge die Mehrheit der Menschen nicht mehr in der Lage ist, sich auf legitime Art und Weise, also qua geldvermitteltem Austausch, die Gebrauchsgegenstände anzueignen, die sie zum Überleben benötigt. Die bestehenden staatlichen Institutionen jedoch behandeln die Kata‐ strophe als einfache Krise und tun alles, um so weiterzumachen, wie zuvor. Alle, die der Rekonstruktion der alten Verhältnisse im Wege stehen - ob Zombies oder Banditen -, werden Ziel von staatlicher Gewalt, werden durch Mauern aus den Räumen der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen und gnadenlos bekämpft, wenn sie versuchen, diese Mauern zu überwinden. Freilich, diese Worte beschreiben mit nur geringfügiger Übertreibung den Zustand der spätkapitalistischen Welt. Im Roman erweist sich allerdings die Hoffnung, den Status quo ante wiederherzustellen, als Wunschdenken. Am Ende ist der staatliche Rettungsversuch vergeblich und die Zombiehorde nicht aufzuhalten. Die lebenden Toten sind gleichzeitig die „Totengräber“ (Marx und Engels 474) der zuletzt kaum noch bürgerlichen Gesellschaft. Marx und Engels, die diesen Ausdruck bekanntlich an prominenter Stelle wählten, dachten dabei allerdings noch an die durch „Entwicklung der großen Industrie“ vereinigte Arbeiterklasse (ebd.). Doch haben wir gesehen, dass der moderne Zombie kein Arbeiter ist. Dieses Rätsel bleibt aufzulösen. 4. Zerfallende Körper, zerfallende Klasse In den eingangs besprochenen Passagen, in welchen der Erzähler mit Mark Spitz aus der Vogelperspektive über die Stadt blickt, wird der urbane Raum als Index sozioökonomischer Prozesse gelesen: Industrielle Produktionsstätten werden von Dienstleistungszentren verdrängt. Dass die Einführung neuer Technologien die Menschen, deren Arbeitskraft vordem noch benötigt wurde, überflüssig macht, ist ein Motiv, welches Colson Whiteheads Werk spätestens seit seinem zweiten Roman John Henry Days (2001) durchzieht. Dieser erzählt unter anderem vom legendären schwarzen Eisenbahnarbeiter John Henry, der angeblich einen dampfbetriebenen Hammer in einem Wettstreit besiegte und dafür mit seinem Leben bezahlte. Dort wird die Geschichte der Einführung arbeitssparender Technologien im späten 19. Jahrhundert verhandelt; die Hand‐ 263 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="264"?> 4 Whitehead behauptet in einem Interview, dass der Roman in seiner Vorstellung im Jahr 2018 spiele, fügt jedoch hinzu, dass dies eine „willkürliche Zahl“ sei („Colson Whitehead’s Brains“, Übersetzung des Verf.). Die nahe Zukunft vom Standpunkt der Veröffentlichung des Romans ist mittlerweile also schon die jüngere Vergangenheit. lung von Zone One dagegen spielt in der nahen Zukunft. 4 Im Folgenden werde ich kurz drei zeitgenössische Positionen vorstellen - Robert Brenners Analyse des seit den frühen 1970er Jahren andauernden „langen Abschwungs“, die daran anschließenden Gedanken des Endnotes-Kollektivs zum Schicksal der Arbeiterbewegung und schließlich Joshua Clovers Thesen zur Bedeutung des Riots in der Gegenwart -, die helfen, den soziohistorischen Gehalt der Zombies in Zone One deutlicher herauszustellen. Die kapitalistische Produktionsweise ist vor allem durch universale „Markt‐ abhängigkeit“ gekennzeichnet. Individuen und Unternehmen sind gezwungen, auf Märkten zu verkaufen - ob die eigene Arbeitskraft oder produzierte Waren -, um selbst auf Märkten Zugang zu den benötigten Produkten - ob Lebens- oder Produktionsmittel - zu erhalten (vgl. Wood 97). Aufgrund der „Zwangsgesetze der Konkurrenz“ (Marx, Das Kapital 1 335) müssen die Produzenten ihre Kosten senken, um wettbewerbsfähige Preise anbieten zu können. Daher sind sie zu ständigen Produktivitätssteigerungen genötigt, etwa durch die Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen (vgl. Brenner, The Economics xx). Brenner, ein marxistischer Historiker, betrachtet in seinen Büchern Boom & Bubble (2002) und The Economics of Global Turbulence (2006) die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit und stellt fest, dass der globale Wettbewerb dazu führte, dass Nationen wie Deutschland oder Japan durch die Adaption moderner Technologien immense Produktivitätssteigerungen erzielen konnten und damit die ökonomische Hegemonie der Vereinigten Staaten herausfor‐ derten. Die resultierende „Überkapazität und Überproduktion“ führte jedoch zu einem Sinken der industriellen Profitrate, da die Preise der produzierten Waren aufgrund des Überangebots nicht mit dem Anstieg der Löhne und den wachsenden Kosten der Produktionsanlagen mithalten konnten (Boom & Bubble 32). Infolgedessen häufte sich Geld an, das nicht profitabel in die Produktion investiert werden kann. Dieses überschüssige Kapital fließt vermehrt in die (zu‐ nehmend deregulierte) Finanzsphäre, wo es riskante, aber immerhin noch pro‐ fitable Anlagemöglichkeiten gibt. Kurz, für Brenner ist der „lange Abschwung“, also die ungelöste Profitabilitätskrise der kapitalistischen Wirtschaften seit den 1970er Jahren, untrennbar verbunden mit dem durch den globalen Wettbewerb vermittelten strukturellen Zwang zur Einführung produktivitätssteigernder Technologien. Whiteheads Roman beginnt, wie eingangs gezeigt, mit einem Blick auf die architektonischen Resultate dieser Dynamik. 264 Marlon Lieber <?page no="265"?> 5 Endnotes ist ein seit 2005 bestehendes kommunistisches Kollektiv mit Mitgliedern in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten. Seit 2008 er‐ scheint in unregelmäßigen Abständen ein gleichnamiges Magazin, von dem bislang vier Ausgaben existieren. Die Beiträge erscheinen, mit der Ausnahme einiger namentlich gezeichneter Gastbeiträge, anonym. Einen kritischen Überblick bietet Tim Barker. Die Ära des langen Abschwungs ist nun gleichzeitig die Ära des modernen Zombies. Während Brenner sich primär der Erklärung der sinkenden Profitrate widmet, findet sich in den Schriften des Endnotes-Kollektivs 5 ein Blick darauf, was die Profitabilitätskrise für diejenigen bedeutet, die zum Überleben darauf angewiesen sind, für einen Lohn ihre Fähigkeit zur Arbeit zu verkaufen. Neben dem überschüssigen Kapital, das nicht profitabel in die industrielle Produktion investiert werden kann, tritt eine vom Standpunkt der Kapitalverwertung überflüssige Bevölkerung auf den Plan, deren Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird. Die Einführung produktivitätssteigernder Technologien setzt also regel‐ mäßig Arbeiter_innen in bestimmten industriellen Sektoren frei. Während diese in der Vergangenheit häufig von neu entstehenden Sektoren absorbiert werden konnten, setzen sich mittlerweile technologische Innovationen flächendeckend durch - vor allem aufgrund des „Aufstieg[es] der Computerindustrie“ (End‐ notes, „Elend und Schulden“ 75) -, so dass die Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft in der Herstellung von Gütern relativ sinkt. Der Prozess der Kapitalakkumulation ist für Endnotes also gleichzeitig ein Prozess, der tenden‐ ziell eine - relativ, aber langfristig möglicherweise auch absolut - wachsende Zahl von Menschen in ökonomischer Hinsicht überflüssig macht und sie dazu verdammt, jeglicher Arbeit, sei sie auch noch so prekär, gefährlich, informell oder illegal, nachzugehen, wobei die dauerhafte Arbeitslosigkeit eine stete Bedrohung darstellt. Endnotes berufen sich auf Brenners These vom langen Abschwung, betonen aber zugleich, dass die Entstehung einer solchen Überbevölkerung schon von Marx vorausgesagt wurde. Im 23. Kapitel des Kapital geht dieser so weit zu behaupten, dass die Entstehung einer „relativen Überbevölkerung“ eine Folge des „allgemeine[n] Gesetz[es] der kapitalistischen Akkumulation“ sei. Er schreibt: Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die dispo‐ nible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur 265 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="266"?> aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. (Das Kapital 1 673-4; Hervorhebung im Orig.) Marx ergänzt, dass dieses Gesetz „durch mannigfache Umstände modifiziert“ (674) werden könne, die auf der abstrakten Ebene der Darstellung im Kapital nicht gefasst werden können. Ein Beispiel wäre „der zweite Weltkrieg, der im Ergebnis […] ein gigantisches Unternehmen nicht nur zur Kapitalvernichtung, sondern auch zur Vernichtung überschüssiger Arbeitskraft war“ und somit kurzzeitig die Bedingungen profitabler Akkumulation wiederherstellte (Freun‐ dinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft 49). Endnotes argumentieren, dass der Verlauf des 20. Jahrhunderts Marx mangels wachsender Verelendung zunächst Unrecht zu geben scheine, seine Prognose langfristig jedoch zutreffend sei. Dies sei aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts besonders augenfällig, da sich weltweit die Existenz einer relativen Überbevölkerung nicht leugnen lasse. „So oder so“, schreiben sie, kann ein riesiger Teil der Weltbevölkerung die überdeutlichen Anzeichen der Kata‐ strophe gar nicht mehr leugnen. Jede Frage nach der Absorption dieser überschüssigen Menschen ist zu den Akten gelegt worden. Sie existieren nur noch als Zielscheibe staatlicher Maßnahmen: Ausgesondert in die Gefängnisse, marginalisiert in Ghettos und Lagern, diszipliniert durch die Polizei und vernichtet durch Kriege. (Endnotes, „Elend und Schulden“ 83) Tatsächlich beschäftigt das „Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit“ (Adorno 11-2) seit einigen Jahren vermehrt auch dezidiert unmarxistische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler_innen (siehe etwa die viel beachtete Studie von Frey und Osborne). Die Figur des Zombies ist auch ein solches „Anzeichen der Katastrophe“. Die Zombies stehen jenseits des gesellschaftlich legitimen geldvermittelten Austauschs und damit außerhalb der menschlichen Gemeinschaft und werden zur Zielscheibe staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt. Wenn ihr Ausschluss seinen Grund in einer sozioökonomischen Dynamik hat, bedeutet dies allerdings auch, dass jede_r tendenziell betroffen sein kann. In den Grundrissen schon schreibt Marx, dass es „in dem Begriff des freien Arbeiters liegt […], daß er Pauper ist; virtueller Pauper“ (Ökonomische Manuskripte 505; Hervorhebungen im Orig.). Wenn die Mehrheit der auf Lohnarbeit angewiesenen Menschen nicht nur freie Eigentümer ihrer Arbeitskraft sind, sondern auch „los und ledig, frei […] von allen zur Verwirklichung [ihrer] Arbeitskraft nötigen Sachen“, kurz, 266 Marlon Lieber <?page no="267"?> 6 Während die industrielle Arbeiterklasse die in der industriellen Produktion beschäf‐ tigten Arbeiter_innen meint, umfasst das Proletariat all jene, die über keine Produkti‐ onsmittel verfügen und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn zu verkaufen - inklusive also diejenigen unbeschäftigten Arbeiter_innen, die „aufs Pflaster geworfen“ wurden, weil sie „für die Verwertungsbedürfnisse des ‚Monsieur Kapital’ […] überflüssig“ sind (Marx, Kapital 1, 642, Fn. 70). Kurz, der Begriff ‚Proletariat’ ist umfangreicher als derjenige der (industriellen) Arbeiterklasse. von Produktionsmitteln (Marx, Kapital 1 183), dann wird ihre gesellschaftliche Existenz abhängig vom Kapital und dessen Nachfrage nach Arbeitskraft. Letzt‐ lich kann keine durch soziale Praktiken konstruierte Identitätskategorie wie etwa Geschlecht, Ethnizität oder ‚Rasse‘ einen dauerhaften Schutz davor bieten, dass die Arbeitskraft - und damit ihre Träger - gesellschaftlich überflüssig wird. Ähnliches gilt für die überlebenden Charaktere in Zombieerzählungen. Ihr Menschsein existiert stets nur auf Widerruf, da es, so lange Zombies die diegetische Welt bevölkern, keine permanente Sicherheit gibt. Die Menschen müssen immer fürchten, gebissen zu werden. Sie sind immer bereits virtuelle Zombies. Die lebendig-toten Totengräber ähneln vielmehr den ökonomisch überflüssig gewordenen Proletarier_innen als der industriellen Arbeiterklasse - wobei zu betonen ist, dass Proletariat und Arbeiterklasse nicht identisch sind. 6 Was ist nun aus dem revolutionären Subjekt geworden? Daniel Zamora bemerkt, dass sich linke Theoretiker_innen seit den 1970er Jahren angesichts der strukturell ge‐ wordenen Arbeitslosigkeit häufig von der Arbeiterklasse verabschiedeten. Der Blick richtete sich weniger auf die Ausgebeuteten als die Ausgeschlossenen, die sich aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Klassifikationsmuster - und nicht aufgrund des Kapitalverhältnisses - in einer gesellschaftlich benachteiligten Position befänden. Sowohl Endnotes als auch Zamora bestehen demgegenüber darauf, dass Ausbeutung und Ausschluss stets als vermittelt betrachtet werden müssen. Die Autor_innen von Endnotes stehen der klassischen Arbeiterbewe‐ gung allerdings kritischer als Zamora gegenüber und betonen in einer langen Analyse von deren „Aufstieg und Fall“, dass der „kommunistische Horizont“, dem die westliche Arbeiterbewegung anhing, selbst noch materialistisch er‐ klärt werden müsse („A History“ 81, Übersetzung des Verf.). Zentral war die Vorstellung, dass der Fortschritt der Industrialisierung eine stets wachsende urbane Arbeiterschaft erzeugen werde, die alle auf Religion, Nationalität, Eth‐ nizität oder Geschlecht beruhenden Trennungen überwinden müsse, um in der gemeinsamen Fabrikarbeit zum Kollektiv geschmiedet zu werden (vgl. ebd. 108). Langfristig würde die wachsende Arbeiterklasse dann unweigerlich die Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion erlangen. Endnotes argumen‐ 267 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="268"?> tieren dagegen, dass dieser Horizont abhandenkam, als deutlich wurde, dass die Steigerung der Produktivkräfte nicht notwendigerweise auch einen Zuwachs der industriellen Arbeiterklasse bedeute (vgl. ebd. 126). Die sozioökonomische Tendenz scheint nicht mehr zur Verallgemeinerung des (implizit als weiß und männlich vorgestellte) Kollektivarbeiters zu führen. Das Proletariat erscheint nur noch als fragmentiertes. Die Arbeiterklasse - immer intern differenziert - beweist eine abnehmende Fähigkeit sich unter einer einzigen hegemonialen Figur zu vereinigen und realisiert daher ihre immer latent existierende Tendenz dazu, in Fragmente zu zerfallen (Endnotes, „An Identical“ 277, Übersetzung des Verf.). Die Masse der Zombies mit ihren zerfallenden Körpern ist eine Synekdoche für die zerfallende proletarische Klasse. Wer aber soll dann die Revolution machen? In seinem Buch Riot. Strike. Riot (2016) macht sich Joshua Clover Gedanken darüber, wie eine revolutionäre Bewegung im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Auch er hält sich an Brenners These vom langen Abschwung und dem Sinken der industriellen Profitrate. Die Menschen, so schreibt er, „kämpfen dort, wo sie sind“ (144, Übersetzung des Verf.). Sind aufgrund der Deindustrialisierung mehr und mehr Proletarier_innen nicht mehr in der Produktion beschäftigt, verliert der Streik, der Clover zufolge ein in der Produktionssphäre beheimateter Kampf um den Preis der Arbeitskraft ist, tendenziell seine Bedeutung. Stattdessen betrachtet Clover Riots als Form des „Zirkulationskampfes“, in dem um den Preis von Gütern auf dem Markt gestritten wird (28 et passim, Übersetzung des Verf.). Diese Kämpfe finden nicht in der Fabrik, sondern im öffentlichen Raum statt und beinhalten Blockaden, Platzbesetzungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Plünderungen, die Riots oft begleiten, versteht Clover nicht als „Manifestation eines konsume‐ ristischen Verlangens“, wie Slavoj Žižek es in Folge der Londoner Riots 2011 ausdrückte (Übersetzung des Verf.), sondern als Aneignung der Gebrauchsge‐ genstände zum niedrigsten Preis, den man sich vorstellen kann (vgl. Clover 29). Es geht also - wie oben im Fall der Zombies besprochen - um das Problem, konsumieren zu müssen, dies aber nicht über den Weg des geldvermittelten Austausches tun zu können. Anders als die streikenden Arbeiter_innen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess eine Einheit gewinnen sollen, haben die Aufständischen Clover zufolge nichts miteinander gemein als eine geteilte „Besitzlosigkeit“ (16, Übersetzung des Verf.). Ebenso wenig sind die Zombies positiv durch bestimmte Eigenschaften definiert. Die Bedrohung, die sie dar‐ stellen, ist zu „wenig[] unterscheidbare[n], entindividualisierte[n] Lappen von zerbissenem Fleisch“ zu werden. Passenderweise beschreibt Achim Szepanski 268 Marlon Lieber <?page no="269"?> 7 Clover betont zu Recht, dass die empirische Zusammensetzung dieser Überbevölkerung von geschichtlich gewachsenen, im Kapitalismus aber stets reproduzierten Strukturen der rassistischen Herrschaft determiniert ist (vgl. auch Chen). Auf den ersten Blick scheinen die Zombies den „sozialen Tod“ zu allegorisieren, der dem afropessimistischen Theoretiker Frank Wilderson zufolge den „ontologischen Status“ des Schwarzen in der Moderne ausmacht (25). Entscheidend wäre hier die „willkürliche Gewalt“, der beide ausgesetzt sind (ebd., Übersetzungen des Verf.). Die Gewalt gegen Schwarze - oder Zombies - hängt nicht von vorausgegangenen Akten der Transgression ab, sondern ist strukturell. Leider ist es an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich, die Auseinandersetzung mit Wilderson fortzuführen. Es sei nur darauf verwiesen, dass Whiteheads Roman darauf insistiert, dass „[j]ede Rasse, Hautfarbe und Religion“, kurz „[a]lles Elend der Welt“, in der Zombiehorde vertreten ist (284-5), dieser sich also gegen eine Identifikation von Zombies mit Schwarzen versperrt. Daran, dass die abstrakte Kategorie der „relativen Überbevölkerung“ nicht mit ihren empirischen „Erscheinungsform[en]“ zu verwechseln ist, erinnert der Surplus Club, ein Frankfurter Autor_innenkollektiv, in einem 2015 erschienenen Text. die „weit über eine Milliarde zählende Surplus-Bevölkerung, der jeder Zugang zu den offiziellen Arbeitsmärkten versagt bleibt“, in einer luziden Zusammen‐ fassung von Clovers Buch als „akkumulierte Leichenhaftigkeit“ (164). 7 Der Aufstand dieser vom Kapital zu belebten Leichen verwandelten Massen wird in Zone One vor allem durch eine Wasser- und Überflutungsmetaphorik, die sich durch den ganzen Roman zieht, artikuliert. So lange die Mauer an der Canal Street standhält, sind es bloße „Blutlachen“, die durch deren Ritzen sickern, doch werden es schnell ganze „Seen“, die „von der Masse auslaufender Leichen genährt“ werden (281). Vom Dach eines nahe gelegenen Gebäudes blickt Mark Spitz wieder aus erhöhter Position auf die Masse: Der Ozean hatte die Straßen überschwemmt, als wären die Klimawandel-Simula‐ tionen der Nachrichtenprogramme schließlich Realität geworden […]. Nur war es nicht Wasser, was das Straßengitter überflutete, sondern die Toten. Es war die gewaltigste Zusammenkunft ihrer Art, die zu sehen Mark Spitz jemals das Pech gehabt hatte. […]. […] Inzwischen war die Barriere ein Damm, der sich der Sturzflut des Ödlandes entgegenstemmte. Sie würde nicht halten. (284-6). Natürlich hält sie nicht; die Mauer gibt nach und die „Toten schwappten durch die Lücke“ und „verteilten sich […] in gierigen Rinnsalen“ (287), als „dunkle[r] Tsunami“ oder „Welle der Toten“ (290), als „Sintflut“ gar (293). Die Zombies treten als eine Naturgewalt auf, die nicht auf ihre Bestandteile zu reduzieren ist, als wellenförmige „unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse“ (Marx, Der achtzehnte Brumaire 161). Für die Vertreter_innen der klassischen Arbeiterbewegung war eine derartig unkontrollierbare Masse meist eher ein 269 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="270"?> Grund zur Sorge. Clover dagegen sieht im Riot, der „nicht versucht etwas zu bewahren, nichts affirmiert, außer vielleicht einen gemeinsamen Antagonisten, ein geteiltes Elend, eine geteilte Negation“ (150, Übersetzung des Verf.), die Form, die eine revolutionäre Bewegung heute annehmen müsse. In vieler Hinsicht sind die Zombies, die den öffentlichen Raum fluten und die legitime, also geldvermittelte, Zirkulation von Waren außer Kraft setzen, ein perfektes Sinnbild für Clovers „Rebellion der Überflüssigen“ (153, Übersetzung des Verf.). Die Macht der lebenden Toten ist rein negativ. Sie stellen keine Forderungen, die sich im Rahmen der existierenden Ordnung erfüllen ließen. Entweder die Verteidiger der Ordnung vernichten sie oder die Ordnung selbst muss aufhören zu existieren. 5. Die Grenzen des Vorstellbaren: Zombieapokalypse ohne Reich Einerseits ist es also möglich, die Zombies als Repräsentation, Reflexion oder Symptom einer politökonomischen Transformation zu entschlüsseln, die bei Brenner, Endnotes oder Clover beschrieben ist. Dann setzen sich Literatur- und Kulturwissenschaftler_innen allerdings immer der Nachfrage aus, weshalb man sich nicht damit begnügen sollte, gleich die Texte der marxistischen Theo‐ retiker_innen zu lesen. Abschließend möchte ich demgegenüber vorschlagen, dass die Form der Zombieerzählung selbst neue Perspektiven auch auf die theoretischen Texte eröffnen kann. Die fiktionalen Zombies treten auf als Naturgewalt, die unmöglich in die menschliche Gemeinschaft eingegliedert werden kann, da sie diese auflösen würde. Für die menschlichen Überlebenden besteht stattdessen die Notwendigkeit, die lebenden Toten mit allen verfügbaren Mitteln zu stoppen. Dieses Motiv hat sowohl thematische als auch narratolo‐ gische Gründe. Da die Zombies als Menschenfresser auftreten, die sich nicht durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments besänftigen lassen, bleibt den überlebenden Charakteren nichts anderes übrig, als die Bedrohung auszuschalten. Wie Carl Swanson bemerkt, sind die Zombies gleichzeitig aber auch „Anticharaktere“, welche „die Erzählung von handlungsfähigen Subjekten (Charakteren) befreien“. Der Zombie ist also eine Bedrohung für die „Erzählung selbst“ und muss - mittels Barrikaden - davon abgehalten werden, diese zu sprengen (385-6, Übersetzungen des Verf.). Eine Folge davon ist, dass der Sieg der Zombies nicht erzählt werden kann. Entweder dämmen die überlebenden Menschen die Bedrohung weitgehend ein oder die Erzählung muss unabge‐ schlossen enden. Die erste Option entspräche der Struktur der klassischen Monstererzählung, in der die „Furcht, dass die Zukunft monströs wird“, zwar geweckt, jedoch gleichzeitig beruhigt wird, indem sich am Ende der Handlung 270 Marlon Lieber <?page no="271"?> das „zerbrochene Gleichgewicht“ wiederherstellt (Moretti 68, Übersetzung des Verf.). Begreift man die Zombies als Allegorie für das verzweifelte aufständische Proletariat, sind Erzählungen, die ihre Leser_innen oder ihr Publikum so positionieren, dass sie sich auf die Seite der überlebenden Menschen schlagen, tendenziell konterrevolutionär und werden schnell zur „paranoiden rechten Fantasie über Bürgerunruhen, Selbstjustiz und einen drohenden Rassenkrieg“ (Büscher-Ulbrich 387, Übersetzung des Verf.). Wollen wir die gewalttätige Niederschlagung aller kommenden Aufstände nicht affirmieren, müssen wir also solidarisch mit den Monstern sein. Aus formalen Gründen, aufgrund der Unmöglichkeit dies zu erzählen, können wir jedoch nicht wissen, welche Form die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhangs nach dem erfolgreichen Aufstand der Zombies annehmen könnte. Einigermaßen komplexe Zombieerzählungen - und Whiteheads Roman stellt in dieser Hinsicht einen würdigen Nachfolger von Romeros Filmen dar - können zwar das Ende der kapitalistischen Welt erzählen, aber keine Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft entwerfen. All das legt eine Revision von Fredric Jamesons ad nauseam zitiertem Ausspruch nahe, dass es „einfacher“ sei, sich „das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ (76, Übersetzung des Verf.). Es ist falsch, dies als Entweder-oder-Frage darzustellen, denn das Ende der Welt müsste zugleich das Ende des Kapitalismus bedeuten. Tatsächlich ist es gerade eine Schwäche der utopischen Vorstellungskraft, dass das Ende des Kapitalismus ausschließlich als Ende der Welt gedacht wird. Was fehlt, ist der Gedanke, wie ein glückliches Ende aussehen könnte. Denn wie soziale Beziehungen jenseits der Warenform konkret aussehen könnten, zeigt die Zombieerzählung nicht - und kann es eben nicht. So verkör‐ pern die Monster ein in Bini Adamczaks Beziehungsweise Revolution (2017) umrissenes revolutionstheoretisches Dilemma. Wenn nach der Revolution alles anders sein soll, ist es schwer vorstellbar, wie die vorrevolutionären, von der alten Gesellschaft geprägten Menschen, diese „bewohnen“ können (49). Die Zombieerzählung umgeht dieses formale Problem durch die Fiktion einer ontologischen Transformation, welche das unzureichende „Menschenmaterial“ (Rosa Luxemburg zit. nach Adamczak 53; Hervorhebung im Orig.) vermittels der Zombiewerdung einfach auswechselt. Zwar wird so die Korrumpierung der postrevolutionären Gesellschaft durch die vorrevolutionären Verhältnisse ausgeschlossen, doch nur um den Preis, dass sich über das Leben nach der Revolution nichts mehr sagen lässt, als dass alles anders sei. In dem Fall, so Adamczak, wäre der Wunsch nach Revolution „selbstmörderisch“ (52) und tatsächlich endet Zone One damit, dass Mark Spitz allem Anschein nach den Freitod wählt, was der einzige Weg zu sein scheint, um der „Tradition aller toten 271 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="272"?> Geschlechter“, die „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ lastet (Marx, Der achtzehnte Brumaire 115), zu entkommen. Die unaufhaltsamen proletarischen Monster mögen ein Sinnbild dafür sein, dass die kapitalistische Welt dem Untergang geweiht ist. Allerdings muss die Zombieerzählung daran scheitern, sich eine andere, vernünftigere Organisation der Produktion und Distribution der zum Leben nötigen Dinge vorzustellen. Die Form der Erzählung erlaubt lediglich die Schilderung einer „Apokalypse ohne Reich“, wie es Günther Anders nannte, einer „Apokalypse, die im bloßen Untergang besteht“ und „nicht den Auftakt zu einem neuen, und zwar positiven Zustande […] darstellt“ (207) - kurz, den Untergang der kapitalistischen Gesell‐ schaft ohne den Übergang zum Kommunismus. Und tatsächlich ist das auch ein Mangel, der Theorien des Aufstands anhaftet, die Riots „zum Vorschein der Revolution stilisieren, weil sie angeblich keine partikularen Forderungen mehr beinhalten, sondern schlechterdings alles negieren“, wie die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft anmerken (57). Stattdessen plädieren diese dafür, dass eine erfolgreiche Revolution nicht ohne „einen einigermaßen plausiblen Entwurf für eine andere Organisation der Produktion“ gelingen könne (ebd., 59). Dasselbe Dilemma war bereits Thema eines Gesprächs in Die Hoffnung (1937), André Malrauxs Roman über den spanischen Bürgerkrieg. „Die Apokalypse“, heißt es dort, „will alles und will es sofort“, doch führe das apokalyptische Vertrauen in eine spontane, weltzerstörende Revolution zur „sichere[n] Niederlage“. Nötig wäre es stattdessen, die „Apokalypse zu organisieren“ (119). Zone One bedient sich des Zombies als Figur, die wie kaum eine andere geeignet ist, die Thesen der avancierten gegenwärtigen kommunistischen Theorie zu artikulieren. Whiteheads Roman, der mit dem suicide by zombie seines Protagonisten die Unmöglichkeit der Gattung reflek‐ tiert, die Erzählung zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen, zeigt, dass eine bessere Organisation des Endes der kapitalistischen Welt zwar schwer vorstellbar, aber dennoch nicht weniger notwendig bleibt - Une autre fin du monde est possible, wie man während der französischen Gelbwesten-Proteste an vielen Wänden lesen konnte. Bibliographie Primärliteratur: Malraux, André. Die Hoffnung. Übersetzt von Hans Kauders, Verlag Volk und Welt, 1986. Whitehead, Colson. Zone One. Übersetzt von Nikolaus Stingl, Carl Hanser Verlag, 2014. Zombie [Dawn of the Dead]. Regie von George A. Romero, United Film Distribution Company, 1978. 272 Marlon Lieber <?page no="273"?> Sekundärliteratur: Adamczak, Bini. Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, 2017. Adorno, Theodor W. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus: Ein Vortrag. Suhrkamp, 2019. Anders, Günther. “Apokalypse ohne Reich.“ Die atomare Drohung: Radikale Überlegungen. C.H. Beck, 1986. S. 207-21. Barker, Tim. „The Bleak Left: On Endnotes.“ n+1, 28 (2017), https: / / nplusonemag.com/ iss ue-28/ reviews/ the-bleak-left/ . Aufgerufen 30 Juli 2019. Brenner, Robert. The Economics of Global Turbulence: The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945-2005. Verso, 2006. —. Boom & Bubble: Die USA in der Weltwirtschaft. Übersetzt von Frieder Otto Wolff, VSA-Verlag, 2002. Büscher-Ulbrich, Dennis. „No Future For Nobody? Zombie Riots and the Real of Capital.“ Modernities and Modernization in North America, herausgegeben von Ilka Brasch und Ruth Mayer, Winter, 2019. S. 371-91. Chen, Chris. „The Limit Point of Capitalist Equality: Notes Toward an Abolitionist Antiracism.“ Endnotes, 3 (2013). S. 202-23. Chozick, Amy. „Hillary Clinton Calls Many Trump Backers ‚Deplorables,‘ and G.O.P. Pounces.“ The New York Times, 10 Sep. 2016, www.nytimes.com/ 2016/ 09/ 11/ us/ politic s/ hillary-clinton-basket-of-deplorables.html. Aufgerufen 18 Juli 2019. Clover, Joshua. Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings. Verso, 2016. Cvek, Sven. „Surviving Utopia in Zone One.“ Facing the Crises: Anglophone Literature in the Postmodern World, herausgegeben von Ljubica Matek und Jasna Poljak Rehlicki, Cambridge Scholars Publishing, 2014. S. 2-14. Debord, Guy. „Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie“. Übersetzt von Pierre Gallisaires und Hanna Mittelstädt, SI Revue 10 (1966), www.si-revue.de/ niederg ang-und-fall-der-spektakul%C3%A4ren-waren%C3%B6konomie. Aufgerufen 21 Aug. 2019. Endnotes. „A History of Separation: The Rise and Fall of the Workers’ Movement, 1883-1982.“ Endnotes, 4 (2015). S. 70-192. —. „An Identical Abject-Subject? “ Endnotes, 4 (2015). S. 276-301. —. „Elend und Schulden: Zur Logik und Geschichte von Überschussbevölkerungen und überschüssigem Kapital.“ Kosmoprolet, 4 (2015). S. 60-83. Fehrle, Johannes. „‚Zombies Don’t Recognize Borders‘: Capitalism, Ecology, and Mobility in the Zombie Outbreak Narrative.“ Amerikastudien / American Studies, 61.4 (2016). S. 527-44. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft. „Reflexionen über das Sur‐ plus-Proletariat: Phänomene, Theorie, Folgen.“ Kosmoprolet, 4 (2015). S. 34-59. Frey, Carl Benedikt und Michael A. Osborne. „The Future of Employment: How Suscep‐ tible are Jobs to Computerisation? “ Oxford Martin School, 17. Sep. 2013, www.oxfor 273 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="274"?> dmartin.ox.ac.uk/ downloads/ academic/ The_Future_of_Employment.pdf. Aufgerufen 31. Mai 2017. Hoberek, Andrew. „Living with PASD.“ Contemporary Literature, 53.2 (2012). S. 406-13. Jameson, Fredric. „Future City.“ New Left Review, 21 (2003). S. 65-79. Leverette, Marc. „The Funk of Forty Thousand Years; or, How the (Un)Dead Get Their Groove On.“ Zombie Culture: Autopsies of the Living Dead, herausgegeben von Shawn McIntosh und Marc Leverette, Scarecrow, 2008. S. 185-212. Luckhurst, Roger. Zombies: A Cultural History. Reaktion Books, 2015. Marx, Karl. Ökonomische Manuskripte 1857/ 58. MEW 42, Dietz Verlag, 1983. —. Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. MEW 23, Dietz Verlag, 1962. —. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW 8, Dietz Verlag, 1960. S. 111-207. Marx, Karl und Friedrich Engels. Manifest der kommunistischen Partei. MEW 4, Dietz Verlag, 1977. S. 459-93. McNally, David. Monsters of the Market: Zombies, Vampires and Global Capitalism. Brill, 2011. Moretti, Franco. „The Dialectic of Fear.“ New Left Review, 1.136 (1982). S. 67-85. Neel, Phil A. Hinterland: America’s New Landscape of Class and Conflict. Reaktion Books, 2018. Pashukanis, Eugen. Allgemeine Rechtslehre und Marxismus: Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe. Übersetzt von Edith Hajós, ca ira, 2003. Surplus Club. „Trapped at a Party Where No One Likes You (DE).“ Surplus Club, 19 Nov. 2015, https: / / surplus-club.com/ 2015/ 11/ 19/ trapped-at-a-party-where-no-one-lik es-you/ . Aufgerufen 22 Aug. 2019. Swanson, Carl Joseph. „‚The Only Metaphor Left‘: Colson Whitehead’s Zone One and Zombie Narrative Form.“ Genre, 47.3 (2014). S. 379-405. Szepanski, Achim. „Der Aufstand als Teil der globalen Zirkulationskämpfe.“ Riot: Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion, herausgegeben von Karl-Heinz Dellwo et al., Laika-Verlag, 2018. S. 159-99. Whitehead, Colson. „Colson Whitehead’s Brains.“ Interview Magazine, 28 Okt. 2011, ww w.interviewmagazine.com/ culture/ colson-whitehead-zone-one. Aufgerufen 17 März 2017. Wilderson, Frank B., III. Red, White & Black: Cinema and the Structure of U.S. Antagonisms. Duke UP, 2010. Williams, Evan Calder. Combined and Uneven Apocalypse. Zero Books, 2011. Wood, Ellen Meiksins. Der Ursprung des Kapitalismus: Eine Spurensuche. Übersetzt von Harald Etzbach, Laika-Verlag, 2015. Zamora, Daniel. „When Exclusion Replaces Exploitation: The Condition of the Sur‐ plus-Population under Neoliberalism.“ Übersetzt von Robert St. Clair, nonsite.org, 274 Marlon Lieber <?page no="275"?> 13 Sep. 2013, https: / / nonsite.org/ feature/ when-exclusion-replaces-exploitation. Auf‐ gerufen 18 Juli 2019. Žižek, Slavoj. „Shoplifters of the World Unite.“ London Review of Books, 19 Aug. 2011, www.lrb.co.uk/ 2011/ 08/ 19/ slavoj-zizek/ shoplifters-of-the-world-unite. Aufgerufen 1 Aug. 2019. 275 Whiteheads Zone One (2011) und die Katastrophe der Kapitalakkumulation <?page no="276"?> Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft herausgegeben von Christine Bierbach, Hans-Peter Ecker, Werner Kallmeyer, Susanne Kleinert, Jochen Mecke, Ulfried Reichardt, Meinhard Winkgens Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / narr-starter.de/ magento/ index.php/ / reihen/ mannheimer-beitraege-zur-sprach-undliteraturwissenschaft.html Band 50 Antje Kley Das erlesene Selbst in der autobiografischen Schrift 2001, 410 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-5650-9 Band 51 Ralf Schuster Antwort in der Geschichte Zu den Übergängen zwischen den Werkphasen bei Reinhold Schneider 2001, 359 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-5651-6 Band 52 Werner Reinhart Pikareske Romane der 80er Jahre Ronald Reagan und die Renaissance des politischen Erzählens in den U.S.A. 2001, 681 Seiten €[D] 74,- ISBN 978-3-8233-5652-3 Band 53 Kerstin Wiedemann Zwischen Irritation und Faszination George Sand und ihre deutsche Leserschaft im 19. Jahrhundert 2003, 604 Seiten €[D] 89,- ISBN 978-3-8233-5653-0 Band 54 Eva Raffel Vertraute Fremde 2002, 330 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-5654-7 Band 55 Christa Grewe-Volpp, Werner Reinhart (Hrsg.) Erlesenes Essen Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Hunger, Sattheit und Genuss 2003, 369 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-8233-5655-4 Band 56 Eva Hänßgen Herman Melvilles Moby-Dick und das antike Epos 2003, 290 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-5656-1 Band 57 Lars Heiler Regression und Kulturkritik im britischen Gegenwartsroman Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Romanen von Ian McEwan, Jim Crace, Irvine Welsh und Will Self 2003, 260 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-6017-9 Band 58 Christa Grewe-Volpp Natural Spaces Mapped by Human Minds Ökokritische und ökofeministische Analysen zeitgenössischer amerikanischer Romane 2004, 427 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6024-7 Band 59 Harald Zapf, Klaus Lösch (Hrsg.) Cultural Encounters in the New World Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu kulturellen Begegnungen in der Neuen Welt 2003, 457 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6044-5 <?page no="277"?> Band 60 Elke Klemens Dracula und ‘seine Töchter’ Die Vampirin als Symbol im Wandel der Zeit 2004, 324 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6061-2 Band 61 Stefan Glomb, Stefan Horlacher (Hrsg.) Beyond Extremes Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman 2004, 398 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6097-1 Band 62 Sigrun Meinig Witnessing the Past History and Post-Colonialism in Australian Historical Novels 2004, 394 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6116-9 Band 63 Christian von Zimmermann, Nina von Zimmermann (Hrsg.) Frauenbiographik Lebensbeschreibungen und Porträts 2005, 388 Seiten €[D] 48,90 ISBN 978-3-8233-6162-6 Band 64 Stefan Horlacher Masculinities Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence 2005, 721 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6170-1 Band 65 Susanne Bach Theatralität und Authentizität zwischen Viktorianismus und Moderne Romane von Henry James, Thomas Hardy, Oscar Wilde und Wilkie Collins 2006, 400 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6203-6 Band 66 Marion Hebach Gestörte Kommunikation im amerikanischen Drama 2006, 246 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6208-1 Band 67 Peter Hohwiller Hof- und Herrschaftskritik in den Sonetten Thomas Wyatts 2006, 209 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6244-9 Band 68 Nicole Schröder Spaces and Places in Motion Spatial Concepts in Contemporary American Literature 2006, 257 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6253-1 Band 69 Konstanze Jungbluth, Christiane Meierkord (Hrsg.) Identities in Migration Contexts 2007, 179 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-6317-0 Band 70 Heidi Fleckenstein Der französische Werbefilm Entwicklung ästhetischer und narrativer Verfahren im 20. Jahrhundert 2007, 248 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6324-8 Band 71 Sarah Heinz Die Einheit in der Differenz Metapher, Romance und Identität in A.S. Byatts Romanen 2007, 453 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6345-3 <?page no="278"?> Band 72 Dagmar Schmelzer Intermediales Schreiben im spanischen Avantgarderoman der 20er Jahre Azorín, Benjamín Jarnés und der Film 2007, 327 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6359-0 Band 73 Folkert Degenring Identität zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion im zeitgenössischen britischen Roman Peter Ackroyd, Iain Banks und A. S. Byatt 2008, 235 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6427-6 Band 74 Philip Griffiths Externalised Texts of the Self Projections of the Self in Selected Works of English Literature 2008, 245 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6460-3 Band 75 Klaus Lang Von Frau von Staël zu D.H. Lawrence Literarische Bilder von Natur- und Kulturlandschaften Italiens und ihre englandkritische Funktionalisierung in repräsentativen Romanen 2009, 523 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6487-0 Band 76 Christian Schwägerl Language contact and displays of social identity The communicative and ideological dimension of code-mixing in a business setting 2010, 195 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-6565-5 Band 77 Sarah-Jane Conrad, Daniel Elmiger (Hrsg.) Leben und Reden in Biel/ Bienne. Vivre et communiquer dans une ville bilingue Kommunikation in einer zweisprachigen Stadt. Une expérience biennoise 2010, 220 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6589-1 Band 78 Isabell Ludewig Lebenskunst in der Literatur Zeitgenössische fiktionale Autobiographien und Dimensionen moderner Ethiken des guten Lebens 2011, 229 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6672-0 Band 79 Stella Butter Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19. ̶ 21. Jahrhunderts 2013, XVI, 496 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6801-4 Band 80 Maurus Roller Krise und Wandel: Das britische Drama im 20. Jahrhundert Untersuchungen zum Verhältnis von Identität, Autonomie und Form-Inhalt-Relation 2014, X, 510 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6860-1 Band 81 Nora Kuster, Stella Butter, Sarah Heinz (Hrsg.) Subject Cultures: The English Novel from the 18th to the 21st Century 2016, 276 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6932-5 <?page no="279"?> Band 82 Kerstin Frank, Caroline Lusin (Hrsg.) Finance, Terror, and Science on Stage Current Public Concerns in 21st-Century British Drama 2017, 275 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8142-6 Band 83 Caroline Lusin, Ralf Haekel (Hrsg.) Community, Seriality, and the State of the Nation: British and Irish Television Series in the 21st Century 2019, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8249-2 Band 84 Annika Gonnermann, Sina Schuhmaier, Lisa Schwander (Hrsg.) Literarische Perspektiven auf den Kapitalismus Fallbeispiele aus dem 21. Jahrhundert 2021, ca. 300 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8343-7 Band 85 Annika Gonnermann Absent Rebels: Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction 2021, ca. 350 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8459-5