Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld
Diskursive Praktiken und Passungen interdisziplinär
0525
2020
978-3-8233-9369-6
978-3-8233-8369-7
Gunter Narr Verlag
Helga Kotthoff
Vivien Heller
Dieser Band mit Beiträgen aus der Interaktionslinguistik und der qualitativ und ethnografisch ausgerichteten Soziologie und Pädagogik lotet aus, wie Ethnografien und Interaktionsanalysen zur Rekonstruktion der Herstellung sozialer Ordnung in Unterricht und Schule und - weiter gefasst - zur Erzeugung von Bildungsungleichheiten beitragen können. Die im Band vereinten Studien zeigen, dass mikroanalytische Ansätze musterhafte Prozesse innerhalb des schulischen Feldes erhellen, die sich eher außerhalb des Radars der öffentlich stark beachteten quantitativen Zugänge vom Typ der PISA-Erhebungen befinden. Sie können aufzeigen, dass und inwiefern angestrebte Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung den Eigensinn sozialer Interaktionen sowie Perspektiven und Handlungslogiken der Beteiligten berücksichtigen müssen. Eine Stärke der im Buch präsentierten Studien liegt darin, dass sie die Praktiken der in den unterschiedlichen institutionellen Rollen Beteiligten - Schüler/innen, Eltern, Lehrkräfte, Schulleitung usw. - in vielfältigen Interaktionskontexten innerhalb des schulischen Felds in den Blick nehmen und zeigen, inwiefern Bildungsungleichheit nicht nur strukturell bedingt ist, sondern auch interaktiv hergestellt und perpetuiert wird.
<?page no="1"?> Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="3"?> Helga Kotthoff / Vivien Heller (Hrsg.) Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld Diskursive Praktiken und Passungen interdisziplinär <?page no="4"?> © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8369-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9369-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0215-5 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 27 57 89 117 143 165 197 Inhalt Vivien Heller / Helga Kotthoff Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld. Zur Einführung in diesen Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskursive Praktiken und Passungen Jürgen Budde Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Kordts Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen in der Unterrichtsinteraktion . . . . . . . . . . . . . . Vivien Heller / Uta Quasthoff Lehrerhandeln aus Schülersicht: Gruppendiskussionen sozial privilegierter und benachteiligter Lernender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich Schrift korrigiert Schrift. Dokumentiertes Schülerwissen und die Korrektur der Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Mundwiler (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen im Kontext schulischer Beurteilungsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Kotthoff / Falko Röhrs Mehr oder weniger ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionsforschung, Ethnografie und Didaktik Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht . <?page no="6"?> 221 247 Friederike Kern Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für Professionalitätsentwicklung angehender Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Wir danken Julia Ungefug herzlich für verschiedene Assistenzen. 2 Die Beiträge des Bandes gehen auf die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Tagung „Diskursive Passungen im schulischen Feld: Ethnografien und Kon‐ versationsanalysen sozialer Ordnungsprozesse“ an der Universität Freiburg zurück. Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld Zur Einführung in diesen Band Vivien Heller / Helga Kotthoff Vorwort 1 Der vorliegende Band 2 lotet aus, welche Beiträge Ethnografien und Interakti‐ onsanalysen zu Fragen der Herstellung sozialer Ordnung in Unterricht und Schule und - weiter gefasst - zur Erzeugung von Bildungsungleichheit zu leisten vermögen. Das einleitende Kapitel unternimmt den Versuch herauszuarbeiten, inwiefern mikroanalytische Ansätze gerade solche musterhaften Prozesse in‐ nerhalb des schulischen Feldes erhellen, die sich eher außerhalb des Radars quantitativer Zugänge befinden. Im Zusammenspiel mit quantitativen Zu‐ gängen können sie so Erklärungsansätze für die Reproduktion von Bildungs‐ ungleichheit liefern und aufzeigen, dass und inwiefern angestrebte Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung den Eigensinn sozialer Interaktionen sowie Perspektiven und Handlungslogiken der Beteiligten berücksichtigen müssen. Die quantitative Bildungsforschung hat wiederholt belegt, dass sich trotz der beträchtlichen Bildungsexpansion an der Herkunftsspezifik von Bildungs‐ chancen in den letzten Jahrzehnten wenig geändert hat - dies dokumentieren sowohl Schulleistungsstudien als auch längsschnittlich angelegte soziologische Forschungen (u. a. Blossfeld et al. 2019). Die Kluft zwischen Kompetenzen von Schüler/ innen aus Familien mit hohem und niedrigem Bildungs- und Wohl‐ standsniveau hat sich sogar noch vergrößert, wie die jüngste PISA-Studie in Bezug auf den Kompetenzbereich Lesen zeigt (Reiss et al. 2019). Auf Kinder aus zugewanderten Familien trifft dies in besonderem Maße zu (vgl. zusammenfas‐ <?page no="8"?> send Stanat und Edele 2015); stärker als in anderen Staaten ist in Deutschland Zuwanderung also mit dem sozialen Status verknüpft. Mit diesen Befunden wird die Frage virulent, wie genau und an welchen ‚Stellen‘ im Bildungsverlauf Dis‐ paritäten entstehen. Die quantitative Bildungsforschung begegnet dieser Frage, indem sie u. a. primäre, sekundäre und tertiäre Effekte - also herkunftsspezifi‐ sche schulrelevante Fähigkeiten, familiale Bildungsentscheidungen und leh‐ rerseitige Übergangsempfehlungen - untersucht, wobei der Fokus insbesondere auf Schulübergängen als den ‚Gelenkstellen‘ von Bildungsverläufen liegt. Wäh‐ rend sie nachweisen kann, dass alle drei der genannten Effekte bedeutsam sind, wird eine Herausforderung darin gesehen, das Zustandekommen und Zusam‐ menwirken der einzelnen Effekte genauer zu erklären (Ditton und Maaz 2015). Dazu können neben quantitativ-längsschnittlichen vor allem auch mikro‐ analytische Zugänge wie die Ethnografie und Interaktionsanalyse beitragen, indem sie Passungen (Bourdieu und Passeron 1977) zwischen herkunftsspezifi‐ schen familialen Habitusausprägungen und schulischen Erwartungen rekon‐ struieren. Eine Stärke mikroanalytischer Ansätze liegt dabei darin, dass sie die Praktiken der in den unterschiedlichen institutionellen Rollen Beteiligten - Schüler/ innen, Eltern, Lehrkräfte, Schulleitung usw. - in vielfältigen Interakti‐ onskontexten innerhalb des schulischen Felds in den Blick nehmen und zeigen, inwiefern Bildungsungleichheit nicht nur strukturell bedingt ist, sondern auch interaktiv hergestellt und perpetuiert wird. Mit Blick auf den oben grob umrissenen Komplex von Fragen scheinen uns Ethnografie und Interaktionsanalyse aber noch in einer weiteren Hinsicht re‐ levant. Die Befunde zur Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft resultierten hierzulande in einer Wende hin zu einer empirisch orientierten Bil‐ dungspolitik, deren Notwendigkeit insgesamt unbestritten sein dürfte. Sie mün‐ dete aber z.T. in praktische Umsetzungen, bspw. in Form datengetriebener Schul- und Unterrichtsentwicklung, die kritisch zu beleuchten sind. Auf der Ebene von Schulentwicklungsprozessen sollen bspw. Vergleichsarbeiten Lehrkräften In‐ formationen für die (in Eigenregie zu bewerkstelligende) Optimierung ihres Unterrichts liefern. Fraglich ist nicht nur, ob die mittels Vergleichsarbeiten er‐ hobenen Daten überhaupt Auskunft über Ursachen unterschiedlicher Schul‐ leistungen oder gar Ansatzpunkte für die Unterrichtsentwicklung liefern können (Bellmann 2017). Aus ethnomethodologischer und wissenssoziologi‐ scher Sicht stellt sich vor allem auch die Frage, was eigentlich geschieht, wenn Forderungen nachVeränderungen unterrichtlichen Handelns auf im Verlauf der beruflichen Sozialisation überlieferte und relativ verfestigte unterrichtliche Praktiken und Deutungsmuster von Lehrkräften treffen. So verwundert es nicht, dass Lehrkräfte auf den fortwährenden Abgleich von Sein und Sollen und den 8 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="9"?> 3 Vgl. auch Kotthoff (2002) zu „doing gender“ oder Hirschauer (2014) zu „doing diffe‐ rence“. Vergleich mit anderen Klassen und Schulen größtenteils mit einem „anreizkon‐ formen Anpassungsverhalten“ (u. a. Reallokation von Unterrichtszeit zugunsten getesteter Aspekte des Curriculums, Assimilation des Unterrichts an testrele‐ vante Kompetenzentwicklung, s. Bellmann 2018: 62) reagieren, das weder mit Kompetenzzuwächsen auf Seiten der Schüler/ innen noch mit dem Abbau von Bildungsungleichheit einhergeht. Mit ihrem Fokus auf die Orientierungen und Praktiken der jeweiligen Beteiligten können ethnografische und interaktionsanalytische Studien auch Beiträge zu einer reflektierten Konstellierung von praxeologischer (Unterrichts-)Forschung und Fachdidaktik liefern, die Unter‐ richtsentwicklungs- und Professionalisierungsprozesse ausgehend von den Ori‐ entierungen und Praktiken der Beteiligten zu verändern versucht. Im Folgenden stellen wir Überlegungen dazu an, was es heißt, Bildungsun‐ gleichheit als praktische Herstellungsleistung zu betrachten (Abschnitt 1). Auf‐ bauend auf einen Überblick über ausgewählte ethnografische und interaktions‐ analytische Befunde zum Konzept der Passung (Abschnitt 2) werden Potenziale und methodische Herausforderungen ethnografischer und interaktionsanalyti‐ scher Zugänge herausgearbeitet (Abschnitt 3). Abschnitt 4 gibt schließlich einen Überblick über die einzelnen Beiträge zu diesem Band. 1 ‚Bildung‘ und ‚Bildungsungleichheit‘ als Herstellungsleistung Aus sozial-konstruktivistischer und praxeologischer Perspektive dokumentiert sich soziale Ungleichheit nicht nur in der (im Rahmen quantitativer Sozialfor‐ schung feststellbaren) Verteilung von Ressourcen und sozialen Positionen, son‐ dern auch in dem aufeinander bezogenen Handeln von Menschen. Behrmann et al. (2019: 2) bringen dies in Anlehnung an Sacks (1984) mit der Bezeichnung „doing inequality“ 3 auf den Punkt. Bezogen auf den speziellen Fall von Bil‐ dungsungleichheit heißt dies: Bildungsungleichheit wird ‚hergestellt‘; sie ist das Produkt praktischer, interaktiver, jedoch nicht zwangsläufig bewusster oder in‐ tentionaler Handlungsvollzüge. Eine solche dynamisch-prozessuale und gene‐ rative Betrachtung von Bildungsungleichheit rückt folglich situierte Praktiken - z. B. das Kategorisieren von Personen nach bestimmten relevant gesetzten Merkmalen, das Bewerten von Leistungen und dasWeitergeben i.S. der sozialisatorischen Transmission kultureller und bildungsrelevanter Fähigkeiten (Behr‐ mann et al. 2019) - ins Zentrum, über deren Zusammenspiel eine bestimmte bildungsbezogene Teilhabeordnung konstituiert wird. 9 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="10"?> Der Begriff der Praxis verweist dabei allerdings auf verschiedene Theoriean‐ sätze (z. B. Garfinkel 1967; Bourdieu 1976; Schatzki 1996; Reckwitz 2003; dazu auch Knoblauch und Tuma 2016), aus deren Perspektive das Herstellen und Darstellen von sozialer Ordnung konzeptionell auf jeweils unterschiedliche Weise gefasst wird. Eine gemeinsame Grundlage bildet aber die Erkenntnis von Berger und Luckmann (1969/ 2009: 49 ff.), dass gesellschaftliche Wirklichkeit wesentlich über Prozesse der Institutionalisierung konstituiert wird, d. h. wenn sich im Laufe einer gemeinsamen Geschichte reziproke Typisierungen von Handlungen wie von Handelnden herausbilden und verfestigen. Dies gilt auch für sämtliche im schulischen Feld Agierenden. Sie konzeptualisieren so eine schulische ‚Realität‘, die essentiell eine soziale Konstruktion ist. Diese Vorstel‐ lung ist eng verwandt mit der ethnomethodologischen Auffassung, dass gesell‐ schaftliche Tatbestände ihren Wirklichkeitscharakter erst durch die in sozialen Interaktionen vollzogenen Sinnzuschreibungen und Interpretationsleistungen erhalten (Garfinkel 1967). Auf diese Weise werden auch ‚schulische Fakten‘ in Interaktionen konstituiert: „… Because educational facts are constituted in interaction, we need to study inter‐ action in educational contexts, both in and out of school, in order to understand the nature of schooling.“ Mehan (1979: 5 f.) Ausgehend von diesen Prämissen können Ethnografien schulischer Kommuni‐ kation und Interaktionsforschung zur Erhellung der komplexen institutionellen und kommunikativen Verhältnisse des schulischen Raums etwas Anderes bei‐ tragen als quantitative Schulleistungsstudien oder auf standardisierte Befra‐ gungen zu Sichtweisen der Akteure fußende Forschungen. Sie gehen nicht davon aus, dass die Beteiligten ihr in Praktiken eingelagertes Wissen und Können ohne Weiteres explizieren können; stattdessen machen sie die sinngebenden Alltagspraktiken und somit das Wie des als selbstverständlich und un‐ problematisch angenommenen Generierungsprozesses sozialer Ordnung zum Gegenstand. Deshalb stehen in den Beiträgen dieses Bandes Praktiken bzw. Ak‐ tivitätstypen bspw. des Positionierens (Kotthoff und Röhrs; Kordts; Heller und Quasthoff), des Auswählens und Reflektierens (Kern) und des Beurteilens bzw. Bewertens (Mundwiler; Kalthoff und Dittrich; bei Breidenstein und Tyagunova: Selbst-Korrigieren) im Zentrum, die mehr oder weniger gekonnt und mehr oder weniger konsonant im Zusammenspiel der Beteiligten ausgeführt werden. Diese Praktiken werden in ihren natürlichen Kontexten - in schulischen Sprech‐ stunden, im individualisierten Unterricht, in familialen Hausaufgabeninterak‐ tionen - aufgezeichnet und rekonstruiert. Das Ziel ist dabei nicht, 10 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="11"?> „statistisch repräsentative Auskünfte darüber machen zu können, was die im Hinblick auf Lernergebnisse geeignetsten Unterrichts-Verfahren sind. Es ist für sie [die quali‐ tative Schulforschung, H.K. und V.H.] kein Problem, nicht in die Köpfe der Schüler/ innen oder der Lehrer/ innen schauen zu können, weil sie sowohl pädagogische In‐ teraktionen wie auch Lernen selbst jeweils als ein soziales Geschehen versteht und beobachtet. Sie kann - sehr konkret am einzelnen Fall - zeigen, was im Unterricht und in welcher Weise etwas im Unterricht geschieht und funktioniert; sie kann in der Folge und im Vergleich Formen und Muster dieses sozialen Geschehens herausar‐ beiten“ (Reh 2012: 151). Ethnografien schulischer Kommunikation erhellen beispielsweise den „Schüler-Job“ (Breidenstein 2006), der u. a. das komplexe Management von gleichzeitigem Mitmachen-am-Unterricht und Banknachbarn-Unterhalten beinhaltet, die komplexe Anforderung also, seine Aufmerksamkeit und sein Handeln gleichzeitig auf mehreren Ebenen zu organisieren (Kotthoff 2011). Da‐ neben wurden bspw. Benotungspraktiken unter die soziologisch-ethnografische Lupe genommen (Kalthoff 1996 und in diesem Band) oder auch Elitebildungs‐ prozesse in Internatsschulen, die von vornherein nicht allen offenstehen (Kalt‐ hoff 1997). Auf diese Weise können Ethnografien und Interaktionsanalysen Praktiken innerhalb des schulischen Felds in ihren (in)formellen Logiken und ihrer auch materiellen Ressourcenanbindung erhellen. Neben diesen Potenzialen sind allerdings auch Herausforderungen zu nennen, vor denen insbesondere Interaktionsanalysen ethnomethodologischer und konversationsanalytischer Provenienz stehen, wenn sie versuchen, Prak‐ tiken mit Blick auf ihre Milieu- oder Herkunftsspezifik zu untersuchen: Um si‐ cherzustellen, dass bei der Datenerhebung Interaktionen von Angehörigen un‐ terschiedlicher Milieus oder Gruppen erfasst werden, müssen die Forschenden auf extern gesetzte, präanalytische Kategorien wie bspw. den sozio-ökonomi‐ schen Status oder die Schulform zurückgreifen. Damit begeben sie sich in ein Dilemma. Aus dem naturalistischen Datenverständnis (Deppermann 2000) der ethnomethodologischen Konversationsanalyse folgt, dass Daten nicht theorie‐ basiert arrangiert werden und sich die rekonstruktive Analyse auf die beobacht‐ baren Relevanzen der Beteiligten beschränkt. Erfolgen Datenerhebungen aber in Absehung möglicher sozialer Unterschiede, drohen sie einen Bias zu produ‐ zieren und bspw. für bildungsaffine Milieus typische Praktiken als ‚Normalform‘ zu postulieren. Werden hingegen externe Kategorien bei der Datenerhebung berücksichtigt, besteht die Gefahr, diese als Ressource für eigene Analysebe‐ mühungen zu nutzen (Garfinkel 1967), und zu übersehen, ob und inwiefern sie auch von den Beteiligten relevant gemacht werden. Eben darin dürfte wohl einer der wesentlichen Gründe liegen, warum die ethnomethodologische Konversa‐ 11 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="12"?> tionsanalyse der Untersuchung sozialer Ungleichheit bislang weitestgehend aus dem Weg gegangen ist - auch wenn dies durchaus als relevant erachtet wird: „Investigation into how interaction is embedded in the reproduction of race, class, and gender inequalities, though overdue, is a clear prospect for contem‐ porary CA research“ (Heritage 2009: 313). Zeitgenössische Studien haben unterschiedliche Lösungen für dieses metho‐ dische Problem entwickelt. Eine Lösung besteht darin, mögliche ungleichheits‐ generierende Praktiken wie das Kategorisieren, Positionieren und Bewerten (s. o.) selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen (vgl. auch Hirschauer 2014: 180). Andere Ansätze verbinden interaktionsanalytische Zugänge mit dem Bourdieuschen Habituskonzept, um einer etwaigen Milieuspezifik von Prak‐ tiken und ihre unterschiedliche Passung zu schulischen Erwartungen auf die Spur zu kommen. Dabei werden zum einen kulturelle Ressourcen und Praktiken verglichen; zum anderen wird der von Bourdieu und Passeron (1977) geprägte Begriff der Passung konstitutionsanalytisch als diskursives, interaktiv herge‐ stelltes „achievement“gefasst. Wie dies in bisherigen ethnografischen und in‐ teraktionsanalytischen Untersuchungen zum Tragen kam, ist Gegenstand des folgenden Abschnittes. 2 Ethnografische und interaktionsanalytische Zugänge zu Passungen Angestoßen durch die Befunde international vergleichender Schulleistungsstu‐ dien zur Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft wurde das von Bourdieu und Passeron (1977) formulierte Konzept der kulturellen Passung er‐ neut aufgegriffen und in einer Reihe ethnografischer und interaktionsanalyti‐ scher Studien weiterentwickelt. Vorreiter waren dabei groß angelegte Ethno‐ grafien zur Kommunikation in Elternhäusern und Schulen in den USA, wie etwa die von Heath (1983) und Lareau (2003). Auf der Grundlage längerfristig ange‐ legter teilnehmender Beobachtungen in zwei Grundschulen und zwölf Familien aus unterschiedlichen sozio-ökonomischen Milieus (sowie Interviews mit 88 Eltern) untersuchen Lareau und ihr Team, wie Elternschaft und Kindheit je nach sozialer Klasse kulturell anders praktiziert werden. Was sie u. a. bei Fußball- und Nachbarschaftsspielen, Auto- und Busfahrten durch die Stadt, Hausaufgaben- und Morgenroutinen, Arzt- und Zahnarztterminen sowie Gesprächen zwischen Eltern und Lehrpersonen beobachten, zeigt auffallende Unterschiede in der Or‐ ganisation des täglichen Lebens der Kinder, ihrer Kommunikationsentwicklung sowie ihren Fähigkeiten, in sozialen Institutionen zu interagieren. Die Studie entdeckt in alltäglichen Abläufen, wie sich das kulturelle Repertoire, das den 12 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="13"?> Kindern vermittelt wird, je nach sozialer Schicht so gestaltet, dass schon im frühen Alter schulische Vor- und Nachteile auftreten. In der Welt der Mittel‐ schicht wird die Kindererziehung als „konzertierte Kultivierung“ praktiziert, die eine hohe Passung zu schulischen Erwartungen aufweist und in der Schule ihre optimale Ergänzung findet. Mittelschichteltern fördern und bewerten die Ta‐ lente ihrer Kinder, indem sie sie in organisierte Aktivitäten einbeziehen, mit ihnen argumentieren, sie auffordern, Fragen an Ärzte zu formulieren und ins‐ gesamt so aufzutreten, dass sie von sozialen Einrichtungen Maßnahmen ver‐ langen können. Besonders deutlich zeigt sich dies im schulischen Kontext: Im Unterschied zu Kindern aus ärmeren Milieus formulieren Mittelschichtskinder gegenüber Lehrpersonen Erwartungen; darüber hinaus intervenieren aber auch die Eltern in ihrem Namen bei Lehrerpersonen und Coaches. Die Logik der Kin‐ dererziehung in Familien der Arbeiterklasse, die Lareau als „natural growth“ bezeichnet, bildet dazu einen erheblichen Kontrast. Diese Eltern konzentrieren sich auf die Grundversorgung der Kinder und setzen auf eine natürliche Ta‐ lententwicklung. Das Leben der Kinder findet vor allem in der Nähe des Hauses statt, mit weniger strukturierten Aktivitäten, mehr Interaktion mit Geschwi‐ stern und klareren Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern. So wird von Kindern i. d. R. erwartet, in Gegenwart von Erwachsenen gehorsam zu sein; pa‐ rallel dazu leben ihnen die Eltern Unbehagen und Zurückhaltung in ihren In‐ teraktionen mit Schulbeamt/ innen und medizinischen Fachkräften vor. Die schichtspezifischen Unterschiede kulminieren darin, dass Mittelstandskinder lernen, das zu fordern, was sie wollen, während Kinder aus Arbeiterhaushalten und armen Familien lernen, das zu akzeptieren, was angeboten wird. Für Kinder, die eine „konzertierte Kultivierung“ ihrer Fähigkeiten erfahren, ergänzen sich Schule, Freizeitaktivitäten und Elternhaus konsonant, was sich auch am jewei‐ ligen Zuschnitt kommunikativer Erwartungen der Lehrpersonen zeigt (Fragen nach Erfolgen bei musikalischen Auftritten werden gestellt, Fragen zum Fern‐ sehkonsum hingegen nicht). Nicht alles lässt sich aus diesen Ethnografien mi‐ lieuspezifischer familialer Praktiken auf den deutschsprachigen Raum über‐ tragen. Unterschiedliche Passungen von kommunikativen Praktiken, Handlungslogiken und Deutungsmustern in Elternhaus und Schule wurden aber auch hier sichtbar. Jünger (2008) nähert sich diesen Logiken über Interviews und Gruppendiskussionen mit Viert- und Fünftklässler/ innen aus wohlhabenden und unterprivilegierten Wohngebieten der Stadt Zürich. Sie stellt die Belas‐ tungen heraus, unter denen Kinder aus ressourcenschwachen Elternhäusern aufgrund ihrer Erfolglosigkeit leiden. Zum anderen untersucht sie (schul-)pä‐ dagogische Möglichkeiten zur Unterstützung dieser Kinder. 13 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="14"?> Auch aus Perspektive der interaktionalen Soziolinguistik werden unter‐ schiedliche Passungsverhältnisse untersucht, wobei insbesondere familiale und schulische Interaktionsformen fokussiert werden. Die Frage nach diskursiven Passungen eröffnet neue soziolinguistische, post-bernsteinianische Diskussi‐ onen (Cook-Gumperz 2009; Duff 2010; Quasthoff und Heller (Hrsg.), 2014). So beschreibt Heller (2012) die „kommunikativen Erfahrungen“ von elf Grund‐ schulkindern mit deutscher, türkischer und vietnamesischer Erstsprache an‐ hand von audiografierten familialen Tischgesprächen und videografiertem An‐ fangsunterricht in vier Schulen. Mikroanalytisch werden zunächst familiale Gattungsrepertoires und Praktiken des Argumentierens in ihren jeweiligen Pas‐ sungsverhältnissen zur alltäglichen kommunikativen Praxis der Schule be‐ schrieben. Ausgehend von einem Verständnis von Passung als interaktiv herge‐ stellt wird darüber hinaus rekonstruiert, wie sich Passungen und Divergenzen in der Lehrer-Schüler-Interaktion manifestieren und im Verlauf von Interakti‐ onsgeschichten schon zu Beginn des Bildungsverlaufs musterhaft verfestigen. Es zeigen sich zum einen familienspezifische Gattungsrepertoires und Praktiken des Argumentierens, die unterschiedlich gut zu unterrichtlichen Anforderungen und Erwartungen passen (dazu auch Spiegel und Deschner 2010). Je unter‐ richtsähnlicher eine Schülerin argumentiert, desto eher beteiligen sich Lehr‐ personen an dem Diskurs, desto stärker gelingt die Bezugnahme aufeinander. Die Schulklassen werden für die untersuchten elf Kinder in ganz unterschied‐ lichem Maße zu einer Diskursgemeinschaft, in der ihnen Anerkennung als voll‐ wertiges Mitglied und Partizipationschancen gewährt werden. Quasthoff und Morek (2015) untersuchen Passungen und Divergenzen zwi‐ schen schulisch erwartetem Sprachverhalten und außerschulischen Diskurspraktiken von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Milieus, indem sie über Familie und Unterricht hinaus auch Peergruppen als relevante Sozialisations‐ kontexte in den Blick nehmen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, welche diskursiven Praktiken in welchen der drei Kontexte prominent vor‐ kommen. Gerade in Bezug auf die im schulischen Unterricht relevanten Prak‐ tiken des Erklärens und Argumentierens zeigt sich, dass diese nicht durchgängig auch in Cliquen- und Familieninteraktionen vorkommen oder sogar als disprä‐ feriert behandelt werden. Im Vergleich des kommunikativen Agierens derselben Jugendlichen in den drei Kontexten werden unterschiedliche Partizipationspro‐ file (z. B. kontextübergreifend Erfolgreiche und ausschließlich außerschulisch Erfolgreiche) herauspräpariert. Schließlich dokumentieren die unlängst entstandenen Arbeiten zu schuli‐ schen Sprechstundengesprächen, dass und wie im Zusammenspiel von Eltern und Lehrkräften (und mitunter auch Kindern) unterschiedliche Passungen kon‐ 14 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="15"?> stituiert werden. Verschiedene Studien (z. B. Pillet-Shore 2012 und einige Ar‐ beiten in Hauser und Mundwiler 2015) arbeiten heraus, wie Eltern sich in dem institutionellen Setting als Unterstützungsinstanz für das Kind darstellen. Eltern erzählen beispielsweise detailliert, wie sie ihr Kind zum Lernen anhalten und gemeinsame Lernkontexte gestalten (Kotthoff 2015). Dass Lehrpersonen diese Seite einer professionell kompetenten Person von sich zeigen, erwartet man gemeinhin sowieso. Sowohl in Erzählfragmenten als auch beim Argumentieren oder in Beratungszusammenhängen holen nun aber auch viele Eltern zur Kom‐ munikation von „doing being a competent parent“ im ethnomethodologischen Sinne aus (dazu auch Adelswärd und Nilholm 2000). Dies betreiben Eltern sogar mittels kritischer Beschreibungen des Verhaltens oder der Leistung ihres Kindes. Wenngleich dies sicher nicht als bewusst gewählte Strategie einer optimalen Präsentation des Zuhauses gesehen werden kann, fällt diese Praxis aber doch auf, vor allem in Distinktion zu Eltern, die sie nicht betreiben (können). Der kurze Überblick zeigt, dass Passungsverhältnisse auf vielfältige Weise gefasst werden können und sollen. Dementsprechend nehmen die Beiträge des Bandes unterschiedlichste Prozesse in den Blick, die die Vielschichtigkeit schul‐ ischer und schulbezogener Gestaltungsverhältnisse beleuchten. In Bezug auf den Kontext Schule liegen seit 40 Jahren Studien zu Unterrichtsinteraktionen vor (siehe dazu beispielsweise Beiträge in Krelle und Spiegel 2009; Spreckels 2009; Heller und Morek 2015), die in den letzten Jahren besonders unter multi‐ modaler Perspektive (Schmitt 2009, 2011) beleuchtet werden. Wir knüpfen an diese Forschung an und erweitern diese, indem wir vermehrt auch schulische Aktivitätsfelder an den Peripherien von Unterricht ins Visier nehmen, wobei eine interaktional-soziolinguistische und kommunikationssoziologische Inte‐ ressensausrichtung leitend ist. 3 Die Beiträge in diesem Band Der vorliegende Band versammelt interaktionsanalytische und ethnografisch geprägte Herangehensweisen an schulische Interaktion. Gemeinsam ist ihnen, dass Schule als ein komplexer Handlungsraum perspektiviert wird, in dem nicht nur Lernen und optimaler Input über den tatsächlichen Bildungserfolg ent‐ scheiden, sondern auch Identitätsverhandlungen und Konstruktionen von mehr oder weniger erfolgreichen Schülertypen unterschiedlicher Art und Vorausset‐ zung (Wortham 2006; Budde et al. 2008) von hoher Relevanz sind. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich den verschiedenen Nahtstellen, die im schulischen Feld von Bedeutung sind, denen von Elternhaus und Schule, denjenigen von Fachwissen und unterrichtlichen Eigendynamiken oder auch 15 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="16"?> derjenigen von Unterricht und Lehrerhandeln aus Außen- und Innenperspek‐ tive. Dabei setzen wir nicht nur auf die wechselseitige Ergänzung von Ethnografie und Interaktionsanalyse, sondern auch auf Interdisziplinarität: Im Feld unserer praxeologisch orientierten Schulforschung untersuchen Soziolog/ innen auf eth‐ nographischem Wege die zeitliche Zurichtung des Unterrichts auf Prüfungen sowie Praktiken des Bewertens (Kalthoff und Dittrich); Erziehungswissen‐ schaftler/ innen beschreiben familiale Unterstützungspraktiken und -ressourcen für die Bewerkstelligung von Hausaufgaben (Budde) und rekonstruieren, wie Schülerinnen und Schüler im individualisierten Unterricht mit der eigenstän‐ digen Bearbeitung fachlicher Aufgaben umgehen (Breidenstein und Tyagu‐ nova). Interaktionslinguist/ innen wiederum rekonstruieren Bewertungs- und Positionierungspraktiken von Eltern, Kindern und Lehrpersonen in schulischen Sprechstunden (Kotthoff und Röhrs, Mundwiler) und untersuchen auf Basis von Schüler-Gruppendiskussionen über Unterricht, wie sozial privilegierte und be‐ nachteiligte Schüler/ innen Lehrpersonen sozial kategorisieren und sich zu ihnen in Beziehung setzen (Heller und Quasthoff). Schließlich wird rekonstruiert, wie Novizen im Rahmen der Nachbereitung von Praxiserfahrungen Reflexionsge‐ genstände konstituieren und unter Hinzuziehung (mehr oder weniger adä‐ quaten) fachlichen Wissens zu bearbeiten versuchen (Kern). Sechs Beiträge fokussieren diskursive Praktiken und Passungen. Sie widmen sich der Beschreibung des komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Ak‐ teure, die jeweils spezifische Ordnungen herstellen, z. B. durch bestimmte Po‐ sitionierungen innerhalb von Interaktionen. Jürgen Budde nähert sich aus praxistheoretischer Perspektive „Fallvignetten“ zu bestimmten Schülern und Schülerinnen in konkreten Kontexten, die sein Team und er in zwei schulvergleichenden Forschungsprojekten kennengelernt haben. Die Projekte verbinden Video- und Audioaufzeichnungen relevanter Si‐ tuationen im Bereich der Sekundarstufe (z. B. Hausaufgabenkontrolle) sowie ethnografische Hintergrunderhebungen und Befragungen der agierenden Per‐ sonen. Ausgehend von der Diskussion vorherrschender erziehungswissen‐ schaftlicher Betrachtungsweisen zu unterschiedlichen Feldlogiken von Schule und Elternhaus, die längst auch schichtenspezifische Perspektiven der Eltern auf den Bereich Schule erhellt haben, macht Budde stark, dass Praktiken im Sinne Schatzkis (situative Verbünde von Handeln und Kommunizieren) Sub‐ jektkonfigurationen erst hervorbringen würden. Im familiären und schulischen Umgang mit Hausarbeiten wird in den vignettenhaften Szenenbeschreibungen und Gesprächstranskripten deutlich, wie stark schulbezogen eine im Aufsatz vorgestellte Familie agiert, in der die Mutter auch selbst Lehrerin ist. Hier wird 16 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="17"?> zu Hause sehr unterrichtsähnlich und auch in dieser Hinsicht kompetent agiert. Auf der anderen Seite wird sichtbar, dass Lehrpersonen schon bei der Vergabe von Hausarbeiten auf die Notwendigkeit elternseitiger Unterstützung ver‐ weisen, und weder registrieren noch reflektieren, dass nicht alle Schüler/ innen über diese Ressource verfügen. Stattdessen wird umstandslos von einer Passung schulischer Erwartungen und familialer Ressourcen ausgegangen. Ina Kordts zeigt auf Basis videografierten Unterrichts an verschiedenen Schul‐ formen, wie unterschiedlich Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler als Kollektiv positionieren. Dazu greift sie neben konversationsanalytischen und ethnografischen Zugängen auch auf das sozialpsychologische Konzept der so‐ zialen Positionierung zurück. Rekonstruiert wird zunächst, wie die Schüler/ innen einer Realschule und eines privaten Gymnasiums im Hinblick auf ihr So‐ zialverhalten und Leistungsvermögen von ihren jeweiligen Lehrkräften inter‐ aktiv positioniert werden. Komplementär werden die damit einhergehenden Selbstpositionierungen der Lehrkräfte in den Blick genommen. Im anschließ‐ enden schulformbezogenen Vergleich zeigt sich, dass die Schülerschaft der Re‐ alschulklasse als verhaltensproblematisch, erziehungsbedürftig und (in Bezug auf Leseerfahrungen und -vermögen) leistungsschwach positioniert wird, wäh‐ rend die Schüler/ innen der Gymnasialklasse als kritisch-mitdenkende Subjekte, die fachlich zu fordern sind, etabliert werden. Damit einher gehen unterschied‐ liche Selbstpositionierungen der Lehrkräfte als fürsorglich vs. fordernd. In der Verschränkung mit ethnographischen Daten zeigt sich, dass die gesprächsana‐ lytisch gewonnenen Befunde in einem systematischen Zusammenhang mit un‐ terschiedlichen Arten unterrichtlicher Gesprächsführung und Sichtweisen auf Schüler/ innen einhergehen. Auf der Basis von Gruppendiskussionen sozial privilegierter und benachtei‐ ligter Schüler/ innen, also Daten zweiter Ordnung, machen Vivien Heller und Uta Quasthoff die Schülersicht auf Lehrerhandeln zum Gegenstand. Mit Hilfe der „Membership Categorization Analysis“ wird freigelegt, welche konstitutiven und nicht-konstitutiven kategoriengebundenen Aktivitäten von Lehrkräften relevant gesetzt werden und welche „stances“ die diskutierenden Schüler/ innen dabei einnehmen. Während die sozial benachteiligten Schüler/ innen die soziale Kategorie Lehrer mit konstitutiven Aktivitäten koppeln, thematisieren die sozial privilegierten Schüler/ innen auch nicht-konstitutive und somit prinzipiell hin‐ terfragbare Aspekte des Lehrerhandelns. Im Rahmen stilisierender Redewie‐ dergaben enttarnen und hinterfragen sie beobachtetes Lehrerhandeln aus quasi-professioneller Sicht als problematisch und entwickeln Alternativen. Dabei wird sichtbar, dass die jeweiligen Schülergruppen das Lehrerhandeln aus sehr unterschiedlichen Positionen heraus bewerten: Die eher privilegierten 17 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="18"?> Schüler/ innen bewerten Unterricht „auf Augenhöhe“ aus einer Position der so‐ zialen Passung heraus, während weniger privilegierte Schülerinnen und Schüler sich aus einer sozial inferioren Position heraus als wenig handlungsfähige Ob‐ jekte der Bildungsinstitution positionieren. Der gewählte methodische Zugriff macht sichtbar, dass sich Passungen und Divergenzen auch in den schülersei‐ tigen Deutungen und Bewertungen von Unterricht zeigen. Herbert Kalthoff und Tristan Dittrich untersuchen Praktiken des Korrigierens von Lehrkräften am Beispiel einer Unterrichtseinheit zum mündlichen und schriftlichen Argumentieren. Auf Basis ethnographischer Beobachtungen, die über den Unterricht hinaus auch die außerhalb des Unterrichts stattfindende Korrektur umfasst, beschreiben sie zum einen die zeitliche Einbettung der Arbeit in die Unterrichtseinheit und zum anderen den Prozess des Korrigierens und Bewertens. Im kontrastierenden Vergleich der Textbewertungsprozesse zweier Schüler/ innen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen zeigt sich u. a., dass Lehrkräfte im Beurteilungsprozess einen Erwartungsabgleich vollziehen, bei dem die schülerseitigen Textprodukte auf ihre Entsprechung zu dem im Unter‐ richt Behandelten geprüft werden. Schriftliche Kommentierungen werden dabei sowohl graphisch als auch sprachlich unterschiedlich kontextualisiert und ent‐ weder als zurückweisende Identifikation von Fehlern oder ‚aufmunternde‘ Ver‐ besserungsvorschläge gerahmt. In dem jeweiligen Zuschnitt der Kommentare werden auf diese Weise auch unterschiedliche Erwartungen der Lehrkraft be‐ züglich des Leistungsvermögens der Schüler/ innen erkennbar. Kalthoff und Dittrich schließen, dass die kontingente Praxis des Beurteilens eine diskursive (Nicht-)Passung mitorganisiert, deren Bezugspunkte die Sprache des Unter‐ richts, die schulische Kultur oder die soziale Herkunft sind. Vera Mundwiler hat in der Nordwestschweiz vierzehn Beurteilungsgespräche in der Primar- und Sekundarstufe erhoben, bei denen auch die Kinder anwesend waren. Die Anwesenheit der Schüler/ innen in solchen ursprünglich nur von Eltern und Lehrperson geführten Besprechungen werden in der Schweiz und Deutschland als Demokratiegewinn und Kommunikation auf Augenhöhe ideo‐ logisiert. Mundwiler untersucht nun, wie in den Gesprächen an einer zuvor schriftlich eingeforderten Selbstbeurteilung der Schüler/ innen konversationell gearbeitet wird. Redeanimationen, in denen beispielsweise die Lehrperson mög‐ liche Gedanken der Schülerin inszeniert, erhalten eine Funktion für ihre schu‐ lische Passung, indem sie mögliche Haltungen veranschaulichen und implizit bewerten. Mundwiler zeigt auf detaillierte Weise, dass sich vor allem eine Ver‐ antwortungsverschiebung weg von der Schule hin zu den Schülern ereignet. Die geforderte Selbstbeurteilung wird so fast zu einem Test für die Schulkompati‐ bilität der Schüler/ innen. Damit fundiert Mundwiler eine kritische Sicht auf die 18 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="19"?> vermeintliche Augenhöhe zwischen Lehrpersonen und Schülern, die sich auch in der Studie von Bonanati (2018) findet. Auch der Beitrag von Helga Kotthoff und Falko Röhrs betrachtet Gespräche zwischen Lehrpersonen und Eltern. Sie zeichnen besonders die auffälligen Be‐ mühungen der Eltern nach, sich in diesen Gesprächen in Sachen Schule kundig und engagiert zu präsentieren. Sie analysieren Abläufe im kommunikativen Aktivitätstyp des Beratens. Unter Rückgriff auf das in der Interaktionslinguistik schon lange verankerte Konzept des Aktivitätstyps deuten sie darauf hin, dass sich in diesen Konnex zwischen „doings and sayings“ einschreibt, wer auf im Kontext wertvolle Ressourcen zurückgreifen kann. Mit Knoblauch und Tuma (2016) wird der subjektive Faktor in der Analyse der Beratungspraktiken nicht ausgespart und so wird deutlich, dass sich das performative Vorführen als en‐ gagierte Eltern graduell unterscheidet. Es gelingt gebildeten und sprachlich kompetenten Eltern eher, Beratungen selbständig auszugestalten und Aktivi‐ täten ins Feld zu führen, die in Bezug auf den Unterricht und in einer Art Wei‐ terführung desselben zu Hause stattfinden. Das Korpus von 77 Elterngesprächen aller Schultypen zeigt, ähnlich wie in den Beiträgen von Heller und Quasthoff sowie Kordts, dass sich soziale Positionierungen - hier der Eltern (meist Mütter) - zu den Lehrpersonen unterscheiden: Beratungen, in denen Eltern(teile) Infor‐ mationen der Lehrkraft schlicht rezipieren, zeugen unter der Hand auch von einem Kompetenzgefälle. Stark ko-konstruierte Beratungen zeigen dagegen, wie sehr die Eltern sich in der Lage sehen, zu Hause selbsttätig Aktivitäten zu veranlassen, die schulische Bemühungen unterstützten - und dies auch vorzu‐ bringen. In diesem Fall sprechen sie von diskursiver Passung. Eltern mit hoher schulischer Kompetenz halten auch Dissens mit der Lehrperson länger durch. Sie bringen mitunter inhaltliche Kritik an didaktischen Vorgehensweisen zum Ausdruck. Zwei Beiträge des Bandes verbinden Interaktionsforschung, Ethnografie und Fachdidaktik, indem sie nachzeichnen, in welcher Form sich Lern- und Bil‐ dungsprozesse einzelner Schüler/ innen im individualisierten Unterricht voll‐ ziehen und wie Lehramtsstudierende ethnografisch beobachtetes Handeln von Deutschlehrkräften mit Blick auf dessen fachliche und fachdidaktische Begrün‐ dung reflektieren. Georg Breidenstein und Tanya Tyagunova untersuchen eine Episode aus dem individualisierten Unterricht, in der Schüler/ innen mit Unterrichtsmaterial ar‐ beiten, bei dem sich erst sehr spät herausstellt, dass es fehlerhaft konzipiert ist. Sie zeigen die Mühen eines Schülers, trotzdem sinnvoll mit dem Material um‐ zugehen, aber auch, wie die mangelnde Anleitung durch die Lehrerin einen Raum für fremdkontrollierend auftretende Schüler öffnet. Dass die Schüler/ 19 Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld <?page no="20"?> innen die Sachebene verlassen und sich mehr mit passenden Farben des Mate‐ rials beschäftigen, tritt in der detaillierten Ethnografie deutlich hervor. Die Rou‐ tinen der Bearbeitung werden von den Schülern durchgehalten, auch wenn dabei Einsichten in den fachlichen Gegenstand ausbleiben. Damit zeigen Brei‐ denstein und Tyagunova, dass sich in die Programmatik des individualisierten Unterrichts Praktiken der Interaktionsorganisation und des peerkulturellen Umgangs mit Material einschreiben, die die Lernpotenziale des Materials außer Acht lassen. In der eingehenden Analyse der schülerseitigen Auseinanderset‐ zung mit dem Material wird sichtbar, dass der individualisierte, auf selbstorga‐ nisiertes Lernen setzende Unterricht nicht automatisch (die beabsichtigten) Lernprozesse initiiert und somit nur bedingt als Antwort auf die Heterogenität von Schüler/ innen taugt. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen werden grundlegende Überlegungen dazu angestellt, wie eine praxeologische und eine fachdidaktisch orientierte Unterrichtsforschung in produktiver Weise aufei‐ nander bezogen werden können. Mit der praxeologischen Reformulierung des didaktischen Dreiecks schälen sich Praktiken der Strukturierung des Lernge‐ genstands, der Aufgabenbearbeitung und der Interaktionsorganisation als drei sich wechselseitig ergänzende Forschungsgegenstände heraus. Friederike Kern widmet sich der Passung von Theorie und Praxis am Beispiel von Lehramtstudent/ innen, die im Rahmen des Praxissemesters Deutschunter‐ richt ethnografisch beobachten und ihre Beobachtungen nachträglich in Semi‐ narkleingruppen für die Entwicklung der eigenen Professionalität fruchtbar zu machen versuchen. Anhand von Interaktionsanalysen aufgezeichneter Klein‐ gruppengespräche zeigt Kern, wie komplex die Überführung von Beobach‐ tungen in fachliche Reflexionen ist: Sie erfordert zunächst einmal die Konsti‐ tution eines ethnografischen Falls, darüber hinaus die Aushandlung thematischer Fokussierungen und vor allem das Hinzuziehen einschlägiger fachlicher Wissensbestände zur Einordnung und Reflexion des Beobachteten. Insbesondere der letzte Aspekt erweist sich insofern als eine wesentliche He‐ rausforderung, als in einigen Gruppen ausschließlich allgemein-didaktische oder erziehungswissenschaftliche Wissensbestände für die Durchdringung des eigentlich fachlichen Problems herangezogen werden. Mit ihrer Untersuchung adressiert Kern die wichtige Nahtstelle der Relationierung von Praxisbeobach‐ tung und Fachwissen, die nicht erst seit der Restrukturierung schulpraktischer Anteile in der Lehramtsausbildung in ihrer Relevanz erkannt wird. Sie zeigt, dass Novizen bei der Entwicklung einer „professional vision“ (Goodwin 1994) nicht zuletzt auf Experten angewiesen sind, die sie auf die Divergenz zwischen ethnografisch beobachtetem und fachdidaktisch begründetem Unterrichtshan‐ deln hinweisen. 20 Vivien Heller / Helga Kotthoff <?page no="21"?> Schluss Der Überblick macht die Bandbreite sichtbar, mit der die hier versammelten mikroanalytischen Beiträge interaktive Musterhaftigkeiten und diskursive Praktiken in den unterschiedlichsten schulischen Aktivitätsfeldern - vom Un‐ terricht über das Korrigieren schriftlicher Arbeiten, familiale Hausaufgabenin‐ teraktionen, schulische Sprechstundengespräche bis hin zu Diskussionen von Schüler/ innen und Lehramtsnoviz/ innen über Unterricht - beleuchten. Dabei erweist sich zum einen die Verbindung von Ethnografie und Interaktionsanalyse als gewinnbringend: Mikroanalytisch untersuchte Interaktionsepisoden werden in längerfristige zeitliche Ordnungen eingeordnet oder zu übergreifenden Ori‐ entierungen (bspw. von Lehrkräften) in Beziehung gesetzt. Zum anderen zeigt sich, dass systematisch angelegte Datenerhebungen und vergleichende mikro‐ analytische Zugänge das Potenzial haben, Unterschiede in Ressourcen und Praktiken zutage zu fördern, ohne dabei sozialstrukturellen Determinismen das Wort zu reden (Rehbein und Saalmann 2009). So wird deutlich, dass sich Akteure innerhalb der Institution Schule mehr oder weniger günstig positionieren können. Dabei spielt ihr praktisches Wissen über die Institution und ihr Hand‐ lungspotenzial durchgängig eine Rolle. Schließlich verspricht die Verbindung von praxeologischer (Unterrichts-)Forschung und Fachdidaktik Grundlagen‐ wissen dafür zu generieren, Unterrichtsentwicklungs- und Professionalisie‐ rungsprozesse ausgehend von den Orientierungen und Praktiken der Beteiligten zu konzeptualisieren. Wuppertal und Freiburg im Breisgau, im März 2020 Literatur Adelswärd, Viveka/ Nilholm, Claes (2000): Who is Cindy? Aspects of identity work in a teacher-parent-pupil talk at a special school. Text 20/ 4, 545-568. Behrmann, Laura/ Eckert, Falk/ Gefken, Andreas (2018): Prozesse sozialer Ungleichheit aus mikrosoziologischer Perspektive - eine Metaanalyse qualitativer Studien. In: Behrmann, L./ Eckert, F./ Gefken, A./ Berger, P. A. (Hrsg.) ‚Doing Inequality‘. Wies‐ baden: Springer, 1-34. Bellmann, Johannes (2018): Selbstregulation im ständigen Abgleich von Sein und Sollen. Ansätze zu einer Theorie von Wirkungen und Nebenwirkungen datengetriebener Steuerung. In: Drossel, K./ Eickelmann, B. 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In der Praxis lassen sich jedoch zahlreiche Verschränkungen von Schule und Familie beobachten. Entgegen einer festge‐ legten Trennung der Institutionen Schule und Familie scheint es plausibel, Ähn‐ lichkeiten und Überschneidungen der Praktiken beider Institutionen anzu‐ nehmen und nicht von zwei getrennten Systemen auszugehen. Da weder die Schule noch die Familie die alleinige Reproduktionsinstanz von Bildungsun‐ gleichheit ist (vgl. Willis 1979), interessiert sich der Beitrag für jene Praktiken, in denen Bildungsungleichheiten prozessiert werden und fokussiert dafür auf die Schnittmenge von Familie und Schule. Dazu werden zuerst Überlegungen zur institutionellen Schnittmenge angestellt und diese dann mit Blick auf Bil‐ dungsungleichheiten theoretisiert. Die anschließende praxistheoretische Fun‐ dierung methodologisiert dann den Blick auf die Institutionen. Anhand exemp‐ larischer ethnographischer Untersuchungen werden die theoretischen Überlegungen empirisch untermauert und insbesondere auf die Relationierung von Erziehungs- und Bildungspraktiken zwischen Familien sowie zwischen Schule und Familie fokussiert. <?page no="28"?> 2 Die Schnittmenge von Familie und Schule Familie und Schule gelten zu Recht als zwei bedeutsame Institutionen, an denen Kinder und Jugendliche in institutionalisierte Erziehungs- und Bildungsprak‐ tiken eingebunden sind. Strukturfunktionalistisch lassen sich Schule und Fa‐ milie als die zwei zentralen Funktionssysteme verstehen, denen die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration der nachwachsenden Generation durch Erzie‐ hung und Bildung zukommt, wobei die Annahme vertreten wird, dass sie sich wie Gegenwelten zueinander verhielten (vgl. Parsons 2012; auch Wernet 2003). Tyrell und Vanderstraeten (2007) identifizieren fünf strukturelle Trennungs‐ merkmale von Schule und Familie: So unterscheiden sich diese räumlich, zeit‐ lich, systemreferenziell, personell sowie in der Eigendynamik der Kinder von‐ einander. Diese Bestimmungen weisen beiden Institutionen dabei spezifische, komplementäre Funktionen zu: Schule als öffentlicher Ort formalisierter Bil‐ dungsprozesse, Familie als privater Ort von Erziehung und Fürsorge. Solche differenzstabilisierenden Vorstellungen von Familie oder der Schule verdecken allerdings den Blick auf das ‚Innenleben‘ wie auch auf die unscharfen Grenzen von Institutionen. Denn legte man wie die Strukturtheorie zugrunde, dass Schule die Institution der öffentlichen Bildung sei und Familie der Ort der Für‐ sorge und Reproduktion, dann wird weder die praktische Herstellung sichtbar noch die Schnittmenge der Institutionen. Ginge man in dieser Weise vorab ka‐ tegorisierend vor, so riskierte man, lediglich scheinbar bekannte Zuordnungen von Praktiken der Erziehung und Bildung vermeintlich zur Familie oder Schule zu bedienen. Auch die aktuelle komplementäre Doppelbewegung der ‚Familia‐ lisierung der Schule‘ sowie der ‚Scolarisierung außerschulischer Lebenswelten‘ weist auf die Verschränkung von Erziehungs- und Bildungspraktiken hin. Damit einher geht eine „Transformation der Schule“ (Idel et al. 2013) wie auch eine Transformation der Familie (Honig 2010), sodass die Trennung nicht scharf zu ziehen ist, sondern sich die Institutionen in ständiger Transformation befinden und unscharfe Grenzen haben. Mit neoinstitutionalistischen Theorien (vgl. Meyer und Rowan 1977) oder Ansätzen wie der „institutional ethnography“ (Smith 2006) erscheint es hingegen sinnvoll, eine solche Bestimmung der Insti‐ tution entlang ihrer Praxis (und nicht ihrer Funktion) anhand von „ruling rela‐ tions“ (Smith 2006: 32) vorzunehmen. An diese Überlegungen anschließend ist davon auszugehen, dass auch die in Praktiken hervorgebrachten sozialen Ordnungen nicht als isolierte Feldlogiken von klar voneinander abgrenzbaren Institutionen angenommen werden können, sondern dass alle Institutionen Schnittmengen bilden. Nadai und Koch sprechen in diesem Zusammenhang von „Zwischenräumen“ (Nadai und Koch 28 Jürgen Budde <?page no="29"?> 2011: 234; auch Heinzel 2003). Diese Zwischenräume lassen sich (auch in einem räumlichen Sinne) als Schnittmengen fassen, die sich unter Bezug auf implizite wie explizite Normvorstellungen und Verhaltenserwartungen beider Instituti‐ onen in Erziehungs- und Bildungspraktiken konstituieren. Durch praktische Anlässe vermitteln sich Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der Schule an die Familien und anders herum Bildungs- und Erziehungserwartungen der Fa‐ milien an die Schule und transformieren sich dabei zu je eigenen sozialen Ord‐ nungen der Schnittmenge. Dieses Verhältnis ist nicht linear oder komplementär, vielmehr existiert ein enges Geflecht zwischen beiden Institutionen, welches auch als Koproduktion verstanden werden kann. Die zahlreichen Verschränkungen von Schule und Familie (vgl. Busse und Helsper 2008) werden gegenwärtig beispielsweise unter der normativ aufgela‐ denen Rede von einer ‚Erziehungspartnerschaft‘ beider Institutionen verhan‐ delt. Dabei müsste schon der Begriff der Partnerschaft darauf aufmerksam ma‐ chen, dass weder die formalen Funktionen noch die tatsächliche praktische Trennung eindeutig geregelt sind. So wie Schule ‚immer auch‘ erzieht, so bilden Familien ‚immer auch‘ ihre Kinder. Bennewitz und Wegner (2015) beispielsweise weisen in einer explorativen ethnografischen Studie zu Lernentwicklungsge‐ sprächen mit Lehrpersonen, Eltern und Kindern darauf hin, dass die Verant‐ wortung für das Scheitern jeweils der anderen Institution zugesprochen wird. Dabei sind die Schwierigkeiten schon in der Konzeption der Gespräche (als ‚gleichberechtigter Dialog‘) angelegt und können nicht auf mangelnde Ge‐ sprächskompetenzen der Lehrperson oder der Eltern zurückgeführt werden. Heinzel (2003: 107) wiederum zeigt, dass einige Eltern Vorbehalte gegenüber der Thematisierung familialer Bildungs- und Erziehungspraktiken in institution‐ ellen ‚Zwischenräumen‘ wie etwa dem Morgenkreis haben. Das Verhältnis von Schule und Familie gerät so als „Frage der Relationierung“ (Wernet 2003: 76 f.) und der Koproduktion der Schnittmenge beider Institutionen zueinander in den Blick. 3 Bildungsungleichheiten zwischen Familie und Schule Bekanntermaßen weist Bourdieu zur Klärung der Frage nach der Produktion von Bildungsungleichheit darauf hin, dass kulturelles Kapital durch die Eltern an Kinder weitergegeben wird und sich so der familiale Bildungshabitus wei‐ tervererbt (vgl. Bourdieu und Passeron 1971). Schon Bernstein (1990) zeigt auf, wie die Schule durch ihren privilegierten Diskurs jene milieubedingten Un‐ gleichheiten reproduziert, die sie eigentlich aufzuheben versucht. Maaz und an‐ dere lokalisieren Bildungsungleichheiten in familiar verbürgten „differenziellen 29 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="30"?> Lern- und Entwicklungsmilieus“ (Maaz et al. 2010), die den Kindern und Ju‐ gendlichen je nach sozialer Position der Familie unterschiedliche Bildungsres‐ sourcen bereitstellen können und unterschiedliche Bildungsentscheidungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Kalkülen treffen. Aus einer ungleichhheits‐ interessierten Perspektive sind somit die Zusammenhänge zwischen Familien und Schule von hohem Interesse. Allerdings führt eine statische Gegenüber‐ stellung beider Institutionen dazu, erstens die Differenzen überzubetonen und zweitens ihre jeweiligen Funktionen und deren Unterschiedlichkeit bereits ebenso vorab kategorial zu bestimmen. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien durchgeführt worden, die auf Seiten der Schule die Reproduktion von Bildungsungleichheit entlang sozialer Differenzkategorien (wie Geschlecht, Milieu oder Migrationshintergrund) in den Blick nehmen und die über relativ starre Reproduktionstheorien hinaus‐ weisen (vgl. Beiträge in Bräu und Schlickum 2015; Koller et al. 2014; Budde 2013b). Die Reproduktion von Bildungsungleichheit entlang von Migrations‐ hintergrund (vgl. z. B. Gomolla und Radtke 2007) oder Geschlecht (vgl. z. B. Budde et al. 2008; auch die Beiträge in Krüger 2011) ist breit nachgewiesen. Weiter orientieren sich schulische Leistungsordnungen insbesondere an bür‐ gerlichen Vorstellungen und sind deswegen Schüler/ innen aus unterprivile‐ gierten Milieus oftmals weniger zugänglich (vgl. z. B. Gellert 2013). Ebenfalls sind stereotype und ungleichheitsverschärfende Orientierungen bei Lehrper‐ sonen (vgl. z. B. Sturm 2015) sowie die Produktion von Differenzen im Unterricht dokumentiert (vgl. z. B. Budde 2013a). Heterogenitätsorientierte Transformati‐ onen der Schule in Richtung Offenen Unterrichts (vgl. z. B. Breidenstein und Rademacher 2016) oder etwa Inklusion (vgl. z. B. Häcker und Walm 2015) scheinen (trotz der damit verknüpften Hoffnungen auf Abbau von Ungleichheit) daran wenig ändern zu können. Die Rede über den Wandel vom ‚katholischen Arbeitermädchen vom Lande‘ zum ‚Jungen mit (türkischem) Migrationshinter‐ grund aus der Großstadt‘ belegt zusätzlich, dass soziale Differenzkategorien miteinander verschränkt sind (vgl. Geißler 2005), wie Studien zur intersektio‐ nalen Verschränkung unterschiedlicher Differenzkategorien zeigen (vgl. Riegel 2016), die beispielsweise Verwobenheiten von Geschlecht und Migrationshin‐ tergrund (vgl. Weber 2009) oder Behinderung und Ethnizität (vgl. Powell und Wagner 2014) bzw. Leistung (vgl. Dederich 2015) herausarbeiten. Soziale Diffe‐ renzkategorien lassen sich als machtförmige soziale Konstruktionsprozesse ver‐ stehen, in denen sich (je nach Kontext unterschiedliche) Hierarchisierungen ausdrücken, die zu Bildungsungleichheit kulminieren (vgl. Budde 2012b). In manchen Studien wiederholt sich jedoch das Problem der deduktiven Setzung von Differenzkategorien, wie es oben bereits für die stabile Zuschreibung je 30 Jürgen Budde <?page no="31"?> spezifischer Funktionen zu Bildungsinstitutionen problematisiert wurde (vgl. Budde 2012a). Denn legt man soziale Differenzkategorien vorab kategorisierend zugrunde, dann gerät aus dem Blick, dass diese immer ihrer Prozessierung in sozialen Praktiken bedürfen und insofern ‚soziale Konstruktionen‘ sind. Auch auf Seiten der Familien liegen einige Studien vor. Fuchs beispielsweise zeigt, dass „Familienerziehung von Strukturen der sozialen Ungleichheit durch‐ zogen“ (Fuchs 2012: 325) ist. Entsprechend ihres ‚Familienstils‘ - so Müller - halten Familien „in Abhängigkeit von den sozialstrukturellen, kulturellen und biographischen Interdependenzen […] unterschiedliche Bildungspotenziale be‐ reit“ (Müller 2013: 404). In diesem Sinne werden im aktuellen Diskurs insbe‐ sondere unterprivilegierte Familien als ‚Bildungsrisiko‘ betrachtet, da sie nicht ausreichende Bildungsunterstützung zu mobilisieren vermögen. An dieser Stelle setzt eine zentrale Argumentation pro Ganztagsschule an, weil diese die Zeit, die benachteiligte Kinder in ihren (als problematisch identifizierten) Familien verbringen, reduziert und dieser Tatsache ungleichheitsminimierende Effekte zugeschrieben werden (vgl. Scholz und Reh 2009). Als Problemgruppe tauchen Eltern aber auch in Debatten um überbehütete Kindheiten im Kontext „verant‐ worteter Elternschaft“ (Schneider et al. 2014) auf. Bekannt ist das sogenannte „helicopter-parenting“ (Levine 2006). Hier geraten jene Eltern in den Fokus, die ihre Kinder in besonders intensiver Weise begleiten und sich auf diese Weise mit ihren familialen Erziehungs- und Bildungspraktiken weit in schulische Be‐ lange einmischen und dadurch die Ordnungsbildung in der Schnittmenge maß‐ geblich prägen. Während der Diskurs um ‚Problemeltern‘ vor allem unterpri‐ vilegierte Milieus in den Blick nimmt, werden ‚Helikoptereltern‘ insbesondere in privilegierten Milieus identifiziert (Betz et al. 2017). Zum Abbau von Bildungsungleichheit wird oftmals eine ‚gelingende Koope‐ ration‘ von Schulen und Familien ‚auf Augenhöhe‘ eingefordert (vgl. Coleman 1998; Böllert 2008; Fürstenau und Hawighorst 2008; Frank und Sliwka 2016; Melzer 1997; kritisch: Bischoff und Betz 2015). Voraussetzung dafür sei eine re‐ flexive Anerkennungshaltung und eine gelingende Kommunikation (vgl. Fürst‐ enau und Hawighorst 2008). Im Gegensatz zu diesen affirmativen Appellen weisen rekonstruktive Studien allerdings auf Grenzen hin. Bereits die Studie von Willis (1979) zeigt das Zusammentreffen familialer und schulischer Bil‐ dungspraktiken, die in (Selbst)Exklusionsprozesse von Arbeiterjugendlichen münden, und belegt so die Koproduktion von Bildungsungleichheit entlang der Kategorie Milieu. Betz und Kayser (Betz und Kayser 2015) zeigen in einer ex‐ plorativen Interviewstudie, dass Vorstellungen von einem ‚guten Verhältnis‘ milieuspezifisch unterschiedlich konturiert sind. Während Eltern aus privile‐ gierten Milieus emotionale Qualitäten im Kooperationsverhältnis betonen, 31 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="32"?> legen Eltern aus unterprivilegierten Milieus Wert auf die Funktionalität von Schule. Daraus leiten die Autorinnen milieuspezifische Ungleichheitseffekte ab. Auch Buchna und andere (Buchna et al. 2015) verweisen auf milieuspezifische Differenzen, nach denen in Schulen mit privilegierter Schülerschaft die Eltern als engagiert gelten und partnerschaftliche Erziehungsvorstellungen domi‐ nierten, während sich Schulen mit unterprivilegierter Schüler/ innenschaft als Kompensationsangebot für familiale Erziehungsdefizite verstünden und Eltern schulisches Engagement absprächen. Kotthoff spricht hier mit Rückgriff auf Bourdieu von Unterschieden in der „kulturellen Mitspielkompetenz“ (Kotthoff 2012: 290) je nach familialer Kapitalienausstattung und damit zusammenhängender Möglichkeit, die Gespräche im eigenen Sinne (mit) zu gestalten. Dies zeigt sich im Engagement in Schulgremien, welches insbesondere von privile‐ gierten Eltern gezeigt wird (vgl. Melzer 1997) oder etwa bei erzieherischen An‐ geboten zur Kompensation vermeintlicher elterlicher Erziehungsdefizite (Fritz‐ sche et al. 2009). Audehm kann zeigen, wie ein auf ein klassisches Bildungsideal ausgerichteter Erziehungsstil einen „normativen Zusammenhang“ (Audehm 2007: 138) zwischen Familie und Schule herstellt, wobei die Institution Familie hierdurch das Bildungsverständnis in die Schule vermittelt und damit zu einer Koproduktion von Milieu bzw. Ungleichheit beiträgt. Helsper und andere (2009) analysieren die Relation von Schule und Familie anhand von Passungsverhältnissen zwischen dem Habitus von Schüler/ innen und der Einzelschulkultur im Übergang von der Grundschule in die Sekundar‐ stufe I und zeigen die Reproduktionen von Bildungsungleichheit auf. Darüber hinaus lassen sich ‚erwartungswidrige‘ Übergänge dokumentieren, in denen es aufgrund des Potenzials der Selbstaktivierung der Schüler/ innen sowie spezifi‐ scher schulkultureller Ausprägungen zu günstigeren bzw. ungünstigeren Bil‐ dungsverläufen kommt. In den Anerkennungskämpfen der schulischen Akteur/ innen, so die Autoren, ergeben sich dominante Sinnordnungen, in denen jeweils exzellente, anerkannte, marginalisierte und tabuisierte kulturelle Entwürfe und Praktiken enthalten sind. Einzelschulen bilden auf diese Weise jeweils spezifi‐ sche Milieu-Anknüpfungen und -abstoßungen aus und fordern damit einen schulkulturell differierenden sekundären schulischen Habitus ab, der als „schul‐ kultureller Sinnentwurf des idealen Schülers“ (Kramer und Helsper 2010) deut‐ lich wird. Aus praxistheoretischer sowie intersektionaler Perspektive rekonstruieren Budde und Rißler Prozesse der Ausgrenzung aus schulischen Bildungs- und Er‐ ziehungspraktiken im Laufe des 5. Schuljahres anhand von Fallvignetten. Sie zeigen, dass soziale Differenzkategorien wie Geschlecht, Milieu oder Migrati‐ onshintergrund „an Konzepte von Familie bei den Lehrkräften an[schließen]“ 32 Jürgen Budde <?page no="33"?> (Budde und Rißler 2016: 194), diese aber als individuelle ‚Eigenschaften‘ der Schüler/ innen und ihrer Familien ontologisiert werden. Die Familienvorstel‐ lungen von Lehrpersonen wirken „wie ein Transmissionsriemen, der die schu‐ lischen Wissens- und Verhaltensordnungen an makrostrukturelle Kategorien sozialer Ungleichheit bindet“ (ebd.). Budde und Geßner (2016) zeigen am Beispiel Hausaufgabenkontrolle schulformspezifisch divergente Erziehungs- und Bil‐ dungspraktiken, in denen Bezugnahmen auf Familien eingelassen sind, die dif‐ ferenzproduzierend wirken und dadurch Ungleichheit verschärfen können. 4 (Praxis)Theoretische Fundierung des ‚Dazwischen‘ In vielen vorliegenden Arbeiten wird der Blick auf die einzelne Familie in ihrer ‚Passung‘ zur Schule gerichtet und Differenz entlang stabiler Vorstellungen von institutionellen Funktionen und sozialer Differenzkategorien betrachtet. Hin‐ gegen wäre eine Methodologie zu verfolgen, die stärker die Relationen in der Schnittmenge in den Blick zu nehmen in der Lage ist. Aus diesem Grund ist eine praxistheoretische Perspektive zu begründen, die davon ausgeht, dass das in der Schnittmenge von Schule und Familie konstituierte ‚Dazwischen‘ nicht ‚jenseits‘ der Institutionen liegt, sondern die Fokussierung der Verschränkung von Erzie‐ hungs- und Bildungspraktiken sinnvoll erschient. Aus einer praxistheoretischen Perspektive resultiert mithin die Aufgabe, pädagogische Praktiken und die in ihnen prozessierten Differenzen in der sozialen Praxis selber nachzuzeichnen. Schnittmengen des Dazwischen sind dabei zu verstehen als jene (institutiona‐ lisierten) Orte, in denen bspw. an der Grenze des Schulischen familiale Praktiken aufgerufen, eingefordert und integriert werden; es sind aber ebenso auch Orte, in denen Familien Bemühungen zur Übersetzung schulischer Praktiken unter‐ nehmen. Für die praxistheoretische Fundierung bieten Schatzkis Überlegungen ein systematisches Angebot (vgl. Abb. 1). Mit dem Label Praxistheorie wird ge‐ meinhin ein ganzes Bündel aus Theorien und Forschungsrichtungen gekenn‐ zeichnet (vgl. aktuell z. B. Reckwitz 2003; Schäfer 2016; Schmidt 2012; Alkemeyer et al. 2015). Sie verweisen in der Summe darauf, dass das Soziale weder voll‐ ständig auf rationalen und expliziten wissensbasierten Handlungen beruht noch kontingent ist, sondern auf „tacit knowledge“, einem know-how beruht, wie es bei Polanyi (1962) heißt. Zu diesem Theorienbündel zählen beispielsweise die Ethnomethodologie von Garfinkel (1984), die Theorie sozialer Praktiken von Bourdieu (1980), aber auch die linguistische Pragmatik nach Austin (1994), die auf Zusammenhänge von Sprache und Handlungen hinweist. So vielfältig die Gemengelage auch sein mag, sämtliche Ansätze sind sich darin einig, dass dem 33 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="34"?> Sozialen weder ausschließlich rationales Bewusstsein noch primär personen- und situationsunabhängige Strukturen zugrunde liegen. Der „Homo Practicus“ (Nicolini 2012, S. 4) ist weder ein rein vernunftnoch ein ausschließlich struk‐ turgesteuertes, und damit der sozialen und materiellen Welt enthobenes, son‐ dern ein in Praktiken verstricktes Wesen. Übereinstimmend stellen Praxistheo‐ rien dabei Praktiken als „‚Ort‘ des Sozialen“ (Reckwitz 2003: 289) dar und fokussieren - anders als etwa dokumentarische Methode oder Objektive Her‐ meneutik - nicht primär auf Sprache, sondern auf den Vollzug von Aktivitäten. Schatzki baut seine Theorie zum einen auf den Kernbegriff der Praktiken auf. Eine Praktik lässt sich als ein „open, temporally unfolded nexus of doings and sayings“ (Schatzki 2012: 14), als „organized manifold of doings and sayings“ (ders. 2009: 39) verstehen. Praktiken sind somit zeitlich gebunden, sie bilden sich aus zusammenhängenden Sprech- und Handlungsakten, die Schatzki (2010) als „activities“ versteht. Damit sind Aktivitäten als die eigentlichen Oberflächen‐ phänomene zu verstehen, von denen z. B. Breidenstein (2002: 19) spricht. Erst der Nexus von Aktivitäten macht eine Praktik zu einer Praktik, die in der Wie‐ derholung ebendieser Aktivitäten gründet (Budde 2015). Der Zusammenhang ruht auf vier sogenannten Organisationselementen auf (vgl. Schatzki 2013: 70). Diese Organisationselemente sind a) praktische Verständnisse als Konglomerat aus Ausführungs-, Erkennens-, Reaktionsfähigkeiten und -fertigkeiten, b) ex‐ plizite Regeln, also Richtlinien, Grundsätze, Prinzipien, Gebote, Daumenregeln und Anleitungen, die Partizipand/ innen dazu anhalten sollen, etwas Spezifi‐ sches zu tun, c) eine teleo-affektive Struktur, die als eine Art emotionale ‚Be‐ setzung‘ verstanden werden kann und ein Sortiment hierarchisch geordneter Ziele, Projekte und Aufgaben umfasst, sowie d) generelle Verständnisse als ab‐ strakter Sinn für den Wert, Nutzen und das Wesen von Dingen. Sie verleihen der Praktik eine spezifische Form der Gerichtetheit und eine Ordnung, also einen normativen Horizont des akzeptierten und richtigen Vollzugs, der weitgehend implizit bleibt (Bittner und Budde 2018). Diese Gerichtetheit entfaltet subjekti‐ vierende Effekte, indem sich die Akteur/ innen im Sinne der Organisationsele‐ mente immer nur als Bestimmte (wenngleich nicht vorab definierte, sondern handlungsmächtige) positionieren und positioniert werden. Dahinter steht die Annahme, dass Praktiken nicht nur von Akteur/ innen vollzogen werden, son‐ dern sie anders herum Subjektfigurationen auch erst hervorbringen und in diesem Sinne als Subjektivierung verstanden werden können. Subjektivie‐ rungen im Sinne „vollzugsleiblich fundierte[r] Selbstbildung“ (Alkemeyer et al. 2015: 41) umfassen die ebenso notwendigen wie unentrinnbaren Verstrickungen der Akteur/ innen in Praktiken. Diese praxistheoretische Perspektive betrachtet die Subjekte als „in allen ihren Merkmalen Produkte historisch und kulturell 34 Jürgen Budde <?page no="35"?> spezifischer Praktiken. […] Ein Subjekt ist […] die Sequenz von Akten, in denen es an seiner Alltags- und Lebenszeit an sozialen Praktiken partizipiert“ (Reck‐ witz 2008: 125). In diesem Sinne rückt das Prozesshafte, Unvollendete des Sub‐ jekts und die soziale Relationierung in den Blick. Damit sind Subjekte kein sta‐ biles Phänomen, sondern müssen „unter den Bedingungen der Situativität und Kontingenz der Praxis immer wieder aufs Neue performativ vollzogen und be‐ glaubigt werden“ (Alkemeyer 2011: 61). „Praktiken und Subjekte konstituieren sich […] gegenseitig und verändern somit auch gemeinsam ihre Gestalt“ (Al‐ kemeyer 2014: 33 f.). Schatzki unterscheidet weiter zwischen „dispersed practices“ (Schatzki 2006) - verstreute Praktiken, die sich zunächst nicht auf eine spezifische soziale Ord‐ nung konzentrieren, sondern als vereinzelte, ‚ungerichtete‘ Praktiken er‐ scheinen - und „integrative practices“ - integrative Praktiken, die auf ein ge‐ meinsames Ziel ausgerichtet sind. Den zweiten Kernbegriff bilden materielle Arrangements. Sie können als materielle Figurationen verstanden werden, die auch aus unterscheidbaren Typen physisch-materieller Objekte bestehen, „eine Menge wechselseitig miteinander verbundener materieller Entitäten“ (ders. 2016: 69). Analytisch lassen sich hierbei vier Entitäten unterscheiden: mensch‐ liche Wesen (Körper), (nicht-menschliche) Organismen, materielle Artefakte sowie natürliche Dinge (vgl. ders. 2002). Abb. 1: Praxistheoretische Fundierung nach Schatzki (eigene Darstellung) 35 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="36"?> Auf Grund wechselseitiger Verflechtungen von Praktiken und materiellen Ar‐ rangements spricht Schatzki von „practice-arrangement bundles“ (ders. 2012: 21). In den gegenseitigen koproduktiven Übersetzungen in der Schnittmenge zwischen Familie und Schule bündeln sich dispersed practices zu integrative practices und bilden - wiederum in Relation zu den beiden Institutionen - eigene soziale (Sub)Ordnungen aus (vgl. Abb. 2). Diese sozialen Ordnungen können mit Schatzki als „the basic disposition of a domain of entities the way that things hang together“ (2002: 1) verstanden werden und bilden Institutionen als Resultat überdauernder Praktiken heraus. Damit werden hierarchisierende Ebenenmo‐ delle (wie etwa die Unterscheidung zwischen Mikro und Makro) zurückge‐ wiesen. Stattdessen wird im Anschluss an Schatzki eine „flache Ontologie“ ver‐ folgt, die davon ausgeht, „dass sich das, was ein gegebenes Phänomen ausmacht, auf einer einzigen Realitätsebene erstreckt“ (ders. 2016: 30) und es sich bei Schule und Familien um Konstellationen mit „größerer oder kleinerer raum-zeitlicher Ausdehnung“ (ders. 2016: 38) handelt. Greift man die Vorstellung auf, dass „a bundle […] a set of linked practices and arrangements“ darstellt, während „a constellation is a set of linked bundles“ (Schatzki 2011: 8), dann kann Schule wie Familie auch als Konstellation - von miteinander wechselseitig in Beziehung stehenden Praktiken-Arrangement-Bündeln - verstanden werden (vgl. Schatzki 2005). Praktiken-Arrangement-Bündel bilden somit über wechselseitig zuei‐ nander relationierte Verbindungen Konstellationen. Ein Blick auf Schule und Familie als Konstellation fasst diese dann als komplexe Verflechtungen von mit materiellen Arrangements verknüpften Erziehungs- und Bildungspraktiken. 36 Jürgen Budde <?page no="37"?> Abb. 2: Praxistheoretische Konzeption der Schnittmenge von Schule und Familie (eigene Darstellung) 5 Institutionalisierte Praktiken der Differenz Im Folgenden werden anhand von Daten aus zwei ethnographischen For‐ schungsprojekten (Hammersley und Atkinson 1997; Troman et al. 2005) exemp‐ larisch die in der Schnittmenge von Schule und Familien prozessierten Diffe‐ renzen in Verbindung zu Ordnungen der Bildungsungleichheit gesetzt, indem die institutionalisierten Erziehungs- und Bildungspraktiken relationiert werden. Die Datenauswertung beider Projekte orientiert sich mit einem ko‐ dierenden, sequenzanalytischen und kontrastierenden Vorgehen an der Grounded Theory (Glaser und Strauss 2008). Die Verknüpfung beider Projekte zur Ausleuchtung der Schnittmenge von Familie und Schule hat explorativen Charakter. 37 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="38"?> 1 Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des BMBF (Förder‐ kennzeichen 01JC1108) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffent‐ lichung liegt beim Autor. Das Projekt wurde von 2012 bis 2015 unter der Leitung von Prof. Dr. Budde durchgeführt. 5. 1 Die Perspektive der Schule Das Forschungsprojekt UHU (Unterricht-Heterogenität-Ungleichheit) 1 fokus‐ siert auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit auf der Ebene der Unter‐ richtspraktiken und der Einstellungen von Lehrkräften in der Sekundarstufe I. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass in den Konstruktionsmechanismen von Heterogenität im Unterricht zentrale Ansatzpunkte für die Tradierung sozialer Ungleichheit zu suchen sind. In drei vierwöchigen Feldphasen wurden drei kontrastierende Schulen in den Blick genommen. Ausgewählt wurden eine re‐ formorientierte ehemalige Gesamtschule mit sozial schlechtgestellter Schüler‐ schaft, ein ‚durchschnittliches‘ Kleinstadtgymnasium sowie eine Sekundar‐ schule mit mittelständiger Schülerschaft und damit in Bezug auf die Heterogenität der Schülerschaft unterschiedliche Schulformen der Sekundar‐ stufe. An jeder Schule wurde jeweils eine 5. Klasse ausgewählt, die in ihrem ersten Jahr an der neuen Schule in den Fächern Deutsch, Mathematik und Klas‐ senrat durch mehrmonatige Feldphasen begleitet wurde. Schwerpunkte lagen auf der Erhebung von Sozialformen, Bewertungssituationen sowie Disziplinar‐ situationen. Die pädagogisch-didaktischen Handlungen der Lehrkräfte wurden durch teilnehmende Beobachtung und Videographie, die Einstellungen mit leit‐ fadengestützten Interviews erhoben. Weiter wurden Gruppendiskussionen mit Schüler/ innen durchgeführt und Artefakte wie Übergangsempfehlungen, Fra‐ gebogen und Steckbriefe erhoben. Zur Analyse der Relationierung von Erziehungs- und Bildungspraktiken zwi‐ schen Familien und Schule werden im Folgenden exemplarisch Daten aus der reformorientierten Gesamtschule herangezogen (vgl. dazu auch Budde und Rißler 2016, 2017). Im Mittelpunkt der folgenden Rekonstruktion steht der Schüler Juvan. Aufgrund methodischer und formaler Schwierigkeiten, vermeintlich ‚objektive Daten‘ zu soziokulturellen Hintergründen auf Klassenebene zu generieren, stützt sich die Analyse auf feldimmanente Daten, um diesen Hintergrund von Juvan darzustellen. Anhand der Geburtstagsliste wird deutlich, dass Juvan mit elfein‐ halb Jahren der älteste Schüler in der neu zusammengesetzten fünften Klasse ist. Dies verweist auf eine gebrochene Schulbiographie, die bereits jetzt nicht in der Regelzeit durchlaufen wurde, sondern von Misserfolgs- und Scheiternserfah‐ rungen begleitet scheint. Auch eine schlechte Mathematiknote auf dem Ab‐ 38 Jürgen Budde <?page no="39"?> 2 Das Kürzel gibt Auskunft über Schule, Datum der Erhebung, Unterrichtsfach, Materi‐ alsorte sowie Protokollant/ in. Alle Daten sind anonymisiert. 3 Anhand dieses Protokollauszugs dokumentieren sich eindrücklich die Schwierigkeiten, vermeintlich ‚objektive‘ Daten zum sozioökonomischen Hintergrund auf Schulklas‐ senebene zu generieren, denn die mit dem eingesetzten Fragebogen angestrebte Klas‐ sifikation nach Berufen (und daraus abgeleitet nach Gehalt und Prestige) scheitern an Juvans Unkenntnis der Berufstätigkeit seiner Eltern. Auch der Schule liegen solche Daten (nachvollziehbarer Weise) in gesammelter Form nicht vor, sondern höchstens als praktisches Erfahrungswissen von Lehrpersonen. Elternbefragungen zu Berufsgruppe und Einkommen wiederum scheitern oftmals an datenschutzrechtlichen Einwänden sowie (ebenso nachvollziehbarer Weise) eingeschränkter Auskunftsbereitschaft von Eltern. schlusszeugnis der Grundschule, die eine Lehrerin im Interview erwähnt, deutet in die gleiche Richtung. In Bezug auf die Bildungsorientierungen der Eltern liegen keine Informationen vor; auf eine ungünstige Passung zwischen Schule und El‐ ternhaus kann allerdings die Tatsache hindeuten, dass Juvans Eltern - wie auch drei andere Elternpaare - nicht am ersten Elternabend zu Beginn des Schuljahres teilnehmen. Das ökonomische Kapital lässt sich ansatzweise aus Juvans Angaben zum Familienhintergrund in einem - vom Forschungsteam erbetenen - Steck‐ brief rekonstruieren. Bei der Bearbeitung des Steckbriefs äußert sich Juvan münd‐ lich zu der Berufstätigkeit seiner Eltern: „Die Lehrerin wendet sich Juvan zu […]. Er blickt sie an und sagt etwas zum Beruf seiner Mutter. Er wisse nicht so genau, was sie mache, sie arbeitet aber auf jeden Fall im Krankenhaus. Die Lehrerin fragt nach: ‚Ist sie Krankenschwester oder Altenpfle‐ gerin? ‘ Juvan zuckt mit den Schultern. Schließlich fordert sie ihn dazu auf, einfach ‚sie arbeitet im Krankenhaus‘ aufzuschreiben.“ (S120906DPG 2 ) Die Aufgabe, den Beruf der Eltern anzugeben, führt zuerst für Juvan und an‐ schließend für die Lehrerin in eine problematische Situation, da Juvan über keine Informationen über den Beruf der Mutter verfügt; die Lehrerin legt ihm die Antworten Krankenschwester oder Altenpflegerin nahe. 3 Statushöhere Berufe (wie Ärztin) werden damit ebenso wenig vermutet wie statusniedrigere (Reini‐ gungskraft). Die Uninformiertheit, die Juvan zeigt, verunmöglicht allerdings eine präzise Angabe. Anstelle von Aussagen zur sozialen Stellung oder zum Tätigkeitsbereich der Mutter kann Juvan lediglich räumliche Angaben machen („im Krankenhaus“). Auch im späteren Gespräch mit einem Ethnographen wie‐ derholt sich diese Aussage, indem Juvan meint: „Mein Vater bringt am Flughafen verlorene Koffer zurück, meine Mutter arbeitet im Krankenhaus“. Damit kann für Juvan eine unterdurchschnittliche Ausstattung mit kulturellem und ökono‐ mischem Kapital vermutet werden. Andererseits gibt Juvan für beide Eltern eine 39 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="40"?> 4 Das Quartier, in dem Juvan wohnt, spiegelt diese soziale Stellung wider. Es gibt einen überproportionalen Anteil an Personen ohne deutschen Pass (37%) sowie einen ver‐ gleichsweise überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenanteil (15%). Berufstätigkeit an. Weiter äußert Juvan, dass er vier Geschwister hat, so dass die nicht üppig zu vermutenden ökonomischen Ressourcen also unter insgesamt sieben Personen im Haushalt verteilt werden müssen. 4 Für die Analyse des Verhältnisses der Schule zur Familie von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass die Lehrkräfte bereits früh über Informationen zu Juvans kulturkapitalschwachem Elternhaus verfügen, der Blick auf Probleme bei der Erfüllung der schulischen Verhaltensordnung diese aber zu überlagern scheint. Bereits im ersten Monat, in dem die Klasse zusammengesetzt wurde, markiert Juvan im Unterricht Grenzen der elterlichen Unterstützungsleistung. „Es ist laut, die Lehrerin wiederholt, dass die Hausaufgabe ein Arbeitsblatt ist. Sie sagt, dass die Schüler ‚es versuchen sollen,‘ sonst sollen die Eltern helfen. Gürkan murmelt etwas, was ich nicht verstehen kann. Juvan ruft: ‚Ey meine Mutter checkt das voll nicht.‘ Die Lehrerin ermahnt Juvan, nicht dazwischenzurufen und fordert ihn auf, sich ‚richtig hin[zu]setzen.‘“ (S120907MPJ) Wie häufig berichtet das Protokoll von Störungen des Unterrichts und einem hohen Lautstärkepegel. Die Lehrerin beauftragt die Schüler/ innen, die Eltern um Unterstützung bei den Hausaufgaben anzufragen. Damit werden familiale Ressourcen für Bildungserfolge mobilisiert. Während Gürkans Reaktion unklar bleibt, macht Juvan öffentlich, dass seine Mutter diese Unterstützungsleistung nicht erbringen könne. Der Satz „meine Mutter checkt das voll nicht“ offenbart, dass eine Aufgabe, die die Lehrerin der familialen Bearbeitung anheimgibt, von Juvan alleine gelöst werden muss, und markiert damit im Kern eine Ungleich‐ heit. Seine Mutter sei aufgrund von Bildungsdefiziten („sie checkt das nicht“) nicht in der Lage, die von der Lehrerin erwartete Unterstützung zu geben. Al‐ lerdings führt dieses Wissen für die Lehrerin weder zu einer Modifikation der Aufgabenstellung noch zu einer individuellen Reaktion auf Juvans Statement, sondern zu einer Disziplinierung. Die der schulischen Verhaltensordnung nicht entsprechende, weil dazwischengerufene Markierung mangelnder familialer Unterstützung tritt gegenüber dem Regelübertritt (Reinrufen) in den Hinter‐ grund. Für die Lehrkräfte liegt der Verhaltensaspekt ‚oben auf ‘, die Lernschwie‐ rigkeiten werden durch diese selbstläufigen Praktiken der Disziplinierung un‐ kenntlich gemacht und (durch die eingeforderte, aber nicht erbringbare familiale Unterstützung) individualisiert. In einem Interview später im Schuljahr äußert die Mathematiklehrerin, die gleichzeitig Klassenlehrerin ist, Folgendes: 40 Jürgen Budde <?page no="41"?> „Die mutter sagt immer so [verstellte Stimme] ‚sein guter junge‘ (unv.) ‚gut in schule‘ und so wo wir denken ja sag doch mal […] und Juvan läuft über den schulhof und grüßt sich mit den ganzen achtklässlern was auf der einen seite natürlich ganz nett ist aber es sind halt nicht die netten vernünftigen achtklässler sondern es sind die wo du denkst bitte mach irgendeinen schulabschluss und dann verlass diese schule […] Juvan wird (.) fürchte ich so=n so=n türkischer riesenmacho werden (.))“ Die Lehrerin gibt an, dass die Mutter ein positives Bild von ihrem Sohn habe, da diese von der Leistung ihres Sohnes überzeugt scheint. Mit der von ihr wahr‐ genommenen Realität stimme dies allerdings nicht überein. Zur Untermalung spricht die Lehrerin in gebrochenem Deutsch mit dem Interviewer. Sie imitiert so die Sprechweise der Mutter („sein guter Junge“, „gut in Schule“) und rekurriert so auf stereotype Kulturalisierungen, die ihre Steigerung dann in dem Begriff „Riesenmacho“ finden. Auch die Sorge, dass Juvan sich ‚falsche Freunde‘ sucht, nämlich „nicht die netten vernünftigen Achtklässler“, zeugt von einem ungüns‐ tigen Bild. Durch den Verweis auf die falschen Freunde, die am besten bald die Schule verlassen mögen, wird auch Juvan mit dem Kreis derjenigen definiert, die nicht zur Schule passen, sondern „wo du denkst […] bitte verlass diese schule“. Damit ergibt sich eine irritierende Relationierung der Schnittmenge von Familie und Schule, in der Juvans Markierung fachlicher Defizite in der Familie keine Rolle spielen, gleichwohl der innerfamiliäre Migrationshintergrund als Erklärung für ein als problematisch wahrgenommenes Verhalten herangezogen wird. Die Praktiken der Schnittmenge sind von einer ‚Nicht-Passung‘ oder auch einer Art Leerstelle gekennzeichnet, in der einerseits Juvan keine Berücksich‐ tigung seiner fehlenden familiären Unterstützungsressourcen findet und ande‐ rerseits die Lehrerin den Schulausstieg als Option in den Horizont nimmt. Schule und Familie können in diesem Beispiel nicht aneinander anschließen. 5. 2 Die Perspektive der Familie Die seitens der Schule in der Schnittmenge relationierten Erziehungs- und Bil‐ dungspraktiken finden in den Familien eine starke Analogie. Um die Perspektive von Familien zu analysieren, fragt das explorative Pilotprojekt UFaS (Ungleich‐ heit in der Schnittmenge von Familie und Schule) nach den familialen Bildungs- und Erziehungspraktiken mit Bezug auf Schule. Dahinter steht die Annahme, dass in diesen Praktiken sowohl institutionelle als auch soziale Differenzen re‐ lationiert werden und damit Anschlüsse an Bildungsungleichheiten herzu‐ stellen sind. Familien wie Schule werden im Sinne Schatzkis als Konstellationen, als übergeordnete Praktiken-Arrangement-Bündel verstanden. Im explorativen Pilotprojekt UFaS wurden im Jahr 2016 in mehreren Familien mit Grundschul‐ kindern Besuche über einen Zeitraum von sieben Monaten durchgeführt. Zu 41 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="42"?> 5 Während sich der ethnographische Zugang zu dieser akademisch-bildungsbürgerlichen Familie problemlos gestaltete, stellten sich in Bezug auf sozial benachteiligte Milieus größere Schwierigkeiten. Beginn fanden regelmäßige wöchentliche Besuche in der Familie nachmittags sowie in den frühen Abendstunden vor und während des Abendessens statt, später wurden diese in weiteren Abständen realisiert und die Kinder auch in die Grundschule begleitet. Familie Iversen wohnt in einer Eigenheimsiedlung in einem Vorort, beide Eltern haben einen akademischen Hintergrund, wenngleich die Mutter aktuell keiner beruflichen Tätigkeit nachgeht, um die Hauptverant‐ wortung in der Fürsorge für die Familie zu übernehmen. 5 In der UFaS-Studie geht es darum, über teilnehmende Beobachtungen und ethnografische Inter‐ views sowie Aufzeichnungen und Dokumentationen des praktischen und ma‐ terialen familialen Kontextes die Praktiken-Arrangement-Bündel zwischen Fa‐ milie und Schule genauer zu bestimmen. Das folgende Foto stellt den Wochenplan der Familie Iversen dar und erinnert in seiner materiellen Gestalt an einen schulischen Stundenplan (vgl. Abb. 3). Tage sind benannt, Felder erstellt und Inhalte beschrieben. Allerdings folgt die Aufteilung der Zeilen hier keinem Zeitrhythmus von Schulstunden, sondern einer Personenzuordnung, in der für jeden Tag für jedes Familienmitglied spe‐ zifische Aufgaben notiert sind. Abb. 3: Aufgabenplan der Familie Iversen 42 Jürgen Budde <?page no="43"?> Damit werden hier spezifische Erziehungs- und Bildungspraktiken der Familie Iversen deutlich. So dokumentiert sich eine paritätische Familienorganisation, in der Kinder wie Erwachsene in die Pflicht genommen werden und eine ge‐ meinsame - je nach Alter und Geschlecht bzw. Präsenz im Haus jedoch auch differente - Verantwortungsgemeinschaft ausbilden. Weiter zeigt sich eine Fort‐ setzung schulischer Schreibübungen im familiären Umfeld, da die Tabelle von einem Kind ausgefüllt und nicht beispielsweise am Computer erstellt wurde. Sichtbar wird bereits in diesem materiellen Artefakt, dass schulische Organisa‐ tions- und Darstellungsformen eine Schnittmenge mit der Familie bilden. Damit lässt sich dieser Arbeitsplan als eine Übersetzung von schulischen Praktiken in familiale Praktiken beschreiben. Aber auch in den Aktivitäten der Familie Iversen formen sich Erziehungs- und Bildungspraktiken in Relation zur Schule. Das folgende Protokoll handelt von der Einübung eines Referates, welches von Ivy, der 9-jährigen Tochter der Familie Iversen gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen Romy und Lynn geprobt wird. Alle Mädchen besuchen die gleiche Grundschulklasse. Außerdem sind die Geschwister Ian (7 Jahre) sowie Issy und Isaac anwesend, die beide den Kinder‐ garten besuchen. Ebenfalls anwesend ist Irene, die Mutter von Ivy, sowie Renate, die Mutter von Romy, die mit Irene gut befreundet ist. Wir befinden uns alle im geräumigen Ess-/ Wohnzimmer. Ivy, Lynn und Romy wollen ein Referat über Blauwale üben. Irene schlägt vor, man solle das Sofa doch so hinrü‐ cken, dass es ein Publikum gibt. Irene und Renate sitzen auf dem Sofa, Isaac und Issy haben am Rand des Sofas Platz gefunden und löffeln Kakao. Die drei Mädchen stehen neben dem Fernseher am Fenster und beginnen das Referat. Für den Vortrag haben Romy, Lynn und Ivy einzelne Abschnitte auswendig gelernt - das müssen sie, um den Vortrag frei zu sprechen, erklären Ivy und Lynn später. Zwischendurch zeigen sie auf ein imaginiertes Plakat. Das Plakat zum Referat durften sie nicht mit nach Hause nehmen, da es eine Schularbeit und eben keine Hausarbeit ist. Außerdem habe die Lehrerin Angst, dass es kaputtginge, was ja quatsch sei, so Ivy. Die Mädchen sind sehr konzentriert und lassen sich auch nicht aus dem Konzept bringen, als Isaac beinahe den Kakaobecher umwirft und wenig später sein Schnuller vor Lynns Füßen landet. Als sie fertig sind, lobt Irene, dass sie das gut gemacht hätten. Renate fragt nach dem Stundenablauf und bewertet es als positiv, dass sie mit ihrer Präsentation als vierte oder fünfte dran sind. Irene legt die Hand auf Renates Schenkel und meint, dass es aber auch „gut“ sein könne, als erstes gefragt zu sein. Die Situation löst sich langsam auf. Die Kinder verschwinden im oberen Stockwerk des Hauses zum Spielen. Das Protokoll zeigt, dass die drei Mädchen schulische Belange (wie hier das Üben eines Referats zum Thema Blauwale) reibungslos in die gemeinsame familiale 43 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="44"?> Praxis integrieren. Schulische und familiale Erziehungs- und Bildungspraktiken fügen sich bruchlos ineinander und ergänzen sich. Selbst die Tatsache, dass die Lehrerin den Schülerinnen ihr Plakat vorenthält, damit es nicht kaputtgehe, behindert den Ablauf und das geteilte familiale Ereignis nicht. Die beiden Mütter wiederum inszenieren das Referat als Bildungsereignis, indem sie als „Pub‐ likum“ teilhaben, dem Vortrag auf diese Weise besondere Aufmerksamkeit zu‐ kommen lassen und ihn als privilegierte Bildungspraktik herausheben. Die Teil‐ habe an außerschulischer Beschäftigung der Schülerinnen aufgrund unterrichtlicher Erfordernisse (Referate halten) findet nicht ‚einfach nur‘ statt, sondern ist privilegierter Teil der nachmittäglichen Beschäftigung. Verabre‐ dungen zwischen befreundeten Müttern und Schülerinnen werden getroffen, Plätze eingenommen, Sofas gerückt, Geschwister versammelt. Es ist weiter auf‐ fällig, dass auch die anderen Familienmitglieder am Üben ‚beteiligt‘ sind, inso‐ fern Isaac und Issy im Publikum sitzen und dennoch keine schulische Ordnung hervorbringen (der Kakao darf weiter getrunken werden; die Störung durch den Schnuller führt nicht zu einer Disziplinierung). Die ‚coachenden‘ Kommentare der Mütter beziehen sich auf Lob sowie Nachfragen zum geplanten Ablauf und unterstützen damit emotional-motivationale Aspekte. Inhaltliche Hinweise geben beide Mütter nicht, sodass die Bildungspraktiken eher als schulische, die Erziehungspraktiken als familiale Leistung einfließen. Auch die schulischen Leistungsordnungen werden in den Praktiken der Fa‐ milie Iversen thematisch, wie sich zwei Wochen später beim Abendessen zeigt, als die Mutter Irene den Vater über das Referat informiert. Irene erwähnt, dass Ivy für das Referat eine Eins bekommen habe. Andere Schüler/ innen hätten schlechtere Noten erhalten. „Marcel, Sidney, Jeson haben eine Vier be‐ kommen“, sagt Irene. Ivy ergänzt, dass die Schüler nur einen Satz gesagt hätten. Ein Satz war jedoch zu wenig. Marcel hat dann doch noch eine Drei bekommen, weil er das Plakat ganz allein gemacht hat. Eine andere Schülerin hingegen war krank und musste einige Textteile ablesen, sie hat dennoch eine Eins oder Zwei bekommen, weil man ja nichts dafürkann, wenn man krank ist, meint Ivy. Beim Abendessen werden die Benotungen des Referates besprochen, sodass die schulische Leistungsordnung zum organisierenden Element des Familienabend‐ essens wird. In diesem Gespräch wird Kennerschaft deutlich, insofern als Kri‐ terien für Benotungen (Dauer, individuelle Anstrengung, Krankheit) gemeinsam in Bezug auf ihren Gehalt als legitime Erklärungsmuster ausgedeutet werden. Die Tatsache, dass die sehr gute Note von Ivy keine besondere Berücksichtigung findet, deutet darauf hin, dass diese nicht als besondere Leistung, sondern als gewöhnlicher Erwartungshorizont zu verstehen ist. Weiter machen die ebenfalls 44 Jürgen Budde <?page no="45"?> aufgerufenen Leistungen anderer Schüler/ innen deutlich, dass die Ausgestal‐ tung der Schnittmenge im Verhältnis zu anderen Familien und Schüler/ innen erfolgt, von deren schlechter bewerteter Leistung sich die Mitglieder der Familie Iversen kenntnisreich absetzen. Familiale und schulische Praktiken koprodu‐ zieren bei Familie Iversen gemeinsam eine Schnittstelle, in der integrative Bil‐ dungs- und Erziehungspraktiken zueinander bruchlos relationiert werden. Die institutionellen Differenzen zwischen Familie Iversen und der Grundschule er‐ weisen sich als ergänzendes Komplementärverhältnis, soziale Differenzkatego‐ rien kommen nicht zur Verhandlung. Die Relationierung funktioniert allerdings nicht ausschließlich innerhalb der Familie Iversen, sondern erst durch die praktische Teilhabe mehrerer Familien. Die Praktiken des Übens des Referates sowie die Bezüge zur Leistungsordnung konstituieren hier eine Art ‚interfamiliales Dazwischen‘, denn das Üben des Re‐ ferats sowie die differenzielle Leistungseinschätzung sind erst möglich, da ver‐ schiedene Familien in den Blick genommen werden. Koproduktive ‚interfami‐ liale‘ Ausgestaltung des Übens und der Hausaufgaben konnten wiederholt beobachtet werden. Das Telefon klingelt und Renate ist am Telefon. Romy würde gern vorbeikommen, auch weil sie ihren Sachkunde-Hefter in der Schule vergessen habe, den sie zum Lernen bräuchte und deshalb bereits zu Hause geweint hat. Ivy will aber erst noch allein Mathe üben. Es wird vereinbart, dass Romy bald mit den Rollern rüberkommt. Sachkunde könnten sie ja zusammen üben und Romy könne sich die notwendigen Seiten kopieren. Der Protokollausschnitt zeigt, dass die beiden Familien in engem Austausch stehen. Dabei ist Irene bzw. Ivy diejenige, die die notwendigen Ressourcen be‐ reitstellen kann, welche Romy für ihre häuslichen Erziehungs- und Bildungs‐ praktiken benötigt. Es ist mithin nicht die einzelne Familie, deren ‚Passung‘ zur Schule allein schon hinreichend Auskunft über Bildungsungleichheiten zu geben vermag, sondern erst ihre Positionierung innerhalb eines Geflechts un‐ terschiedlicher Familien. Auch hier dokumentiert sich die besondere Nähe der Erziehungs- und Bildungspraktiken der Familie Iversen zu der Grundschule, da die Mutter Irene eine herausgehobene Stellung innerhalb (von Teilen) der El‐ ternschaft innehat. Dies zeigt sich beispielhaft in ihrer Beratungsfunktion ge‐ genüber Renate. Irene erzählt mir, dass es bei Renate in der ersten Zeit mit Romy immer nur um Haus‐ aufgaben ging, da wurden Verabredungen abgesagt, weil das Kind keine Hausauf‐ gaben machen könnte, nicht fertig wurde… Das habe Renate sehr fertig gemacht. Sie habe sich dann mit Irene beraten, die sie ermutigt hat, Romy eine Klasse wiederholen 45 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="46"?> zu lassen. Renate hatte sich reichlich gestresst und befürchtet, dass Romy nicht aufs Gymnasium kommen würde und dann alles vorbei sei. Gerade heute habe Renate nochmal gesagt, dass es eine der besten Entscheidungen gewesen sei, Romy zurück‐ zustellen. Irene schildert im Protokollausschnitt, dass sie die befreundete Mutter Renate in Bezug auf Bildungsverläufe ihrer Tochter beraten und Gelassenheit emp‐ fohlen habe. Irene stellt damit auch eine Beziehung auf Dauer, die bereits seit dem Kindergarten existiert, und generiert sich gegenüber der befreundeten Mutter wie auch der Schule als ‚Expertin‘ für schulische Bildungs- und Erzie‐ hungsvorstellungen. Die Bildungs- und Erziehungspraktiken organisieren sich in der Familie Iversen in ihrem Bezug auf Schule scheinbar mühelos und mit souveräner Leichtigkeit, welches als Orientierung gehobener und bildungsaf‐ finer Milieus identifiziert wird (Kramer und Helsper 2010; Betz et al. 2017). Der Bezug zu anderen Familien dokumentiert sich aber auch über die Rela‐ tionierung zu anderen befreundeten Familien, da Irene (vermittelt über ihre Tochter Ivy) über Informationen aus der Schule verfüge. Irene erläutert, dass Ian eher ruhig ist und wenig erzählt, sie aber von Ivy beim Haus‐ aufgaben-Machen viel erfährt, auch über andere Kinder, sodass manchmal die Eltern anderer Kinder anrufen, um etwas über ihr Kind zu erfahren. Innerhalb der Familien der Mitschüler/ innen von Ivy hat ihre Mutter Irene eine privilegierte Position inne, da sie als Ansprechstelle für andere Eltern fungiert, insbesondere - so erläutert sie an anderer Stelle - um die Lern- und Hausauf‐ gabenprozesse anderer befreundeter Familien durch Erläuterungen zu unter‐ stützen. Irene hat über einzelne Schüler/ innen genauere Kenntnis, auf die andere Familien zurückgreifen. In diesem Sinne relationiert Irene bereits als Person die unterschiedlichen Konstellationen zueinander. Sie ist inmitten eines Netzwerkes aus elterlich-schulischen Kommunikationspraktiken positioniert und verfügt über Wissen, welches sie zur begehrten Informantin macht und Differenzen zu anderen (weniger gut informierten) Eltern prozessiert. Grundlage ist das be‐ sondere Mitteilungsverhältnis zu ihrer Tochter, welches sie auch darüber be‐ gründet, dass Ivy die Hausaufgaben zuhause und unter ihrer Aufsicht erledige, während die meisten anderen Kinder die Aufgaben im Rahmen des offenen Ganztags in der Schule erledigten und so weniger Zeit für familialen Austausch bleibe. Ivy erklärt mir, dass andere Kinder die Hausaufgaben in der Betreuung machen - etwa Romy und Ramona. Ivy sagt jedoch, dass ihre Mama sagt, dass sie noch so viel Zeit hätte, dass sie [Ivy] die Hausaufgaben nicht in der Betreuung machen müsse. Au‐ 46 Jürgen Budde <?page no="47"?> ßerdem müsse man sich für die Hausaufgaben extra anmelden. Ivy erzählt weiter, dass man mit Mama als Deutschlehrerin gut Diktate üben könne, denn da macht sie noch viele Fehler. In Mathe würde Mama manchmal nochmal andere Rechenwege erklären, weshalb das Rechnen gut läuft. Die günstige Positionierung von Irene innerhalb der Schnittmenge resultiert nicht zuletzt aus der Zeit, die sie investieren kann, als auch aus ihrem Vermögen, als ausgebildete Lehrerin die Hausaufgaben zu betreuen. So verweist Ivy selber auch auf diese Ressourcen, familiale Bildungs- und Erziehungspraktiken zu or‐ ganisieren, über welche die Mutter verfügt. Diese Ressourcen sind zwischen den Familien ungleich vorhanden und kommen als Bildungsungleichheit produzie‐ rende Differenzen ins Spiel. Nicht die Milieuzugehörigkeit der Familie Iversen per se, sondern die spezifische Organisation der Erziehungs- und Bildungsprak‐ tiken in Relation zu denen anderer Familien konstituieren die Schnittmenge. 6 Fazit Bildungsungleichheiten sind - so zeigt der Beitrag - Resultat der integrativen Erziehungs-und Bildungspraktiken, welche die Schnittmenge von Schule und Familie ausgestalten. Bildungsungleichheiten sind - so die praxistheoretische Grundannahme des Beitrags - keine aus Makrostrukturen deduktiv ableitbare Kausalität, die durch Gesellschaftsstrukturen präfiguriert wäre, sondern ein praktisches Geschehen inmitten und zwischen jenen Institutionen, in deren Praktiken Kinder und Jugendliche eingebunden sind und in denen sie sich po‐ sitionieren und positioniert werden. Für die Genese von Bildungsungleichheiten sind vergleichende Relationierungen von entscheidender Bedeutung. Diese Re‐ lationierungen haben zwei Bewegungen: Die erste realisiert sich ‚interfamiliar‘ zwischen verschiedenen Familien (s. Abb. 4, Pfeil 1). Im Vergleich unterschied‐ licher Familien zueinander wird Differenz prozessiert, wie sowohl die Relatio‐ nierung der Familien in der Perspektive von Herrn Schmitke als auch in der praktischen Relationierungen der Familie Iversen innerhalb der Elternschaft dokumentieren. Mit den ‚anderen Familien‘ gerät eine Akteurskonstellation in den Blick, die in der Familienforschung bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde (vgl. Beiträge in Jurczyk et al. 2014; Bauer und Wiezorek 2017). Das Be‐ sondere an diesen Differenzen ist, dass sie in Bezug auf Ungleichheiten diffus bleiben und kaum konkretisiert werden. Zwar werden offensichtlich manifeste Unterschiede hervorgebracht und verhandelt, wie die Schilderungen von Prak‐ tiken an der Gesamtschule Aue sowie in der Familie Iversen zeigen. Für die Beurteilung, inwieweit es sich hier um institutionell geronnene Ordnungen der Bildungsungleichheit handelt, benötigt der Vergleich jedoch gleichsam einen 47 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="48"?> ‚außenliegenden‘ Maßstab, an dem die Dimensionierung von Bildungsungleich‐ heit ‚gemessen‘ werden kann und den die Schule darstellt. Abb. 4: Bildungsungleichheiten in der Schnittmenge (eigene Darstellung) Entsprechend wird die zweite Relationierung zwischen den Familienkonstella‐ tionen und der Schule vorgenommen (s. Abb. 4, Pfeil 2). Die spezifische Form der Ausgestaltung der Schnittmenge seitens der Schule deutet darauf hin, dass unterschiedliche Differenzkategorien zur Anwendung kommen und mit unter‐ schiedlichen Bewertungen versehen sind. Während die von Juvan vorgebrachten fehlenden Ressourcen für innerfamiliäre Unterstützungsleistung keine Berücksichtigung erfahren, werden ethnisierende Differenzen zur Markierung einer Nicht-Passung herangezogen. Erwartbar - und in weiteren Studien zu zeigen - wäre, dass sich die praktische Bezugnahme auf Differenz für andere Schüler/ innen (wie etwa die Kinder der Familie Iversen) in anderer Weise zeigen müsste. An dieser Stelle erhält der Vergleich eine explizite Ebene und evoziert in der gleichen Bewegung eine Hierarchisierung. Dadurch manifestieren sich hier in den Praktiken der Differenz Bildungsungleichheiten. Dies kann entweder verdeckter geschehen, indem die Familien durch sprachliche Reihung und ähn‐ liche Themen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies kann aber ebenso deutlich herausgestellt werden, wie bei der Schilderung von Merle durch Herrn Schmitke sichtbar wird. Aber auch Emilia und Sarah gewinnen ihre Kontur als „alles im grünen Bereich“ dadurch, dass dieses bei anderen Familien offensicht‐ lich nicht der Fall ist. Bildungsungleichheiten entstehen dann, wenn die ver‐ gleichende Relationierung mit bewertenden Hierarchisierungen aufgeladen wird, für die die in den Erziehungs- und Bildungspraktiken prozessierten Dif‐ ferenzen zentral sind. Auch für die Relationierung der Familie(n) zur Schule und damit für die Ausgestaltung der Schnittmenge sind also ‚andere‘ Familien von 48 Jürgen Budde <?page no="49"?> entscheidender Bedeutung. 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M.: Syndikat Verl.-Ges. 55 Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien <?page no="57"?> 1 Das Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel „Interaktionen zwischen neu zugewan‐ derten Schüler/ innen und Lehrpersonen im Regelunterricht der Sekundarstufe“ ist ein Teilprojekt des Promotionskollegs Curious (2015-2018) des Freiburg Advanced Center of Education (FACE) zur evidenzbasierten Lehrerbildung. Das Kolleg war Teil einer För‐ derung durch das BMBF im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung.“ Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen in der Unterrichtsinteraktion Ina Kordts 1 Einleitung und Zielsetzung In diesem Beitrag werden einige Unterrichtsinteraktionen aus dem Regelunter‐ richt von zwei Klassen an unterschiedlichen Schulformen vorgestellt, die dem Korpus meines Promotionsprojekts entnommen sind. Im Rahmen dieses Pro‐ jekts 1 beschäftige ich mich damit, wie sich Unterrichtskommunikation gestaltet, wenn eine Klasse durch den Eintritt von neu zugewanderten Schüler/ innen sprachlich heterogener wird. Die Beobachtung des Unterrichts in verschiedenen Fächern erstreckte sich über einen längeren Zeitraum und zeigte, wie an‐ spruchsvoll es ist, Schüler/ innen mit geringen Deutschkenntnissen einzube‐ ziehen. Abseits von meinem primären Forschungsinteresse fiel mir auf, wie Lehrpersonen Schüler/ innen in Plenumsinteraktionen und Kollektivansprachen im Hinblick auf Verhalten und Leistungsvermögen positionieren und dass sich diese Positionierungen bei unterschiedlichen Lehrpersonen an der gleichen Schule zu ähneln schienen. Auch die Selbstpositionierungen der Lehrpersonen sind in diesem Zusammenhang von Interesse, weil diese ihr Verhältnis zu den Schüler/ innen beeinflussen. Ich analysiere im Folgenden vergleichend, wie Lehrpersonen Schüler/ innen in einer neunten Klasse einer Werkrealschule und einer zehnten Klasse an einem privaten Gymnasium interaktiv positionieren. Dabei gehe ich der Frage nach, ob es schulformspezifische Unterschiede im kollektiven Schüler-Sein gibt, sprich, welche kollektive (soziale) Schüleridentität in den untersuchten Klassen <?page no="58"?> konstruiert wird. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass ein/ e Schüler/ in nicht nur auf Basis seiner messbaren bzw. beobachtbaren Leistung auf eine bestimmte Weise angesprochen und typisiert wird. In sprachliche Handlungen sind oft im‐ plizit auch Identitätsattribuierungen eingeschrieben. Wortham (2006) hat bei‐ spielsweise in seiner der linguistischen Anthropologie zuzuordnenden Arbeit gezeigt, wie soziale Identitäten, beispielsweise die des mehr oder weniger „viel‐ versprechenden Schülers“, in der Unterrichtsinteraktion durch entsprechende Positionierungen hervorgebracht werden und sich über einen längeren Zeit‐ raum hinweg verdichten und verfestigen. Während bisherige longitudinale Studien vor allem auf die interaktive Konstruktion der Identitäten individueller Schüler/ innen fokussierten (Wortham 2006; Cekaite 2012; Heller 2012), rücke ich in diesem Beitrag Posi‐ tionierungen der gesamten Klasse als Kollektiv ins Zentrum und zeige, ob und inwiefern solche kollektiven Positionierungen schulformspezifisch variieren. Dafür greife ich auf das methodische Vorgehen der Interaktionalen Soziolin‐ guistik (Kotthoff 1996, 2011; Röhrs 2019) zurück. Sich mit einer gesprächs‐ analytischen Haltung den Unterrichtsabläufen zu nähern, ermöglicht eine fundierte Rekonstruktion konkreter lokaler Interaktionen und der dort sichtbar werdenden Positionierungen. Aus Sicht der Interaktionalen Sozio‐ linguistik werden diese erst dann umfassend verständlich, wenn auch Kon‐ textinformationen herangezogen und so Zusammenhänge zwischen lokalem Situiert-Sein und globaler Einbettung hergestellt werden (Gumperz 1999). Aus diesem Grund werde ich in der Diskussion der Ergebnisse auch Feldbeobach‐ tungen hinzuziehen, um entsprechende Erfahrungshintergründe der Unter‐ richtsbeteiligten einzufangen. 2 Positionierungen als Ressource (sozialer) Identitätskonstruktionen Die Herstellung lokaler Identitäten im Sinne von Merkmalszuschreibungen sind aus gesprächsanalytischer Sicht sprachlichen Handlungen immanent (Antaki und Widdicombe 1998: 2) und seit langem Forschungsgegenstand unterschied‐ lichster Disziplinen (z. B. Bucholtz und Hall 2005: 586). Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass Identität - und damit auch soziale Identität als Bild der Anderen, welches sich diese von einer Person machen (vgl. Abels 2008: 509) - in Interaktionen immer wieder interaktiv hervorgebracht, lokal reaktualisiert und ausgehandelt wird und somit in Gesprächsausschnitten analysiert werden kann (Antaki/ Widdicombe 1998: 2). Identität wird so nicht als statische Größe gefasst, sondern als dynamisch und kontextuell bedingt gesehen. In einem be‐ 58 Ina Kordts <?page no="59"?> 2 Im Sinne von Jakobsons (1957/ 1971) narrated und narrating event (vgl. Wortham und Reyes 2015). 3 Auch in gesprächsanalytischen Ansätzen wird das Zusammenspiel von Gesprächsana‐ lyse und der Einbeziehung ethnographischen Wissens immer wieder ausgelotet (vgl. Deppermann 2001; Richards et al. 2012: 217-262 u. a.). stimmten schulischen Kontext kann jemandem beispielsweise zugeschrieben werden, literarisch interessiert zu sein; je nach tatsächlichem Agieren und wei‐ teren Ansprachen kann sich eine solche lokale Zuschreibung verfestigen oder auch verändern. Soziale Identifizierungsprozesse werden zwar lokal ausgehandelt, greifen aber zusätzlich auf Ressourcen aus längeren Zeitspannen zurück (Wortham 2006: 29), so dass man zum einen davon ausgehen kann, dass trotz der Dynamik lokaler Aushandlungen in ähnlichen Kontexten die soziale Identität einer Person oder aber auch einer Gruppe eine gewisse Kontinuität und Stabilität ausbildet. Für den schulischen Kontext zeigt beispielsweise Wortham (2006), wie sich eine solche Kontinuität von sozialer Identität im Unterricht über den Zeitraum eines akademischen Jahres entwickelt und Unterrichtsinhalt und -gespräch als er‐ zähltes und erzählendes Ereignis 2 Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung einer sozialen Schüleridentität nehmen. Dementsprechend müssen ebensolche Res‐ sourcen aus längeren Zeitspannen - als globaler Kontext - berücksichtigt werden, der über die lokal vorliegende Interaktion hinausgeht. Darüber hinaus ziehe ich unter dem Schirm der Interaktionalen Soziolinguistik ethnographische Erkenntnisse aus dem Feldaufenthalt heran, um den Verständniskontext zu er‐ weitern (vgl. u. a. Hinnenkamp 2018; Knoblauch 1991). 3 Im Unterricht finden nicht nur Interaktionen zwischen Lehrperson und ein‐ zelnen Schüler/ innen statt, sondern auch mit dem ganzen Plenum, dem ebenso wie einzelnen Personen gewisse Merkmale zugesprochen werden können. Ich gehe in Anlehnung an Wortham (2006) davon aus, dass so auch kollektive soziale Identitäten als Klasse in den Unterrichtsinteraktionen hervorgebracht und in‐ teraktiv ausgehandelt werden können. Um solchen kollektiven Identitätszuschreibungen auf die Spur zu kommen, greife ich auf das sozialpsychologische Konzept der sozialen Positionierungen (Harré und van Langenhove 1999) zurück und konzentriere mich auf Interakti‐ onen zwischen der Lehrperson und der ganzen Klasse im Plenumsgespräch. Das Konzept der sozialen Positionierungen beleuchtet ursprünglich die Identitäts‐ konstruktion einzelner Personen. Da im Gespräch auch Gruppen positioniert werden (können) - man denke an Mannschaften im Sport oder politische Par‐ teien - lässt sich das Konzept der sozialen Positionierungen meines Erachtens auch auf Gruppen anwenden. Insbesondere Klassen werden oft im und als 59 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="60"?> 4 Kalthoff und Falkenberg (2008) legen z. B. dar, wie Lehrpersonen ihre Frageformen je nach eher guten oder schlechten Schüler/ innen differenzieren und auf diese Weise Ungleichheit im Wissen, „in den Noten und im eigenen Selbstverständnis“ (ebd.: 914) begünstigt wird. Vgl. auch die oben bereits angeführten ethnographischen Längs‐ schnittstudien (Wortham 2006; Cekaite 2012; Heller 2012) und den von Kramer (2014) dargelegten Zusammenhang von Schule und Identitätsbildung aus erzie‐ hungswissenschaftlicher Sicht. Plenum adressiert und als Ganzes wahrgenommen. Daher übertrage ich den Ansatz auf ein Kollektiv - die Schulklasse. Harré und van Langenhove (1999) verstehen unter sozialen Positionierungen einen diskursiven Prozess, in dessen interaktivem Verlauf sich Personen wech‐ selseitig durch verbale Zuschreibungen von Merkmalen fremd- und selbstposi‐ tionieren (ebd.: 22). Angewendet auf den schulischen Kontext bedeutet dies, dass die Unterrichtsbeteiligten im sozialen Raum der Klassengemeinschaft durch die Zuschreibung komplexer Merkmalsbündel verortet werden. Solche Zuschrei‐ bungen beruhen zunächst auf Selbststilisierungen als „Präsentation von sozialen Kategorisierungen“ (Spiegel 1997: 291). Sie können auf unterschiedliche Art re‐ alisiert werden und sich beispielsweise im Grad ihrer Explizitheit und Direktheit unterscheiden (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 171). Den Positionie‐ rungen kann ebenfalls durch die Beteiligten widersprochen werden (vgl. Harré und van Langenhove 1999: 20). Im Unterricht trifft der Prozess der sozialen Po‐ sitionierung zusätzlich auf die Spezifika der institutionellen Kommunikations‐ situation in Schulen, die durchwoben ist von Asymmetrien (z. B. der (Ge‐ sprächs-)Macht, des Wissens u. Ä.), was dazu führt, dass im Unterricht insbesondere Lehrpersonen Positionierungen vornehmen können. Deswegen nehme ich besonders lehrpersonenseitige Positionierungsaktivitäten in den Blick, ohne vernachlässigen zu wollen, dass ihre Entstehung kontextuell bedingt und interaktiv eingebettet ist. Positionierungen werden in der Positionierungsanalyse eine gewisse Funk‐ tionalität zugeschrieben (Harré und van Langenhove 1999: 17), denn sie können Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten im Interak‐ tionsverlauf - wie Ackermann (2014) beispielsweise für die Gesprächssteue‐ rung in schulischen Elterngesprächen zeigt - und weitere Aspekte der Iden‐ titätsbildung 4 nehmen. 3 Daten und Methode Die für diesen Beitrag ausgewählten Gesprächsausschnitte stammen aus dem Korpus meines Promotionsprojekts, für das Interaktionen aus drei unterschied‐ 60 Ina Kordts <?page no="61"?> 5 Für die hier untersuchten Schulen: An der Werkrealschule war ich 2017 über mehrere Monate hinweg zwei bis drei Mal wöchentlich im Unterricht anwesend und habe Au‐ dioaufnahmen angefertigt, die Gymnasialklasse habe ich 2016 drei Wochen durch‐ gängig begleitet und den Unterricht videografiert. 6 Werkrealschulen sind in Baden-Württemberg erweiterte Hauptschulen, die einen Hauptschulabschluss nach Klasse 9 oder 10 ermöglichen, gleichzeitig durch den (fa‐ kultativen) Besuch der 10. Klasse aber auch die Ablegung der mittleren Reifeprüfung anbieten und somit Schüler/ innen mit sehr heterogenen Lernvoraussetzungen offen‐ stehen sollen (vgl. http: / / schulamt-freiburg.de/ ,Lde/ Startseite/ Themen/ Hauptschule +mit+Werkrealschule - Stand 02. 09. 2019). 7 Hierbei handelt es sich um ein im ländlichen Raum gelegenes privates, staatlich aner‐ kanntes Gymnasium mit angeschlossenem Internat. 8 Alle Klarnamen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen durch Pseudonyme mit vergleichbarem Informationsgehalt (zgl. Alter, ethnischer Herkunft etc.) und entsprech‐ ender Silbenstruktur ersetzt. lichen Schulformen in Baden-Württemberg im Rahmen einer längeren Feld‐ phase 5 audio- oder videoaufgezeichnet wurden. Die ausgewählten Sequenzen sind jeweils einer Doppelstunde Unterricht an einer städtischen Werkreal‐ schule 6 und einem privaten Gymnasium 7 entnommen. Für die hier präsentierten Ausschnitte wurde die Positionierung der Schü‐ lerschaft hinsichtlich des Verhaltens und der kognitiven Kapazitäten (Leis‐ tungsvermögen) der Schüler/ innen als zwei Ausprägungen von schulischer Leistung ausgewählt. Die Analyse orientiert sich an folgenden Fragen: Wie werden die Schüler/ innen im Hinblick auf Verhalten und Leistungsvermögen interaktiv positioniert? Welche Selbstpositionierungen nehmen die Lehrper‐ sonen in diesen Sequenzen vor und wie ist darauf basierend ihr Verhältnis zu den fremdpositionierten Schüler/ innen zu beschreiben? Dazu vergleiche ich zu‐ nächst Gesprächsepisoden, die der gesamten Klasse Kompetenz in den oben genannten Bereichen zuschreiben oder absprechen. Im Anschluss werden die Positionierungen mit Blick auf ihre etwaige Schulformspezifik betrachtet. 4 Schülerseitiges Verhalten im Fokus der Lehrpersonen Dieser erste Ausschnitt entstammt der ersten Unterrichtstunde nach den Som‐ merferien in der Werkrealschule. Herr Walter 8 , der Klassenlehrer, reagiert auf die allgemeine Unruhe nach der Begrüßung in der 9. Klasse. In diesem Unter‐ richtsbeginn ist die anfängliche Unruhe der Anlass für die Thematisierung des Verlaufs des letzten Schuljahrs. Bis auf einen schülerseitigen Zwischenruf in Zeile 21 handelt es sich hier um monologische Ausführungen des Lehrers: 61 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="62"?> Datum 1: meine sachen die ICH machen kann Klasse: Fach: Lehrperson: Schüler/ innen: 9, Werkrealschule Klassenlehrerstunde Herr Walter (L) männlich, nicht zuzuordnen (S1m) 1 L: (3.68) so. 2 (--) ich WEISS; 3 (-) dass_s nach den (ferien) immer SCHWIErig; 4 (.) wieder (HIER) zu sein, 5 (-) ich HOFF einfach- 6 das will ich ganz ehrlich SAgen; 7 (.) <<all> dass es dies jahr besser wird als LETZtes jahr,> 8 (.) es kann nur besser WERden; 9 (.) letztes jahr waren auch v (--) paar GUte sachen immer dabei, 10 (-) aber insgesamt wars_n ANstrengendes jahr; 11 (.) ich war echt PLATT. 12 (.) <<p> so platt war ich eigentlich=noch NIE.> 13 (-) ich hab_n bisschen ZEIT gebraucht in die ferien. 14 (.) hab oft dran geDACHT, 15 (-) ähm. 16 (--) jetz gehts mir wieder GUT, 17 (.) weil ich hab selber (.) ma meine sachen die ICH machen kann, 18 damit_s GUT wird gemacht; 19 und ja, 20 [und ja? ] 21 S1m: [(wir AUCH mann; )] 22 L: (-) des richtig ORdentlich machen, 23 (-) dann finden des ALle besser, 24 (.) weil ich kann schlecht von euch ordnung verLANgen; 25 wenn ich_s selber auch nich HINkrieg? 26 (---) und ich MERK dass ich was mach; 27 (.) wenn_s hier schon mal gut struktuRIERT is. 28 (.) ↑dann is meine HOFFnung; 29 dass ihr alle (-) sechs wochen ÄLter seid, 30 ihr hattet FREI; 31 (.) euch_n bisschen AUSgetobt habt, 32 (.) und jetzt so LANGsam, 33 °°h 34 (-) naja n_bisschen auf den BOden kommt, 35 (.) weil (.) des NEUe schuljahr, 36 (--) da GEHTS jetz schon um was, Herr Walter bewertet das vergangene Schuljahr als sehr anstrengend (Z. 5-10) und illustriert dies, indem er die Auswirkungen des Schuljahres auf sich selbst schildert (Z. 11-16). Anschließend geht er auf die Maßnahmen ein, die er für eine Verbesserung der Situation ergriffen hat (Z. 17-27). Erst zum Ende der Se‐ quenz adressiert er die Schülerschaft direkt und thematisiert Eigenschaften ihres 62 Ina Kordts <?page no="63"?> Verhaltens (Z. 29-36). Dass dabei dem Verhalten der Schüler/ innen Verantwor‐ tung für die Situation zugeschrieben wird, wird bis Z. 27 nicht explizit ange‐ sprochen; erst durch die Einbettung in die gesamte Sequenz wird deutlich, dass auf die fehlende unterrichtliche Kooperativität auf Schülerseite im zurücklie‐ genden Schuljahr als common ground (Clark 1992 u. a.). referiert wird (s. u.). Die erste eindeutige Positionierung in der obigen Sequenz bezieht sich auf der sprachlichen Oberfläche auf das Alter der Schüler/ innen. Herr Walter äußert seine Hoffnung, dass „alle (-) sechs wochen ÄLter“ (Z. 29) sind. Faktisch ist dies unter einem zeitlichen Aspekt nach den Sommerferien gegeben, so dass er mit dieser Aussage auf die Entwicklung von Reife verweist. Im Kundtun seiner Hoffnungen wird diese Fremdpositionierung auf beiläufige Weise weiter kon‐ kretisiert: Die Schüler/ innen sollen sich „AUSgetobt“ haben (Z. 31) - ein Ver‐ halten, dass vornehmlich kleinen Kindern zugesprochen wird - und nun „n_bisschen auf den BOden“ (Z. 34) kommen. Er attestiert den Schüler/ innen also ein Verhalten, „das in der Auswahl und Intensität nicht der Situation“ - es handelt sich hier um eine Abschlussklasse - „angepasst erscheint“, nach Leitner (Leitner 2007: 10) Merkmale für ein Problemverhalten bzw. eine Verhaltensauf‐ fälligkeit. Diese Teilsequenz wird mit einer Begründung, warum er auf ein ver‐ ändertes Verhalten hofft, abgeschlossen. Diese klaren Fremdpositionierungen seiner Klasse stehen in Kontrast dazu, wie Herr Walter seine Kritik am Verlauf des letzten Schuljahres äußert (Z. 5- 10). Diese Kritik zeichnet sich durch hochgradige Vagheit auf verschiedenen Ebenen aus: Inhaltlich wird das letzte Schuljahr über den erhofften besseren Verlauf des neuen als denkbar schlechtester Zustand charakterisiert (Z. 8). An‐ schließend relativiert der Lehrer diese Aussage zwar, indem er einschiebt, dass es auch „gute Sachen“ gab (Z. 9), hält jedoch seine Einschätzung, dass es ein schlechtes Schuljahr war, durch die Einordnung „aber insgesamt wars_n AN‐ strengendes jahr“. (Z. 10) und den Hinweis auf seine so noch nie dagewesene Erschöpfung (Z. 11 f.) aufrecht. So wird die inhaltliche Vagheit sequenziell durch das Oszillieren zwischen der Zurücknahme der negativen Bewertung (Z. 9) und einem erneuten negativen Fazit aufrechterhalten. Diese allgemeine Vagheit scheint möglich, weil alle Bescheid wissen, wovon der Lehrer spricht. Dass der Gegenstand der Kritik common ground ist, zeigt sich auch darin, dass er ihn nicht klar benennt, sondern ihn pronominal durch „es“ als Nominativersatz anführt: „dass es dies jahr besser wird als LETZtes jahr,“ (Z. 7). Es erfolgt hier keine explizite Adressierung oder Positionierung der Schülerschaft. Dass dennoch eine Zuweisung von Verantwortung für den schlechten Verlauf des Schuljahres und damit eine indirekte Positionierung der Schülerschaft erfolgt, zeigen die rahmenden Selbstpositionierungen des Lehrers: So präsentiert er sich einleitend 63 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="64"?> als verständnisvoll (Z. 2-4). Die Wahl des Verbes hoffen in Zeile 5 sowie „HOFF‐ nung“ in Zeile 28 verweist gleichzeitig darauf, dass er sich selbst nur einen be‐ grenzten Einfluss auf die Situation in der Klasse zuschreibt. Ab Zeile 13 referiert er auf seine personale Identität und positioniert sich selbst als jemanden, der unter der Situation leidet, sich Gedanken macht und aktiv durch die Erledigung seiner Aufgaben seinen Beitrag geleistet hat, damit das kommende Schuljahr besser wird (Z. 17 f.). Damit appelliert er an die Verantwortung der Schülerschaft, auch zu der Verbesserung der Situation beizutragen, da er seinen Teil - nämlich Ordnung und Struktur als Rahmenbedingungen gelingenden Unterrichts zu ge‐ währleisten - bereits beigesteuert hat. Hieran wird bereits ein Aspekt seines Verhältnisses zur Schülerschaft deutlich: Er kommuniziert eine fehlende Ge‐ meinsamkeit der Verantwortlichkeiten für einen gelingenden Unterricht. Dies weist darauf hin, dass er auch die Möglichkeiten seines pädagogischen Ein‐ flusses als begrenzt wahrnimmt und deswegen nur auf verändertes und ange‐ messenes Verhalten der Klasse hoffen kann. Er selbst schreibt sich lediglich die Fähigkeit zu, die äußere Struktur vorzugeben (Z. 24-27). Aufmerksamkeit verdient an dieser Stelle der Zwischenruf eines Schülers (Z. 21), der zum einen als Rezeptionssignal belegt, dass die Schülerschaft den Aus‐ führungen des Lehrers folgen, zum anderen inhaltlich auf den ersten Blick eine Mitwirkung ausdrückt: Stellvertretend für die Klasse äußert ein Schüler, durch Bezug auf die vorherige Lehreräußerung, dass sie ebenfalls ihre Sachen gemacht haben. Der Tonfall, in dem dies geäußert wird, sowie das nachgestellte vor‐ wurfsvolle „mann“ (Z. 21) lassen den Zwischenruf genervt-gelangweilt er‐ scheinen. Dies erweitert die möglichen Lesarten: Sein Einwurf kann signali‐ sieren, dass er die Ausführungen des Lehrers als Vorwurf, die Klasse sei ihrem Schülerjob (Breidenstein 2006) nicht ausreichend nachgekommen, auffasst und zurückweist. Er zeigt jedenfalls an, dass das immer noch nicht explizit ange‐ sprochene Problem ein vielfach wiederholtes, hinlänglich bekanntes und lei‐ diges Thema darstellt, was mit Blick auf das tägliche Unterrichtsgeschehen am Ende der 8. Klasse bestätigt werden kann. Dieser Einwurf wird aber nicht weiter bearbeitet. Für die eingangs formulierten Fragen lässt sich also festhalten, dass der Klasse als Kollektiv am Ende einer längeren Phase der Verantwortungszuschreibung auch explizit ein unreifes, unangemessenes Verhalten zugesprochen wird. Gleichzeitig übt der Lehrer Selbstkritik und schreibt sich durch das Aufräumen ebenfalls Verantwortung für den Verlauf des letzten Schuljahres zu. Es wird implizit eine Trennung der Verantwortlichkeiten als Ausdruck deutlichen Zwei‐ felns des Lehrers an einem gemeinsamen Agieren kommuniziert. 64 Ina Kordts <?page no="65"?> 9 Die Abiturprüfungen werden an dieser Schule regulär in Klasse 12 absolviert. Die Schüler/ innen stehen aufgrund der zeitlichen Organisation der Gymnasialzeit in 8 Jahren an dieser Schule somit schon im ersten Jahr der Oberstufenzeit. 10 Richtig ist f ‘(2)=5x2 4 und nicht f ‘(2) = 10x2 4 . Interessant ist, dass die negative Fremdpositionierung der Klasse als verhal‐ tensproblematisch zwar ihren Ausgangspunkt in einem dem Unterricht nicht förderlichen Verhalten hat, nämlich der Unruhe am Anfang der Unterrichts‐ stunde und des gesamten vergangenen Schuljahres, sie aber erst nach einem sehr langen Vorlauf explizit geäußert wird und zwar in Form von Hoffnungen, so dass die Ausführungen hier als pädagogische Praktik der indirekten Diszip‐ linierung gelten können. Diese indirekten Disziplinierungen fokussieren dabei „eine dem eigentlichen Unterrichtsgeschehen vorgelagerte allgemeine Verhal‐ tensordnung“ (Fuchs 2012: 119) und etablieren somit den Unterricht prospektiv (vgl. Becker-Mrotzek und Vogt 2009: 199). Eine vergleichbare Szene, in der das Verhalten der Schüler/ innen so ausführ‐ lich thematisiert wird, findet sich in meinen Unterrichtsaufnahmen aus dem privaten Gymnasium nicht. Zwar gerät auch hier Verhalten in den Blick, wobei dies meist durch eine Unterbrechung im Sprechen markiert und knapp kom‐ mentiert wird. Jedoch sind dies kurze Szenen, die sich auf konkretes, gerade auftretendes Verhalten beziehen, z. B. auf verfrühtes Zusammenpacken am Ende der Unterrichtsstunde. So sagt der Mathematiklehrer am Gymnasium beispiels‐ weise: „manche (-) (ge) RAFfen das ein bisschen schneller als andere; dass es (.) n_NICH so gehörig is: , wenn ihr einfach anfangt einzuPAcken; =“. Sehr wohl lassen sich aber aus Interaktionen im Plenum Positionierungen extrahieren, die Verhalten einschätzen, und zwar das der Klasse als Kollektiv, wie der folgende Unterrichtsausschnitt verdeutlicht: Die 10. Klasse (G8) 9 ist gerade dabei, während des Mathematikunterrichts im Plenum zu üben, die Steigung eines Graphen bei gegebenem x-Wert zu be‐ stimmen. Die Schülerin Hoa hat für eine vom Lehrer Herr Kern genannte Funk‐ tion (f(x) = x 5 + 1; Anweisung: „bestimme die steigung an der stelle ZWEI; “) die Steigung bestimmt und auf Nachfrage des Lehrers ihre Rechenschritte dargelegt: „also- (.) (FÜNF) also (ix hoch fünf) ISTalso die ableitung davon ist äh fünf ix hoch VIER, und das ist ZEHN mal sechzehn; “. Herr Kern hat dies im Anschluss als richtig ratifiziert. Die Mitschüler/ innen sind aber nicht alle einverstanden und fangen an, über die richtige Lösung 10 zu diskutieren (Z. 1-19). Sie wenden sich dabei teilweise direkt an Hoa (Z. 11), die noch nicht verstanden hat, wo ihr Fehler liegt. 65 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="66"?> Datum 2: mit mir in SCHLECHter gesellschaft Datum 2: mit mir in SCHLECHter gesellschaft Klasse: 10, Privates Gymnasium mit Internat Fach: Mathematik Lehrperson: Herr Kern (L) Schüler/ innen: Bastian (Bst), Firudin (Frd), Hoa (Hoa), Samuel (Sml), Naomi (Nmi), Aaron (Arn), nicht zuzuordnen (S1m) 1 Bst: FÜNF mal sech[zehn-] 2 S1m: [(...)] 3 Frd: JA, 4 Hoa: WAS, 5 S1m: <<p> nicht ZE: HN; > 6 Bst: (---) nicht ZEHN mal sechszehn; 7 Frd: ja wa[RUM, ] 8 L: [hab ich] SELBST nicht aufgepasst, 9 Hoa: [Aber- ] (...) 10 Sml: fünf mal ZWEI? 11 Nmi: du hast an der stelle ix [ZWEI; ] 12 Sml: [ah NEE-] 13 Bst: NEIN; 14 L: <<acc> [ich hab SELBST nicht=] [hab SELBST nicht=] [hab SELBST nicht aufgepasst,]> 15 Sml: [nein nein ] [(...) ] [(xxx) ] 16 Bst: zwei hoch vier sind doch SECHze[hn- ] 17 L: [sind] SECHzehn <<all>jaja: : ,>] 18 Bst: [(und mal FÜNF sind-)] 19 SuS: [(...) ] 20 L: ah mal ! FÜNF! ? 21 [ich DANke euch; ] 22 Sml: [(...) ] 23 Bst: und NICHT- 24 Frd: JA- 25 L: ich hab SELBST geschlafen; 26 ich DANke euch; 27 ich würd jetzt ja GERne sagen, 28 ich hab NUR getestet ob ihr aufpasst- 29 aber ich HAB nicht nur getestet [ob ihr aufpasst; ] 30 S1m: [(...) ] 31 Frd: ((lacht)) 32 S1m: ((lacht)) 33 SuS: (...) 34 L: hoa du bist mit mir in SCHLECHter gesellschaft, 35 ich hab zwar ANders gerechnet als du, 36 aber AUCH nicht besser; 37 (4.1) SO; 38 also nochmal zur SIcherheit, In dieser interaktionsreichen Szene versuchen einige Schülerinnen und Schüler ihrer Mitschülerin Hoa, vor allem aber ihrem Lehrer Herr Kern, klar zu machen, dass ein Rechenfehler vorliegt. Damit durchbrechen sie lokal und kurzzeitig die institutionell angelegte Wissensasymmetrie zwischen Lehrperson und Schüler‐ schaft. Herr Kern äußert der Klasse gegenüber, dass er nicht aufgepasst habe (Z. 8) und bedankt sich bei der Klasse für den Hinweis auf den Fehler, nachdem er verstanden hat, worin dieser lag (Z. 21). Anschließend referiert er direkt auf 66 Ina Kordts <?page no="67"?> 11 Im Sinne von Zimmermans (1998) situated identity. 12 Zu schülerseitigen Korrekturen der Lehrperson siehe auch Kääntä (2014), deren kon‐ versationsanalytischen Analysen detailliert die verschiedenen - und mit dem Ablauf der hier betrachteten Szene vielfach parallelen - Schritte von schülerseitig initiierter Korrektur in lehrerzentrierten Unterrichtssettings herausarbeiten. seine situierte Identität 11 als Lehrer und stellt seine Unaufmerksamkeit scherz‐ haft als eine mögliche pädagogische Praktik dar, die er aber nicht angewendet hat, wie er zugibt (Z. 27-29). Er schließt die Sequenz, indem er sich noch einmal an Hoa wendet und ihrer beider Fehler kommentiert (Z. 34-36). 12 Während dieser Szene kommt es zu zahlreichen Positionierungen, die ihren Anlass in der Klärungssequenz haben. Dass die Schülerinnen und Schüler hier aktiv diskutieren, Hoas Rechenschritte und ihre Lösung hinterfragen, verweist auf schulisch erwünschtes Verhalten, nämlich auf aufmerksame, fachlich kom‐ petente und mitdenkende Schüler/ innen, als die sie sich hiermit indirekt selbst positionieren. Dies ist auch mit Blick auf die von Heller/ Quasthoff (in diesem Band) vorgestellten Befunde aus Gruppendiskussionen über Unterrichtsaus‐ schnitte interessant: Dort positionieren sich Gymnasiasten dem Lehrer gegen‐ über als „epistemisch ebenbürtig“ und „als in professionellen Belangen urteils‐ fähige Subjekte“ und stellen Lehrerhandeln als „prinzipiell hinterfragbar“ dar. Der hier besprochene Unterrichtsausschnitt illustriert dieses von Heller/ Quast‐ hoff herausgearbeitete schülerseitige Erleben von Unterricht anschaulich auf interaktionaler Ebene. Die Fremdpositionierungen der Schüler/ innen durch Herrn Kern zielen in die gleiche Richtung: Als er in der Diskussion mit „[ah mal ! FÜNF! ? ]“ (Z. 20) mar‐ kiert, dass er seinen Rechenfehler erkannt hat, wendet er sich anschließend mit „ich DANke euch; “ (Z. 21) an die Schüler/ innen. Er positioniert sie damit als Personen, die ihm geholfen haben und dazu befähigt erscheinen. Bereits hier wird deutlich, dass es sich beim Unterricht aus Sicht des Lehrers um eine ge‐ meinsame Unternehmung handelt, zu der beide Parteien auch inhaltlich glei‐ chermaßen beitragen. Durch den Dank - typisch in solchen Korrektursituati‐ onen - reetabliert er aber gleichzeitig seinen epistemischen Status, greift die seiner Lehrerrolle zugeordneten Rechte wieder auf (vgl. Kääntä 2014: 102; Heller 2017) und zeigt somit an, dass die Kontrolle über die Unterrichtssituation wei‐ terhin bei ihm liegt. Herr Kern selbst thematisiert im Verlauf noch mehrmals seine Unaufmerksamkeit. Der Fokusakzent liegt dabei auf „SELBST“ und ver‐ weist darauf, dass es einem Lehrer eher nicht passieren sollte, nicht aufzupassen. Für diese Unaufmerksamkeit führt er eine Erklärung an („geschlafen“), wieder mit dem Fokusakzent auf „SELBST“ (Z. 25) und wiederholt seinen Dank. Dies ist ein wiederholtes Eingestehen seiner Unaufmerksamkeit und damit auch ein 67 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="68"?> wiederholtes Anerkennen der Aufmerksamkeit und Kompetenz der Schüler‐ schaft. Er verbindet dies nun mit einer scherzhaften Episode, in der er auf seine Rolle als Lehrer referiert: „ich würd jetzt ja GERne sagen, ich hab NUR getestet ob ihr aufpasst- aber ich HAB nicht nur getestet ob ihr aufpasst; “ (Z. 27 ff.). Auch hier gesteht er wieder seinen Fehler ein und spielt scherzhaft darauf an, dass er seine Rolle als Lehrer in diesem konkreten Fall nicht erwartungsgemäß ausge‐ füllt hat. Dies führt zu Lachern bei den Schüler/ innen. Interessant ist dann die letzte Relevanzsetzung seines Fehlers - er greift nämlich nun den ursächlichen Fehler wieder auf, den Hoa gemacht und den er nicht als Fehler erkannt hat. Mit „hoa du bist mit mir in SCHLECHter gesellschaft,“ (Z. 33) stellt er auch hier das Gemeinsame in den Vordergrund - der Fehler wird nicht verurteilt und führt nicht zu einem Ausschluss, sondern zum Betonen einer Gemeinsamkeit, und wird dadurch abgeschwächt. Mit Blick auf die einleitenden Fragen lässt sich hier festhalten, dass Herr Kern das Verhalten der Schüler/ innen in dieser Sequenz positiv evaluiert und als er‐ wünscht darstellt, auch wenn schülerseitige Korrekturinitiierungen ein ris‐ kantes Unterfangen darstellen (Kääntä 2014). Er geht mehrmals auf sein eigenes Verhalten ein, erklärt es als ursächlich für seinen eigenen Fehler und zeigt gleichzeitig, dass er sich seiner Rolle als Lehrperson und der Möglichkeiten, die damit einhergehen, bewusst ist. Auffällig ist, dass die Positionierungen der Schüler/ innen primär durch relationale Äußerungen geschehen und implizit zugeschrieben werden: Er bringt seine Einstellung über das illokutive Verb danken zum Ausdruck und betont auch das Verbindende zwischen sich und Hoa am Ende der Sequenz. Auch wenn das aktive Diskutieren der richtigen Lösung nur von einigen Schülerinnen und Schülern ausging, so adressiert er doch in seinen weiteren Ausführungen die Klasse als Kollektiv. Die häufigen Sprecherwechsel dokumentieren ebenfalls das interaktive En‐ gagement aller Beteiligten und zeigen an, dass beide Seiten hier bestimmte Ver‐ antwortlichkeiten für den Unterricht übernehmen. Das interaktionale Verhalten von Herr Kern belegt, dass er sich verantwortlich für die Bewertung der Rich‐ tigkeit von mathematischen Ergebnissen sieht. Zugleich signalisiert er aber auch seine grundsätzliche Annahme, dass er von den Schülerinnen und Schülern ein eigenständiges und kritisches Mitdenken erwartet und ihnen dieses auch zu‐ traut. Diese Erwartung wird erfüllt, wie das gemeinsame Agieren zeigt, und dies versetzt ihn in die Lage, über seinen Fehler zu scherzen. Dies stellt einen klar zu benennenden Unterschied zur ersten Sequenz dar, in der die Zweifel des Lehrers an eben dieser gemeinsamen Verantwortlichkeit deutlich werden. Beide Sequenzen unterscheiden sich neben der Art der Zu‐ schreibungen (defizitär vs. kompetent) auch hinsichtlich des interaktionalen 68 Ina Kordts <?page no="69"?> Engagements der Schüler/ innen. So gehen in der Sequenz aus dem Mathema‐ tikunterricht positive Fremdpositionierungen der Schüler/ innen als Gruppe einher mit einer unterrichtlich aktiven Schülerschaft, während sich in Datum 1 die implizit kommunizierte Trennung der Verantwortlichkeiten auch in dem äußeren fehlenden Interagieren manifestiert. Bezüglich der Selbstpositionie‐ rungen der Lehrpersonen fällt auf, dass in beiden Sequenzen die Lehrpersonen auf ihre Rolle referieren, wenngleich auf unterschiedliche Art. Diese ersten ver‐ gleichenden Überlegungen werden abschließend in Abschnitt 6 und 7 diskutiert. Während die obige Analyse zeigt, wie Lehrpersonen sich und ihre Schüler/ innen hinsichtlich des Verhaltens positionieren, soll im Folgenden die Position‐ ierungsaktivitäten hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit der Schüler/ innen in den Blick genommen werden. 5 Leistungsvermögen im Fokus der Lehrpersonen Das Leistungsvermögen der Schüler/ innen wird oft an den erbrachten Leis‐ tungen gemessen, diese stellen sozusagen die „schulische Währung“ (Raben‐ stein et al. 2013: 675) dar. Das Leistungsvermögen kann aber auch explizit oder implizit im Unterricht thematisiert werden. Wie unterschiedlich dies geschehen kann und auch geschieht, zeigen die nun präsentierten Sequenzen. Wir beginnen wieder mit einem Datum aus der Werkrealschule, das aus der gleichen Unterrichtsstunde wie Datum 1 stammt, aber im Verlauf später ange‐ siedelt ist. Der Lehrer Herr Walter bereitet die Schüler/ innen der Klasse 9 darauf vor, was sie in diesem Schuljahr erwartet, nämlich eine Literaturarbeit: Datum 3: keine ANGST haben Datum 3: keine ANGST haben Klasse: 9, Werkrealschule Fach: Klassenlehrerstunde Lehrperson: Herr Walter (L) Schüler/ innen: Rafael (Rfl), Patrick (Ptk), Maikel (Mkl), nicht zuzuordnen, m/ w (S1-S4) 1 L: 2 Rfl: 3 Ptk: 4 S1m: 56 L: 78 Ptk: 9 L: 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 S1w: 20 L: (1.61) ihr müsst eine literaTURarbeit schreiben. oh nein. (--) <<f> wann? > (--) was IS des; (--) DEUTSCH oder was; (---) so. (--) das HEISST, (.) WUSSte jemand was davon, SO wie wirs äh- (.) wir ham ja vor den ferien dieses BUCH gelesen zusammen, (--) und ähm mein PLAN war eigentlich da: nn; <<all> mit euch zusammen noch so ne art literaTURarbeit darüber zu schreiben; > (-) damit ihr wisst wie_s GEHT, (--) °h äh hat jetz nich ganz geKLAPPT; weil die ZEIT so knapp war? (-) aber (.) ERSTmal, (ihr braucht) keine ANGST haben; ich mach sie auch nich so (.) anspruchsvoll wie_s norMAlerweise is. (-) [ich weiß nich mal was des IS.] [das heißt aber (.) ] des is einfach SO - 69 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="70"?> 3 Ptk: 4 S1m: 56 L: 78 Ptk: 9 L: 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 S1w: 20 L: 21 22 23 24 25 Mkl: 26 L: 27 28 Ptk: 29 L: 30 31 Ptk: 32 S2m: 33 S4m: 34 L: 35 36 37 38 39 S1m: 40 L: 41 Mkl: 42 L: 43 44 45 46 47 Ptk: (--) <<f> wann? > (--) was IS des; (--) DEUTSCH oder was; (---) so. (--) das HEISST, (.) WUSSte jemand was davon, SO wie wirs äh- (.) wir ham ja vor den ferien dieses BUCH gelesen zusammen, (--) und ähm mein PLAN war eigentlich da: nn; <<all> mit euch zusammen noch so ne art literaTURarbeit darüber zu schreiben; > (-) damit ihr wisst wie_s GEHT, (--) °h äh hat jetz nich ganz geKLAPPT; weil die ZEIT so knapp war? (-) aber (.) ERSTmal, (ihr braucht) keine ANGST haben; ich mach sie auch nich so (.) anspruchsvoll wie_s norMAlerweise is. (-) [ich weiß nich mal was des IS.] [das heißt aber (.) ] des is einfach SO - (.) morgen gehen wir zusammen schon in die STADT, (-) und JEder von eu- (.) wir gehen in einen BUCHladen, (.) [und ihr bekommt DANN- ] [((stöhnt laut)) ] (-) <<mit Nachdruck> wir gehen zusammen in einen BUCHladen; > (.) und wahrscheinlich (.) zum ERSten mal für manche von euch, nei: : n; (.) <<f> und> der PLAN is; (.) ihr müsst alle (.) jeder ein buch für maximal zehn euro AUSsuchen. (.) [<<empört> das is voll TEUer.>] [nee: . ] ja oke für (XXX) [geht eigentlich NOCH.] [maxiMAL zehn euro. ] (.) da gibts auch schon welche für fünf oder SECHS, (-) ähm. (-) das hab ich mit meiner letzten klasse AUCH gemacht, (.) es ging dort erstaunlicherweise GU: T. (.) ((stöhnt genervt)) al[TA: ; ] [weil,] (1.13) können wir nicht eins (.) von daHEIM nehmen, schsch; (.) <<f> weil- > (1.23) weil viele überrascht sind was es eigentlich alles GIBT; ja, (.) im BUCHladen. (.) <<protestierend/ beleidigt> und ich WAR schon mal in ner bücherei; > 48 L: (.) <<f> ja; > 49 (.) <<beschwichtigend> war auf nur_n (.) war auch nur_n SCHERZ.> Auch bei dieser Sequenz wird Organisatorisches thematisiert. Der Lehrer gibt einen Ausblick auf das, was im Schuljahr ansteht. Die Ankündigung der Lite‐ raturarbeit ruft bei den Schüler/ innen keine Begeisterung, sondern aufgeregtes Nachfragen hervor (Z. 3-5, 8). Der Lehrer ordnet die Literaturarbeit anschlie‐ ßend in das Curriculum ein, indem er auf das gemeinsam gelesene Buch letztes Schuljahr verweist und seinen damit verbundenen, aber aus Zeitgründen nicht realisierten Plan, daran die Literaturarbeit zu üben. Daran anschließend nimmt er eine Anpassung der Anforderungen vor, die er damit einführt, dass die Schüler/ innen keine Angst haben müssten (Z. 17). Die Schilderung, wie die Auswahl und der Erwerb des Buches erfolgen wird, ist von vielen Abbrüchen gekennzeichnet und mündet in die Aussage, dass der Besuch eines Buchladens 70 Ina Kordts <?page no="71"?> 13 Auch hier sind Heller/ Quasthoffs (in diesem Band) Befunde aus den Gruppendiskussi‐ onen zu Unterrichtsausschnitten interessant. Für weniger privilegierte Lernende (einer Gesamtschule) können sie zeigen, dass diese sich selbst bzw. die gleichaltrigen Schüler/ innen aus den Unterrichtsvideos als nicht zu den schulischen Ansprüchen passend und „erziehungsbedürftig“ erleben. Die oben rekonstruierte Fremdpositionierung des Leh‐ rers kann als Hinweis darauf gelesen werden, wie diese Perspektive auch interaktional an die Schüler/ innen herangetragen wird. 14 Positionierungen erster Ordnung entstehen durch Handlungen und Äußerungen einer Person und deren Wirkung auf das Verhalten der Interagierenden (vgl. Harré/ van Lan‐ wahrscheinlich für einige zum ersten Mal erfolge, was ersten Widerspruch von Schülerseite hervorruft (Z. 28). Nach der anschließenden Thematisierung des Preises für ein Buch (Z. 30-35) führt er seine guten Erfahrungen mit der letzten Klasse im Buchladen an, woraufhin ein Schüler explizit auf Berührungspunkte mit bücherführenden Institutionen hinweist (Z. 47). Die Sequenz schließt mit Herrn Kerns Äußerung, es sei nur ein Scherz gewesen (Z. 49). In dieser Szene beteiligen sich die Schüler/ innen ungleich aktiver als in der ersten Sequenz aus der Werkrealschule, so dass auftretende Positionierungen auch interaktiv verhandelt werden. Gleich zu Anfang zeigen die Schüler/ innen an, dass nicht alle wissen, was sie unter einer Literaturarbeit zu verstehen haben, und auch später im Verlauf des Datums wird das Unwissen von Seiten einer Schülerin deutlich artikuliert (Z. 19). Der Lehrer greift dies im Interaktionsver‐ lauf inhaltlich auf, referiert auf seinen pädagogischen Plan der Vorbereitung und zeigt sich so seiner situierten Identität als planender und vorbereitender Lehrer verhaftet (Z. 9-15), der allerdings durch äußere Hindernisse - hier Zeit - seine Intentionen nicht immer realisieren kann. Den Schüler/ innen werden in dieser Sequenz Merkmale zugeschrieben, die ihren Ausgangspunkt in ihrer Unwissenheit bzgl. der Literaturarbeit nehmen: Das ihnen unterstellte Unwissen, wie eine Literaturarbeit aussieht, kann dabei als eine in der Schule typische Zuschreibung von Unwissenheit gelten und geht einher mit den obig schon erwähnten schülerseitigen Äußerungen des Nicht‐ verstehens, so dass dies nicht als eine defizitäre Positionierung zu verstehen ist. Im Anschluss wird dieses Unwissen dann allerdings von Seiten des Lehrers mit Angst assoziiert: „(ihr braucht) keine ANGST haben; “ (Z. 17) und diese implizit auf mangelndes Leistungsvermögen zurückgeführt: „ich mach sie auch nich so (.) anspruchsvoll wie_s norMAlerweise is.“ (Z. 18). Hier tritt der Lehrer als Ak‐ teur auf, der die normalen, aber für seine Schülerschaft zu anspruchsvollen cur‐ ricularen Anforderungen herunterbricht. Dies positioniert gleichzeitig die Schüler/ innen als den regulären Anforderungen nicht gewachsen und referiert somit auf ihr Leistungsvermögen. 13 Wir haben hier also eine Fremdpositionie‐ rung der ersten Ordnung 14 der Schüler als sich vor der Literaturarbeit fürchtend 71 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="72"?> genhove 1999: 20; Ackermann 2014: 8). Werden Positionierungen hingegen interaktiv verhandelt, werden sie zu Positionierungen zweiter Ordnung (ebd.). vorliegen; den Grund für ihre Furcht sieht der Lehrer in ihrem mangelnden Leistungsvermögen. Der Lehrer hingegen positioniert sich selbst durch seine Anpassungsabsicht als fürsorglich und seine Schülerinnen und Schüler als für‐ sorge- und schonungsbedürftig. Diese niedrigpositionierende Zuschreibung wird im Verlauf der Sequenz fort‐ geführt, wenngleich das Leistungsvermögen ab hier nur am Rande eine Rolle spielt. So schreibt Herr Walter den Schüler/ innen explizit fehlende Erfahrung mit Buchläden zu, indem er die Vermutung äußert, dass manche einen solchen zum ersten Mal betreten werden (Z. 27). Der lehrerseitigen Fremdpositionierung vorangegangen ist hier eine von häufigen Abbrüchen gekennzeichnete weitge‐ hend monologische Sequenz von selbstinitiierten Selbstreparaturen, in der der Lehrer das gemeinsame Vorgehen schildert. So kündigt er an, dass sie zusammen in die Stadt gehen, spezifiziert den Ort […] „BUCHladen“ (Z. 23), nachdem er zuvor angesetzt hat darzulegen, was sie dort machen, dies aber abgebrochen hat. Es folgt ein weiterer Abbruch, nach dem der Lehrer - an ein ablehnendes Auf‐ stöhnen einiger Schülerinnen und Schüler anschließend - mit Nachdruck in Aussicht stellt: „wir gehen zusammen in einen BUCHladen; “ (Z. 26). Erst dann erfolgt die klare Zuweisung von fehlender Büchererfahrung: (.) „und wahr‐ scheinlich (.) zum ERsten mal für manche von euch,“ (Z. 27). Die häufigen Ab‐ brüche verweisen darauf, dass der Lehrer in dem, was er sagt, eine Problemquelle sieht und diese mit den Selbstreparaturen bearbeitet. Reparaturen dienen u. a. dazu, intersubjektives Verstehen wiederherzustellen (Stukenbrock 2013: 242), so dass hier zwei Lesarten möglich sind. Zum einen werden durch die wiederholte Betonung des Ortes auch sequenziell den Schüler/ innen fehlende Bezüge zu Buchläden und dem Kauf von Büchern zugeschrieben; zum anderen folgt diesen Ausführungen die Mitteilung, dass die Schüler/ innen bis zu 10 € in ein Buch investieren müssen - ein Umstand, der Widerspruch und Ablehnung hervor‐ rufen wird. Die Reparatursequenz kann somit auch als Hinauszögern dieser Mitteilung gelesen werden. Ab diesem Punkt im Sequenzverlauf treten Äußerungen auf, die eine vorhe‐ rige Positionierung verhandeln, und zwar vor allem die stark defizitorientierten und expliziten Fremdpositionierungen des Lehrers. Nach Harré und van Lan‐ genhove (1999: 20) handelt es sich dabei um Positionierungen zweiter Ordnung. Der erste explizite Widerspruch bezieht sich auf die Aussage des Lehrers, dass manche wahrscheinlich zum ersten Mal einen Buchladen betreten werden. 72 Ina Kordts <?page no="73"?> Patrick, ein ehemaliger Realschüler, der seine alte Schule wegen einer Graffiti‐ schmiererei am Schulgebäude verlassen musste, widerspricht ihm sofort mit einem langgezogenen „nei: : n; “ (Z. 28) und weist somit die Positionierung als bücherunerfahren explizit zurück. Interessanterweise führt dies aber nicht zu Verhandlungen dieses expliziten Dissenses, denn ohne darauf verbal einzu‐ gehen, führt Herr Walter seine Ausführungen zu Ende, indem er den maximalen Preis für das dort zu erwerbende Buch nennt. Dieses Vermeiden von Aushand‐ lung und Konfrontation zeigt sich auch in den anderen Positionierungen zweiter Ordnung in dieser Sequenz, wie gleich zu zeigen sein wird. Zuvor aber ein kurzer Blick in den weiteren Interaktionsverlauf, in den die weiteren Positionierungen zweiter Ordnung eingebettet sind: Die nun folgenden Reaktionen der Schüler/ innen setzt vor allem den vom Lehrer genannten Preis relevant, den sie selber zu zahlen haben und der für sie viel Geld darzustellen scheint. Der Lehrer folgt diesem Fokus und erkennt durch die Betonung des Maximalbetrags und dem Hinweis, dass es auch billigere Bücher gibt, den Umstand an, dass es für die Schüler/ innen viel Geld ist (Z. 30-35). Er positioniert sich dadurch als verständ‐ nisvoll und wiederum um seine Schüler wissend. Er baut die Fremdpositionie‐ rung der Schülerschaft als bücher- und buchladenunerfahren noch weiter aus, indem er von dem Erstauntsein seiner vorherigen Klasse über die Vielfalt dort berichtet: „(1. 23) weil viele überrascht sind was es eigentlich alles GIBT; “ (Z. 44). Dies löst wieder eine schülerseitige Reaktion aus: Patrick, der zuvor schon widersprochen hat, weist erneut die Unerfahrenheit mit Büchern zurück, indem er kundtut, dass er bereits in einer Bücherei war (Z. 47). Auch implizit wird diese Positionierung der Schüler/ innen zwei Mal von Schülerseite zurückgewiesen, einmal durch eine Einschätzung, dass 10 € für ein Buch noch gehen (Z. 33), zum anderen auf den impliziten Verweis, dass sie zuhause Bücher hätten: „(1. 13) können wir nicht eins (.) von daHEIM nehmen,“ (Z. 41). In allen drei Fällen handelt es sich dabei um Positionierungen zweiter Ordnung, denn sie wider‐ sprechen den Positionierungen des Lehrers und zeigen, dass sich zumindest die sich äußernden Schüler mit Büchern auskennen. Wie oben bereits angesprochen, zeichnet sich diese Sequenz dadurch aus, dass es zwar zu schülerseitigen Widersprüchen kommt, diese aber nicht zu Verhand‐ lungen der Positionierungen führen, sondern einfach übergangen werden. Bei Patricks letzter und elaborierter Zurückweisung „und ich WAR schon mal in ner bücherei; “ (Z. 47) ist dies nicht mehr möglich und führt sofort zu einer Rück‐ nahme der Positionierung, indem Herr Kern diese als einen Scherz (Z. 49) dar‐ stellt. Diese Reaktion belegt, dass zumindest der Lehrer in diesem Moment Pat‐ ricks Verweis auf die Bücherei nicht als falsches Synonym für Buchladen auffasst - Patricks Äußerung hätte auch als Bestätigung verstanden werden können, 73 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="74"?> dass die Schüler mit allem, was mit Büchern zusammenhängt, nicht sonderlich vertraut sind - sondern als Nachweis von Erfahrungen mit bücherführenden Institutionen. In dieser Szene sind starke lehrerseitige Zuschreibungen von Bildungsferne, fehlender Erfahrung mit Büchern und Buchläden, aber auch mangelndem Leis‐ tungsvermögen, auf das Herr Walter mit Anpassungsleistungen und Ver‐ ständnis reagiert, zu finden. Dies deckt sich mit Dietrichs (2010) Analyse des Lehrerverhaltens in der Hauptschule, die sie unter der Überschrift „Zuwendung als Benachteiligung? “ (ebd.: 199 ff.) als eine im Sprechgestus ritualisierte Form der Fürsorge beschreibt und diskutiert. So kommt die Frage auf, ob es sich hier um schultypspezifische Praktiken handelt - dies wird in der Diskussion Thema sein. Während im hier vorliegenden Datum auf die Anpassung der Anforde‐ rungen keine darauf bezogene Reaktion der Schüler/ innen erfolgt, wird der Zu‐ schreibung von Bildungsferne im Sinne von wenigen Berührungspunkten mit Büchern und bücherführenden Einrichtungen auch explizit widersprochen, ob‐ wohl diese Zuschreibung, zumindest im ersten Beispiel, in abgeschwächter Form geäußert wurde: „(.) und wahrscheinlich (.) zum ERSten mal für manche von euch,“ (Z. 27) - Patrick hätte sich da nicht angesprochen fühlen müssen. Auffällig ist hier, dass es nur eine Positionierung der gesamten Klasse hinsicht‐ lich des Leistungsvermögens gibt, diese aber gerahmt ist durch vielfältige Zu‐ schreibungen von Bildungsferne, so dass sich der Eindruck aufdrängt, beides hinge zusammen. Für die Kontrastierung mit auf das Leistungsvermögen bezogenen Positionie‐ rungen im Gymnasium wird erneut eine Sequenz aus dem Mathematikunter‐ richt herangezogen. Es handelt sich um eine Episode, in der die Schüler und Schüler/ innen eine mathematische Operation mündlich beschreiben sollen. 74 Ina Kordts <?page no="75"?> Datum 4: ich überFORdere euch Datum 4: ich überFORdere euch Klasse: 10, privates Gymnasium mit Internat Fach: Mathematik Lehrperson: Herr Kern (L) Schüler/ innen: Bastian (Bst), Eric (Erc), männlich, nicht zuzuordnen (S1m) 1 L: 2345678 SuS: 9 L: 10 11 12 13 14 Bst: 15 16 17 18 19 20 L: 21 Bst: 22 L: 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Bst: 32 S1m: 33 34 L: 35 36 S1m: 37 L: 38 39 40 41 42 43 44 45 Erc: 46 47 (.) das is ! RICH! tich, (.) ja, (.) also (aaron) <<len> das is in RICHtiges vorgehen,> (--) was MACHT man da anschaulich; (1.47) also du hast dir korrekt gemerkt was man MACHT. (---) stützvektor von GE nehmen, (.) bei der geraden (.) äh stützvektor von HA nehmen; ((mehrere SchülerInnen beginnen sich zu melden)) (0.09) bei der geraden ge anstelle von vektor IKS schreiben; hm was (-) dann GUCKT man halt ob_s geht. (.) ja? (-) was bedeutet das ANschaulich, (2.43) BAstian? (-)ja wir kennen das ja von der linearen GLEIchung, da setzen wir ja (--) beide gleichungen GLEICH, (---) u: nd ähm (.) in DEM fall haben wir halt dann für- (---) für für ER oder für- (-) <<all> wie auch IMmer,> (--) <<all> für die variable halt> NULL; (-) hm_hm; (.)und dann ham_mir - (-) stop; (1.09) ALles in ordnung; (1.39) ähm; (3.17) mir is WICHtich dass ihr eure beschreibungen mit anschauung verbindet. (.) ja, (.) so wie am anfang sacht man SCHAU auf die beiden richtungsvektoren; (--) (vielfache) voneinander SIND, (.) denn dann WEISS ich (.) und so weiter. (4.41) ja? ja, (.) ähm also ich würde die gerade ge und HA? (1.07) GLEICHsetzen und dann ausrechnen - (.) WÜRdest du aber <<lachend> wir sind nicht bei den BEIden,> ich überFORdere euch im moment ein bisschen; [((unverständlich))] [ich WEISS es, ] (-) <<f> UND; > (1.33) bei vielen von euch auch eine SCHWÄChe,= =dass ihr die SAchen nich wiederholt. ( .) das MACHT_S dann- (1.27) MÜHsam für euch- (-) <<staccato> euer (.) gutes mathematisches potenZIAL auszuschöpfen.> (1.31) ERic. (-) <<p> ich verSUCH_S ma.> (--) ähm; (--) wir haben ja wir nehmen ja (.) wir setz(.)en das ja GLEICH; 75 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="76"?> In diesem Ausschnitt äußert Herr Kern genau, wie die Antwort auf seine Frage aussehen soll: Sie soll „mit anschauung“ (Z. 25, ähnlich Z. 4, 12) verbunden werden. Bastians Antwort stellt ihn nicht zufrieden, so dass er erneut seine An‐ forderungen an die Antwort erläutert. Ein anderer Schüler beschreibt die ma‐ thematische Operation dann falsch, was dazu führt, dass Herr Kern sich als überfordernd einordnet und Aussagen über das Arbeitsverhalten und Leis‐ tungsvermögen der Klasse trifft (Z. 32-43). Im Anschluss versucht sich ein wei‐ terer Schüler an der Antwort. Auch in dieser Sequenz lassen sich vielfältige Positionierungsaktivitäten ex‐ pliziter und impliziter Art feststellen. Die Sequenz fängt mit der lehrerseitigen Ratifizierung einer Schülerantwort an und geht dann in eine Aufgabenkonkre‐ tisierung über (Z. 12). Auf diese antwortet Bastian auf eine Art, die auch für Lehrende typisch ist: „(-) ja wir kennen das ja von der linearen GLEICHung,“ (Z. 14) und indiziert somit eine Vertrautheit mit dem Lehrerhandeln. Auch Herr Kern positioniert sich in diesem ersten Abschnitt bereits als klar in seiner Rolle als Lehrer verwurzelt, indem er seine Anforderungen deutlich macht: Er unter‐ bricht die Erklärung und signalisiert mit „(1. 09) ALles in ordnung; “ (Z. 23) aber gleich, dass er keinen inhaltlichen Fehler sieht. Er nutzt die Unterbrechung, um seinen Fokus nochmals relevant zu setzen, nämlich, dass die Beschreibung mit Anschauung verbunden wird (Z. 25), und lenkt so die nächste Schülerantwort. Dabei adressiert er durch die Wahl des Personalpronomens „ihr“ die gesamte Klasse (ebd.). Seine Ausführungen ergänzt er um ein Beispiel (Z. 27 ff.) und versichert sich in Zeile 30 mit „(4. 41) ja? “ dem Verständnis, was im nächsten Redezug von Bas‐ tian bestätigt wird. Ein anderer Schüler setzt nun an und führt aus, wie er weiter vorgehen würde. Die Formulierung des Schülers aufgreifend - „(.)WÜRdest du […]“ (Z. 34) -, weist Herr Kern den Schülervorschlag lachend zurück und geht ohne Pause dazu über, das gezeigte Nichtwissen (demonstration of non-under‐ standing im Sinne von Sacks 1992: 141) einzuordnen: „ich überFORdere euch im moment ein bisschen; “ (Z. 35). Er richtet sich dabei durch die Wahl des Perso‐ nalpronomens in der zweiten Person Plural erneut an die Klasse als Kollektiv. Damit positioniert er sich erneut als Handelnder und derjenige, der überfordert - hier ist es nicht, wie im Datum aus der Werkrealschule, eine Sache (Litera‐ turarbeit bzw. Curriculum). Er betont, dass er sich dieser Überforderung bewusst ist (Z. 37), positioniert sich somit als verstehend und fähig, das Unterrichtsge‐ schehen pädagogisch einzuordnen. An dieser Stelle findet ein Themenwechsel von der konkreten Aufgabe hin zum Arbeitsverhalten der Schüler/ innen statt: Er führt die von ihm ausgemachte Ursache an, nämlich die „[…] SCHWÄChe,= =dass ihr die SAChen nich wiederholt.“ (Z. 39 f.), die dafür verantwortlich ist, 76 Ina Kordts <?page no="77"?> dass sie ihr „[…] (.) gutes mathematisches potenZIAL […]“ (Z. 43) nicht aus‐ schöpfen können. Damit unterstreicht er, dass er das Problem im Arbeitsver‐ halten, konkret im fehlenden Wiederholen, und nicht im Leistungsvermögen sieht. Interessant ist hier, dass eine defizitäre Zuschreibung im direkten Zusam‐ menhang mit einer komplementären Positionierung auftritt, so dass sie zwar als Kritik bestehen bleibt, aber doch ermutigend wirkt, denn das Potential lässt eine Verbesserung ja zu. Letztlich macht er hier deutlich, dass er die Schüler/ innen in die Zone der nächsten Entwicklung (Vygotsky 1978) holen will. Dieser Aus‐ schnitt endet damit, dass ein weiterer Schüler an die ursprüngliche Aufgabe anknüpft und versucht, sie zu erfüllen, ohne auf die eingeschobenen Ausfüh‐ rungen des Lehrers einzugehen. Während in der Werkrealschule die Anforderungen als curricular, also von außen gesetzt, und als zu hoch dargestellt werden, werden die Anforderungen im privaten Gymnasium vom Lehrer gesetzt: „ich überFORdere euch […]“ (Z. 35) und damit ebenfalls als hoch etabliert. Beide Lehrer etablieren sich in den Daten als um ihre Schüler wissend und verständnisvoll. Herr Walter, der Lehrer der Werkrealschule, positioniert sich weiterhin als die Anforderungen anpassend und damit die Zone der nächsten Entwicklung nicht im Blick habend, während Herr Kern sich als lenkend und fordernd in Szene setzt und Anpassungen nach oben vornimmt. Auch die Ursachen, auf die die Lehrpersonen die Angst und Überforderung bzgl. der Anforderungen zurückführen, unterscheiden sich. In der Werkrealschule sind es fehlende Ressourcen wie Bildungsferne und Bü‐ cherunerfahrenheit als deutliche Verweise auf geringes kulturelles Kapital im Bourdieu’schen Sinne (Bourdieu 2008), die implizit und ohne diesen Umstand zu kritisieren der Klasse zugesprochen werden. Im privaten Gymnasium wird das Arbeitsverhalten als Ursache benannt und kritisiert, welches der Lehrer gerne verändert sehen würde und zwar mit einem deutlichen Verweis, dass das Problem nicht in ihrem mathematischen Potenzial liegt. Im Hinblick darauf unterscheidet sich auch die Positionierung der Schüler/ innen in beiden Daten. Interessant ist, dass einige der Schüler/ innen der Werk‐ realschule implizit und explizit der Zuschreibung mangelnder Ressourcen wi‐ dersprechen und so auch einen Gegensatz zwischen sich und dem Lehrer bzw. seinen Zuschreibungen etablieren, während die Schüler/ innen des privaten Gymnasiums in den Interaktionen die Anforderungen so annehmen und sich auch sprachlich dem Lehrer anpassen. Auch hier zeigt sich also am privaten Gymnasium wieder gleichgerichtetes Agieren und ein von Lehrer- und Schü‐ lerseite angenommenes Vertrauen darauf, dass die Schüler/ innen auch an‐ spruchsvollen Anforderungen gewachsen sind und gemeinsam darauf hinar‐ beiten, während in der Werkrealschule niedrigstellende Positionierungen 77 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="78"?> seitens des Lehrers die Beziehung bestimmen und die vorgenommenen Fremd‐ positionierungen der Schülerschaft keine Eigenschaft umfassen, die der eigenen Biographie des Lehrers zuschreibbar wäre. 6 Zur Schulformspezifik der Positionierungen: Verschränkung gesprächsanalytischer und ethnographischer Befunde In der obigen Analyse habe ich die Positionierungen von Klassen als Kollektiv an zwei Schulen verglichen, indem ich positiv und negativ konnotierte Positi‐ onierungen für die Bereiche Verhalten und Leistungsvermögen gegenüberge‐ stellt habe. Sowohl erfolgsversprechende als auch defizitäre Positionierungen kommen als Kollektivzuschreibungen vor und scheinen auch als erzähltes Ereignis in‐ haltlich in enger Verbindung mit der Interaktion (als erzählendes Ereignis), in der sie hervorgebracht werden, zu stehen. Diesem ist hier exemplarisch nach‐ gegangen worden, und es fällt auf, dass die hohe Spezifik der Schülerpositio‐ nierung in beiden Kontexten mit einem Schultyp zusammenfällt: An der Werk‐ realschule wird in beiden Sequenzen und in beiden Merkmalsausprägungen - Verhalten und Leistungsfähigkeit - den Schülerinnen und Schülern ein defizi‐ täres Verhalten bzw. geringes Leistungsvermögen zugeschrieben, während am Gymnasium die Schüler/ innen viel erfolgsversprechender positioniert werden, und zwar in beiden untersuchten Sequenzen. So entwickelt sich ein kongruentes Bild, wenn wir die Positionierungen jeweils nach Schultyp anschauen: Herr Kern, der Mathematiklehrer aus dem privaten Gymnasium, positioniert die Schüler/ innen der 10. Klasse in den untersuchten Unterrichtssequenzen po‐ sitiv und am Unterrichtsgeschehen konstruktiv mitwirkend (aufmerksam, kom‐ petent, selbstständig…), attestiert ihnen ein hohes fachliches Potential, tritt ihnen aber gleichzeitig fordernd gegenüber und führt Überforderungen primär auf ihr Arbeitsverhalten, das er als änderbar ansieht, zurück. Dies passt zu seinen Selbstpositionierungen. Er ist sich seiner Lehrerrolle und ihrer Möglichkeiten bewusst und nutzt sie auch, um das Lernen voranzutreiben: Er stellt Anforde‐ rungen, er evaluiert und fordert. Die Schüler/ innen reagieren in ihren Selbst‐ positionierungen darauf, indem sie versuchen, den Anforderungen gerecht zu werden, sich sprachlich ähnlich wie der Lehrer äußern und durch ihr unter‐ richtliches Engagement den Unterricht aktiv mitgestalten. Dies lässt den Ein‐ druck einer konstruktiven Arbeitsatmosphäre entstehen und zeichnet ein posi‐ tives Bild von der Schülerschaft. Vor welchem Erfahrungshintergrund ist Herr Kern in der Lage, so zu agieren? An dieser Stelle sollen die dargestellten gesprächsanalytischen Befunde durch 78 Ina Kordts <?page no="79"?> ethnographische Beobachtungen erweitert werden, um, wie eingangs be‐ schrieben, mögliche Zusammenhänge zwischen den lokal situierten Episoden und ihrer globalen Einbettung diskutieren zu können. Herr Kern ist es gewohnt, dass die Schüler/ innen ihm zuhören - einen Teil seines Unterrichts bestreitet er sitzend - so auch in der in Datum 2 vorgestellten Szene, wo sein Fehler verhandelt wird - und befindet sich damit in gleicher Körperhaltung wie seine Schüler/ innen. Am Unterrichtsanfang reicht ein ein‐ facher Diskursmarker (so), um die Unterrichtsöffentlichkeit herzustellen. Die Schüler/ innen arbeiten durch alle Unterrichtsphasen hinweg mit, auch wenn Nebengespräche sehr wohl geführt werden. Redebeitragsüberlappungen traten während meiner Hospitations- und Datenerhebungsphase in allen Mathema‐ tikstunden in dieser Klasse nur bei fachlichen Aushandlungen wie oben vorge‐ stellt auf. Mir als Betrachterin entstand der Eindruck eines gemeinsamen Un‐ terricht-Haltens, in Rahmen dessen alle Beteiligten die schulische Asymmetrie bzgl. Macht und Wissen kennen, anerkennen und sich an ihr orientieren. Die klare Etablierung der Rolle des Lehrers und der damit einhergehenden deutli‐ chen Trennung der Beteiligungsrollen innerhalb dieser institutionalisierten Kommunikation ermöglicht es Herrn Kern scheinbar gleichzeitig, diese Ab‐ grenzung durch die Hervorhebung der Gemeinsamkeiten abzuschwächen. Es etabliert sich so etwas wie eine biographische Nähe, die durch die Art und Weise, wie die Schüler/ innen sich beteiligen, bestätigt wird: Sie verhalten sich dem Lehrer ähnlich, ihnen wird ein hohes mathematisches Potential zugesprochen - die institutionell bedingte Asymmetrie wird auf einer persönlichen Ebene ge‐ schmälert. Als eine Differenzlinie etabliert er in den analysierten Abschnitten das Arbeitsverhalten, diese kann aber von den Schüler/ innen selbst aufgehoben werden und stellt somit keine unabänderliche Trennlinie dar. Ein Blick in den sozio-ökonomischen Hintergrund der Schülerschaft bestätigt diese angenom‐ mene biographische Nähe. Als Privatschule kommt das Gros der Schülerschaft aus wohlhabenden, akademisch geprägten Haushalten, die die finanziellen Mittel haben, die Schüler im Internat unterzubringen oder ihren Kindern zu‐ mindest als Tagesschüler/ innen die Privatschule zu ermöglichen; dies trifft auch überwiegend auf den Teil der Schülerschaft zu, der aus dem Ausland stammt. Diese Schüler/ innen besuchen die Schule nicht, weil ihre Eltern in Deutschland leben, sondern sie werden meist nur zu Bildungszwecken nach Deutschland geschickt. Die Schüler/ innen, denen der Schulbesuch und die Unterbringung im Internat durch das Jugendamt finanziert werden, wissen um ihre Chance und das ihnen attestierte Leistungspotential trotz der schwierigen Verhältnisse, die einen Schulbesuch fern der Familie nötig machen. 79 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="80"?> 15 So sagte die Lehrerin der Vorbereitungsklasse über ihre geflüchteten Schüler/ innen im Regelunterricht: „Das ist halt der Unterschied zu den anderen, die wollen und machen auch mit, wenn sie psychisch können.“ Anders gestalten sich die Erfahrungshintergründe der Lehrer/ innen an der untersuchten Werkrealschule. Ein Mitglied der Schulleitung wies mich auf die schwierige sozio-ökonomische Situation fast aller Schüler/ innen hin: Die Kli‐ entel der Schule sei der untere, sehr leistungsschwache Rand der Gesellschaft. Die derzeit aus den Vorbereitungsklassen kommenden Geflüchteten 15 seien so wie ihre Hauptschüler/ innen früher, die ebenso wie heute die Geflüchteten nicht primär aus prekären sozialen Verhältnissen stammten. Dies zeige sich auch darin, dass die Geflüchteten heute oft leistungsstärker als der Rest seien. Dieser sozio-ökonomische Hintergrund zeigte sich immer wieder und auch in den Be‐ lastungen, die die einzelnen Schüler/ innen tragen - die Angst um den Aufent‐ haltstitel, die Mutter im Gefängnis, die Mutter, die mit dem Tod ihres Mannes nicht umgehen kann, die generelle Geldknappheit u. s. w. Dem Lehrpersonal waren die sozio-ökonomischen und anderen Probleme, mit denen die Schüler/ innen zu kämpfen haben, sehr bewusst. Gleichzeitig beschrieb eine Lehrerin, dass sie die Schüler/ innen im Unterricht als auf sie ausgerichtete Kanonen emp‐ finde, die sie andauernd abwehren müsse. Unterricht wird hier als ein ewiger Kampf porträtiert. Die meisten Lehrer/ innen in der Klasse, die ich über mehrere Monate begleitet habe, waren selten in der Lage, in Unterrichtssituationen einen Satz in Ruhe zu formulieren, ohne dass sie unterbrochen wurden. Ein Lehrer, der die Klasse einigermaßen im Griff hatte, verschaffte sich Gehör über Nied‐ rigpositionierungen wie Jetzt lass hier mal nicht dein Elternhaus raushängen. Jede Unterrichtsstunde startete mit gut zehnminütiger Verspätung; so lange dauerte es meist, bis jede/ r die richtigen Unterlagen aus seinem bzw. ihrem Schülerfach geholt hatte. Im Unterrichtsverlauf waren es häufig fachfremde Inhalte, die zu Unterbrechungen und einem hohen Lärmpegel führten. Die Schüler/ innen waren sehr wohl inhaltlich interessiert, schweiften aber oftmals ab oder hielten sich nicht an die institutionelle Kommunikationsordnung: (still) melden und warten, bis man aufgerufen wird. Taten sie es doch, kam es häufig nicht zum Aufruf, da die Lehrperson gerade an anderer Stelle mit einem Zwischenruf, der Spielerei mit einer leeren Flasche oder einem zu spät kommenden Schüler und entsprechender Sanktionierung beschäftigt war. Das eigentlich erwünschte Ver‐ halten muss so als wirkungslos erlebt werden, was von den Schüler/ innen auch so verbalisiert wurde. Diese Verhältnisse kann auch die Schülerschaft ein‐ ordnen: Eine Schülerin fragte mich während meiner ersten Hospitationswoche, ob ich denn auch in dieser Klasse unterrichten würde. Auf meine Verneinung hin meinte sie, das sei ein Glück für mich, denn ihre Klasse sei total chaotisch. 80 Ina Kordts <?page no="81"?> Auch hier zeigt sich die von Heller und Quasthoff (in diesem Band) beschriebene, an sich selbst erlebte Erziehungsbedürftigkeit weniger privilegierter Schüler/ innen. Vor diesem Hintergrund sind die analysierten Sequenzen aus dem Unterricht der Werkrealschule zu lesen. In ihnen haben wir keine typischen Lehr-Lern-Si‐ tuation vorliegen, sondern organisierende und orientierende Thematisierungen, die das anstehende Schuljahr betreffen. Die in der Analyse herausgearbeiteten Positionierungen der Klasse als Kollektiv sind primär defizitär: Sie weisen auf unangepasstes und unreifes Verhalten hin, das den Unterrichtsablauf im vor‐ herigen Schuljahr nachhaltig gestört hat. Die Schilderung normaler Unter‐ richtssituationen, wie oben erfolgt, bettet dies in den Erfahrungshintergrund ein, aus dem heraus Herr Walter in der Klasse das Verhalten und seine Hoff‐ nungen thematisiert. Gleichzeitig stellen die lehrerseitigen Positionierungen die Klasse aber auch als ängstlich und überfordert von den regulären curricularen Anforderungen und den bildungsbürgerlichen Gepflogenheiten - Bücher kaufen und lesen - dar, so dass hier eine Polarität zwischen den Schüler/ innen und der Schule aufgebaut wird. Der Lehrer Herr Walter positioniert sich als Vermittler zwischen diesen Anforderungen, die von außen kommen - die Lite‐ raturarbeit, das dafür zu erwerbende Buch -, und der Schülerschaft. Seine für‐ sorgliche Vermittlertätigkeit wird allerdings aus seiner Sicht - so wird es in seinen Positionierungen deutlich - durch das schwache Leistungsvermögen der Klasse und ihre mangelnde Kooperativität im Sinne von unangemessenem Ver‐ halten erschwert. Dies mindert seinen Einfluss auf den Erfolg seiner pädagogi‐ schen Tätigkeit und verdeutlicht, dass Herr Walter die Situation im Unterricht nicht als ein konstruktives gemeinsames Handeln erlebt. Gestützt wird dies zudem dadurch, dass die Klasse seine Fremdpositionierungen nicht durchge‐ hend annimmt, sondern teils mit expliziten Zurückweisungen reagiert. Eine of‐ fene Konfrontation vermeidet Herr Walter dadurch, dass er die fragliche Posi‐ tionierung zurücknimmt. So zeigt sich hier das Bild einer eher leistungsschwachen Klasse, die einerseits der Fürsorge des Lehrers bedarf, ihn andererseits durch schwieriges Verhalten an seiner Wirkmächtigkeit zweifeln lässt. Die aus Sicht der Schüler/ innen teilweise falschen Zuschreibungen legen nahe, dass dem Lehrer die sozio-biographische Situation der Schüler/ innen fremd ist und zwar nicht in dem Sinne, dass er sich nicht für ihr Leben und Erleben interessiert, sondern eher so, dass ihm ein auf Erfahrungen basierendes Verständnis dafür fehlt und er somit zu niedrigpositionierenden Pauschalisie‐ rungen greift, um sein Verständnis für ihre Situation auszudrücken. Auffallend ist das Fehlen des positiven Forderns; die Differenzlinien Bildungsferne, 81 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="82"?> sozio-ökonomischer Hintergrund und schwaches Leistungsvermögen (kog‐ nitiv) erscheinen unverrückbar oder doch zumindest von ihm nicht direkt be‐ einflussbar (Verhalten). Das Fehlen einer biographischen Nähe geht also gleich‐ zeitig mit einer schwachen Position als Lehrer einher. Fasst man die Befunde zusammen, wird deutlich, dass sich die Fremdpositi‐ onierungen der Schüler/ innen vor allem durch - die Einschätzung der Schüler/ innen (positiv vs. defizitär), - - den Grad des Anspruchs an die Schüler/ innen (Fordern und - Nach-oben-Ziehen vs. Hoffen und Anpassen von Anforderungen), - die Art der Differenzlinien (individuell oder von außen gesetzt) und - - die Ansicht, wie dynamisch und bearbeitbar Differenzlinien und somit - positive Positionierungen erreichbar sind, unterscheiden. Dies sind erste Hinweise darauf, welche Differenzen sich in in‐ teraktionalen Praktiken der kollektiven Positionierung von Klassen zeigen können. 7 Einordnung und Diskussion Doch worauf verweist der Befund, dass ungünstige Positionierungen mit einer Schulform von geringem Ansehen (Werkrealschule) einhergehen und auf Ge‐ meinsamkeiten zielende und positive Positionierungen mit höheren Schul‐ formen? Lassen sich diese Erkenntnisse rückkoppeln an Strukturkategorien und sind punktuelle Fallanalysen überhaupt aussagekräftig genug für Interaktions‐ praktiken an bestimmten Schultypen? Ein genauerer Blick auf Positionierungen in einem größeren Sampling soll in Zukunft einen vertieften Einblick in die Hervorbringung und Verhandlung solcher kollektiven Identitäten liefern. Meine ethnographischen Beobachtungen während meiner Feldaufenthalte weisen al‐ lerdings bereits darauf hin, dass es eine Systematik gibt: Stark niedrigposition‐ ierende Zuschreibungen traten wiederkehrend auch in anderen Fächern und im Unterricht anderer Lehrpersonen an der Werkrealschule auf, wenngleich in un‐ terschiedlicher Ausprägung. Am privaten Gymnasium wiederum waren sie in dieser Intensität überhaupt nicht vertreten. Gleiches gilt umgekehrt für erfolgs‐ versprechende Positionierungen. Dies spricht ebenso wie die Analyseergebnisse dafür, dass es schultypspezifische Unterschiede in der kollektiven sozialen Schü‐ leridentität gibt. Die Parallelen, die sich zu Heller und Quasthoffs (in diesem Band) Befunden zum schülerseitigen Erleben von Unterricht ziehen lassen, ver‐ weisen zudem darauf, dass auch Interaktion und Erleben miteinander einher‐ gehen. 82 Ina Kordts <?page no="83"?> Zudem gibt es durchaus Befunde aus anderen Disziplinen, die zeigen, dass meine Ergebnisse keinen singulären Charakter haben: Dietrich (2010) stellt in ihrem erziehungswissenschaftlichen Vergleich kommunikativer Aktivitäten an Hauptschule und Gymnasium beispielsweise fest, dass bei Fragen und Aufgaben von den Lehrpersonen in der untersuchten Hauptschulklasse immer wieder die damit verbundenen Anforderungen, z. B. ihre Höhe oder die „mögliche Differenz zwischen den (geringen) Fähigkeiten der Schüler/ innen und (der Größe) der gestellten Aufgabe“ (ebd.: 172) thematisiert wurden, während diese Art von Aussagen in ihren Daten vom Gymnasium überhaupt nicht vorkamen. Diese als „Fürsorgesätze“ (ebd.: 176) beschriebenen Äußerungen wertet Dietrich als lehr‐ personenseitige Vermeidungsstrategie von Überforderung der Schülerinnen und Schüler, die einhergehen mit der Bereitstellung niedrigschwelliger Ange‐ bote, und als eine „ritualisierte Form der Fürsorge“ (ebd.: 200). Dem gegenüber stehen im Gymnasium vermehrt ein Lockern der notwendig asymmetrischen Beziehung“ (ebd.: 177) durch einladend-fragende Aufforderungen, die in den Formulierungen zugeschriebene Selbstverantwortung und das ausgedrückte Vertrauen in die Fähigkeiten der Schüler/ innen. Unter Berücksichtigung dieser Beobachtungen und der Erkenntnisse der obigen Analyse scheint es nahelie‐ gend, dass sprachliche Realisierungen von kommunikativen Aktivitäten mit unterschiedlichen Positionierungsaktivitäten einhergehen. Wie in den obigen Sequenzen aus der Werkrealschule exemplarisch gezeigt, werden Merkmale des sozio-ökonomischen und Bildungshintergrunds an der Werkrealschule immer wieder relevant gesetzt und somit auch reaktualisiert - Merkmale, die auch in den quantitativen Studien mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Zusammenhang gebracht werden (Autorengruppe Bildungsbe‐ richterstattung 2012; Auernheimer 2013; Klieme et al. 2010; Müller und Ehmke 2013 u. a.). Dies spricht dafür, dass die Art und Weise, wie positioniert wird, soziale Verhältnisse und damit auch soziale Ungleichheit abbildet und reprodu‐ ziert und somit auch mit soziologischen Theorien wie Bourdieus Kulturtheorie (2008 u. a.) in Einklang steht. Diesen Umstand der unterschiedlichen Unterrichtskommunikation allge‐ mein oder auch die Positionierungsaktivitäten im Speziellen allerdings allein auf das unterrichtliche Handeln von Lehrpersonen zurückzuführen, greift aus einer interaktionalen Sicht zu kurz, da alle Seiten und somit auch die Schüler/ innen an der Hervorbringung beteiligt sind. Die Schilderung der Erfahrungs‐ hintergründe zeigt die globale Einbettung auf, ohne die die Sequenzen letztlich nicht beurteilt werden dürfen. Gerade diese Tatsache spricht dafür, dass eine Beschränkung auf lokal Situiertes und damit an der Oberfläche Sichtbares, wie oft konversationsanalytisch betrieben, zumindest mit einem Fragezeichen zu 83 Kollektive Positionierungen von Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Schulformen <?page no="84"?> versehen ist. Auch lässt sich an den Analysen nachweisen, dass es Interakti‐ onsdynamiken gibt, die mit bestimmten Arten von Positionierungen zusam‐ mentreffen. Weitere Beachtung verdient auch die Frage, inwieweit im Unterricht Macht funktional an Verantwortung gekoppelt und damit für das Schüler-Lehrer-Ver‐ hältnis ausschlaggebend ist. Ein Teil der lehrerseitigen Aktivitäten bezieht sich auf das lokale Managen des Unterrichtsverlaufs. Gerade in der hier beschrie‐ benen 9. Klasse der Werkrealschule werden an die Lehrerschaft intensive Struk‐ turierungsanforderungen gestellt; sie müssen im Rahmen ihrer Verantwortung für das Gelingen des Unterrichts nicht nur das fachliche Lernen strukturieren, sondern es durch Disziplinarmaßnahmen vorbereiten und überhaupt ermögli‐ chen. In der oben geschilderten Szene betrifft dies nicht nur die Bereitschaft, sich auf eine Literaturarbeit einzulassen, sondern sie überhaupt erst durch einen gemeinsamen Bücherkauf zu ermöglichen und für die Akzeptanz eines solchen Kaufs zu werben. Durch hohe Strukturierungsanforderungen scheinen Lehr‐ personen insbesondere an der Werkrealschule herausgefordert, die Macht‐ struktur aufrechtzuerhalten und im Unterrichtsverlauf u. U. auch weniger ko‐ operativ aufzutreten, als dies in Settings mit geringeren Strukturierungsanforderungen nötig wäre. Dies ist ein möglicher Verstärker für das Heraus‐ stellen defizitärer Positionierungen. Eine genauere Untersuchung des Zusammenspiels von erzähltem und erzäh‐ lendem Ereignis an einem größeren Sampling könnte diese ersten Erkenntnisse fundieren. Auch die Frage, wie lehrerseitige Fremdpositionierungen Einfluss auf Selbstpositionierungen von Schüler/ innen und somit ggf. auf den Bildungserfolg nehmen, wäre eine interessante Folgefragestellung. Literatur Abels, Heinz (2008): Identitäten. In: Willems, Herbert (Hrsg.) Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge, Bd. 2. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 509-531. 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In dem Umstand, dass bestimmte Formen des kulturellen Kapitals von der Schule unterstellt werden, wird ein wesentlicher Grund dafür gesehen, dass der Eintritt in die Schule von „ihren Erben“ als „cultural affinity“, von Kindern aus sozial benach‐ teiligten Milieus hingegen als „cultural gap“ (Bourdieu und Passeron 1977: 127; 129) erfahren wird. Die Lernumgebungen, die Schule ausmacht, sind entspre‐ chend unterschiedlich. Der Erklärungsansatz hebt damit nicht einfach auf die Entsprechung schulseitiger Kompetenzerwartungen und kindseitiger Lernvo‐ raussetzungen ab; vielmehr setzt er die kulturelle Passung zentral. In den Fokus rücken unterschiedliche Ausprägungen des Habitus, d. h. „verinnerlichter Muster […], die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese“ (Bourdieu 1974: 143). Die Divergenzen zwischen den sozialisatorisch vermittelten - und deshalb zunächst präreflexiven - Habitusformen bedingen, dass der Bildungsraum Schule von <?page no="90"?> Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher soziokultureller Milieus in sehr unterschiedlicher Weise wahrgenommen und genutzt wird. Variierende Passungsverhältnisse werden von unterschiedlichen Disziplinen und bezogen auf unterschiedliche Kontexte - Familie, Unterricht, Zeugniskon‐ ferenzen, Elternsprechtage -, sowie auch im Rahmen von Kontextvergleichen (Lareau 2003) genauer beschrieben. Von der Ethnomethodologie und interakti‐ onalen Soziolinguistik inspirierte Studien legen familial variierende Gattungs‐ repertoires (Heller 2012; Morek 2014) frei und rekonstruieren, inwiefern Schü‐ lerinnen und Schüler in Unterrichtsgesprächen unterschiedlich agieren und auch unterschiedlich behandelt werden. Diskursive Passungen bzw. Diver‐ genzen entstehen im Unterrichtsgeschehen, wenn Schülerbeiträge, die in die kommunikativen Erwartungsschemata von Lehrpersonen passen, aufge‐ nommen und ‚weiterbearbeitet‘, nicht-passende Beiträge hingegen stehenge‐ lassen oder zurückgewiesen werden (Heller 2012; Leßmann i. E.). In höheren Klassenstufen zeigt sich dann, dass Schülerinnen und Schüler, deren herkunfts‐ spezifisch erworbene Praktiken nicht zu den schulischen Erwartungen passen, z.T. kaum mehr eigeninitiativ an Unterrichtsgesprächen partizipieren und dem‐ entsprechend sowohl fachlich als auch sprachlich weniger Lerngelegenheiten erhalten (Prediger et al. 2016; Heller 2017). Ethnografische Längsschnittstudien belegen zudem, dass auch wiederholte (passungsabhängige) Zuschreibungen von (mangelnden) Kompetenzen und Lernbereitschaften seitens der Lehrper‐ sonen einen erheblichen Einfluss auf die Konstruktion schulischer Identitäten und Lern-Trajektorien (Wortham 2006; Cekaite 2012; Heller 2012; Kordts in diesem Band) nehmen. Dass nicht nur Schüler und Lehrpersonen, sondern auch Eltern an der Kon‐ stitution von Passung mitwirken, zeigen Untersuchungen zu schulischen Sprechstundengesprächen. Kotthoff (2012; 2015; Kotthoff und Röhrs in diesem Band) weist auf Elternseite unterschiedliche „kulturelle Mitspielkompetenzen“ (Kotthoff 2012: 298) nach, d. h. milieuspezifische Ressourcen für die ‚kompe‐ tente‘ Mitgestaltung von Sprechstundengesprächen. Gerade Müttern der Mit‐ telschicht gelingt es, sich als Ersatzlehrerinnen zu inszenieren, indem sie kriti‐ sche Bewertungen ihrer Kinder vornehmen, ihre eigenen lernunterstützenden Aktivitäten im Rahmen fragmentarischer Erzählungen vorführen und auf diese Weise eine kulturelle Idealversion des schulorientierten Eltern-Seins vermitteln. Sequenzanalytische Studien wie die soeben vorgestellten legen Mechanismen frei, mit denen Passung interaktiv und in situ hergestellt wird. Wozu sie aller‐ dings keinen Zugang eröffnen, ist das schülerseitige Erleben von Passungen und Divergenzen im Unterricht. Kultursoziologisch inspirierte Studien haben einen solchen Zugang zu bahnen versucht, indem sie auf der Grundlage längsschnitt‐ 90 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="91"?> licher Interviews milieuspezifische Habitusgenesen rekonstruieren. So zeigen Kramer et al. (2009), dass bereits 10-Jährige unterschiedliche Bildungshabitus (der distinktiven Exzellenz, der Strebenden, der Bildungskonformität und -not‐ wendigkeit, der Bildungsfremdheit) ausgeformt haben, die eine mehr oder we‐ niger enge Passung zu schulischen Erwartungen aufweisen. Ein methodisch etwas anders gelagerter Zugang wurde im Projekt InterPass entwickelt, indem hinsichtlich des soziokulturellen Milieus homogen zusammengesetzte Schüler- (und Lehrer-)Gruppen gebeten wurden, videografierte Lehrer-Schüler-Interak‐ tionen zu diskutieren (zum Setting s. u.). Diese Daten eröffnen ein Fenster da‐ rauf, wie Schülerinnen und Schüler Unterricht deuten und bewerten. Im Unterschied zu früheren Arbeiten zu diesen Diskussionsdaten, die u. a. die sozialen Kategorisierungen von Lernenden (die Fitten, die Schüchternen, die Mädchen usw.) sowie die entsprechenden Kollektionen (s. u.) in den Blick nahmen (Heller und Quasthoff demn.), fokussiert der vorliegende Beitrag kom‐ plementär auf die „kategoriengebundenen Aktivitäten“ (Sacks 1972; 1989) und Merkmale ( Jayyusi 1984), die die diskutierenden Schülerinnen und Schüler mit der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ verknüpfen. Dabei nehmen wir auch in den Blick, welche stances (Ochs 1996; Kärkkäinen 2003; Du Bois 2007; Goodwin 2007) sie einnehmen, d. h. mit welcher epistemischen und affektiven Haltung und aus welcher sozialen Position heraus sie bestimmte Aspekte des Lehrerhandelns kommentieren. Aus der Art des interaktiven Stancetaking und den themati‐ sierten kategoriengebundenen Aktivitäten rekonstruieren wir gesprächsüber‐ greifende und habitualisierte Sichtweisen, die sozial benachteiligte und privile‐ gierte Schülerinnen und Schüler mit ihrem unterschiedlichen herkunftsbedingten sozialen Kapital zu Unterricht einnehmen. 2 Theoretische Konzepte Unser analytischer Zugang kombiniert also zwei Zugänge: die Rekonstruktion kategoriengebundener Aktivitäten, die von unterschiedlichen Schülergruppen mit der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ verknüpft werden, und die Analyse der stances, die die Schülerinnen und Schüler bei der Kommentierung des Lehrer‐ handelns einnehmen. Diese beiden Konzepte bilden den theoretischen Rahmen für unsere Studie und werden im Folgenden genauer expliziert. Mit dem Konzept des stance wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Sprecher in ihren Äußerungen niemals nur propositionale Gehalte mitteilen, sondern stets auch ihre Position bzw. Haltung zum Inhalt oder zu der Form des Gesagten zum Ausdruck bringen. Du Bois (2007: 163) definiert stance als 91 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="92"?> 1 Der hier genutzte Positionierungsbegriff steht zwar in einer etwas anderen For‐ schungstradition als derjenige, der im Rahmen der narrativen Forschung entwickelt wurde (siehe u. a. Harré und van Langenhove 1991; Bamberg 1997; Lucius-Hoehne und Deppermann 2000), weist aber einige Überschneidungen auf (Du Bois 2007: 152 ff.). „public act by a social actor, achieved dialogically through overt communicative means, of simultaneously evaluating objects, positioning subjects (self and others), and aligning with other subjects, with respect to any salient dimension of the socio‐ cultural field“. Stancetaking wird dieser Definition zufolge als ein dreifacher Akt angesehen, in dem Bewerten und Positionieren 1 miteinander verbunden sind, und in dessen Vollzug (Dis-)Alignments zwischen den Beteiligten hergestellt werden (Du Bois und Kärkkäinen 2012: 441). Stancetaking in seinen epistemischen, affektiven und interaktiven Funktionen kann mit einer Vielfalt sehr heterogener Ressourcen bewerkstelligt werden. Sprecher nutzen zum einen lexikalische und grammati‐ kalische Mittel wie bspw. den Verbmodus, verba cogitandi/ dicendi und episte‐ mische Modalpartikeln. Zum anderen stehen ihnen Mittel zur Verfügung, die keine expliziten stance-Markierungen darstellen, aber in bestimmten sequen‐ ziellen Umgebungen als solche fungieren können (z. B. werden Bestätigungen wie ‚that’s right‘, die als zweiter Paarteil einer Bewertungssequenz produziert werden, zu Behauptungen epistemischer Unabhängigkeit und Überlegenheit, vgl. Heritage und Raymond 2005). Weiterhin stellen stilisierende Redeinszenie‐ rungen (Günthner 2002; Kotthoff 2012; Goodwin und Alim 2010) und multimo‐ dale enactments (Deppermann 2013) Ressourcen dar, mittels derer Sprecher Fi‐ guren der Rede indexikalisch als einem bestimmten soziokulturellen Milieu zugehörig porträtieren und sich gleichzeitig mehr oder weniger stark distan‐ zieren können. Stancetaking ist noch in einer weiteren Hinsicht aufs Engste mit sozialen As‐ pekten verwoben, die für die vorliegende Studie von besonderer Relevanz ist: Die dem stancetaking zugrundeliegenden Wissens- und Wertsysteme sind sozi‐ okulturell geprägt. Was überhaupt zu einem Bewertungsobjekt wird, ist bereits größtenteils habitualisiert und geprägt von den in einer sozialen Gruppierung oder einem sozialen Milieu relevanten moralischen und sozialen Wissensord‐ nungen und Systemen von Rechten und Pflichten. Insofern lassen sich stances auch als „‚index‘ of coherent individual or community value systems“ ( Jaffe 2009: 5) verstehen. Diese alltäglichen und als selbstverständlich angenommenen Wissensordnungen umfassen auch Systeme sozialer Kategorien und die ihnen zugeordneten kategoriengebundenen Aktivitäten (Sacks 1972). Letztere bilden 92 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="93"?> zentrale Elemente des von Sacks entworfenen Konzepts der membership cate‐ gorization. Sacks zufolge sind soziale Kategorien „inference-rich devices“, weil sie mit normativen und kulturellen Erwartungen zu typischen - kategoriengebun‐ denen - Aktivitäten assoziiert sind. Die Nutzung von Alltagswissen über die typischen Merkmale von sozialen Kategorien bzw. Gruppen wird nun deshalb zu einer wesentlichen Ressource für die Verständigung, weil Schlussfolgerungen von einer Gruppenzugehörigkeit auf erwartbare Aktivitäten bzw. Merkmale und umgekehrt ermöglicht werden. So sind an die soziale Kategorie ‚Lehrer‘ Akti‐ vitäten wie das Aufrufen, Stellen von Fragen und Korrigieren gebunden, wäh‐ rend die soziale Kategorie ‚Schüler‘ mit Aktivitäten wie Sich-Melden gekoppelt ist (Bateman 2015; Heller 2017). Die Kopplung zwischen sozialen Kategorisie‐ rungen und kategoriengebundenen Merkmalen kann unterschiedlich eng sein: Die Merkmale können mit dem Typ nur „verbunden“ oder gar „konstitutiv“ für ihn sein ( Jayyusi 1984: 25). In der sequenziellen konversationellen Arbeit von Gesprächsteilnehmer/ innen können Kategorisierungen dementsprechend z. B. als Account für berichtetes oder unterstelltes Handeln der kategorisierten Person fungieren. Jayyusi (1984: 38) weist weiter darauf hin, dass die typ-ba‐ sierten Deutungen nicht für konkrete Handlungen gelten (Warum spritzt der Arzt jetzt Medikament XY? ), sondern für typ-inhärente Handlungsweisen (Spritzen verabreichen), die nicht nur mit der Kategorie ‚Arzt‘, sondern auch mit dem kontextuell gegebenen oder aufgerufenen institutionellen Setting (z. B. Krankenhaus) verbunden sind. Angewendet auf unser Interesse an der Offen‐ legung von implizitem Wissen der Mitglieder zu der sozialen Veranstaltung Un‐ terricht (Luckmann 1986) ist aus dieser inferenziellen Mechanik abzuleiten, dass wir durch die Analyse der kategoriengebundenen Aktivitäten einen Einblick gewinnen können in die Merkmale, die im Alltagswissen der diskutierenden members mit der Kategorie ‚Lehrer‘ verbunden bzw. für sie konstitutiv sind. In Bezug auf die von uns untersuchten Daten heißt dies: Wenn Schülerinnen und Schüler zu beobachtetem Lehrerhandeln Stellung nehmen, rekurrieren sie unweigerlich auf sozialisatorisch vermittelte, soziokulturell geprägte Wissens- und Wertsysteme über Unterricht und Lehrerhandeln. In ihren Diskussionen kommt zudem zum Ausdruck, inwieweit sie sich überhaupt epistemisch be‐ rechtigt und in der Lage sehen, zu bestimmten Aspekten des Lehrerhandelns Stellung zu nehmen, und welche kategoriengebundenen Aktivitäten sie als ty‐ pisches und somit hinzunehmendes oder individuelles und prinzipiell diskuta‐ bles Lehrerhandeln einordnen. Von beiden Aspekten - den eingenommenen stances als auch den thematisierten kategoriengebundenen Aktivitäten - er‐ hoffen wir uns Aufschluss darüber, wie Schülerinnen und Schüler unterschied‐ 93 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="94"?> 2 „Interaktive Verfahren der Etablierung von Passungen und Divergenzen für sprachliche und fachkulturelle Praktiken im Deutsch- und Mathematikunterricht. Eine rekonst‐ ruktive Unterrichtsstudie zur Teilhabe an schulischen Vermittlungsprozessen“, geför‐ dert mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Förderkennzei‐ chen 01JC1112; Projektleitung S. Prediger & U. Quasthoff). 3 Davon 23 männlich und 11 weiblich. 12 besuchten ein Gymnasium, 22 eine Gesamt‐ schule. 4 Berücksichtigt wurden dabei: Schulform, der sozioökonomische Status („SES“ katego‐ risiert nach Einzugsbereich der Schule und der Zuschreibung durch die Lehrpersonen) licher sozialer Herkunftsmilieus unterrichtliche Prozesse deuten und wie sie sich selbst in sozialer Hinsicht zu Unterricht und Lehrerhandeln positionieren. 3 Daten und Methode Der vorliegende Beitrag greift auf Daten der Gruppendiskussionsstudie aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt InterPass 2 zurück. Die besonderen Erhe‐ bungen dieser Teilstudie wurden im Rahmen des Projekts durchgeführt, um pa‐ rallel zu den sequenziellen Beobachtungsdaten der Unterrichtsstudie einen ana‐ lytischen Zugang zu den kollektiv geteilten Deutungen (Mannheim 1980; Bohnsack 2008) handlungsentlasteter Lehrender und Lernender zu gewinnen, die aus den videografierten unterrichtlichen Sequenzen selbst nicht zu rekon‐ struieren sind. Dabei wurden Diskussionsgruppen von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern gebildet, die in ihren wesentlichen professionellen bzw. sozialen Merkmalen den unterrichtlich Handelnden glichen. Die Teilnehm‐ enden an den Diskussionen wurden in einem standardisierten Verfahren mit kurzen, passungsrelevanten videografierten Ausschnitten aus Deutsch- und Mathematikunterrichtsstunden in fünften Jahrgangsstufen konfrontiert und aufgefordert, die Clips jeweils untereinander zu besprechen. Die Forscherinnen nahmen dabei i.S. der Gruppendiskussionsmethode (Bohnsack 2008) so wenig wie möglich Einfluss auf das Diskussionsgeschehen. Dies war u. a. deshalb wichtig, weil es uns in den Analysen wesentlich auf die Frage ankam, welche Aspekte des beobachteten Vorgangs die Beteiligten thematisch relevant setzen (Schütz 1982; zur genaueren Beschreibung dieser Daten und ihrer Einbettung in den Forschungszusammenhang vgl. Vogler et al. 2018; Heller und Quasthoff demn.). Wir untersuchen hier ein Teilkorpus in Form der sechs Gruppendiskussionen von insgesamt 34 Schülerinnen und Schülern aus fünften Jahrgangsstufen. 3 Die Zusammensetzung der sechs Gruppen sollte die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft spiegeln, die in den Unterrichtssequenzen repräsentiert waren. 4 Die Diskussionsgruppen setzten sich wie folgt zusammen: 94 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="95"?> und die Sprachbiographie (Deutsch als Erstbzw. Zweitsprache, operationalisiert nach Selbstauskunft zur Familiensprache). Gruppe Zusammensetzung (Schulart, SES, Ein-/ Mehrsprachigkeit, Geschlecht) Gruppengröße Gruppe HJ1 Gymnasium high SES (L1 und L2) Jungen 6 Gruppe HJ2 Gymnasium high SES (L2) Jungen 6 Gruppe LJ3 Gesamtschule low SES (L1 und L2) Jungen 6 Gruppe LJ4 Gesamtschule low SES (L2) Jungen 5 Gruppe LM5 Gesamtschule low SES (L1 und L2) Mädchen 6 Gruppe LM6 Gesamtschule low SES (L2) Mädchen 5 Tabelle 1: Zusammensetzung der Schülergruppen Insgesamt wurden bei den Schülerinnen und Schülern 8 Stunden und 6 Minuten videografiert. Die videografierten Gruppendiskussionen wurden anschließend vollständig nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert. Ausgehend von dem Sack’schen (1972) Konzept des Zusammenhangs von membership categorization devices mit category bound activities zur Herstellung von referentieller Kohärenz beim Verstehen und unter Nutzung des erwei‐ ternden Zugangs von Jayyusi (1984) zur Dynamik der „categorizational work“ betrachten wir hier die Charakterisierungen, mit denen Schülerinnen und Schüler die soziale Kategorie ‚Lehrer‘ in der sequenziellen Gesprächsdynamik versehen. Dabei geht es uns nicht nur um Hinweise auf das Alltags- und Erfah‐ rungswissen, das Lernende mit Lehrpersonen allgemein, als Kategorie bzw. Typ, verbinden (s. Abschnitt 2 oben): DArum versuchen die lehrer mehr mut für die kinder zu machen ( ) an die tafel kommen zu lassen. (GD3: 774 ff.). Im Rahmen der Frage, wie Lernende Unterricht sozial wahrnehmen und deuten, interessiert uns vielmehr auch, welche Aspekte des Lehrerhandelns die Teilnehmenden überhaupt ansprechen: also die lehrerin WILL glaub ich die kinder gar nicht är‐ gern. […] die will nur das RICHtige hören. (GD3: 1172 ff.). Die Beantwortung der Frage, welche Beobachtungen relevant gesetzt werden gegenüber anderen mög‐ lichen, die nicht erwähnt werden, gibt uns Hinweise darauf, welche Erfah‐ rungsperspektive auf Unterricht die Schülerinnen und Schüler als Betroffene haben. Dieser doppelte Blick sowohl auf Manifestationen von geteiltem Alltags‐ wissen über Lehrer als Kategorie als auch die Relevantsetzungen zu konkretem 95 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="96"?> Lehrerhandeln erweist sich als analytisch besonders fruchtbar: Wie erwähnt unterscheidet Jayyusi (1984: 24 ff.) zwischen konstitutiven und nicht-konstitu‐ tiven Charakterisierungen im Rahmen des Prozesses von membership-Katego‐ risierungen, also solchen, die bei der Konstruktion eines Typs unabdingbar Be‐ standteil des Typs und aus diesem erschließbar sind, und solchen, die als persönlich und biographisch bedingte Eigenschaften eines individuellen Ver‐ treters der Kategorie präsentiert werden. In Rahmen der konversationellen Ar‐ beit der sozialen Kategorisierung werden also nicht nur solche erwartbaren Bündel von Eigenschaften mit der Kategorie verbunden, die die Kategorie als solche ausmachen, wie es Sacks‘ Ausdruck der category bound activities nahelegt. Vielmehr gehören zur Arbeit des Kategorisierens auch weitere Qualifizie‐ rungen, die die kategorisierte Person kontextuell bedingt charakterisieren: „Thus, the use of categorizations is not only descriptive of persons, but is through and through an ascriptive matter“ ( Jayyusi 1984: 27, Herv. i. Or.). Es geht uns also um kategorien- oder personenbezogene Zuschreibungen, die Schülerinnen und Schüler in ihren ausgehandelten Kommentierungen zum be‐ obachteten Unterrichtsgeschehen im Gespräch mit der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ verbinden. Damit ist der Zugang verankert in der Tradition der Arbeiten zur „kommunikativen Hervorbringung von Zugehörigkeit“ (Hausendorf 2000), der diese konversationelle Arbeit im Zusammenhang mit den konversationellen Aufgaben Zuordnen (zu einer Mitgliedschaftskategorie, hier: Lehrer), Zu‐ schreiben (von verknüpften Eigenschaften und Aktivitäten) und Bewerten (stan‐ cetaking des Sprechers, s. Abschnitt 2 oben) rekonstruiert. Hausendorf macht (wie auch schon Jayyusi) darauf aufmerksam, dass es im sequenziellen Prozess zwischen Zuordnungen einerseits und Zuschreibungen und Bewertungen an‐ dererseits oft ein Verhältnis wechselseitigen Nahelegens gibt (2000: 112 f.). Im analytischen Vorgehen ist also zu beachten, dass auf Grund der unterstellten Verankerung im gesellschaftlich geteilten Wissen Komponenten dieser Trias empirisch durchaus implizit bleiben können. Weil sich Zuschreibungen und Bewertungen nicht am Vorkommen isolierter Formen festmachen lassen, gilt es, in der Analyse den jeweiligen sequenziellen Kontext zu berücksichtigen. Dies trifft auch für die Rekonstruktion der jewei‐ ligen stances zu, die sich in den Zuschreibungen und Bewertungen manifes‐ tieren. Für deren Beschreibung sind neben verbalen Mitteln auch prosodische und körperlich-visuelle Ressourcen zu berücksichtigen. Wir rekonstruieren also im folgenden Abschnitt 4 die Zuschreibungen und Bewertungen, die die diskutierenden Gruppen sozial unterschiedlich zusam‐ mengesetzter Lernender vornehmen, wenn sie der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ Aktivitäten und Eigenschaften im Rahmen von beobachtetem Unterrichtsge‐ 96 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="97"?> schehen zuschreiben. Dabei rekonstruieren wir auch, welche epistemischen und affektiven stances sie im Zuge ihrer Zuschreibungen und Bewertungen ein‐ nehmen. 4 Beobachtungen zu den Kommentierungen von Lehrenden und ihrem Handeln durch sozial differente Schülerinnen und Schüler Vergleicht man im gesamten Korpus von sechs Gruppendiskussionen solche Gruppen, deren Beteiligte aus einem mehr (GD 1 und GD 2) bzw. weniger pri‐ vilegierten sozialen Umfeld (GD 3, 4, 5 und 6, s. Tab. 1 oben) stammen, so drängen sich zunächst Gemeinsamkeiten auf: Durchgängig werden Lehrpersonen und ihr unterrichtliches Handeln thematisch im Zusammenhang mit ihrer institu‐ tionellen Rolle relevant gesetzt. Die Zuordnung zur sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ geht also in allen Gruppen sequenziell besonders oft einher mit solchen Zu‐ schreibungen, die ‚konstitutiv‘ und im Sacks’schen Sinne aus der Kategorie ab‐ leitbar sind. 4. 1 Was wird generell aus Schülerperspektive relevant gesetzt? Die Zuordnung zur sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ erscheint am häufigsten im se‐ quenziellen Zusammenhang mit lehrertypischen Aufgaben beim Management der Unterrichtsinteraktion. Die Erteilung des Rederechts („drannehmen“) taucht dabei besonders prominent auf: Bsp. 1 (GD 2) die kinder müssen ja was LERnen; . das ist ja ihre AUFgabe als lehrerin. (Markus, Gruppendiskussion 2) Bsp. 1 (GD 2) 1556 ulr also ich glaube die nimmt noch einen DRAN? 1557 oder vielleicht auch KEInen? Bsp. 2 (GD 3) 190 nas dann nimmt der lehrer äh bestimmt nen ANderen dran; 191 und ähm möchte eine ANdere begründung; Bsp. 3 (GD 2) 417 zek wo der lehrer dann ein kind drannimmt das überHAUPT nicht aufgepasst hat; Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) Dass das Management des Rederechts aus Schülersicht in besonderer Weise mit der Kategorie verknüpft ist, mag man auch daran erkennen, dass auf die übliche Frage der Forscherinnen nach der Diskussion eines jeweiligen Videoclips: „Was meint ihr: Wie geht es jetzt weiter? “ typischerweise - wie auch im obigen Bei‐ spiel (1) - mit Kommentaren zum „Drannehmen“ geantwortet wird. In ähnlicher Weise als Repräsentanten ihrer institutionellen Rolle im Unterrichtsgeschehen erscheinen Lehrpersonen im Zusammenhang mit Aktivitäten wie „an die Tafel/ nach vorne kommen lassen“, „ne Frage stellen“, „Aufgaben geben“ oder „Infor‐ mationen geben/ was erklären“, die in allen Diskussionen unterschiedslos vor‐ kommen. In allen diesen Fällen wird also die Zuordnung zur Kategorie ‚Lehrer‘ se‐ quenziell verknüpft mit kategorienkonstitutiven Zuschreibungen, die sich aus 97 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="98"?> den unterrichtlichen Aufgaben der Lehrperson ergeben, also erschließbar sind aus den Rechten und Pflichten, die die institutionelle Lehrerrolle beinhaltet. Die häufige Thematisierung derartiger eigentlich ‚selbstverständlicher‘ Zuschrei‐ bungen ist dabei sicher z.T. dem Kontext der vorliegenden Diskussionen ge‐ schuldet, deren Gegenstand ja beobachtbares Lehrer- und Schülerhandeln war. Etwas anders gelagert sind Sequenzen, in denen die kommentierenden Schü‐ lerinnen und Schüler den Lehrpersonen Strategien unterstellen, die aus deren beobachtbarem Handeln nicht unmittelbar abzuleiten sind. Dazu gehört auch die große Mehrheit der Vorkommen zum „Drannehmen“, in denen die Rede‐ rechterteilung durch die Lehrperson als Mittel zur Erreichung pädagogischer oder anderer unterrichtlicher Ziele gedeutet wird: Bsp. 2 (GD 3) die kinder müssen ja was LERnen; . das ist ja ihre AUFgabe als lehrerin. (Markus, Gruppendiskussion 2) Bsp. 1 (GD 2) 1556 ulr also ich glaube die nimmt noch einen DRAN? 1557 oder vielleicht auch KEInen? Bsp. 2 (GD 3) 190 nas dann nimmt der lehrer äh bestimmt nen ANderen dran; 191 und ähm möchte eine ANdere begründung; Bsp. 3 (GD 2) 417 zek wo der lehrer dann ein kind drannimmt das überHAUPT nicht aufgepasst hat; Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) 553 nur oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel- 554 sagt jetzt ein lehrer zu mir- 555 <<f> oKAY; > (.) 556 DAS geht. 557 meistens heißt es dass es auf JEden fall nicht falsch ist; 558 von hundert PROzent- 559 es ist jetzt zum beispiel nur SECHzig oder so; 560 also auch nicht eXAKT richtig. Bsp. 3 (GD 2) die kinder müssen ja was LERnen; . das ist ja ihre AUFgabe als lehrerin. (Markus, Gruppendiskussion 2) Bsp. 1 (GD 2) 1556 ulr also ich glaube die nimmt noch einen DRAN? 1557 oder vielleicht auch KEInen? Bsp. 2 (GD 3) 190 nas dann nimmt der lehrer äh bestimmt nen ANderen dran; 191 und ähm möchte eine ANdere begründung; Bsp. 3 (GD 2) 417 zek wo der lehrer dann ein kind drannimmt das überHAUPT nicht aufgepasst hat; Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) 553 nur oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel- 554 sagt jetzt ein lehrer zu mir- 555 <<f> oKAY; > (.) 556 DAS geht. 557 meistens heißt es dass es auf JEden fall nicht falsch ist; 558 von hundert PROzent- 559 es ist jetzt zum beispiel nur SECHzig oder so; 560 also auch nicht eXAKT richtig. Bsp. 4 (GD 1) die kinder müssen ja was LERnen; . das ist ja ihre AUFgabe als lehrerin. (Markus, Gruppendiskussion 2) Bsp. 1 (GD 2) 1556 ulr also ich glaube die nimmt noch einen DRAN? 1557 oder vielleicht auch KEInen? Bsp. 2 (GD 3) 190 nas dann nimmt der lehrer äh bestimmt nen ANderen dran; 191 und ähm möchte eine ANdere begründung; Bsp. 3 (GD 2) 417 zek wo der lehrer dann ein kind drannimmt das überHAUPT nicht aufgepasst hat; Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) 553 nur oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel- 554 sagt jetzt ein lehrer zu mir- 555 <<f> oKAY; > (.) 556 DAS geht. 557 meistens heißt es dass es auf JEden fall nicht falsch ist; 558 von hundert PROzent- 559 es ist jetzt zum beispiel nur SECHzig oder so; 560 also auch nicht eXAKT richtig. Es ist durchaus bemerkenswert, dass die Daten sowohl bei den privilegierten als auch den weniger privilegierten Schülerinnen und Schülern vielfältige Zu‐ schreibungen von verdeckten Lehrerstrategien (durch Aufrufen bestimmter Schülerinnen und Schüler eine richtige Antwort wahrscheinlich machen, man‐ gelnde Aufmerksamkeit aufdecken) aufweisen. Sowohl sozial privilegierte Gymnasiasten als auch weniger privilegierte Gesamtschülerinnen und -schüler erleben also das Unterrichtsgeschehen doppelbödig und unterstellen den be‐ obachtbaren Äußerungen der Lehrkraft routinemäßig verdeckte professionelle Absichten. Besonders häufig kreisen diese um die Frage, unter welchen Um‐ ständen Lehrpersonen „selbst das Richtige sagen“ bzw. Schülerinnen und Schüler die Antwort finden lassen: Bsp. 5 (GD 4) 98 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="99"?> Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) 553 nur oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel- 554 sagt jetzt ein lehrer zu mir- 555 <<f> oKAY; > (.) 556 DAS geht. 557 meistens heißt es dass es auf JEden fall nicht falsch ist; 558 von hundert PROzent- 559 es ist jetzt zum beispiel nur SECHzig oder so; 560 also auch nicht eXAKT richtig. Schülerinnen und Schüler deuten dabei die Äußerungen der Lehrenden wie der Lernenden in der Unterrichtsinteraktion vordringlich entlang der Einord‐ nungen von Schülerantworten als „richtig“ oder „falsch“. Um die Qualifizie‐ rungen der Lehrpersonen bzgl. der sachlichen Richtigkeit zu entschlüsseln, die offenbar aus Schülersicht eine zentrale Ordnungskategorie im schulbezogenen Wissen darstellt, haben Lernende reichhaltige Verstehensstrategien zu ent‐ sprechenden Lehreräußerungen entwickelt: Bsp. 6 (GD 4) 1557 oder vielleicht auch KEInen? Bsp. 2 (GD 3) 190 nas dann nimmt der lehrer äh bestimmt nen ANderen dran; 191 und ähm möchte eine ANdere begründung; Bsp. 3 (GD 2) 417 zek wo der lehrer dann ein kind drannimmt das überHAUPT nicht aufgepasst hat; Bsp. 4 (GD 1) 1347 ole <<f, ↓> eGAL, (.) 1348 ich nehm DEN dran, 1349 der ist SCHLAUer.> Bsp. 5 (GD 4) 619 dar ich glaub jetzt FRAGT er- 620 und dann wenn er es noch NICHT noch nicht alle verSTANden haben, 621 ja dann erklärt ER es; 622 tab jetzt MÜSsen 623 dar erklärt er das denen SELber glaub ich; Bsp. 6 (GD 4) 553 nur oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel- 554 sagt jetzt ein lehrer zu mir- 555 <<f> oKAY; > (.) 556 DAS geht. 557 meistens heißt es dass es auf JEden fall nicht falsch ist; 558 von hundert PROzent- 559 es ist jetzt zum beispiel nur SECHzig oder so; 560 also auch nicht eXAKT richtig. Bsp. 7 (GD 4) Bsp. 7 (GD 4) 1253 nur hier merkt man auch dass die lehrerin damit nicht EINverstanden ist; 1254 das SO sagt sie das irgend- 1255 sie sagt das nicht (.)FALSCH- (---) 1256 sie sagt jetzt nicht zum beispiel <<f> SUperfalsch,> 1257 MACH_s nochmal oder so- 1258 sie SAGT eben äh- 1259 <<f, ↑> was meinen die ANderen; > ((...)) 1262 wal ja weil das sind MANCHmal- 1263 das machen lehrer MEIstens; 1264 ich meine (.) weil weil MANche sagen, 1265 <<f> DENK nochmal drüber nach was du gesagt hast.> ((...)) 1273 wal also (.) nimmt dann wen ANders dran. 1274 und der erKLÄRT das dann. Bsp. 8 (GD 2) 333 zek aber ich GLAUB (.) der lehrer wusste eigentlich was er gemeint hat. (-) 334 er wollte das nur dass die (.) schüler das AUCH wissen was das ist. 335 damit die das (.) halt AUCH lernen. Bsp. 9 (GD 3) 1278 nas aber was ich bei MANchen an unserer schule (.) ach KLASse nicht GUT finde, (.) 1279 ist dass die sich weigern an die TAfel zu gehen oder zum beispiel ein blatt vorzulesen oder so; 1280 und 1281 fir weil die ANGST haben dass die was falsch machen. 1282 hel warum meinst du WArum machen die das? 1283 fir weil die angst haben dass das FALSCH ist. 1284 und dann kriegen die ÄRger. Auch die Unterstellung von weiteren professionellen Strategien ist an die Ka‐ tegorie ‚Lehrer‘ geknüpft: 99 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="100"?> Bsp. 8 (GD 2) ((...)) 1262 wal ja weil das sind MANCHmal- 1263 das machen lehrer MEIstens; 1264 ich meine (.) weil weil MANche sagen, 1265 <<f> DENK nochmal drüber nach was du gesagt hast.> ((...)) 1273 wal also (.) nimmt dann wen ANders dran. 1274 und der erKLÄRT das dann. Bsp. 8 (GD 2) 333 zek aber ich GLAUB (.) der lehrer wusste eigentlich was er gemeint hat. (-) 334 er wollte das nur dass die (.) schüler das AUCH wissen was das ist. 335 damit die das (.) halt AUCH lernen. Bsp. 9 (GD 3) 1278 nas aber was ich bei MANchen an unserer schule (.) ach KLASse nicht GUT finde, (.) 1279 ist dass die sich weigern an die TAfel zu gehen oder zum beispiel ein blatt vorzulesen oder so; 1280 und 1281 fir weil die ANGST haben dass die was falsch machen. 1282 hel warum meinst du WArum machen die das? 1283 fir weil die angst haben dass das FALSCH ist. 1284 und dann kriegen die ÄRger. Bsp. 10 (GD 1) 382 car naja bei der frage hat sich dieser kostas auch gar nich mehr geMELdet- 383 vielleicht hat der angst dass der lehrer ihn dann wieder FERtigmacht. 384 kar DAS glaub ich auch. In den obigen Beispielen ist die Zuschreibung zwar in unterschiedlichem Maß generisch gerahmt und wird nicht an die Person des einzelnen Lehrers ge‐ bunden. Allerdings erscheint hier die Verknüpfung mit der Kategorie weniger eng als im Zusammenhang mit im strengen Sinn kategoriengebundenen Akti‐ vitäten wie „drannehmen“ oder „an die Tafel holen“, weil deutlicher ausgedrückt wird, dass es um Zuschreibungen seitens der jeweils kommentierenden Dis‐ kussionsbeteiligten geht. Dies wird auch durch entsprechende Markierungen des stancetaking ausgedrückt, z. B. „oKAY heißt bei mir sowas also zum beispiel“ in Beispiel 6 oder „ich glaub“ in Beispiel 8. Hier finden wir einen ersten Hinweis darauf, dass es Zwischenstufen zwischen konstitutiven und nicht konstitutiven Zuschreibungen gibt. Eine weitere Form von - diesmal eher indirekten - Zuschreibungen zur Leh‐ rerkategorie sind solche lehrertypischen Verhaltensweisen, die die Auswirkung auf einzelne Schülerinnen und Schüler relevant setzen. Auch hier spielt das Ord‐ nungsprinzip „richtig vs. falsch“ in den Deutungen der Lernenden eine zentrale Rolle: Bsp. 9 (GD 3) Bsp. 7 (GD 4) 1253 nur hier merkt man auch dass die lehrerin damit nicht EINverstanden ist; 1254 das SO sagt sie das irgend- 1255 sie sagt das nicht (.)FALSCH- (---) 1256 sie sagt jetzt nicht zum beispiel <<f> SUperfalsch,> 1257 MACH_s nochmal oder so- 1258 sie SAGT eben äh- 1259 <<f, ↑> was meinen die ANderen; > ((...)) 1262 wal ja weil das sind MANCHmal- 1263 das machen lehrer MEIstens; 1264 ich meine (.) weil weil MANche sagen, 1265 <<f> DENK nochmal drüber nach was du gesagt hast.> ((...)) 1273 wal also (.) nimmt dann wen ANders dran. 1274 und der erKLÄRT das dann. Bsp. 8 (GD 2) 333 zek aber ich GLAUB (.) der lehrer wusste eigentlich was er gemeint hat. (-) 334 er wollte das nur dass die (.) schüler das AUCH wissen was das ist. 335 damit die das (.) halt AUCH lernen. Bsp. 9 (GD 3) 1278 nas aber was ich bei MANchen an unserer schule (.) ach KLASse nicht GUT finde, (.) 1279 ist dass die sich weigern an die TAfel zu gehen oder zum beispiel ein blatt vorzulesen oder so; 1280 und 1281 f o r weil die ANGST haben dass die was falsch machen. 1282 hel warum meinst du WArum machen die das? 1283 fir weil die angst haben dass das FALSCH ist. 1284 und dann kriegen die ÄRger. Bsp. 10 (GD 1) 382 car naja bei der frage hat sich dieser kostas auch gar nich mehr geMELdet- 383 vielleicht hat der angst dass der lehrer ihn dann wieder FERtigmacht. 384 kar DAS glaub ich auch. Das zugeschriebene Lehrerverhalten erscheint in dieser Diskussion unter sozial weniger privilegierten Jungen sehr implizit in Form des nicht genannten Agens einer passivischen Konstruktion (Z. 1284: „dann kriegen die ärger.“). Auch die Jungen einer gymnasialen Diskussionsgruppe teilen eine vergleichbare Deu‐ tung, allerdings mit explizit genanntem Agens (s. u. 4. 2. 2): 100 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="101"?> Bsp. 10 (GD 1) GUT finde, (.) 1279 ist dass die sich weigern an die TAfel zu gehen oder zum beispiel ein blatt vorzulesen oder so; 1280 und 1281 fir weil die ANGST haben dass die was falsch machen. 1282 hel warum meinst du WArum machen die das? 1283 fir weil die angst haben dass das FALSCH ist. 1284 und dann kriegen die ÄRger. Bsp. 10 (GD 1) 382 car naja bei der frage hat sich dieser kostas auch gar nich mehr geMELdet- 383 vielleicht hat der angst dass der lehrer ihn dann wieder FERtigmacht. 384 kar DAS glaub ich auch. Wir finden ähnliche Zuschreibungen im Korpus auch mit Formulierungen wie „unter Druck setzen“, „bloßstellen“, „blamieren“ oder „ärgern“. Sie sind sämtlich im Zusammenhang mit den institutionell gegebenen Handlungs- und Sanktionsmöglichkeiten der Lehrerrolle kontextualisiert, erscheinen aber dennoch in deutlich geringerem Maße kategorienkonstitutiv, insofern sie im Rahmen des stancetaking klar als nicht-evidente Deutungen oder - wie im Fall des Beispiels (10) - mit modal abschwächenden Satzadverbien („vielleicht“) gerahmt sind. Im Unterschied zur Zuschreibung von professionellen Strategien, die dem Lehrer‐ handeln unterstellt wurden, geht es hier jedoch um die Perspektivierung der Lernenden, die als Betroffene inszeniert werden. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass es eine Reihe von Ver‐ knüpfungen zwischen der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ und zugeschriebenen Verhaltensweisen gibt, die sich zwischen den sozial unterschiedlich zusammen‐ gesetzten Diskussionsgruppen nicht systematisch unterscheiden. Sie dürften damit Ausdruck der schulischen Erfahrungswelt von Schülerinnen und Schülern generell sein, die sich im Laufe der institutionellen Sozialisation herausbildet, ohne dass unterschiedliche kulturelle Prägungen hierbei eine zentrale Rolle spielen. Bei der Durchsicht der unterschiedlichen Deutungen des Unterrichtsgesche‐ hens im Zusammenhang mit dem Lehrerhandeln hat sich gezeigt, dass die Zu‐ schreibungen zwar alle in gewissem Sinne typisch für die soziale Kategorie sind, insofern sie an die professionellen Rechte und Pflichten der Lehrerrolle ge‐ bunden sind, dass es jedoch deutliche Unterschiede in der Enge der jeweiligen Verknüpfung gibt: Verfahren des stancetaking zeigen, dass Zuschreibungen in unterschiedlichem Grad bezweifelbar und damit nicht in gleichem Maße fest an die Kategorie ‚gebunden‘ sind. Interessant im Zusammenhang mit unserem Ziel, sozial distinkte Deutungen des Unterrichtsgeschehens aus Schülersicht zu erfassen, ist zudem der Befund, dass dem Lehrerhandeln durchgängig nicht beobachtbare Motive zugeschrieben werden. Diese sind allerdings unterschiedlich perspektiviert: Zum einen liegt der Fokus auf den professionellen Aufgaben der Lehrperson, die dem kundigen Schüler hinter deren (sprachlichem) Handeln im Unterricht aufscheinen, zum anderen wird die Betroffenheit des einzelnen Lernenden inszeniert, der den ne‐ gativen Folgen des Lehrerhandelns ausgeliefert ist. Beide Typen implizieren eine 101 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="102"?> Positionierung des/ der Sprechenden; letztere weisen den geringsten Grad von Kategoriengebundenheit auf. Im nächsten Abschnitt werden wir nun die Unterschiede zwischen Schüler‐ innen und Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft in den Blick rücken, indem wir zeigen, dass Gymnasiasten auch deutlich nicht-konstitutive Zu‐ schreibungen vornehmen und beide Schülergruppen sich in den Bewertungs‐ verfahren unterscheiden. 4. 2 Worin unterscheidet sich die Sicht von sozial privilegierten und weniger privilegierten Lernenden? 4. 2. 1 Inhaltlich unterschiedliche Zuschreibungen Sowohl in den sozial privilegierten als auch in den eher benachteiligten Gruppen wird auf zeitweise ausgrenzende Verhaltensweisen von Lehrpersonen Bezug genommen. Während die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler aus‐ schließlich kategorienkonstitutive und mithin rechtmäßige und notwendige Verhaltensweisen thematisieren (z. B. ‚verwarnen‘, ‚strafen‘), perspektivieren die privilegierten Schüler vergleichbare Verhaltensweisen (z. B. „fertigmachen“) als nicht konstitutiv. Wird aber ein beobachtetes Lehrerhandeln als nicht kon‐ stitutiv gedeutet, so wird es prinzipiell hinterfragbar. In den jeweiligen Deu‐ tungen und Bewertungen der sozial privilegierten und benachteiligten Schü‐ lerinnen und Schüler manifestieren sich somit auch unterschiedliche soziale stances: Sie positionieren sich in sehr unterschiedlicher Weise entweder als Sub‐ jekte mit einklagbaren Rechten und Ansprüchen oder aber als erziehungsbe‐ dürftige Objekte des Lehrerhandelns. Wir betrachten zunächst einen Ausschnitt aus einer Diskussion von sozial privilegierten Schülern. Die Zuschreibung der Intention, Schüler „fertigma‐ chen“ zu wollen, findet sich bei ihnen mehrfach. Dabei fällt auf, dass sich die diskutierenden Schüler in den Lehrer versetzen und „animieren“ (Goffman 1981), was im Kopf des Lehrers vor sich geht. Mit den Inszenierungen der Gedanken des Lehrers erfolgen Zuschreibungen also gleichsam aus dessen Innenperspektive: 102 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="103"?> Bsp. 11 (GD 1) Bsp. 11 (GD 1) 688 gle und der MAthelehrer so- 689 <<↓, creaky> ahɁ ich mach dich jetzt mal total FERtig; 690 ich schließ dich jetzt mal AUS; 691 [die anderen sind] voll GUT,> 692 kev [in geDANken; ] 693 gle [<<↓> die nehm ich jetzt] mal DRAN,> 694 kev [in geDANken; ] 695 in ge! DAN! ken; ((...)) 701 kev er DENKT am anfang, 702 <<↓> ich |WEIß schon (-) | dass der es falsch hat. |((hebt Zeigefinger))| 703 |weil er (-) | MEIstens es falsch hat; > |((hebt Zeigefinger))| 704 und dann hat er es ! RICH! tig, 705 und dann dann weil er_s falsch geDACHT hat, 706 dann macht er ihn noch ! DOCH! nochmal schnell fertig; Bsp. 12 (GD 1) 391 mar ich glaub der würde sogar (-) NACH diesem tag, 392 wenn er dann auch nochmal ! RICH! tig fertiggemacht wird, 393 würd er sofort nach HAUse gehen und sagen, 394 mir gefällt dieser LEHrer nich; 395 kannst du da mal mit dem SPREchen; 396 (2.0) 397 wenn er sich das TRAUT das so zu erzählen- Bsp. 13 (GD 3) 1298 edd also (.) in en we haben wir so_n referenDAR,= 1299 =den herrn HAmann. 1300 und (.) äh (.) der der ist voll (.) EIgentlich sehr nett und alles. 1301 und äh bei frau MÜLler und so, 1302 da kriegt man |EIne | verwarnung; |((zeigt Daumen))| 1303 und [bei der nächsten ] fliegt man soFORT in den trainingsraum. 1304 der [der ist ! ZU! nett.] 1305 edd und bei herrn hamann kriegt man immer TAUsend verwarnungen, 1306 und der schickt uns NIE in den trainingsraum; 1307 und (-) äh (-) die machen ! RICH! tig viel quatsch. 1308 und die schmeißen dann immer mit paPIERkügelc hen. Die verborgene Taktik des Lehrers zur Bloßstellung eines Schülers wird nicht lediglich verbal wiedergegeben, sondern multimodal animiert. Glenn nutzt hy‐ perbolische („total fertig“) und prosodische Mittel (tiefes Tonhöhenregister, Knarrstimme, Interjektion in Z. 689), um den Lehrer in bestimmter Weise zu porträtieren. Dessen Intention, einen Schüler fertigmachen zu wollen, wird als willkürlich und nicht auf einen bestimmten Anlass zurückgehend (Z. 689, 690, 693: „mal“) dargestellt. Ohne dass eine explizite Bewertung erfolgt, wird der Lehrer auf diese Weise als unberechenbar und gemein stilisiert. Mehr noch werden durch das replaying (Goffman 1974) auch die Rezipienten zu einer Be‐ wertung (Günthner 2002; Quasthoff 2018) eingeladen. Diese stellen durch Ko-In‐ szenierungen (ab Z. 701 ff.) Übereinstimmung in der Bewertung her: Auch Kevin führt nun mittels einer weiteren Redeinszenierung die geheimen Gedanken des Lehrers vor. Dabei werden die strategischen Überlegungen des Lehrers nicht nur verbalisiert, sondern ebenfalls multimodal in Szene gesetzt (Z. 702-703: er‐ hobener Zeigefinger). Die Intention des Fertigmachens wird nun zwar auf den Ärger des Lehrers über seine eigene Fehleinschätzung zurückgeführt (Z. 705- 706), aber erneut als willkürlich („macht er ihn […] nochmal schnell fertig“) dargestellt. Sowohl Glenn als auch Kevin perspektivieren in ihren Inszenierungen das Lehrerhandeln als eine persönliche Eigenart, die für die soziale Kategorie ‚Lehrer‘ nicht konstitutiv ist. Nicht-konstitutive Verhaltensweisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie hinsichtlich ihrer moralischen Akzeptabilität bewertet und hinterfragt werden können. Dies geschieht hier mittels Stilisierung auf implizite und subtile Art und Weise. Mit der „Entlarvung“ der verdeckten Agenda des Lehrers stellen sich die Schüler zugleich als Subjekte dar, die in der Lage sind, dessen Intention zu durchschauen (Z. 692 ff.: „in geDANken“; Z. 701: „er DENKT 103 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="104"?> am anfang,“). Sie positionieren sich auf diese Weise als dem Lehrer epistemisch ebenbürtig; sich selbst formieren sie als eine Gemeinschaft von Subjekten mit legitimen Rechten und Ansprüchen. Dass sich die Schüler nicht nur in der Lage sehen, das Lehrerhandeln zu durchschauen und zu beurteilen, sondern auch über Ressourcen verfügen, ihre Rechte einzuklagen, zeigt deutlich Beispiel (12), in dem Markus im Rahmen einer weiteren Redeinszenierung die Möglichkeit durchspielt, die Eltern als macht‐ volle Fürsprecher zu mobilisieren. Bsp. 12 (GD 1) Bsp. 11 (GD 1) 688 gle und der MAthelehrer so- 689 <<↓, creaky> ahɁ ich mach dich jetzt mal total FERtig; 690 ich schließ dich jetzt mal AUS; 691 [die anderen sind] voll GUT,> 692 kev [in geDANken; ] 693 gle [<<↓> die nehm ich jetzt] mal DRAN,> 694 kev [in geDANken; ] 695 in ge! DAN! ken; ((...)) 701 kev er DENKT am anfang, 702 <<↓> ich |WEIß schon (-) | dass der es falsch hat. |((hebt Zeigefinger))| 703 |weil er (-) | MEIstens es falsch hat; > |((hebt Zeigefinger))| 704 und dann hat er es ! RICH! tig, 705 und dann dann weil er_s falsch geDACHT hat, 706 dann macht er ihn noch ! DOCH! nochmal schnell fertig; Bsp. 12 (GD 1) 391 mar ich glaub der würde sogar (-) NACH diesem tag, 392 wenn er dann auch nochmal ! RICH! tig fertiggemacht wird, 393 würd er sofort nach HAUse gehen und sagen, 394 mir gefällt dieser LEHrer nich; 395 kannst du da mal mit dem SPREchen; 396 (2.0) 397 wenn er sich das TRAUT das so zu erzählen- Bsp. 13 (GD 3) 1298 edd also (.) in en we haben wir so_n referenDAR,= 1299 =den herrn HAmann. 1300 und (.) äh (.) der der ist voll (.) EIgentlich sehr nett und alles. 1301 und äh bei frau MÜLler und so, 1302 da kriegt man |EIne | verwarnung; |((zeigt Daumen))| 1303 und [bei der nächsten ] fliegt man soFORT in den trainingsraum. 1304 der [der ist ! ZU! nett.] 1305 edd und bei herrn hamann kriegt man immer TAUsend verwarnungen, 1306 und der schickt uns NIE in den trainingsraum; 1307 und (-) äh (-) die machen ! RICH! tig viel quatsch. 1308 und die schmeißen dann immer mit paPIERkügelc hen. In den Gruppendiskussionen der Schülerinnen und Schüler aus sozial benach‐ teiligten Milieus schreibt lediglich eine einzige Schülerin einem Lehrer die In‐ tention zu, die Schüler „fertigmachen“ zu wollen. Viel häufiger wird dagegen das Schicken in den Trainingsraum als exkludierendes Lehrerhandeln themati‐ siert. Dieses wird aber nicht etwa mittels stilisierender Inszenierungen infrage gestellt, sondern illustrierend als wiederkehrendes Ereignis (Schwitalla 1991) perspektiviert. Das Verordnen des Trainingsraums wird auf diese Weise als ka‐ tegoriengebundene Aktivität gedeutet und nicht hinsichtlich seiner Berechti‐ gung und Notwendigkeit hinterfragt. Bsp. 13 (GD 3) Bsp. 11 (GD 1) 688 gle und der MAthelehrer so- 689 <<↓, creaky> ahɁ ich mach dich jetzt mal total FERtig; 690 ich schließ dich jetzt mal AUS; 691 [die anderen sind] voll GUT,> 692 kev [in geDANken; ] 693 gle [<<↓> die nehm ich jetzt] mal DRAN,> 694 kev [in geDANken; ] 695 in ge! DAN! ken; ((...)) 701 kev er DENKT am anfang, 702 <<↓> ich |WEIß schon (-) | dass der es falsch hat. |((hebt Zeigefinger))| 703 |weil er (-) | MEIstens es falsch hat; > |((hebt Zeigefinger))| 704 und dann hat er es ! RICH! tig, 705 und dann dann weil er_s falsch geDACHT hat, 706 dann macht er ihn noch ! DOCH! nochmal schnell fertig; Bsp. 12 (GD 1) 391 mar ich glaub der würde sogar (-) NACH diesem tag, 392 wenn er dann auch nochmal ! RICH! tig fertiggemacht wird, 393 würd er sofort nach HAUse gehen und sagen, 394 mir gefällt dieser LEHrer nich; 395 kannst du da mal mit dem SPREchen; 396 (2.0) 397 wenn er sich das TRAUT das so zu erzählen- Bsp. 13 (GD 3) 1298 edd 1299 1300 1301 1302 1303 1304 der 1305 edd 1306 1307 1308 also (.) in en we haben wir so_n referenDAR,= =den herrn HAmann. und (.) äh (.) der der ist voll (.) EIgentlich sehr nett und alles. und äh bei frau MÜLler und so, da kriegt man |EIne | verwarnung; |((zeigt Daumen))| und [bei der nächsten ] fliegt man soFORT in den trainingsraum. [der ist ! ZU! nett.] und bei herrn hamann kriegt man immer TAUsend verwarnungen, und der schickt uns NIE in den trainingsraum; und (-) äh (-) die machen ! RICH! tig viel quatsch. und die schmeißen dann immer mit paPIERkügelc hen. Durch Verwendung von Modalpartikeln („EIgentlich sehr nett und alles“), den Gebrauch von Indefinitpronomen („man“), Frequenzadverbien („immer“) sowie des Tempus Präsens werden zwei Varianten des Umgangs mit unangemessenem Schülerverhalten als wiederkehrend und typisch dargestellt; kontrastiert 104 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="105"?> werden dabei das Handeln eines unerfahrenen Referendars und das einer er‐ fahrenen Lehrerin, wobei das Verhalten des Referendars mit der extreme case formulation (Pomerantz 1986) „TAUsend verwarnungen“ angesichts des unan‐ gemessenen Schülerverhaltens als inkonsequent und unprofessionell (Z. 1304: „ZU nett; “), das der erfahrenen Lehrerin dagegen als kompetent dargestellt wird. Dabei fällt auf, dass die Schüler ihre affektive Haltung vor allem in der Bewer‐ tung des Schülerhandelns (Z. 1307: „die machen ! RICH! tig viel quatsch.“) zum Ausdruck bringen, in der Bewertung des (unprofessionellen) Lehrerhandelns jedoch keinen vergleichbar starken stance einnehmen. Mehr noch als dem un‐ professionellen Handeln des Referendars wird hier also dem unangemessenen Schülerverhalten (als Konsequenz der Unprofessionalität) Relevanz beige‐ messen. Die Berechtigung von Lehrpersonen, unangemessenes Verhalten durch räumliche Exklusion zu sanktionieren, wird hier also nicht etwa angezweifelt, sondern stellt in dieser Sicht eine kategoriengebundene Aktivität dar: Lehrkräfte sind moralisch berechtigt und institutionell sogar verpflichtet, unangemessenes Schülerverhalten zu ahnden. Mit dieser Zuschreibung positionieren sich die Schülerinnen und Schüler zugleich als noch nicht selbstverantwortliche Sub‐ jekte, die deshalb zum Objekt erzieherischen Lehrerhandelns werden müssen. Dies zeigt sich auf sprachlicher Ebene erneut (vgl. Bsp. 13) an den passivischen Konstruktionen, in denen die Schülerinnen und Schüler als Agens allenfalls im‐ plizit benannt sind (Z. 1302/ 1305: „eine/ tausend verwarnungen kriegen“). 4. 2. 2 Bewertungen aus quasi-professioneller Sicht vs. persönlicher Betroffenheit In den obigen Beispielen ist bereits angeklungen, dass die sozial privilegierten und benachteiligten Schülerinnen und Schüler das beobachtete Lehrerhandeln aus unterschiedlichen sozialen Positionen heraus sehen und bewerten. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Gymnasiasten emotionale und kog‐ nitive Befindlichkeiten der Lernenden wie Verunsicherung oder „Druck“ (vgl. Heller und Quasthoff demn.) eher auf ein problematisches Agieren der Lehr‐ person zurückführen. Zu letzterem entwickeln sie Alternativen und nehmen damit eine quasi-professionelle Sicht auf das Lehrerhandeln ein. Dagegen deuten die sozial eher benachteiligten Schülerinnen und Schüler emotionale und kognitive Befindlichkeiten als eine persönliche Eigenschaft, die nicht dazu be‐ rechtigt, ein verändertes Lehrerverhalten einzufordern. Ein Entwurf lehrersei‐ tiger Handlungsalternativen, die sich auf die eigene Befindlichkeit positiv aus‐ wirken könnte, bleibt i. d. R. aus. Beispiel (14) stammt aus einer Diskussion der sozial privilegierten Gruppen. Die Beteiligten schreiben dem Lehrer nicht nur die Intention des Ab‐ 105 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="106"?> schieben-Wollens zu und bewerten dies als „fies“, sondern führen auch Hand‐ lungsalternativen vor. Bsp. 14 (GD 1) Bsp. 14 (GD 1) 290 kar aber der lehrer ist irgendwie auch FIES zu diesem ähm- 291 mar kostas- 292 kar KOStas,= 293 =weil er eigentlich ihn immer ! AB! schiebt; 294 weil weil er sagt <<f> SECHzig? > 295 <<empört, ↓> obwohl das ja eigentlich auch RICHtig wär; > 296 sagt er ein bisschen <<genervt, f> kann ich das HINschreiben, 297 ist das RICHtig,> 298 so an die |KLASse; | (---) |((schüttelt Kopf))| 299 und das ist jetzt auch n bisschen doof vom LEHrer würd ich jetzt sagen. (3.0) 300 mar hm; (2.0) 301 der lehrer könnte auch einfach sagen- 302 <<f> ja RICHtig oder FALSCH; > 303 kar |JA; | |((nickt))| 304 kar |das würd ich jetzt AUCH sagen; | |((nickt)) | 305 mar und wenn und wenn und wenn er sagt <<f> RICHtig,> 306 und dann also er sagt dann- 307 <<f> JA, 308 es ist RICHtig, 309 erklär mal wieSO? > 310 dann kann er das ja vielleicht auch n bisschen besser [erKLÄren; =] 311 kar [((nickt)) ] 310 mar =weil wenn der DRUCK n bisschen weiter unten ist. Bsp. 15 (GD4) 1965 dar ähm ich wenn ich jetzt die SCHÜlerin wäre, 1966 ich hätte geDACHT, 1967 <<f, ↑> ja (.) warum kann sie denn nicht einfach die ANTwort sagen; > 1968 for HM_hm, 1969 hättest du das BESser gefunden, 1970 dar ja ich hätte es besser gefunden wenn sie jetzt einfach die ANTwort gesagt hätte; 1971 wal ja aber TROTZdem weil 1972 nur nein es ist aber besser wenn man in etwas REINbohrt; 1973 es ist ja Also die SCHÜler mehr fragt; Bsp. 16 (GD 1) 509 mar die is jetzt WIRklich, 510 das sieht man schon in der ERsten zeile, 511 <<liest vor> das ist ja schon ganz SUper; 512 [KLASse; >] (.) 513 kev [KLASse ] 514 dass da merkt man schon diREKT (-) ähm (-) dass die schon viel höflicher als ist der ERste lehrer; Bsp. 17 (GD 1) 1427 mar man merkt schon jetzt eigentlich nach ERsten 1428 <<all, ↓> wie viel waren das jetzt, 1429 schon zwei minuten VIER,> 1430 dass das eindeutig der NETteste von den drei lehrern ist. Wie schon in Beispiel (11) gezeigt, wird das Lehrerhandeln im Rahmen einer Redeinszenierung (Z. 293-299) implizit als genervt und moralisch nicht zu rechtfertigen porträtiert und sowohl einleitend als auch abschließend explizit als „FIES“ bzw. „n bisschen doof “ bewertet. Der affektive stance der Schüler kommt auch implizit durch die prosodische Markierung von Empörung zum Ausdruck. Die lehrerseitige Strategie des Verunsicherns durch Zurückhalten einer klaren Rückmeldung wird auf diese Weise als rechtfertigungsbedürftig und somit nicht als kategoriengebundene Verhaltensweise dargestellt. Dies wird auch daran sichtbar, dass im Anschluss mittels eines fiktiven Szenarios von einem weiteren Schüler eine Handlungsalternative entworfen wird (ab Z. 301 ff.). Dabei wird ein interaktiver Ablauf durchgespielt, bei dem unnötige emoti‐ onale Belastungen - jemanden unter Druck setzen - vermieden werden. Sozial privilegierte Schülerinnen und Schüler positionieren sich damit als in professi‐ onellen Belangen urteilsfähige Subjekte und in diesem Fall sogar als dem be‐ obachteten Lehrer epistemisch überlegen: Sie beurteilen das Lehrerhandeln si‐ cher und von einer professionellen Warte aus; mehr noch, sie inszenieren sich sogar als Subjekte, die professionelle Alternativen entwickeln können. Zudem 106 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="107"?> stellen sie sich als berechtigt dar, unter zuträglichen Bedingungen zu lernen und weisen der Lehrperson hierfür Verantwortung zu. Auch sozial weniger privilegierte Schülerinnen und Schüler kritisieren gele‐ gentlich das Lehrerverhalten, wobei es in der Diskussion dann i. d. R. auch Be‐ teiligte gibt, die die kommentierte Lehrperson unter Hinweis auf ihre institu‐ tionelle Aufgabe verteidigen. Im folgenden Ausschnitt 15 wird deutlich, dass die Kritik aus einer anderen Position heraus erfolgt als bei den Gymnasiasten: Bsp. 15 (GD 4) 297 ist das RICHtig,> 298 so an die |KLASse; | (---) |((schüttelt Kopf))| 299 und das ist jetzt auch n bisschen doof vom LEHrer würd ich jetzt sagen. (3.0) 300 mar hm; (2.0) 301 der lehrer könnte auch einfach sagen- 302 <<f> ja RICHtig oder FALSCH; > 303 kar |JA; | |((nickt))| 304 kar |das würd ich jetzt AUCH sagen; | |((nickt)) | 305 mar und wenn und wenn und wenn er sagt <<f> RICHtig,> 306 und dann also er sagt dann- 307 <<f> JA, 308 es ist RICHtig, 309 erklär mal wieSO? > 310 dann kann er das ja vielleicht auch n bisschen besser [erKLÄren; =] 311 kar [((nickt)) ] 310 mar =weil wenn der DRUCK n bisschen weiter unten ist. Bsp. 15 (GD4) 1965 dar ähm ich wenn ich jetzt die SCHÜlerin wäre, 1966 ich hätte geDACHT, 1967 <<f, ↑> ja (.) warum kann sie denn nicht einfach die ANTwort sagen; > 1968 for HM_hm, 1969 hättest du das BESser gefunden, 1970 dar ja ich hätte es besser gefunden wenn sie jetzt einfach die ANTwort gesagt hätte; 1971 wal ja aber TROTZdem weil 1972 nur nein es ist aber besser wenn man in etwas REINbohrt; 1973 es ist ja Also die SCHÜler mehr fragt; Bsp. 16 (GD 1) 509 mar die is jetzt WIRklich, 510 das sieht man schon in der ERsten zeile, 511 <<liest vor> das ist ja schon ganz SUper; 512 [KLASse; >] (.) 513 kev [KLASse ] 514 dass da merkt man schon diREKT (-) ähm (-) dass die schon viel höflicher als ist der ERste lehrer; Bsp. 17 (GD 1) 1427 mar man merkt schon jetzt eigentlich nach ERsten 1428 <<all, ↓> wie viel waren das jetzt, 1429 schon zwei minuten VIER,> 1430 dass das eindeutig der NETteste von den drei lehrern ist. Darius distanziert sich im stancetaking von der negativen Bewertung der Leh‐ rerin, indem er sie hypothetisch der betroffenen Schülerin als mentale Reaktion zugeschreibt (Z. 1967). Auch einleitend wird die Meinung deutlich als subjektiv und persönlich eingebettet (Z. 1965 f.) und damit nicht wie bei den Gymnasiasten als breiter gültige Kritik gerahmt. Eine affektive Haltung wird erst auf Nachfrage der Forscherin eingenommen (Z. 1969). Zusätzlich zu dieser Abschwächung auf eine lediglich subjektive Betroffenheit wird auch hier im weiteren Verlauf der Diskussion wieder für die Lehrperson Partei ergriffen (Z. 1972 f.). Vor diesem Hintergrund erscheint das Lehrerverhalten nun lediglich aus Schülerperspek‐ tive als unangenehm, nicht aber als professionell unangemessen oder gar un‐ berechtigt. Der Fokus der Bewertung liegt somit erneut auf den Schülerinnen und Schülern, nicht auf der Lehrperson. Während also aus Sicht der Gymnasiasten zu der Kategorie ‚Schüler‘ die ka‐ tegoriengebundene Eigenschaft gehört, lernend zu sein und noch nicht alles sicher zu wissen - ein Status, dessen Überwindung zugleich als Verpflichtung der Lehrperson angesehen wird -, wird von den sozial benachteiligten Schü‐ lerinnen und Schülern eher das individuelle Erleben relevant gesetzt. Damit einher geht, dass die Gymnasiasten selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, das Anrecht auf individuell zuträgliche Lernbedingungen einklagen zu können, wohingegen sich die Gesamtschülerinnen und -schüler als Unterrichts‐ beteiligte positionieren, die derartige Bedingungen i. Allg. unterstellen. 107 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="108"?> 4. 2. 3 Die Lehrperson als Person vs. nur als Professionelle Die Gymnasiasten betrachten die Lehrkräfte nicht nur in ihrer institutionellen Rolle, sondern auch als Akteure mit individuellen Eigenschaften wie „nett“, „höflich“ bzw. „unhöflich“. Diese nicht-konstitutiven Merkmale werden zumeist im Rahmen von Vergleichen (Bsp. 17, Z. 514, Bsp. 18, Z. 1430) festgestellt: Bsp. 16 (GD 1) 310 dann kann er das ja vielleicht auch n bisschen besser [erKLÄren; =] 311 kar [((nickt)) ] 310 mar =weil wenn der DRUCK n bisschen weiter unten ist. Bsp. 15 (GD4) 1965 dar ähm ich wenn ich jetzt die SCHÜlerin wäre, 1966 ich hätte geDACHT, 1967 <<f, ↑> ja (.) warum kann sie denn nicht einfach die ANTwort sagen; > 1968 for HM_hm, 1969 hättest du das BESser gefunden, 1970 dar ja ich hätte es besser gefunden wenn sie jetzt einfach die ANTwort gesagt hätte; 1971 wal ja aber TROTZdem weil 1972 nur nein es ist aber besser wenn man in etwas REINbohrt; 1973 es ist ja Also die SCHÜler mehr fragt; Bsp. 16 (GD 1) 509 mar 510 511 512 513 kev 514 die is jetzt WIR K lich, das sieht man schon in der ERsten zeile, <<liest vor> das ist ja schon ganz SUper; [KLASse; >] (.) [KLASse ] dass da merkt man schon diREKT (-) ähm (-) dass die schon viel höflicher als ist der ERste lehrer; Bsp. 17 (GD 1) 1427 mar man merkt schon jetzt eigentlich nach ERsten 1428 <<all, ↓> wie viel waren das jetzt, 1429 schon zwei minuten VIER,> 1430 dass das eindeutig der NETteste von den drei lehrern ist. Bsp. 17 (GD 1) 309 erklär mal wieSO? > 310 dann kann er das ja vielleicht auch n bisschen besser [erKLÄren; =] 311 kar [((nickt)) ] 310 mar =weil wenn der DRUCK n bisschen weiter unten ist. Bsp. 15 (GD4) 1965 dar ähm ich wenn ich jetzt die SCHÜlerin wäre, 1966 ich hätte geDACHT, 1967 <<f, ↑> ja (.) warum kann sie denn nicht einfach die ANTwort sagen; > 1968 for HM_hm, 1969 hättest du das BESser gefunden, 1970 dar ja ich hätte es besser gefunden wenn sie jetzt einfach die ANTwort gesagt hätte; 1971 wal ja aber TROTZdem weil 1972 nur nein es ist aber besser wenn man in etwas REINbohrt; 1973 es ist ja Also die SCHÜler mehr fragt; Bsp. 16 (GD 1) 509 mar die is jetzt WIRklich, 510 das sieht man schon in der ERsten zeile, 511 <<liest vor> das ist ja schon ganz SUper; 512 [KLASse; >] (.) 513 kev [KLASse ] 514 dass da merkt man schon diREKT (-) ähm (-) dass die schon viel höflicher als ist der ERste lehrer; Bsp. 17 (GD 1) 1427 mar man merkt schon jetzt eigentlich nach ERsten 1428 <<all, ↓> wie viel waren das jetzt, 1429 schon zwei minuten VIER,> 1430 dass das eindeutig der NETteste von den drei lehrern ist. Durch den Gebrauch epistemischer Verben („merken“) im Verbund mit Qua‐ lifizierungen wie „direkt“ oder „eindeutig“ nehmen die Gymnasiasten einen sicheren epistemischen stance zu ihrer Aussage ein und positionieren sich als Subjekte „auf Augenhöhe“, die Lehrpersonen nicht nur in ihrer institution‐ ellen Rolle, sondern auch mit ihren individuellen Eigenschaften sehen und beurteilen. Die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern bewerten die Lehr‐ kräfte als Person im Vergleich insgesamt deutlich seltener. Bewertungen der Lehrpersonen als „nett“ oder „höflich“ werden lediglich von einer einzigen Schülerin getroffen. Davon abgesehen werden den Lehrpersonen höchstens si‐ tuativ negativ konnotierte affektive Zustände oder Verhaltensweisen wie „ge‐ nervt“ oder „gemein“ zugeschrieben. Bemerkenswerter Weise werden aber auch diese von den Schülerinnen und Schülern erklärt und gerechtfertigt: „weil das LEICHT ist eigentlich.“ (Bsp. 19), „der MUSS doch streng sein vor der klasse; “ und „damit die AUFpassen.“ (Bsp. 19). Bsp. 18 (GD 3) Bsp. 18 (GD 3) 1458 nas ich glaub der lehrer wird n_bisschen (.) ähm jetzt NERvig, 1459 glaub ich geNERVT, 1460 also so sieht das irgendwie AUS; ((...)) 1470 der ab (.) aber ich ich glaub waRUM der lehrer genErvt ist, 1471 weil das richtig LEICHT ist eigentlich. Bsp. 19 (GD 6) 327 can JA. 328 der lehrer ist geMEIN. (-) 329 tij NEI: N. 330 pam woher willst du das WISsen? 331 can ja ich KENN den doch- 108 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="109"?> Bsp. 19 (GD 6) Bsp. 18 (GD 3) 1458 nas ich glaub der lehrer wird n_bisschen (.) ähm jetzt NERvig, 1459 glaub ich geNERVT, 1460 also so sieht das irgendwie AUS; ((...)) 1470 der ab (.) aber ich ich glaub waRUM der lehrer genErvt ist, 1471 weil das richtig LEICHT ist eigentlich. Bsp. 19 (GD 6) 327 can JA. 328 der lehrer ist geMEIN. (-) 329 tij NEI: N. 330 pam woher willst du das WISsen? 331 can ja ich KENN den doch- 332 tij ( ) 333 (5.0) 334 for wieSO ist er gemein? 335 til weil er ähm (.) SCHREIT. (---) 336 pam der MUSS doch streng vor der klasse; ((...)) 341 can der schreit EXtra- 342 damit die leise sind und AUFpassen. Wenn explizite und negative Bewertungen der Lehrperson erfolgen, signali‐ sieren die Sprecher mittels Vagheitsmarkern und Heckenausdrücken („glaub ich“, „so sieht das irgendwie aus“) einen unsicheren epistemischen stance. Ge‐ schieht dies nicht, wird die Bewertung wie in Bsp. 19 sofort hinterfragt (Z. 330, 334), was erneut eine Rechtfertigung des Lehrerhandelns zur Folge hat. Die Rechtfertigungen lassen die thematisierten Eigenschaften erneut als ka‐ tegoriengebunden und zum professionellen Lehrerhandeln gehörig erscheinen. Während die Gymnasiasten also die Lehrpersonen auch als Individuen sehen, betrachten die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler die Lehrper‐ sonen und sich selbst als Akteure, die ausschließlich im Rahmen ihrer institu‐ tionellen Rolle und der damit verknüpften kategoriengebundenen Aktivitäten agieren. Spielräume für Individualität werden nicht gesehen. Ein Anspruch da‐ rauf, nicht allein als Teil eines Kollektivs (vgl. Kordts in diesem Band), sondern als Individuum behandelt zu werden, wird an keiner Stelle sichtbar. 4. 3 Unterschiedliche soziale Stellungen gegenüber Lehrpersonen und Unterricht Die Analysen zeigen, dass es Verknüpfungen zwischen der sozialen Kategorie ‚Lehrer‘ und zugeschriebenen Verhaltensweisen gibt, die sich in den sozial un‐ terschiedlich zusammengesetzten Diskussionsgruppen nicht systematisch un‐ terscheiden. Daneben finden sich aber wesentliche Differenzen. Ein zentraler Unterschied ist erstens, dass die sozial benachteiligten Gesamtschülerinnen und -schüler die soziale Kategorie ‚Lehrer‘ mit konstitutiven Aktivitäten koppeln, während die sozial privilegierten Gymnasiasten auch nicht-konstitutive und somit prinzipiell hinterfragbare Aktivitäten thematisieren. Im Rahmen stilisier‐ ender Redewiedergaben enttarnen und hinterfragen sie beobachtetes Lehrer‐ handeln aus quasi-professioneller Sicht als problematisch und entwickeln Al‐ ternativen. 109 Lehrerhandeln aus Schülersicht <?page no="110"?> Des Weiteren wurde sichtbar, dass die jeweiligen Schülergruppen das Leh‐ rerhandeln aus sehr unterschiedlichen Positionen heraus bewerten: Die Gym‐ nasiasten positionieren sich als den beobachteten Lehrpersonen epistemisch ebenbürtig oder sogar überlegen. Sie inszenieren sich als Subjekte mit Rechten, die nicht nur in der Lage sind, ungerechtes Lehrerhandeln zu erkennen, sondern auch über Ressourcen verfügen, eine gerechte Behandlung einzufordern. Durch die plastische Inszenierung der verdeckten Gedanken von Lehrpersonen kon‐ struieren sie die Spielräume, die die Institution den Agenten für das strategische Verfolgen ihrer Interessen gewährt, die den eigenen zuwiderlaufen mögen. Für sie ist Schule ein Feld, auf dem komplementäre Interessen existieren und in Einklang gebracht werden müssen. Für die Bewältigung dieser Aufgabe schreiben sich die Gymnasiasten ein hohes Ausmaß an Agency zu: Sie sehen sich als handlungsmächtig und mit Ressourcen ausgestattet, um faires und lern‐ förderliches Lehrerhandeln einzuklagen. Im Unterschied dazu nehmen die sozial benachteiligten Jugendlichen fast ausschließlich aus einer inferioren Position als Schüler heraus zum Lehrerhan‐ deln Stellung, das kaum hinterfragt, sondern vielmehr erklärt und gerechtfertigt wird. Sie positionieren sich in erster Linie als erziehungsbedürftige Objekte des Lehrerhandelns, die weder die Macht noch die Berechtigung haben, eine Ver‐ änderung des Status Quo einzufordern. Die hier rekonstruierten divergierenden Positionierungen gegenüber Lehrpersonen dürften jeweils mit einem sehr un‐ terschiedlichen Erleben von Unterricht als sozialer Veranstaltung einhergehen. 5 Fazit und Ausblick Unsere Beobachtungen zeigen, wie eher privilegierte Schüler Unterricht „auf Augenhöhe“ aus einer Position der sozialen Passung heraus erleben und be‐ werten, während weniger privilegierte Schülerinnen und Schüler sich aus einer sozial inferioren Position heraus eher als wenig handlungsfähige Objekte der Bildungsinstitution positionieren. Passungen und Divergenzen zwischen erfahrungsweltlichen und institutio‐ nell erwarteten Bildungshaltungen und -praktiken finden sich auf der Ebene des schülerseitigen Erlebens von Unterricht. Bemerkenswerter Weise werden Di‐ vergenzen in den Diskussionen der sozial privilegierten Schülerinnen und Schüler an ihren eigenen Ansprüchen gemessen. Aus ihrer Sicht sind es die fiesen, unhöflichen, Schüler ausgrenzenden Lehrpersonen, die nicht ihren ei‐ genen Erwartungen und Ansprüchen an höfliche und lernförderliche Umgangs‐ formen entsprechen. Dementsprechend sehen sie die Lehrpersonen in der Pflicht, eine Passung zu ihren Erwartungen herzustellen. Auch die sozial be‐ 110 Vivien Heller / Uta Quasthoff <?page no="111"?> nachteiligten Schülerinnen und Schüler thematisieren Divergenzen. Aus ihrer Sicht sind es aber sie selbst (bzw. die beobachteten Peers), die nicht zu den schu‐ lischen Ansprüchen passen. Da letztere nicht in Zweifel gezogen werden, weisen sie sich selbst die Aufgabe zu, sich in Passung zu schulischen Erwartungen zu bringen. Die Beobachtungen bestätigen und erweitern Befunde zu elterlichem Agieren im Kontext Schule: Die milieuspezifischen sozialen Positionierungen, die sich im elterlichen Agieren in Sprechstundengesprächen (Kotthoff 2012; 2015; Kot‐ thoff und Röhrs in diesem Band; Mundwiler in diesem Band) und generell in den elterlichen Haltungen (Lareau 2003; Heller 2012; Budde in diesem Band) zeigen, finden sich auch in der Art und Weise, wie sozial benachteiligte und privilegierte Schülerinnen und Schüler Unterricht und Lehrerhandeln deuten und bewerten. Inszenieren sich die einen - wie die Mittelschichtmütter - als urteilsfähige und handlungsmächtige Ko-Profis, positionieren sich die anderen als dem System Schule größtenteils ausgeliefert. Unterschiedliche Passungen zur Bildungsinstitution erweisen sich also wesentlich als unterschiedlich erlebte Agency. Über die bildungssoziologische Dimension hinaus erweitern die Befunde auch jüngere Konzeptualisierungen von Passung und Divergenz, die diese als interaktiv hergestellt und dynamisch fassen (Quasthoff 2009; Heller 2012; Kot‐ thoff 2012). Die vorliegende Studie legt offen, dass sich Passungen und Diver‐ genzen auch in Form von Deutungen und Bewertungen von Unterricht konsti‐ tuieren, was über sequenzielle Analysen von Unterrichtsdiskursen hinaus weitere methodische Zugänge erfordert. Was diese Phänomene von Passungen und Divergenzen wiederum für die Partizipation an Unterricht und die Verfüg‐ barkeit von Lernchancen bedeuten, gilt es in zukünftigen Studien zu untersu‐ chen. Literatur Bamberg, Michael (1997): Positioning between structure and performance. Journal of Narrative and Life History 7: 1-4, 335-342. Bateman, Amanda (2015): Conversation analysis and early childhood education. The co-production of knowledge and relationships. Farnham: Ashgate. 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Stoffmenge beziehen und die von einzelnen Lehrkräften ohne Zweitkorrektur durchgeführt werden; die schrift‐ liche Abiturprüfung ist nicht Gegenstand unseres Beitrags. Schrift korrigiert Schrift Dokumentiertes Schülerwissen und die Korrektur der Lehrkräfte Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich 1 Einleitung Es gehört zum Behandlungsprogramm der Organisation Schule, in regelmä‐ ßigen Intervallen schriftliche Arbeiten - auch Klausuren, Klassenarbeiten, ÜL oder Extemporalen etc. genannt - durchzuführen. Der pädagogische Sinn dieser Schriftarbeiten besteht darin, die Fähigkeit der Insassen der Organisation zu prüfen, schulisches Wissen schriftlich darstellen zu können. 1 Hierzu werden im Deutschunterricht etwa Aufsätze geschrieben, in Englisch oder Französisch werden Vokabeln und grammatikalische Regeln abgefragt und Lückentexte aus‐ gefüllt, und in Mathematik müssen Schüler/ innen (komplexe) Aufgaben aus verschiedenen Bereichen der Mathematik (Algebra, Geometrie, Wahrschein‐ lichkeitsrechnen etc.) lösen. 2 Als Bestandteil des schulischen Alltags organi‐ sieren schriftliche Prüfungsarbeiten in sachlicher Hinsicht eine systematische Prüfung des Wissens von Schüler/ innen, denen die gleichen Fachaufgaben ge‐ stellt werden. Vom Modus eines Nacheinanders (one-at-a-time) des mündlichen Unterrichtsgespräches wechselt die Klausur in den Modus des gleichzeitigen Nebeneinanders (all-at-a-time). In der Zeitdimension ist die Wissensprüfung periodisch organisiert, d. h. sie kehrt regelmäßig Fach für Fach, Unterrichtsein‐ heit für Unterrichtseinheit wieder, sodass sich die Zeit des Prüfens und die Zeit <?page no="118"?> 3 Die historische Genese der (schriftlichen) Prüfung kann hier nicht wiedergegeben werden, angemerkt sei aber: Vermutet wird, dass die Geschichte der Leistungsüberprü‐ fung in China unter der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) beginnt (Gipps 1999). Mit der Gründung ihrer Kollegien in West- und Mitteleuropa im 16./ 17. Jahrhundert führten Jesuiten ebenfalls schriftliche Leistungsüberprüfungen ein. Gipps (1999) ver‐ mutet, dass dieses Wissen durch den Jesuitenorden, der zwischen dem 16.-18. Jahrhun‐ des Unterrichtens, die auch Prüfungsvorbereitung ist, geradezu rhythmisch ab‐ wechseln. Der Prüfungskalender eines Schuljahres, der von diesen abwech‐ selnden Zeiten des Unterrichtens/ Vorbereitens und Prüfens bestimmt ist, er‐ möglicht dem Personal der Organisation, Noten zu generieren und die Bewertung der Insassen zu legitimieren. Darüber hinaus fungieren schriftliche Arbeiten nicht nur als Grundlage für die klasseninterne Relationierung von In‐ sassen, sondern dienen den Kultusadministrationen in aggregierter Form (die sogenannten Vergleichsarbeiten) als Anlass oder zur Begründung von bildungs‐ politischen Entscheidungen. Das Organisationspersonal schreibt der schriftlichen Prüfung Vorteile zu: Aus der Annahme, formal gleich behandelter Schüler/ innen - alle haben den ‚glei‐ chen‘ Unterricht gesehen, gehört, erlebt und hierdurch gleiches Wissen er‐ werben können - resultiert ihre Vergleichbarkeit durch formal gleiche Auf‐ gaben, deren individuelle Beantwortung sie dann als ungleiche Schüler erkennbar macht (Kalthoff 2017). Die schriftlich erbrachten Antworten in der Klausur - das Lehrpersonal und der öffentliche Diskurs sprechen von ‚Leistung‘ - sind auch deshalb besonders relevant, da die Schrift der Prüfung ihren Entste‐ hungskontext überdauert und Antworten sowie ihre Bewertung nachprüfbar machen; ihre Ergebnisse ergänzen und kommentieren auch die Flüchtigkeit der symptomatischen Wissensüberprüfung (Kalthoff 1996: 109 f.). Dies impliziert, dass die Bewertung der schriftlichen Prüfung - im Gegensatz zur Bewertung des Mündlichen - einen semi-öffentlichen Charakter besitzt. So zirkuliert sie zwischen Lehrkraft, Insassen und Familien und wird mitunter Gegenstand von Rechtsprozessen. Schließlich bieten schriftliche Arbeiten auch disziplinarische und zeitökonomische Vorteile, denn alle Schüler/ innen schreiben gleichzeitig und sind für die Zeit der schriftlichen Prüfung auf ein Minimum an Bewegung und Autonomie reduziert. Die beständige Verankerung schriftlicher Arbeiten im Schulalltag hat in den Erziehungswissenschaften zu einer Fülle von Literatur zu schriftlicher Leis‐ tungsdiagnostik geführt, die sich entweder auf bestimmte Fachdidaktiken be‐ zieht (etwa Drüke-Noe 2014) oder schriftliche Arbeiten im Kontext anderer Formen der Leistungsdiagnostik behandelt (etwa Borchert et al 1991; Maier 2015). 3 Schriftliche Arbeiten werden dabei oft in den Kontext der testtheoreti‐ 118 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="119"?> dert in China missionarisch Fuß zu fassen suchte, nach Europa gelangte und als ein Mo‐ dellwissen innerhalb des jesuitischen Ordens zirkulierte und genutzt wurde. Als dann im 18./ 19. Jahrhundert der preußische Staat bildungs- und schulpolitisch tätig wird, finden schriftliche Arbeiten zunächst als Extemporalien statt, die eher Übungscharakter hatten und nicht benotet wurden. Später erhielt die Extemporale höheres Gewicht, wurde be‐ notet und war Grundlage der Leistungsbeurteilung und Versetzung in die nächste (Jahr‐ gangs-)Klasse. Unterricht galt dann als Abfolge von Lernen - Üben - Überprüfen (aus‐ führlich: Grüning 1999; Kalthoff 1998; Lindenhayn 2018; Schmidt 2013). 4 Zur Frage, wie sich das strukturfunktionalistische Konzept der Selektionsfunktion der Schule durch Leistungsbewertung im sozialwissenschaftlichen Diskurs durchsetzen konnte, siehe Breidenstein (2018). schen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität gestellt. Kritisiert wird, dass Klassenarbeiten nicht „an messtheoretisch anspruchsvollen Krite‐ rien“, sondern anhand von „Praktikerwissen“ entwickelt werden ( Jürgens 2005: 82). Auch können - so die Kritik - schriftliche Prüfungen nicht die Lern‐ voraussetzungen erfassen, da das Lehrpersonal nicht ausreichend auf dem Ge‐ biet der pädagogischen Diagnostik ausgebildet ist ( Jürgens 2005: 82 f.). Die So‐ ziologie und die sozialwissenschaftliche Bewertungsforschung wissen wenig darüber, wie Lehrkräfte in ihrer Praxis schriftliche Arbeiten vorbereiten, durch‐ führen und korrigieren. In unserem Beitrag geben wir einen empirischen Ein‐ blick in die Korrekturpraxis von Lehrkräften und nehmen eine wissenssoziolo‐ gische Perspektive ein. Wir folgen damit praxistheoretischen Überlegungen, die u. a. zeigen, wie das Lehrpersonal bei der Verrechnung und Gewichtung von Klassenarbeitsnoten sowie der Umwandlung von Punkten in Noten vorgeht (Zaborowski et al. 2011). 4 Damit verschieben wir die normative Theorie der Leistungsmessung von Schulinsassen durch das Organisationspersonal in die Praxis der Bewertung und - hiermit verknüpft - in das panoptisch angelegte System der Fremd- und Selbstbeobachtung (Kalthoff 1996: 121). Bei der Bewer‐ tung konzentrieren wir uns auf die Arbeit der ‚Korrektur‘ einzelner Klausuren, nehmen aber die Gesamtkomposition des Ergebnisses - die Arbeit am Schnitt - nicht in den Blick. Hingegen erörtern wir, wie das Lehrpersonal im Laufe der Korrektur seine Bewertungsmaßstäbe verschiebt, d. h. flexibel mit ihnen ver‐ fährt. Wir zielen damit nicht in investigativer Weise auf „Verfahrensfehler“ von Lehrkräften, sondern nehmen ihre Handlungsprobleme in den Blick: An aus‐ gewählten Fällen dokumentieren und analysieren wir ihre Vorgehensweisen und fragen nach der Funktion, die diese Vorgehensweise für sie erfüllt. Hiermit widersprechen wir der Auffassung, dass es sich bei dieser Form der schriftlichen Prüfung um ein an sich neutrales Bewertungsverfahren handelt, in welchem Lehrkräfte eine schon vorliegende Leistung von Insassen lediglich ratifizieren, der ‚Leistung‘ aber selbst nichts hinzufügen. Hingegen argumentieren wir kon‐ 119 Schrift korrigiert Schrift <?page no="120"?> stitutionstheoretisch, dass, wenn Schulinsassen ihre Klausur abgeben, noch keine ‚Leistung‘ vorliegt, sondern dass diese erst im situativen Akt der Bewer‐ tung durch die Lehrkraft entsteht (Kalthoff 2017; Kalthoff und Dittrich 2016). Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut. Zunächst stellen wir die Stationen schrift‐ licher Prüfungen und ihre periodische Einbettung in den schulischen Kalender des Unterrichts dar (2.). Hieran schließt sich eine empirische Analyse der Kor‐ rektur schriftlicher Prüfungen an. Dabei führen wir zunächst die Überlegungen zur zeitlichen Struktur schriftlicher Prüfungen in der Schulpraxis anhand einer Unterrichtseinheit im Fach Deutsch aus (3.). Anhand der Korrekturen einer Ex‐ temporale aus dieser Unterrichtseinheit gehen wir auf die Systematik der Be‐ wertung in der Korrekturpraxis ein (4.). Durch die Analyse zweier ähnlicher Lösungen einer Aufgabe aus der Klassenarbeit derselben Unterrichtseinheit zeigen wir außerdem, wie Bewertungsmaßstäbe anhand unterschiedlicher in‐ haltlicher Ebenen bei der Korrektur schülerspezifisch flexibel gehandhabt werden. (5.). Ein Fazit schließt den Beitrag ab (6.). Empirisch geht unser Beitrag auf die Forschungsarbeiten in einem sechsjäh‐ rigen DFG-Forschungsprojekt zur Differenzierung und Klassifikation von Schüler/ innen in der Schule zurück. In diesem Kontext haben wir in verschie‐ denen Schulformen und Bundesländern empirisch geforscht. Wir haben ethno‐ graphisch beobachtet, Interviews durchgeführt und Dokumente gesammelt (hierzu Breidenstein et al. 2013; Kalthoff 2003). Das so generierte empirische Material haben wir in wiederholten data sessions und angelehnt an die Grounded Theory (Strauss 1998) offen kodiert sowie Memos und analytische Notizen ver‐ fasst. Die Beispiele, die wir in diesem Text dokumentieren, stammen aus Be‐ obachtungen des Unterrichts einer Realschule. 2 Die Taktung schriftlicher Arbeiten In Regelschulen sind schriftliche Arbeiten fester Bestandteil von Unterrichts‐ einheiten. Dabei wechseln sich die Einführung und Behandlung von schulischen Themen, das wiederholende Üben und Variieren dieser Themen mittels Auf‐ gaben, das Einüben von Körperbewegungen (etwa die Haltung des Füllers oder der Ballwurf im Sport) und die schriftliche Überprüfung des (ein-)geübten Wis‐ sens miteinander ab. Dieser zeitliche Rhythmus von Behandlung eines Themas - Üben des Themas - Prüfen des Wissens - Korrektur/ Bewertung des Wissens entspricht der zeitlichen Folge von Unterrichten - Üben/ Lernen - Prüfen - Korrigieren/ Bewerten. Dass es diese enge zeitliche Taktung von Unterrichten und systematischem Prüfen gibt, ist auf den Umstand zurückzuführen, dass Lehrkräfte dann das Wissen der Schüler/ innen überprüfen, wenn es noch über‐ prüfbar ist und nicht schon vergessen wurde. Daher sprechen wir von einem 120 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="121"?> Unterrichts- und Prüfungskalender, der die Taktung der schulischen Unter‐ richts-, Prüfungs- und Bewertungspraxis vornimmt (siehe Abb. 1). Abb 1: Schulischer Zeitrhythmus Deutlich wird an der Taktung des Kalenders die zeitliche Folge der Unterrichts- und Prüfungspraxis - ein rhythmisches „Pulsieren“ (Simmel 1984: 181) von Tä‐ tigkeiten und Begegnungen, organisatorisch gerahmten Gesprächen und Auf‐ gaben, von Mediengebrauch und räumlichen Konstellationen. Der zeitliche Sinn der Schriftarbeiten ergibt sich aus der Relation von Unterrichtseinheit, behan‐ deltem Schulstoff und Klassenmanagement, also aus der aufgewendeten Zeit, der Menge des Schulstoffs und der Stimmung der Klasse. Daher dürfen diese Schriftarbeiten, die den Charakter von Stichproben haben, nicht zu früh kommen, aber auch nicht erst in der neuen thematischen Unterrichtseinheit, sondern sie liegen im Zeitraum zwischen thematischen Einheiten, welche die Lehrkraft bzw. das Curriculum vorgesehen haben. Bei längeren Zeiteinheiten wird auch Gebrauch von Zwischentests gemacht. Diese Taktung von Unter‐ richts- und Prüfungszeit ist für die Schulformen zu spezifizieren: An Grund‐ schulen findet idealtypisch zu Beginn einer Unterrichtseinheit die Einführung und Behandlung des Themas sowie das wiederholende, variierende Üben eben dieses Themas statt. In Übungsphasen können auch sogenannte Stillarbeiten vorgesehen sein, in denen Schulinsassen in einer vorgegebenen Zeit Arbeits‐ blätter bearbeiten, d. h. etwa Aufgaben rechnen, Fragen beantworten, Lücken‐ texte ausfüllen oder einen kurzen Text schreiben. Die Arbeitsblätter können Teil eines fachspezifischen Portfolios sein (etwa in Mathematik), mit denen das Or‐ ganisationspersonal den Lernprozess von Insassen beobachtet und beurteilt. Abhängig von den länderspezifischen Regelungen wird in diesen Fällen den 121 Schrift korrigiert Schrift <?page no="122"?> 5 Die Beurteilung des Portfolios erfolgt in den ersten Jahren der Grundschule nicht un‐ bedingt mit Prädikaten oder Ziffernnoten, sondern durch Zeichen (etwa , , ), mit denen nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Drittelungskategorie dokumentiert wird, sondern auch die hiermit verbundenen Zufriedenheiten der Lehrkräfte signalisiert werden. Verwendet werden ferner auch materielle Anreizformate wie Sammelbilder oder Stempelaufdrucke, die bei einer bestimmten Anzahl zu Belohnungen führen. 6 Gegen Ende der jeweiligen Schulzeit werden in höheren Jahrgangsstufen der Realschule oder des Gymnasiums auch zeitlich längere Klausuren geschrieben (in der 10. Klasse der Realschule etwa bis zu drei Zeitstunden) - eine initiierende Vorbereitung der Schüler/ innen auf die zentralen Abschlussprüfungen. Schulinsassen mündlich, aber auch schriftlich gespiegelt, was sie sicher beherr‐ schen, was sie schon ganz gut können und wo sie noch nicht so sicher sind. 5 Das Bild ändert sich in den weiterführenden Schulen. Nicht nur ändern sich die Prüfungsformate, sondern es ist an diesen Schulen üblich, dass auch unan‐ gekündigte schriftliche Arbeiten geschrieben werden. Angekündigte oder un‐ angekündigte Tests, die den Charakter von Stichproben haben, können nicht, wie oben ausgeführt, zu beliebigen Zeitpunkten, aber doch recht ad-hoc einge‐ setzt werden und verschiedene Formate annehmen. So sind im Fremdsprachen‐ unterricht Vokabeltests oder kurze Grammatiktests üblich, in anderen Fächern wird der Stoff der letzten 1-2 Unterrichtsstunden abgefragt oder eine ausführ‐ lichere Extemporale geschrieben, die sich inhaltlich auf den Stoff mehrerer Wo‐ chen Unterricht beziehen kann. Abgeschlossen werden Unterrichtseinheiten mit einer Klassenarbeit (Klausur), deren Dauer zwischen 45-90 Minuten Schreibzeit liegt. 6 Nach der Klausur beginnt in aller Regel eine neue Unter‐ richtseinheit, deren Verlauf nur durch die Rückgabe und Besprechung der ver‐ gangenen Klausur unterbrochen wird. Das heißt: Auf Unterrichtsstunden folgen schriftliche Wissensüberprüfungen, auf die wiederum Unterrichtsstunden und Wissensüberprüfungen folgen. Es gibt also immer diesen zeitlichen Wechsel der Darstellung und Bearbeitung von Wissen (‚Schulstoff ‘) und seiner Abfrage. So folgt auf die (längere) Phase der Wissensbearbeitung ein relativ kurzer Zeit‐ punkt der Wissensüberprüfung. Beide Zeitformen - Phase und Zeitpunkt - stellen die Unterrichtseinheit dar. Auf diese Wiese legt sich eine enge Folge von unterschiedlich getakteten Wissensüberprüfungen über die Unterrichtseinheit. Die Rückgabe der beurteilten Tests erfolgt im Rahmen der Unterrichtseinheit, nur die Rückgabe der beurteilten Klausur erfolgt i. d. R. erst in der sich an‐ schließenden neuen Unterrichtseinheit - wie eine Erinnerung an das vergan‐ gene Unterrichtsthema. Insgesamt bedeutet diese Periodizität von Wissensbe‐ arbeitung und Wissensüberprüfung, dass Unterricht immer zu einem Unterrichten/ Üben vor der Klausur wird. 122 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="123"?> Im Unterricht, also zeitlich vor der Klausur wird zunächst das Thema der Un‐ terrichtseinheit eingeführt und medial dargestellt, diskursiv verhandelt und ggf. auch material vorgeführt (etwa in den Experimenten der Physik- oder Chemie‐ stunden). Laufende Wiederholungen und Variationen (‚Übungen‘) erfolgen mündlich (‚Unterrichtsgespräch‘), schriftlich (u. a. ‚Arbeitsblätter‘) und z.T. auch körperlich. Der ‚Schulstoff ‘ wird also behandelnd (ein-)geübt, eine Praxis, die sich in den Hausaufgaben fortsetzt. Für die schriftlichen Arbeiten konzipiert das Lehrpersonal der Organisation seine Prüfungsfragen in Relation zum behan‐ delten Thema, koordiniert den Klausur-/ Testtermin und bestimmt ggf. einen anderen Unterrichtsraum. Die Zeit der Klausur ist gekennzeichnet durch eine Vorbereitung des Raumes (‚Klausurstellung‘), durch eine Verteilung der Schul‐ insassen auf die parzellierten Tischgruppen, durch die Ausgabe der Aufgaben‐ zettel verbunden mit der Möglichkeit, Verständnisfragen zu stellen, durch die Lösung der Aufgaben durch die Insassen sowie durch die Rückgabe der Lö‐ sungen an die Lehrkraft. Die Parzellierung des Raumes steht für die Annahme der Schule, dass ihre Insassen in der Klausur auf sich selbst zurückgeworfen und damit für sich sind. Zu Beginn der Klausur gibt es Lehrer- oder Schüleräuße‐ rungen - mitunter theatralisch - sowie auch konkrete Anweisungen. Zwei Lehrkräfte zu ihren Schüler/ innen vor einer Klausur: „So, alle Klamotten vom Tisch, außer euerm Schreibgriffel … und jetzt haltet mal euern Mund.“ „Wenngleich ich ein Anhänger der Auffassung bin, dass Wahrheit nur im Gespräch gefunden wird, arbeiten Sie jetzt bitte allein.“ Im Laufe der Klausur gehen Schüler/ innen mehr oder weniger offenen Neben‐ beschäftigungen nach, wie etwa - insbesondere bei längerer Schreibzeit - Essen und Trinken. Auch das ‚Spicken‘ oder ‚Abschreiben‘ als heimliche Aktivität, der die Schüler/ innen teils sehr geschickt nachgehen, kam in den beobachteten schriftlichen Arbeiten vor. Mit sorgenvollen Blicken, Augenrollbewegungen und Handzeichen übermitteln sie ‚Hilferufe‘ und achten dabei immer wieder auf die Blicke und Bewegungen der Lehrkraft. Lehrkräfte ihrerseits schauen sich während der Klausur im Raum um, achten auf die Einhaltung der Klausurord‐ nungen, erledigen aber auch diverse Schreib- und Lesearbeiten (wie etwa die Klassenbuchführung). Gegen Ende der Klausurzeit geben Schüler/ innen ihre Lösungen ab; die Abgabe der Lösungen erfolgt oft nach mehrmaliger Auffor‐ derung direkt bei der Lehrkraft, die einsammelnd durch den Klassenraum geht. Schüler/ innen, die frühzeitig fertig sind, wenden sich mit ihren Arbeiten direkt an die Lehrkraft. Unmittelbar danach setzt Entspannung ein und die körperliche Aktivität der Schüler/ innen nimmt spürbar zu. Sie verstellen wieder die Tische, 123 Schrift korrigiert Schrift <?page no="124"?> drehen sich zu ihren Nachbarn um, rekapitulieren und vergleichen Ergebnisse oder rennen - auf Anweisung der Lehrkraft - auf den Schulhof. In der unmit‐ telbaren Zeit nach der Klausur, und zwar dann, wenn die Unterrichtsstunde noch nicht beendet ist, bespricht die Lehrkraft die Klausuraufgaben mit den Schüler/ innen, geht auf Rückfragen ein, erläutert die Lösung der Aufgaben und damit ihre Erwartungen. Damit ist die Unterrichtseinheit abgeschlossen und die Lehr‐ kraft verstaut die Arbeiten der Schüler/ innen in ihrer Tasche, um sie an anderen Orten korrigieren und bewerten zu können. Die sich anschließende Phase - die Lektüre, Korrektur und Bewertung der Klausuren - erfolgt in aller Regel außerhalb des Klassenraumes an ganz ver‐ schiedenen Orten. So korrigieren Lehrkräfte die schriftlichen Arbeiten in halb‐ öffentlichen Räumen (etwa im Lehrerzimmer der Schule), in öffentlichen Räumen (etwa in einem Café oder während einer Zugfahrt) oder in privaten Räumen (etwa am häuslichen Schreibtisch). In diesen Räumen gehen Lehrkräfte nun ihrerseits in Klausur mit den schriftlichen Arbeiten, die ihnen das Wissen der von ihnen unterrichteten Schüler/ innen anzeigen (Kalthoff 1996). Nach der Korrektur kehren die nunmehr benoteten Schülerarbeiten in den Klassenkon‐ text zurück, werden an die Schüler/ innen ausgegeben und (noch einmal) Auf‐ gabe für Aufgabe besprochen. Dabei kommt es seitens der Schüler/ innen zu einer Vergegenwärtigung der geforderten Lösung. Gegenseitiges Informieren („Was hast du denn bei der Fünf ? “), Freude und Enttäuschung, Niedergeschla‐ genheit und Indifferenz werden durch freudige Ausrufe oder Tränen, durch Schweigen oder Stille markiert. Ebenso werden Vergleiche angestellt („mir fehlt nur ein Punkt zur Zwei“) und die Bewertung der Lehrkraft geprüft, was mitunter zu Einsprüchen und Protesten durch Schüler/ innen und ggf. auch zu einer Re‐ vision der Note durch die Lehrkraft führt. Schließlich ist die Klausur von der Schulleitung zu genehmigen, ein Vorgang, der in manchen Schulen durch eine Software vorbereitet wird, die - nach Eingabe der Noten - u. a. den Notenspiegel, die Durchschnittsnote und die Anzahl nicht ausreichender Leistungen ausgibt. Alle Dokumente einer Klausur werden in dieser von uns beobachteten Real‐ schule - versehen mit den entsprechenden Unterschriften (Schulleitung, Eltern etc.) - von der Schulorganisation archiviert: Die Arbeitshefte der Schüler werden in einem Schrank im Klassenraum aufbewahrt und die Dokumente, die zwischen Schulleitung und Lehrkräften zirkulieren, in den Verwaltungsräumen der Schule. 124 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="125"?> 3 „Der formelle Brief“ - eine Fallanalyse Im Folgenden gehen wir auf eine Unterrichtseinheit einer 8. Klasse (Realschule) im Fach Deutsch ein. An diesem Fall explizieren wir die zeitliche Taktung von Unterrichtsgegenstand - seine Einführung, Bearbeitung und Einübung - und Wissensüberprüfung durch schriftliche Klausuren. Es soll deutlich werden, wie die Unterrichtseinheit sequenzialisiert ist, damit sowohl die meisten Schüler/ innen als auch die Lehrkraft ‚bestehen‘ können. Das Thema der Unterrichtseinheit ist das schriftliche Argumentieren. Die Unterrichtseinheit erstreckt sich über insgesamt sieben Wochen und ist durch eine Woche Herbstferien unterbrochen. Der zeitlich-thematische Ablauf ge‐ staltet sich wie folgt: Zunächst wird die formale Grundstruktur eines Arguments dargestellt und seine Bestandteile - Behauptung, Begründung, Beispiel und Rückführung - herausgearbeitet und voneinander unterschieden. Diese Struktur des Arguments wird im Unterricht und als Hausaufgabe wiederholt besprochen und (ein-)geübt, so etwa, wenn Schüler/ innen Argumente für oder gegen eigene oder von der Lehrkraft vorgegebene Themen (etwa Gebrauch von Smartphones im Unterricht) formulieren. Im weiteren Verlauf der Unterrichts‐ einheit ist ‚schriftliches Argumentieren‘ der Gegenstand des Unterrichts. Hier wird zunächst darüber gesprochen, wann und warum es sinnvoll sein kann, Argumente schriftlich zu kommunizieren, und danach führt die Lehrkraft das Schreiben eines formellen Briefes ein. In der Woche vor der Arbeit wird dann das Schreiben formeller Briefe immer wieder geübt: Es ist dieses wiederholende Einüben, mit der die Lehrkraft das Wissen der Schüler/ innen einschärfen und zugleich abrufbar machen will. In den Übungen im Unterricht und in den Haus‐ aufgaben formulieren die Schulinsassen ihre fiktiven Briefanfragen an reale oder imaginierte Personen oder Institutionen und entfalten in diesen Quasi-Briefen übend den Aufbau und Inhalt einer Argumentation ebenso wie formale Gestaltungselemente dieser Briefform (Anrede, Adresse etc.). Nachdem die Schüler/ innen über mehrere Schulstunden verteilt das Schreiben und Gestalten formellen Briefe geübt haben, findet in der sich an‐ schließenden Woche der Unterricht im Computerraum der Schule statt. Die Aufgabe der Schüler/ innen ist es nun, einen solchen Brief zu einem vorgege‐ benen Thema am Bildschirm eines Rechners zu verfassen, ihn durchzusehen, auszudrucken und den Ausdruck bei der Lehrkraft abzugeben; für diese Aufgabe haben sie eine Doppelstunde lang Zeit. Im Anschluss daran korrigiert die Lehr‐ kraft diese Schriftarbeiten (‚Briefe‘), händigt sie den Schüler/ innen am folgenden Tag aus und bespricht mit ihnen zugleich diejenigen Fehler, die häufig aufge‐ treten sind. Diese Übungsbriefe werden nicht benotet, sondern sind lediglich 125 Schrift korrigiert Schrift <?page no="126"?> 7 Diese einübende Hinführung haben wir ebenfalls im Rahmen von zwei Abiturjahr‐ gängen beobachtet (jeweils Leistungskurs Mathematik). Auf diesen aktiven Prozess, (vermutete) Prüfungsinhalte zeitlich so zu organisieren, dass sie zum Zeitpunkt des schriftlichen Abiturs noch prüfbar waren, gehen wir hier nicht ein. mit Korrekturzeichen und Kommentaren versehen (bspw. „passt! “, „größtenteils okay“ oder „So nicht. Du schreibst ja völlig unzusammenhängendes Zeug! “). Zwei Tage später, in der nächsten Deutschstunde, lässt die Lehrkraft dann einen unangekündigten Test - eine sogenannte „Ex“ - schreiben. Bis zu dieser Un‐ terrichtsstunde hat sich die Klasse ca. viereinhalb Wochen mit dem Thema ‚Ar‐ gumentieren und Schreiben eines formellen Briefes‘ beschäftigt. Im unmittel‐ baren Anschluss an den Test folgt eine kurze Besprechung der Aufgaben und der Erwartungen der Lehrkraft. Später dann, nach der Bewertung der schriftli‐ chen Arbeiten und ihrer Rückgabe an die Schüler/ innen, geht die Lehrkraft die Aufgaben mit der gesamten Klasse noch einmal ausführlich durch. In den fol‐ genden beiden Wochen vor der Klassenarbeit üben die Schüler/ innen weiterhin die Abfassung dieser formellen Briefe und den Aufbau von Argumenten; durch‐ brochen wird diese einübende Vorbereitung nur durch kurze Phasen, in denen die Lehrkraft noch einmal u. a. die Struktur von Argumenten, Rechtschreibung und Grammatik mit den Schüler/ innen durchgeht. Am „Tag der Wahrheit“ (Lehrkraft) wird dann die Klassenarbeit geschrieben (in der beobachteten Schule „Schulaufgabe“ genannt), von der Lehrkraft eingesammelt und zur Benotung mit nach Hause genommen. In den Unterrichtsstunden, die sich dieser Deutsch‐ arbeit anschließen, setzt die Lehrkraft Rechtschreib- und Grammatikübungen bis zur Rückgabe der Klausur fort; erst danach beginnt sie die nächste themati‐ sche Einheit, und zwar: „Sprache und grammatische Strukturen“. Wir halten fest: Am Verlauf dieser Unterrichtseinheit und der darin einge‐ betteten schriftlichen Tests lässt sich erkennen, wie der Aufbau der Einheit, die Zuspitzung bzw. die Steigerung der Komplexität des Themas auf seine Prüfbar‐ keit zuläuft - ein Ziel, auf das die Lehrkraft mit ihrer Klasse hinarbeitet. Sie führt die Schulklasse zur Klausur. 7 Am geschilderten Beispiel zeigt sich auch, dass sich verschiedene Formen des Übens identifizieren lassen: So stehen auf der einen Seite Formen eines kontinuierlichen Einübens im Unterricht und in Hausauf‐ gaben, auf der anderen Seite verschiedene Modulationen von Tests. Diese Mo‐ dulationen sind - im Sinne Goffmans (1980: 52 ff.) - wiederholte Einübungen unter quasi-realen Bedingungen der Klausur. Sie simulieren Aufgaben- und Klausurstellung, eine vorgegebene Zeit und können unterschiedliche Formen annehmen: So kommt es vor, dass Hausaufgaben klassenöffentlich im laufenden Unterrichtsgeschehen oder im Zwiegespräch dialogisch mit einzelnen Schüler/ innen besprochen werden. In diesen Zwiegesprächen fügen Lehrkräfte den 126 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="127"?> Schülertexten mitunter auch weitere schriftliche Kommentare oder Annotati‐ onen hinzu. Außerdem kommt es vor, dass Lehrkräfte die Aufgaben oder Hefte von allen oder nur einigen ausgewählten Schülern einsammeln, korrigieren und später wieder zurückgeben. Oft werden in solchen Fällen die Aufgaben zwar korrigiert, aber nicht benotet. Das heißt, dass die schriftlichen Schülerarbeiten unabhängig von ihrer Form zum Gegenstand der Bewertung durch die Lehrkraft werden. In Bezug auf die Gestaltung der Unterrichtszeit ist festzuhalten, dass mit dem Begriff der ‚periodischen Zeit‘ (Schorr 1990) die Zirkularität von Ge‐ genstand-Behandeln, Einüben, Überprüfen, Kommentieren abgebildet werden kann. Allerdings erfährt diese schulische Zeitform auch eine Intensivierung, sodass die Zirkularität nicht bloße Wiederholung bedeutet (Behandeln - Ein‐ üben - Überprüfen etc.), sondern für eine zeitliche Zuspitzung steht, die durch Tests und Testmodulationen markiert und erfahrbar gemacht wird. 4 Lesen - korrigieren - beurteilen Bis hierhin haben wir die Einbettung der systematischen Wissensüberprüfung in die zeitliche Ordnung des Schulunterrichts dargestellt. Diese zeitliche Tak‐ tung von Unterrichten, Einüben, Prüfen und Bewerten legt den Schluss nahe, dass die schriftliche Klausur nicht erst mit dem Klausurtermin beginnt, sondern verschiedene Anfänge bzw. Stationen kennt: Einführung, Bearbeitung und Ein‐ übung des Gegenstandes, Probe- und Hausarbeiten sowie kontinuierliche Wie‐ derholungen des ‚Stoffes‘. An der Zeit, die hierfür zur Verfügung steht, lässt sich die akademische Kultur der Schulorganisation und das akademische Niveau ihrer Insassen (die Schüler/ innen) erkennen. Ohne dies hier ausführlich dar‐ legen zu können, gehen wir davon aus, dass wenig(er) Unterrichtszeit ein hö‐ heres akademisches Anforderungsprofil, mehr Zeit hingegen ein niedrigeres akademisches Anforderungsprofil indiziert. Für diese Überlegung spricht, dass die verfügbare Zeit die Fremdeinschätzung des akademischen Niveaus der In‐ sassen spiegelt, ein Anforderungsprofil, das auch mit einer „Auftrennung“ (Lehrkraft) der Insassen verbunden sein kann. Bei dem von uns bisher vorge‐ stellten Fall (s. o.) wurde deutlich, dass die Schulorganisation davon ausgeht, dass für diese Realschüler/ innen mehrere Wochen Unterricht im Fach Deutsch anzusetzen sind, um Argumentation und Schreiben eines formellen Briefes in‐ tensiv behandeln und einzuüben zu können, bevor dieses Wissen geprüft werden kann. Im Folgenden beschreiben und analysieren wir an diesem Fall, wie die Lehr‐ kraft die schriftlichen Klausuren der Schüler/ innen bewertet. Wir konzentrieren uns dabei auf das Vorgehen der Lehrkraft bei der Korrektur einer Aufgabe und 127 Schrift korrigiert Schrift <?page no="128"?> 8 Wir haben diese Dokumente nur als S/ W-Kopie bekommen, sie eingescannt und die Handschrift von Schüler/ innen und Lehrkraft mit dem Ziel nachkoloriert, die Doku‐ mente den Originalen ähnlich zu machen. nehmen insbesondere die Reihenfolge der Korrektur und die schriftlichen und mündlichen Kommentare dabei in den Blick. Im Korrekturprozess folgt daraus systematisch die Übersetzung der schriftlichen Darstellung in eine Note. Der Fall ist der oben erwähnte Test („Ex“ genannt) einer 8. Realschulklasse; er besteht aus fünf Aufgaben, für deren Lösung 25 Minuten zur Verfügung stehen. In diesem Fall dokumentieren die Aufgaben den Verlauf der zurückliegenden Un‐ terrichtseinheit: In der ersten Aufgabe sind die Elemente eines Arguments (Be‐ hauptung, Begründung, Beispiel, Rückführung) in einem sechszeiligen Text zu markieren und zu benennen. Die zweite Aufgabenstellung dokumentiert ein unvollständiges Argument; die Schüler/ innen sollen das fehlende Element er‐ kennen und einfügen. In der dritten Aufgabe sind drei Vorteile schriftlicher Ar‐ gumentation zu benennen; in der vierten Aufgabe sind Betreffzeilen für drei fertige Briefe zu formulieren. Die fünfte Aufgabe besteht aus einem Rätsel: In einem dokumentierten Brief sind neun Fehler zu markieren und zu korrigieren. Mit diesen Klausuraufgaben steuert die Lehrkraft verschiedene Unterrichts‐ stunden und Hausaufgaben an, in und mit denen das Gefragte behandelt worden war. Sie entspricht damit einer Bedingung schulischen Prüfens, dass sich Klau‐ suraufgaben auf Unterrichtsgegenstände beziehen müssen. Die Korrektur dieses Tests findet an einem Nachmittag im „Ruheraum“ statt, einem ca. 20qm großen Raum, der neben dem Lehrerzimmer liegt. An den Wänden stehen einige Schränke und am langen Fenster Tische mit PCs sowie ein Telefon. In der Mitte sind Tische zu einem kleinen Viereck zusammenge‐ stellt, an dessen Seiten je vier Personen Platz haben. Der Ethnograph sitzt mit der Lehrkraft an einem dieser Tische und beobachtet den Ablauf der Korrektur. Auf dem Tisch vor der Lehrkraft liegen die nicht vorsortierten Klausuren und eine Musterlösung. Die Lehrkraft nimmt die erste Klausur vom Stapel und be‐ ginnt damit, sie durchzusehen (siehe Abb. 2). 8 128 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="129"?> Abb. 2: Ex-Brief 129 Schrift korrigiert Schrift <?page no="130"?> 9 Aber auch die Zeichen selbst ‚tun‘ etwas: Sie repräsentieren nicht nur stellvertretend die Intention ihrer Verwender, fehlerhafte Textstellen zu indizieren, sondern treten auch unterschiedlich auf. In ihrer Aufführung als Zeichen differenzieren sie sich von anderen Zeichen: Routinemäßig schnell, manchmal geradezu hastig gesetzte und Raum bean‐ spruchende Zeichen (siehe bspw. in Abb. 2 die großen Haken der Lehrkraft, ihr langer Strich unter dem Komma, der über drei Zeilen gestrichene Fehler), unterscheiden sich von kleineren, ordentlich-sauber gesetzten Zeichen, die sich weniger eingeübt-sou‐ verän geben. Souveränität und Raumbeherrschung ist die zweite Botschaft der Lehr‐ kraftzeichen, die nicht nur Fehler kenntlich machen, sondern als diese Zeichen den sozialen Status ihrer Urheber symbolisieren. Der Aufbau der fünften Aufgabe zeigt einige Besonderheiten: Zunächst fällt auf, dass der Brief durch einen Rahmen von der Aufgabenstellung, der Punkteangabe und dem Erfolgswunsch der Lehrkraft getrennt ist. Diese Aufgabe wird somit zweifach markiert: einmal durch die sprachliche Formulierung der zu lösenden Aufgabe, zum anderen durch den Rahmen, der die Aufgabe vom anderen Text trennt und damit hervorhebt. Geht es in der restlichen Testarbeit darum, dass ‚richtige‘ Antworten gegeben werden, so ist der gerahmte Teil der Raum eines zu lösenden Rätsels. Einem ‚Wimmel-Bild‘ gleich sind hier fehlerhafte Details zu entdecken, zu markieren und zu korrigieren. Diese Klausuraufgabe mimt damit einen Rollenwechsel: Es sind die Schüler/ innen, die die ‚Fehler‘ eines imaginierten Autors korrigieren. In dieser Modulation der Unterrichtsordnung gibt die Lehrkraft eine spielerisch-fehlerhafte Antwort vor, die die Schüler/ innen korrigieren sollen: eine Korrektur, die ihrerseits einer Korrektur unterzogen, d. h. bewertet wird. Die Lehrkraft folgt bei ihrer Korrektur den Konventionen europäischer Schriftkultur: Ihr Blick und ihre Stifthaltung geht von links nach rechts, von oben nach unten. So geht sie die Klausurtexte durch und hakt zügig, manchmal geradezu zackig, die korrekt markierten Stellen ab, kennzeichnet die nicht ge‐ fundenen Fehler und streicht falsche Korrekturen des Schülers durch. 9 An den mündlichen Kommentaren der Lehrkraft zeigt sich, wie sich die Korrektur der Arbeit auf die zuvor festgelegte Musterlösung und damit auch auf die Konzep‐ tion der Klausur bezieht: Ihre Korrektur vollzieht die Lehrkraft wie eine Bilan‐ zierung von ‚drin haben‘ vs. ‚nicht drin haben‘ und orientiert sich dabei an der von ihr erstellten Musterlösung, d. h. an ihren dokumentierten Erwartungen. Sie kommentiert unvollständige oder falsche schriftliche Antworten mit ähnlichen Formulierungen: „Wir haben gesagt, das da muss drin sein, das hat er.“ „Das muss drin sein, hat er nicht.“ „Das hat er nicht.“ 130 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="131"?> 10 Geht man davon aus, dass sich Lehrkräfte bei der Bewertung von Arbeiten selbst be‐ obachten (Kalthoff 1996), dann wird die Lehrkraft in diesem Beispiel mit ihrem Unter‐ richt - seinen Unzulänglichkeiten, Langeweilen, Anforderungen etc. - konfrontiert. Diese einfache Kodierung von Haben/ Nicht-Haben steht für eine einfache Un‐ terscheidung von Können/ Nicht-Können oder Wissen/ Nicht-Wissen, die dann in eine Kategorisierung der Schüler übersetzt wird. Mit ihrem Haben vs. Nicht-Haben-Abgleich geht die Lehrkraft von Aufgabe zu Aufgabe und erstellt auf diese Weise eine erste Bewertung. Die richtige bzw. falsche Antwort und damit die Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung der Erwartung wird durch Zeichen markiert; zugleich vollziehen Lehrkräfte mitunter einen inneren Dialog mit durch ihre Arbeit symbolisch anwesenden, aber physisch abwesenden Schulin‐ sassen (Kalthoff 1996: 111 f.) und kommentieren Fehler oder auch richtige Ant‐ worten. Im Laufe der hier dokumentierten Korrektursitzung realisiert die Lehr‐ kraft, dass es trotz all der vorangegangenen Einübungen zu für sie überraschenden Fehlern kommt, was sie mit Kopfschütteln und tiefem Einatmen kommentiert. Die emotionale Involvierung der Lehrkraft zeigt sich auch an der Rigidität, mit der sie ihre Korrekturzeichen setzt. So etwa bei der Korrektur des folgenden Satzes: „Ich möchte Ihnen ein Argument vorstellen, das Ihnen zeigt, dass …“ (siehe Abb. 2). Auf den Umstand, dass ein Schüler einen Artikel (das) in eine Konjunktion (dass) umwandelt, reagiert die Lehrkraft mit einer energischen Geste und einem recht großen Korrekturzeichen, mit dem sie das zusätzliche ‚s‘ durchstreicht. Dieses relativ große Zeichen und das sehr große Minuszeichen verweisen auf eine doppelte Enttäuschung, denn der Schüler hat an einer ein‐ fachen Stelle einen zusätzlichen Fehler eingebaut. Die Erwartung an das, was Schüler/ innen eigentlich wissen müssten, schlägt hier in Zweifel an dasjenige um, was sie als Wissen abrufen können. 10 Abschließend wird das vergessene Komma beim Namen (Unterschrift) kor‐ rigiert und so kommentiert: „Normalerweise kommt Nachname, Komma, Vor‐ name“. An dieser Stelle fällt auf, dass dieser Fehler folgenlos bleibt, d. h. nicht ‚angerechnet‘ wird. Diese folgenlose Korrektur kann auf den Umstand ver‐ weisen, dass die Kommasetzung an dieser Stelle des Briefes nicht explizit be‐ handelt worden ist. Dies bedeutet, dass die Lehrkraft das Haben/ Nicht-Haben-Schema (s. o.) durch ein Behandelt/ Nicht-Behandelt-Schema kon‐ textiert. Daher führt auch die Regel - man kann nur bewerten, was zuvor im Unterricht eingeführt und behandelt wurde - zu einem Übersehen bzw. zu einer Indifferenz gegenüber denjenigen Schüler/ innen, die auch diesen Fehler erkannt haben. Dies gilt ebenso für die Unterschrift, wobei die Lehrkraft stillschweigend voraussetzte, dass die Schüler/ innen wissen, dass sie nicht mit ihrem eigenen Namen unterschreiben. 131 Schrift korrigiert Schrift <?page no="132"?> 11 Auf diese Kombination transsituativer Begründungsordnungen hat auch der neue fran‐ zösische Pragmatismus hingewiesen (Boltanski und Thévenot 1987: 55 ff.). Anschließend wird die vorläufige Note ermittelt; sie ist deshalb vorläufig, da im Laufe der Korrektur weiterer Klausuren Anpassungen durch die Lehrperson vorgenommen werden können. Im Falle dieser Klausur geht die Lehrkraft die Aufgaben durch und addiert die von ihr als richtig markierten Antworten, denen sie je einen Punkt zuweist; abschließend zieht sie einen Minuspunkt ab: „Also sind eins zwei drei vier und der Minuspunkt macht drei. Dann hat er drei.“ Diese auf den ersten Blick einfache, geradezu zu vernachlässigende Praxis der Summierung steht - systematisch betrachtet - für eine Verknüpfung von Über‐ setzungsschritten: So werden die Antworten (hier: die Korrekturzeichen) der Schüler/ innen durchgesehen, als richtig/ falsch selektiert, mit Punkten versehen und damit in numerische Zeichen übersetzt, die ihrerseits summiert und als Gesamtsumme einem Notenwert im Notenschema zugeordnet werden. Diese Übersetzungsschritte wandeln sukzessive Schülerantworten, die in alpha-nu‐ merischen Schriftzeichen vorliegen, in Noten (Prädikate bzw. Notenwerte) um. Abb 3: Übersetzung / Umwandlung Anschließend vergewissert sich die Lehrkraft, keinen Punkt übersehen zu haben, schaut im Notenschema nach und meint: „Sowieso ein Sechser“. Dass die zugewiesene Note und die Schülerperformance zueinander passen, macht der Kommentar der Lehrkraft deutlich: „Passt. Hockt die ganze Zeit nur da, macht die Hausaufgaben nicht, lügt, richtet nicht aus, was er seinen Eltern ausrichten soll, schwätzt die ganze Zeit.“ Diese Litanei des Versagens, die für diese Note mobilisiert wird, kombiniert Sach-, Zeit- und Sozialdimension (Luhmann 1984: 111 ff.). Bei der Sachdimension geht es um Zurechnungen an Erwartungen, hier die Punkte bzw. Note der Arbeit als Form der Kommunikation zwischen Lehr‐ kräften und Schüler/ innen; bei der Zeitdimension geht es um Zurechnungen von Sinn auf Veränderbarkeit, hier also bezüglich der vergangenen Interakti‐ onen mit den Schüler/ innen und ihrer Lernerfolge; bei der Sozialdimension geht es ebenfalls um Erwartungen, allerdings um moralische, wie die Ehrlichkeit oder Verlässlichkeit des Schülers. 11 132 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="133"?> 5 An | Passungen Dass Lehrkräfte Klausuren beurteilen, sagt wenig darüber aus, wie sie diese Beurteilung praktizieren. Daher rücken wir in diesem Abschnitt den Umgang von Lehrkräften mit ihren Bewertungsmaßstäben in den Blick. Diese Bewer‐ tungsmaßstäbe liegen entweder in schriftlicher Form als Idealklausur vor oder existieren als implizites Erfahrungswissen über richtige Antworten. Entgegen der realistischen Vorstellung eines stabilen, geradezu unverrückbaren Bewer‐ tungsmittels, das die Praxis der Lehrkräfte einheitlich auszurichten und sie als seine Vollzieher zu rahmen weiß, zeigen wir im Sinne der oben skizzierten re‐ kontextualisierenden Perspektive einen interpretativ flexiblen Gebrauch des Bewertungsmaßstabs durch die Lehrkräfte. Dies bedeutet, dass Bewertungs‐ maßstäbe einen durchaus ambigen Charakter haben: Lehrkräfte können sich strikt an ihm orientieren (seine Bedeutung also stärken), sie können ihn aber auch partiell und temporär ignorieren und außer Kraft setzen (seine Bedeutung also schwächen bzw. ihn ignorieren). Wir zeigen, wie diese flexible Gebrauchs‐ weise Differenzen zwischen Schüler/ innen hervorbringt, die sich nur bedingt mit einem Bewertungsmaßstab erklären lassen. Hierzu dokumentieren wir bei‐ spielhaft die Korrektur von zwei Schülerlösungen einer Klassenarbeit aus der o. g. Schulklasse; diese Klassenarbeit wurde als Abschluss der skizzierten Un‐ terrichtseinheit (s. o.) geschrieben. In der Klassenarbeit können die Schüler/ innen zwischen zwei Aufgabenstel‐ lungen wählen; die Lehrkraft organisiert die Klausur also auf eine Weise, dass sie die Selbstselektion der Schüler/ innen beobachten kann. Eine Aufgabe lautet, einen formellen Brief an den Schulleiter zu schreiben und - laut Arbeitsanwei‐ sung - mit zwei Argumenten entweder für oder gegen die Einführung von Schuluniformen zu argumentieren. Die Aufgabe der Schüler/ innen ist es, in der 90-minütigen Klausurzeit einen solchen Brief vorzuschreiben und anschließend „ordentlich“ (Lehrkraft) in ihre Arbeitshefte zu übertragen. Die Schüler/ innen Ismael und Nadine argumentieren in ihren Briefen beide für Schuluniformen und benutzen ein vergleichbares Argument. Die Darstellungen der beiden Schüler/ innen sowie deren Korrektur sind Gegenstand der folgenden Analyse am Dokument. 133 Schrift korrigiert Schrift <?page no="134"?> Abb. 4: Beispiel 1: Ismael Abb. 5: Beispiel 2: Nadine Im Vergleich beider Schülerantworten werden sofort zwei Unterschiede deut‐ lich, und zwar die Raumorganisation der Seite zum einen, die Handschrift zum anderen. Der Schüler (Ismael) organisiert seinen Text mit einem Seitenumbruch, einem Absatz und einem weiten Zwischenraum am Ende einer Zeile; die Schü‐ lerin (Nadine) beginnt ihren Text hingegen auf einer neuen Seite, füllt die Zeilen regelmäßiger aus und stellt ihr Argument in einem Absatz stärker als eine Ein‐ heit dar. Ferner ist die Handschrift Ismaels ‚krakeliger‘ und ungleichmäßiger, die Handschrift Nadines hingegen gleichmäßig und geordnet. Die Schriftbild‐ lichkeit - Raumorganisation der Seite und Handschrift des Autors/ der Autorin - führt die Schülerantwort unterschiedlich auf und bringt damit ihren Gehalt als auch die Kompetenz der Schülerin, Gestaltungselemente eines Briefes zu berücksichtigen, auf andere Weise zur Geltung. Wir gehen - auch wenn wir dies hier nicht weiter ausführen können - davon aus, dass dieser Auftritt des Textes und damit seine Medialität eine je spezifische Wirkung bei seinen Leser/ innen - den Lehrkräften - mit-erzielt. Deutlich wird auch ein unterschiedlicher Wort‐ 134 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="135"?> 12 Dieses didaktische Prinzip der Pädagogik - vom Kinde her zu denken, besser: anzu‐ nehmen, vom Kinde her zu denken - ist selbst ein ‚Gedankenexperiment‘, denn in diesem Fall ist nicht belegt, dass das Thema ‚Schuluniform‘ von den Schüler/ innen be‐ vorzugt wird oder wurde. schatz, eine unterschiedlich komplexe Satzstruktur, der Gebrauch von Alltags- und Fachbegriffen (‚Anziehsachen‘, ‚Klamotten‘, ‚Kleidung‘) und die Wiederho‐ lung von Wörtern bzw. Wortfamilien (‚Mobbing‘, ‚gemobbt‘). Wir kommen hierauf zurück. Über die formale Gestaltung hinaus macht die Verwendung von Korrektur‐ zeichen Unterschiede deutlich: In Isamaels Klausur fallen die Korrekturzeichen, die Markierungen der Fehler sowie die Anmerkung deutlich größer und auffäl‐ liger aus als in Nadines Klausur. In Ismaels Klausur wird jeder Fehler im Text mit einem Korrekturzeichen am Rand markiert (etwa „A“ für Ausdruck, „R“ für Rechtschreibung); bei Nadines Klausur verzichtet die Lehrkraft offensichtlich auf diese Fehlermarkierung am Rand. Es scheint fast so, als läse die Lehrkraft die Klausuren mit jeweils anderen Augen und mit einer durch die zurücklie‐ gende Erfahrung je spezifisch gerahmten Haltung: auf der einen Seite sehr genau und zurückweisend im Tonfall (Ismael), auf der anderen Seite nachlässiger und mit einem auffordernd-ermunternden Kommentar (Nadine). Dies impliziert, dass die Lehrkraft - indem sie Klausur für Klausur durchgeht, korrigiert und bewertet - in verschiedene kognitive und emotionale Haltungen wechselt, da das, was sie liest (oder nicht liest), ihren Erwartungen (teilweise) entspricht oder (gar) nicht entspricht. Die Gründe für eine unterschiedliche Praxis der Klausur‐ korrektur sind in diesem Fall im Niveau der Diskrepanz von Erwartungen und deren Entsprechung in der Arbeit zu suchen. Für diese Klausuraufgabe ist ihr fiktiver Charakter kennzeichnend: Sie ent‐ wirft ein Gedankenexperiment, das intentional so angelegt ist, dass Schüler/ innen „mit dem Thema etwas anfangen können. Es muss sie betreffen“ (Lehr‐ kraft). 12 Mit diesem Kalkül, dass eine Aufgabe die Schüler/ innen etwas angehen muss und sie nicht langweilen darf, will die Lehrkraft die Schreibmotivation ihrer Schüler/ innen anregen bzw. motivieren, um dann am Ergebnis - den Briefentwürfen der Schüler/ innen - das Gelernt-Haben bzw. das Nicht-Ge‐ lernt-Haben, das Wissen bzw. das Nicht-Wissen, den Schriftkundigen bzw. den Nicht-Schriftkundigen zu erkennen. Für die Schüler/ innen selbst geht es bei der Lösung dieser quasi-realistischen Themen um eine So-Tun-Als-Ob-Übung: Sie müssen so tun, als ob sie in einem quasi-realen Schreiben tatsächlich für oder gegen Schuluniformen argumentierten. Auch wenn diese fiktiven Briefe nicht abgeschickt werden, muss also der schriftliche Auftritt ihrer Argumentation authentisch und plausibel, überzeugend und gut formuliert sein. Damit haben 135 Schrift korrigiert Schrift <?page no="136"?> die Argumente, die Schüler/ innen niederschreiben, ebenfalls einen ambigen Charakter: Sie sind als ihre Argumente ernst zu nehmen, da sie von ihnen nie‐ dergeschrieben wurden. Sie können aber auch als ganz pragmatische Gedan‐ kenexperimente verstanden werden, die sich gut argumentieren lassen, ohne dass notwendig die geäußerte Auffassung auch vertreten wird; auffällig ist in diesem Sinne zumindest die geradezu choreographierte argumentative Stoß‐ richtung in beiden Klassenarbeiten. Schließich geht es in der Klausur nicht um wirkliche Schuluniformen selbst, sondern darum, zu dokumentieren, dass man gelernt hat, wie man in einem formellen Brief argumentiert - und dabei so tut, als sei dies die eigene Auffassung. Dieser ambige Charakter - (nicht nur) eine Wissen-dokumentierende Übung zu sein, deren Inhalte sozial folgenlos sind - wird auch in den bewertenden Bemerkungen der Lehrkraft erkennbar. Sie erwartet offensichtlich, dass der Text der Schüler/ innen nicht nur formalen Kriterien genügt (Aufbau, Rechtschrei‐ bung etc.), sondern als Argumentation auch überzeugen kann. Ihre Bewertung speist sich daher aus der Beobachtung sowohl der Schriftkunde als auch der Argumentationsfähigkeit. In diesem Zusammenhang zeigt sich im Vergleich der beiden Abschnitte und ihrer Korrektur eine Überschneidung von Kategorien. In dem hier dokumentierten Auszug aus Ismaels Klausur werden zwei Stellen mar‐ kiert: Erstens wird ihm als Fehler („A“) ausgelegt, dass es „sicher nicht richtig“ ist, dass „die meisten Kinder […] nur wegen ihrer Kleidung gemobbt“ werden. Die Lehrkraft bemängelt somit die Ausschließlichkeit und Eindeutigkeit der Aussage („nur wegen“), die sie nicht überzeugen kann. Zweitens wird der Aus‐ druck „Mobbing verursacht“ markiert. Auch an dieser Stelle werden die Kausa‐ lität, die in der Wortwahl steckt, und damit die zu eindeutige Aussage kritisiert. Mobbing wird auch nicht ‚verursacht‘, sondern eher ‚hervorgerufen‘ oder ‚er‐ folgt‘. Das heißt, dass die Lehrkraft in ihrer Beurteilung den propositionalen Gehalt der Aussage mit der formalen Übung des Argumentaufbaus kombiniert. Stellt die Lehrkraft mit ihren Kommentaren die Gültigkeit des Arguments in Frage (Ismael), regt sie bei Nadine eine Präzisierung der Aussage („oft gemobbt“) an, ‚übersieht‘ aber zugleich die Eindeutigkeit der Argumentation, die auch dieser Text an verschiedenen Stellen vornimmt (etwa „gäbe es kein Mobbing mehr“). Beide Kommentare beziehen sich auf Aussagen der Schüler/ innen zur Häufigkeit des Mobbings und damit auf die fiktive Ebene der Arbeit. Ihrer Form und ihrem Inhalt nach unterscheiden sie sich jedoch stark: Formal fällt zunächst auf, dass die Bezüge im Text unterschiedlich von der Lehrkraft markiert sind: eineinhalb Zeilen unterstrichen und Rechtschreib-, Satzzeichen- und Aus‐ drucksfehler markiert (Ismael); eine kürzere Stelle zur Häufigkeit gewellt un‐ terstrichen und damit von anderen Fehlermarkierungen im Text unterscheidbar 136 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="137"?> 13 Ein weiteres Gedankenexperiment: In Nadines Arbeit könnte an dieser Stelle etwa stehen: „das ist unklar“, bei Ismael hingegen: „Auch andere Gründe für Mobbing sind denkbar“. 14 Dieser und weitere Kommentare finden sich auf dem Bewertungsbogen, den alle Schüler/ innen mit der korrigierten Arbeit ausgehändigt bekommen. gemacht (Nadine). Auch inhaltlich unterscheiden sich die Lehrerkommentare stark: Während bei Ismael nur ausgedrückt wird, dass ein Fehler gemacht wurde, ist der Kommentar bei Nadine eher als Verbesserungsvorschlag zu lesen. Dass ein Fehler passiert oder dass etwas nicht richtig ist, wird hier nicht explizit ge‐ schrieben, sondern ein begründeter Verbesserungsvorschlag gemacht. 13 Dieses Übersehen oder diese Neigung kann durch die andere Organisation des Argu‐ ments erklärt werden: Nadine beginnt mit einer Behauptung und Begründung im ersten Satz und gibt dem Beispiel viel Raum im längeren zweiten Satz. Aber wie Ismael auch, macht Nadine ihre Begründung durch die Konjunktion „da“ im Kausalsatz deutlich. Sie markiert aber - anders als Ismael - ihr Beispiel ex‐ plizit als ein Beispiel („z. B.“). Auch bei der Rückführung im letzten Satz nutzt sie ähnliche Begriffe wie in der Begründung und stellt damit - so wie es im Unter‐ richt zuvor geübt worden war - eindeutig einen Bezug zwischen Begründung und Beispiel her. Bei Ismael bleiben - aus Sicht der Lehrkraft - der Zusammen‐ hang von Begründung und Beispiel eher unklar. Daher kommentiert sie für Is‐ mael wie folgt: „Deine Argumente sind verwirrend formuliert, wodurch sie we‐ niger überzeugen“. 14 Bei Nadine steht zum Inhalt: „Du hast gründlich gearbeitet“. Diese Aussagen dokumentieren, dass durch die Beobachtung von Aussagegehalt (inhaltliche Stimmigkeit und Gültigkeit) und Schriftkunde (formale Richtigkeit) Schülertexte unterschieden werden können; ferner dokumentieren sie auch, dass die Texte ganz verschieden an den Unterricht anknüpfen und ihn aktuali‐ sieren. Sie lassen aber auch unterschiedliche Formen von Richtigkeit in der Korrektur zu. Während Nadine in ihrem Satzbau der im Unterricht gelernten Struktur folgt und die Elemente des Arguments zwar in einem Absatz verbindet, in den Sätzen jedoch trennt, ist bei Ismael diese explizite Verbindung zum Un‐ terricht nicht so deutlich zu erkennen. Gute Schüler/ innen sind u. a. auch solche Schüler/ innen, in denen Lehrkräfte ihren Unterricht wiederzuerkennen ver‐ mögen, da er von den Schüler/ innen in erkennbarer Weise eigenständig wie‐ derholt wird. Sprachlich liegt hier ein Bezug zum Konzept der diskursiven Passung vor (Kotthoff 2017; Kotthoff und Röhrs in diesem Band). Dieses Konzept fragt u. a. nach den feldspezifischen oder situativen Diskursanforderungen und nach den intertextuellen Verknüpfungen von Aussagen. In Bezug auf den hier erörterten Fall der Klausurbewertung lässt sich das Konzept so spezifizieren: Ismaels Kom‐ 137 Schrift korrigiert Schrift <?page no="138"?> mentar ist kurz, einfach und unterstellt, dass der Leser weiß, was mit der Aus‐ sage gemeint ist. Nadines Kommentar nutzt hingegen einen umfangreicheren Wortschatz, ist grammatikalisch korrekt(er) und enthält Satzzeichen. Die Sätze der Schüler/ innen treffen auf ein spezifisches Recipient Design der Lehrkraft, in deren Bewertungspraxis auch die von ihr erkannten Sprachkompetenzen der Schüler/ innen verfügbar sind. Lehrkräfte erkennen hier auch Nicht-Passungen des sprachlichen Ausdrucksvermögens von Schüler/ innen: Satzzeichen- und Ausdrucksfehler bei schwächeren, Arbeit am Sprachstil und an Formulierungen bei stärkeren Schüler/ innen. Eine solche Deutung legt nahe, dass die schulische Bewertungspraxis nicht nur Humandifferenzierungen hervorbringt, sondern auf der schon vorgenommen, sprachlich performierten Differenzierung aufruht. Das bedeutet, dass die ganz und gar kontingente Praxis der Beurteilung eine diskursive (Nicht-)Passung mit-organisiert, deren Referenzen die Sprache des Unterrichts, die schulische Kultur oder die soziale Herkunft sind. 6 Schluss Schriftliche Arbeiten (Tests, Klausuren etc.) sind ein zentraler Bestandteil schu‐ lischen Unterrichts und dienen der systematischen Wissensüberprüfung der Schulinsassen, d. h. der Schüler/ innen. Die Schriftprüfungen beginnen - in einem weiten Sinne - mit der Einführung, Bearbeitung und Einübung eines schulischen Gegenstands (dem ‚Schulstoff ‘); ihre Durchführung ist in diese Stoffbearbeitung eingebettet oder schließt diese bisweilen auch ab. Die Kor‐ rektur, d. h. die Durchsicht und Bewertung der Schriftarbeiten, geschieht jenseits der Klassenöffentlichkeit in privaten und semi-öffentlichen Räumen, erst ihre Rückgabe und vor allem aber die Besprechung der Klausuraufgaben findet wieder in der Klassenöffentlichkeit und damit vor einem reziprok beobach‐ tenden Publikum statt. Deutlich wurde, dass Unterricht und Schriftprüfungen erstens aufeinander verweisen und in der schulischen Zeitlichkeit des Unter‐ richtens und Prüfens aufeinander abgestimmt sind. Zweitens wurde deutlich, dass Lehrkräfte in ihren Unterrichtsstunden auf die Prüfung vorgreifen, indem sie Klausuraufgaben variieren und bearbeiten lassen. Dieser Aufsatz hat sich mit dem von der Klassenöffentlichkeit abgewandten Teil der Durchsicht und Bewertung der Schriftarbeiten beschäftigt und Routinen der Korrektur durch Lehrkräfte herausgearbeitet. Diese Routinen der Lehrkräfte zeigen sich praktisch im systematischen Vorgehen sowie schriftbildlich in der Verwendung von Zeichen. In den von uns dargestellten Beispielen erfahrener Lehrkräfte wurde die (Selbst-)Sicherheit des Bewertens und des Bewerten-Kön‐ nens offensichtlich wie ebenso die Systematisierung ihrer Erwartungen an das 138 Herbert Kalthoff / Tristan Dittrich <?page no="139"?> Wissen der Schüler/ innen. Diese Erwartungen richten sich sowohl an die Klasse als soziales Gebilde, dem die Schüler/ innen temporär angehören, als auch an jeden einzelnen Schüler. Die Enttäuschung dieser Erwartung wird dann als Ab‐ stimmung mit Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen modelliert. Bei der Analyse der Korrekturarbeit haben wir u. a. herausgearbeitet, wie in‐ haltlich fiktive Aspekte von Aufgaben in die Bewertung einbezogen werden und die Lehrkraft damit einen Möglichkeitsraum für verschiedene Formen von Rich‐ tigkeit schafft, die ihren Bewertungsmaßstab flexibilisiert. Die inhaltliche Ana‐ lyse der Annotationen am Rand der Auszüge rückt außerdem diskursive Pas‐ sungen in den Blick, die für die Korrektur eine Rolle spielen: Am Sprachstil der Kommentare sind Erwartungen der Lehrkraft an die Schüler/ innen zu erkennen, die unterschiedliche Einordnungen von deren Leistungsstand und Förderbe‐ darfen repräsentieren. Ausgehend von der Annahme, dass schriftliche Arbeiten das abrufbare Wissen von Schüler/ innen sichtbar machen, wird deutlich, dass Bewertungen sich stets auf Zeiträume der Interaktion von Lehrkräften und Schüler/ innen beziehen: zum einen in Form der „Spielräume“, die entweder bei der Korrektur geschaffen werden oder schon durch die Konzeption der Klausur angelegt sind, zum anderen durch die laufende Referenz auf den vergangenen Unterricht. In diesem Wechselspiel von Vorgriff auf die schriftliche Klausur im Unterricht, Rückgriff auf den Unterricht bei der Korrektur und Potentialität des Schülers/ der Schülerin verschränken sich Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen in der Unterrichts- und Bewertungspraxis des schulischen Lehrpersonals. Dies bedeutet dann auch, dass die durch den Bewertungsakt hervorgerufene Leistung der Schüler/ innen nicht nur eine Momentaufnahme ihres Könnens darstellt, sondern auch einen Blick in ihre Herkunft und Zukunft zulässt. Literatur Boltanksi, Luc/ Thévenot, Laurent (1987): Les économies de la grandeur. Paris: PUF. Borchert, Johann/ Knopf-Jerchow, Heidrun/ Dahbashi, Abolfazl (1991): Testdiagnostische Verfahren in Vor-, Sonder- und Regelschulen. Ein kritisches Handbuch für Praktiker. Heidelberg: Asanger. Breidenstein, Georg (2018): Das Theorem der ‚Selektionsfunktion der Schule‘ und die Praxis der Leistungsbewertung. In: Reh, S./ Ricken, N. (Hrsg): Leistung als Paradigma. 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Im Fokus stehen schließlich Analysen von Beur‐ teilungsgesprächen, in welchen (un)passende Leistungen und Verhaltensweisen verhandelt werden. Einerseits geht es dabei um die Aushandlung von Identi‐ tätszuschreibungen und Positionierungen. Andererseits wird gezeigt, wie (schriftliche) Selbstbeurteilungen und Fremdbeurteilungen miteinander abge‐ glichen und in Passung gebracht werden. 2 Beurteilungsgespräche in der Schule An den meisten Schulen werden inzwischen regelmäßig Beurteilungsgespräche bzw. Elterngespräche o. ä. durchgeführt, in welchen sich Lehrpersonen, Eltern und oftmals auch die Schüler/ innen zu einem gemeinsamen Gespräch treffen (zu diesem Gesprächstyp sind im deutschsprachigen Raum inzwischen mehrere Forschungsarbeiten entstanden, z. B. Bonanati 2018; Mundwiler 2017; Kotthoff 2012; Wegner 2016; Weiger 2018; vgl. auch diverse Beiträge in Bonanati und Knapp 2016; Hauser und Mundwiler 2015). Beurteilungsgespräche werden dabei als inter-institutionelle Kommunikation verstanden (vgl. z. B. Baker und Keogh 1995; Kotthoff 2012), in der die Beteiligten sich an den jeweiligen Institutionen <?page no="144"?> (Schule, Zuhause) orientieren. Dies wird dann ersichtlich, wenn sie sich und ihre Handlungen, Erwartungen, Haltungen etc. explizieren und ihre moralischen Identitäten beispielsweise vor dem Hintergrund eines ‚guten Zuhauses‘ kon‐ struieren. In den Gesprächen ist die Aktivität des Beurteilens ganz zentral und gehört i.S. v. Sacks (1972, 1995) zu den kategoriengebundenen Aktivitäten („cate‐ gory-bound activity“) einer Lehrperson. Wir sehen aber in verschiedenen Stu‐ dien, dass es sich beim Beurteilen eher um eine kollaborative Leistung handelt und sich alle Gesprächsteilnehmenden am Beurteilungsprozess beteiligen. Dies kann sich beispielsweise darin äußern, dass die Eltern oder das Kind ergänzend zur Beurteilung der Lehrperson eine kleine Erzählung hinzufügen, die implizit beurteilenden Charakter hat (vgl. Kotthoff 2012, 2015; Mundwiler 2017). Über‐ haupt sind viele Beurteilungen impliziter Natur, was mit der Rahmung der Ge‐ spräche zu tun hat: Lehrpersonen, Eltern und Schüler/ innen treffen sich, um über die Leistungen des Kindes zu sprechen. Mit diesem Bewusstsein kann alles Geäusserte potenziell als Bewertung verstanden werden: „Alles gerät in einen Einschätzungsrahmen, zum Beispiel auch lustige Geschichten über das Kind.“ (Kotthoff 2012: 294). In diesem Kontext spricht Kotthoff (2012: 296) auch von institutionellen Implikationen, was bedeutet, dass in einer Kultur auf gemeinsame Werte zurückgegriffen wird und dass es zum geteilten Wissen bzw. zum common ground (Clark 1996) gehört, was als akzeptiertes und gutes Verhalten in der Schule gilt. Daraus folgt, dass häufig simple Beschreibungen ausreichen, um das Kind zu beurteilen, ohne dass expliziert wird, ob das beschriebene Verhalten als gut oder schlecht kategorisiert wird. In verschiedenen Studien zu Beurteilungsgesprächen oder verwandten Ge‐ sprächstypen (Elternsprechstunden, Elternsprechtagsgesprächen o. ä.) wurden typische beurteilende Aktivitäten herausgearbeitet, die im Folgenden kurz skiz‐ ziert werden sollen (vgl. z. B. Kotthoff 2012, 2014; Mazeland und Berenst 2008; Mundwiler 2017; Wegner 2016): • explizite Beurteilungen • • Kategorisierungen • • Charakterisierungen • • Beschreibungen • • Erzählungen • • (elizitierte) Selbstbeurteilungen • Explizite Beurteilungen können explizit geäußerte Kritik oder explizit geäu‐ ßertes Lob umfassen (vgl. auch Pillet-Shore 2003, 2012, 2015; Wegner 2016). Dann gibt es eine ganze Reihe an impliziten Beurteilungspraktiken. Eine Kate‐ 144 Vera Mundwiler <?page no="145"?> gorisierung wie „sie ist eine typische Gymnasiastin“ enthält noch keine Beur‐ teilung dazu, ob diese Kategorienzugehörigkeit nun gut oder schlecht ist, aber da wir gewisse Kenntnisse und Erwartungen teilen und z. B. gewisse Vorstel‐ lungen davon haben, was eine erfolgreiche Schülerin ausmacht, können wir bei einer Kategorisierung wie „typische Gymnasiastin“ die positive Beurteilung in‐ ferieren. Ähnlich ist das bei Charakterisierungen. Ein besonders interessantes Beispiel ist hier die Charakterisierung „stiller Schüler“, die häufig in Beurtei‐ lungsgesprächen thematisiert wird (vgl. z. B. Bennewitz und Wegner 2015; Mundwiler 2017; Wegner 2016). Während eine Charakterisierung als stiller Schüler nicht per se schlecht oder gut ist, erstaunt, dass diese Äußerung stets als negative Beurteilung bearbeitet wird, nämlich im Kontext erwünschter Par‐ tizipation. Denkbar wäre aber durchaus auch eine damit einhergehende positive Beurteilung, da der Schüler durch das stille Dasein die Mitschüler/ innen nicht stört. Offenbar ist aber das gemeinsame kulturelle Wissen so ausgeprägt, dass ‚still‘ als negativ oder zumindest verbesserungsfähig bearbeitet wird, während beteiligungsfreudige Schüler/ innen positiv beurteilt werden. Dann finden sich in den Gesprächen viele Beschreibungen (z. B. von Unterrichtssituationen oder von Ereignissen) und auch (teils fragmentarische) Erzählungen über das Kind, die implizit das Kind beurteilen (z. B. erzählen Eltern sehr ausgiebig über Lern‐ aktivitäten zu Hause). Und schließlich finden sich in den Gesprächen, die in Anwesenheit der Schüler/ innen stattfinden, vielfach auch Selbstbeurteilungen, die meistens durch die Lehrperson oder eine andere erwachsene Person elizitiert werden und manchmal mithilfe vorgängig schriftlich ausgefüllten Selbstbeur‐ teilungsbögen strukturiert und formuliert sind. 3 Daten und Methoden Das im Rahmen der Dissertation (Mundwiler 2017) erhobene und untersuchte Korpus besteht aus vierzehn aufgenommenen Beurteilungsgesprächen aus der Nordwestschweiz. Diese Region liegt im deutschsprachigen Gebiet der Schweiz und die Gesprächsbeteiligten sprechen nieder- und hochalemannische Dialekte (in den Transkripten finden sich jeweils interlineare Übersetzungen ins Standarddeut‐ sche). Die Daten sind in unterschiedlicher Weise heterogen: Es befinden sich im Korpus Gespräche mit bzw. über Schüler/ innen von der Primarstufe bis zur Se‐ kundarstufe II (1.-12. Schuljahr). Die Dauer der Gespräche schwankt zwischen 8 und 64 Minuten, was u. a. auch mit den unterschiedlichen Kommunikationsan‐ lässen zu tun hat. Einerseits sind dies reguläre Beurteilungsgespräche bzw. Stand‐ ortgespräche, die flächendeckend mit allen Familien einer Klassenstufe durchge‐ führt werden. Ab der Sekundarstufe gibt es dann andererseits Elternsprechstunden 145 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="146"?> auf Wunsch der Eltern, die häufig im Sinne eines schulischen Angebots angekün‐ digt werden, worauf sich interessierte Eltern für einen Termin eintragen können. Und dann liegt auch ein Gespräch vor, welches auf Wunsch der Lehrperson statt‐ findet und zwar aufgrund vorangegangener Probleme und Vorwarnungen an den Schüler. Diese kontextuelle Rahmung kann auch die Struktur und die Inhalte der Gespräche mitprägen. Und schlussendlich sind in den Gesprächen nicht immer dieselben Teilnehmenden anwesend. In den untersten Klassenstufen finden die Gespräche ohne Schüler/ innen statt, ab der dritten Klasse sind diese dann immer mit dabei. Auch verändert sich die Beteiligungskonstellation zuweilen durch die Anwesenheit mehrerer Elternteile (versus nur ein Elternteil) oder die Teilnahme einer weiteren Schulvertretung (Heilpädagogin). Methodisch wurde so vorgegangen, dass aufgrund des erschwerten Feldzu‐ gangs mit unauffälligen Audioaufnahmegeräten gearbeitet wurde und die Auf‐ nahmen jeweils von den Lehrpersonen selbst getätigt wurden. Die erhaltenen Audioaufnahmen wurden nach den GAT2-Konventionen transkribiert (Selting et al. 2009) und sequenzanalytisch analysiert. Dabei habe ich mich an den Prin‐ zipien der Gesprächsanalyse orientiert (vgl. einführend Deppermann 2008) und diesen Ansatz mit der Positionierungsanalyse kombiniert (vgl. Davies und Harré 1990; Lucius-Hoene und Deppermann 2004). 4 (An-)Passung von Beurteilungen Passung bzw. Anpassung kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Während es in einigen Artikeln in diesem Band um die diskursive Pas‐ sung geht, also um kommunikative Praktiken und Passungen (vgl. auch Heller 2012), fokussiere ich im Folgenden die gemeinsame Aushandlung von passenden und unpassenden Verhaltensweisen, Leistungen etc. im Kontext Schule. Für diesen Fokus eignet sich The Concept of Goodness of Fit (Chess und Thomas 1996), ein Passungsansatz aus der Forschung zu individuellen psychischen Entwick‐ lungsverläufen. Gemäß Altmeyer-Müller (2015: 24) können wir folgende Defi‐ nition als Ausgangspunkt nehmen: ‚Goodness of Fit‘ bzw. eine Passung (Fit) resultiert, wenn Fähigkeiten, Motivation, Verhaltensstil des Individuums und die Erwartungen und Anforderungen der Umwelt im Einklang miteinander sind. Wenn wir dies nun für den Kontext Schule präzisieren, resultiert demnach eine Passung, wenn Fähigkeiten, Motivation, Verhaltensstil der Schüler/ innen und die Erwartungen und Anforderungen der Schule im Einklang miteinander sind. Um herauszufinden, wie die Beteiligten sich über diese Form der Passung austau‐ 146 Vera Mundwiler <?page no="147"?> schen, eignen sich Analysen von Beurteilungsgesprächen in besonderem Maße, denn dort werden Passungen und Divergenzen von Schüler/ innen und schuli‐ schen Erwartungen gemeinsam unter Beisein der Lehrperson, des Schülers/ der Schülerin und den Eltern ausgehandelt und gegebenenfalls expliziert. Bellmann (2017) spricht im Rahmen von schulischen Förderpraktiken von Formen der „subjektivierenden Differenzkonstruktion“ und zeigt auf, dass Schüler/ innen stets lernen müssen, was sie wollen, können und sollen. Damit einher geht auch, dass sie lernen, sich selbst in Bezug zu Erwartungen zu verstehen. Bei diesem Abgleich der Passung zwischen Sein und Sollen kann durchaus auch die etwas widersprüchliche Forderung „Lerne wollen, was du sollst“ eine dominante Rolle spielen (Bellmann 2017; vgl. auch Bellmann 2018). In Beurteilungsgesprächen geht es dann häufig genau um die Ergründung dieser Aspekte: Was können die Schüler/ innen? Was sollen sie erreichen bzw. wollen? In diesem Spannungsfeld bewegen sich die folgenden Analysen. Hierfür werden Gesprächsausschnitte fokussiert, in denen Identitätszuschreibungen und Positionierungen Aufschluss über Passungen geben. Dann wird weiter ge‐ zeigt, wie die Sichtweisen der Lehrperson (als Vertreterin der Schule) und die der Schüler/ innen verglichen und in Passung gebracht werden. Hierfür be‐ trachten wir die Aushandlung von (schriftlichen) Selbstbeurteilungen versus Fremdbeurteilungen. 4. 1. Aushandlung von Identitätszuschreibungen Im Bereich Sprache und Identität wurden in den letzten Jahren verschiedene Analysevorgehen entwickelt, wovon das Konzept der Positionierung für Ge‐ sprächskontexte am aufschlussreichsten scheint. Unter Positionierung sind im Folgenden sprachliche Praktiken zu verstehen, anhand derer die Beteiligten sich im Gespräch wechselseitig Eigenschaften und Rollen zuschreiben und so ihre Identitäten aushandeln (vgl. Bucholtz und Hall 2005; Davies und Harré 1999; Lucius-Hoene und Deppermann 2004; Wolf 1999). Bei den Zuschreibungen kann es sich um persönliche Merkmale handeln (‚schüchtern‘, ‚chaotisch‘), soziale Identitäten (‚Lehrer‘, ‚Mutter‘), rollenbedingte Rechte (‚Expertin‘) oder morali‐ sche Attribute (‚Ehrlichkeit‘…). Im Gespräch können Positionierungen eher explizit oder implizit und direkt oder indirekt geäußert werden. Eine explizite Positionierung wäre beispiels‐ weise eine klare Kategorisierung wie „sie ist eine typische Gymnasiastin“ oder „ich bin einer, der gut organisiert ist“. Implizite Positionierungen hingegen um‐ fassen Schilderungen von Situationen und Befindlichkeiten, biografische Selbst- und Fremdthematisierungen, Erzählungen von Ereignissen o. ä. (vgl. Wolf 1999: 73). Eine direkte Positionierung ist eindeutig einer Person zugewiesen, wie 147 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="148"?> 1 Nach Goffman (1981: 144 ff.) können beim Sprechen spezifische Rollen differenziert werden, die u. U. durch eine Person oder durch unterschiedliche Personen verkörpert werden: Ein/ e Animator/ in (animator) äußert die Worte, ein/ e Autor/ in (author) for‐ muliert das Gesagte inhaltlich und formell (z. B. die zitierte Person) und ein/ e Auftrag‐ geber/ in (principal) übernimmt die soziale Verantwortung über das Gesagte (z. B. eine Institution). beispielsweise „du bist chaotisch“, während bei einer indirekten Positionierung aus dem Kontext heraus erschlossen werden muss, wen das Gesagte betrifft. Wenn beispielsweise die Lehrperson in einem Beurteilungsgespräch mit anwe‐ senden Eltern und Kind sagt: „es gibt Leute, denen fällt es leichter, Ordnung zu halten“, dann kann aufgrund des Gesprächsanlasses und den entsprechenden institutionellen Implikationen davon ausgegangen werden, dass die Lehrperson dem Kind mangelhafte Ordnung zuschreibt. Es wurde vielfach herausgearbeitet, dass besonders in der direkten Redewie‐ dergabe Positionierungen und Bewertungen sprachlich erkennbar werden (vgl. z. B. Günthner 1997; Kotthoff 2014; Wegner 2016). Zudem zeigt sich in den un‐ tersuchten Daten, dass in Beurteilungsgesprächen eine spezielle Form der di‐ rekten Redewiedergabe funktional ist, nämlich die animierte Rede (vgl. Ehmer 2011; Mundwiler 2017; Myers 2009; Tannen 1995, 2007). Es handelt sich dabei um die „Einbettung einer Figur in die eigene Äußerung“ (Ehmer 2011: 63), wobei es nicht um reale Vorkommnisse, sondern um mögliche Szenarios oder Zu‐ schreibungen geht. Es werden also fiktive Dialoge, Monologe oder Gedanken meist fremder Figuren (aber auch der eigenen Figur) von den Sprecher/ innen bzw. Animator/ innen 1 in der Form direkter Redewiedergabe dargestellt. Diese Äußerungen, Handlungen oder Verhaltensweisen sind fiktiv, da ihnen keine Originaläußerung vorausgeht. Imaginierte Äußerungen oder Dialoge sind häufig eingebettet in ein Szenario, d. h. in „einen verbalen Entwurf einer kontrafaktischen Situation“ (Brünner 2005: 313). Für die Analyse wurde in den untersuchten Beurteilungsgesprächen eine Kol‐ lektion von insgesamt 90 Sequenzen mit animierter Rede erstellt. Alle Fälle stammen aus den Gesprächen mit anwesenden Schüler/ innen und in den meisten Fällen (66 von 90) wird die imaginierte Rede von diesen anwesenden Schüler/ innen animiert. Die Formen können sich dabei unterscheiden. So werden Einstellungen, Verhal‐ tensweisen, Handlungen, Äußerungen oder Gedanken demonstriert, die vermutet werden, (nicht) erwünscht oder wissentlich (nicht) vorhanden sind. Auch kann die animierte Rede in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft verortet sein. Da es sich nämlich bei der animierten Rede nicht um real geäußerte Rede handelt, öffnen wir also keine „Fenster in die Vergangenheit“, sondern werfen vielmehr einen Blick durch die „Fenster in die Zukunft und in mögliche Welten“ (Brünner 1991: 3). Im 148 Vera Mundwiler <?page no="149"?> 2 Vgl. auch Beispiel #73 in Mundwiler (2017: 317-319). Kontext der Beurteilungsgespräche konnten die folgenden Funktionen herausgear‐ beitet werden: Wie oben für die direkte Redewiedergabe im Allgemeinen festge‐ stellt wurde, ist auch bei der animierten Rede die Identitätszuschreibung und Posi‐ tionierung, sowie damit verbunden die (implizite) Bewertung, sehr dominant. Weiter wird die animierte Rede auch für Veranschaulichungen und Handlungsan‐ weisungen genutzt. Und schließlich zeigt sich, dass mit der Verwendung von ani‐ mierter Rede eine Involvierung der Schüler/ innen einhergeht. Dies geschieht vor‐ erst im mentalen Raum im Rahmen eines Szenarios, allerdings hat dies insofern einen konkreten involvierenden Effekt, dass sich häufig auch im realen Raum die Schüler/ innen reaktiv dazu verhalten. Die Involvierung glückt damit in doppeltem Sinne. Der Fokus in diesem Beitrag liegt nun auf der Bewertungsfunktion sowie auf den 66 Fällen, in denen die Figur des Schülers/ der Schülerin animiert wird (vgl. detaillierter in Mundwiler 2017). In einem ersten Beispiel wird nun genauer aufgezeigt, wie die animierte Rede bewertend in den Dialog eingebunden wird. Vor dem gewählten Ausschnitt be‐ richtet die Mutter von einer Situation, in welcher der Schüler Flavio (12 Jahre alt) eine schlechte Note im Fach Mathematik erhalten hat und sehr enttäuscht gewesen sei. Sie erwähnt, dass Flavio für sich die Konsequenz gezogen habe, mehr zu lernen, um nächstes Mal wieder bessere Noten zu erreichen. Dort setzt nun die Lehrerin ein: Beispiel 1 ((Flavio, SJ6_L6B_LMVS, 16: 20; 6. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, M=Mutter, V=Vater, S=Schüler)) 2 Beispiel 1, Teil 1 Beispiel 1 ((Flavio, SJ6_L6B_LMVS, 16: 20; 6. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, M=Mutter, V=Vater, S=Schüler)) 1 Beispiel 1, Teil 1 Be ispiel 1, Teil 1 001 L und TROTZdäm muess i jetz aber sÄÄge; 002 find i das e seer e TOLli reaktiOn vo dir. finde ich das eine sehr tolle Reaktion von dir 003 (-) NID dass du säisch, nicht dass du sagst 004 ah es schisst mi AA, ah es scheisst mich an 005 jetz mach i erscht RÄCHT nüt, jetzt mache ich erst recht nichts 006 oder dä blödi herr NArayan, oder dieser blöde Herr Narayan 007 dä tEscht isch vil z SCHWER gsi, dieser Test ist viel zu schwer gewesen 008 M [ah näi (.) nänäi; ah nein nenein Be ispiel 1, Teil 2 009 L [aso ich WÄISS nid hesch vilich, a l s o i c h w e i s s n i c h t h a s t d u v i e l l e i c h t 010 ich WÄISS es [jetz nid, i c h w e i s s e s j e t z t n i c h t 011 S [Aso, a l s o 012 °h näi ÄIgentlich isch dr tescht gar nid schwEr gsi, n e i n e i g e n t l i c h i s t d e r Te s t g a r n i c h t s c h w e r g e w e s e n 013 sin äifach f won ich GLERNT ha; s i n d e i n f a c h f w o / a l s i c h g e l e r n t h a b e und trotzdem muss ich jetzt aber sagen 149 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="150"?> Die Lehrerin reagiert hier auf den Bericht der Mutter, indem sie spontan mit einer positiven Beurteilung Flavios Umgang mit schlechten Ergebnissen lobt (Z. 002). In Zeile 003 folgt eine Redeeinleitung, die einen Kontrast zur Beurteilung mar‐ kiert und damit dem Folgenden eine negative Rahmung verleiht. Nun konstru‐ iert sie zwei imaginierte, negativ gerahmte Situationen bzw. Szenarios, in denen Flavio mögliche, aber nicht vermutete und unerwünschte Reaktionen zeigt: Die erste animierte Rede in den Zeilen 004-005 zeigt eine fehlende Motivation als Folge und in der zweiten animierten Rede in den Zeilen 006-007 delegiert die porträtierte Figur die Schuld an den Lehrer. Diese animierten Identitäten werden mehrfach negativ gerahmt und dadurch implizit negativ beurteilt: Einerseits durch die kontextuelle Einpassung und die Redeeinleitung in Zeile 003, andererseits auch durch lexikalische („es scheisst mich an …“; „dieser blöde Herr …“) und prosodi‐ sche Markierung (nachahmende, demotivierte Stimme). Im folgenden Teilausschnitt zeigt sich nun die häufig beobachtbare involvie‐ rende Wirkung der animierten Rede: Beispiel 1, Teil 2 Beispiel 1, Teil 2 Beispiel 1, Teil 3 Be ispiel 1, Teil 1 001 L und TROTZdäm muess i jetz aber sÄÄge; u n d t r o t z d e m mu s s i c h j e t z t a b e r s a g e n 002 find i das e seer e TOLli reaktiOn vo dir. f i n d e i c h d a s e i n e s e h r t o l l e Re a kt i o n v o n d i r 003 (-) NID dass du säisch, n i c h t d a s s d u s a g s t 004 ah es schisst mi AA, a h e s s c h e i s s t mi c h a n 005 jetz mach i erscht RÄCHT nüt, j e t z t ma c h e i c h e r s t r e c h t n i c h t s 006 oder dä blödi herr NArayan, o d e r d i e s e r b l ö d e He r r Na r a y a n 007 dä tEscht isch vil z SCHWER gsi, d i e s e r Te s t i s t v i e l z u s c h w e r g e w e s e n 008 M [ah näi (.) nänäi; a h n e i n n e n e i n Be ispiel 1, Teil 2 009 L [aso ich WÄISS nid hesch vilich, also ich weiss nicht hast du vielleicht 010 ich WÄISS es [jetz nid, ich weiss es jetzt nicht 011 S [Aso, also 012 °h näi ÄIgentlich isch dr tescht gar nid schwEr gsi, nein eigentlich ist der Test gar nicht schwer gewesen 013 sin äifach f won ich GLERNT ha; sind einfach f wo/ als ich gelernt habe 014 han ich das alles no CHÖNne; habe ich das alles noch gekonnt 015 aber s isch (.) [wie irgenwie (.) wie WÄG gsi; aber es ist wie irgendwie wie weggewesen 016 L [mh_HM, mh m 017 S [s isch- es ist 018 M [mh_mh, m h 019 (1.02) 020 M (genau) [mir häns - (genau) wir haben’s 021 L [ich glaub ebe me het d frOOge GANZ konzentriert müesse lääse, ich glaube eben man hat die Fragen ganz konzentriert lesen müssen 022 dass me DRUS chunnt (.) so; dass man drauskommt so 023 M ah: ; ah Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; Durch die Demonstration der möglichen Einstellungen werden diese imaginierten Identitäten unmittelbar ins Gespräch geholt und die Beteiligten stehen im Zug‐ zwang, sich dazu zu verhalten. Flavio reagiert dann auch und distanziert sich ex‐ 150 Vera Mundwiler <?page no="151"?> plizit von der zweiten animierten Rede, indem er erklärt, dass der Test nicht zu schwer gewesen sei, sondern er ein Blackout hatte. Er bestätigt hiermit, dass diese imaginierten Einstellungen tatsächlich nicht vorhanden bzw. kontrafaktisch sind. Im nächsten Teilausschnitt bekräftigt die Lehrerin erneut ihre positive Be‐ wertung von Flavios Verhalten (Z. 024): Beispiel 1, Teil 3 Beispiel 1, Teil 3 mh m 017 S [s isch- e s i s t 018 M [mh_mh, mh 019 (1.02) 020 M (genau) [mir häns - ( g e n a u ) wi r h a b e n ’ s 021 L [ich glaub ebe me het d frOOge GANZ konzentriert müesse lääse, i c h g l a u b e e b e n ma n h a t d i e Fr a g e n g a n z ko n z e n t r i e r t l e s e n mü s s e n 022 dass me DRUS chunnt (.) so; d a s s ma n d r a u s ko mmt s o 023 M ah: ; ah Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; aber eben das finde ich eine sehr gute Einstellung 025 wenn du SÄISCH, wenn du sagst 026 ich gang jetz HÄI, ich gehe jetzt heim 027 und jetz MACH i öppis drfür, 028 dass ich das cha UFhoole; dass ich das aufholen kann 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. das ist ist eine gute Q ualität 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > das ist super Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; f ü r mi c h i i c h b i n n i c h t d a g e s e s s e n u n d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r und jetzt mache ich etwas dafür Nach der explizit positiven Beurteilung folgt in Zeile 025 eine Redeeinleitung, die eine Übereinstimmung mit der Beurteilung anzeigt und damit eine positive Rah‐ mung generiert. In den Zeilen 026-028 realisiert die Lehrerin dann die (annä‐ hernd) passende Version, die allerdings immer noch als hypothetische Rede zu verstehen ist, da Flavio diese Worte nie so geäußert hat. Im Unterschied zu den ersten beiden animierten Redeanteilen wird aber das hier porträtierte Verhalten als vermutet und erwünscht dargestellt. Dies wird dadurch noch expliziert, dass in Zeile 029 eine abschließende positive Beurteilung folgt, die zeigt, dass die ver‐ mutete Einstellung als positive Einstellung im Schulkontext bewertet wird. In diesem Beispiel finden wir eine Kombination von expliziten Beurteilungen und impliziteren Strategien, den Schüler zu charakterisieren, indem verschie‐ dene Identitäten entworfen und kontrastiert werden. Derart explizite Beurtei‐ lungen sind nicht sehr häufig vorhanden. Ausgangspunkt ist eine positive Be‐ urteilung und die Konstruktion kontrastierender Identitäten hat auch illustrierenden, explizierenden Charakter. Häufiger findet sich das Verfahren der Positionierung durch animierte Rede im Kontext negativer Beurteilung. Dies wird am folgenden Beispiel exemplifiziert. David (18 Jahre alt) besucht das letzte Schuljahr und wurde wegen mangel‐ hafter Motivation, diverser Absenzen und Versäumnissen sowie mäßigen Leis‐ tungen zu einem außerordentlichen Gespräch mit der Klassenlehrerin und dem Vater bestellt. Die folgenden Teilausschnitte stammen aus einer Sequenz, in der 151 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="152"?> 3 Die Auszüge aus Beispiel 2 stammen aus einem längeren Beispiel, in welchem über weite Strecken verschiedene Perspektiven mithilfe von Szenarios und animierter Rede verhandelt werden (vgl. Beispiel #84 in Mundwiler 2017: 357-363). es um ein berufliches Praktikum geht, bei dem sich David offenbar unterfordert fühlte. Als sein Vater dort einhakt und genauer nachfragt, positioniert sich nun David als jemanden, der sich gut mit sich selbst beschäftigen kann, weshalb ihn diese Unterforderung nicht dringlich gestört habe. Er demonstriert diese Hal‐ tung im folgenden Teilausschnitt 1: Beispiel 2 ((David, SJ12_L5A_LVS, 18: 48; 12. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, V=Vater, S=Schüler)) 3 Beispiel 2, Teil 1 Beispiel 2 ((David, SJ12_L5A_LVS, 18: 48; 12. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, V=Vater, S=Schüler)) 2 Beispiel 2, Teil 1 Beispiel 2, Teil 2 Beispiel 2, Teil 3 2 Die Auszüge aus Beispiel 2 stammen aus einem längeren Beispiel, in welchem über weite Strecken verschiedene Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; für mich i ich bin nicht da gesessen und habe gedacht 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = oh was mach ich nur Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 und ha dänkt; ü r d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r Die Redeeinleitung in Zeile 014 markiert das Folgende durch die Negation als kontrafaktische Darstellung. So ist dann die animierte Rede in Zeile 015, welche eine gelangweilte Person demonstriert, als nicht vorhandene Gedanken zu ver‐ stehen. Diese Selbstpositionierung mag aus Sicht des Schülers durchaus positiv gemeint sein und stützt seine Haltung, dass er keine Notwendigkeit sah, wäh‐ rend des Praktikums seine Unterforderung zu thematisieren. Der Vater jedoch sieht genau in dieser passiven Haltung eines der Grundprobleme und entwirft nun - ebenfalls in animierter Rede - mögliche Verhaltensweisen in entsprech‐ enden Unterforderungsmomenten. In den Zeilen 021-022 porträtiert er eine nicht vermutete, aber erwünschte Haltung, dann leitet er in Zeile 023 einen Kontrast ein und es folgt in den Zeilen 024-025 eine ebenfalls hypothetische Rede, die diesmal allerdings der vermuteten Haltung entspricht: Beispiel 2, Teil 2 Beispiel 2 ((David, SJ12_L5A_LVS, 18: 48; 12. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, V=Vater, S=Schüler)) 2 Beispiel 2, Teil 1 Beispiel 2, Teil 2 Beispiel 2, Teil 3 Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; f ü r mi c h i i c h b i n n i c h t d a g e s e s s e n u n d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 025 Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; f ü r mi c h i i c h b i n n i c h t d a g e s e s s e n u n d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, 023 oder du chasch SAAge; 024 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r Be ispiel 1, Teil 3 024 L (- -) aber (.) ebe (.) das find ich seer e GUEti IIstellig; a b e r e b e n d a s f i n d e i c h e i n e s e h r g u t e Ei n s t e l l u n g 025 wenn du SÄISCH, w e n n d u s a g s t 026 ich gang jetz HÄI, i c h g e h e j e t z t h e i m 027 und jetz MACH i öppis drfür, u n d j e t z t ma c h e i c h e t wa s d a f ü r 028 dass ich das cha UFhoole; d a s s i c h d a s a u f h o l e n ka n n 029 das isch (- -) isch e GUEti qualitÄt. d a s i s t i s t e i n e g u t e Qu a l i t ä t 030 S mh_HM: , mh m 031 L (-) <<p> das isch SUper; > d a s i s t s u p e r Be ispiel 2, Teil 1 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; f ü r mi c h i i c h b i n n i c h t d a g e s e s s e n u n d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V h I erf d l n M i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 023 024 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r ich hei ich bin unterfordert ich will noch mehr ähm und wie kann ich mich wie kann ich mich beschäftigen oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; oder du kannst sagen okay es fordert mich ja niemand also tue ich vor mich hin floaten oder 152 Vera Mundwiler <?page no="153"?> Der Vater zeigt hier also alternative Haltungen auf: David könnte aktiv mehr einfordern und sich einbringen oder aber ‚vor sich hin floaten‘ (später in Zeile 029 umschreibt er dies nochmals mit dem Begriff ‚hintreiben‘). Diese zweite Haltung ist durch die Wortwahl noch zusätzlich negativ konnotiert und unter‐ streicht die Passivität. Der Vater setzt dieses Verhalten von David nun im Fol‐ genden in einen größeren Kontext und imaginiert eine weitere wünschenswerte Einstellung: Beispiel 2, Teil 3 Beispiel 2, Teil 2 Beispiel 2, Teil 3 2 Die Auszüge aus Beispiel 2 stammen aus einem längeren Beispiel, in welchem über weite Strecken verschiedene Perspektiven mithilfe von Szenarios und animierter Rede verhandelt werden (vgl. Beispiel #84 in Mundwiler 2017: 357-363). Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 wwo mich (.) loonenswert DUN w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , h e i i c h wi l l mi c h d a f ü r e i n s e t z e n 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? d a s s i c h i r g e n d e t wa s a u s mi r h e r a u s h o l e 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, u n d d a s s i c h i r g e n d e i n Zi e l h a b e 036 w o / d a s w o / d a s d a s mi c h l o h n e n s w e r t d ü n kt o d e r 014 S (2.3) für mi i (.) ich bi nid DO ghockt und ha dänkt; f ü r mi c h i i c h b i n n i c h t d a g e s e s s e n u n d h a b e g e d a c h t 015 <<gedehnt, ca. 1.7 Sek.> OH: : : : : > was MACH ich nume; = o h wa s ma c h i c h n u r Be ispiel 2, Teil 2 021 V ich HEI: ich bi unterforderet ich will no MEE, i c h h e i i c h b i n u n t e r f o r d e r t i c h wi l l n o c h me h r 022 (- -) ähm (.) und wie chAn i mi: : ( -) wie chAn i mi beSCHÄFtige, ä h m u n d wi e ka n n i c h mi c h wi e ka n n i c h mi c h b e s c h ä f t i g e n 023 oder du chasch SAAge; o d e r d u ka n n s t s a g e n 024 oKEE °hh es fOrderet mi jo NIEmerts; o ka y e s f o r d e r t mi c h j a n i e ma n d 025 aso dueni: vor mi ane FLOUten; =oder? a l s o t u e i c h v o r mi c h h i n f l o a t e n o d e r Be ispiel 2, Teil 3 033 V HEI (-) ich will mi drfür IIsetze , hei ich will mich dafür einsetzen 034 dass ich: irgend öppis us mi: r Usehol? dass ich irgendetwas aus mir heraushole 035 und dass ich irgend e ZIIL ha, 036 wo wo mich (.) loonenswert DUNKT; =oder, wo/ das wo/ das das mich lohnenswert dünkt oder und dass ich irgendein Ziel habe Wieder handelt es sich um eine animierte Rede mit dem Schüler David als spre‐ chende Figur. Während es zuvor noch um die konkrete Praktikumssituation ging, geht es nun um grundsätzliche Ziele, die David verfolgen sollte und für die er sich einsetzen sollte. David äußert sich nicht dazu. Der Vater knüpft also mit seinen Szenarien direkt an dasjenige von David an und entwirft jedoch eine gegenteilige Bewertung, indem er die von David als positiv kontextualisierte Figur in eine passive, ziellose Figur umwertet. Der Vater fordert hier von seinem Sohn ein selbstbestimmtes, zukunftsorientiertes Verhalten ein und setzt damit hohe Erwartungen. Auch geht es nicht mehr im engeren um die Vorfälle in der Schule, sondern um den weiteren Werdegang und um ganz generelle Einstellungen, die sich unter anderem auch negativ auf die schulischen Leistungen auswirken. Interessant ist, wie die Lehrerin an diese Personenentwürfe anschließt und wie dabei eine ausgeprägte Passung zwischen ihrer Sichtweise und derjenigen des Vaters zum Ausdruck kommt. Sie übernimmt in Zeile 044 nach einer kürz‐ eren Pause den Turn und führt die Überlegungen des Vaters weiter aus: 153 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="154"?> Beispiel 2, Teil 4 und 5 Beispiel 2, Teil 4 und 5 Be ispiel 2, Teil 4 und 5 044 aber so °hh (- - -) (so) SÄÄge, aber so (so) sagen 045 (.) ich bi (.) so alLÄI? ich bin so alleine 046 ich (.) mis universum dräit sich so um MI: CH? ich mein Universum dreht sich so um mich 047 ähm ich bi mir SÄLber gnUE, ähm ich bin mir selber genug 048 ähm (- -) ((schnalzt)) °h (-) ich MACH halt äfach mal; ähm ich mach halt einfach mal 049 ich (.) DRIFT eso bitz (2.19) älOng, hh° °hhh ich drift so bisschen along 050 (1.2) aber so (.) so so (.) ! NID! , aber so so so nicht 051 wAs wott ! ICH! mit dr WÄLT? was will ich mit der Welt 052 was wott ICH mit andere MÄNsche, was will ich mit anderen Menschen 053 wAs wott ! ICH! (.) so; was will ich so […] 059 ich wEtt öppis beWEge, ich will etwas bewegen 060 ich wEtt öppis MAche, ich will etwas machen 061 ich wEtt öppis °hh erRÄIche, ich will etwas erreichen 062 ich wEtt in konTAKT chO, ich will in Kontakt kommen 063 ich wEtt (- - -) i ich wEtt i d WÄLT? ich will i ich will in die Welt 064 (4.54) L In Zeile 044 findet sich eine (verkürzte) Redeeinleitung, die durch das „aber“ einen Kontrast zum Vorigen ankündigt. Es folgt dann in den Zeilen 045-049 in animierter Rede eine Darstellung einer hypothetischen, vermuteten, aber unerwünschten Haltung von David. Sie orientiert sich insgesamt stark an den Ausführungen des Vaters, wobei sich aber durchaus auch neue Facetten finden. So porträtiert sie nicht nur die Passivität, sondern in den Zeilen 045- 047 auch eine selbstbezogene und selbstzufriedene Haltung des Schülers. In Zeile 050 leitet sie wiederum einen Kontrast ein und führt dann über zu einer weiteren animierten Rede, die hypothetisch ist und nicht vermutet wird, die aber erwünscht wäre. Sie formuliert diese animierte Rede zuerst als selbstad‐ ressierte Fragen (Zeilen 051-053) und dann in gesteigerter Form als Aussagen (Zeilen 059-063). Die Passung zwischen den Sichtweisen der Erwachsenen lässt sich auf in‐ haltlicher und lexikalischer Ebene aufzeigen: Einerseits knüpft die Lehrerin in‐ haltlich bei der negativen Bewertung der passiven Haltung an und propagiert - wie auch der Vater - ein aktives Verfolgen von Zielen. Andererseits wird ein vergleichbares Vokabular verwendet: Während der Vater von ‚vor sich hin 154 Vera Mundwiler <?page no="155"?> floaten‘ (Zeile 025) und ‚hintreiben‘ (Zeile 029) spricht, nutzt die Lehrerin mit ‚drift […] along‘ (Zeile 049) ebenfalls einen verwandten, englischen Begriff, um die Passivität des Schülers zu fassen. Dann stellt die Lehrerin in animierter Rede die Frage (aus Sicht des Schülers): ‚was will ich mit der Welt‘ (Zeile 051), nachdem der Vater zuvor den Sohn auffordert, er solle ‚herausfinden was du willst in dieser Welt‘ (Zeile 030 f., zwischen animierter Rede in Teilausschnitt 2 und 3). Die Lehrerin passt also ihren Beitrag kohärent in das bereits Geäußerte ein. Während den Fremdpositionierungen schweigt der Schüler durchwegs und nimmt auch keine erneute Selbstpositionierung vor. Mit Silverman, Baker und Keogh (1998: 238) kann davon ausgegangen werden, dass Sprechen als „poten‐ tially morally implicative“ bewertet wird - was sich an den Umwertungen von Davids Selbstpositionierung zeigen lässt - und David in der Folge auf weitere Selbsteinschätzungen verzichtet. Insgesamt zeigt dieses Beispiel, wie sich die Gesprächsteilnehmenden ge‐ meinsam an der Entwicklung der Szenarios beteiligen und sich mit ihren Bei‐ trägen in höchstem Maße aneinander orientieren und sich gegenseitig positio‐ nieren. Ausgehend von Davids Selbstpositionierung in animierter Rede, beteiligen sich die Erwachsenen interaktiv mit Ergänzungen und Kontrastie‐ rungen, um einerseits ihre Bewertungen des dargelegten Schülerverhaltens zu vermitteln sowie andererseits erwünschte alternative Einstellungen vorzu‐ schlagen. Die Erwachsenen - die Lehrerin und der Vater - treten dabei als Ko‐ alition auf, die gemeinsame Werte und Vorstellungen vertreten. Während die von ihnen dargestellten erwünschten Verhaltensweisen eine gute Passung auf‐ zeigen, kontrastieren diese aber mit den tatsächlich vorhandenen Einstellungen. David schafft es dann nicht, sich zu diesen möglichen Einstellungen zu positi‐ onieren. In Anlehnung an Altmeyer-Müller (2015, vgl. einleitend in Teil 4) stehen also Fähigkeiten, Motivation, Verhaltensstil des Schülers und die Erwartungen und Anforderungen der Schule (und in diesem Fall auch des Elternhauses) nicht im Einklang miteinander und entsprechend wird auf dieser Ebene keine Passung erzielt. 4. 2 (An-)Passung von Selbstbeurteilungen In diesem Teil geht es um die Verhandlung von (schriftlichen) Selbstbeurtei‐ lungen in den Gesprächen und darum, wie die verschiedenen Sichtweisen von den Beteiligten bearbeitet werden. Aus pädagogischer Sicht handelt es sich bei der Selbstbeurteilung um einen integralen Teil des Beurteilungsgesprächs. So sollen Schüler/ innen lernen, „ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln zu re‐ flektieren, einzuschätzen und gegebenenfalls zu bewerten“ (Nüesch, Boden‐ 155 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="156"?> 4 Vgl. auch die Analyse eines längeren Ausschnitts in Mundwiler (2017: 377-381, Beispiel #90). mann und Birri 2009: 43). Vögeli-Mantovani (2011: 254) versteht „Selbstbeurtei‐ lungen als Voraussetzung für partnerschaftliche Beurteilungsgespräche“ und führt aus: Selbst- und Fremdbeurteilung können übereinstimmen oder sie weichen voneinander ab, was für die Beteiligten heißt, dass sie die Differenz feststellen, diese untersuchen und dabei Subjektivität abbauen. Demnach besteht eine wichtige Aufgabe des Beurteilungsgesprächs darin, eventuelle Differenzen bei den Selbst- und Fremdbeurteilungen zu erkennen und zu ergründen. Daraus soll eine objektive Beurteilung resultieren. Dies geschieht insbesondere dann, wenn es zu einer Angleichung der Sichtweisen kommt: Die Angleichung von Fremd- und Selbstbewertung ist […] ein grundlegender Aspekt eines pädagogisch motivierten Leistungsbegriffs. (Bohl 2009: 125) Vor diesem Hintergrund interessiert nun im Folgenden, wie sich die Beteiligten in den Gesprächen tatsächlich dieser Aufgabe annehmen und wie die Selbst‐ beurteilungen verhandelt werden. Es handelt sich hierbei um Selbstbeurtei‐ lungen, die zuvor von den Schüler/ innen schriftlich festgehalten werden und dann im Beurteilungsgespräch thematisiert werden. Das folgende Beispiel 3 stammt aus dem Gespräch mit Chiara (12 Jahre alt), in welchem zunächst die einzelnen Fächer besprochen und beurteilt werden und dann in einem weiteren Schritt das Lern- und Sozialverhalten behandelt wird. An dieser Stelle setzt der Ausschnitt in Beispiel 3 ein. Die Lehrerin kommt dabei auf den Selbstbeurteilungsbogen zu sprechen und zitiert daraus: Beispiel 3 ((Chiara, SJ5_L7A_LMVS, 07: 48; 5. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, M=Mutter, V=Vater, S=Schülerin)) 4 156 Vera Mundwiler <?page no="157"?> Beispiel 3, Teil 1 Beispiel 3 ((Chiara, SJ5_L7A_LMVS, 07: 48; 5. Schuljahr; Anwesende: L=Lehrerin, M=Mutter, V=Vater, S=Schülerin)) 3 Beispiel 3, Teil 1 Beispiel 3, Teil 2 Beispiel 4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 3 Vgl. auch die Analyse eines längeren Ausschnitts in Mundwiler (2017: 377-381, Beispiel #90). Be ispiel 3, Teil 1 003 L 004 do HESCH du gseit, zum Beispiel ich beteilige mich aktiv am U nterricht 005 jO trifft TEILweise zu; ja trifft teilweise zu 006 (-) das heisst für MI, 007 du bhouptisch vo DIR, du behauptest es von dir 008 °h jo i mÄlde mi eignlech i mÄlde mi eignlech fasch NÜT; ja ich melde mich eigentlich ich melde mich eigentlich fast nicht 009 ISCH das so. ist das so 010 1.26) 011 L oder isch das dis GFÜEL. oder ist das dein Gefühl 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, äh ich weiss nicht 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; aber das ist manchmal so im Wochenplan gestanden 014 M wäge DÄM,=gäll wegen dem gell 015 L aHA wäg DÄM? aha wegen dem Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t Be ispiel 3, Teil 1 003 L 004 005 006 007 u p t e s t v o n d i r 008 jo i mÄlde mi eignlech i 009 o. 010 1.26) 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; a b e r d a s i s t ma n c h ma l s o i m Wo c h e n p l a n g e s t a n d e n 014 M ll? l 015 L aH Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t L °h zum bisp 004 do HESCH du gseit d a h a s t d u g e s a g 005 jO trifft TEILweise zu; j a t r i f f t t e i l w e i s e z u 006 (-) das heisst fü d a s h e i s s t f ü r mi c h 007 du bhouptisch vo DIR, d u b e h a u p t e s v o r 008 °h jo i mÄlde mi eignlech i mÄlde mi eignlech fasch NÜT; j a i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h f a s t n i c h t i s d a s s 011 L oder isch das dis GFÜEL. o d e r i s t d a s d e i n Ge f ü h l 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, ä h i c h w e i s s n i c h t 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; a b e r d a s i s t ma n c h ma l s o i m Wo c h e n p l a n g e s t a n d e n 014 M wäge M,=gäll? w e g e n d e m g e l l 015 L aHA wäg DÄM? a h a w e g e n d e m Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t das hast du gesagt das heisst für mich °h zum bispiil ich beteilige mich AKtiv am unterricht; In Zeile 003 verweist die Lehrerin auf die Frage „Ich beteilige mich aktiv im Unterricht“ und die entsprechende Antwort von Chiara: „trifft teilweise zu“ (Zeile 005). In der Folge versucht sie nun die Differenz bzw. die fehlende Passung zwischen der Selbst- und Fremdbeurteilung zu ergründen. Hierfür macht die Lehrerin mithilfe einer Reformulierung deutlich, wie sie die Antwort „trifft teil‐ weise zu“ versteht, nämlich als gleichbedeutend mit „ich melde mich eigentlich fast nicht“ (Zeile 008). Aus Analyseperspektive muss hier angemerkt werden, dass diese Reformulierung einen weiten Deutungsspielraum anzeigt und davon ausgegangen werden muss, dass diese Antwortkategorie von unterschiedlichen Personen auch verschiedentlich interpretiert werden kann. Abweichende Ant‐ worten müssen demnach nicht mit divergierenden Beurteilungen zusammen‐ hängen, sondern können auch auf einem anderen Verständnis der Frage gründen. Nach der Rückfrage der Lehrerin, ob sich Chiara wirklich so einschätze, dass sie sich „eigentlich fast nicht“ melde, antwortet diese nun mit Verweis auf die vermutete Fremdbeurteilung: Nach einigen Verzögerungsmerkmalen und Pausen deutet Chiara auch verbal ihre Unsicherheit an (Zeile 12) und begründet dann ihre Antwort mit einer entsprechenden Angabe im Wochenplan. Damit orientiert sie sich an einer Fremdbeurteilung, wie sie laufend im Unterricht lokal eingebettet sein kann und interpretiert, dass folglich die Gesamtbeurteilung der 157 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="158"?> Lehrerin ebenso ausfallen wird. Daraus resultiert eine Selbstbeurteilung, die je‐ doch im eigentlichen Sinne eine vermutete Fremdbeurteilung reproduziert. Im Anschluss an Zeile 015 expliziert die Lehrerin ihre Einschätzung, dass Chiara sich zwar je nach starken bzw. schwachen Fachgebieten mehr bzw. we‐ niger aktiv beteilige, dass sie aber durchaus auch eigene Fragen stelle, was gut sei (Zeilen 016-037 sind hier nicht abgedruckt). Sie schließt ihre Beurteilung mit der Äußerung: „also das finde ich eigentlich das finde ich okay so“ (Zeile 038, Beispiel 2, Teil 2): Beispiel 3, Teil 2 Beispiel 3, Teil 2 Beispiel 4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 3 Vgl. auch die Analyse eines längeren Ausschnitts in Mundwiler (2017: 377-381, Beispiel #90). 005 jO trifft TEILweise zu; j a t r i f f t t e i l w e i s e z u 006 (-) das heisst für MI, d a s h e i s s t f ü r mi c h 007 du bhouptisch vo DIR, d u b e h a u p t e s t v o n d i r 008 °h jo i mÄlde mi eignlech i mÄlde mi eignlech fasch NÜT; j a i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h f a s t n i c h t 009 ISCH das so. i s t d a s s o 010 (1.26) 011 L oder isch das dis GFÜEL. o d e r i s t d a s d e i n Ge f ü h l 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, ä h i c h w e i s s n i c h t 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; a b e r d a s i s t ma n c h ma l s o i m Wo c h e n p l a n g e s t a n d e n 014 M wäge DÄM,=gäll? w e g e n d e m g e l l 015 L aHA wäg DÄM? a h a w e g e n d e m Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh l s o d a s f i n d 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t 005 jO trifft TEILweise zu; j a t r i f f t t e i l w e i s e z u 006 (-) das heisst für MI, d a s h e i s s t f ü r mi c h 007 du bhouptisch vo DIR, d u b e h a u p t e s t v o n d i r 008 °h jo i mÄlde mi eignlech i mÄlde mi eignlech fasch NÜT; j a i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h f a s t n i c h t 009 ISCH das so. i s t d a s s o 010 (1.26) 011 L oder isch das dis GFÜEL. o d e r i s t d a s d e i n Ge f ü h l 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, ä h i c h w e i s s n i c h t 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; a b e r d a s i s t ma n c h ma l s o i m Wo c h e n p l a n g e s t a n d e n 014 M wäge DÄM,=gäll? w e g e n d e m g e l l 015 L aHA wäg DÄM? a h a w e g e n d e m Be ispiel 3, Teil 2 038 L 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t z u m Be i s p i e l i c h b e t e i l i g e mi c h a kt i v a m Un t e r r i c h t 004 do HESCH du gseit, d a h a s t d u g e s a g t 005 jO trifft TEILweise zu; j a t r i f f t t e i l w e i s e z u 006 (-) das heisst für MI, d a s h e i s s t f ü r mi c h 007 du bhouptisch vo DIR, d u b e h a u p t e s t v o n d i r 008 °h jo i mÄlde mi eignlech i mÄlde mi eignlech fasch NÜT; j a i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h i c h me l d e mi c h e i g e n t l i c h f a s t n i c h t 009 ISCH das so. i s t d a s s o 010 (1.26) 011 L oder isch das dis GFÜEL. o d e r i s t d a s d e i n Ge f ü h l 012 S (-) äh h° °hh (1.41) i weiss NI, ä h i c h w e i s s n i c h t 013 aber das isch mängisch <<: -)> so im WUcheplan> gstange; a b e r d a s i s t ma n c h ma l s o i m Wo c h e n p l a n g e s t a n d e n 014 M wäge DÄM,=gäll? w e g e n d e m g e l l 015 L aHA wäg DÄM? a h a w e g e n d e m Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentle Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh also das finde ich eigentlich das finde ich okay so ja dann könntest du eines vor hä ja dünkt mich jetzt also eigentlich auch im Zeugnis ist’s eigentlich auch so drin Interessant ist hier, wie mit dem Umstand der unterschiedlichen Einschätzungen umgegangen wird: Der Vater reagiert auf die Beurteilung der Lehrerin, indem er seine Tochter auffordert, ihre Selbstbeurteilung an die Fremdbeurteilung an‐ zupassen (Zeile 039). Diese Sicht wird von der Lehrerin unterstützt (Zeile 040) und entspricht auch der Beurteilung, die bereits im Zeugnis fixiert ist und Gül‐ tigkeit hat (Zeile 041). In dieser Sequenz wird impliziert, dass sich Chiara in ihrer Selbstbeurteilung (die sich, wie oben gezeigt, an einer vermuteten Fremdbeur‐ teilung orientiert) unterschätzt hat, aber nach Feststellung der Differenz wird die Perspektive von Chiara nicht weiter fokussiert. Vielmehr dominiert nun die Sicht der Lehrerin, die ihre Einschätzung genauer ausführt. Obschon damit die Möglichkeit geboten ist, dass die Schülerin die (Fremd-)Perspektive verstehen und übernehmen könnte, gibt es im Gespräch keinen Hinweis dafür, dass es tatsächlich zu einer Perspektivenangleichung kommt. Zwar wird Chiara aufge‐ fordert, bei ihrer Selbstbeurteilung eine höhere Kategorie anzukreuzen, aber es fehlt an dieser Stelle eine Rückversicherung, dass Chiara auch tatsächlich ihre Sichtweise auf Basis der erhaltenen Einschätzung verändert hat. Damit bleibt in der Forderung ein Widerspruch stehen, dass nämlich die Selbstbeurteilung der‐ gestalt korrigiert werden soll, dass sie am Ende eine Fremdbeurteilung wider‐ spiegelt. Dies ist ein typisches Beispiel für die Bearbeitung der schülerseitigen Selbst‐ beurteilungen in meinem Korpus. So wird zuerst die Differenz zwischen der Selbst- und der Fremdbeurteilung konstatiert, worauf die ‚falsche‘ Selbstbeur‐ teilung in der weiteren Bearbeitung korrigiert und an die Fremdbeurteilung an‐ 158 Vera Mundwiler <?page no="159"?> geglichen wird. Während damit in Beispiel 3 die Selbstbeurteilung implizit wie‐ derum einer Beurteilung unterzogen wird, finden sich im Korpus auch Fälle, in denen die Selbstbeurteilung durchaus explizit beurteilt wird: Beispiel 4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) Beispiel 4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 3 Vgl. auch die Analyse eines längeren Ausschnitts in Mundwiler (2017: 377-381, Beispiel #90). 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, a l s o e s i s t a u c h t o l l 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; d a s s s i e s i c h r i c h t i g e i n s c h ä t z t Be ispiel 3, Teil 2 038 L aso das fing i eigentlech °h das fing i Okee so. °hh a l s o d a s f i n d e i c h e i g e n t l i c h d a s f i n d e i c h o ka y s o 039 V jo de chöntsch EIS füüre,=hä? j a d a n n kö n n t e s t d u e i n e s v o r h ä 040 L jo (.) DÜNKT mi etz aso EIgentlech ou; j a d ü n kt mi c h j e t z t a l s o e i g e n t l i c h a u c h 041 im ZÜGnis ischs eigentlech OU so din. i m Ze u g n i s i s t ’ s e i g e n t l i c h a u c h s o d r i n Beispiel4 ((Sarah, SJ1_L1A_LMV, 25: 39)) 001 L aso es isch au TOLL, also es ist auch toll 002 dass sii sich ! RICH! tig iischätzt; dass sie sich richtig einschätzt Beispiel 5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) Beispiel 5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) Beispiel 6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) Beispiel5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) 001 L °h do hesch di EEner e chli (- - -) ! UN! terschätzt? da/ hier hast du dich eher ein bisschen unterschätzt Beispiel6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) 001 L ((schnalzt)) sO jetz chöme mir uf d RÜCKsite; s o j e t z t ko mme n wi r a u f d i e Rü c k s e i t e 002 won i eigentlich NID so zfride bi mit dIr. w o i c h e i g e n t l i c h n i c h t s o z u f r i e d e n b i n mi t d i r 003 ((...)) 004 L I ha jetz Anegschribe, i c h h a b e j e t z t h i n g e s c h r i e b e n 005 VORsicht dass du dich nicht zu SCHWACH einschätzt. Vo r s i c h t d a s s d u d i c h n i c h t z u s c h wa c h e i n s c h ä t z t Beispiel5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) 001 L °h do hesch di EEner e chli (- - -) ! UN! terschätzt? d a / h i e r h a s t d u d i c h e h e r e i n b i s s c h e n u n t e r s c h ä t z t Beispiel6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) 001 L ((schnalzt)) sO jetz chöme mir uf d RÜCKsite; s o j e t z t ko mme n wi r a u f d i e Rü c k s e i t e 002 won i eigentlich NID so zfride bi mit dIr. w o i c h e i g e n t l i c h n i c h t s o z u f r i e d e n b i n mi t d i r 003 ((...)) 004 L I ha jetz Anegschribe, i c h h a b e j e t z t h i n g e s c h r i e b e n 005 VORsicht dass du dich nicht zu SCHWACH einschätzt. Vo r s i c h t d a s s d u d i c h n i c h t z u s c h wa c h e i n s c h ä t z t Beispiel 6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) Beispiel 5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) Beispiel 6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) Beispiel5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) 001 L °h do hesch di EEner e chli (- - -) ! UN! terschätzt? d a / h i e r h a s t d u d i c h e h e r e i n b i s s c h e n u n t e r s c h ä t z t Beispiel6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) 001 L ((schnalzt)) sO jetz chöme mir uf d RÜCKsite; s o j e t z t ko mme n wi r a u f d i e Rü c k s e i t e 002 won i eigentlich NID so zfride bi mit dIr. i c h h a b e j e t z t h i n g e s c h r i e b e n Vo r s i c h t d a s s d u d i c h n i c h t z u s c h wa c h e i n s c h ä t z t Beispiel5 ((Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 01: 50)) 001 L °h do hesch di EEner e chli (- - -) ! UN! terschätzt? d a / h i e r h a s t d u d i c h e h e r e i n b i s s c h e n u n t e r s c h ä t z t Beispiel6 ((Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 17: 10 und 20: 57)) ((schnalzt)) sO jetz chöme mir uf d RÜCKsite; 001 002 won i eigentlich NID so zfride bi mit dIr. wo ich eigentlich nicht so zufrieden bin mit dir 003 ((...)) 004 L I ha jetz Anegschribe, ich habe jetzt hingeschrieben 005 VORsicht dass du dich nicht zu SCHWACH einschätzt. Vorsicht dass du dich nicht zu schwach einschätzt L so jetzt kommen wir auf die Rückseite Den Beispielen 4-6 ist gemein, dass weniger von unterschiedlichen Sichtweisen, sondern von richtigen versus falschen bzw. von zutreffenden versus abweich‐ enden Beurteilungen ausgegangen wird. Maßgebend ist jeweils die Beurteilung der Lehrpersonen. Für die Schüler/ innen gleicht das Ausfüllen der schriftlichen Selbstbeurteilung damit einer Testaufgabe, die sie besser oder weniger erfolg‐ reich erfüllen können. Besonders erfolgreich sind dann diejenigen Schüler/ innen, die antizipieren können, wie die Fremdbeurteilung ausfallen wird und die es zudem schaffen, ihre (Selbst-)Beurteilung mit der (vermuteten) Fremdbe‐ urteilung in Passung zu bringen. Handlungsleitend ist dann jedoch nicht die eigene Wahrnehmung, sondern die Orientierung an der Sichtweise der Lehr‐ person. Dadurch dominiert die Perspektive der Schule, während die eingangs formulierten pädagogischen Absichten aus dem Fokus geraten. 159 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="160"?> 5 Abschließende Überlegungen Wir haben in den gezeigten Kontexten gesehen, wie Passungen gemeinsam mit den beteiligten Schüler/ innen verhandelt werden. In einem ersten Teil wurden Sequenzen in animierter Rede fokussiert, die also nicht auf tatsächlich geäu‐ ßerte, sondern auf hypothetische, imaginierte Rede Bezug nehmen. Die ani‐ mierte Rede stellt ein sprachliches Mittel dar, welches einerseits für Positionie‐ rungen und andererseits für Veranschaulichungen genutzt wird, beispielsweise bei antizipierten Verstehensschwierigkeiten, Identitätszuschreibungen oder Handlungsempfehlungen. Ganz zentral im Kontext der Beurteilungsgespräche ist die Positionierung und die damit einhergehende (indirekte, implizite) Be‐ wertung von gegenwärtigen oder zukünftig erwünschten Einstellungen, Ver‐ haltensweisen, Handlungen, Äußerungen oder Gedanken. Die indirekte und oftmals implizite Bewertung geschieht durch mehrschrittige Kontrastierungen von unpassenden, unerwünschten und schulisch nicht erfolgreichen Identitäts‐ entwürfen sowie erwünschten, passenden, schulorientierten und entsprechend schulisch erfolgreichen Identitätsentwürfen. Da in den meisten Fällen bei der animierten Rede die Perspektive des Kindes bzw. Jugendlichen eingenommen wird, kommt es nicht zu einer offensichtlichen Fremdzuschreibung, sondern zu einer inszenierten Selbstzuschreibung. So können Lehrpersonen zugleich das Dilemma der Adressierung in der Mehrper‐ soneninteraktion umgehen, wenn sie nämlich im Gespräch nicht entweder den/ die Schüler/ in oder die Eltern direkt adressieren, sondern aus der Perspektive der Schüler/ innen sprechen. Dadurch gelingt eine Involvierung der Schüler/ innen, die sich häufig durch Ratifikation oder Widerspruch bzw. Reparatur zu dem Gesagten äußern und sich so als Reaktion zu den porträtierten Identitäten positionieren. Wenn keine direkte Reaktion der Schüler/ innen folgt, so sind sie durch den erhöhten Fokus auf deren Sicht dennoch in mentalem Raum invol‐ viert. Aufgrund der Eigenschaften und Funktionen der animierten Rede und dem exklusiven Gebrauch in denjenigen Gesprächen mit anwesenden Schüler/ innen, habe ich die animierte Rede als spezifische Design-Aktivität beschrieben, d. h. als konkrete Praktik, die sich in Beurteilungsgesprächen mit anwesenden Schüler/ innen als funktional zeigt und die mit anderen Praktiken in der Ge‐ samtheit zum Recipient Design beiträgt (vgl. Mundwiler 2017: Kap. 7 sowie ein‐ führend Kap. 2. 2. 2; vgl. Schmitt und Knöbl 2014 zur Konzeption von Recipient Design und Design-Aktivitäten). Mithilfe von Szenarios und animierter Rede kann das durchaus delikate Thema der schulischen Passung im Beisein der Schüler/ innen und der Erziehungsberechtigten verhandelt werden. Damit kann der animierten Rede Sozialisierungspotenzial zugesprochen werden: Identitäts‐ 160 Vera Mundwiler <?page no="161"?> entwürfe werden zur Reflexion angeboten und durch Darlegen möglicher Ein‐ stellungen, Handlungen und entsprechenden Auswirkungen wird den Schüler/ innen gezeigt, wie sie Situationen bewältigen sollen, welche Erwartungen an sie gestellt werden und welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Dieses Potenzial hat allerdings auch seine Kehrseite. Denn einerseits können zwar die gezeigten Formen inszenierter Selbstzuschreibung durchaus im Sinne einer (schulischen) Sozialisierung verstanden werden, andererseits wirken sie stellenweise gar übergriffig, wenn den Schüler/ innen quasi fremdes Gedankengut als eigene Rede vorgesetzt wird. Diese Strategie kann daher nicht vorbehaltlos für die Praxis empfohlen werden, sondern müsste in weiterführenden Studien (z. B. in Form von Befragungen) noch genauer untersucht werden. In einem zweiten Teil wurden Selbstbeurteilungen fokussiert. Auch bei den Selbstbeurteilungen werden Schüler/ innen verstärkt in das Gespräch einbe‐ zogen und gewissermaßen aufgefordert, selbst zu ihrer schulischen Passung Stellung zu beziehen. Fraglich ist aber, ob dabei tatsächlich die Sicht der Schüler/ innen ergründet wird. Denn wie gezeigt werden konnte, scheint bereits Klarheit darüber zu bestehen, wie es um die Passung steht und welche Beurteilung bei abweichenden Einschätzungen - die Selbst- oder Fremdbeurteilung - als adä‐ quat zu verstehen ist. So gilt i. d. R. die Beurteilung der Lehrperson als ‚richtige‘ Beurteilung, während die Schüler/ innen ihre Sicht gegebenenfalls korrigieren sollen. Damit verkommt die Selbstbeurteilung zu einer Pseudo-Involvierung und das Potenzial von Selbstbeurteilungen, dass Schüler/ innen nämlich lernen, „ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln zu reflektieren, einzuschätzen und gegebenenfalls zu bewerten“ (Nüesch, Bodenmann und Birri 2009: 43) wird nur selten ausgeschöpft. Auch Bonanati (2018: 412) kommt in ihrer Studie zu Lern‐ entwicklungsgesprächen zum Schluss, dass „kaum Raum für Formen der Selbst‐ reflexion bleibt, die den Gesprächsteilnehmenden (neue) Einsichten in die Lern‐ prozesse bieten würden“. Menzel und Rademacher (2012: 98) kritisieren Selbstbeurteilungen zudem als „Verschleierung der schulischen Anpassungs‐ forderungen“, da durch das Konstrukt der Selbstbeurteilung die Tatsache ver‐ hüllt wird, dass pädagogische Strukturen ein Abhängigkeits- und Kontrollver‐ hältnis schaffen und Kinder sich zuletzt den schulischen Normen anpassen müssen. Die Daten bestärken diesen kritischen Standpunkt, da die Anpassung vonseiten der Schüler/ innen jeweils implizit oder explizit eingefordert wird. Lässt sich dieser Widerspruch zwischen dem Fordern und Fördern von Selbst‐ beurteilungen sowie dem Zwang der Anpassung an die Fremdbeurteilungen lösen? Wichtig ist m. E. das Bewusstsein der Lehrperson über Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbeurteilung und die Transparenz der Ziele, die damit verfolgt werden. 161 (An-)Passung von Selbst- und Fremdbeurteilungen in Beurteilungsgesprächen <?page no="162"?> Literatur Altmeyer-Müller, Simona (2015): Beurteilung von Verhalten und Lernen von Schulkin‐ dern durch Lehrpersonen. Eine Frage der Passung. Universität Zürich. Baker, Carolyn/ Keogh, Jayne (1995): Accounting for achievement in parent-teacher in‐ terviews. Human Studies 18: 2, 263-300. Bellmann, Johannes (2017): Schulische Förderpraktiken als Formen der subjektivierenden Differenzkonstruktion. Vortrag gehalten auf der Tagung „Diskursive Passungen im schulischen Feld. Ethnographien und Konversationsanalysen sozialer Ordnungspro‐ zesse“, 02. 11. 2017, Freiburg i.Br. Bellmann, Johannes (2018): Selbstregulation im ständigen Abgleich von Sein und Sollen. Ansätze zu einer Theorie der Wirkungen und Nebenwirkungen datengetriebener Steuerung. 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Seit einiger Zeit schon definieren auch Landesinstitute für Schule und Bildung, wie etwa das baden-württembergische, das Zusammenwirken der beiden Institutionen so: „Schule und Elternhaus haben einen Erziehungs- und Bildungsauftrag für das Kind, sie tragen gemeinsam die Verantwortung für dessen Entwicklung“ (Hertel und Schmitz 2010: 18). Dabei gilt natürlich die Schule als die professionelle Agentur, in der Lehrpersonen und andere Fachleute agieren, die Kinder und Jugendliche mit einer großen Bandbreite an Wissen und Fähigkeiten vertraut machen. Das Konzept der Bildungs- und Erziehungspart‐ nerschaft hat laut Hauser und Mundwiler (2015) zu einer stärkeren Institutio‐ nalisierung der schulischen Elterngespräche beigetragen, in denen die Vertreter/ innen beider Institutionen im Wesentlichen ihre Perspektive auf das zur Debatte stehende Kind miteinander abgleichen und sich über Lernförderung austau‐ schen (Kotthoff 2012). Mundwiler (in diesem Band) führt Dynamiken vor, die weniger ideal anmuten als die offiziellen Verlautbarungen als bildungspolitische Konzepte. In diesem institutionellen Gesprächstyp des Lehrperson-Eltern-Gesprächs bringen beide Seiten ihre Sicht auf den Schüler/ die Schülerin vor. Beide Seiten schreiben sich Beobachtungs- und Bewertungskompetenz im Bezug auf Lern-, Arbeits- und Verhaltensentwicklungen zu und zeigen sich in dem Setting als im besten Sinne des Kindes agierend (Baker und Keogh 1995: 291), führen sich also als moralisch handelnd auf. Trotzdem gilt die Lehrperson als die profes‐ <?page no="166"?> sionelle Vertretung ihrer Institution und bringt in der Regel fachlich fun‐ dierte Einschätzungen vor. Sie ist es deshalb, die normalerweise eine bera‐ tende Rolle gegenüber den Eltern im Hinblick auf eine zuhause gestaltbare Lernumgebung einnimmt. Trotzdem stehen auch die Eltern in diesem institutionellen Kontext vor der Hausforderung, sich als kompetente Eltern zu präsentieren, eigene Beobach‐ tungen zu Tochter oder Sohn von Zuhause mitzuteilen, die in irgendeiner Weise schulisch relevant sind. U. a. Pillet-Shore (2015: 375) hält in punkto Problembe‐ sprechung fest: „Parents systematically display prior knowledge of the stu‐ dent-trouble“, womit sie ihre elterlichen Beobachtungskompetenzen vor‐ bringen. Für beide Seiten ist diese Dimension ihrer institutionellen Rolle auch gesichtspolitisch relevant (im Goffman’schen Sinne von „face-work“). Eine hohe diskursive Passung im Agieren der Schulseite und der Eltern ist also gegeben, wenn gegenseitiges Verständnis (nicht Einverständnis! ) für die dargelegten Di‐ agnosen, Beobachtungen und Vorschläge erreicht wird. Das ist nicht immer der Fall. Im vorliegenden Beitrag wird Beraten als eine Aktivität untersucht, in deren Rahmen Eltern und Lehrkräfte sich in unterschiedlicher Weise an der Definition und Bearbeitung von Problemen beteiligen. Der Artikel untersucht unterschied‐ liche Beteiligungsmuster und zeichnet nach, wie über die Mitarbeit an der Prob‐ lemdefinition und -bearbeitung bestimmte Selbstpositionierungen erfolgen und unterschiedliche Grade von Passung zwischen schulischen Erwartungen und familialen Ressourcen und Orientierungen herstellt werden. 2 Beraten Wir widmen uns in diesem Aufsatz dem Beraten als kommunikativem Aktivi‐ tätstyp (Levinson 1992). Darunter verstehen wir zunächst „forwarding a pre‐ ferred course of action“ (Heritage und Sefi 2001: 368). Die/ der Beratende kom‐ muniziert eine Einsicht, die der/ dem Rezipierenden als fehlend unterstellt wird. Mitunter leiten Lehrpersonen die Eltern so stark zu bestimmten Handlungen an, dass wir es mit einem Illokutionenverbund von Beraten und Instruieren zu tun bekommen. Sowohl im Beratungsals auch im Instruktionshandeln wird eine Wissensasymmetrie präsupponiert. Institutionelle Kontexte unterscheiden sich sehr stark darin, wie dieses Wissensgefälle kommuniziert und bestätigt wird. Bei juristischen Konsultationen ist es meist so, dass der/ die Ratsuchende die Fachexpertise bezahlt und sich wenig gefordert sieht, selbst juristisch kompetent aufzutreten. Ähnlich ist es in der Arztpraxis, wobei Menz (2006) für diesen Kon‐ text schildert, dass männliche Patienten auffällig oft versuchen, für ihre Krank‐ 166 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="167"?> heiten doch einen gewissen Expertenstatus zu kommunizieren, die Asymmetrie somit gering zu halten versuchen. Pick (2017) hat zum Beraten eine Typologie vorgelegt, die eine Grundkons‐ tellation umfasst, die allen Beratungen zu Grunde liegt (ebd.: 428-436). Dies sind die Merkmale „dyadische Gesprächssituation, kooperatives Handeln im Inte‐ resse des Ratsuchenden, Interessenunabhängigkeit des RG [Ratgebenden/ r, H.K./ F.R.] und Asymmetrien“ sowie das Bestehen eines Problems und das Hin‐ arbeiten auf eine Lösung desselben. In Bezug auf unseren Kontext liegt nun eine Besonderheit darin, dass zwei Parteien (Lehrkräfte und Eltern) kommunikativ ein Problem einer dritten Partei (Schüler/ in) bearbeiten. Somit ist die Interes‐ senlage anders als in eher typischen Beratungsgesprächen wie etwa der an‐ waltlichen Rechtsberatung, in der eine Person mit einem Anliegen (Problem) eine Fachvertretung um Rat ersucht (vgl. Pick 2015, 2017). Pick (2017) schenkt Reaktionen vonseiten der Ratsuchenden wenig Beachtung; wir nehmen dies mit Kallmeyer (2000) aber sehr ernst, denn im schulischen Kontext wirkt sich näm‐ lich die Erwartung (interaktiv) aus, dass zur Elternrolle auch eine gewisse Kom‐ petenz gehört, die dabei mehr oder weniger zum Anschlag gebracht werden kann. Eltern können sogar selbst ihre Sicht auf ein (mögliches) Problem schil‐ dern und so an der Etablierung des Beratungsgegenstandes mitarbeiten. Dies setzt bestimmte Reaktionen auf Beratungen (der Lehrer/ innen) in Elterngesprä‐ chen hochgradig relevant. Beide Seiten kommunizieren ihre jeweilige Identität, sowohl im Hinblick auf Kompetenzen als auch im Sinne der moralischen Di‐ mension des Engagements zur Förderung des Schülers (wie oben bereits aus‐ geführt). Der Prototyp des schulischen Beratens gestaltet sich so, dass die Mutter oder der Vater mit einer Frage an die Lehrerin herantritt, die einen Beratungsbedarf kundtut. In ihrer Antwort unterbreitet die Lehrerin z. B. Vorschläge, wie zuhause im Sinne der Schule optimal auf das Kind eingewirkt werden kann. Die Mutter in Datum 1 fragt die Lehrerin, ob sie die Tochter zum Abschreiben kleiner Texte animieren solle. 167 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="168"?> 2 Wir verwenden aus Platzgründen nicht für jede Turnkonstruktionseinheit eine eigene Zeile, wie es in GAT 2 vorgesehen ist. 3 Aus datenschutzrechtlichen Gründen verwenden wir in diesem Aufsatz Pseudonyme. Es wurde darauf geachtet, dass die Silbenstruktur und andere Merkmale der originalen Benennung (z. B. ethnische Herkunft) mit den Pseudonymen weitgehend übereinstimmen. Datum 1: Emma, 2 2. Klasse, Grundschule, Halbjahresinformation, L1=Lehrerin, M1=Mutter Datum 1: Emma, 1 2. Klasse, Grundschule, Halbjahresinformation, L1=Lehrerin, M1=Mutter 380 M1: [wär_s dann auch mal GUT,= 381 =dass man SAGT, man SCHREIBT jetzt einfach nen kleiner TEXT mal ab? (0.8) 382 L1: äh: m klein [sicher- 383 M1: [ZUsätzlich noch. 384 ja KLEIN. 385 L1: also OHne des es jetzt zu viel wird. 386 M1: ja also [EMma braucht eh,= 387 L1: [also MEIStens- 388 M1: =durch des dass sie IMmer w w w w, 389 L1: ja. 390 M1: ehm (.) [HAUSaufgabe also, 391 L1: [also 392 M1: isch sie gute °h [DREIviertelstunde. 393 L1: [ich DENK- 394 ah des REICHT. [lieber die HAUSaufgaben- 395 M1: [( ) 396 L1: LIEber kucken, dass sie die HAUSaufgaben- 397 M1: ja ja [ja. 398 L1: [KORrekt macht, 1 Wir verwenden aus Platzgründen nicht für jede Turnkonstruktionseinheit eine eigene Zeile, wie es in GAT 2 vorgesehen ist. Der obigen Szene liegt ein Frage-Antwort-Format zugrunde. Die Mutter etab‐ liert mit ihrer Frage (Z. 380 f.) zusätzliche Schreibübungen zur Verbesserung der Orthografie als Beratungsgegenstand und gibt zu erkennen, dass sie sich zuhause eigene kleine Aufgaben für die Tochter vorstellen kann. Die Leh‐ rerin betont ein Attribut aus der Frage der Mutter („klein“, Z. 382) und bestä‐ tigt mittels „sicher“ (ebd.) die schulorientierten Intuitionen der Mutter als adäquat. Sie etabliert sich damit in der Rolle der Beratenden. Die Mutter voll‐ zieht die Einschränkung in Zeile 384 nach und informiert darüber, dass Tochter Emma 3 eine Dreiviertelstunde zur Erledigung der Aufgaben benötige (Z. 392). Die Lehrerin sieht dies als ausreichenden Zeiteinsatz und schlägt dann eine Betreuung der optimalen Bearbeitung der Hausaufgaben vor (Z. 396 f.). Die Mutter unterstützt diese vorgeschlagene Ausrichtung sofort (Z. 398). Die kleine Beratungseinheit ist zu Ende. Beide Parteien haben sich auch gegenseitig in ihren relevanten lokalen Identitäten (Antaki und Widdicombe 1998) bestätigt. Die Mutter hat sich als schulisch engagiert gezeigt und entsprechendes Wissen eingebracht. Die Leh‐ 168 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="169"?> rerin konnte sich daran anschließend mit ihrer noch höheren Zuständigkeit für optimales Lernen positionieren. Eltern und Schüler/ innen positionieren sich in der Regel in enger Verbundenheit miteinander und werden so auch von der Lehrperson angesprochen und dargestellt (Ackermann 2014). Beratungen nehmen neben Argumentationen, Narrationen und anderen Aktivitäten keinen dominanten Raum ein. Sie sind beispielsweise in Mundwilers schwei‐ zerischem Korpus wenig enthalten (2017). Die Eltern bauen aber lehrerseitige Ratschläge oft aus (Mundwiler 2017: 150 f.) und zeigen sich so als schulorien‐ tierte Ko-Experten. Damit positionieren sie sich in einer fast symmetrischen Position zur Lehrperson. 3 Daten und Methode Die Daten, die dem Artikel zugrunde liegen, entstammen dem Korpus des DFG-Projekts „Interaktionale Soziolinguistik schulischer Sprechstunden“, das derzeit 77 Elterngespräche aus unterschiedlichen Klassenstufen und Schul‐ formen umfasst. Die Gespräche umfassen Elternsprechtagsgespräche, Halbjah‐ resinformationen, sog. Lernentwicklungsgespräche und einfache Konsultati‐ onen, und stammen zum Großteil aus Groß- und Kleinstädten aus Baden-Württemberg. Für diesen Artikel greifen wir auf 54 Gespräche aus dem Korpus zurück, da diese jetzt transkribiert vorliegen. Wir arbeiten mit Audiodaten, weil Bewilli‐ gungen für Videoaufzeichnung kaum zu bekommen sind. Teilweise können die Aufnahmen noch durch ethnographische Beobachtungsprotokolle ergänzt werden. Methodisch und methodologisch orientieren wir uns an der Interakti‐ onalen Soziolinguistik (Gumperz 1999, Roberts 2001, Kotthoff 2011), deren In‐ teresse nicht nur und nicht primär formalen Gesprächsabläufen gilt, sondern auch Unterschieden, die mit dem gesellschaftlichen Sozialgefüge zusammen‐ hängen. Um diese Unterschiede genauer in den Blick zu bekommen, greifen wir in der Analyse auch auf das Konzept der sozialen Positionierung zurück (Harré und van Langenhove 1999, Ackermann 2014). Wie auch in der Konversations‐ analyse wird allerdings datenzentriert vorgegangen. Analytisch haben wir zunächst induktiv Sequenzen fokussiert, in denen über ein (schulisches) Problem beraten wird. Denn diese Sequenzen stellen einen Kristallisationspunkt dar, an dem eine (Nicht-)Passung zwischen schulischen Erwartungen und familialen Ressourcen und Orientierungen mithilfe sprachli‐ cher Mittel und Formen sowie (sozialen) Positionierungen signalisiert und her‐ gestellt wird. Nach der Erstellung von Kollektionen dieser Beratungssequenzen 169 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="170"?> haben wir diese einer Analyse unterzogen und sind über Vergleiche der Se‐ quenzen zu unseren hier vorgestellten Ergebnissen gelangt. 4 Beratungsformate In jedem Elterngespräch findet sich mindestens eine Beratungssequenz, jedoch in sehr unterschiedlicher Art, Intensität und vor allem Ko-Konstruktion. Manchmal instruiert die Lehrperson die Eltern mit konkreten Handlungs‐ schritten („steps of action to take in order to perform a task“, Deppermann 2018: 222), womit sie Dringlichkeit kommuniziert. Beratungsgegenstände werden i. d. R. von den Lehrer/ innen in den Bewertungen der Schulkinder etab‐ liert. Jedoch können auch Eltern durch z. B. Nachfragen „eigene“ Beratungsge‐ genstände setzen (vgl. Datum 1), womit sie sich auch als besonders schulorien‐ tiert positionieren. Die Beteiligung der Eltern kann somit auf einem Kontinuum, das von einer rezeptiven bis hin zu einer ko-konstruierten Partizipation reicht, angeordnet werden (vgl. Kapitel 4. 1). Darüber hinaus kann es durchaus auch zu Dissens in den Beratungssequenzen kommen (vgl. Kapitel 4. 2) sowie zu Beson‐ derheiten, wenn die anwesenden Schulkinder selbst beraten werden (vgl. Ka‐ pitel 5). 4. 1. Beraten im Kontext von konsensuellen Problembesprechungen Die Pragmatik des Beratens präsupponiert im Sinne von Levinson (2000), dass ein Zustand oder ein Verhalten optimiert werden kann/ soll. Eine Beratung kann als solche eingeholt werden (wie in Datum 1), kann aber auch in Ver‐ bindung mit anderen konversationellen Aktivitäten erfolgen. So liegt es im schulischen Bereich nahe, dass aus der Kritik oder Problemdiagnose des sub‐ optimalen Verhaltens der Schülerin durch die Lehrperson eine Beratung im Hinblick auf Verbesserung erwächst. Es lässt sich vorstellen, dass Eltern und andere Kontaktpersonen mit den lehrerseitigen Beratungsangeboten unter‐ schiedlich umgehen. 170 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="171"?> 4. 1. 1. Beratung mit schlichter Rezeption Datum 2: Neslihan, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, G=große Schwester, V=Vater, S=Schülerin Neslihan Datum 2: Neslihan, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, G=große Schwester, V=Vater, S=Schülerin Neslihan 212 L: °hh_u: nd ich hab mit (.) der NESlihan schon ein paar gespräche 213 geführt, 214 ja? °h u: nd ähm: hab auch ganz konKRET gefragt, 215 wie sie LERNT, un: d wo die SCHWIErigkeiten liegen, 217 G: hm_hm, 218 L: °hh dass: äh wir vielleicht gemeinsam RAUSfinden können, 219 wo die proBLEme sind äh beim arbeiten; 220 ((L blättert um)) 221 und DAbei is tatsächlich rausgekommen: , 222 ((L schnalzt)) die neslihan hat SCHWIErigkeiten beim auswendig- 223 lernen; 224 °h und das ist der PUNKT wo sie hilfe braucht, 225 G: hm_hm,= 226 L: =°h_ähm: englisch h° ist ein FACH (.) da geht_s nur um auswendig- 227 lernen; 228 G: ja; 229 L: °hh geografie AUCH, 230 °hh u: nd äh: m h° das hat sie schon ganz toll erKANNT, 231 dass sie damit SCHWIErigkeiten ha: t, 232 ähm das be ne heißt sie benötigt zuhause jemand der sich mit ihr HINsetzt und die sachen lernt; 233 sie IMmer wieder abfragt; 234 G: hm_hm. 237 L: u: nd das kann in der FORM passieren, 238 ähm wenn sie h° äh: sagt sie schreibt eine KLASsenarbeit; 239 °h dass sie vielLEICHT dann schauen- 240 h° äh dass sie sich drei tage NEHmen, u: nd dass die NESlihan sagt, 241 äh DIEsen tag lern ich das, 242 und dass sie dann vielLEICHT die neslihan abfragen; (---) (danach); 243 ((L klopft mit dem Kugelschreiber)) 244 °h am NÄ: CHSten tag, 245 sie muss vorher SAgen- (.) bis zum nächsten tag LERN ich das; = 246 =dass sie dann das vom tag daVOR nochmal abfragen; 247 und DAS was sie grad [gelernt hat; 248 G: [hm_hm, 249 L: °hh also da BRAUCHT sie hilfe, 250 beim AUSwendiglernen; 251 °h damit sie des SCHAFfen kann,= 252 =°h weil ich kann jetzt hier natürlich STEhen, 253 und SAgen sie soll sich verbessern, (.) OH: ne ihnen zu sagen wie? 254 G: ja; 255 L: ja? 256 das HILFT ihnen nicht, 257 dann: äh das kann ich NACHvollziehen; 258 da können sie GAR nichts mit anfangen; 259 außer SCHI: MPfen zuhause und das war_s, 260 G: (h)m 261 L: =ja? >> 262 °h aber äh (.) das KÖNnte ihnen vielleicht helfen wenn sie mit ihr 263 geMEINsam auswendig lernen; 264 G: hm_hm, 265 L: °h und da: nn: wird sich tatsächlich EIniges schon verbessern; 171 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="172"?> Neslihans große Schwester besucht zusammen mit dem Vater und ihrer Schwester die Sprechstunde der Lehrerin. Da ihr Deutsch besser ist als das des aus der Türkei immigrierten Vaters, wird sie zur hauptsächlichen Gesprächs‐ partnerin. Sie ist ca. drei bis vier Jahre älter als ihre Schwester Neslihan. Die Lehrerin trägt ihr ihre Diagnose vor, dass Neslihan Schwierigkeiten habe beim Auswendiglernen (Z. 222 f.). Die Lehrerin äußert dann die Bitte, der Schülerin zu helfen (Z. 224). Adressatin ist die Schwester, da der Vater sich heraushält - und sie ist vermutlich auch zuhause die Ansprechpartnerin von Neslihan, da angenommen werden kann, dass sie sich mit den schulischen Belangen besser auskennt. Bevor die Lehrerin das Auswendiglernen im Fach Englisch und Geografie als zentral hinstellt (Z. 226 f.), berichtet sie zunächst von einer mit der Schülerin Neslihan bereits betriebenen Problemfindung. Sie reinszeniert Gespräche mit der Schülerin, in denen das Problem („SCHWIErigkeiten beim auswendig‐ lernen; “) von der Lehrerin diagnostisch hergestellt wird (Z. 212-224). Das Problem wird damit als eines aus Sicht der Schülerin und nicht lediglich der Lehrerin etabliert. Dies führt dazu, dass die Sicht des Vaters bzw. der großen Schwester auf die Situation abgeschottet wird, denn das so etablierte Problem ist dadurch nicht mehr verhandelbar. Die Schwester wird daraufhin so instru‐ iert, dass sich jemand mit Neslihan hinsetzen möge und sie abfragt (Z. 232 f.). Sie illustriert dann ein dreitägiges Procedere, das man zuhause mit der Schülerin durchführen möge (Z. 235-245). Modalisierungsverfahren wie das Adverb viel‐ leicht sind integriert. Die Instruktion wird in konkreten Handlungsschritten unterbreitet, die einem traditionellen Vokabellernen gleichkommen (zu den In‐ halten später mehr). Metakommunikativ erläutert die Lehrerin noch, dass sie nicht dabei stehenbleiben möchte, nur die Notwendigkeit von Verbesserung kundzutun. Sie habe an sich den Anspruch, den Weg dahin zu zeigen (Z. 250- 263). Die große Schwester bekundet in der gesamten Passage nur aktive Rezip‐ ienz. In den Elterngesprächen aus unserem Korpus, die von Förderschulen stammen, werden die Eltern oft nicht nur hinsichtlich schulischer Leis‐ tungen und des Verhaltens der Schüler/ innen beraten, sondern auch zu mög‐ lichen Arztbesuchen oder anderen alltäglichen Angelegenheiten; so auch in Datum 3, in dem die Mutter bezüglich der Schlafenszeit ihrer Tochter be‐ raten wird. 172 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="173"?> 4 In den Elterngesprächen an den Förderschulen sind teilweise zwei oder drei Lehrer/ innen anwesend. Meistens sind dies die Lehrkräfte für Deutsch und Mathematik, die jeweils ihren Teil mit den Eltern besprechen. Datum 3: Rahel, 1. Klasse, Förderschule, Halbjahresinformation, L1=erste Leh‐ rerin, L2=zweite Lehrerin, L3=dritte Lehrerin, M=Mutter Datum 3: Rahel, 1. Klasse, Förderschule, Halbjahresinformation, L1=erste Lehrerin, L2=zweite Lehrerin, L3=dritte Lehrerin, M=Mutter 760 L3: hh° also es wär SCHÖN, 761 wenn sie früher ins BETT gehen könnte, 762 wenn sie des irgendwie HINbekomme, 763 M: hm_hm 764 L3: weil sie BRAUCHT den schlaf, 765 L2: mhm. 766 L3: also sie BRAUCHT des wirklich, 767 weil die [SCHUle isch schon anstrengend, 768 M: [ja. 769 ja. 770 L3: des isch KLAR, 771 also nach der DRITte stunde isch_se schon immer °h h° ziemlich [FERtig; 772 L2: [mhm. 773 L3: muss ma SAge, 774 L1: hm 775 L3: also dann REICHT_s ihr eigentlich, Datum 4: Emil, 4. Klasse, Grundschule, Schullaufbahnberatung, L4=Lehrerin, M4=Mutter 456 L4: also da ARbeiten wir jetzt natürlich im letzten halbjahr noch ! SEHR! dran, 457 M4: hm_[hm; 458 L4: [das (.) da MUSS er auch noch zulegen; 459 M4: mein zuHAUse mach ich mit ihm auch so (.) [zehnminutendiktate, 460 L4: [hm_hm; 461 M4: oder ich äh lass ihn einfach °h n TEXT vorlesen; 462 den er nachher ABschreiben muss, 463 L4: hm_hm, 464 M4: °h oder ich dikTIER ihm einfach mal aus irgendeinem BUCH mal äh- 465 L4: ja, 466 M4: so ein paar w ein paar [SÄTze, 467 L4: [nehmen sie des MERKwörterheft ab und zu 468 vor, FRAgen sie, 469 er muss es gar nicht SCHREIben, 470 M4: [hm_hm, 471 L4: [FRAgen sie nur einfach, 472 buchstabier mir mal DIEses wort, 473 M4: [hm_hm, 474 L4: [denn des sind die WÖRter die nicht sitzen; ne, 475 M4: hm_hm, 476 L4: und äh ja mit doppelten MITlauten, 477 M4: hm_hm, 478 L4: öfter [mal was dikTIEren, 479 M4: [hm_hm; 480 L4: hörsch du jetzt da n_LANGes e: , 481 n LANges (.h) äh u: , 482 oder hörsch_n KURzes a: , 483 M4: hm_hm, [hm_hm, 484 L4: [und was [KOMMT dann nach_m kurzen a, 485 M4: [hm_hm hm_hm; 486 dass sich DAS n_bisschen mehr- 487 M4: hm_hm. 488 L4: FEStigt; = Vor dem Ausschnitt in Datum 3 wurde die Müdigkeit der Schülerin Rahel im Unterricht problematisiert, da sie sie daran hindert, ab der dritten Stunde in dem Maße mitzumachen, wie es für ihren Lernprozess nötig wäre. Nachdem die Mutter dann auf Nachfrage preisgibt, dass ihre Tochter spät zu Bett geht (zwi‐ schen halb 9 und 9, teilweise erst 10 Uhr abends), kommt es zu der Beratungs‐ sequenz in Datum 3. In Zeile 760 f. äußert die dritte anwesende Lehrerin den Ratschlag, dass die Schülerin früher ins Bett gehen sollte, in stark modalisierter Form (Kon‐ junktiv II, Modalverben können, Vagheitsmarker irgendwie). 4 Dies führt sie in Z. 762 fort. Die Lehrerin betreibt hier „face-work“, was wohl darauf zu‐ rückzuführen ist, dass es sich um einen Bereich handelt, der eigentlich aus‐ schließlich zu den Erziehungsaufgaben der Familie gehört. In diesem Fall tangiert er allerdings das schulische Leistungsvermögen (Z. 764, 766 f.). Die Mutter bekundet während der Beratungssequenz nur aktiv Rezipienz. Die Lehrerin beendet die kleine Beratung mit einer exemplarischen Schilderung der Leistungskurve der Schülerin Rahel (Z. 771, 773, 775). Auch darauf rea‐ giert die Mutter (verbal) nicht, sondern sie fragt später nur nach der Verset‐ zung ihrer Tochter. Durch schlichte Rezeption zeigen die Eltern (und Schüler/ innen) an, dass sie sich im Gespräch kooperativ verhalten und den Ausführungen der Lehr‐ 173 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="174"?> 5 Die Schüler/ innen lernten in dieser Grundschulklasse mithilfe der nach dem Begründer benannten „Reichen-Methode“ (auch „Lesen durch Schreiben“ genannt), die von lin‐ guistisch orientierten Herangehensweisen der starken Kritik ausgesetzt ist, den Erwerb der komplexen deutschen Orthografie gar nicht vorzubereiten (Röber 2015). personen folgen. Dieses Gesprächsverhalten kann aber bei Beratungen im schulischen Kontext durchaus als problematisch betrachtet werden, denn die Lehrer/ innen können aufgrund der Reaktion der Eltern nicht einschätzen, inwiefern von ihnen geäußerte Vorschläge tatsächlich in ihrer Relevanz ver‐ standen und dann auch umgesetzt werden (können). Die Eltern stellen sich nicht in einem optimalen Licht dar, wenn sie die Beratung der LehrerInnen nur schlicht annehmen oder hinnehmen. Diese Sicht ergibt sich besonders aus einer Vergleichsperspektive heraus, die wir hier im Folgenden entwi‐ ckeln. Die schlichte Rezeption von Beratung kann als an einem Ende eines Konti‐ nuums der möglichen Reaktionen auf Beratungen im schulischen Elternge‐ spräch angesehen werden. Am anderen Ende befinden sich Beratungsse‐ quenzen, die in hohem Maße ko-konstruiert sind. Hier führen Eltern reale oder mögliche Aktivitäten vor, die sie zuhause zur Förderung des Kindes bereits durchführen oder durchführen könnten. 4. 1. 2. Ko-konstruierte Beratung Im folgenden Beispiel beraten die Lehrerin und die Mutter über geeignete Maß‐ nahmen zur Förderung des Erwerbs der deutschen Orthografie des Schülers Emil. Unmittelbar davor wird von beiden in Ko-Produktion festgestellt, dass der Schüler noch dahingehend Probleme hat, dass er „schreibt, wie er spricht“. 5 Dieses Problem gelte es zu bearbeiten. 174 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="175"?> Datum 4: Emil, 4. Klasse, Grundschule, Schullaufbahnberatung, L4=Lehrerin, M4=Mutter 771 also nach der DRITte stunde isch_se schon immer °h h° ziemlich [FERtig; 772 L2: [mhm. 773 L3: muss ma SAge, 774 L1: hm 775 L3: also dann REICHT_s ihr eigentlich, Datum 4: Emil, 4. Klasse, Grundschule, Schullaufbahnberatung, L4=Lehrerin, M4=Mutter 456 L4: also da ARbeiten wir jetzt natürlich im letzten halbjahr noch ! SEHR! dran, 457 M4: hm_[hm; 458 L4: [das (.) da MUSS er auch noch zulegen; 459 M4: mein zuHAUse mach ich mit ihm auch so (.) [zehnminutendiktate, 460 L4: [hm_hm; 461 M4: oder ich äh lass ihn einfach °h n TEXT vorlesen; 462 den er nachher ABschreiben muss, 463 L4: hm_hm, 464 M4: °h oder ich dikTIER ihm einfach mal aus irgendeinem BUCH mal äh- 465 L4: ja, 466 M4: so ein paar w ein paar [SÄTze, 467 L4: [nehmen sie des MERKwörterheft ab und zu 468 vor, FRAgen sie, 469 er muss es gar nicht SCHREIben, 470 M4: [hm_hm, 471 L4: [FRAgen sie nur einfach, 472 buchstabier mir mal DIEses wort, 473 M4: [hm_hm, 474 L4: [denn des sind die WÖRter die nicht sitzen; ne, 475 M4: hm_hm, 476 L4: und äh ja mit doppelten MITlauten, 477 M4: hm_hm, 478 L4: öfter [mal was dikTIEren, 479 M4: [hm_hm; 480 L4: hörsch du jetzt da n_LANGes e: , 481 n LANges (.h) äh u: , 482 oder hörsch_n KURzes a: , 483 M4: hm_hm, [hm_hm, 484 L4: [und was [KOMMT dann nach_m kurzen a, 485 M4: [hm_hm hm_hm; 486 dass sich DAS n_bisschen mehr- 487 M4: hm_hm. 488 L4: FEStigt; = In Z. 456 erklärt zunächst die Lehrerin, dass sie in der Schule im kommenden Halbjahr an der Problematik des Erwerbs der korrekten deutschen Orthografie arbeiten werden. Eine dadurch implizierte geteilte Verantwortung diesbzgl. lehnt die Lehrerin jedoch direkt ab, indem sie den Schüler in die Pflicht nimmt „zuzulegen“ (Z. 458). Daraufhin demonstriert die Mutter Verantwortung, indem sie aufzeigt, welche Maßnahme(n) sie zuhause ergreift, um den Orthografieer‐ werb ihres Sohnes zu fördern (Z. 459-466). Damit zeigt die Mutter an, dass sie das Problem nicht nur selbst erkannt hat, sondern auch Maßnahmen ergriffen hat, dieses zu lösen - sie kommuniziert so schulische Kompetenz. Aus der Aufzählung der Maßnahmen, die die Mutter schon ergriffen hat oder noch ergreifen wird - gegen Ende ist dies kaum noch zu entscheiden - entsteht nun eine Beratungssequenz der Lehrerin, die auf den vorher von der Mutter genannten (möglichen) Maßnahmen der Förderung zuhause basieren. Denn aufbauend auf die von der Mutter genannten Maßnahmen (Diktate oder Ab‐ 175 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="176"?> schreiben üben) weist nun die Lehrerin an, den Schüler Wörter aus dem Merk‐ wörterheft buchstabieren zu lassen (Z. 467-472). Nachdem die Lehrerin kurz erläutert, dass das Merkwörterheft deswegen geeignet ist, weil dort die Wörter zu finden sind, „die nicht sitzen“ (Z. 474), instruiert sie, öfter mal etwas zu dik‐ tieren und dabei nach den orthografischen Regeln zu fragen, um diese so durch Repetition zu automatisieren (Z. 476-488). Deppermann (2018: 222) stellt heraus, es sei für Instruktionen typisch, dass die Handlungsanweisungen zeitnah er‐ folgen sollen („on the next relevant occasion“) und dass sie oft Erklärungen oder Beschreibungen einschließen. Wir ergänzen ihre Überlappung mit An- und Un‐ terweisungen. Die Lehrerin präsentiert also nicht nur einen eigenen, abweichenden Vor‐ schlag, sondern greift eine Maßnahme der Mutter wieder auf und verfeinert diese. Sie bestätigt implizit die Mutter in ihrer schulisch kompetenten Selbst‐ darstellung. Deshalb scheint die hohe Direktheitsstufe der Anweisung unprob‐ lematisch. Die Beratungssequenz wird von der Mutter und der Lehrerin ko-pro‐ duziert. Die Beteiligung mancher Eltern an Strategien der Problembehebung gehen so weit, dass sie die Beratungsrichtung durchaus auch umkehren können. 4. 1. 3. Wechsel der Beratungsrichtung Datum 5 stammt von einem klassischen Elternsprechtagsgespräch an einem Gymnasium (vgl. Wegner 2016). Nach der Begrüßung und einer kurzen Klärung der Aufnahmesituation beginnt die Lehrerin ab Z. 022 Sorgen über den Schüler Lukas zu äußern. 176 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="177"?> Datum 5: Lukas, 7. Klasse, Gymnasium, Elternsprechtag, L=Lehrerin, M=Mutter Datum 5: Lukas, 7. Klasse, Gymnasium, Elternsprechtag, L=Lehrerin, M=Mutter 022 L: also der lukas macht mir n bisschen SORgen; 023 er is ! GA: NZ! schön verschlafen; 024 (--) 025 M: EHRlich? 026 L: ja_a; 027 der DÖ: : ST da so in seiner ecke, der- 028 M: obWOHL der so früh ins bett geht, 029 aber er BRAUCHT viel schlaf, 030 der geht zwische ACHT und halb neun ins bett; 031 L: hm: : , also mit [verSCHLAfen 032 M: [vielleicht SITZT er auch falsch, 033 den muss man ma ganz VORsetze; [oder so; 034 L: [ja_ja, 035 M: er SITZT au echt ungünschtig; 036 L: der herr bahlmann hat (.) HEUte ne neue sitzordnung gemacht; 037 un ich hab am ihm auch schon geSAGT, 038 man MUSS dies rulierende system schneller rulieren lassen; = 039 =dass die (.) ÖFter [nach vorne kommen, 040 M: [ja, 041 (--) 042 M: weil letzscht jahr war NÄMlich schon ma so ne situation, 043 da saß_er nebe der HElena, 044 total LA: NG, 045 und irgendwann het er so ZUgmacht; 046 der war ganz mit mädle umRINGT,= 047 =vielleicht isch es in drei jahr [TOLL, 048 L: [hm_hm, 049 M: aber mo(h)menta(h)n findet [er das GANZ schlimm, 050 L: [nee; er SITZT jetzt wieder [neben der helena; 051 M: [und da hat er GAR nimmer aufgepa- Die Lehrerin bringt ihre Problemdiagnose über Lukas sehr direkt vor (Z. 023) und die Mutter gibt sich darob überrascht (Z. 025). Die Lehrerin untermalt dann ihren Eindruck (Z. 026), wird aber von der Mutter mit einer Konzessivkonstruk‐ tion unterbrochen, die sofort die Verantwortung des Elternhauses für Lukas‘ Verschlafenheit implizit bestreitet (Z. 028 ff.). Die Mutter wählt die harmlosere, direkte Lesart des metaphorischen Partizips verschlafen, das entweder eine Cha‐ raktereigenschaft zuschreibt oder sich auf Schlafmangel bezieht. Indem die Mutter eine Interpretation wählt, bei der ihr Sohn weniger kritisch gesehen wird, kommuniziert sie gleichzeitig sprachliche Gewandtheit und eine große Zuständigkeit für Lukas‘ Verhalten. Generell positionieren sich Eltern in einer Verbundenheit mit ihren Kindern, wie z. B. Pillet-Shore (2012) bezüglich ihres Umgangs mit Lob der Schüler/ innen herausarbeitet. Sie gehen damit um, als seien sie selbst vom Lehrer gelobt worden (herunterspielend). Entsprechend gilt, dass sich Eltern bei Kritik an ihrem Kind in irgendeiner Weise auch angespro‐ chen und herausgefordert geben (dazu auch Wegner 2016: 341 f.). Teilweise 177 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="178"?> 6 Ähnliche Beispiele finden sich auch in Kotthoff (2017). zeigen sich die Eltern aber auch selbst gegenüber ihren Kindern äußerst kritisch und demonstrieren ihre Fairness (Kotthoff 2014). In Zeile 032 beginnt die Mutter ihre eigene Problemdiagnose, die die Verant‐ wortlichkeit in Richtung Schule verschiebt. Verschiedene Forscher (z. B. Wegner 2017: 178 ff.) betonen die laufende Aushandlung von Verantwortung für den Schüler/ die Schülerin. Gerade bei Kritik am Kind, erst recht bei Verhaltens‐ weisen im Unterricht, die mit denen zuhause zusammenhängen (wie der Grad an Ausgeschlafenheit), fühlen sich Eltern auf den Plan gerufen. In Zeile 033 weist die Mutter mit dem unpersönlichen Pronomen man die Lehrer an, ihren Sohn vorzusetzen. Die Lehrerin rezipiert zustimmend. Die Mutter präzisiert ihre ei‐ gene Problemdiagnose (Z. 035). Danach schildert die Lehrerin zustimmend, dass sie das Sitzordnungsmanagement eines Kollegen für verantwortlich dafür hält, dass Schüler Lukas zu lange ganz hinten „vor sich hindösen“ kann (Z. 036-039). Ab Zeile 042 weitet die Mutter ihre eigenständige Problemdiagnose noch aus, die ja insgesamt zur Umkehr der Beratung führt. Die Mutter rät der Lehrerin zu einem anderen Sitzordnungsmanagement in der Klasse. Die Mutter handelt hier - anders als die Eltern in Datum 2 und 3 - mit der Lehrerin aus, worin das Problem besteht, und setzt sich in dieser Sequenz durch. Dabei verortet sie das Problem auch nicht mehr beim Schüler und seiner Müdigkeit, sondern bei der Sitzordnung der Lehrpersonen, sprich den schulischen Rahmenbedingungen in der Klasse. Damit schafft sie es, sich als (schulisch) kompetent darzustellen und so die hierarchische Gesprächskons‐ tellation zu verflachen. 6 Die Eltern bringen hier ihre eigene Perspektive auf die Schule zum Ausdruck. In der jeweiligen Perspektive werden auch ihre Haltung(en) und ihre Erwartungen an die Schule deutlich. Diese Haltung(en) und Erwartungen der Lehrkräfte entsprechen oft den Erwartungen, die in Studien zu ihrem Erleben von Schule von den Schüler/ innen zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Heller und Quasthoff in diesem Band, Jünger 2008). Die Mutter in Datum 5 formuliert Erwartungen an das Handeln der Lehrkräfte und nimmt sie damit - wie die privilegierten Schüler/ innen in Heller und Quas‐ thoffs Studie (ebd.) - in die Verantwortung. In den diskursanalytischen und ethnografischen Schulstudien (vgl. auch Lareau 2003) ist ein solches Ver‐ halten, das oft mit Forderungen an die Schule einhergeht, eher typisch für die gebildeten Eltern der Mittelschichten. 178 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="179"?> 7 Schwerpunktschulen sind Regelschulen, in denen Schüler/ innen mit Behinderung im inklusiven Unterricht teilnehmen. Dazu sind in den Schulen zusätzlich Förderschul‐ lehrkräfte tätig. 4. 1. 4. Beratung mit Fachfragen Teilweise gehen die Eltern auch selbst vorbereitet in die Elterngespräche. Häufig ist dies der Fall, wenn sie eigene Anliegen haben wie im folgenden Datum 6. Der Vater hat erkannt, dass es mit der neuen Methode („Rei‐ chen-Methode“), nach der seine Tochter die deutsche Rechtschreibung (nicht) lernt, zuhause zu Situationen kommt, in denen er eigentlich interve‐ nieren möchte, um seiner Tochter zu erklären, wie die Wörter der deutschen orthografischen Norm entsprechend korrekt geschrieben werden. Nun holt er bei der Lehrerin den pädagogisch fachlichen Rat ein, wie er damit am besten umgehen kann. Datum 6: Johanna, 1. Klasse, Grundschule (Schwerpunktschule), 7 Halbjahresre‐ flexion, L=Lehrerin, V6=Vater Datum 6: Johanna, 1. Klasse, Grundschule (Schwerpunktschule), 2 Halbjahresreflexion, L=Lehrerin, V6=Vater 785 V6: °hh ähm: ja der LETzte punkt den ich mir notierte, 786 war auch n glaub ich n kurzer ANsprechpunkt bei dem: (.) großen elternabend; 787 SCHREIben nach gehör? 788 L: ja, 789 V6: ist für mich GRUNDsätzlich kein problem, 790 also ich- 791 L: mhm, 792 V6: SEhe das auch so dass man sagt, 793 °h man hat früh ne ne ne KOMpetenz (.) sich auszudrücken, 794 also wenn man_s LIEST ist es immer verständlich, 795 L: mhm, 796 V6: ähm: (.) auch da kam wieder ein BISSchen der perfektions und frustrationselement rein; 797 °h wo man SAGT, okay; 798 das ist RICHtig geschrieben, ich verSTEH es, 799 aber man schreibt es EIgentlich richtig so. 800 L: ja. 801 V6: wie geht man denn da am BESten mit um; […] 837 L: ja_a, 838 (--) ich würd SAgen man muss son bisschen (.) gucken, 839 dat (sie) die WAAge hält zwischen- 840 hm ähm ich hab noch SPASS dran und ich krieg alles verbessert; 841 V6: mhm, Ab Zeile 785 wird deutlich, wie involviert der Vater in die schulischen Be‐ lange seiner Tochter ist: Er bereitet sich auf die Elterngespräche vor, bringt eigene Anliegen ein und geht zu den Elternabenden und kennt somit auch die Streitpunkte, die dort ausgefochten werden. So deuten seine Ausfüh‐ rungen zur Akzeptanz der „Reichen-Methode“ auf seiner Seite darauf hin (Z. 179 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="180"?> 789-794), dass dies nicht bei der ganzen Elternschaft der Fall ist. Danach beschreibt er seine Bemühungen um Lernfortschritte seiner Tochter und po‐ sitioniert sich nicht nur als stark involviert, sondern auch als Korrektiv. Dazu, wie er nun pädagogisch angemessen korrigierend in die Arbeiten seiner Tochter eingreift, holt er einen Ratschlag der Lehrerin ein (Z. 801). Damit etabliert der Vater allein durch seine fachliche Nachfrage den Bera‐ tungsgegenstand: den pädagogisch sinnvollen Umgang mit den Recht‐ schreibproblemen seiner Tochter - die auf die Lehrmethode und nicht auf Konditionen der Tochter zurückgeführt werden, womit er es - wie die Mutter in Datum 5 - schafft, das Problem nicht bei seinem Kind zu verorten. Nach weiteren Ausführungen (hier aus Platzgründen ausgelassen), gibt die Leh‐ rerin ihren professionellen Rat, dass man abwägen müsse, wann man ein‐ greife, um die Schülerin nicht zu demotivieren (Z. 837-840). 4. 2. Beratung mit Dissens Neben den Beratungssequenzen, in denen die Eltern auf dem Kontinuum zwi‐ schen Rezeption und Ko-Konstruktion auf die Beratung reagieren bzw. diese konsensuell mitgestalten, gibt es auch solche Sequenzen, in denen der Grund‐ konsens, der den bisherigen Daten eigen ist, fehlt. Im folgenden Gesprächsaus‐ schnitt berät die Lehrerin eine Mutter dahingehend, wie zuhause eine lernför‐ derliche Umgebung für ihren Sohn aussehen könnte. Die Mutter widerspricht explizit, dass die Umsetzung möglich sei. 180 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="181"?> Datum 7: Hakan, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, M=Mutter Datum 7: Hakan, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, M=Mutter 707 L: und in DIEsem punkt kann ich: ihnen den vorschlag machen, 708 ((L schnalzt)) äh: es ist GANZ wichtig dass der haran- 709 äh_äh de_de der haranha haKAN, 710 ähm: LERNeinheiten hat; 711 M: hm_hm, 712 L: ja? 713 er BRAUCHT pro tag eine beschʔ gewisse zeit, 714 in der er LERNT,= 715 =und HAUSaufgaben macht; 716 °hh und in der er auch NICHT- (--) KEINe möglichkeit hat 717 auszuweichen; 718 M: das findsowas GIBT_s nicht; 7 19 L: ((L schnalzt)) äh: : das funktioNIERT nu: r-mʔ mit IHrer (.) 720 kontrolle; 721 M: das funktioNIERT nicht; auch WENN ich dabei bin; 722 dann MUSS_er (.) ständig auf toilette; 723 L: °hh ja das: ich KENN diese spielchen; 724 M: ! STÄN! dig, 725 L: ja; 726 M: ich SAG, HASCH_du durchfall? 727 L: da HILFT [einfach nur nein; 728 M: [wa was: ALso- 729 M: [a und dann HAT_er durst, 730 L: [dann hat er ( )- 731 M: und dann HAT er bock auf n apfel, 732 L: ja; 733 M: also NE? [! IM! mer ist irgend[etwas; 734 L: 735 736 737 [und- und des WIRDdes WIRDich KANN ihnen des sagen; des WIRDdas KENN ich ja selber; [es IST ein kampf; 738 M: [JA_a; 739 L: und des wird (.) SO laufen, 740 charMANT (--) verSUchen; ja? 741 dann sich darüber LUStig machen, 742 dann aggresSIV werden; 743 RICHtig böse werden; = 744 M: =ja, 745 L: ja? ! RICH! tig böse, 746 beLEIdigt werden; 747 M: ja, 748 L: ja? und DANN (.) wenn sie über DIEsen punkt hinauskommen, 749 sie MÜSsenes TUT mir leid, sie MÜSsen durch h alten; 750 IRgendwann- (-) 751 M: KNACK ich den; 752 L: KNAcken sie ihn; Der Schüler Hakan hat Schwierigkeiten, konzentriert über einen längeren Zeit‐ raum zu lernen oder sich einer (anderen) schulischen Aufgabe zu widmen. Dies haben die Lehrerin und die Mutter unmittelbar bevor das Beispiel einsetzt schon als Problem identifiziert. (Die Lehrerin spricht den Namen des Schülers falsch aus.) Darüber hinaus gilt der Schüler als ein Problemschüler, der nicht nur 181 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="182"?> schlechte Leistungen zu verzeichnen hat, sondern auch soziale Schwierigkeiten, als aggressiv gilt und sich Situationen zu entziehen weiß. In Z. 707 beginnt nun die Lehrerin eine Beratungssequenz, wie das Lernen des Schülers zuhause gesteuert werden könnte. Bis Z. 717 erläutert die Leh‐ rerin ihren Vorschlag: Der Schüler brauche „LERNeinheiten“, d. h. einen festen Zeitraum pro Tag, in dem er sich nur den schulischen Aufgaben widmet und diesen nicht entgehen kann. Während der Unterbreitung des Vorschlags be‐ kundet die Mutter noch Rezipienz (Z. 711), doch nach Beendigung erklärt sie gleich sehr direkt, dass der Vorschlag nicht zu verwirklichen sei (Z. 718 f.). Damit ist ein Dissens etabliert, der im Folgenden bearbeitet werden muss. Die Lehrerin nennt der Mutter Gelingensbedingungen, nämlich ihre Kontrolle (Z. 720 f.), woraufhin die Mutter noch einmal ihre Einschätzung äußert, dass solche Lerneinheiten nicht umzusetzen seien (Z. 721). Sie konkretisiert nun ihre Einschätzung auch in Bezug auf ihre Anwesenheit und Kontrolle (Z. 722) und erläutert dies weiter mithilfe einer exemplarischen Narration, wie die Si‐ tuation dann ablaufen würde (Z. 724-733): Der Schüler zieht sich aus der Af‐ färe, indem er zur Toilette geht oder Essen verlangt. Dieser Darstellung stimmt die Lehrerin nun gleich zu (Z. 723). Noch während der Darstellung nennt sie allerdings auch eine Maßnahme, mit der solch eine Lerneinheit doch gelingen könne: Die Mutter müsse nur „nein“ sagen und konsequent die Lerneinheit durchsetzen (Z. 727). Auf beides geht die Mutter nicht ein und führt jeweils ihre Darstellung fort. Hier wird schon deutlich, dass die Lehrerin auf ihrem Ratschlag beharrt. Dies wird im weiteren Verlauf noch deutlicher, denn ab Z. 739 erläutert sie in einer listenhaften, erzählerischen Form (die die Eskalati‐ onsstufen bei der Durchsetzung der Lerneinheiten zuhause prognostizieren), was passieren wird, wenn die Mutter „standhaft bliebe“: Zuerst wird ihr Sohn sich mithilfe seines Charmes der Situation zu entziehen versuchen (Z. 740). Wenn das nicht gelinge, wird er sich über die Situation und/ oder die Mutter lustig machen (Z. 741). In der nächsten Stufe wird er „aggresSIV“ und „! RICH! tig böse“ werden (Z. 742 f., 745 f.). Und genau über diesen Punkt müsse die Mutter hinaus, um ihren Sohn zu „KNAcken“, d. h. zum konsequenten Ar‐ beiten bringen (Z. 748-752). Die Mutter bekundet während dieser Verhaltens‐ vorschläge erst nur Rezipienz und dann am Ende anscheinend Zustimmung, indem sie in Z. 752 die Äußerung der Lehrerin vollendet. Sie kommen so also zumindest zu einem Konsenspunkt, der allerdings nur oberflächlich und vor‐ läufig ist. Denn nach dem Gespräch hat die Lehrerin dem Ethnografen ihren Eindruck mitgeteilt, dass die Mutter nichts von dem, was sie ihr gesagt habe, verstanden hätte. Die Lehrerin meint, die Mutter hätte ihre Argumentation gegen die von der Lehrerin favorisierten Maßnahme lediglich nicht durch‐ 182 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="183"?> halten können und nur Verstehen angezeigt. Dies deckt sich auch mit der Auskunft, die die Lehrerin dem Ethnografen bei einem späteren Aufnahme‐ termin gegeben hat, nach der der Schüler die Woche nach der Aufnahme un‐ entschuldigt gefehlt habe. Konversationsanalytische Arbeiten zeigen, dass Dissens als dispräferiert gilt (Pomerantz 1984), was sich auf die Gestaltung des Äußerungsformats auswirkt. Auch bei Ratschlägen kann man von der Präferenz ausgehen, dass der Ratschlag von dem/ r Empfänger/ in zumindest minimal anerkannt wird und dies mit wenig sprachlichem Aufwand kundgetan werden kann. Sowohl in Datum 7 als auch in anderen Beispielen unseres Korpus sehen wir, dass das nicht immer der Fall ist. Ratschläge werden teilweise durchaus direkt abge‐ lehnt (Direktheit signalisiert geringe Problematizität). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass i. d. R. nicht der Rat bzw. der Inhalt des Ratschlags abgelehnt wird, sondern die Eltern nur seine Umsetzbarkeit bezweifeln. Im Kontext des schulischen Elterngesprächs scheint das strategisch durchaus günstig zu sein, denn eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einer Lehrperson kann nur mit pädagogischer oder fachlicher Kompetenz durchgehalten werden. Dissens bringt immer Begründungsanforderungen mit sich (Heller 2012), setzt also ein inhaltliches Eingehen auf die Dissenspunkte relevant. Insofern zeigt Nicht‐ übereinstimmung in diesem institutionellen Kontext, dass man sich Begrün‐ dungen zutraut (Kotthoff 2014). Wie gut die Kontra-Linie durchgehalten werden kann, ist eine andere Frage. Auch in Datum 8 verbleibt der Austausch nicht im Konsens: 183 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="184"?> Datum 8: Amira, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, V=Vater, M=Mutter, S=Schülerin Amira Datum 8: Amira, 6. Klasse, Realschule, Halbjahresinformation, L=Lehrerin, V=Vater, M=Mutter, S=Schülerin Amira 151 L: °h ähm: die amira braucht DRINgend hilfe: äh: beim lernen; 152 V: ja- 153 L: also (.) nicht unbedingt nur beim verSTEhen, 154 155 156 157 158 <<all> hier BRAUCHT sie hilfe beim verstehen; > sondern auch °h dass jemand ähm sich mit HINsetzt - und mit ihr geMEINsam lernt, mit ihr AUCH nen lernplan macht. hast du WAS hast du heute gelernt? 159 V: mhm- 160 L: und sie ABfragt. 161 °h ähm ich denke: das ist die BESte chance, 162 dass sie: sich auch VORbereitet; auf die KLASsenarbeiten. 163 V: also ich HAB nicht so viel zeit dazu. 164 L: das KANN ich nachvollziehen; 165 [ähm hätten SIE die zeit dazu; (wendet sich der Mutter zu) 166 V: [hm 167 Aber sie hat auch nicht so gut deutsch; 168 DAS ist das problem. 169 L: ja_a, ähm also (.) äh tatSÄCHlich: fü: rchte ich- 170 kann ihnen das niemand ABnehmen; 171 es sei denn h° sie würden jemanden EINstellen der mit ihr gemeinsam lernt. 172 V: mhm- 173 L: also in der schule die LEHrer äh die bringen es ihr bei, 174 zuhause lernen muss sie alLEINe. 175 V: jaja-= 176 L: =oder eben mit IHrer unterstützung; 177 und [das KLAPPT gerade eben nicht; 178 V: [mhm- 179 hm_hm; (1.0) 180 L: ja_a, °h ähm vielLEICHT äh: : können sie äh jemanden finden; 181 de: r (.) regelmäßig KOMMT und gemeinsam mit ihr lernt. 182 V: musst wir wir müssen ein so st: stuDIErenden- 183 L: BITte? 184 V: so stuDIErenden; so JUNge [leute suchen? 185 L: [ja, 186 ja; zum BEI[spiel; 187 V: [dass sie (.) mit ihr länger 188 aber ich: ich HAB jetzt niemand so. 189 L: ja_a, das WÄre durchaus hilfreich; In Datum 8 geht es um die Schülerin Amira, die schlechte Schulnoten im Halb‐ jahreszeugnis hat und versetzungsgefährdet ist. Im Gespräch vor diesem Aus‐ schnitt treten zwei Punkte zutage, die als die Kernprobleme der Schülerin an‐ gesehen werden: Verständnisprobleme und Lernschwierigkeiten. In Z. 151 präsentiert die Lehrerin nun ihren Ansatz der Problemlösung sehr direkt und mit Vehemenz. Danach erläutert sie noch mal, dass nicht nur das Verständnis ein Problem der Schülerin sei, sondern auch ihr Lern- und Arbeitsverhalten, das sie gerne strenger gesteuert hätte (Z. 155-158, 160). Der Vater bekundet zunächst nur Rezipienz (Z. 152, 159). 184 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="185"?> Die Lehrerin stellt positive Auswirkungen ihrer Vorschläge vor (Z. 161 f.), woraufhin der Vater jedoch angibt, dass er diese Art der Unterstützung aus Zeitgründen nicht leisten kann (Z. 163). Der Dissens - der allerdings nicht auf die Vorschläge als solche zielt, sondern nur auf die Umsetzung - wird hier zum ersten Mal deutlich. Die Lehrerin zeigt Verständnis und versucht nun die Mutter für die Umsetzung ihrer Vorschläge (Lernphasen/ -einheiten) zu ge‐ winnen (Z. 164 f.). Noch bevor die Mutter reagieren kann, antwortet der Vater - wieder im Dissens - dass die Mutter Deutsch nicht gut genug beherrsche (Z. 167 f.). Der Dissens wird nun deutlich formuliert, indem die Lehrerin keine andere Lösung offeriert, als dass einer der beiden Elternteile die Vorschläge zuhause umsetzt (Z. 169 f., 174, 176 f.). Jemand möge eingestellt werden, um mit Amira zu lernen (Z. 171, 180 f.). Der Vater scheint hier ratlos und fragt, ob er Studierende einstellen solle (Z. 182, 184), was die Lehrerin bestätigt (als eine Möglichkeit) (Z. 185 f., 189). Daraufhin macht der Vater allerdings deutlich, dass er so jemanden nicht kenne und nicht wisse, mit wem er da in Kontakt treten sollte (Z. 188). Die Lehrerin selbst geht auf das Problem, dass die Eltern haben, ihre vorge‐ schlagene Fördermaßnahme umzusetzen, im weiteren Gesprächsverlauf nicht mehr direkt ein, sondern verweist nur auf die Telefonnummer einer Beratungs‐ lehrerin und der schulpsychologischen Beratungsstelle, die beide nur Lern- und Entwicklungsstörungen prüfen. Die Eltern können den hohen Grad des in Deutschland üblichen Mitwirkens leider nicht leisten und werden sogar einer Psychologisierung ihrer mangelnden Deutschkompetenz ausgesetzt. Bildungs‐ expert(inn)en wie Schrodt (2015) konstatieren für Österreich und Deutschland ein sehr starkes Einfordern und Voraussetzen elterlicher Mitarbeit am Lernpro‐ gramm. Wir begegnen in diesen Gesprächen also einer problematischen Seite der Schulkultur. Wenn man Widerspruch äußert, schreibt man sich Beobachtungs- und Bewer‐ tungskompetenzen zu. Allerdings, so scheint es, muss man hier unterscheiden zwischen inhaltlichem und formalem Widerspruch. Denn die Eltern in Datum 7 und 8 widersprechen, weil sie sich zu den Fördermaßnahmen nicht in der Lage sehen, inhaltlich setzen sie dem jedoch nichts entgegen. Sie schreiben sich nicht die Kompetenz zu, die von der Lehrerin vorgeschlagene Maßnahme (Lern‐ phasen/ -einheiten) zuhause durchsetzen zu können. Die Gründe dafür sind viel‐ fältig und reichen von fehlenden Deutschkenntnissen und mangelnder Zeit bis zu mangelndem Durchsetzungsvermögen in der Erziehung. Sie betreffen jedoch nicht den Inhalt des Vorschlags, sondern Methoden bzw. Ressourcen der Umsetzung. Überhaupt betreffen die Vorschläge der Lehrpersonen ausschließlich arbeitsorga‐ nisatorische Methoden des Lernens, nie eine Aufbereitung der Inhalte. 185 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="186"?> 5 Beratung der anwesenden Schüler/ innen In den letzten Jahren wurden die Schüler/ innen verstärkt in schulische Elternge‐ spräche integriert. Die von Mundwiler (2017) in der Schweiz aufgezeichneten Schulgespräche zeigen, dass den Kindern die abverlangte Metaperspektive auf sich selbst ziemlich fremd ist. Es kommt zu Merkwürdigkeiten: Das anwesende Kind wird z. B. oft in narrativen Redewiedergaben auch bei seiner Anwesenheit als mehr oder weniger lerninteressiert positioniert (siehe dazu Mundwiler in diesem Band). Wie nicht anders zu erwarten, finden sich auch Kontexte, in denen die Eltern für das Kind antworten. Diese hat Mundwiler in nachvollziehbare Typen unterteilt, z. B. re-etablieren Eltern in solchen Kontexten ihre epistemische Autorität. Um die Schüler/ innen ins Gespräch einzubinden, werden ihnen immer wieder Aufgaben auferlegt. Das sind meistens Selbsteinschätzungen oder ähnliche Prä‐ sentationen z. B. ihres Portfolios oder anderer Schularbeiten (vgl. Mundwiler 2017, Bonanati 2017). Neben diesen gesprächsinvolvierenden Maßnahmen, die eine Selbstevaluation einfordern, werden die Schüler/ innen auch direkt in die Beratungen mit eingebunden, indem z. B. Ratschläge direkt an sie gerichtet werden und nicht mehr an die Eltern. So ist es auch in Datum 9. Am Anfang des Ausschnitts attestiert die Lehrerin der Schülerin Neza Schwierigkeiten beim Lesen, was sich darin äußere, dass das Lesen noch nicht automatisiert sei. Daraufhin entwickelt sich eine kurze Bera‐ tungssequenz, in der der Schülerin nahegelegt wird, zuhause mehr Lesen zu üben. Datum 9: Neza, Klasse unbekannt, Förderschule, Halbjahresinformation, L1=erste Lehrerin, L2=zweite Lehrerin, S=Schülerin Neza, V=Vater Datum 9: Neza, Klasse unbekannt, Förderschule, Halbjahresinformation, L1=erste Lehrerin, L2=zweite Lehrerin, S=Schülerin Neza, V=Vater 125 L2: und beim le: sen MUSS_de dich noch n bisschen anstrengen; 126 S: ja; = 127 L2: =dass das so_n bisschen FLÜSsiger wird- (--) 128 WEISST_e ja; MERKST_e [ja auch; 129 L1: [am besten noch zuHAUse üben, mehr lesen; 130 L2: ja_a, 131 L1: <<p>(vielleicht) deim kleinen BRUder was vorlesen; > 132 V: kleiner bruder im KINdergarten. 133 L1: ja, (-) dem LIES doch jeden [abend bisschen was vor, 134 L2: [ja, 135 ähm wir WOLlen jetzt auch ein ! BU: CH! wieder lesen; 136 ein GANZ spannendes, 137 vielleicht kannst_e dem das auch VORlesen; 138 S: ja; 139 L2: ja? FINDST_e gut? 140 L1: ja und mathe, da müssen se WIRklich noch alle alle vier- 141 L2: ja_a; 142 L1: GRUNDrechenarten schriftlich, (-) 143 aber das (.) ZEIgen wir dir dann; 186 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="187"?> Ab Z. 125 richtet die Lehrerin ihre Problemdiagnose, dass die Schülerin noch nicht automatisiert lese, direkt an die Schülerin. Daraufhin schlägt die erste Lehrerin (Mathematiklehrerin) ihr vor, dass sie doch zuhause häufiger üben sollte (Z. 129), was die Deutschlehrerin bejaht. Die Mathematiklehrerin schlägt daraufhin (zunächst mit Infinitiven, später Imperativen) sogar konkreter vor, dass sie ihrem kleinen Bruder etwas vorlesen könnte (Z. 131, 133). Der Vater sagt hier nur, dass der Bruder noch im Kindergarten sei (Z. 132). Die Deutsch‐ lehrerin konkretisiert nun den Vorschlag der Mathematiklehrerin weiter, indem sie ein bestimmtes Buch, das sie in der Schule lesen wollen, ihrem Bruder vor‐ lesen könne (Z. 135 ff.). Die Schülerin bekundet nur Rezipienz (Z. 138) und der Vater bleibt stumm. Auf die Nachfrage der Lehrerin, ob die Schülerin den Vor‐ schlag des Vorlesens gut finde (Z. 139), kommt verbal keine Antwort. Die Schüler/ innen reagieren selten mit mehr als Rezeptionsbekundung oder minimaler Bestätigung - besonders in jungem Alter (vgl. auch Mundwiler 2017). Einen Grund dafür sehen wir auch in der unklaren Trennschärfe zwi‐ schen den kommunikativen Aktivitätstypen. So wird die Bewertung in Datum 9 als Handlungsempfehlung/ -aufforderung ausgesprochen (Z. 125), was im Kontext der Schule kaum eine andere Reaktion von Seiten der Schülerin zu‐ lässt als zuzustimmen. Bei der Beratung, die nun von der ersten Lehrerin durchgeführt wird, können wir den Übergang von einer Beratungszu einer Handlungsaufforderung genau nachverfolgen. Denn als erstes äußert sie mit einer Infinitivkonstruktion nur den Ratschlag, dass die Schülerin am besten zuhause mehr lesen üben solle (Z. 129), den sie dadurch konkretisiert, dass sie vielleicht ihrem kleinen Bruder etwas vorlesen könne (Z. 131). Den letzten Ratschlag äußert sie nun nach der Information des Vaters, dass der kleine Bruder noch im Kindergarten ist, mit einer Imperativkonstruktion deutlich als Handlungsaufforderung (Z. 133). Die Beratung wird so zu einer Handlungs‐ aufforderung, der Schüler/ innen in solch einem Kontext schwer widerspre‐ chen können. Man fragt sich, ob die heute praktizierte Verantwortungsdele‐ gation auch an junge Schüler/ innen überhaupt mehr bezweckt, als genau dieses. Kinder sind nicht in der Lage, selbst eine Lesekompetenzdiagnose zu betreiben. Das Kriterium „zu wenig flüssig“ geht ja auch kaum ins Detail möglicher Gründe. Es wird an keiner Stelle deutlich, was der Schülerin das Lesen erschwert. Aber die Lehrerinnen delegieren das Problem von der Schule weg ans Kind und sein Elternhaus. Datum 10, das aus einer sog. Halbjahresreflexion stammt, zeigt, wie eine Schülerin explizit nach eigenen Vorschlägen zur Verbesserung ihrer Recht‐ schreibung gefragt wird. 187 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="188"?> Datum 10: Cherin, 1. Klasse, Grundschule (Schwerpunktschule), Halbjahresre‐ flexion, L=Lehrerin, S=Schülerin Cherin, M1=Mutter Datum 10: Cherin, 1. Klasse, Grundschule (Schwerpunktschule), Halbjahresreflexion, L=Lehrerin, S=Schülerin Cherin, M1=Mutter 196 L: wie KÖNNtet ihr das denn zuhause üben; 197 mach mal nen VORschlag; 198 S: hm das ähm (.) wir ein pa die 199 die GANzen dinge die ähm falsch geschrieben sind wegradiern, 200 und mama mir °h ähm ein BISSchen dabei hilft richtig zu schreiben; 201 L: mhm, […] 215 L: könnnen wir: FESTlegen wie viel wörter du (.)jeden tag schreibst, 216 (-) mach [ma mach ma n VORschlag. 217 S: [ja, 219 hm wir KÖNNten °h mit dem sch: (.)reiben ähm °h 220 wir KÖNNten uns so_n (.) ein blatt holen; 221 ähm da da KÖNNten wir die wörter schreiben, 222 dann (.) dann könnten wir ähm die WÖRter schreiben die ich ähm die ich KENne, 224 un °h und wenn die FALSCH sind- 225 ähm dann raDIERT mama ähm die die buchstabenfehler, 226 hm und dann und dann HILFT mir mama die (.) ähm °h die buch richtigen buchstaben reinzumachen; 228 L: wie WÄR_S denn wenn du dein del! FIN! heft mit 229 jeden tag einfach im RANzen drin[lässt, 230 S: [äh: : ich hab aber ab 231 ich hab nur noch eine SEIte s im delfinheft; 232 L: <<p> ja super; > 233 dann kommst ja bald ins TAUcherheft; 234 M1: (--) aber vorher beRICHtigen wir das delefinheft; Oder, 235 S: ja_a_a, 236 M1: ja gell? 237 L: [wie wärt 238 M1: [SCHAFF ma; 239 S: ja; 240 L: meinst du (.) FÜNF wörter (.)gehen noch? 241 du kommst ja immer sehr SPÄT erst ausm hort zurück? 242 würdst_e dann noch ! FÜNF! wörter SCHAFfen? 243 S. m ja; [WÜRD ich; 244 L: [oder IST das zu viel? 245 S: mh: : : : geht; 246 M1: SCHAFfen magell? 248 S: ja, Auch im Datum 10 geht es um das Lesen- und Schreibenlernen der Schülerin Cherin. Vor dem Ausschnitt ist es zu der geteilten Einschätzung gekommen, dass die Schülerin dort noch Probleme hat (was nicht anders zu erwarten ist) und Handlungsbedarf besteht (was auch nicht anders zu erwarten ist). In Zeile 196 f. fordert die Lehrerin nun die Schülerin auf, eine Technik möglichen Übens zu unterbreiten. Diese äußert darauf einen technischen Weg, bei dem die Mutter ihr hilft (Z. 200 f.). Die Beratungsrichtung(en) scheinen hier also umgekehrt: Das generelle Problem, das die Schülerin hat, benennt die Lehrerin grob, aber die Lösungswege dessen soll die Schülerin selbst liefern. Fehlerdiagnose wird so natürlich nicht betrieben. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass wir in 188 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="189"?> unseren Gesprächen sehr oft bestätigen können, dass gerade im Orthografiebe‐ reich weder ein Eindruck von systematischer Aneignung der Komplexitäten im Unterricht aufkommt noch der Eindruck einer Problemdiagnose. Und so dient der Einbezug junger Schüler/ innen, die natürlich keine Eigendiagnose betreiben können, auch dazu, die Schule aus der Verantwortung zu nehmen. Nach einer kurzen Auslassung geht es um die Konkretisierung der häuslichen Schreibübungen. Wieder wird die Schülerin gefragt, welches Ausmaß bzw. wel‐ chen Umfang die (völlig beliebigen! ) Schreibübungen haben sollen (Z. 215 f.). Die Schülerin beschreibt allerdings nur das Procedere, wie die Übungen zuhause aussehen könnten, weiter (Z. 217-226). Die Lehrerin geht darauf zunächst ein und schlägt vor, die Rechtschreibhefte immer mitzuführen (Z. 228). Nachdem alle dieses Vorgehen befürwortet haben, schlägt die Lehrerin nun eine konkrete Anzahl an Wörter vor, die bearbeitet werden könnten (Z. 240). Sowohl die Mutter als auch die Schülerin stimmen zu (Z. 243, 245 ff.). Wir begegnen keinerlei Binnendifferenzierung von Schreibproblemen. Indem wir die Inhalte mitbetrachten, weichen wir von Grundsätzen der Kon‐ versationsanalyse intendiert ab. Die Gespräche bieten auch Einblicke in den schulischen Umgang mit bestimmten Inhalten. Wenn dieser so problematisch ist, wie etwa im Orthografiebereich, halten wir dies nicht aus der Analyse he‐ raus, wie formal orientierte Ansätze der Gesprächsforschung dies praktizieren. Eine interaktionale Soziolinguistik muss daran interessiert sein, schulische Ent‐ wicklungen zu diagnostizieren, die die Herstellung von Lernerfolg ans Eltern‐ haus delegieren. Genau darin liegt ja die Schichtenspezifik der Bildungskar‐ rieren (Schrodt 2015), denn gerade Eltern können hier durch ihre Mitarbeit in der Beratung oder an der Problemdiagnose Passung zu den schulischen Erwar‐ tungen signalisieren bzw. herstellen. Die Schülerin ist natürlich nicht in der Lage, selbst die von der Lehrerin ge‐ wünschte Maßnahme zu liefern, weshalb die Lehrerin schlussendlich eingreift und ab Zeile 228 reine Verfahrensvorschläge macht und so doch noch eine „klassische(re)“ Beratungssequenz initiiert. Wie bei den Selbsteinschätzungen in Mundwilers Daten (2017: 364-392) wirken die Schüler/ innen mit dieser Auf‐ gabe der eigenen Lösungsfindung - zumindest in jungem Alter - überfordert. Dazu kommt, dass diese Sequenzen, in denen die Schüler/ innen eigene Vor‐ schläge liefern sollen, stark an die bei Bonanati (2017: 232-299) vorgestellten erinnern, bei denen die Schüler/ innen geradezu Formeln einüben, mit denen sie die von der Lehrkraft gewünschten Reaktionen zeigen (können). Auch hier lässt sich der Eindruck nicht abwehren, dass die Rückfragen und initiierte Beratung der Lehrerin dem Einüben spezifischer Reaktionen vonseiten der Schüler/ innen dienen (dazu auch Mundwiler in diesem Band). 189 Ko-konstruierte Beratungsaktivitäten in schulischen Eltern-Lehrperson-Gesprächen <?page no="190"?> 6 Welche Art von Passung? In den Beratungssequenzen wird deutlich, ob und in welchem Maße die jewei‐ ligen Elternvertreter an Belangen der Schule mitarbeiten bzw. der Schule zuar‐ beiten. Visuell lässt sich das gut an einer Leiste veranschaulichen, die das hier herausgearbeitete Kontinuum von einfacher rezeptiver Beteiligung bis hin zu Ko-Konstruktionen bei der Problemdefinition bzw. Problemlösung der Beratung darstellt: Abb.1: Kontinuum von rezeptiver Beteiligung und Ko-Konstruktion Ko-Konstruktion von Beratungen, das Erkennen von handlungsbedürftigen Si‐ tuationen und Einfordern eines pädagogisch-fachlichen Rats oder teilweise sogar die Richtungsänderung der Beratung dahingehend, dass die Lehrperson und ihre Möglichkeiten der Veränderung in den Fokus geraten, begünstigen eine schulisch kompetente Elternschaft, die großes und detailliertes Interesse am Lernfolg ihrer Kinder zeigt. Diese Leistung gelingt Eltern, die in Beratungsse‐ quenzen schlichte Rezeption bekunden, nicht - was ihnen über den Kontext hinaus einen (strategischen) Nachteil bescheren dürfte. Hier werden „strukturell verankerte Vorstellung[en] von Elternmitarbeit an der Schule“ (Schrodt 2015: 115) deutlich, die eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und von den Lehr‐ personen in Überlegungen zu zukünftigen pädagogischen Maßnahmen oder Übergangsempfehlungen mit einbezogen werden (vgl. u. a. Hofstetter 2017). Wenn die Schülerinnen und Schüler von den Lehrpersonen direkt beraten werden, sehen wir, dass sie selten anders antworten als mit der Bekundung von Rezeption und/ oder minimaler Bestätigung - die häufig dann noch von den Lehrkräften durch Nachhaken eingeholt wird. So wird durchaus vordergründig Passung organisiert, eine Passung der um Individualisierung bemühten Schule (Helmke 2013) an eine diverse Schülerschaft und ihre Elternhäuser, auf deren Bedürfnisse der Unterricht und die Lernberatung aber gar nicht zugeschnitten werden. Schüler/ innen - zumindest im jungen Alter - sind nicht in der Lage, geeignete pädagogische Maßnahmen für sich selbst zu benennen. Die oben ge‐ zeigten Reaktionen der Schüler/ innen verwundern auch nicht angesichts der Paradoxien, denen sie hierbei ausgesetzt werden. Bei den Gesprächssequenzen 190 Helga Kotthoff / Falko Röhrs <?page no="191"?> 8 Besonders interessant ist auch, dass sowohl in unseren Gesprächsdaten als auch in denen von Bonanati (2017: 299 f.) fachliche und inhaltliche Aspekte des Faches und der Unterrichtsthemen so gut wie nie besprochen werden, sondern hauptsächlich von der Organisation der (Lern-) Prozesse und herzustellenden Ordnungen die Rede ist. Die Schüler/ innen werden meist zum Üben angehalten, sie sollen sich qualitativ (flüssiger lesen) und quantitativ (ein bisschen mehr üben) zu „verbessern“ suchen ohne Diagnose dazu, was genau ihnen dabei schwerfällt. ist nicht klar, um was für einen kommunikativen Aktivitätstyp es sich handelt. Dies ist aber hochgradig relevant, da sich je nachdem, ob es eine Beratung oder eine Handlungsaufforderung ist, andere Umgangsmöglichkeiten für die Schüler/ innen ergeben - schließlich sollten sie einer Handlungsaufforderung einer Lehrkraft Folge leisten, einer Beratung allerdings nicht zwingend. Dieses Paradox zwischen Öffnung und Schließung der Handlungs- oder Beteiligungs‐ möglichkeiten wird auch bei dem geforderten Hervorbringen pädagogischer Maßnahmen durch die Schülerin selbst deutlich, wenn ihr einerseits die Mög‐ lichkeit dazu gegeben wird, ihr Vorschlag dann aber von der Lehrerin dem leh‐ rerseitigen Wunsch angepasst wird (vgl. Bonanati 2017: 394-397). Zu diesen Pa‐ radoxien, die das Verhältnis der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler beeinflusst, trägt maßgeblich ihre doppelte Positionierung als Gesprächspartner und als Gesprächsgegenstand bei (vgl. ebd.: 230). Ob die Schüler/ innen ange‐ sichts dieser Lage überhaupt anders reagieren können als oberflächlich mitzu‐ spielen, darf bezweifelt werden. 8 Literatur Ackermann, Ulrike (2014): Positionierungen in schulischen Sprechstunden. Freiburger Arbeitspapiere zur Germanistischen Linguistik 21. Abrufbar unter: http: / / portal.uni-f reiburg.de/ sdd/ fragl/ (Stand: 06. 01. 2017) Antaki, Charles/ Widdicombe, Sue (Hrsg.) (1998): Identities in talk. London: Sage. Baker, Carolyn/ Keogh, Jayne (1995): Accounting for achievement in parent-teacher in‐ terviews. Human Studies 18, 263-300. Bonanati, Marina (2017): Lernentwicklungsgespräche und Partizipation. Rekonstrukti‐ onen zur Gesprächspraxis zwischen Lehrpersonen, Grundschülern und Eltern. Wies‐ baden: Springer VS. Deppermann, Arnulf (2018): Editorial: Instructions in Driving Lessons. International Journal of Applied Linguistics 28, 221-225. Gumperz, John J. (1999): On interactional sociolinguistic method. In: Sarangi, Srikant/ Roberts, Celia (Hrsg.) 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Es gibt zwar Handbücher, die versu‐ chen, einen Stand des empirischen Wissens über Unterricht abzubilden (z. B. Arnold et al. 2006), aber disziplin- und paradigmenübergreifend und dann wo‐ möglich im internationalen Maßstab dürfte dies ein aussichtsloses Unterfangen sein. Nach wie vor werden Millionenbeträge in Forschungsprojekte, -verbünde und ganze -institute investiert, um die empirische Unterrichtsforschung weiter auszubauen. Dabei scheint die Unterrichtsforschung insgesamt in die seltsame Lage zu geraten, immer spezielleres und detaillierteres Wissen immer weniger integrieren zu können. Im Bereich standardisierter Unterrichtsforschung gelingt es mittels groß an‐ gelegter Meta-Studien immerhin, die Befunde Tausender von Einzelstudien auf‐ einander zu beziehen und hoch aggregiert zusammenzufassen - dabei kommen dann allerdings, wie im Fall der berühmten Hattie-Studie (Hattie 2008), tenden‐ ziell eher banal anmutende Erkenntnisse zustande, wie etwa die Feststellung, dass es für die Unterrichtsqualität auf die Lehrperson ankomme. Im Bereich qualitativer Unterrichtsforschung stellt sich die integrative Darstellung oder Diskussion von Ergebnissen noch ungleich schwieriger dar (vgl. aber Proske und Rabenstein 2018), denn jede einzelne Fallstudie scheint ihren je spezifischen methodologischen und terminologischen Zugang zur Unterrichtswirklichkeit zu beanspruchen. Die Innovation liegt nicht selten in der Entwicklung einer neuen grundlagentheoretischen Perspektive und eines neuen Vokabulars zur <?page no="198"?> Erforschung schulischen Unterrichts. Die unterschiedlichen Zugänge funktio‐ nieren dann oft als relativ autonome ‚Sprachspiele‘, die ihr Objekt so unter‐ schiedlich fassen, dass es manchmal schwerfällt, es als ‚dasselbe‘ Phänomen zu betrachten. Neben den Traditionen einer standardisierten Forschung zu ‚Unterrichtsqua‐ lität‘, die sich überwiegend aus der Pädagogischen Psychologie speist, und einer qualitativ-interpretativen Unterrichtsforschung, die auf Ethnomethodologie und Interaktionismus zurückgreift, findet sich zunehmend auch im Bereich der Fachdidaktiken empirische Unterrichtsforschung, die entweder in der Linie der Lehr-Lern-Forschung versucht, Wirkungen von (Fach-)Unterricht zu be‐ stimmen oder, in der Tradition interpretativer Unterrichtsforschung, den Vollzug von Unterricht aus fachdidaktischer Perspektive zu beobachten. Empi‐ rische Unterrichtsforschung scheint mittlerweile in mehr oder weniger allen Fachdidaktiken ‚angekommen‘ zu sein - das macht die Lage allerdings eher noch unübersichtlicher, denn die einzelnen Fachdidaktiken stehen kaum in Austausch untereinander, so dass sich die theoretischen und disziplinären Perspektiven auf Unterricht insgesamt vervielfachen und die Möglichkeiten eines integrierenden Blicks eher zu schwinden scheinen. Eine solche Integration der diversen Perspektiven empirischer Unterrichts‐ forschung kann und will selbstverständlich auch der vorliegende Beitrag nicht beanspruchen. Stattdessen soll ein spezifisches Spannungsverhältnis, das zwi‐ schen einer praxeologisch ausgerichteten und einer fachdidaktisch orientierten Unterrichtsforschung zu konstatieren ist, genauer in den Blick genommen werden: Es wird zunächst knapp der je spezifische Blick auf Unterricht skizziert; dann wird argumentiert, dass das Spannungsverhältnis der Perspektiven auch eine Entsprechung in der Empirie hat; diese These wird an einem Fallbeispiel aus der Beobachtung individualisierten Unterrichts veranschaulicht und disku‐ tiert; schließlich stellen wir einen Vorschlag zur Diskussion, der praxeologische und fachdidaktische Perspektiven produktiv aufeinander bezieht. 1 Spannungsverhältnisse Als praxeologische Unterrichtsforschung verstehen wir zusammenfassend eine Variante der Erforschung schulischen Unterrichts, die sich aus unterschiedli‐ chen Forschungstraditionen speist, die aber doch übergreifende Merkmale auf‐ weist und durch ein bestimmtes Forschungsinteresse gekennzeichnet ist: Pra‐ xeologische Unterrichtsforschung richtet sich auf die Analyse der Vollzugslogik alltäglicher Unterrichtspraktiken; und sie rückt die Orientierung an Routinen, an Pragmatik und Effizienz im Lehrerwie im Schülerhandeln in den Blick. 198 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="199"?> Eine solche Perspektivierung von Unterricht, die sich für die spezifische Ei‐ genlogik seiner praktischen Vollzüge interessiert, findet sich in unterschiedli‐ chen Forschungstraditionen. Die soziolinguistische Gesprächsforschung, deren Aufschwung in den 1970er Jahren einerseits in sich ausdifferenzierenden For‐ schungsinteressen der Mikrosoziologie und des Interaktionismus und anderer‐ seits wohl in verbesserter Aufzeichnungstechnologie begründet lag, interes‐ sierte sich insbesondere für das Unterrichtsgespräch und die Institutionalisierung der entsprechenden Gesprächsrollen (Ehlich und Rehbein 1986). Das Unterrichtsgespräch zog das Interesse auf sich, weil es so markant anders organisiert ist als das Alltagsgespräch: Das Frage-Antwort-Paar des All‐ tagsgesprächs wird zum Tripel erweitert - Lehrerfrage und Schülerantwort er‐ fordern in der Regel die abschließende Bewertung durch die Lehrperson; das Turn-Taking wird als Rederecht-Verteilung in einer Hand zentralisiert; eine Person dirigiert den Inhalt des Gesprächs, die anderen versuchen deren Plan zu verfolgen. Die Forschungen zum „Unterricht als Sprachspiel“ (Lüders 2003) stehen in engem Zusammenhang mit ethnomethodologischer Unterrichtsfor‐ schung, die sich für die grundlegende Konstitution der sozialen Veranstaltung ‚Unterricht‘ interessiert. Seit den Pionierarbeiten von Mehan (1979) und McHoul (1978) wird in zahlreichen Studien untersucht, wie das ‚doing lesson‘ mit seinen spezifischen Teilnehmerkategorien, Interaktions- und Partizipationsformaten, Haupt- und Nebensträngen, Aufmerksamkeitszentren und lokalen Wissensord‐ nungen funktioniert (zusammenfassend Breidenstein und Tyagunova 2012). Mit der ethnomethodologischen Forschungstradition wiederum verwandt ist eine ethnographische Unterrichtsforschung, die aber über die Fokussierung auf das Gespräch hinaus deutlicher Aspekte der Körperlichkeit, Räumlichkeit und Materialität von Unterricht einbezieht. Ethnographische Unterrichtsforschung ist inzwischen auch im deutschsprachigen Raum etabliert und ausdifferenziert und richtet sich zunehmend auf spezifische Aspekte oder Formate schulischen Unterrichts, etwa auf schulische Leistungsbewertung (Zaborowski, Meier und Breidenstein 2011), die Dinge des Unterrichts (Röhl 2013, Lange 2017), die Dis‐ ziplinierung der Körper (Langer 2008) oder den konstitutiven Zusammenhang von Unterrichtsordnung und Peerkultur (Bennewitz 2009; Breidenstein 2009). Häufig stehen auch dezidiert reformpädagogische Formate schulischen Unter‐ richts im Fokus ethnographischer Forschungsinteressen, wie z. B. der Wochen‐ plan (Huf 2006), der Klassenrat (de Boer 2006), neue ‚Lernkulturen‘ in der Ganz‐ tagsschule (Reh et al. 2015) oder die Individualisierung schulischen Unterrichts (Breidenstein und Rademacher 2017). Hier hat sich das befremdende Potential des ethnographischen Blicks gegenüber den Reformabsichten der Akteure und oft auch den programmatischen Überzeugungen des schulpädagogischen Dis‐ 199 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="200"?> kurses zu bewähren. Über die unterschiedlichen Studien und Forschungsge‐ genstände hinweg kann die ethnographisch-praxeologische Analyse immer wieder eine ausgeprägte Eigenlogik unterrichtlicher Vollzüge herausarbeiten, die auch gegenüber Reformabsichten eine große Beharrungskraft aufweist und die auch jenseits der Absichten der pädagogischen Akteure Unterricht als hoch‐ gradig routinierte soziale Praxis von hoher Stabilität und Selbstläufigkeit zeigt. Wenn sich der Blick der Unterrichtsforschung auf die Funktionalität und Selbstläufigkeit des Unterrichtsvollzugs richtet, kann die beobachtbare Praxis des Unterrichts, i.S. der Ethnomethodologie, als praktische Lösung praktischer Probleme verstanden werden. Die praxeologische Analyse versteht dabei die Praxis nicht als defizitär (gegenüber den Programmen), sondern als nachvoll‐ ziehbare Hervorbringung kompetenter Teilnehmerinnen und Teilnehmer; das heißt, die Forschungsfragen richten sich nicht auf die Bewertung des beobach‐ teten Unterrichtsgeschehens, sondern man fragt, welche (impliziten) Probleme dieser Unterricht auf diese Art bearbeitet. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass und inwiefern die Unterrichtspraxis ihre Probleme oft anders löst, als das pädagogische oder didaktische Programm es erwartet. Praxeologische Unterrichtsforschung kann an einschlägige Bemühungen um eine Theorie sozialer Praktiken in der Soziologie anknüpfen (Reckwitz 2003; Hillebrandt 2014; Schmidt 2012), und auch für die Unterrichtsforschung sind entsprechende Bestimmungen inzwischen grundlagentheoretisch differenziert entwickelt (z. B. Breidenstein 2006; Kolbe et al. 2008; Alkemeyer, Kalthoff und Rieger-Ladich 2015; Budde et al. 2018). Ohne hier Details ausführen zu wollen, sei darauf verwiesen, was es bedeutet, wenn soziale Praktiken als grundlegende Einheit und als genuiner Untersuchungsgegenstand verstanden werden: Im Zentrum der Untersuchung stehen dann nicht Akteure mit ihren Zielen, Motiven und Absichten, sondern soziale Praktiken als „nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89), die ihrerseits zwar menschliche Akteure involvieren, aber doch eine hohe Eigenständigkeit und Selbstläufigkeit aufweisen. Viele Unter‐ richtspraktiken, wie etwa das oben erwähnte ‚fragend-entwickelnde‘ Unter‐ richtsgespräch, funktionieren relativ unabhängig von den spezifischen Ab‐ sichten und Motiven der Akteure. Die Praktiken stellen eine soziale Situation als ‚Unterricht‘ her, und schon die schiere Alltäglichkeit und die damit einher‐ gehende Routiniertheit schulischen Unterrichts lässt eine hohe Stabilität und Unbeirrbarkeit der konstitutiven Praktiken erwarten. In deutlicher Spannung zur skizzierten praxeologischen Analyse steht die (fach-) didaktische Perspektive, die nach der inhaltlichen und fachlichen Qua‐ lität von Unterricht fragt: Fachdidaktische Unterrichtsforschung geht von einem Konzept fachlichen Lernens aus; das muss kein ausgearbeitetes Modell gestufter 200 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="201"?> Kompetenzen sein, aber dem didaktisch interessierten Blick liegt zumindest eine grobe Vorstellung davon zugrunde, worauf es ankommt - was der Unterricht als Lerngelegenheit leisten könnte oder sollte. Fachdidaktische Unterrichtsfor‐ schung legt zumindest implizit, in der Regel aber explizit, ein Konzept fachlichen Lernens (oder fachlicher Bildung) zugrunde, von wo aus alltäglicher Unterricht beobachtet wird. Dies mag ein wenig holzschnittartig erscheinen, aber eine For‐ schungsperspektive, die schulischen Unterricht vom Ziel der Ermöglichung fachlichen Lernens aus beobachtet (und evaluiert), ist selbstverständlich sinn‐ voll und unverzichtbar. Sie steht allerdings in unvermeidlicher Spannung zu einer praxeologischen Forschung, die schon aus methodologischen Gründen die „ethnomethodologische Indifferenz“ (Garfinkel und Sacks 1970) zu wahren hat, will sie die Eigenlogik der Praxis erschließen (Breidenstein 2008). Ein weiteres Spannungsverhältnis zwischen praxeologischer und fachdidak‐ tischer Unterrichtsforschung betrifft die grundlagentheoretische Modellierung des Untersuchungsgegenstandes: Während die praxeologische Forschung dezi‐ diert soziale Praktiken als Untersuchungsgegenstand profiliert und sich damit von Akteurs- und Handlungstheorien absetzt, rechnet die fachdidaktische For‐ schung in aller Regel mit Akteuren. Aus systematischen Gründen, aber auch vor dem Hintergrund ihrer Einbindung in die Lehrerbildung, fragt die (Fach-)Di‐ daktik nach der besonderen Rolle der Lehrperson und ihrer Entscheidungen für den Vollzug des konkreten Unterrichts. Von der Lehrperson wird didaktische Reflexion erwartet (vgl. Kern in diesem Band), nach Möglichkeit die didaktische Begründbarkeit ihrer Entscheidungen; ihre didaktischen und methodischen Kompetenzen gelten als ein Schlüssel zur (fachlichen) Qualität des Unterrichts. Eine handlungsmächtige menschliche Akteurin, die möglichst große Anteile ihres Handelns als (begründete) Entscheidungen begreift, scheint im Zentrum der fachdidaktischen Beobachtung von Unterricht zu stehen oder: wird durch diese Beobachtung konstituiert. Aus einer Perspektive, die an Unterricht als Gelegenheit für fachliches Lernen interessiert ist, kommen schnell fachliche Defizite der beobachtbaren Unter‐ richtspraxis in den Blick. Gelegentlich findet sich auch fachlich anspruchsvoller und überzeugender Unterricht, aber in der Regel scheint der alltäglich sich voll‐ ziehende Unterricht selbst modifizierten Erwartungen an seine fachliche und fachdidaktische Qualität kaum zu entsprechen. Alltäglicher Unterricht scheint mit Blick auf das Ziel fachlichen Lernens und fachlicher Bildung ein mehr oder weniger systematisches Qualitätsdefizit aufzuweisen (Gruschka 2009). Diese - hier sehr pauschale - Einschätzung müsste sicher differenziert werden, aber einerseits kann eine differenzierte Darstellung in diesem Rahmen kaum erfolgen und andererseits scheint es auch strukturelle Gründe zu geben, die ein Manko 201 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="202"?> an fachlicher Qualität im Vollzug alltäglichen Unterrichts plausibel erscheinen lassen. Denn es findet sich ein Pendant zur beschriebenen Spannung der Forschungs‐ perspektiven in empirischen Befunden: Gerade der Unterricht, der glatt, routi‐ niert und selbstläufig im Vollzug keine Probleme macht, stellt sich aus didakti‐ scher Sicht oft als anregungsarm und wenig herausfordernd dar. Doyle (2006: 111) fasst Befunde der Unterrichtsforschung zum „classroom management“ fol‐ gendermaßen zusammen: „relatively simple and routine tasks involving me‐ mory or algorithms tend to proceed quite smoothly in class with little hesitation or resistance. […] In such circumstances a well-managed class would not ne‐ cessarily be a high achieving class.“ Aus ganz anderer Perspektive arbeitet Gruschka (2009) eindrucksvoll heraus, wie alltäglicher Unterricht sein didakti‐ sches Potential regelmäßig verfehlt und wie stattdessen echte Fragen und He‐ rausforderungen in didaktischen Routinen entsorgt werden. Zu der hier wie‐ derum sehr pauschal aufgerufenen Befundlage gehört auch, dass die Beteiligten (Lehrerinnen wie Schüler) wenig Probleme mit solch einem Unterricht zu haben scheinen. Enttäuschung mag sich bei der didaktisch interessierten Beobachterin einstellen; die Unterrichtsbeteiligten selbst sind zufrieden mit einem Unterricht, den sie im Rahmen ihrer Routinen bewältigen können. Eine ähnliche Grundstruktur ist in den letzten Jahren auch für den individu‐ alisierten Unterricht herausgearbeitet worden: Auch (oder sogar gerade) im Kontext eines stärker differenzierenden, individualisierenden Unterrichts scheinen Fragen der Unterrichtsorganisation gegenüber fachlichen Ansprüchen dominant zu sein. Viele Formen von Wochenplanarbeit oder auch ‚Freiarbeit‘ beruhen letztlich auf klar vorstrukturierten Lernmaterialien und leicht kontrol‐ lierbaren geschlossenen Aufgabenstellungen, so dass letztlich der Befund einer Standardisierung und Entfachlichung der Unterrichtsinhalte im Zuge der ‚In‐ dividualisierung‘ doch nicht mehr so stark überrascht (vgl. Martens 2018; Brei‐ denstein und Rademacher 2017). Auch hier ist die Diskrepanz augenfällig zwi‐ schen einer gut funktionierenden Unterrichtsorganisation, in deren Rahmen alle Kinder dergestalt selbsttätig beschäftigt sind, dass die Beteiligten hochzufrieden sind, und den Zweifeln an der didaktischen Qualität der Aufgabenbearbeitung, die sich aus der Perspektive der fachdidaktischen Beobachtung ergeben (vgl. Breidenstein 2015). In diesen Befunden deutet sich eine Struktur alltäglicher Unterrichtspraxis an, die sich wenig für die didaktische oder fachliche Qualität des Unterrichts interessiert und in ihren organisatorischen Routinen, die an Reibungslosigkeit und Pragmatik ausgerichtet sind, fachlich herausfordernder Interaktion eher entgegensteht. Wenn man diese Konstellation, die sicher noch differenzierter zu 202 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="203"?> 1 Siehe Breidenstein und Rademacher (2017: 98-106). 2 Näheres dazu in Breidenstein und Rademacher (2017: 9-14). bestimmen wäre, ernst nimmt, dann muss sich auch eine Unterrichtsforschung, die an der didaktischen Qualität des Unterrichts und deren Verbesserung inte‐ ressiert ist, für die praxeologische Analyse des Unterrichtsvollzugs interes‐ sieren. Denn nur in praxeologischer Analyseeinstellung geraten jene Vollzugs‐ logiken und pragmatischen Orientierungen der Unterrichtspraxis systematisch in den Blick, die der didaktischen Ambition gegenüber indifferent sind oder sie sogar konterkarieren. - Wenn die praxeologische Unterrichtsforschung hin‐ gegen sich nicht mit dem Nachvollzug der Strukturlogik der Unterrichtspraxis begnügen möchte, sondern sich für die Potentiale des Unterrichts im Sinne fachlichen Lernens interessiert, dann muss sie die Kooperation mit der Fachdi‐ daktik suchen, die über entsprechende Konzepte fachlichen Lernens verfügt. Um die bis hierhin eher abstrakt behauptete Spannung zwischen der Orga‐ nisation des Unterrichts und seiner fachlichen und didaktischen Qualität zu‐ mindest etwas zu veranschaulichen, möchten wir uns im nächsten Schritt einem Fallbeispiel zuwenden. Die Beobachtung stammt aus einem ethnographischen Forschungsprojekt zur Praxis des individualisierten Unterrichts in der Grund‐ schule, und sie beschreibt einen Schüler, der sich im Rahmen der Wochenplan‐ arbeit einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe mit ‚Stöpselkarte‘ beschäf‐ tigt. 1 Die zunächst eher absurd anmutende Szene stellt aus unserer Sicht ein eindrucksvolles Beispiel für die Stabilität und Unbeirrbarkeit der Ebene der Pragmatik gegenüber (möglichen) inhaltlichen Zweifeln dar. 2 Die Szene Die Szene, die wir im Folgenden einer näheren sequenzanalytischen Betrach‐ tung unterziehen, wurde von Christin Menzel, einer Mitarbeiterin in dem er‐ wähnten Forschungsprojekt, im Rahmen von Beobachtungen an einer Berliner Regelschule beschrieben. Diese Schule ist eine von vier Schulen, an denen wir vergleichend ethnographische Beobachtungen und Audioaufzeichnungen im Unterricht durchgeführt haben. Das gesamte Datenkorpus umfasst - neben 50 Schüler- und Lehrerinterviews - etwa 80 Beobachtungsprotokolle, die teilweise um die Transkription von Audioaufzeichnungen ergänzt wurden und verschie‐ dene Arbeitsformen und -phasen von Schülerinnen und Schülern im individu‐ alisierten Unterricht dokumentieren. 2 Es handelt sich um eine sehr komplexe Szene, der wir Schritt für Schritt folgen müssen, um nachvollziehen zu können, was hier passiert. Unser Fokus liegt auf 203 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="204"?> der Rekonstruktion der immanenten Vollzugslogik des Schülerhandelns und der darin manifestierten Unterrichtspraxis. Doch schauen wir uns zunächst das Material etwas genauer an, in der Beschreibung durch die Beobachterin. Mein Blick wird nun vom Treiben am Tisch links von mir angezogen. Hier arbeitet ein Schüler, Yosef, mit einer Lochkarte, auf der 3 x 5 Felder eingezeichnet sind. In vierzehn Feldern ist jeweils ein Bild gedruckt, das einen Gegenstand zeigt. Unter jedem Bild ist ein Loch eingestanzt. Im fünfzehnten Feld, in der linken oberen Ecke, ist ein großes und ein kleines gedrucktes ‚s‘ abgebildet. Zudem liegen vor dem Schüler Stöpsel, die anscheinend in die Löcher der Karte passen. Yosef hält die Karte vor sich und steckt blaue Stöpsel in die Löcher unter den Bildern, deren zugehörige Begriffe ein S enthalten. Ich nehme nun an, das Prinzip verstanden zu haben und schaue ihm dabei zu. Es handelt sich also - didaktisch gesprochen - um eine Übung zur Lautidentif‐ zierung und -diskrimination. Die Stöpsel dienen der Selbstkontrolle: Wenn alle erforderlichen Stöpsel gesetzt sind, gilt es, die Karte umzudrehen und anhand der umseitigen Markierung der richtigen Löcher zu kontrollieren, ob man diese auch tatsächlich gewählt hat. Die Szene dokumentiert das Tun eines Schülers, der dem Prinzip, nach welchem die Stöpsel in die Karte gesetzt werden sollen, zunächst routiniert zu folgen scheint: Die Beobachterin kann anhand ihrer ‚bloßen‘ Beobachtungen von Yosefs Handhabung des Materials das Prinzip der Bearbeitung der Aufgabe adäquat - wie sie glaubt - rekonstruieren. Die Szene nimmt allerdings eine überraschende Wendung, als sich ein anderer Schüler dem Tun von Yosef zuwendet. Der Junge gegenüber von Yosef schaltet sich jetzt ein und sagt, dass Yosef alles falsch hätte. Ich wundere mich und hinterfrage die Aufgabenstellung, die sich aus dem Ma‐ terial ergibt - was habe ich hier falsch verstanden? Er nimmt Yosef die Lochkarte weg und dreht sie um, er zeigt ihm die Rückseite und sagt „alles falsch! “. Auf der Rückseite sind einige der Löcher mit gelben Lochverstärkern beklebt. Zwei Stöpsel stecken al‐ lerdings in Löchern ohne farbige Umrandung. Hier vermute ich die Fehler, die sein Gegenüber als „alles falsch“ bezeichnet. Der Junge drückt alle Stöpsel heraus und holt für Yosef eine neue Lochkarte. In der Ecke ist der Buchstabe ‚i‘ vermerkt. Die Funktion der Kontrolle, im Material eigentlich als Selbstkontrolle angelegt, wird hier also von einem Mitschüler übernommen. Hier setzt eine erste Ver‐ wirrung der Beobachterin ein, denn sie hatte die Lösungen Yosefs anhand der sachlichen Zuordnungen von Bildern zu Begriffen nicht als falsch eingeschätzt, jedenfalls nicht als „alles falsch“. Der Mitschüler stützt sein Urteil aber auf die Autorität der Kontrollfunktion, so dass die Beobachterin an ihrem eigenen Ver‐ 204 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="205"?> ständnis der Sache zu zweifeln beginnt. Aber auch die Art und Weise, wie das Urteil hervorgebracht wird, trägt dazu bei, dass es in seiner ‚korrigierenden‘ Funktion nicht angezweifelt wird. Die Korrektur nimmt die Form einer schlichten pauschalen Behauptung („alles falsch! “) an, die nicht zur Disposition steht. So formatiert und mit dem Verweis auf die Kontrollfunktion der Stöpsel‐ karte versehen, etabliert das Urteil des Schülers eine Situation, die zur episte‐ mischen Verunsicherung der Beobachterin führt. Bemerkenswert ist, dass Yosefs (vermeintlichen) Fehlern nicht weiter nach‐ gegangen wird; sie werden weder genauer identifiziert noch wird nach mögli‐ chen Ursachen gefragt. Stattdessen wird zu einer neuen Stöpselkarte mit einem anderen Buchstaben und damit zu einer neuen Aufgabe gegriffen. Yosef nimmt die Karte und steckt einen blauen Stöpsel in die Karte. Sein Gegenüber sagt zu mir „der hat ja keine Ahnung“. Ich stutze, denn auch ich hätte an diese Stelle einen Stöpsel gesetzt. Der Schüler gegenüber erklärt (uns) jetzt, dass er grüne Stöpsel nehmen muss, da auf die Rückseite grüne Ringe aufgeklebt sind. Nun vermute ich langsam das Missverständnis erkannt zu haben. Auch Yosef stöhnt erleichtert auf und greift zu den grünen Stöpseln. Yosef setzt zwei Stöpsel. Wie schon bei der Bearbeitung der ersten Lochkarte fängt Yosef auch hier an, nach dem Prinzip der ‚sachlichen Passung‘ zu arbeiten, d. h. die Stöpsel den jeweiligen Begriffen auf den Bildern zuzuordnen. Dies wird jedoch von seinem Gegenüber erneut konterkariert, was für weitere Verwirrung bei der Beobach‐ terin sorgt. Die Verwirrung wird aufgeklärt, wenn auch nur vorläufig, als der Mitschüler die farbliche Zuordnung von Stöpseln zur Markierung der Löcher auf der Rückseite erklärt. Sowohl Yosef als auch die Beobachterin glauben jetzt, das Prinzip verstanden zu haben. Als ich gerade mit dem Schreiben beschäftigt bin, beschwert sich der Junge, dass Yosef abguckt. Er nimmt ihm die Lochkarte weg, drückt die Stöpsel heraus und holt eine neue Karte. Das ‚a‘ ist an der Reihe. Er steckt die Karte zwischen beide Bänke, so dass Yosef nicht dahinter schauen kann. Nun fragt ihn Yosef, welche Farbe er nehmen soll. „Blau“ antwortet sein Gegenüber. Er beginnt mit Blau zu stöpseln. Kurz bevor er alle Stöpsel gesetzt hat, gibt sein Ge‐ genüber bekannt, dass er ihn nur „verarscht“ habe. Yosef nimmt die Karte und schaut dahinter: Orangefarbene Stöpsel wären es gewesen. Die Stöpsel, die in der Karte ste‐ cken, sind allerdings alle korrekt gesetzt. Wieder nimmt der Junge die Karte weg und holt eine neue Karte. Ein Mädchen, welches zwischen den beiden Jungen sitzt, sagt Yosef nun die Farbe vor. „Oh man“ erklingt es vom Jungen gegenüber, er nimmt die 205 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="206"?> Karte und holt eine neue. Dieses Mal handelt es sich um einen anderen Kartentyp. Hier sollen die Stöpsel je Begriff vorn, mittig oder hinten platziert werden. Die Lehrerin kommt an den Tisch und schaut in das Heft des Mädchens. Der Junge von gegenüber verschwindet mit der Karte wieder und holt die Lochkarte des Buch‐ staben ‚h‘. Yosef hält die Karte vor sich und überlegt. Er steht unter Beobachtung und hat nun keine Chance, die Farbe auf der Rückseite zu erfahren. Zu seinem Glück ist die Arbeitszeit nun allerdings zu Ende und er kann die Stöpselkarten ins Regal zu‐ rückräumen. Die vom Mitschüler etablierte Asymmetrie wird nun weiter verstärkt, indem der Mitschüler die Funktion des Kontrolleurs endgültig übernimmt und Yosef in dieser Rolle unterstellt, dass dieser die Selbstkontrollfunktion des Materials zum „Abgucken“ nutzen würde. Der Mitschüler sichert sich auch den körperli‐ chen Zugang zur Selbstkontrollfunktion, indem er eine nächste Stöpselkarte so installiert, dass Yosef der Blick auf die Rückseite verwehrt ist, er selbst allerdings sehen kann, wie Yosef seine Stöpsel setzt. Mit diesem Arrangement ist die Selbstkontrolle endgültig zur Fremdkontrolle durch den Mitschüler geworden. Yosef, dem es nun nicht mehr möglich ist, die Farbe der Markierungen auf der Rückseite der Karte zu überprüfen, verlässt sich auf die Auskunft des Mitschü‐ lers, dass er blaue Stöpsel zu verwenden habe - bis dieser ihm eröffnet, dass er ihn „verarscht“ habe. Das Geschehen gleicht nun einem Machtspiel, welches erst mit der Einführung des Farbprinzips realisierbar wird: Für Yosef geht es ab jetzt vor allem um das Erraten der Farbe, welche nur sein Gegenüber kennt. Dieser weiß sein Monopol auch zu verteidigen: So holt er eine neue Karte, als eine Mitschülerin die Farbe „verrät“. Dass die neue Karte didaktisch etwas anders strukturiert ist, scheint dabei unwesentlich zu sein. Gleichzeitig kann die Beobachterin auch weiter festhalten, dass die Stöpsel von Yosef sachlich alle korrekt gesetzt werden. Das Prinzip der farblichen Pas‐ sung lässt also - jedenfalls zunächst - das Prinzip der sachlichen Zuordnung intakt. Yosef scheint in dieser Hinsicht den beiden Prinzipien parallel zu folgen: Er steckt die Stöpsel in die - hinsichtlich der Passung zwischen den Buchstaben und jeweiligen Begriffen - richtige Position, er passt aber auch auf die jeweils ‚richtige‘ Farbe auf. Allerdings findet hier eine bemerkenswerte Umstrukturie‐ rung von - um mit Schütz (2016) zu sprechen - ‚thematischen Relevanzen‘ statt. Das vom Mitschüler ‚auferlegte‘ Thema der farblichen Zuordnung stellt zwar - zumindest in der aktuellen Arbeitsphase - das Prinzip der sachlichen Passung nicht in Frage, es rückt jedoch dieses endgültig in den Hintergrund. Die Frage nach der farblichen Passung zwischen Stöpseln und Markierungen wird zum einzigen relevanten Problem, welches von den beiden Schülern explizit bear‐ 206 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="207"?> beitet wird, während die Suche nach Buchstaben in Wörtern in der Indifferenz des Hintergrundes bleibt. Jedenfalls interessiert sich außer der Beobachterin niemand für die sachlich richtige Position der Stöpsel. Die Indifferenz gegenüber der Sache zeigt sich noch deutlicher in der nächsten Arbeitsphase nach der Pause. Die Lehrerin kündigt nun die zweite Arbeitsphase an. Sie beauftragt Yosef damit, die Stöpselkarten einem Mädchen an einem der vorderen Tische zu erklären. Es geht los. Yosef steht auf und geht zum Mädchen, ich folge ihm. Auf dem Tisch des Mädchens steht bereits das Stöpselmaterial bereit. Yosef setzt sich neben das Mädchen, ich hocke mich neben ihn. Die Lehrerin stellt sich zu uns und sagt: „So erklär mal der Francesca, ich hab’s nämlich noch nicht erklärt, wie das geht.“ Yosef beginnt mit seiner Erklärung: „Siehst du diese Farbe? Du brauchst die gleiche Farbe von hinten.“ Yosef hat eine Karte in der Hand und beginnt mit dem Stöpseln. Francesca schaut ihm zu und sagt, welche Bilder noch in Frage kommen „Messer ist auch mit s“, „Ananas“. Yosef kommentiert das Stöpseln: „Immer nur gelb machen! “ hier meint er die Farbe der Stöpsel. Zu Fran‐ cesca sagt er: „Aber nicht abgucken von hinten welche Farbe“. Weitere Erklärungen zu den Stöpselkarten gibt Yosef nicht. Nun kommt es also dazu, dass Yosef von der Lehrerin beauftragt wird, die Vor‐ gehensweise bei der Arbeit mit dem Stöpselkarten-Material einer Mitschülerin zu erklären. Wie das Protokoll verdeutlicht, stellt er das Problem der farblichen Passung, mit dem er selbst vor kurzem zu kämpfen hatte, in den Mittelpunkt seiner Erklärungen. Die sachliche Dimension des Materials - die Suche nach Wörtern mit ‚Ss‘ - wird in den Ausführungen von Yosef in keiner Weise explizit thematisiert. Auf der anderen Seite kann man sehen, dass das Prinzip der sach‐ lichen Zuordnung seine implizite Relevanz für die Handlungen der beiden Schüler dennoch beibehält: Francesca verfolgt Yosefs Stöpseln und kommentiert dieses mit Bezug auf die inhaltliche Passung der Stöpsel zu den Bildern: „Messer ist auch mit s“, „Ananas“. (Dass von ihr dabei keine Korrektur von Yosefs Hand‐ lungen erfolgt, legt nahe, dass der Schüler sachlich auch hier alles richtig macht.) Es lässt sich also vermuten, dass Francesca die inhaltliche Funktionsweise des Materials bereits kennt - nicht jedoch das Farbprinzip, was Yosefs Erläute‐ rungen mit seinem Beharren auf der Relevanz der Farbe auch legitimiert und sinnvoll macht (was hätte er denn sonst Francesca erklären sollen? ). Für die beiden Schüler bleibt so die sachliche Zuordnung weiterhin unproblematisch. Er hat die Stöpselkarte zum ‚s‘ beendet, dreht sie um und hat zwei Fehler. Ich wundere mich, da ich beim Stöpseln keinen Fehler beobachtet habe. Er drückt die beiden über‐ flüssigen Stöpsel heraus, zeigt sich von den Fehlern unbeeindruckt und nimmt eine neue Karte. Francesca nimmt ebenfalls eine Karte. Sie hat die ‚i‘-Karte in der Hand 207 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="208"?> und sucht nach Begriffen, die ein ‚s‘ enthalten. Schnell wird ihr jedoch klar, dass sie ‚i‘-Wörter suchen muss und ändert ihre Stöpselstrategie. Ein anderes Kind kommt hinzu und sagt beiläufig, dass die Farbe egal sei, dies nimmt aber keines der beiden Kinder zur Kenntnis. Francesca wird durch eine Karte irritiert, die schwarze Ringe auf der Rückseite zeigt. Unter den Stöpseln befinden sich keine schwarzen - sie legt die Karte weg und nimmt eine andere. Nach einiger Zeit kommt die Lehrerin vorbei und fragt Yosef: „Und? Hat sie es verstanden? “ Yosef antwortet nicht, die Lehrerin geht wieder. Ich frage Yosef, der sich gerade wieder die ‚s‘-Karte zur Hand genommen hat und zielgerichtet einen gelben Stöpsel in die Hand nimmt, woher er weiß, dass er diese Farbe nehmen muss. Er antwortet, dass er die Karte vorhin schon einmal gemacht habe und es deshalb weiß. Ein Ziel der Übung wäre dementsprechend zu lernen, wel‐ cher Buchstabe welche Farbe besitzt. Kurios ist zudem, dass einige Karten auf der Rückseite zwei Ringfarben zeigen - hier hat der Schüler der Farbregel entsprechend keine Chance, richtig zu liegen, außer er spickt vorher oder ignoriert die Farbregel. An dem Fortgang der Szene sind nun mehrere Details bemerkenswert. Zunächst ist festzuhalten, dass Yosef sich nicht um zwei (vermeintliche) Fehler kümmert, obwohl er gerade dabei ist, Francesca vorzumachen, wie es geht. Statt sich zu fragen, was er falsch gemacht hat, ‚berichtigt‘ er schlicht die ‚Fehler‘ durch He‐ rausdrücken der entsprechenden Stöpsel. Weiterhin ist bezeichnend, dass auch Francesca dem Farbprinzip inzwischen so weit folgt, dass sie eine Karte mit schwarzen Markierungen ohne schwarze Stöpsel für nicht bearbeitbar hält. Schließlich ist bemerkenswert, dass sowohl Yosef als auch Francesca von der Bedeutsamkeit der farblichen Passung von Stöpseln und Markierungen so überzeugt zu sein scheinen, dass sie sich durch einen gegenteiligen Hinweis nicht irritieren lassen. Dieser Umgang mit auftre‐ tenden Komplikationen ist in doppelter Hinsicht signifikant. Erstens macht er auf die Indifferenz gegenüber den Inhalten aufmerksam, wie sie hier im He‐ rausdrücken der ‚überflüssigen‘, wenn auch sachlich korrekten Stöpsel resul‐ tiert. Die Indifferenz gegenüber der Sache ist dabei nicht nur das Ergebnis der Befolgung des formalen Farbprinzips, sondern auch der Autorität der Selbst‐ kontrollfunktion des Materials zuzuschreiben. Zweitens zeigt sich hier die Ori‐ entierung der Beteiligten auf eine ‚Entproblematisierung‘ der Unterrichtspraxis, die dafür sorgt, dass der Schüler und die Schülerin die routinierte Bearbeitung des Materials auch weiter im Griff behalten und die Aufgabe letzendlich erle‐ digen können. Die Orientierung auf ein unproblematisches Funktionieren zeigt sich aber auch im Verhalten der Lehrperson. Die ‚vorbeikommende‘ Lehrerin kümmert 208 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="209"?> sich nicht um Details, sondern erkundigt sich nur in pauschaler Form, ob Fran‐ cesca „es verstanden“ habe. Ihr scheint es zu reichen, dass weder von Francesca noch von Yosef Probleme angezeigt werden, jedenfalls verlässt sie die Szenerie wieder, ohne bemerkt zu haben, dass hier eine dem didaktischen ‚Sinn‘ des Ma‐ terials entgegenarbeitende ‚Regel‘ im Spiel ist. Der Beobachterin hingegen, die ja alle Details der Bearbeitung der Stöpsel‐ karten verzeichnet, kommen jetzt ernsthafte Zweifel. Zwar vermutet sie zu‐ nächst noch ein ‚Ziel der Übung‘ in dem Lernen des Zusammenhangs zwischen Buchstabe und Farbe (worin sollte dieser Zusammenhang aber bestehen? ) - um sich dann aber doch durch die Entdeckung irritieren zu lassen, dass es auch Karten mit zwei Farben auf der Rückseite gibt. Nun beschließt sie der Sache auf den Grund zu gehen: Ich schaue mir die Karte von Yosef genauer an und stelle fest, dass im Material ein Fehler steckt, sowohl Messer als auch Bus sind auf der Rückseite nicht mit einem farbigen Lochverstärker gekennzeichnet. Bei der Selbstkontrolle hat Yosef so zwangs‐ läufig immer zwei Fehler. Dies ist eine überraschende Aufklärung des Problems: Die Selbstkontrollfunk‐ tion des Materials ist fehlerhaft. Das Material wurde offensichtlich selbst erstellt, jedenfalls scheinen die Löcher handgefertigt, und für die Markierung der rich‐ tigen Löcher wurden offenbar farbige Lochverstärkungen verwendet. Für un‐ sere Analysen ist weniger erheblich, ob nun zwei Löcher vergessen wurden oder ob zwei Ringe irgendwann abgefallen sind (beides kann natürlich passieren), bedeutsam ist allerdings, wie die Praxis mit dem fehlerhaften Material umgeht. Dabei ist festzuhalten, dass der Fehler in der Selbstkontrollfunktion des Ma‐ terials von niemandem bemerkt wird, bis die Zweifel bei der Beobachterin zu groß werden. Sowohl Yosef als auch der Mitschüler als auch Francesca, die alle mit den vermeintlich fehlerhaften Stöpseln in der S-Karte zu tun hatten, ließen sich nicht irritieren, sondern vertrauten dem Material sowie seiner Selbstkon‐ trollfunktion und korrigierten das Ergebnis dem farblichen Kontrollmuster ent‐ sprechend. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Sache, also mit der Frage, ob nun ‚s‘ in den ‚korrigierten‘ Lösungen vorkommen oder nicht, ist an keiner Stelle zu beobachten. Dies gilt auch für das Ende der Szene am Tisch der Lehrerin: Yosef ‚korrigiert‘ seine Stöpselkarte, d. h. er drückt die beiden überflüssigen Stöpsel heraus, nimmt sie und den Hefter samt Wochenplan, auf dem er noch schnell ein Kreuz in die Spalte „Wahlaufgaben / Stöpselkarten (Anlaute)“ zeichnet, in die Hand, steht auf und stellt sich bei der Lehrerin an. Sie sitzt am Lehrertisch, der von vielen Kindern gesäumt wird. Sie alle wollen ihre Hefte vorzeigen, nur Yosef hat eine Stöpselkarte in 209 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="210"?> der Hand. Sie fordert die Kinder auf, ihre Hefte in die Ablage zu legen und verspricht ihnen, sie bis morgen durchzuschauen. Als Yosef dran ist, sagt sie: „Damit nicht zu mir. Yosef, Selbstkontrolle. Nicht damit zu mir kommen, das ist doch grad die Selbst‐ kontrolle, dass ich nicht gucken muss. Hier ist eins falsch, guck mal [bei der Säge fehlt ein Stöpsel] haste gar nicht gemerkt. Was issn das? Eine Säge“. Yosef wendet sich von der Lehrerin ab und drückt die Stöpsel heraus. Ich frage mich, woher er den noch fehlenden Haken von der Lehrerin auf seinem Wochenplan bekommt? (C.M.) Dieser letzte Akt in der Auseinandersetzung Yosefs mit den Stöpselkarten of‐ fenbart noch einmal das grundlegende Prinzip dieser Art von Lernmaterialien: Die Selbstkontrollfunktion ersetzt die Kontrolle und Korrektur der Aufgaben durch die Lehrerin. Darauf verweist die Lehrerin Yosef, der sich bei ihr angestellt hatte, um ihr seine Stöpselkarte zu zeigen - allerdings nicht ohne ihn noch auf einen Fehler hinzuweisen, den er bei der Selbstkontrolle offenbar „gar nicht gemerkt“ habe. Dass das Material selbst fehlerhaft ist, entgeht der Lehrerin, schließlich hatte Yosef sein Ergebnis auch schon vorher entsprechend so ‚kor‐ rigiert‘, dass Stöpsel und Markierungen übereinstimmen. Was zeigt nun diese Szene insgesamt? Zunächst sind zwei Besonderheiten der Szene festzuhalten, die auf den ersten Blick vor allem kurios wirken: Die Schüler folgen eifrig einer auf den ersten Blick ‚unsinnigen‘ Regel und ‚korri‐ gieren‘ sachlich richtige Lösungen. Verständlich werden diese Kuriositäten nur vor dem Hintergrund allgemeiner Merkmale der Lernmaterialien und der Praxis ihrer Bearbeitung. Es gelingt einem Mitschüler Yosefs, in der Bearbeitung der Stöpselkarten die so genannte ‚Farbregel‘ zu etablieren, die die Übereinstimmung von Stöpseln und Markierungen verlangt, obwohl diese ‚Regel‘ in sachlicher Hinsicht mit der Bearbeitung der Aufgabe nichts zu tun hat und sie an einigen Stellen auch kont‐ raproduktiv wird. Dass die Markierungen auf der Rückseite der Stöpselkarten in unterschiedlichen Farben vorgenommen wurden, hat vermutlich schlicht damit zu tun, dass die Lochverstärkungsringe in unterschiedlichen Farben vor‐ lagen (worauf auch die zweifarbige Stöpselkarte hinweist). Ein Zusammenhang mit den ebenfalls verschiedenfarbigen Stöpseln (möglicherweise aus einem Spiel) ist von den Herstellern der Stöpselkarten sicher nicht beabsichtigt, son‐ dern wird von den Kindern erfunden und praktiziert. Dass die Farbregel gegen alle Evidenzen (z. B. die schwarzen Markierungen, denen keine Stöpsel entspre‐ chen) in Kraft bleibt, ist wohl der Erfahrung der Schüler geschuldet, dass Farben bei Lernmaterialien normalerweise von Bedeutung sind: Zuordnungen und Pas‐ 210 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="211"?> 3 Vgl. z. B. die Bedeutung der Farben in Mathematikmaterial wie der Apotheke oder dem Schachbrett (siehe Breidenstein und Rademacher 2017: 77-95). sungen werden tatsächlich oft mit Farben markiert. 3 Vor diesem Hintergrund hat die Farbregel keinen Verdacht geweckt (und auch auf die Beobachterin lange Zeit plausibel gewirkt). So können wir hier eine markante Parallelität von zwei Bearbeitungsmodi beobachten, die in ihren Relevanzen unterschiedlich moduliert sind und anei‐ nander vorbei arbeiten: neben dem die Szene dominierenden Befolgen der Farb‐ regel auch das unthematisiert und im Hintergrund bleibende Befolgen des Prin‐ zips der sachlichen Passung von Stöpseln und Bildern. Will man die Logik der Szene verstehen, muss diese Differenz von Relevanzen, die auch eine Entspre‐ chung in den jeweiligen Perspektiven der Beteiligten findet, ernst genommen werden. Priorität hat für die Schüler die Erfüllung der Aufgabe, deren Ergebnisse am Ende einer Kontrolle unterliegen. Wo die Beobachterin den Sinn der Bear‐ beitung des Materials in der ‚Übung zur Lautidentifzierung‘ sehen mag, stellt sich die Beschäftigung mit den Stöpselkarten für die Schüler vor allem als ‚Re-Produktion des Kontrollmusters‘ dar: Was muss man tun, um das Muster auf der Rückseite zu realisieren? Für die Schüler scheint die Farbregel einen durchaus praktischen Sinn zu haben: Die Evidenz der farblichen Übereinstim‐ mung zwischen den Stöpseln und Markierungen trägt zur (hier didaktisch wohl nicht intendierten) Visualisierung der Kontrollfunktion und so zur Plausibilität der Anwendung der Farbregel bei. Insofern können auch einige Stöpsel heraus‐ gedrückt werden, wenn sie das farbliche Kontrollmuster ‚stören‘. Die Szene macht somit deutlich, wie die didaktische Intention der Aufgabe (‚eine Übung zur Lautidentifzierung und -diskrimination‘) durch die Pragmatik der Bearbei‐ tung des Materials konterkariert wird. Vor diesem Hintergrund wird auch der seltsam anmutende Umstand ver‐ ständlich, dass ein offensichtlicher Fehler in der Selbstkontrollfunktion des Ma‐ terials von niemandem außer der Beobachterin bemerkt wird, und vor allem, dass dieser Fehler den Ablauf des Ganzen kaum stört. Ausgerechnet die fehler‐ hafte Karte zum ‚s‘ wird insgesamt dreimal bearbeitet und mit ihrer falschen Lösung auch noch der Lehrerin gezeigt, ohne dass die Abläufe irgendwo ins Stocken geraten würden. Beobachten lässt sich hier also die Unbeirrbarkeit der Praxis durch fehlerhaftes Material: Die Routinen der Bearbeitung des Materials werden nicht gestört; stattdessen wird die Bearbeitung an das fehlerhafte Ma‐ terial angepasst. Man geht schlicht davon aus, dass eine eindeutige und richtige Lösung in das Material eingebaut ist. (Vor diesem Hintergrund kommt auch die Beobachterin erst spät auf die Idee, das Material zu überprüfen). 211 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="212"?> 4 Wie Zimmerman (1971: 228) in diesem Zusammenhang bemerkt: „That the process is to be kept ongoing is itself a practical feature of the work“. 5 Dieses Forschungsprogramm liegt auch einem Antrag auf ein DFG-Graduiertenkolleg zugrunde, den wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Kassel und Halle erar‐ beitet haben. Die folgenden Überlegungen beruhen auf intensiven Diskussionen mit Torsten Fritzlar, Rolf-Torsten Kramer, Michael Ritter (alle Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) sowie Hedda Bennewitz, Friederike Heinzel, Frank Lipowsky, Nor‐ bert Kruse und Elisabeth Rathgeb-Schnierer (alle Universität Kassel). Insbesondere Friederike Heinzel war federführend an der Formulierung des folgenden Forschungs‐ konzeptes beteiligt. Das praktische Interesse am Kontrollergebnis und einem unproblematischen Verlauf der Arbeit 4 sowie die Autorität der Selbstkontrollfunktion des Materials erklären also die Resistenz der Praxis gegenüber ‚falschen‘ Regeln und fehler‐ haftem Material. Hinzukommen muss aber ein weiteres Merkmal der Praxis der Bearbeitung von Lernmaterialien: die Indifferenz gegenüber den Inhalten der Aufgabe. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aufgabe - die Suche nach Lauten in Wörtern - tritt vollkommen in den Hintergrund zugunsten einer Pragmatik des Abarbeitens von Lernmaterialien. Darauf verweist nicht zuletzt die Beobachtung, dass den vermeintlichen ‚Fehlern‘ an keiner Stelle nachge‐ gangen wird, um sie inhaltlich aufzuklären (dieses Bedürfnis verspürt nur die Beobachterin) - stattdessen werden einfach störende Stöpsel entfernt, ohne sich auf der anderen Seite der Stöpselkarte (der Seite der Aufgabe) noch einmal zu vergewissern, welche inhaltliche Bedeutung das hat. 3 Ein Vorschlag für ein Forschungsprogramm Abschließend möchten wir in knapper Form ein Forschungsprogramm vor‐ schlagen, das die praxeologische und fachdidaktische Perspektive in der Be‐ obachtung und Analyse schulischen Unterrichts aufeinander bezieht und die angesprochene Spannung der Perspektiven produktiv machen möchte. 5 Um ein solches Forschungsprogramm zu visualisieren, greifen wir auf die geläufige Figur des didaktischen Dreiecks zurück (vgl. Schröder 2001; Gruschka 2002; Bönsch 2006; Steinhoff et al. 2017: 11; Baltruschat 2018). Die Figur erfährt allerdings im Folgenden eine grundlegend veränderte Ausrichtung. Die tradierte Fassung der Veranschaulichung des Unterrichtsgeschehens im didaktischen Dreieck fokussiert den Bezug auf die Lehrperson, auf Schülerinnen und Schüler sowie auf den Gegenstand des Unterrichts. Demgegenüber wird in unserem Schaubild ein weiteres, ein das tradierte Dreieck umfassendes Dreieck einge‐ tragen, welches die Beziehungen zwischen Konstituenten des herkömmlichen 212 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="213"?> A B C Dreiecks thematisiert und damit die praktischen und situativen Vollzüge des Unterrichts in den Blick rückt. Schulisches Lernen wird als Zusammenspiel von Praktiken der Strukturie‐ rung, der Aufgabenbearbeitung und der Interaktionsorganisation verstanden. ‚Lehrerin‘, ‚Schülerin‘ und ‚Unterrichtsgegenstände‘ erscheinen in dieser Per‐ spektive weniger als Ausgangspunkte, denn als Beteiligte eines Unterrichts‐ vollzuges, der die Formen dieser Beteiligung zugleich auch mit hervorbringt. Das Modell visualisiert die grundlegenden Untersuchungsgegenstände einer praxeologisch ausgerichteten, didaktisch interessierten Unterrichtsforschung: Praktiken der Strukturierung: jene Praktiken, die - etwa in Form von Un‐ terrichtsvorbereitung oder -steuerung durch die Lehrperson - den fachli‐ chen Gegenstand im Unterricht figurieren; Praktiken der Strukturierung können auch in Lehr- und Lernobjekten materialisiert sein. Praktiken der Aufgabenbearbeitung: jene Praktiken, mittels derer Schüler und Schülerinnen fachliche Aufgaben bearbeiten, Fragen beantworten oder ihrerseits Fragen entwickeln, kurz: jene Praktiken, die schülerseitig den Unterrichtsgegenstand konstituieren; Praktiken der Interaktionsorganisation: jene Praktiken, die sich, Lehrper‐ sonen sowie Schülerinnen und Schüler einbeziehend, auf die gemeinsame Herstellung, Aufrechterhaltung und Koordination der Interaktion im Un‐ terricht richten. Daraus ergibt sich das folgende Schaubild (s. Abb. 1). Aus den drei, den ‚Seiten‘ des ursprünglichen Dreiecks zuzuordnenden Komplexen von Praktiken ergeben sich drei aufeinander bezogene Forschungsfelder. Die folgenden Bestimmungen sind vorläufige; ihre heuristische Produktivität muss sich erst in konkreten For‐ schungen erweisen. Es ist zu erwarten, dass sie sich im Zuge konkreter empi‐ rischer Untersuchungen modifizieren und ausdifferenzieren lassen werden. Ein übereinstimmendes Merkmal aller drei Forschungsfelder besteht darin, dass sie funktionale Analysen zum Unterrichtsvollzug mit Fragen nach der Art und Qualität fachlichen Lernens verknüpfen. 213 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="214"?> A B Abb.1: Modell: Praxeologisch reformuliertes didaktisches Dreieck Die Praktiken der Strukturierung, mittels derer Lehrpersonen fachliche Ge‐ genstände oder Probleme für den Unterricht auswählen, zuschneiden und situativ zur Geltung bringen, konturieren den Unterrichtsgegenstand und bestimmen die Gestalt, die das fachliche Problem in der und für die Unter‐ richtssituation annimmt. Solcherart strukturierende und figurierende Prak‐ tiken werden in der Grafik zwischen Lehrperson und Unterrichtsgegen‐ stand angesiedelt; sie können aber natürlich auch Schüler und Schülerinnen einbeziehen und sind oft, wie etwa in der oben diskutierten Szene, in die im Unterricht verwendeten Lehrmittel eingelassen und solcherart an Objekte ‚delegiert‘ (Lange 2017). Schüler oder Lehrmittel übernehmen in diesen Fällen die Rolle des Vermittlungsagenten. Auf den im Dreieck gegenüber‐ liegenden Pol der Lernenden bleiben die Praktiken der Strukturierung be‐ zogen, insofern sie den Unterrichtsgegenstand adressatenbezogen ent‐ werfen und oft mit impliziten oder expliziten Praktiken der Diagnostik und Differenzierung einhergehen. Das zweite Feld bezieht sich auf die Praktiken der Aufgabenbearbeitung, in‐ sofern den Schülerinnen und Schülern der Unterrichtsgegenstand in aller 214 Georg Breidenstein / Tanya Tyagunova <?page no="215"?> C Regel in Form von Aufgaben gegenübertritt. Dabei kann es sich um die Aufgabe handeln, im Kontext des Unterrichtsgesprächs Lehrerfragen zu beantworten, oder um die möglichst ‚selbständige‘ Bearbeitung vorgege‐ bener oder freierer Arbeitsaufträge. Praktiken der Aufgabenbearbeitung sind - auch schon im Grundschulalter, wie die oben analysierte Szene deut‐ lich zeigt - von Routinisierung und von der Orientierung an Pragmatik und Effizienz gekennzeichnet. Zudem dürfte für das Schülerhandeln situativ fast immer die Orientierung an Peers und an den Relevanzen der Peerkultur eine Rolle spielen (vgl. Breidenstein 2018). Auf das Lehrerhandeln bleiben die Praktiken der Aufgabenbearbeitung bezogen, insoweit die Lehrperson die Instanz der Hilfestellung, der Kontrolle und der Bewertung bleibt - auch im weitgehend individualisierten und dezentrierten Unterricht. Die Praktiken der Interaktionsorganisation sind gekennzeichnet von den aufeinander verwiesenen und aufeinander verweisenden Interaktionsrollen der ‚Lehrerin‘ und ‚Schüler‘. In der Differenz dieser Interaktionsrollen kon‐ stituiert sich ‚Unterricht‘ als Vermittlung und Aneignung. Der Vollzug der Unterrichtsinteraktion ist zum einen von allgemeinen Merkmalen der In‐ teraktionsordnung unter Anwesenden gekennzeichnet (vgl. Goffman 1983; Vanderstraeten 2001) und auf Stabilisierung, Aktivierung oder Erhalt der Interaktion gerichtet. Die interaktive Herstellung und Regulierung der Un‐ terrichtsordnung bleibt andererseits auf den Gegenstand und die Formen fachlichen Lernens bezogen, insofern als die organisationale Zwecksetzung der Interaktion darin besteht, fachliches Lernen zu ermöglichen, und die Koordination der Unterrichtsaktivitäten zeitliche, soziale und inhaltliche Abstimmungen notwendig macht (vgl. Herrle und Dinkelaker 2018). Dazu muss die Unterrichtsinteraktion Partizipationsstrukturen einrichten, die die Aktivierung der Beteiligten und die Darstellung von ‚Lernen‘ ermöglichen (Krummheuer und Fetzer 2005; Breidenstein 2010). Insgesamt bleiben die Frage- und Problemstellungen aller drei Forschungsfelder eng aufeinander bezogen, und die Formen und Bedingungen situierten Lernens lassen sich letztlich nur als Zusammenspiel von inhaltlicher Strukturierung, Praktiken der Aufgabenbearbeitung und Interaktionsorganisation erfassen. Ak‐ tuell sich artikulierende Perspektiven auf Lernen als situierte Praxis (Schmidt 2018) und ‚Lernkulturen‘ (Kolbe et al. 2008; Reh et al. 2015) bilden sicher eine Herausforderung für ein tradiertes didaktisches Denken, das Lernen von der Vermittlungsabsicht aus entwirft. Sie enthalten aber insofern ein großes heu‐ ristisches Potential, als sie es ermöglichen, die Sozialität und auch die Materia‐ lität fachlichen Lernens im Vollzug schulischen Unterrichts in neuer Weise in 215 Praxeologische und didaktische Perspektiven auf schulischen Unterricht <?page no="216"?> den Blick zu bekommen. Um eine praxeologische Perspektive für die Analyse des fachlichen Potentials von Unterricht fruchtbar zu machen, bedarf es aller‐ dings auch noch dezidiert grundlagentheoretischer Arbeit. Methodologisch erfordern praxistheoretische Perspektiven vor allem die Be‐ obachtung. Denn die interessierenden Praktiken ruhen zu sehr in der selbst‐ verständlichen Gegebenheit des Alltagswissens, als dass sie durch die Betei‐ ligten selbst expliziert und etwa im Interview erhoben werden könnten. Und auch ein ‚Lernen‘, das sich möglicherweise in individuellen Kompetenzzu‐ wächsen zeigt, wäre zuallererst als soziale Praxis zu beobachten. Festhalten lässt sich also, dass das skizzierte Verständnis vom Forschungsgegenstand metho‐ disch die Beobachtung, Aufzeichnung und Analyse des situierten Unterrichts‐ vollzugs selbst erforderlich macht. Wenn wir abschließend noch einmal auf die Stöpselkarten-Szene zurück‐ kommen, ergibt sich folgende Konstellation: Die Beobachtung widmet sich dem Schüler, der die in der Stöpselkarte materialisierte Aufgabe zu bearbeiten sucht (Praktiken der Aufgabenbearbeitung). Die beobachtete Praxis ist aber grundle‐ gend davon bestimmt, dass und wie das fachliche Problem in die Form der Stöp‐ selkarte überführt ist (Praktiken der Strukturierung). Dieses Format der Aufga‐ benstellung, das die ‚selbständige‘ Arbeit des Schülers einschließlich der Selbstkontrolle ermöglichen soll, steht wiederum in engem Zusammenhang mit einer Unterrichtsorganisation, die ein weitgehend selbständiges und unkompli‐ ziertes Arbeiten der Schüler ermöglichen muss, jenseits der zentralen Steuerung und Instruktion durch die Lehrkraft (Praktiken der Interaktionsorganisation). Im Rahmen der vorgeschlagenen Heuristik wäre also für jede Unterrichtsbeo‐ bachtung gerade der Zusammenhang der drei Praktikenkomplexe zu beachten und zu rekonstruieren, will man der spezifischen praktischen Logik auf die Spur kommen und sie einer didaktischen Reflexion unterziehen. Literatur Alkemeyer, Thomas/ Kalthoff, Herbert/ Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.) (2015): Bildungs‐ praxis. Körper - Räume - Objekte. Weilerswist: Velbrück. Arnold, Karl-Heinz/ Sandfuchs, Uwe/ Wiechmann, Jürgen (Hrsg.) (2006): Handbuch Un‐ terricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Baltruschat, Astrid (2018). Didaktische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Bennewitz, Hedda (2009): Zeit zu Zetteln! - Eine Praxis zwischen Peer- und Schüler‐ kultur. In: de Boer, Heike/ Deckert-Peacemen, Heike (Hrsg.) Kinder in der Schule. Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung. 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Corvacho del Toro und Thomé 2013; Wiprächtiger-Geppert et al. 2015), zeigt sich eine gravierende Forschungslücke bei der Frage, ob bzw. wie Studierende das Wissen, das sie sich im Laufe ihres Studiums angeeignet haben, aktualisieren und auf beobachtete oder erlebte Si‐ tuationen schulischer Praxis situationsgerecht anwenden können. Die Fähig‐ keit, professionelles Wissen situativ anzuwenden, zu reflektieren und gegebe‐ nenfalls zu modifizieren, stellt eine Kompetenz dar, die Expert/ innen gegenüber Noviz/ innen auszeichnet; dies gilt auch für professionelle Lehrkräfte (vgl. z. B. Dewe, Ferchhoff und Radtke 1992; Bromme 2008). In diesem Zusammenhang nimmt das Konzept des ‚reflective practitioner‘ (Schön 1983) in einer erzie‐ hungswissenschaftlich geprägten Diskussion um die Professionalitätsentwick‐ lung im Lehramt eine zentrale Stellung ein. Nach diesem Konzept unterscheiden sich Expert/ innen von Noviz/ innen darin, dass sie in der Lage dazu sind, ihre Handlungen auch während der Durchführung zu reflektieren und dabei der spezifischen Situation Rechnung zu tragen („reflection-in-action“). Dabei prä‐ sentiert sich jede Situation professionellen Handelns als weitgehend singulärer Fall, der angemessen behandelt werden muss; daraus folgt, dass die im Profes‐ sionswissen vorhandenen technischen und theoretischen Kategorien als Teil des zur Verfügung stehenden (Fach-)Wissens nicht unbesehen angewendet werden können: „the case is not ‚in the book‘“ (Schön 1983: 5; vgl. auch Bender, Heinrich und Lübeck 2017). Damit wird die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit von <?page no="222"?> Situationen in der Praxis in den Blickpunkt gerückt, die auch Lehr-Lernsituati‐ onen auszeichnen (Schön 1983; Helsper 2008). Für das situationsangemessene Handeln des ‚reflective practitioner‘ spielen Benennungs- und Rahmungsaktivitäten eine wesentliche Rolle: „Through com‐ plementary acts of naming and framing, the practitioner selects things for the attention and organizes them, guided by an appreciation of the situation that gives it coherence, and sets a direction for action“ (Schön 1987: 4; Hervorhebung F.K.). Zudem wird ein zweiter Gesichtspunkt angesprochen, der auf einen wei‐ teren Aspekt von Professionalität hinweist: Die Steuerung und Organisation der Aufmerksamkeitsausrichtung auf bestimmte situative Phänomene kann im Sinne einer Relationierung und Kalibrierung von Wahrnehmung und Wissen verstanden werden, wie es Goodwin (2013; 2018) in seinem Konzept der „pro‐ fessional vision“ vorschlägt. Ihm zufolge zeichnet sich ein professioneller Blick dadurch aus, dass Phänomene der Wahrnehmung in ein bestehendes professi‐ onelles Kategoriensystem eingeordnet werden, indem professionelle Praktiken (z. B. Hervorheben, schematisches Kodieren, graphisches Repräsentieren) auf sie angewendet werden. Die Entwicklung von Professionalität kann in diesem Sinne als die zunehmende Herstellung eines professionellen Blicks auf die be‐ obachtete und erlebte Praxis verstanden werden, und zwar durch eine bestän‐ dige Relationierung und Kalibrierung von theoretischem Wissen und prakti‐ schen Erfahrungen. Theorie und erlebte Praxis werden so auf Passung gebracht. Dabei haben nach Goodwin (2018) auch Begriffe und Bezeichnungen (discursive objects), die als einschlägiges Wissen und geeignete Praktiken von den kompe‐ tenten Mitgliedern einer professionellen Gemeinschaft geteilt werden, eine wichtige Funktion. Interaktionen zwischen Novizen und Professionellen wie‐ derum offenbaren, wie diese Praktiken gelehrt werden, wie Goodwin (1994; 2013) eindrucksvoll zeigt. Wahrnehmung und Wahrnehmungspraktiken sind also für das professionelle Handeln wesentlich. Reflexiv sind die Wahrnehmungspraktiken mit Rahmungs‐ aktivitäten verbunden, die ihren Ausdruck in spezifischen Bezeichnungen und Begriffsbildungen finden können. Thema des vorliegenden Beitrags ist es, an‐ hand von videographierten Gesprächen studentischer Kleingruppen solche Wahrnehmungspraktiken in ihrer Prozesshaftigkeit sowie Rahmungsversuche durch situative Begriffsbildungen zu rekonstruieren. 222 Friederike Kern <?page no="223"?> 2 Ethnographische Sichtweise in der Fallarbeit und ihre fachdidaktische Wendung Zur Vermittlung einer Reflexionskompetenz, die professionelles Wissen auf einzelne Fälle anwendet und dabei situative Besonderheiten berücksichtigt, werden insbesondere Ansätze des Forschenden Lernens (Fichten 2010; Huber 2014) diskutiert. Als ein solcher wurde im Studiengang Sprachliche Grundbil‐ dung (Deutsch für die Primarstufe) der Universität Bielefeld ein Konzept ent‐ wickelt, das im Wesentlichen auf ethnographischer Fallarbeit basiert (Kern 2017; Kern et al. 2017). Leitgedanke ist hierbei, dass eine ethnographische Sichtweise, qualitativen Forschungsparadigmen entsprechend, „eine metatheoretische und meta-methodische Haltung ist, die eine prinzipielle Phänomenoffenheit und eine verfremdende Perspektive auf die zu erkundenden Phänomene impliziert“ (Schütze 1994: 190). Auch stellt die Ethnographie Methoden zur Verfügung, die die Einnahme einer reflexiven Haltung gegenüber beobachteten Phänomenen zum Ziel haben. Zu diesen Methoden gehören die Etablierung und Nutzung einer Beobachterrolle, die extensive Verschriftung der Beobachtungen und deren analytisch-reflexive Durchdringung (Breidenstein et al. 2013). Im Rahmen der Seminarkonzeption erhielten die Studierenden die Aufgabe, eine beliebige Deutschstunde ethnographisch zu beobachten und daraus im An‐ schluss ein Beobachtungsprotokoll anzufertigen (vgl. Abschnitt 4). Erste Ana‐ lysen von videographierten Seminarsitzungen studentischer Kleingruppen, in denen Studierende sich einen analytischen Zugriff auf gemeinsam erstellte eth‐ nographische Protokolle erarbeiten, zeigen, dass zum einen unterschiedliche Arten des Zugriffs auf Protokolle etabliert werden (‚selektiv‘ vs. ‚sequenziell‘) und dass zum anderen Praktiken des Hervorhebens (Highlighting nach Goodwin 1994, 2013, 2018) als Ressource zur Bearbeitung der Protokolle verwendet werden (Kern und Stövesand 2018). Stövesand (2019) zeigt außerdem, dass die sekundären Sinnbildungsprozesse der Studierenden häufig Bewertungen der beobachteten Praxis darstellen und dafür auch professionsspezifisches Wissen genutzt wird - allerdings ohne dies weiter zu reflektieren. Dennoch kann die Arbeit mit den Protokollen dazu führen, dass die Studierenden nicht nur Wis‐ sensbestände implizit heranziehen und als Bewertungsgrundlage verwenden, sondern auch eigene Wissensdefizite reflektieren. Der vorliegende Beitrag schließt an diese Arbeiten an und richtet den Fokus auf den Prozess der Fallkonstitution, d. h. auf die Art und Weise, wie die Studierenden Phänomene der Beobachtung in einen ethnographischen Fall transformieren. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Benen‐ nungs- und Rahmungsaktivitäten gelegt, mit denen die Studierenden versu‐ 223 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="224"?> chen, ihre Beobachtungen begrifflich zu fassen und einzuordnen. Die Leit‐ frage dieses Beitrags ist, ob bzw. wie es Studierenden gemeinsam gelingt, eine fachdidaktische Perspektive auf einzelne Ereignisse und bzw. oder Hand‐ lungen des beobachteten Unterrichtsgeschehens zu entwickeln (siehe Brei‐ denstein und Tyagunova in diesem Band) und anschließend ihr fachwissen‐ schaftliches und fachdidaktisches Wissen kritisch-reflexiv auf die beobachtete Praxis anzuwenden, indem sie deren (Nicht-)Passung - über Prozesse der Relationierung und Kalibrierung - diskursiv herstellen. Ziel ist damit eine auf gesprächsanalytischer Methodik beruhende schrittweise Re‐ konstruktion von Gegenstandskonstitution sowie Analyse- und Reflexions‐ handlungen der Studierenden durch Identifizierung und Beschreibung der entsprechenden Praktiken. Dabei soll stets das Lernpotenzial der Settings im Blick behalten werden; letztlich soll die Beschreibung der Praktiken auf‐ zeigen, welche Chancen und Risiken ethnographische Fallarbeit für die Ent‐ wicklung fachdidaktischer Professionalität haben kann. 3 Ethnographische Schriften als Auslöser und Organisatoren von Erinnerungen Ein wesentlicher Schritt in Richtung fachdidaktischer Reflexionen und damit zur angestrebten Professionalisierung stellt das gemeinsame Erinnern der Stu‐ dierenden an fachwissenschaftliche bzw. fachdidaktische Inhalte des Studiums dar. Davor müssen zunächst gemeinsame Erinnerungen an den beobachteten Unterricht aktualisiert, organisiert und verschriftet werden, um dann Grundlage für den im Gespräch hergestellten ethnographischen Fall zu werden. Nach Bietti (2011) und Bietti und Castello (2013) stellt gemeinsames Erin‐ nern eine situierte, zielgerichtete und körperliche Praktik dar, die der Her‐ stellung eines „common ground“ (Clark 2005; Clark und Brennan 1991) durch kollektive Gedächtnisinhalte dient. Durch sog. „Erinnerer“ (Bilder, Zeige‐ gesten) werden vergangene Ereignisse, „for the sake of a specific goal“ (Bietti 2011, 187) in die diskursive Gegenwart geholt. Gemeinsames Erinnern zeichnet sich durch Praktiken des Zustimmens, Ablehnens oder Korrigierens bzw. Reformulierens aus (ebd.). Insbesondere Zustimmungen können dazu führen, dass die gemeinsame Erinnerung verstärkt wird (Pagliali 2009). Des‐ weiteren unterstützen Erinnerer die Rekonstruktion vergangener Ereignisse oder Erfahrungen (Harris et al. 2011). Durch ihre Verwendung konstituiert sich eine spezifische sequenzielle Dynamik situierten kollektiven Erinnerns (Bietti und Castello 2013). 224 Friederike Kern <?page no="225"?> Auch in den vorliegenden Daten findet gemeinsames Erinnern statt, das kon‐ textuell eingebettet, spezifischen kommunikativen Zielen unterworfen und in diesem Sinne aufgabenorientiert ist. Die Aufgabenorientierung zeigt sich in der Art und Weise, wie Studierende gemeinsames Erinnern organisieren und worauf sie es beziehen. Als Auslöser und Organisator des gemeinsamen Erinnerns fun‐ gieren in den videographierten Seminarsitzungen zunächst die Feldnotizen und Protokolle, die den Studierenden vorliegen. Die Strukturierungsleistung der Schriftstücke für die Etablierung eines „participation frameworks“ (Goodwin und Goodwin 2004) zeigt sich schon zu Beginn der Arbeitssitzungen, wenn sie so auf den Tisch gelegt werden, dass sie für alle Beteiligten gut sichtbar (wenn auch häufig nicht für alle gleichermaßen gut lesbar) sind. Während des lau‐ fenden Gesprächs werden durch Zeigegesten und Berührungen ihre Inhalte ak‐ tualisiert und so in die Interaktion mit einbezogen (environmentally coupled ge‐ stures, Goodwin 2003). Gleichzeitig organisieren die Schriftstücke das gemeinsame Erinnern, da bevorzugt die Beobachtungen zur weiteren Bearbei‐ tung angeboten werden, die bereits durch eine Verschriftung relevant gesetzt wurden (vgl. Reh 2012). Die vorherige Relevanzsetzung wird so erneuert und die gemeinsamen Erinnerungen an die beobachtete Situation werden weiter ge‐ steuert. 4 Daten Die Daten stammen aus zwei unterschiedlichen Seminartypen, die verschie‐ denen Modulen im MEd. Grundschule zugehören, inhaltlich aber ähnlich auf‐ gebaut sind. Im Rahmen des ‚Unterrichtswissenschaftlichen Kolloquiums‘, das von Studierenden mit dem Schwerpunktfach ‚Sprachliche Grundbildung‘ ver‐ pflichtend besucht wird, erhielten die Teilnehmenden die Aufgabe, zu zweit eine ethnographische Fallstudie durchzuführen und sich dafür Zugang zu einer Deutschstunde in einer Schule zu organisieren. Danach sollten sie eine beliebige Deutschstunde teilnehmend beobachten und sich dabei an den methodischen Prinzipien ethnographischer Forschung orientieren. Vorher wurden sie in die ethnographische Feldforschung eingeführt und im ethnographischen Be‐ obachten und Verfassen von Feldnotizen geschult. Ein weiterer Teil der Daten wurde im Rahmen des sogenannten ‚Begleitse‐ minars‘ erhoben, das als Begleitung zum Praxissemester fungiert und fester Be‐ standteil der schulischen Praxisphase im MEd. ist. Auch hier erhielten Studie‐ rende die Aufgabe, während ihres Praktikums allein oder zu zweit eine ethnographische Fallstudie durchzuführen; entsprechend wurden sie gleicher‐ maßen zur Vorbereitung in die Ethnographie eingeführt und im ethnographi‐ 225 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="226"?> schen Beobachten trainiert. Im Unterschied zum ‚Unterrichtswissenschaftlichen Kolloquium‘ fand die Trainingsphase allerdings in größerem zeitlichen Abstand zur eigentlichen Fallstudie bereits im dem Praxissemester vorangehenden Se‐ mester statt. In beiden Seminartypen wurden die entstandenen Feldnotizen kurz nach der Beobachtung in einem ersten Schritt in einer gemeinsamen Arbeitsphase zu einem Beobachtungsprotokoll verschriftet. In einem zweiten Schritt sollten da‐ raufhin - streng induktiv - Analyseperspektiven für das Protokoll entwickelt werden. Beide Sitzungen, die in den jeweiligen Kleingruppen durchgeführt wurden, wurden videographiert und nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkri‐ biert. Von Seiten der Lehrenden wurden keine konkreten Richtungen oder Per‐ spektiven vorgegeben; es galten einfach die ethnographischen Prinzipien der Wertfreiheit und Detaillierung sowie die Grundidee der Fremdheit. Im Sinne qualitativer Paradigmen sollten sich die Perspektiven über eine erste, intuitive Auseinandersetzung mit der beobachteten Praxis aus den Daten selbst ergeben, was nicht zwingend zu fachdidaktischen Fokussierungen führen würde. D. h., dass bei den Beobachtungen vor allem sprachdidaktische Gegenstände von In‐ teresse sein sollten, war zwar keine konkrete Aufgabe für die einzelnen Sitz‐ ungen, ergab sich jedoch praktisch aus dem Seminarkontext und dem beobach‐ teten Unterricht: Die Beobachtung sollte ja im Deutschunterricht der Grundschule stattfinden. Tatsächlich zeigt sich, dass die Studierenden diese Orientierung durchaus im Kopf haben; dass es ihnen allerdings nicht immer gelingt, sie umzusetzen, wird bei der Rekonstruktion der Praktiken deutlich, mit denen die Fallkonstitution durchgeführt wird. 5 Analysen Im Folgenden werden nun zunächst die Schritte rekonstruiert, mit denen die Studierenden ethnographische Fälle aus ihren Beobachtungen konstituieren. In der ersten der beiden videographierten Sitzungen lassen sich schon erste Schritte einer solchen Fallkonstitution aufzeigen (Abschnitt 5. 1). Dabei gehen die Studierenden unterschiedlich vor: Während die erste Gruppe auf der Grundlage ihrer Notizen ein Ereignis herausgreift und es ganz im Sinne des Überraschungseffekts als besonders markiert (Beispiel 1), einigt sich die zweite Gruppe eher beiläufig auf einen potenziellen ethnographischen Fall (Beispiele 2 und 3). In der jeweils zweiten Sitzung entwickeln die Studier‐ enden nun einen ethnographischen Fall und beginnen ihn analytisch zu durchdringen (Abschnitt 5. 2). In den Blick genommen werden hier besonders die Aushandlungen der Begriffe, mit denen die Studierenden ihren Fall be‐ 226 Friederike Kern <?page no="227"?> zeichnen wollen, sowie die Einordnung dieser Begriffe in ein fachliches bzw. fachdidaktisches Reflexionsparadigma. 5. 1 Erster Schritt: Auf dem Weg zur Konstitution eines ethnographischen Falls Eine der zentralen Aufgaben der ersten Seminarsitzungen besteht darin, dass die Studierenden die Beobachtungen aus der Unterrichtsstunde in ein prosai‐ sches Beobachtungsprotokoll übertragen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe nutzen sie als Grundlage die ihnen gemeinsam zugänglichen Feldnotizen. Der erste Schritt zur Konstitution eines ethnographischen Falls ist also die gemein‐ same Transformation der schriftlich vorliegenden Feldnotizen beider Studier‐ ender zu einem gemeinsamen Beobachtungsprotokoll, das als Fließtext konzi‐ piert und erstellt wird. Dabei zeigt sich, dass bereits im Laufe des Schreibprozesses einzelne Beobachtungen als potenzielle Fälle herausgegriffen werden, an die sich weitere Analyse- und Reflexionstätigkeiten anschließen können. Wie die Studierenden dabei vorgehen und welche Folgen dies für den weiteren Verlauf hat, soll nun im Folgenden an Ausschnitten von zwei unter‐ schiedlichen Gruppen gezeigt werden. Die beiden vorgestellten Sequenzen sind dabei gewissermaßen als konträre Fälle zu verstehen, da in ihnen die Aufgabe der Fallkonstitution unterschiedlich bearbeitet wird, und sie auch zu unter‐ schiedlichen Ergebnissen kommen. Im ersten Beispiel nimmt die spätere Konstitution des ethnographischen Falls ihren Ausgangspunkt in einer gemeinsamen Erinnerung an die beobachtete Stunde, die durch einen Satz ausgelöst wird, den eine Studentin aus ihren Feld‐ notizen vorliest. In der Stunde hatte die Lehrkraft anhand des an die Tafel ge‐ schriebenen Satzes Die Polizei fängt den Dieb mit den Schüler/ innen die Recht‐ schreibregel des „Weiterschwingens“ für die richtige Schreibung am Wortende geübt. Das finite Verb fängt hatte sie dabei als besonders schwierig hervorge‐ hoben. Den Studierenden fällt nun auf, dass sie sich beide diese Bemerkung der Lehrkraft notiert haben. 227 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="228"?> 1 Zur fachdidaktischen Explikation der Regel „Weiterschwingen“ s. Abschnitt 5. 3. Beispiel (1): E_R_4/ E_R_6_061216_Protokoll Beispiel (1): E_R_4/ E_R_6_061216_Protokoll 2634 VE so; JETZT kommt fängt; =ne, 2635 SA JETZT kommt fängt, 2636 VE NUN [kommen wir zur regel des weiter] <<lachend> schwingens; > 2637 SA [DA hat die lehr, ] 2638 VE NEIN; 2639 SA DA hat die lehrerin, -> 2640 ich glaub das würde ich REINschreiben, (.) -> 2641 dass sie geSAGT hat,= -> 2642 =dAs war das schwierigste im ganzen SATZ; -> 2643 VE DA; = -> 2644 =ich hab geSCHRIEben,= -> 2645 =nächstes wort ist das SCHWIErigste im satz; 2646 SA na SIEHste, 2647 wenn man sich das dochʔ -> 2648 =wenn wir das ! BEI! de a[ufgeschri]eben haben, -> 2649 VE [SPANnung; ] -> 2650 SA AH_wuh; (.) 2651 das ja auch so ne SAche; 2652 ab wann man sagen kann,= 2653 =dass das jetzt das SCHWIErigste [im g]anzen satz, 2654 VE [NU: N; ] 2655 hat die lehrerin angeKÜNdigt, Beispiel (2): A_N_4_A_Z_3_06122016_Protokoll 1438 EL und DANN sag=FLÜStert sie nämlich leise zu dem kind, (.) -> 1439 hab ich AUFgeschrieben äh: m, (.) 1440 <<flüsternd> du machst WEIter; > 1441 hat sie so gesagt; 1442 zu d (.) zu dem verSAMMlungskind; 1443 also kind IX be[i un]s in de: r 1444 HA [hm: ; ] 1445 aber ich glaub das is ja auch KEIne die: -> 1446 das is ja keine verBESserung; so; (-) 1447 weißte wie ich das MEIne, 1448 EL NEE; =aber_ähm 1449 HA mit dem WOCHenziel, 1450 das sagen die auf DEUTSCH; ne,(.) 1451 EL geNAU; 1452 [(das ist auf deutsch); ] 1453 HA [das verBES]sert sie nich; ne, 1454 EL NEE,=dis das verBESsert sie nich, 1455 aber ich WEISS nich, 1456 ob wir uns DANN (.) auf die verBESseru: ng (.) MIT (.) alSO: ; -> 1457 falls wir uns noch auf das konzenTRIERN, -> 1458 WIE: : wie sie dem KIND das vielleicht ABnimmt; 1459 diese diese verSAMmlung; 1460 ich WEISS nich; (.) -> 1461 oder ob wir NUR auf die ve: r (.) BESserung gehn? (-) 1462 dann wärs halt noch mit DRINne; 1463 HA h[m; ] 1464 EL [wü]rd des noch verVOLLständigen vielleicht; 1465 WEIL (.) weil sie DANN ja: sozuSAgen 1466 die leitung wieder ABgibt; (.) Die Sequenz beginnt mit VEs Ankündigung, dass nun das nächste Wort und in diesem Zusammenhang die Regel des Weiterschwingens 1 in den Blick genommen wird. Unklar ist, ob VE hier selbst Autorin des Redebeitrags (im Goffman’schen Sinne) ist oder die Rede der Lehrkraft wiedergibt. Anschließend formuliert SA den Vorschlag, ein bestimmtes Ereignis in das Beobachtungsprotokoll aufzunehmen, nämlich die schriftlich festgehaltene Bemerkung der Lehrkraft, das nächste Wort (fängt) sei das schwierigste im ganzen Satz (Z. 2640 f.). VE kommentiert diesen Vorschlag mit dem Hinweis, sie hätte sich diese Bemerkung ebenfalls notiert; dazu verweist sie gestisch auf die vor ihr liegenden Feldnotizen (Z. 2643 f.). Von SA wird nun die Tatsache, dass sich beide Studierende diesen Satz auf‐ geschrieben haben, als auffällig hervorgehoben (Z. 2647). Anschießend charak‐ terisieren die Studentinnen diese Auffälligkeit spielerisch durch den Begriff „Spannung“ und nutzen dazu auch eine vokalische Darstellung (Z. 2649-2650). Ob sich „Spannung“ hier auf den Inhalt der Äußerung der Lehrkraft oder das gemeinsame Notieren bezieht, bleibt offen; deutlich wird in jedem Fall, dass hier ein Ereignis kooperativ aus dem kollektiven Erinnerungsstrom herausgehoben und mit einer besonderen affektiven Qualität der Unerwartbarkeit oder Über‐ raschung versehen wird. Nach Reh (2012) stellt das Notieren eines Ereignisses während der Beobach‐ tung im Feld bereits eine Form von Selektion dar, mit der es relevant gesetzt wird. 228 Friederike Kern <?page no="229"?> Dieser Relevanzsetzung tragen die Studierenden im vorliegenden Ausschnitt Rechnung, indem sie sie nicht nur affektiv kommentieren, sondern auch als An‐ lass dazu nehmen, das Ereignis in das Beobachtungsprotokoll zu übertragen. Die spontane Erzeugung des Ereignisses als spannend steht über diese Relevanzset‐ zung hinaus am Anfang einer Transformation, durch die das Ereignis im Laufe der weiteren Interaktionen zu einem ethnographischen Fall wird. Etwas anders im Ablauf gestaltet sich die Konstruktion des ethnographischen Falls in einer anderen Gruppe. Hier bildet sich der Fokus auf ein Verhalten der Lehrkraft schrittweise und eher implizit heraus. Die allmähliche Konstitution des Fokus und damit des ethnographischen Falls spiegelt sich in den Formulie‐ rungsversuchen, mit denen die Studierenden während des Niederschreibens des Beobachtungsprotokolls immer versuchen, die Handlungen der Lehrkraft wäh‐ rend eines Morgenkreises zu beschreiben. Exemplarisch seien hier zwei Ausschnitte aus der ersten Seminarsitzung ge‐ zeigt, in denen eine Studierende - wie im ersten Beispiel - ein Ereignis hervor‐ hebt, indem sie darauf verweist, sie hätte es während der Beobachtung notiert. Anschließend diskutieren die beiden Studierenden darüber, ob es sich bei dem beobachteten Ereignis um eine Verbesserung handeln würde. Beispiel 2: A_N_4_A_Z_3_06122016_Protokoll Beispiel (1): E_R_4/ E_R_6_061216_Protokoll 2634 VE so; JETZT kommt fängt; =ne, 2635 SA JETZT kommt fängt, 2636 VE NUN [kommen wir zur regel des weiter] <<lachend> schwingens; > 2637 SA [DA hat die lehr, ] 2638 VE NEIN; 2639 SA DA hat die lehrerin, -> 2640 ich glaub das würde ich REINschreiben, (.) -> 2641 dass sie geSAGT hat,= -> 2642 =dAs war das schwierigste im ganzen SATZ; -> 2643 VE DA; = -> 2644 =ich hab geSCHRIEben,= -> 2645 =nächstes wort ist das SCHWIErigste im satz; 2646 SA na SIEHste, 2647 wenn man sich das dochʔ -> 2648 =wenn wir das ! BEI! de a[ufgeschri]eben haben, -> 2649 VE [SPANnung; ] -> 2650 SA AH_wuh; (.) 2651 das ja auch so ne SAche; 2652 ab wann man sagen kann,= 2653 =dass das jetzt das SCHWIErigste [im g]anzen satz, 2654 VE [NU: N; ] 2655 hat die lehrerin angeKÜNdigt, Beispiel (2): A_N_4_A_Z_3_06122016_Protokoll 1438 EL und DANN sag=FLÜStert sie nämlich leise zu dem kind, (.) -> 1439 hab ich AUFgeschrieben äh: m, (.) 1440 <<flüsternd> du machst WEIter; > 1441 hat sie so gesagt; 1442 zu d (.) zu dem verSAMMlungskind; 1443 also kind IX be[i un]s in de: r 1444 HA [hm: ; ] 1445 aber ich glaub das is ja auch KEIne die: -> 1446 das is ja keine verBESserung; so; (-) 1447 weißte wie ich das MEIne, 1448 EL NEE; =aber_ähm 1449 HA mit dem WOCHenziel, 1450 das sagen die auf DEUTSCH; ne,(.) 1451 EL geNAU; 1452 [(das ist auf deutsch); ] 1453 HA [das verBES]sert sie nich; ne, 1454 EL NEE,=dis das verBESsert sie nich, 1455 aber ich WEISS nich, 1456 ob wir uns DANN (.) auf die verBESseru: ng (.) MIT (.) alSO: ; -> 1457 falls wir uns noch auf das konzenTRIERN, -> 1458 WIE: : wie sie dem KIND das vielleicht ABnimmt; 1459 diese diese verSAMmlung; 1460 ich WEISS nich; (.) -> 1461 oder ob wir NUR auf die ve: r (.) BESserung gehn? (-) 1462 dann wärs halt noch mit DRINne; 1463 HA h[m; ] 1464 EL [wü]rd des noch verVOLLständigen vielleicht; 1465 WEIL (.) weil sie DANN ja: sozuSAgen 1466 die leitung wieder ABgibt; (.) 229 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="230"?> Beim dem Ereignis, das die Studierende während der Beobachtung schriftlich festgehalten hat, handelt es sich um eine Aufforderung an das Kind, das während des Morgenkreises die Gesprächsleitung übernommen hat, mit der nächsten Frage weiterzumachen. HA wirft ein, dass es sich dabei jedoch um keine Ver‐ besserung handeln würde. Dieser Einwurf ist insofern überraschend, als sich die Studierenden im vorherigen Verlauf noch nicht explizit mit Verbesserungen der Lehrkraft beschäftigt haben; tatsächlich fällt der Begriff hier zum ersten Mal. Allerdings wurde schon vorher öfter auf die Handlungen der Lehrkraft ver‐ wiesen, wenn auch mit anderen Begriffen, wie z. B. als eingreifen, unterbrechen, annehmen und helfen. In dieser durchgängigen Begriffsarbeit spiegeln sich die Versuche der Studierenden, eine Beobachtung (hier: die Handlungen der Lehr‐ kraft in einem bestimmten Unterrichtsarrangement) zu einem Fall zu transfor‐ mieren. Der Ausschnitt demonstriert somit, dass die Studierenden sich offenbar wäh‐ rend des laufenden Gesprächs darauf festgelegt haben, dass sie Handlungen der Lehrkraft, die im weitesten Sinne als Verbesserungen bezeichnet werden können, zum ethnographischen Fall transformieren wollen, ohne dass dies ex‐ plizit zur Sprache gekommen ist. Die Erinnerungen an den beobachteten Stun‐ denausschnitt werden hier also schrittweise einer bestimmten Wahrnehmungs‐ perspektive unterworfen. Zum Ende der Sitzung, als die Studierenden das Protokoll abschließen wollen, fällt einer Studentin auf, dass sie zwar auf zwei Seiten den Morgenkreis detail‐ liert beschrieben haben, dieser aber zum Teil als Englischunterricht genutzt wurde, und dass die nachfolgende Deutschstunde nun gar nicht mehr im Pro‐ tokoll auftaucht. Gemeinsam überlegen die Studierenden nun, wie sich der von ihnen konstituierte Fall dennoch deutschdidaktisch rahmen ließe. 230 Friederike Kern <?page no="231"?> Beispiel 2: A_N_4_A_Z_3_06122016_Protokoll Beispiel (3): A_N_4_A_Z_3_06122016_Protokoll 2526 HA aber weißt was da_das proBLEM ist, 2527 das is natürlich auch alles auf ENGlisch; =ne? (-) 2528 das hat ja nicht mit der SPRAʔ -> 2529 also mit DEUTSCH (.) didaktik zu tun; (1.5) 2530 dass die das nich alle verfünftig SAgen können, 2531 is ja KLAR; (1.5) 2532 EL ja_aber dann WÄR (.) 2533 JA=a? 2534 also das is ja äh 2535 ich mein wir sprechen ja auch kein perfektes ENGlisch; = 2536 =wennʔ die würden uns ja auch wahrscheinlich verBESsern; 2537 also weißte wie ich das MEIne, 2538 EL JA; 2539 HA aber EIgentlich müssten die das ja schon kennen, 2540 weil die das ja ganz oft MAchen; 2541 DES[halb]; 2542 EL [JA: ; ] -> 2543 und es geht ja auch darum wie die ähm -> 2544 lehrkraft sozusagen EINgreift; -> 2545 HA WIE die eingreift; =ne? 2546 EL geNAU; 2547 geNAU; -> 2548 HA das würde sie ja so im deutschen ja AUCH machen; 2549 EL geNAU; 2550 das denk ich AUCH; 2551 und die sprechen ja auch zwischendurch DEUTSCH; = 2552 =°h solln wir noch_n satz zum ENde schreiben, 2553 dass die versammlung beENdet is, Nachdem die Studierenden gerade vorher festgestellt hatten, dass sie bereits zwei Seiten Beobachtungsprotokoll verfasst haben, äußert HA Zweifel darüber, dass der Inhalt des Protokolls für eine deutschdidaktische Analyse genutzt werden kann. Nach einem kurzen Austausch darüber, ob die beobachteten Ver‐ besserungen der Lehrkraft notwendig waren (Z. 2535-2542), argumentiert EL schließlich, dass ihr Fokus ja darauf läge, wie die Lehrkraft eingreift (Z. 2544) und dass sie dies im Deutschen wahrscheinlich ähnlich machen würde. Schließ‐ lich fügt sie noch an, dass zwischendurch im Morgenkreis außerdem auch Deutsch gesprochen würde. Damit wird die Argumentation für den gewählten Analysefokus, die deutlich eine Orientierung an der Aufgabenstellung erkennen lässt, an dieser Stelle beendet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Studierenden sich schon früh - während des Schreibens des Protokolls - der Frage nach einem potenziellen ethnographischen Fall widmen, dabei jedoch unterschiedlich vor‐ gehen. Während die erste Gruppe ihre Notizen dazu nutzt, ein einzelnes Ereignis als besonders zu markieren und es entsprechend in das Protokoll zu über‐ nehmen, richtet die zweite Gruppe ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Hand‐ lungen der Lehrkraft, die sie mit unterschiedlichen Begriffen belegen. Allerdings 231 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="232"?> kann die erste Gruppe für ihre eigene Rahmung eine Relevanzsetzung der Lehr‐ kraft nutzen, nämlich ihre in die Feldnotizen geflossene Äußerung, das folgende Wort sei das schwerste im ganzen Satz. Wie sich zeigen wird, haben die unter‐ schiedlichen Vorgehensweisen und Rahmungen nicht nur für die Konstitution des ethnographischen Falls Konsequenzen, sondern auch in unterschiedlicher Weise Potenzial, analytische Überlegungen anzuschließen. 5. 2 Zweiter Schritt: Begriffliche Aushandlung und thematische Fokussierung zur Festlegung des Analysefokus Im Folgenden wird nun der Blick auf die zweite der beiden Seminarsitzungen gerichtet, in der die Studierenden zunächst einen ethnographischen Fall kon‐ stituieren und über diesen erste Analyseüberlegungen anstellen. Nachdem die Studierenden in der ersten gemeinsamen Sitzung schon wäh‐ rend des Verfassens des Beobachtungsprotokolls einen potenziellen ethnogra‐ phischen Fall aus den Beobachtungen gemeinsam konstituiert haben, überlegen sie jetzt gemeinsam, wie sie diesen Fall im Sinne der Aufgabenstellung rahmen könnten. 232 Friederike Kern <?page no="233"?> Beispiel (4): TRSK_E_R_4_E_R_6_131216_Analyse Beispiel (4): TRSK_E_R_4_E_R_6_131216_Analyse 005 SA vielleicht sollten wir erstmal überLEgen, (1.5) 006 ob wir das (2.0) hm 007 VE nur das WEIterschwingen; oder, 008 SA jaJA aber ich’ (-) -> 009 ob wir das dann (-) unter dem (-) f_fachlich linguISTischen,= -> 010 =oder ob wir das °h diDAKtisch; -> 011 wie sie das UMgesetzt hat; = 012 =das (-) [also ] 013 VE [BEIdes; ] 014 würd ich machen; 015 (3.5) -> 016 VE aber (.) gut (-) FACHlich; ähm; -> 017 was willste da jetzt (1.0) großartig zu MAchen; 018 ((lacht)) 019 SA naja [welchen Ansatz] sie halt gewählt hat, 021 VE [x x x ] 022 (4.0) 023 SA das sie halt (-) 024 vielleicht einfach ERST satz gemacht hat, 025 und DANN das zeichen, 026 und nicht das ZEIchen anhand des (-) -> 027 VE aber das_s diDAKtisch; 028 (1.0) 029 VE oder NICHT, 030 (1.5) 031 VE ((lacht)) 032 SA ((lacht)) 033 VE also ich würde SAgen,(- -) 034 dass wir (-) vielleicht nur die WÖRter nehmen; 035 die auch zum WEIterschwingen; (--) 036 SA [oKAY also; 037 VE [dann NEHmen; 038 also DIEB; 039 und FANgen, -> 040 SA <<p> komm (.) das schreiben wir mal> (-) AUF; 041 VE FÄNGT; 042 nicht FANgen; 043 SA hm_hm; (.) FÄNGT; 044 °hh also (-) [DIE: B; 045 und FÄNGT; 046 [(( schreibt beide Wörter auf )) Auf den gemeinsamen Analysegegenstand Weiterschwingen einigen sich die Studierenden schnell; umgehend wird aber auch klar, dass die Festlegung noch nicht ausreichend ‚fachlich‘ oder ‚fachdidaktisch‘ gerahmt ist. Hier offenbart sich die Orientierung der Studierenden an der (impliziten) Aufgabenstellung des Seminars, ethnographische Fälle aus fachdidaktischer oder fachlicher Per‐ spektive zu analysieren. Der Austausch offenbart außerdem Unklarheit da‐ rüber, was unter ‚fachlich‘ bzw. ‚fachdidaktisch‘ genau zu verstehen sei. Schließlich einigen sich die Studierenden in aller Vorläufigkeit darauf, Fach‐ liches spiele hier anscheinend keine Rolle und fachdidaktisch bedeute, wie dies umgesetzt würde. Anschließend werden zwei Wörter, die in der beobachteten 233 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="234"?> Stunde an der Tafel standen, als relevant markiert; hier beginnt die Verschrif‐ tung. Anhand der beiden zentralen Wörter Dieb und fängt versuchen die Stu‐ dierenden dann in der Folge, sich dem Konzept des Weiterschwingens zu nä‐ hern (Abschnitt 4. 3) Abb. 1: Analytische Notiz (Gruppe 1) Mit dieser Verschriftung ist der ethnographische Fall festgelegt; die Analyse‐ rahmung wird als ‚didaktisch‘ bezeichnet. Diese bleibt jedoch im Wesentlichen vage; der Begriff wird lediglich dadurch weiter spezifiziert, dass er etwas damit zu tun hat, wie etwas im Unterricht umgesetzt wird (Z. 11). Auch in Beispiel (5), das aus der Analysesitzung der zweiten Gruppe stammt, bearbeiten die Studierenden zu Anfang den Auftrag, aus dem Beobachtungs‐ protokoll einen ethnographischen Fall zu konstruieren, um ihn dann analytisch zu betrachten. Nach der gemeinsamen Lektüre des Beobachtungsprotokolls macht eine der Studentinnen einen sehr konkreten begrifflichen Vorschlag, der sofort von ihrer Partnerin aufgegriffen wird. 234 Friederike Kern <?page no="235"?> Beispiel (5): A_N_4_A_Z_3_131216_Analyse Beispiel (5): A_N_4_A_Z_3_131216_Analyse 007 ER aha oKAY; 008 hab ichs (.) äh_ich habs vor unserem tandem 009 mir nochmal DURCHgelesen; > 010 ((gemeinsames Lesen ca. 5.0)) -> 011 EL also wolln wir jetzt schon den FOkus darauf legen,= 012 =ja wie sie: : -> 013 HA verBESsert? 24935>? ? 014 EL ja; (-) -> 015 beziehungsweise wie sie EINgreif[t; =] 016 HA [hm,] 017 EL =in das HANDlung[sge]schehen; = <27801> 018 HA [hm; ] -> 019 EL warte ich schreibs <<creaky> hier mal gleich AUF; > (...) (( hauptsächlich schreibt EL )) 030 HA übers HANDlungsgeschehen- 031 oder verSAMMlungsritual- 032 oder was auch IMmer; ne, 033 EL ja dann nehm ich rituAL; 034 das ist oKAY; Beispiel (6): A_N_4_A_Z_3_131216_Analyse 065 HA sollma anSTATT au oder EINgreifen, 066 beziehungsweise auch verBESsern, -> 067 mündliche verBESserung durch die lehrkraft? 121664> -> 068 weil es geht ja schon son bisschen um SPRACHdidaktik; =ne? = -> 069 das wär ja: SONST (-) erZIEHungswissenschaften viel auch; =ne? 070 (3.0) 071 EL <<lesend> eine verBESserung geschrieben,> 072 und DANN, 073 HA M[ÜNDliche: ] 074 EL [(xxx xxx) ] -> 075 HA mündliches verBESsern oder sowas; <136317> 076 alSO: : - (2.5) 077 EL JA; <<p> ich schreibs mal einfach HIN; > 078 HA KLA_äh in KLAMmern; 079 EL <<schreibend> wir KÖ[NN das ja entWICKeln; ] 080 HA [das könn wir ] 081 ja geNAU; 42733> Hier ko-konstruieren EL und HA den Vorschlag, sich mit den Handlungen der Lehrkraft während des beobachteten Morgenkreises auseinanderzusetzen (Z. 11-13). Die gemeinsame Bearbeitung dieses Vorschlags ist durch verschiedene Formulierungsversuche gekennzeichnet, die z.T. die Begriffe aus der vorherigen Sitzung aufgreifen: Verbessern wird mit eingreifen gleichgesetzt und durch in das Handlungsgeschehen ergänzt (Z. 13, 15 und 17). Noch während EN dies notiert, schlägt HA vor, den Begriff Handlungszusammenhang durch Versammlungsri‐ tual zu ersetzen (Z. 31); sie greift damit eine Formulierung auf, auf die die Stu‐ dierenden sich in der vorherigen Sitzung geeinigt hatten. Die Formulierung wird von EL mündlich und durch Aufschreiben ratifiziert. Damit ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Fallkonstitution gemacht. Etwas später schlägt HA jedoch vor, Eingreifen durch Verbessern zu ersetzen und dann mit mündlich zu erweitern. 235 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="236"?> Beispiel (6): A_N_4_A_Z_3_131216_Analyse 018 HA [hm; ] -> 019 EL warte ich schreibs <<creaky> hier mal gleich AUF; > (...) (( hauptsächlich schreibt EL )) 030 HA übers HANDlungsgeschehen- 031 oder verSAMMlungsritual- 032 oder was auch IMmer; ne, 033 EL ja dann nehm ich rituAL; 034 das ist oKAY; Beispiel (6): A_N_4_A_Z_3_131216_Analyse 065 HA sollma anSTATT au oder EINgreifen, 066 beziehungsweise auch verBESsern, -> 067 mündliche verBESserung durch die lehrkraft? 121664> -> 068 weil es geht ja schon son bisschen um SPRACHdidaktik; =ne? = -> 069 das wär ja: SONST (-) erZIEHungswissenschaften viel auch; =ne? 070 (3.0) 071 EL <<lesend> eine verBESserung geschrieben,> 072 und DANN, 073 HA M[ÜNDliche: ] 074 EL [(xxx xxx) ] -> 075 HA mündliches verBESsern oder sowas; <136317> 076 alSO: : - (2.5) 077 EL JA; <<p> ich schreibs mal einfach HIN; > 078 HA KLA_äh in KLAMmern; 079 EL <<schreibend> wir KÖ[NN das ja entWICKeln; ] 080 HA [das könn wir ] 081 ja geNAU; 42733> Mit ihrem Refomulierungsvorschlag (Z. 67) liefert HA für die gemeinsame Fall‐ konstitution eine Begründung, in der sich ihre Aufgabenorientierung zeigt: Mündliche Verbesserung impliziere eher eine sprachdidaktische Fokussierung als Eingreifen, das erziehungswissenschaftlicher sei. Durch die beiden genannten Begriffe (sprachdidaktisch vs. Erziehungswissenschaften), die in einen kontrast‐ iven Begründungszusammenhang gestellt werden, werden jeweils unterschied‐ liche Rahmungen des Falls - fachdidaktisch oder allgemeindidaktisch - vorge‐ nommen. Diese verschiedenen Rahmungen verbleiben dabei im Vagen und werden auch später oder im Verlauf der weiteren Sitzungen nicht weiter expli‐ ziert oder mit Bezug auf den beobachteten Fall begründet, z. B. durch eine Ant‐ wort auf die (nicht gestellte) Frage, warum mündliche Verbesserung sprachdi‐ daktischer sei als Eingreifen. Dennoch wird mündliche Verbesserung nach einem Schrägstrich hinter Eingreifen notiert (s. Abb. 2). Die zum Schluss der Sitzung angefertigte Mindmap veranschaulicht diese Unbestimmtheit noch einmal: Unter der analytischen Kategorie „Eingreifen/ Arten der mündlichen Verbesserung“ werden verschiedene Beobachtungen sub‐ sumiert und eigens entwickelten Unterkategorien zugeordnet. Die dafür ge‐ wählten Begriffe sind z.T. linguistisch-pragmatisch („Verständnisfrage“; „Auf‐ forderung“), z.T. benennen sie übergeordnete Handlungen (Hilfestellung; Vorwegnahme, Übernahme der Versammlungsleiterrolle). Das Fazit fasst die „Intention“ der Lehrkraft zusammen und bewertet - interessanterweise unter der Überschrift „Ausblick“ - zusammenfassend (und damit rückblickend) die Handlungen der Lehrkraft. 236 Friederike Kern <?page no="237"?> Abb. 2: Analytische Notiz (Gruppe 2) Zusammenfassend zeigt sich an den Ausschnitten aus den beiden Gruppen, dass offenbar eine große Ungewissheit hinsichtlich der Bedeutungen verschiedener Begriffe (fachlich, (sprach-) didaktisch, erziehungswissenschaftlich) besteht. Die unklaren Begriffsbedeutungen sowie ihre fehlenden Explikationen im Verlauf des Gesprächs können als Indiz für die Schwierigkeit verstanden werden, zwi‐ schen den verschiedenen Rahmungen - sprachdidaktisch vs. erziehungswis‐ senschaftlich - klar in Bezug auf den beobachteten Gegenstand zu unter‐ scheiden. Darüber hinaus nimmt die zweite Gruppe den Unterrichtsgegenstand bzw. das Unterrichtsziel - in dem Falle die Vermittlung einiger englischer Phrasen im Kontext eines Morgenkreis-Rituals - kaum in den Blick. Entspre‐ chend weist das nachfolgende Gespräch keine fachdidaktischen Reflexionen auf, wie sie im Sinne der Aufgabenerstellung bzw. des Seminarkontexts er‐ wünscht waren; stattdessen versuchen die Studierenden, den beobachteten Handlungen der Lehrkraft einen didaktischen Sinn zu geben, indem sie ihnen eine pädagogisch-didaktische Motivation unterstellen und sich bemühen sie nachzuvollziehen. 237 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="238"?> 5. 3 Reflexionen über den Analysegegenstand: Fachdidaktisches Wissen als ‚interactional achievement‘ Dagegen versuchen die Studierenden der ersten Gruppe (Beispiele 1 und 4) im weiteren Verlauf der Seminarsitzung, ihr fachdidaktisches Wissen aus dem Stu‐ dium gemeinsam zu erinnern und auf den Fall anzuwenden. Die Reflexionen schwanken dabei zwischen der Frage, was Weiterschwingen konkret sei - widmen sich also der Explizierung und Konkretisierung der Rechtschreibregel nach ReLv (=Rechtschreiben erforschen - Lesen verstehen) in Bezug auf die notierten Wörter Dieb und fängt - und ob es sinnvoll sei, die Regelanwendung so zu üben, wie es im Unterricht geschehen ist. Exemplarisch seien zwei Praktiken vorgestellt, mit denen die Studierenden fachliches und fachdidaktisches Wissen gemeinsam aktualisieren und in Bezug auf den Fall zu konkretisieren versuchen. Beispiel (7): „Verschieben“ („TRSK_E_R_4_E_R_6_131216_A“) Beispiel (7): "Verschieben" (TRSK_E_R_4_E_R_6_131216_A) 077 SA ist immer noch die FRA: ge, 078 bei [DEM wort hier; 079 VE [ob das 080 mach mal nen FRAgezeichen dran; 081 weiterSCHWINgen: 082 (( SA schreibt entsprechend )) 083 VE aber es geht DOCH, -> 084 das is doch (.) ähm: (0.5)|[AUSlautverhärtung; 085 |(( zeigt mit re Hand auf Protokoll 086 SA [für MICH 087 VE darum GEHTS doch eigentlich; 088 SA ja JA; 089 aber das ist ja hier,= 090 =dann würde_s sich ja um das TE und nicht das GE: , 091 °h -> 092 VE aber bei VERben, -> 093 weiß ich nicht wie das IST; -> 094 vielleicht is das dann SO, -> 095 dass du die GRUNDform bildest, 096 SA dann müssen wir mal HIER 097 (( SA schreibt )) 098 VE also INfinitiv, (.) 099 und dann (.)dingens; 100 (( S schreibt )) (2.5) -> 101 SA das WEIß ich nämlich grad [nicht mehr; ] -> 102 VE [müssen wir ] NACHgucken; -> 103 SPÄter; 104 (( SA schreibt )) 105 SA so; 106 das erstmal geneRELL; In dem Ausschnitt wird darüber reflektiert, wie die Regel des Weiterschwingens auf das Wort fängt anzuwenden ist. Zunächst wird das Wort auf dem Notizzettel mit einem Fragezeichen gekennzeichnet (s. auch Bild 1 oben) und somit als 238 Friederike Kern <?page no="239"?> Problem markiert. Mit dem Begriff der Auslautverhärtung, an den sich VE hier erinnert, versucht sie zu einer fachlichen Beschreibung dessen zu gelangen, dass das Phonem [k] im Auslaut von fängt mit <g> verschriftet wird (Z. 084). SA stimmt dem zwar zu, weist dann aber (fälschlicherweise) darauf hin, der Prozess der Auslautverhärtung bezöge sich auf das <t> und nicht auf das <g>. Dieser Widerspruch wird nicht weiter bearbeitet oder aufgelöst; stattdessen überlegt VE nun, welche Operationen auf Verben angewendet werden müssten, um unter Anwendung der unterspezifizierten Regel Weiterschwingen zur richtigen Schrei‐ bung von fängt zu kommen (Z. 92 f.). Beim Weiterschwingen (in den ReLv-Materialien manchmal auch als „Verlän‐ gern“ bezeichnet) handelt es sich um eine von vier sogenannten Rechtschreibstra‐ tegien des ReLv-Konzepts (neben Schwingen, Ableiten und Merken). Damit soll die orthographisch korrekte Schreibung von Wörtern erkannt werden, bei denen ein stimmhafter Obstruent in der Silbencoda entstimmt wird. Dieser im Deut‐ schen regelhaft auftretende phonologische Prozess wird als Auslautverhärtung bezeichnet, die jedoch - und das ist entscheidend für die orthographisch korrekte Form - keine graphematische Entsprechung hat. Aus fachlicher Sicht liegen dem Weiterschwingen je nach Wortart unterschiedliche linguistische Operationen zu‐ grunde. Beispielsweise können Nomen durch Pluralbildung „verlängert“ werden (Hund → Hund-e), Adjektive durch Komparation (rund → rund-er) oder es können - in einem komplexeren Verfahren - flektierte Verbformen über das Stammmorphem zur Infinitform geführt werden (fängt → {fang} → fang-en). Die Überführung des entsprechenden Wortes in eine morphologisch komplexere Form resultiert in einer veränderten Silbenstruktur, durch die der vormals entstimmte Obstruent in der Silbencoda nun im Anfangsrand einer Silbe steht und somit in seiner ursprünglichen stimmhaften Variante. Die kurze Erläuterung verdeutlicht, dass mit „Weiterschwingen“ verschie‐ dene linguistische Operationen und komplexe morphologische und silbische Prozesse bezeichnet werden. Ob die didaktisch motivierte begriffliche Reduk‐ tion tatsächlich zu einem besseren Verständnis der zugrundeliegenden Prozesse und damit schneller zu korrekten Schreibungen seitens der Schüler und Schü‐ lerinnen führt, ist bislang nicht gezeigt worden. In Bezug auf das Wort aus dem Unterricht (fängt) nennt VE zwar die richtige Operation (Bildung des Infinitivs), da aber auch SA ihr Nicht-Mehr-Erinnern formuliert (Z. 101), schlägt VE vor, später nachzuschlagen um die Unklarheit aufzulösen. Damit wird die Lösung des Problems auf später verschoben. Diese Praxis des Verschiebens greift, wenn Wissensgrenzen erreicht werden. Dabei kommt es zwar kaum zu Reflexionen, aber zumindest zu Problemmanifestati‐ onen in Bezug auf (fehlendes) fachliches bzw. fachdidaktisches Wissen. Auch 239 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="240"?> die Nennung des Fachterminus (Auslautverhärtung) führt nicht dazu, dass das vorliegende Phänomen reflektiert wird. Damit bleibt es bei dem Versuch, das Weiterschwingen von fängt mit passendem linguistischen Wissen zu klären. Wenig später stoßen die Studierenden erneut auf Schwierigkeiten bezüglich der Explikation und Anwendung der Regel des Weiterschwingens, diesmal beim Wort Dieb. Dem Ausschnitt geht ein längeres Gespräch über die Frage voran, ob „Weiterschwingen“ mit „Mehrzahl bilden“ gleichzusetzen sei. Beispiel (8): „Googlen“ Beispiel (8): „Googlen“ 755 VE okee; 756 schreib mal daZU; 757 aber hier steht AUCH, 758 es heißt die DIEbe, 759 also schreibt man dieb mit BE; (.) 760 das ist auch MEHRzahl; 761 SA ja und da: : , 762 VE ist IMmer [mehrzahl; ] 763 SA [ist die FRAge,] -> 764 ob ich das jetzt grade GOOgel,] 765 VE ((lacht)) 767 SE würd ich jetzt unter norMALen umständen, 768 <<all> wir sollen uns ja so benehmen als würden wir hierʔ 769 |unter normAlen Umständen würd ich das jetzt GOOgeln; 770 |(( holt ihr Smartphone aus der Tasche )) 771 (( bedient ihr Smartphone, VE schaut mit drauf )) -> 772 SA und dann GOOgel ich das jetzt mal; (-) 773 RE: LV,(--) 774 <<flüsternd> WEIterschwingen,>(--) 775 moMENT; 776 RELV, 777 |RELv schreibt man- 778 |(( tippt auf dem Smartphone )) 779 VE er eh el vau; 780 SA <<all> er EH el vau; =ne>; 781 VE ja; 782 SA weil der das IRgendwie nichʔ 783 weiter (-) SCHWINGen; 784 (( Smartphone-Bedienung ca. 6 Sekunden )) 785 SA (( seufzt )) 786 hier IST was; 787 MUSterseite; ((lacht)) 788 (2.0) 789 SA ä: m HIER; 790 <<all> WEIterschwingn>; -> 791 |einsilbige wÖrter werden grUndsätzlich -> 792 auf die zwEisilbige form zuRÜCKgeführt; 793 |(( liest vom Smartphone ab )) -> 794 VE also einfach ZWEI silben; -> 795 SA hier steht auch LEGT LEgen; (-) 796 also ZÄHLTS auf jeden fall; 797 VE [le: : gt; ja; 798 SA [|die morphologische REgel, 799 |das das selbe morPHE: M,(.) 780 |in verwandten formen IMmer konstant bleibt, 781 |SCHWIMMsch; > 782 |(( liest vom Smartphone ab )) 240 Friederike Kern <?page no="241"?> Nachdem das Smartphone zu Rate gezogen wurde, einigen sich die beiden Stu‐ dierenden in Anlehnung an Vorgelesenes aus dem Internet auf eine Art Defini‐ tion von „Weiterschwingen“, nämlich „einfach zwei Silben“. Das ist zwar an‐ satzweise richtig, da es für die beiden Beispielwörter gilt; die Frage jedoch, welche linguistischen Operationen angewendet werden müssen, um Zweisilber zu bilden, wird wieder höchstens indirekt beantwortet (d. h. durch Pluralbildung und Bildung des Infinitivs der entsprechenden Wörter, vgl. Bsp. 8, Zeilen 758- 762 sowie Bsp. 7. Zeilen 92-95). Damit verbleibt das interaktiv aktualisierte lin‐ guistische und sprachdidaktische Wissen vage und von Ungewissheit bestimmt. Da die Studierenden ihren Fokus insgesamt vor allem darauf legen, die Motive der Lehrkraft für bestimmte Handlungen bzw. Abläufe im Unterricht nachzu‐ vollziehen (vgl. dazu auch Kern und Stövesand 2018 sowie Stövesand 2019), widmen sie sich auch in der Folge der Klärung dieser Fragen nicht mehr. Auch wenn die Studierenden gemeinsam an einer Passung ihres (vagen) sprachwissenschaftlichen Wissens mit dem bei der Lehrerin beobachteten di‐ daktischen Handeln arbeiten, geht es ihnen nicht darum, das Handeln der Leh‐ rerin vor dem Hintergrund fachlicher Theorien zu beleuchten (und ggfs. zu hin‐ terfragen), sondern lediglich das passende fachliche Konzept zum didaktischen Handeln finden. Jedoch ist es aus sprachdidaktischer Sicht höchst fragwürdig, ob der Begriff des Weiterschwingens Schülern und Schülerinnen ausreichende Erklärungen - und Strategien - für die Erschließung der korrekten Schreibweise bei Auslautverhärtung im phonologischen Wort liefert, da er die verschiedenen linguistischen Operationen, die je nach Wortart durchgeführt werden müssen, nicht spezifiziert. Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass der Fall, der am Anfang der Sitz‐ ungen konstituiert wird, erhebliche Auswirkungen auf die analytische Richtung hat, die die Studierenden einschlagen, und damit auch auf die Angemessenheit der Aufgabenbearbeitung im Sinne der Aufgabenstellung, nämlich ihm eine fachdidaktische Wendung zu geben. Dennoch markiert die interaktive Etablie‐ rung und Verhandlung linguistischer und sprachdidaktischer Inhalte im Sinne eines „interactional achievements“ (Schegloff 1982) den Beginn der Kalibrierung des Passungsproblems von Theorie und Praxis und damit einer Annährung an eine ‚professional vision‘. 5. 4 Transformation gemeinsamer Erinnerungen zu einer ‚professional vision‘? Wie am Anfang dargelegt, kann das Konzept des ‚reflective practitioners‘ (Schön 1983) mit dem Konzept der ‚professional vision‘ von Goodwin (1994; 2018) - im Sinne einer beständigen Relationierung und Kalibrierung von theoretischem 241 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="242"?> Wissen und praktischen Erfahrungen - verbunden werden. Vor diesem Hinter‐ grund lassen sich die Formulierungs- und Begriffsvorschläge der Studierenden als Versuche deuten, gemeinsam eine professionelle Sichtweise auf die von ihnen beobachtete Deutschstunde zu erzeugen, indem nach den passenden Fachtermini für die beobachteten Phänomene gesucht wird sowie (vorläufige) Begriffsdefinitionen erarbeitet werden. Dabei beginnt der Aushandlungsprozess für die Studierenden bei der Frage, was überhaupt als professionelle (deutsch‐ didaktische) Sichtweise zu verstehen sei. Hier zeigt sich, dass die Studierenden - ganz im Sinne des Bielefelder Konzepts ethnographischer Fallarbeit in der deutschdidaktischen Lehrerbildung - stark vom beobachteten Gegenstand aus‐ gehen, um die Frage zu beantworten: Das, was den Studierenden im Sinne der Aufgabenstellung ‚auffällt‘, wird in einem ersten Schritt gemeinsam als (ethno‐ graphischer) Fall konstruiert (vgl. auch Kern und Stövesand 2018). Im Kontext der Begriffsarbeit und damit verknüpften Rahmungsaktivitäten sind lokale Reflexionen mit linguistischen und sprachdidaktischen Theorien‐ anteilen erkennbar. Sie können als Versuche verstanden werden, eine ‚profes‐ sional vision‘ auf ausgewählte Aspekte der beobachteten Unterrichtssituationen herzustellen, und somit als sichtbare Praktiken der Relationierung und Kalib‐ rierung von fachdidaktischem Wissen und beobachteter Erfahrung. Es über‐ wiegt allerdings eine Perspektive auf die Handlungen der Lehrkräfte als zu jedem Zeitpunkt pädagogisch-didaktisch rational (Stövesand 2019). Ist diese Perspektive stark ausgeprägt, kommen - je nach ethnographischem Fall - die Unterrichtsgegenstände kaum noch (Gruppe 1) oder gar nicht mehr (Gruppe 2) fachdidaktisch in den Blick. Darüber hinaus finden kritisch-reflexive Anwen‐ dungen des Wissens auf die beobachtete Praxis nicht statt, so dass das Problem der Passung zwischen didaktischem Handeln der Lehrkräfte (auf Basis heiklen Materials) und linguistischer/ sprachdidaktischer Theorie nicht zur Sprache kommt. 6 Fazit: Professionalitätsentwicklung durch ethnographische Fallarbeit? Wie die Analysen gezeigt haben, kann Fallarbeit als Auslöser gemeinsamer Be‐ griffsarbeit, die auf verschiedene Ressourcen zurückgreift (u. a. ‚googlen‘), dienen. Sie bietet damit durchaus Reflexionspotenziale; es wird jedoch deutlich, dass das Wissen, das gemeinsam erinnert und reflektiert wird, vage und diffus bleibt. Die gesprächsanalytischen Rekonstruktionen zeigen, wie die Studier‐ enden zwar Leerstellen bzw. Lücken im Wissen identifizieren, diese im Gespräch aber nur teilweise oder gar nicht füllen. Das theoretische Wissen verbleibt im 242 Friederike Kern <?page no="243"?> Unsicherheitsmodus, aus dem es, zumindest in den vorliegenden Seminarsit‐ zungen, nicht herausgeholt wird. Daran zeigt sich, dass theoretisches Wissen nicht einfach da ist und mit Blick auf Unterricht abgerufen werden kann, son‐ dern erst mühsam gemeinsam rekonstruiert und auf den singulären Fall an‐ gewendet werden muss - was den Studierenden selbst in der handlungsentlas‐ teten Situation der Seminarsitzung sichtlich schwerfällt. Desweiteren bleiben die Reflexionen in übergeordnete Bewertungsaktivi‐ täten eingebettet, mit denen die Studierenden den beobachteten Unterricht als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ beurteilen. Aus fachdidaktischer Sicht auffällig ist dabei, dass die Angemessenheit des didaktischen Handelns in Bezug auf den Gegen‐ stand des Unterrichts nie erörtert wird. D. h. es bleibt die Schwierigkeit, dass der Unterricht - insbesondere Handlungen von Lehrkräften - von den Studierenden laufend als gut oder schlecht bewertet wird, wobei aber eine auf den Unter‐ richtsgegenstand bezogene, d. h. fachdidaktische Perspektive z.T. systematisch ausgeblendet wird. In diesem Sinne ist die Suspendierung des pädagogisch-nor‐ mativen Blicks (Breidenstein 2010) noch nicht gelungen. Die bisherige Erfah‐ rung zeigt, dass dies tatsächlich erst vor allem durch individuelles Feedback erreicht wird, bei dem die Studierenden immer wieder auf die Divergenz zwi‐ schen dem, was ist, und dem, was sein soll, hingewiesen werden. Auch zeigen Interaktionen wie die der Gruppe 2, dass die Fokussierung auf einen fachdidak‐ tischen Gegenstand nicht immer gelingt. Allerdings erweist sich das interaktive Setting der Seminarkleingruppe zu‐ mindest als fruchtbar, um Rekonstruktionsprozesse fachdidaktischen Wissens in Gang zu setzen und dazu anzuregen, fachwissenschaftliches bzw. fachdidak‐ tisches Wissen in der Anwendung auf den beobachteten Fall zu aktualisieren. Es zeigen sich aber zugleich seine Beschränkungen: Wenn sich der ethnogra‐ phische Fall aus einer primär erziehungswissenschaftlichen bzw. allgemeindi‐ daktischen Perspektive konstituiert, wie es in Gruppe 2 der Fall ist, kommen fachliche Aspekte nicht (mehr) in den Blick. Daraus ist zu schließen, dass es expertenseitiger diskursiver Anleitungen bedarf, um die relevanten Rahmungen für eine fachdidaktische Wende des Falls zu etablieren und die Studierenden bei der Aktualisierung und Anwendung ihres linguistischen und sprachdidakti‐ schen Wissens zu unterstützen. Im Unterschied zu den von Goodwin (1994; 2013; 2018) beschriebenen Lernsituationen sind die Expert/ innen beim Verfassen des Beobachtungsprotokolls (also dem hier beschriebenen Setting) nicht anwesend und können somit die dort stattfindenden Prozesse der Relationierung und Ka‐ librierung nicht begleiten. Sie treten erst wieder in Erscheinung, wenn die Pro‐ tokolle in einer Plenumssitzung besprochen werden. Im nächsten Schritt wäre also zu prüfen, wie es dort gelingt, unter Anleitung fachdidaktische Bezugs‐ 243 Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung <?page no="244"?> rahmen zu etablieren, relevante Wissensbestände zu aktualisieren und auf dieser Grundlage über die Passung zwischen Theorien und beobachteter Praxis ge‐ meinsam zu reflektieren. Literatur Bender, Saskia/ Heinrich, Martin/ Lübeck, Anika (2017): Zur Notwendigkeit der reflexiven Übergangsgestaltung von Einzelfallorientierung und Universalismus im inklusiven Unterricht. Professionstheoretische Analysen zur veränderten Differenzbearbeitung in der neuen Akteurskonstellation der inklusiven Schule. In: Budde, J./ Dlugosch, A./ Sturm, T. (Hrsg.) (Re-) Konstruktive Inklusionsforschung. Differenzlinien, Hand‐ lungsfelder, empirische Zugänge. Opladen: Budrich, 337-352. Bietti, Lucas M. (2011): Joint remebering: Cognition, communication and interaction in processes of memory-making. 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Wiprächtiger-Geppert, Maja/ Riegler, Susanne/ Freivogel, Janine (2015): Erfassung des professionellen Wissens von Deutschlehrkräften zu Orthographie und Orthographie‐ erwerb - Forschungsstand und Perspektiven. In: Bräuer, C./ Wieser, D. (Hrsg.) Die Lehrenden im Fokus: empirische Lehrerforschung in der Deutschdidaktik. Wiesbaden: Springer VS, 281-300. 246 Friederike Kern <?page no="247"?> Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Georg Breidenstein, Prof. Dr. phil., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Grundschulpädagogik am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Ar‐ beitsschwerpunkte sind die ethnographische Unterrichtsforschung, insbeson‐ dere zur Praxis der Leistungsbewertung und zur Individualisierung des Unter‐ richts, sowie die Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung. Jürgen Budde, Prof. Dr. phil., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie der Bildung, des Lehrens und Lernens an der Europa-Uni‐ versität Flensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Differenz und Ungleichheit und Transformationen pädagogischer Praktiken in Bildungsinstitutionen. Seinen ethnographischen Forschungen liegt eine praxistheoretische Fundierung zugrunde. Tristan Dittrich, Dipl. Soz., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (Mainz). Zu seinen Arbeits‐ schwerpunkten zählen Bildungs-, Prüfungs- und Bewertungsforschung sowie Methoden der qualitativen Sozialforschung. Vivien Heller, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Sprachdidaktik an der Bergi‐ schen Universität Wuppertal. Sie forscht zur sprachlichen Sozialisation in ein- und mehrsprachigen Kontexten, zum frühen Spracherwerb (Referenzherstel‐ lung, Gesten, Erzählen) und zum Diskurserwerb (Erklären, Argumentieren) von Kindern mit heterogenen Ausgangslagen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der rekonstruktiven Unterrichtsforschung zum Umgang mit Heterogenität und zum Zusammenspiel sprachlichen und fachlichen Lernens. Herbert Kalthoff, Prof. Dr. phil., ist Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Bildungs-, Wissens- und Finanzsoziologie, Praxis- und Materialitätstheorien, Bewertungsprozesse und (angewandt-)wissenschaftliche Produktentwick‐ lungen. Friederike Kern, Prof. Dr. phil, ist Professorin für germanistische Linguistik/ Sprachdidaktik an der Universität Bielefeld. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Sprache und Lernen in multimodalen Interaktionen, Gesten und Prosodie, <?page no="248"?> Sprach- und Diskurserwerb und Konversationsanalyse und multimodale Inter‐ aktionsanalyse. Ina Kordts, M. A., tätig an der PH Freiburg, beschäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit Unterrichtskommu‐ nikation und -interaktionen von neu zugewanderten Schüler/ innen. Die Pro‐ motion wird von Prof. Dr. Helga Kotthoff und Prof. Dr. Jörg Hagemann betreut. Arbeitsgebiete: Unterrichtsforschung, Lehr-Lern-Interaktionen, interaktionale Linguistik. Helga Kotthoff, Prof. Dr. phil. ist Professorin i. R. in der Germanistischen Lin‐ guistik der Universität Freiburg. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen die Gesprächs‐ forschung (auch interkulturell und fremdsprachebezogen), die interaktionale Soziolinguistik, die Humorforschung und die Genderlinguistik. Sie forscht mit rekonstruktiven Methoden zur interaktionalen Soziolinguistik im Bereich Schule und zur anthropologischen Linguistik verschiedener Genderthemen. Vera Mundwiler, Dr. phil., ist Dozentin am Zentrum Mündlichkeit der Päda‐ gogischen Hochschule Zug und Co-Leiterin der Geschäftsstelle des Netzwerks „Schulsprachdidaktik“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Analyse von Gesprächen im schulischen Feld (u. a. Beurteilungsgespräche, mündliches Ar‐ gumentieren in der Schule) und der Angewandten Gesprächsforschung. Sie ist zudem an der Entwicklung eines Lehrmittels beteiligt. Uta Quasthoff, Prof. Dr. phil., war Professorin für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der TU Dortmund. Ihre Forschungsschwerpunkte im Rahmen der Interaktionalen Diskursanalyse sind u. a.Diskurspraktiken, Vorgeformtheit (Stereotype, formelhafte Wendungen, kommunikative Gattungen), Spracher‐ werbsforschung, Sprachdidaktik, insbesondere Mündlichkeitsdidaktik, Text‐ produktionskompetenz, sprachliches und fachliches Lernen sowie qualitative (rekonstruktive) Methodologie. Falko Röhrs, M. A., ist akademischer Mitarbeiter in der Germanistischen Lin‐ guistik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er promoviert bei Helga Kot‐ thoff zu Perspektivierungen in der Evaluation und Beratung in schulischen El‐ terngesprächen. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Gesprächsforschung, der interaktionalen Soziolinguistik und des Deutschen als Fremdsprache. Tanya Tyagunova, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Eth‐ 248 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren <?page no="249"?> nomethodologie, Konversationsanalyse und Ethnographie. Die aktuellen Ar‐ beitsschwerpunkte sind universitäre und Unterrichtsinteraktion, schulische Leistungsbewertung und universitäre Prüfungspraxis. 249 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren