Der Schlüssel zur Tragödie
Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk
0914
2020
978-3-8233-9383-2
978-3-8233-8383-3
Gunter Narr Verlag
Caroline Dänzer
Der Jesuit Jakob Balde (1604-1668), der "deutsche Horaz", ist als einer der bedeutendsten Lyriker der Frühen Neuzeit bekannt. Wenig Beachtung hat man hingegen seinem vielfältigen dramatischen Werk geschenkt, dem sich der vorliegende Band widmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein Kernelement der dramatischen Technik Baldes: Der tragische Chor. Baldes Chor entsteht aus der selbstbewussten intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Chor der senecanischen Tragödien, für dessen Funktion eine Neubestimmung vorgeschlagen wird. Damit bietet der Band grundlegende Einsichten in das dramatische Schaffen zweier unterschätzter Tragiker: Seneca und Balde.
<?page no="0"?> Der Schlüssel zur Tragödie Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk von Caroline Dänzer <?page no="1"?> Der Schlüssel zur Tragödie <?page no="2"?> Herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg 35 <?page no="3"?> Caroline Dänzer Der Schlüssel zur Tragödie Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk <?page no="4"?> Würzburg, Univ., Diss., 2019 © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1615-7133 ISBN 978-3-8233-8383-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9383-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0235-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Meinen Eltern und Großeltern <?page no="7"?> 11 13 1. 15 2. 21 A. 27 1. 29 1.1. 29 1.2. 30 1.3. 33 2. 39 3. 47 4. 51 4.1. 51 4.1.1. 54 4.1.2. 57 4.1.3. 63 4.1.4. 67 4.1.5. 69 4.1.6. 72 4.2. 74 4.2.1. 75 4.2.2. 80 4.2.3. 87 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das barocke Jesuitentheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas . . . . . . . . . . . . . Der Chor in den Tragödien Senecas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufführbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oedipus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exposition des Leids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttliche Strafe für vorsätzlichen Frevel . . . . . . . . . . . . Göttliche Strafe für unabsichtlichen Frevel . . . . . . . . . . Utopie: Selbstbestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . Realität: Unausweichliche Determination durch das fatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oedipus: Einsicht in die existentielle Absurdität . . . . . . Troades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod als universell gültiger Ausweg aus dem Leid? Ist der Tod besser als das Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterleben(müssen? ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4.2.4. 95 4.2.5. 100 4.2.6. 104 5. 107 B. 111 1. 115 1.1. 115 1.2. 126 1.3. 132 1.4. 140 1.5. 149 1.6. 155 2. 163 2.1. 163 2.2. 166 2.2.1. 166 2.2.2. 169 2.2.3. 171 2.2.4. 173 2.2.5. 176 2.3. 177 2.3.1. 177 2.3.2. 192 2.3.3. 208 2.4. 212 215 221 244 Der richtige Umgang mit einem ungnädigen fatum . . . Astyanax und Polyxena: ein heroischer Tod? . . . . . . . . Troades: Die Würde als Ermessensspielraum des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seneca und das fatum: Die Tragödien als resignative Reflexion . . . . Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk . Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum . . . . . . . . . . . . Gattungsmarker: Iocus serius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ordnende Konstante: Tilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Verstärkung: Philomela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ohne Chor: Drama Georgicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Grenzfall: Arion Scaldicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problematik des Stoffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jephte (1637) und Jephtias (1654) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jephte als Tragödie nach klassischem Ideal . . . . . . Die Einführung der Figur des Ariphanasso . . . . . . . . . . Die explizitere Typologie in der Jephtias . . . . . . . . . . . . Jephte und Jephtias als Bühnenstücke . . . . . . . . . . . . . . Der Chor im Jephte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chorlieder der Jephtias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Chor nach senecanischem Muster . . . . . . . . . . . . . . Der Chor auf Abwegen: Verlust der mise-en-abyme-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Melodramatica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jephtias als Synthese von Gattungskonzeptionen und Gedankenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Werke Baldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 245 246 Verzeichnis der Werke Senecas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Studie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg abgeschlossenen Dissertation. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Baier danken, der mich auf die Verbindung zwischen Seneca und Balde auf‐ merksam gemacht hat. Er hat mein Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten geweckt und meine Forschungen stets begleitet und gefördert. Für wertvolle Hinweise und die Zweitbegutachtung danke ich Frau Prof. Dr. Claudia Wiener, München. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat das Entstehen dieser Arbeit mit einem dreijährigen Promotionsstipendium ideell und finanziell gefördert und auch die Forschungsaufenthalte in Innsbruck und Paris unterstützt. Für das freie und intensive Arbeiten, das mir so ermöglicht wurde, gebührt ihr größter Dank. Bedanken möchte ich mich außerdem bei der Bibliothèque nationale de France und der Ecole normale supérieure Paris, namentlich bei Frau Prof. Dr. Mathilde Mahé-Simon und Herrn Prof. Dr. Jean Trinquier, die mir Zugang zu ihren Bibliotheksbeständen gewährt haben. Das Ludwig-Boltzmann-Institut Innsbruck hat den Beginn meiner Disserta‐ tion mit einem sechsmonatigen Fellowship gefördert und mich später erneut für einen Forschungsaufenthalt unter sein Dach genommen. Das offene Diskussi‐ onsklima, die freundliche Atmosphäre und die vielfältige Beschäftigung mit neulateinischen Forschungsfeldern haben mir entscheidende Impulse und viel Freude bei meiner Arbeit gegeben. Dafür danke ich allen Institutsmitarbeitern und insbesondere Herrn Prof. Dr. Florian Schaffenrath. Ferner gilt mein Dank den Herren Professoren Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe NeoLatina sowie den Herren Tillmann Bub und Arkin Keskin vom Narr Francke Attempto Verlag für die Unterstützung und freundliche Beratung bei der Herstellung der Druckvorlage. Für die Mühe des Korrekturlesens danke ich Manfred und Tobias Dänzer sowie Susanna und Christoph Weber. Besonders erwähnen möchte ich zudem Herrn AD Ralf Wünsch, der mir als erster ein senecanisches Chorlied zur Analyse vorgelegt hat und für maßgeb‐ liche Richtungsentscheidungen meines Lebenswegs Verantwortung trägt. Schließlich möchte ich von ganzem Herzen meinem Mann Tobias danken, der mich immer darin bestätigt hat, wie wichtig der eigene Blick für das Er‐ staunliche ist. <?page no="12"?> Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern, Susanna und Christoph Weber, sowie meinen Großeltern, Justus und Barbara Krümpelmann. Sie alle haben mir gezeigt, dass die Literatur eine Tür ist, die sich stets zu öffnen lohnt. Würzburg, im Juli 2020 C.D. 12 Vorwort <?page no="13"?> 1 Zu Baldes Leben und seinen Werken bis heute maßgeblich die Biographie von Wester‐ mayer 1868 (Nd. 1998); ferner Knapp 1848; Bach 1904; Müller 1930, II, 26-29; Beitinger 1968; Schäfer 1976, 109-260; Valentin 1978b, 2, 769-795; Valentin 1986; Thill 1991; Va‐ lentin 2001, 545-567; Burkard 2006b; Stroh 2006b; Stroh 2009; Stroh 2019. Grundlegend sind die Arbeiten von Stroh, dem das Verdienst gebührt, die Balde-Forschung in Deutschland beflügelt und gefördert zu haben. Die von ihm zu Verfügung gestellten Hilfsmittel, wie etwa die umfangreiche Online-Bibliographie (abzurufen unter: http: / / stroh.userweb.mwn.de/ balde_lit.html) und das Repertorium der Werke Baldes (online abzurufen unter: http: / / stroh.userweb.mwn.de/ balde_rep.html; hierfür auch Dünn‐ haupt 1990, 378-400), erleichtern die Forschung zum Thema immens, ebenso die zahl‐ reichen Aufsätze und Untersuchungen (einige davon zusammengefasst in Stroh 2004b). Ein Großteil der Werke Baldes liegt uns im Nachdruck (mit ausführlicher Einführung und Bibliographie) der Opera omnia-Ausgabe von 1729 (= Balde 1990) vor, nach der im Folgenden, sofern die Texte darin enthalten sind, zitiert wird. 2 Cf. Korenjak 2016, 80: „[…] Balde war […] in fast jeder poetischen Gattung aktiv und schuf ein Œuvre von solcher Fülle, Vielfalt und Sprachgewalt, dass viele ihn für den größten neulateinischen Dichter überhaupt halten.“ 3 Zu den Oden bspw. Müller 1964; Thill 1991; Beiträge in Lefèvre/ Haß 2002; zu den Satiren z.B. Beiträge in Freyburger/ Lefèvre 2005; Wiener 2014b. Einführung Im Jahre 1668, vor gut 350 Jahren, verstarb der Jesuitenpater Jakob Balde, der als einer der wichtigsten neulateinischen Autoren in die Literaturgeschichte eingehen sollte. 1 1604 im elsässischen Ensisheim geboren, führte ihn sein Weg nach Ingolstadt, Innsbruck, München, Landshut, Amberg und Neuburg an der Donau. Dort war er unter anderem als Lehrer, Rhetorikprofessor, Hofhistorio‐ graph und Prediger tätig, doch machte er sich vor allem als Dichter einen Namen. Balde hat ein umfangreiches Erbe hinterlassen, das sich auf nahezu alle neula‐ teinischen Gattungen erstreckt und sich in einer schier unüberschaubaren Menge an Erzeugnissen manifestiert. 2 Berühmt wurde er besonders für sein ly‐ risches Werk, das ihm den Titel Deutscher Horaz einbrachte. Auch heute widmet sich die Forschung vorrangig seinen Oden und Satiren. 3 Deutlich weniger Be‐ achtung fand hingegen Baldes Betätigung als Dramatiker. Dies steht weder im Verhältnis zur Qualität noch zur Quantität der überlieferten Schriften. Neben den zwei durchgehend dramatischen Stücken, der Tragikomödie Iocus serius und der Bibeltragödie Jephtias, ist eine Fülle von Werken unterschiedlicher drama‐ tischer Ausprägung erhalten: Das Regnum poetarum, der Tilly, die Philomela, das Drama Georgicum und der Arion Scaldicus. Insgesamt sind diese Werke nur un‐ zureichend erschlossen. Neben einem grundlegenden Aufsatz von Stroh zum <?page no="14"?> 4 Stroh 2004a. 5 Cf. hierzu S. 163, Anm. 169. 6 Eine kurze Behandlung der Chöre in der Jephtias findet sich in Lefèvre 2016 und Lefèvre 2018. Dramatiker Balde 4 existieren vor allem Einzelstudien zu einigen der Stücke, be‐ sonders zur Jephtias. 5 Nicht hinreichend untersucht sind jedoch bislang Tech‐ niken und Elemente, die für Baldes dramatisches Schaffen insgesamt konstitutiv sind. Dies gilt besonders für den Chor: Bis auf das Drama Georgicum sind alle dramatischen Werke Baldes mit Chorpartien versehen. Je nach Kontext werden ihnen bestimmte Funktionen beigemessen, die Aufschluss darüber geben, wie Balde Stücke strukturiert und Gattungskonventionen definiert. Im Falle der Jephtias spielen die Chorlieder eine so zentrale Rolle, dass weder Dramaturgie noch Ästhetik und Intention des Werks ohne sie verstanden werden können. 6 Der Chor stellt ein Kernelement dar, das erschlossen werden muss, um Baldes dramatische Technik zu verstehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Konzeption des Chores in Baldes dramatischen Werken zu untersuchen. Hierfür ist es nötig, zunächst zwei Einflussfaktoren zu benennen, die Balde Referenzpunkt und Reibungsfläche gleichermaßen bieten: Erstens den institutionellen Rahmen des Jesuitenordens, in dem Baldes schriftstellerische Tätigkeit verortet ist, und zweitens die Tragö‐ dien Senecas, die als literarisches Vorbild für die tragischen Werke, insbesondere für die Jephtias, fungieren. 14 Einführung <?page no="15"?> 7 Das Verfassen von privatae scenae und publicae declamationes ist in der Ratio studiorum explizit unter den regulae professoris rhetoricae aufgeführt (cf. Pavur 2005, 164-165). 8 Cf. Weiß 2005, 166-169. 9 Einen guten Überblick über die Pädagogik des Jesuitenordens von ihren Anfängen bis heute geben Funiok/ Schöndorf 2000. 10 Cf. Seifert 1996, 314. 11 Besonders in Form der Lateinschulen und eigener Universitäten; zum protestantischen Ausbildungswesen cf. Seifert 1996, 282-312. 12 Zur Rolle der Jesuiten in der Gegenreformation cf. Hammerstein 1996, 81-82; Kühlmann 1996, 167-168; Smith 2002, 6-7; Weiß 2005, 75-78. 13 Generell ist festzustellen, dass die erfolgreiche jesuitische Reformierung des Bildungs‐ wesens „weniger in einer kühnen Revolution des europäischen Schulsystems besteht, als viel eher in der zielbewußten und überlegenen Zusammenfassung bereits beste‐ hender humanistischer Bildungspläne.“ (Müller 1964, 10). Die Ratio studiorum liegt in der Standardedition von Lukács 1986 vor. Eine neuere Fassung mit englischsprachiger Übersetzung gibt Pavur 2005. Zum Zusammenhang der Ratio mit klassischen Maximen und zum Kanon cf. Dunkle 2009; zur praktischen Umsetzung cf. Pavur 2009. 1. Das barocke Jesuitentheater Der Kontext, in dem Jesuiten Theaterstücke verfassten, war vornehmlich ein schulischer. Dies manifestierte sich auch in der Tatsache, dass die Autoren oft Lehrer der Rhetorikklassen waren und jährlich ein Stück für die Schulauffüh‐ rung vorlegen mussten. 7 Gerade diese Einordnung in den Ordenskontext und in die Tradition des Jesuitentheaters ist für das Verständnis von Baldes Dramatik nicht zu vernachlässigen: Das Theater diente den Jesuiten als Mittel zum Sprach‐ erwerb des Lateinischen, das wiederum gezielt mit pädagogischer Wertever‐ mittlung kombiniert werden konnte, 8 und wurde zur Paradedisziplin. Der 1540 durch Ignatius von Loyola gegründete Orden 9 sah sich mit der schwierigen Si‐ tuation konfrontiert, dass die Reformation immer mehr Anhänger gewann, die sich von der katholischen Religion abwendeten. Damit einher ging ein gravie‐ render Priestermangel, der den Einfluss der Katholiken auch quantitativ schwächte. 10 Da der rege Zulauf zu den Protestanten unter anderem ihrem her‐ vorragenden Ausbildungswesen geschuldet war, 11 wurden als Gegengewicht hierzu in ganz Europa eigene katholische Ausbildungsstätten gegründet. Es waren vor allem die Jesuiten, die von den Landesherren mit dieser Aufgabe betraut wurden. 12 Und tatsächlich stellten sich schon bald die erhofften Erfolge ein: Die durchdachte Organisation, die ab 1599 verbindlich geltende Ratio stu‐ diorum, 13 die über nationale Grenzen hinweg ein gleiches und geordnetes Cur‐ riculum ermöglichte, der hohe Bildungsstandard der Lehrenden und nicht zu‐ <?page no="16"?> 14 Ausführlich zum Aufbau des jesuitischen Schulwesens cf. Seifert 1996, 317-324; Ham‐ merstein/ Müller 2005, 329-330; Bauer-Mahlmann 1986, 45-50; Wiener 2010; einen kon‐ zisen Überblick geben Erlach 2006, 28 und Kuhlmann 2010, 119-124. Zum Einsatz an‐ tiker Stoffe im Bildungsprogramm der Jesuiten (sowie dessen Umsetzung bis heute) cf. Cueva et al. 2009. Zum Einfluss der Jesuiten mit dem Schwerpunkt auf Kunstgeschichte und Architektur cf. Smith 2002. 15 Hierzu cf. Hammerstein/ Müller 2005, 325-327; Erlach 2006, 24. 16 Cf. Kühlmann 1996, 167-168; Seifert 1996, 317; Rädle 1979, 186. 17 Cf. Bauer-Mahlmann 1986, 50-65; Hammerstein/ Müller 2005, 329; Erlach 2006, 29. 18 Zum Jesuitentheater im deutschen Sprachraum liegt eine Vielzahl von Untersuchungen vor. Bis 1982 liefert Wimmer 1983 einen detaillierten Forschungsüberblick, der zugleich auch einen informativen Abriss der Geschichte des Jesuitentheaters insgesamt bietet. Frühe Gesamtdarstellungen, die bis heute grundsätzlich Gültigkeit behalten haben, sind Duhr 1913; Flemming 1923 und Müller 1930, mit Schwerpunkt auf der musikalischen Entwicklung Stickler 1937. Einen kurzen, aktuelleren Überblick geben Rädle 2004 und Tilg 2008. Von großem Wert sind die Arbeiten von Jean-Marie Valentin, der neben einem Verzeichnis wichtiger Stücke, das von einer ausführlichen thematischen Bibliographie beschlossen wird (Valentin 1983-1984), und neben umfangreichen Überblicksdarstel‐ lungen (Valentin 1978b; neuere kürzere Fassung Valentin 2001) maßgebliche Einzelun‐ tersuchungen zu verschiedenen Fragestellungen und Autoren vorgelegt hat. Eine knappe, sehr hilfreiche Darstellung über das Jesuitentheater mit seinen verschiedenen Ausprägungen liefert Wolf 2000. Den umfassendsten Überblick zu sämtlichen Aspekten des frühneuzeitlichen Theaters sowie der maßgeblichen Literatur bieten Bloemendal/ Norland 2013. letzt der Zugriff auf weitreichende finanzielle Mittel aus kirchlichen Quellen sowie privater Gönner etablierte die Institutionen bald als Bildungsorte par ex‐ cellence. 14 Dabei war die Gewichtung der jesuitischen Ausbildung immer klar festgelegt: Alle Disziplinen waren der Ausbildung von (katholischen) Theologen untergeordnet und stellten mehr oder weniger ein Mittel zum Zweck dar. Auch wenn Bildung letztlich also als Weg zu Höherem im Sinne des Grundsatzes omnia ad maiorem Dei gloriam galt, 15 war deren Standard so hoch, dass die Je‐ suitenkollegs neben ihren internen zunehmend auch externe Schüler auf‐ nahmen, die vor allem an der Grundausbildung interessiert waren. Die Kollegs wurden oftmals so beliebt, dass den Jesuiten die Leitung alteingesessener Uni‐ versitäten übertragen wurde oder sie gar Schüler aus protestantischen Haus‐ halten für ihre Schulen abwerben konnten. 16 Trotz des theologischen Utilitarismus nahm der lateinische Sprachunterricht im jesuitischen Lehrplan eine Zentralstellung ein, da er für alles Weitere die Basis bildete. Man bemühte sich jedoch, ihn schon früh in Beziehung zu seinem rhetorischen Nutzen zu setzen, um das Ziel einer sapiens et eloquens pietas nicht aus den Augen zu verlieren. 17 Neben den Schuldeklamationen wurden auch Theaterstücke aufgeführt. 18 Man erhoffte sich einen gleichsam synästhetischen Lernprozess, in dem sich literarische, politische, rhetorische und religiöse Bil‐ 16 1. Das barocke Jesuitentheater <?page no="17"?> 19 Cf. Kühlmann 1996, 157; Valentin 2001, 47-48 und 55-59. 20 Zum Einfluss des Humanistendramas auf das Jesuitentheater cf. Wolf 2000, 172-173. 21 Rädle 2004, 7. Die Ratio studiorum äußert sich hierzu unmissverständlich: Tragoediarum et comoediarum, quas non nisi latinas […] esse oportet, Pavur 2005, 35. 22 Zu dieser letzten Gruppe gehört auch der sogenannte ludus caesareus, ein „Prunkspiel in Gegenwart des Kaisers“ (Wimmer 1983, 608; weiterführend hierzu Valentin 1978b, 2, 895-907). Wichtig ist, die Entwicklung dieser Ausformungen als parallel und nicht als aufeinander aufbauende Stufen anzusehen. Das Jesuitentheater bleibt seiner Haupt‐ aufgabe, der schulischen Ausbildung, stets treu. Cf. hierzu auch Wimmer 1983, 608- 609. Zu den verschiedenen Anlässen und zum Publikum cf. Rädle 2004, 9-11; Bloe‐ mendal 2008; umfassend mit Fokus auf der politischen Instrumentalisierung Kemper 2014, ferner Kagerer 2010, bes. 55-58. 23 Einen interessanten Einblick in die große Menge an Stoffen und Stücken gibt die mehr‐ bändige Periochenedition von Szarota 1979-1987. Die einzelnen, inhaltlich gegliederten Sammlungsabschnitte sind jeweils mit erläuternden Einführungen versehen. Zu den Periochen als Lösung für die Sprachproblematik cf. auch Wolf 2000, 178 und Rädle 2004, 10-11. 24 Ausführlich zu technischen Hinweisen und Überblick über die Mittel des Jesuitenthea‐ ters cf. Flemming 1923. 25 Zur parodia christiana Müller 1964, bes. 123-134, und Valentin 2001, 156-161. Generell zur Behandlung von biblischen Stoffen (mit zahlreichen Beispielen) in Jesuitendramen Szarota 1979; ferner Rädle 1989. 26 Cf. Rädle 1979, 177-178. dung den noch jungen und beeinflussbaren Schülern vermitteln ließ. 19 Diese Methode war zunächst kopiert von den Humanistendramen, die im Erziehungs‐ wesen der Protestanten einen festen Sitz hatten. 20 Allerdings wurden diese oft in der Muttersprache verfasst, während die Jesuitenstücke „erbarmungslos la‐ teinisch“ waren. 21 Gleichwohl erfreuten sie sich großer Beliebtheit und zogen trotz ihrer ursprünglich für den schulischen Rahmen vorgesehenen Konzeption ein immer breiteres Publikum an. Neben Veranstaltungen für Angehörige der Schüler gab es öffentliche Darbietungen an Festtagen sowie Sondervorstel‐ lungen zu Ehren eines adeligen Gastes, wenn sich dieser in der Stadt befand. 22 Die sprachliche Barriere vermochten die Jesuiten einerseits durch das Voran‐ stellen von Periochen zu überwinden, die wichtige Informationen meist in zwei‐ sprachiger Form zusammenfassten. 23 Andererseits verfügten die Aufführungen der Jesuiten oft über einen komplexen Bühnenaufbau, teure und aufwändige Ausstattung und Kostümierung und präsentierten Stücke von beträchtlichem Aufwand. 24 So verschmolzen sie in vielen Teilen mit den Ansprüchen des Ba‐ rocktheaters und wurden zu einer von der Gesellschaft akzeptierten Marke auf der kulturellen Landkarte. Als Themen waren besonders religiöse Motive be‐ liebt, die sich gleichsam als parodia christiana, als antike Stoffe im neuen Ge‐ wand präsentierten. 25 Rein humanistische Dramen blieben bei den Jesuiten, an‐ ders als bei ihren protestantischen Kollegen, eine Seltenheit. 26 Diese Wahl war 17 1. Das barocke Jesuitentheater <?page no="18"?> 27 Rädle 1979, 192. 28 Cf. Pörnbacher 1979, 71; zum beeindruckenden Bestand der Kollegs in Europa cf. Ham‐ merstein/ Müller 2005, 335-336. Der reichen Produktion in Österreich und Süddeutsch‐ land sind einige Einzeluntersuchungen gewidmet. Hilfreich bleibt für das Münchner Jesuitentheater die Monographie von Reinhardstöttner 1889. Außerdem mit zahlreichen ausführlich behandelten Beispielen zu den einzelnen Aufführungsorten Kemper 2014. 29 Cf. Müller 1930, VI, 6-7. 30 Die dramatische Form eignete sich besonders zur didaktischen Reduktion komplexer Inhalte: „In der Bibel werden manchmal Fälle vorgestellt, die für einen Menschen der Neuzeit nicht mehr nachvollziehbar sind. Wenn die dargestellten Situationen einen tiefreligiösen oder einen besonders wertvollen ethischen Kern zeigen ließen, lohnte sich die Dramatisierung sehr wohl; man mußte dann nur die Umstände und Motive der Handlung, den Sinn des Ganzen […] uminterpretieren.“, Szarota 1979, 42; cf. auch Wimmer 1983, 589. dem Ziel geschuldet, gleichzeitig missionarische Inhalte zu transportieren und die Bedeutung des Katholizismus zu untermauern. Während die frühen Stücke noch stark polemisch waren, wurde später die Methode vorgezogen, „nicht so sehr die Position des Gegners [zu] erschüttern, als vielmehr die eigene über‐ zeugend oder gar überwältigend darstellen“ 27 zu wollen. Den größten Einfluss hatten die Jesuiten und ihr Theater deshalb im süddeutschen Raum und Öster‐ reich, wo sich die Gegenreformation besonders erfolgreich durchgesetzt hatte. 28 Es hieße allerdings die Qualität der Stücke beträchtlich herabsetzen, wollte man sie allein auf ihre Funktion als Bollwerk gegen den Protestantismus be‐ schränken: Dies mag zunächst zwar die Hauptintention gewesen sein, doch ist der dramaturgische und literarische Wert der Stücke in einigen Fällen so hoch, dass sie zu Recht auf sämtlichen Bühnen Europas gespielt wurden. Allerdings darf bei einem Jesuitendrama nie aus dem Blick geraten, dass Stücke dieses Genres im Sinne des bloßen ‚l’art pour l’art‘ nicht existierten. Ein gewisses di‐ daktisches Ziel haftete ihnen stets an, es konnte sich hierbei auch um die Ver‐ mittlung von Bildungsinhalten oder ganz allgemeiner christlicher und charak‐ terlicher Werte handeln. 29 Eben diese Ausrichtung ist es, die das Jesuitentheater zu einer Einheit bringt: Mögen sich die Stücke aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungskontexte und ihrer Vielfalt an Verfassern kaum zu einem homo‐ genen Gattungsbegriff vereinen lassen, so bleiben sie doch stets einer überge‐ ordneten Maxime treu: der Pädagogik. 30 Wenngleich sich Baldes dramatische Werke aufgrund ihrer hohen sprachli‐ chen Qualität deutlich vom Durchschnitt der barocken Jesuitendramen abheben, bleibt für seine Stücke der pädagogisch-vermittelnde Charakter des Jesuiten‐ theaters konstitutiv. Besonders gilt dies für die Jephtias, in der Balde seine Deu‐ tung des biblischen Jephte-Stoffes für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet. Ein essentielles Mittel, um dies zu erreichen, ist der tragische Chor, den er nutzt, um 18 1. Das barocke Jesuitentheater <?page no="19"?> die Interpretation der Tragödie zu liefern und ihre Aussage zu entschlüsseln. Dass Balde seinem Chor eine so zentrale Funktion zukommen lässt, ist in der zeitgenössischen Dramatik keineswegs gängiger Usus. 19 1. Das barocke Jesuitentheater <?page no="21"?> 31 Selbst in den Stücken des berühmtesten Jesuitendramatikers der Zeit, Jakob Bidermann, ist dieser Rückgang zu beobachten: So finden sich bspw. im Cenodoxus zwar noch Chöre (ausführlicher hierzu Körndle 2005), allerdings werden ihnen nur kurze Textpassagen zugewiesen, die vereinzelt eingestreut werden, um weitere himmlische (Chor der Engel) und teuflische Akteure (Chor der Dämonen) ihre Meinung kundtun zu lassen. Im Be‐ lisarius gibt es ebenfalls einige wenige Chorpassagen. Auch sie sind eher unsystema‐ tisch eingestreut, markieren weder die Aktgrenzen noch erhalten sie für die Deutung des Stückes größeres Gewicht. Cf. zum fakultativen Einsatz des Chores in der Frühen Neuzeit Janning 2005, 37-44. 32 Janning 2005, 13. Frühere Überlegungen bei Voigt 1954, 11-15. Auch Erlach 2006, 59- 60 betont die rein dienende Funktion der musikalischen Elemente in den Jesuitendramen, die besonders in Jakob Masens Poetik explizit unterstrichen werde (1, 4). Zu anderen frühneuzeitlichen Poetiken und ihrer Behandlung des Chores cf. Janning 2005, 33-36. Insgesamt ist der Einfluss theoretischer Schriften auf die fest in der Praxis ver‐ ankerten Jesuitendramatiker jedoch nur bedingt ausgeprägt (cf. Janning 2005, 36). 33 Stickler 1937, 10. Hier auch weitere Untersuchungen zu Chor und Musik im barocken Jesuitendrama; cf. auch Janning 2005, 13. 2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas Generell bietet der Chor im neulateinischen Drama der Frühen Neuzeit kein einheitliches Bild. Die Verwendungsformen sind je nach Stück und Autor ver‐ schieden. Besonders im Laufe des 17. Jahrhunderts wird er weniger systematisch eingesetzt, kommt seltener zu Wort oder wird schließlich ganz weggelassen. Insofern ist allein die Verwendung eines dramatischen Chores bei Balde nicht selbstverständlich. 31 Einen ersten Schritt zur Erschließung des Chores im neulateinischen Drama hat Volker Janning in einer umfassenden Monographie unternommen. In der Arbeit sammelt er im Wesentlichen Leitmotive der Chorlieder und erstellt eine thematische Kategorisierung, die Aufschluss über zeitgenössische Diskussions‐ themen gibt. Anhand ausgewählter Autoren untersucht er die Integration des Chores in die Dramen. Seine Funktion umschreibt er allgemein als eine relativ technische: „Die neulateinischen Dramatiker nutzten […] die durch den Chor eröffneten Möglichkeiten zur Darbietung von Ruhepunkten in der Handlung und zur künstlerischen Gestaltung der Aufführungen durch Musik, Tanz, und den Vortrag bzw. Gesang chorlyrischer Partien.“ 32 Insgesamt seien vor allem zwei Nutzungsmöglichkeiten des Chores in der Frühen Neuzeit hervorzuheben: Erstens werde ihm ein starker Unterhaltungswert zugewiesen, der bisweilen ein pompöses Ausmaß annehme und als Vorstufe zur Oper gesehen werden könne. Neben diesem „Prozess der Veroperung“ 33 sei eine zweite Funktion besonders <?page no="22"?> 34 Janning 2005, 14; cf. auch 241: „Die bunte Vielfalt der Themen sowie die beeindruckende Diktion mancher Lieder vermitteln dabei einen faszinierenden Eindruck vom Selbst‐ verständnis einer Theaterepoche, in der sich ethisch-religiöser Belehrungswille, kon‐ fessionelle Polemik und humanistische Antikenimitation vielfach miteinander vermi‐ schen.“ 35 Balde wird in Jannings Arbeit nicht schwerpunktmäßig behandelt. 36 Dedicatio, 6, cf. S. 163, Anm. 170. 37 Darstellungen zur Rezeption von Senecas Tragödien in der europäischen Dramatik finden sich in: Charlton 1946; Lebègue 1964; Lefèvre 1978; Braden 1985; Boyle 1997, 141-207; Glei/ Seidel 2008; Schubert 2010; de Caigny 2011; Kleinecke 2013; Mayer 2015; Citti 2015, 307-311; Grund 2015, bes. 104-105; Dodson-Robinson 2016, hierin für den deutschen Sprachraum bes. Harst 2016. 38 Cf. Valentin 2001, 198. 39 Cf. Müller 1930, I, 27-28; Bauer-Mahlmann 1986, 284; Valentin 2001, 163. 40 Cf. Liebermann 1978, 400; Seifert 1996, 239-240; Lefèvre 2015l, 305. 41 Lefèvre 2015l, 312. Zur Rezeption Senecas im Christentum cf. Valentin 1978a, 37-53; Braden 1985, 63-98; Grimal 1991, 77-78; Martina 2001, darin insbes. von Albrecht 2001 relevant: So leiste „der Chor einen wichtigen Beitrag zur Sozialisierungs- und Belehrungsfunktion des neulateinischen Dramas, das vielfach als Medium der Moraldidaxe fungiert und zur Propagierung der jeweiligen […] Wertvorstel‐ lungen instrumentalisiert“ werde. 34 Dass in Bezug auf Balde weder die eine noch die andere Deutung des Einsatzes des Chores ausreicht, wird bei der Betrachtung seiner Chorpartien schnell deutlich: Sie übersteigen eine solche funktionale Ausrichtung in vielerlei Hinsicht. 35 Um die Rolle des Chores bei Balde adäquat einzuordnen, muss das Vorbild beachtet werden, das für die Jephtias Pate gestanden hat: Im Vorwort bekennt sich Balde explizit zu Senecas Tragödien als Inspirationsquelle, die ihm als Richtschnur für sein eigenes Schaffen gedient hätten. 36 Es ist also zu erwarten, dass sich Balde auch bei der Konzeption seiner Chorlieder an Seneca orientiert hat. Dass sich ein barocker Autor wie Balde Seneca als Vorbild wählte, ist wenig erstaunlich. Das 17. Jahrhundert hielt Seneca tragicus stets in großen Ehren. 37 Fanden sich im 16. Jahrhundert noch eher Komödien, in denen vor allem auf Plautus und Terenz Bezug genommen wurde, kamen im 17. Jahrhundert zuneh‐ mend Tragödien hinzu. 38 Hier berief man sich auf Seneca, den einzig erhaltenen römischen Tragiker. 39 Praktisch gesehen waren Lateinkenntnisse besser eta‐ bliert als Griechischkenntnisse, selbst wenn die griechischen Tragiker er‐ schlossen waren. 40 Lefèvre weist außerdem darauf hin, dass das Christentum bei Senecas Bevorzugung eine wichtige Rolle spielte: „Denn so wie das Christentum in vielen Punkten große Verwandtschaft zur stoischen Philosophie zeigt, waren es gerade die christlich geprägten Epochen vom ausgehenden Mittelalter bis zum Barock, die sich von Senecas Weltanschauung angesprochen fühlten.“ 41 Der 22 2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas <?page no="23"?> mit vielen Beispielen; zum gefälschten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus Mara 2001; zur polemischen Umfunktionierung der Senecaschriften Tschiedel 2001, 344. 42 Cf. Leo 1897; Janning 2005, 29-31. Dass es sich nicht um pauschal „stoisches Gedan‐ kengut“ handelt, sondern um ein vielschichtiges Gebilde aus tiefgehenden philosophi‐ schen Reflexionen, das direkt in Bezug zur jeweiligen Tragödie steht, wird hierbei völlig außer Acht gelassen. 43 Es ist dabei zu weit gefasst, pauschal von einem griechischen Chor zu sprechen, da auch hier je nach Autor große Unterschiede in der Verwendung dieser Partien bestehen. Differenzierte Hinweise z.B. bei Hose 1990-1991, Bd. 1, 12-15 und Bd. 2, 411-413. Wichtig auch die Feststellung in Bd. 2, 402-403 und 413, dass in den euripideischen Chortragödien die Bedeutung des Chores als Person insgesamt abnehme, die der ein‐ zelnen Lieder aber zunehme. In dieser freieren Handhabung des Chores liege durch die gewonnene Flexibilität eine Stärke der euripideischen Tragödien. Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Rolle des Chores durch die Jahrhunderte vor Seneca liefert die Untersuchung von Hose 2016; ferner z.B. Marx 1932, 7-10 und 59-61; Bishop 1964, 9-12. 44 Cf. Lefèvre 2015a, 315. Eine grundlegende Übersicht über wesentliche Eigenheiten des senecanischen Chores liefert Mazzoli 2014. 45 Behandlung der Fragestellung bei Davis 1993, 39-63 und Kirichenko 2013, 249 mit wei‐ terer Literatur. 46 Freilich darf nicht vergessen werden, dass Seneca nicht der erste römische Tragiker ist. Die fragmentarische Überlieferung gestaltet einen Vergleich auf interpretativer Ebene jedoch als schwierig. Wichtige Hinweise zum Chor in der republikanischen Tragödie der römischen Republik bieten Hose 2016 und, insbesondere zur Integration in die Handlung, Manuwald 2016, 53; 108; 245, sowie 71-74; 248-251 zur wichtigen Rolle der Musik. Einfluss von Senecas Chorliedern auf das neulateinische Drama ist bei Janning allerdings nur kurz angesprochen und auf relativ mechanische Aspekte (Metrik, Themenwahl etc.) beschränkt. Meist handle es sich bei Seneca, nach Friedrich Leos veralteter These, um „Zwischenaktlieder“ mit rein überbrückender Funk‐ tion. Der Zusammenhang zwischen Lied und Handlung sei allenfalls über lose philosophische Verbindungen herzustellen, wenn stoisches Gedankengut ver‐ mittelt werde. 42 Tatsächlich besteht beim senecanischen Chor Erklärungsbedarf: Rituell-kul‐ tische Elemente, die dem Chor in der griechischen Tragödie noch zu eigen sind, 43 gehen ihm bei Seneca bis auf wenige Ausnahmen ab. 44 Ferner ist seine Persönlichkeit nicht einheitlich gezeichnet, sodass seine Rolle auf der Bühne nicht konsistent zu definieren und in Hinblick auf eine etwaige Aufführung schwer zu besetzen scheint. 45 Diese Auffälligkeiten sind jedoch nur als proble‐ matisch zu bezeichnen, wenn man den senecanischen Chor als direkte Replik auf den griechischen Chor versteht. 46 Dies erscheint jedoch nicht überzeugend: Vielmehr ist anzunehmen, dass Seneca die Chorlieder - wie auch insgesamt seine Tragödien - mitnichten als reine Rezeptionsprodukte der griechischen 23 2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas <?page no="24"?> 47 Das mise-en-abyme-Konzept lässt sich auf die echten Senecatragödien anwenden. Nicht durchgehalten ist das Verdichtungsprinzip in der Octavia und im Hercules Oetaeus, die beide durch eine variablere, freie Chorverwendung gekennzeichnet sind. Dies mag nicht als Beleg, jedoch als zusätzliches Argument für eine Unechtheit der beiden Stücke sprechen. 48 Cf. zum Theodizeeproblem Kap. A. 1.1.3 dieser Arbeit. 49 Balde nennt zwar als besondere Vorlagenstücke für die Jephtias den Thyestes und die Phoenissen (cf. Anm. 170, S. 163), doch ist der Einfluss des Oedipus und der Troades min‐ destens genauso deutlich: So wird z.B. wie in der Diskussion zwischen Agamemnon und Pyrrhus in den Troades die Rechtmäßigkeit von Menschenopfern in den Raum gestellt. Die Theodizeeproblematik kommt in ihrer Ausgangsfragestellung dem Oedipus sehr nahe. Stücke verstanden hat. Die Chorlieder haben bei Seneca einen stücktragenden, literarischen Wert, der ihre Eignung als Modell ausmacht: Der Chor wird zu einer maßgeblichen Erklärinstanz des Stückes, die dessen Interpretation ver‐ dichtet darlegt. Im ersten Teil der folgenden Untersuchung wird deshalb eine Neubestim‐ mung des senecanischen Chores vorgenommen. Nach einer Darstellung grund‐ legender Forschungsprämissen sowie einer theoretischen Beschreibung des se‐ necanischen Chorkonzeptes soll dieses anhand von Fallbeispielen verdeutlicht werden. Die Untersuchung bleibt aus Gründen der Übersichtlichkeit exempla‐ risch auf zwei Stücke beschränkt. 47 Für die detaillierte Analyse bieten sich der Oedipus und die Troades an, da die Stücke bezüglich der Thematik, die besonders in den Chorliedern zu Tage tritt, verwandt sind. Beide behandeln im weiteren Sinne die Frage des Determinationsprinzips und der Theodizee. 48 Dieser The‐ menkreis ist für Baldes Jephtias von grundsätzlicher Bedeutung, da die Frage‐ stellung hier aus christlicher Perspektive beleuchtet wird und zahlreiche Mo‐ tivübernahmen erkennbar sind. 49 Durch die ausführliche Behandlung des senecanischen Chores leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zum Ver‐ ständnis der Seneca-Tragödien. Im zweiten Teil der Arbeit wird sodann gezeigt, dass Jakob Balde die Funktion des senecanischen Chores, einen Schlüssel zur Interpretation des Stückes zu liefern, erkannt, in sein dramatisches Werk aufgenommen und weiterentwickelt hat. Da explizite Aussagen, in denen Balde sich über sein Verständnis des Chores äußert, nicht vorliegen, ist es geboten, sein Chorverständnis aus allen seinen Werken dramatischen Charakters herauszuarbeiten. Nur in dieser Gesamtschau ist es möglich einzuordnen, wie Balde die Funktionen des Chores definiert und als wesentliches Element in seiner Dramatik verankert. Hierzu soll ein Blick auf den Chor des Iocus serius, des Tilly, der Philomela und des Arion Scaldicus ge‐ worfen werden. Weiterhin erfolgt eine knappe Besprechung des Drama Geor‐ 24 2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas <?page no="25"?> gicum, bei dem gerade das Fehlen eines dramatischen Chores aufschlussreich ist. Für Baldes Auffassung der Chorlieder Senecas und die Konzeption eines tragischen Chores ist außerdem die Untersuchung des Seneca aus dem Regnum poetarum unabkömmlich. Dieser steht der Jephtias sehr nahe, auf der das Haupt‐ augenmerk liegen wird, da es sich um die einzige komplette Tragödie im ei‐ gentlichen Sinne handelt. Mittels der Analyse der Chorpartien können ent‐ scheidende Erkenntnisse für die Interpretation und Struktur der Stücke insgesamt und damit über den Dramatiker Balde erlangt werden. 25 2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas <?page no="27"?> A. Der Chor in den Tragödien Senecas <?page no="29"?> 1 Darlegung der Diskussion mit Präferenz für eine Aufführbarkeit z.B. bei Fortey/ Glucker 1975; Braun 1982; Sutton 1986; Draper 1987, 5-10; Davis 1993, 5-10; Töchterle 1994, 38- 44; Stroh/ Breitenberger 1994 (ähnlich, mit aktuellerer Literatur Stroh 2008a; i.F. wird nach dem deutschen Originalbeitrag zitiert); Boyle 1994, 10-11; Beiträge in Harrison 2000; Keulen 2001, 27-30; Boyle 2011, xl-xliii; Kohn 2013; Kirichenko 2013, 6-8; Heil 2013 klärt mit seiner umfassenden Untersuchung dramaturgische Probleme bezüglich der Spielzeit; Wessels 2014, 160-166; Trinacty 2015, 32-33; sehr ausführlich und mit umfangreicher Literatur Aygon 2016; Gegenposition bspw. Zwierlein 1966; Fantham 2000; Kugelmeier 2007. 2 Beispiele für Aufführungen z.B. bei Stroh 2008a, 216-220; Kohn 2013, 6. 3 Dass Seneca mit einigen Konventionen wie der aristotelischen ,bienséance‘ bricht, ist per se kein Ausschlusskriterium, denn er hält sich in seiner gesamten Tragödienkom‐ position nicht sklavisch an die Prämissen der Poetik (cf. Stevens 1992, 78-126, bes. 112- 126 ausführliche Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Aristoteles und Seneca). Er experimentiert und tritt mit den griechischen Vorbildern in aemulatio. Andere, ver‐ mutlich politische Gründe werden eine zeitgenössische Aufführung verhindert haben (die Gefahren der öffentlichen Präsentation von heiklen Theaterstücken finden wir schon skizziert bei Tac. dial. 2, 1; 3, 3; cf. Lefèvre 2015d, 358-359). Dies heißt aber nicht, dass Seneca deswegen eine Aufführung von vorneherein ausgeschlossen hat. 4 Cf. Amoroso 1984, 15: „Nell’errata concezione del mondo antico come un tutt’uno lon‐ tano, non ci si vuole accorgere che Seneca scriveva cinque secoli dopo Euripide, in uno stato diverso, in una temperie culturale diversa.“ Amoroso plädiert in seiner Ausgabe der Troades für die Aufführbarkeit des Stückes. 1. Grundlegende Prämissen 1.1. Aufführbarkeit Bevor auf die Konzeption des senecanischen Chores eingegangen werden kann, muss zunächst zu einigen wesentlichen, bis heute umstrittenen Diskussions‐ punkten Stellung bezogen werden, um die Prämissen festzulegen, unter denen das Thema bearbeitet wird. So steht an erster Stelle die Frage nach der Aufführbarkeit der Stücke und damit nach ihrer Konzeption als Bühnen- oder Lesestücke. 1 Aufführungen sind von der Renaissance bis heute zuhauf belegt, 2 was zeigt, dass es zumindest mög‐ lich ist, die Stücke auf die Bühne zu bringen. Es ist jedoch zu bedenken, ob die Frage nach der Aufführbarkeit im Grunde nicht müßig ist: 3 Dass die Stücke an‐ ders gestaltet sind als die griechischen Vorlagen, ist nur natürlich, da Seneca unter völlig veränderten zeitlichen Voraussetzungen schreibt. 4 Welche Darbie‐ tungsform (Selbstständiges Lesen, Rezitieren oder Bühnenaufführung) letztlich gewählt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass sich Seneca bewusst für die <?page no="30"?> 5 Keulen 2001, 27: „In my view, Seneca most likely had these three possibilities in mind and not one single intention when he wrote his tragedies.“ 6 Grimal 1964, 2; cf. ferner Herrmann 1924, 153-232; auch Fortey/ Glucker 1975, 699 klas‐ sifizieren die Stücke als „stageable“, Boyle 1997, 11 und Boyle 2011, xli als „performable“. Die Tragödien seien hiernach zumindest theoretisch als aufführbar gedacht. Dupont 1995, 12-14 konstatiert zurecht, dass die Tragödien, selbst wenn sie nicht für eine Büh‐ nenaufführung, sondern lediglich für den öffentlichen Vortrag bestimmt gewesen seien, gleichwohl als spielbar konzipiert gewesen sein müssen („des tragédies destinées à la recitatio et donc jouables“). 7 Amoroso 1984, 16: „Non si può dubitare, però, che Seneca scriveva pensando ad un pubblico e ad un pubblico della sua epoca.“ 8 Überblick bei Herrmann 1924, 78-147; Herzog 1928, 51-52; Fantham 1982, 9-14; Pratt 1983, 13-15; Töchterle 1994, 44-48; Nisbet 1995; Keulen 2001, 8-9; Grewe 2001, 14-35 mit Fokus auf die politische Verortung der Stücke; Dingel 2009, 1-11; Marshall 2014, 37-41 mit weiterer Literatur; Manuwald 2016, 166. 9 Fantham 1982, 11 erörtert die These der Tragödien als Vorübungen zu philosophischen Studien, die Seneca während dieser Zeit angefertigt haben soll. Auch Star 2015, 249 ordnet einige Stücke dieser Periode zu. Gattung der Tragödie entschieden hat und sich damit vielleicht gerade die Viel‐ falt individuell an den Kontext anpassbarer Methoden offenhalten wollte. 5 So konstatiert auch Grimal: „Il est donc effectivement possible que ces tragédies nʼaient jamais été que récitées et non jouées. Mais cela ne signifie point quʼelles nʼaient été conçues que pour la lecture et ne se rattachent pas à une tradition théâtrale.“ 6 Deswegen ist es bei der Betrachtung der Stücke vonnöten, die Dra‐ maturgie mit zu beachten, denn als Konzept ist sie stets maßgeblich und darf nicht vernachlässigt werden. Ebenfalls muss in stärkerem Maße als etwa in einem philosophischen Traktat die Wirkung auf den Rezipienten oder gar das Publikum mitberücksichtigt werden. 7 Viele zunächst erstaunlich wirkende Ele‐ mente sind dem Theaterkontext geschuldet. In diesem Sinne sollen die seneca‐ nischen Tragödien auch im Folgenden als das behandelt werden, was sie sind: Theaterstücke. 1.2. Datierung Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Frage nach der Datierung. Hilfreiche Zeugnisse zur Abfassungszeit der Tragödien sind nicht vorhanden, und so wurde versucht, anhand verschiedener Kriterien eine zeitliche Verortung in Se‐ necas Leben zu gewinnen. Datierungsversuche erstrecken sich beinahe über Senecas gesamte Biographie. 8 Manche Vertreter plädieren für eine Abfassungs‐ zeit während Senecas Exil auf Korsika. 9 So möchte Grimal in einigen Stücken manifeste Anspielungen auf die Regierungszeit des Claudius erkennen und da‐ 30 1. Grundlegende Prämissen <?page no="31"?> 10 Grimal 1991, 424-426, ordnet Agamemnon, Troades, Thyestes, Hercules furens und Oetaeus dieser frühen Abfassungszeit zu, Oedipus, Medea, Phaedra einer späteren gegen 62 n.Chr. 11 Cf. hierzu z.B. Herrmann 1924, 133-134; 146; Herzog 1928, 88-90; Fitch 1981, 289; Zwierlein 1983, 244; DeglʼInnocenti Pierini 1993/ 1994, 45-46; Nisbet 1995, 294; Keulen 2001, 549 und Dingel 2009, bes. 122-124; Star 2015, 249. 12 Cf. hierzu Pratt 1983, 14. 13 Z.B. Nisbet 1995, 294; Keulen 2001; zeitlich etwas versetzt auf 53 datiert Herzog 1928, 93. Kommentar zu diesen Versen bei Fantham 1982, 317-319 und Boyle 1994, 29-30. Zum lusus Troiae allgemein Walter 1975, 95-97. 14 Fantham 1982, 13; Lefèvre 2015m, 24-25; Boyle 1994, 29: „Imperial Rome was Troy rewritten.“ 15 Fantham 1982, 12 gibt hierzu weitere Erläuterungen. 16 Cf. Boyle 1994, 28-29. Zur allgemeinen Datierung der Tragödien Boyle 1997, 85-111. 17 Lefèvre 2015i, 245: „Leos These, der Agamemnon sei wie der Oedipus ein Jugendwerk, wird von der heutigen Forschung weder für das eine noch für das andere Stück gebilligt. Man kann aufgrund des negativen Weltbilds die Vermutung wagen, daß er in den letzten Jahren des Dichters entstanden sei: Am Agamemnon exemplifiziert Seneca die Verschuldung des Menschen durch eigene Verfehlungen, an Cassandra die Fähigkeit, dem Schicksal zu be‐ gegnen.“ Cf. auch Töchterle 1994, 47-48 und Töchterle 2014, 483. tiert sie vor 52 n. Chr. 10 Für den Hercules furens wird ferner von manchen Inter‐ preten eine Datierung vor 54 n. Chr. angenommen, da Züge der Herculesfigur in der Apocolocyntosis parodiert würden. 11 Allerdings ist es ebenso möglich, dass erst die komische Herkulesversion existierte und Seneca später Teile der Figu‐ rencharakterisierung für seine Tragödie nutzbar machte. 12 Als Anhaltspunkt wird auch die Themenwahl der Troades genommen, die sich auf den lusus Troiae aus dem Jahre 47 n.Chr., an dem Nero wohl selbst teilnahm, beziehen könnte, da die Verse 777-779 darauf anzuspielen scheinen. 13 Damit sei eine Datierung kurz nach dem Ereignis anzunehmen. Allerdings spielt schon Vergil auf den Ritus des lusus Troiae an, der bereits zuvor in Rom stattgefunden hatte. Da der trojanische Sagenkreis bei den Römern aus genealogischen Gründen ein beliebtes Thema war, 14 erscheint dieser Bezug nicht ausreichend stichhaltig. Es ist genauso gut möglich, dass Seneca hier einfach aus der Tradition geschöpft hat. Außerdem wurden politische Bezüge zur Regierungszeit Neros herausgearbeitet und die Datierung deshalb später angesetzt. 15 So nimmt Boyle beispielsweise für die Troades zwar keine direkte Datierung des Stückes vor, zeigt jedoch zahlreiche Ein‐ flüsse der Nerozeit auf und lehnt damit eine Abfassungszeit unter der Regierung von Caligula oder Claudius ab. 16 Auch weitere Forscher datieren die Tragödien auf‐ grund inhaltlicher Khaben sich verschiedenste Ansätze herausgebildetriterien in die Zeit Neros. So verortet Lefèvre die Tragödien wegen ihrer negativen Grundeinstel‐ lung an Senecas Lebensende, als er sich nach dem Tod von Burrus 62 aus der Po‐ litik bereits zurückgezogen hatte. Auch Töchterle und teilweise Grimal neigen dieser Spätdatierung zu. 17 31 1.2. Datierung <?page no="32"?> 18 Fitch 1981. Wertung bei Nisbet 1995, 299-300; Dingel 2009, 4-9. Dingel erstellt sodann selbst eine eigene relative Chronologie der Tragödien, maßgeblich aufgrund inhaltli‐ cher oder sprachlicher Entsprechungen. Insgesamt erscheint es jedoch unsicher, fest‐ zulegen, welche Motive und Ideen früher oder später entstanden sind. Mehr als vage Hypothesen lassen sich somit nicht aufstellen. Relative Chronologie v.a. aufgrund der Metrik auch bei Zwierlein 1983, 233-248. 19 Kritische Wertung dieser mechanischen Ansätze bei Töchterle 1994, 46. 20 Zur mangelhaften Quellenlage cf. Fantham 1982, 9-10. Abwegig erscheint allerdings die These, die Ribbeck 1972, 17 in den Raum stellt, Seneca habe seine Tragödien nicht erwähnt, da er sich ihrer aufgrund ihrer mangelnden Qualität geschämt habe. Ebenfalls wenig überzeugend ist die Idee, die Dingel 1974, 118 äußert, Seneca habe die Stücke nicht erwähnt, da er seine Zweifel an der Philosophie für sich behalten wollte. Ferner konzentrieren sich die Interpreten auf formale Gesichtspunkte, um eine relative Chronologie der Stücke zu gewinnen. So werden prosodische und metrische Aspekte in Betracht gezogen. Hier ist besonders die Untersuchung von Fitch zu nennen, die vielfach als plausibel bewertet wurde. 18 Das Versmaß der Chorlieder im Thyestes, Hercules furens und in den Troades sei einfacher gehalten und deshalb früher anzusetzen als beispielsweise der polymetrische Oedipus. Dieses Argument ist freilich nur unzureichend begründbar, denn es ließe sich im Gegenteil behaupten, Seneca habe nach einer Experimentierphase wieder zu schlichteren Metren zurückgefunden. Auch die These, die Kürzung des auslautenden o zeige Abhängigkeiten verschiedener Tragödien auf, er‐ scheint im Vergleich zu inhaltlichen Gesichtspunkten als schwächeres Argu‐ ment. Über den Metriker Seneca ist insgesamt zu wenig bekannt, um daraus stichhaltige Rückschlüsse auf eine Entwicklung technischer Fertigkeiten ziehen zu können. 19 Zudem fehlen direkte Äußerungen über die Abfassungszeit sowohl bei Seneca als auch bei anderen zeitgenössischen Autoren sowie schlagende Beweise in den Tragödien selbst. 20 Dass Seneca vermeidet, die eigenen Stücke zu erwähnen, weist allerdings darauf hin, dass er ein zu großes öffentliches Interesse an seinen Tragödien nicht zum Ziel hatte. Auffällig ist freilich die resignative Grundstim‐ mung der Stücke, auf die im Laufe dieser Untersuchung eingegangen werden wird. Diese deutet zumindest auf eine spätere Datierung hin. Im Folgenden sollen die Tragödien unter der Prämisse dieser zeitlichen Verortung in Senecas Leben gelesen werden. 32 1. Grundlegende Prämissen <?page no="33"?> 21 Überblick zur Problematik knapp bei Trinacty 2015, 36-38, ausführlicher bei Stevens 1992, 294-331; Littlewood 2004, 15-102, bes. 15-25, Wiener 2006, 1-5; Fischer 2008; für alle Schriften Wildberger 2006, 276-320. 22 Fischer 2008 mit Forschungsüberblick (6-10) und weiterer Literatur; ferner auch Fischer 2014, bes. 760-762. Zum Verhältnis von Philosophie in Prosa und Tragödie cf. auch Gil 1979; Trinacty 2016. 23 Fischer 2008, 4. 24 Fischer 2008, 15. Zur stoischen Vorstellung vor Seneca cf. Fischer 2008, 12-32. 25 Zum providentia-Begriff cf. Gil 1979, 25-29; Fischer 2008, 16-21; im Zusammenhang mit der Theodizee 21-35; cf. auch Wiener 2014a, 190. 26 Lefèvre 2015e, 34 und Lefèvre 2015m, 59. Ähnlich argumentiert Fischer 2008, 8. 1.3. Theodizee Für die Zwecke dieser Untersuchung essentieller ist die Frage nach der inhalt‐ lichen Absicht. Uneinigkeit besteht einerseits in der Frage nach einer etwaigen belehrenden Intention der Stücke und andererseits nach ihrer Aussage. Es finden sich politische Anspielungen, pädagogische Züge sowie im Besonderen philo‐ sophische Denkmuster. Gerade hier wurde jedoch vielfach festgestellt, dass sich signifikante Brüche im Vergleich zu Senecas Prosawerken finden. 21 Diese auf‐ fälligen Passagen sind vor allem im Bereich des Umgangs mit dem Konzept des fatum und damit einhergehend mit der Frage der Theodizee angesiedelt. Fischer hat eine umfassende Untersuchung zu dieser Problematik in Senecas Tragödien im Zusammenhang mit den Prosaschriften unternommen. 22 Sie konstatiert: „In den Dramen agieren die Götter anders, als nach den philosophischen Schriften zu erwarten wäre. Trotz der unterschiedlichen Genera und trotz der poetischen Tradition, in der sich Seneca mit seinen Tragödien bewegt, ist das durchweg negative Bild, das die Dramenfiguren von den Göttern zeichnen, auffällig.“ 23 Die Problematik liege darin, dass bei Seneca theologische und moralische Frage‐ stellungen ineinandergreifen: „Im Vergleich zur stoischen Tradition wandelt sich bei Seneca das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie: Gott spielt in seiner Philosophie in erster Linie eine ethische Rolle. Theologie und Ethik stehen bei Seneca in engerem Bezug zueinander als bei den Stoikern vor ihm.“ 24 Doch eine göttliche providentia, die das Handeln der Menschen positiv beeinflussen könnte, scheint in den Tragödien zu fehlen. 25 Um diese Diskrepanzen zu er‐ klären, haben sich verschiedenste Ansätze herausgebildet. Lefèvre will in den senecanischen Tragödien zwei Typen unterscheiden: „der dem stoischen Ideal nahekommende und der nach Ansicht dieser Lehre in verdammenswerter Weise den Affekten unterliegende Mensch.“ 26 Allerdings trifft diese schematische Un‐ terscheidung in richtiges und falsches Verhalten nicht immer zu. Viel häufiger bewegen sich die Figuren in einer Art Grauzone: Sie scheitern auf grausame 33 1.3. Theodizee <?page no="34"?> 27 Nicht zutreffend erscheint die Deutung von Gil 1979, II, der das Scheitern der Protago‐ nisten stets auf ihre eigenen Fehler zurückführt. 28 Dingel 1974, 14. 29 Dingel 1974, 17; ähnlich auch 134: die Tragödien als „Widerruf stoischer Philoso‐ phie“. 30 Wertung dieses Ansatzes bei Wiener 2006, 3-4. 31 Schiesaro 2003. 32 Marti 1945, 19. Zur Widerlegung dieser These Töchterle 1994, 19 und Wiener 2006, 298-300. 33 Wiener 2014a, 188 mit Bezug auf Staley 2010, 32-34. 34 Wiener 2006, 12. 35 Zur Analyse des fatum-Begriffs ausführlich Fischer 2008, 179-204. Weise, doch ist es nur in einigen Fällen möglich, ihren Untergang aus ihrem eigenen Fehlverhalten zu erklären. 27 In einer Vielzahl von Fällen scheint die Machtlosigkeit des Menschen, der zum Spielball der Launen des Schicksals gerät, im Vordergrund zu stehen. Radikal folgert Joachim Dingel hieraus, die Tragödien müssten von den Prosaschriften getrennt betrachtet werden und seien „autonom poetisch“ 28 und gar „die poetische Negation stoischer Vorstellungen“ 29 . Er plädiert für eine rein poetische Lesart der Tragödien. 30 Auch Alessandro Schiesaro spricht sich gegen eine stoische Interpretation der Stücke aus. Der Leser sympathisiere auf emotionaler Ebene eher mit den Schurken denn mit den Helden, da er sich in deren Gefühlswelt besser hineinversetzen könne. 31 Eine Einordnung der Stücke als „philosophical propaganda plays“, wie Berthe Marti sie postu‐ lierte, ist sicherlich zu starr und radikal. 32 Dennoch ist stoisches Gedan‐ kengut ein integraler Bestandteil der Stücke. Wiener legt ausgehend von den Thesen von Staley dar, Seneca unterstelle dem stoischen Leser auf Grundlage der stoischen Psychologie kritisches Urteilsvermögen, um die emotionalen Eindrücke der Stücke adäquat zu verarbeiten. 33 Wiener weist außerdem darauf hin, dass es wichtig sei, von dem Konzept „einer handbuchartig fixierten sto‐ ischen Lehre“ 34 abzurücken, und die Philosophie als dynamisches Konzept zu begreifen, mit dem man sich intensiv auseinandersetze. Besonders geeignet dafür sei die Gattung der Tragödie, weil sie ermögliche, das Verhalten der Menschen in außergewöhnlichen Extremsituationen zu beleuchten. Das be‐ deute, dass eine Abweichung vom orthodoxen stoischen Gedankengut nicht gleichzusetzen sei mit einer Abwendung von der Stoa als solcher. Gleich‐ wohl muss ein Weg gefunden werden, um, ausgehend von dieser Prämisse der Flexibilität, die kritische Sichtweise auf das fatum zu erklären. Erklärungen setzen hier am Verständnis des fatum-Konzepts an. 35 Boyle möchte den Be‐ griff des fatum umdefinieren, um die Stücke verständlich zu machen, und 34 1. Grundlegende Prämissen <?page no="35"?> 36 Boyle 2011, 116; hierauf stützt sich auch Trinacty 2015, 38. 37 Fischer 2008, 53-56. 38 Dies ist teilweise auch schon in den Prosaschriften der Fall: cf. z.B. benef. 4, 8, 2-3: sic nunc naturam voca, fatum, fortunam: omnia eiusdem dei nomina sunt varie utentis sua potestate. Zur Problematik auch Grimal 1991, 393; Setaioli 2014b, 389-390; Fischer 2014, 759. 39 Fischer 2008, 53. Zur Begriffsunterscheidung auch Gil 1979, 70. 40 Cf. hierzu Fischer 2008, 35-56; zum Motiv des fortunam vincere 40-41 und 46-48. Cf. auch epist. 8, 3-5. 41 Lefèvre 2015j, 272; ähnlich Lefèvre 2015g. Teilweise nimmt dieses Zurechtbiegen der Un‐ stimmigkeiten in das stoische Schema unglaubwürdige Züge an, so Lefèvre 2015h, der Phaedras Freitod als „bewußt und gefaßt“ (263) deutet. Dies scheint wenig plausibel, da Phaedra den Tod nur wählt, um in der Unterwelt wieder Hippolytus nahe sein zu können, und so bis zuletzt ihrer Leidenschaft verhaftet bleibt. versteht ihn nicht im Sinne von ‚Schicksal‘, sondern wortwörtlich als „what has been said.“ 36 Fischer legt hingegen dar, es sei zu unterscheiden zwischen dem physikalischen Begriff des Schicksals im Sinne einer kausalen Hand‐ lungskette, die mit fatum/ natura gleichzusetzen sei, und dem ethischen. Im Folgenden zieht sie abwechselnd den jeweils besser zur individuellen Situa‐ tion passenden Terminus heran. 37 Diese Methodik löst zwar einige Wider‐ sprüche, es erscheint jedoch problematisch, Senecas fatum-Konzeption für sein tragisches Werk derart umdeuten zu wollen, zumal er selbst keinerlei Hinweise für eine solche Begriffsveränderung gibt. Es ist zwingend not‐ wendig, von Senecas üblichem Begriffsverständnis auszugehen, um die Tra‐ gödien adäquat einordnen zu können. Eine Umdefinition von unbequemen Konzepten erscheint nicht legitim. Die Annäherung an das fatum muss also auf inhaltlicher Ebene erfolgen, ohne den äußeren semantischen Rahmen zu verändern. Erschwert wird das Ver‐ ständnis dadurch, dass die Begriffe fatum, deus und fortuna bei Seneca in den Tra‐ gödien oft ineinanderfließen. 38 In den Prosaschriften grenzt er fortuna stärker vom fatum ab. Fischer definiert fortuna in den Tragödien als Wahrnehmung von fatum aus menschlicher Perspektive. 39 Hierbei sei fortuna eine willkürliche, rational nicht begreifbare Macht, die mithilfe der virtus in Schach gehalten werden könne. For‐ tuna gerate somit zur Bewährungsprobe, an der man seine virtus beweisen könne. 40 Auch Lefèvre ist der Ansicht, fatum und fortuna erschienen in den Tra‐ gödien nicht „als eine Macht, die dem Menschen böswillige Fallen stellt […], son‐ dern vielmehr in der Funktion, daß sich der stoisch Gebildete als ihr gewachsen erweisen kann, ohne daß ihr Wirken nach moralischen Kriterien gemessen wird“, und weiter: „Auf die Fähigkeit, dem Geschick zu begegnen, kommt es ihm an; denn nicht, was der Mensch erträgt, ist entscheidend, sondern wie er es erträgt. […] Er kann sich stärker erweisen als alles von außen Einwirkende.“ 41 Doch Senecas Prot‐ agonisten gehen allesamt zugrunde. Selbst Figuren wie Astyanax oder Polyxena, 35 1.3. Theodizee <?page no="36"?> 42 Cf. hierzu auch S. 100-106. 43 Lefèvre 2015g, 341. 44 Cf. Wiener 2006, 12-13 und insbesondere 19-29 mit Einordnung der Rolle der Affekte und weiterer Literatur. Fischer 2008, 55 unterscheidet hier noch einmal zwischen fortuna und fatum: „Seneca bietet dem Menschen einen scheinbaren Handlungsspielraum. Gegen for‐ tuna kann sich der Mensch erheben, gegen das fatum nicht, - aber der Kampf gegen for‐ tuna ist nichts anderes als das Standhalten - und das bedeutet letztlich dasselbe, wie dem fatum willig zu folgen.“ 45 Fischer 2008, 178 wendet jedoch zurecht ein: „Denn selbst wenn der Mensch seine Hand‐ lungen selbst verursacht, bleibt immer noch die Frage offen, wie das Böse in den Men‐ schen kommt.“ 46 Lefèvre 2015b, 399; Weiterführung bei Lefèvre 2015f, 423 und 431-437. 47 Z.B. Star 2015, 247: „Perhaps Seneca’s characters are to be seen as negative exemplars, who do not understand Stoic truths.“ Dass dies z.B. nicht für Herkules gilt, ist plausibel ge‐ deutet bei Wiener 2006, 81-102. 48 Fischer 2008 hat hierzu bereits einen ausführlichen Forschungsbericht vorgelegt. Fischer zeigt ebenfalls auf, dass bereits für die Prosawerke das durchgehend positive Konzept des fatum nicht zu halten ist. Zu dieser Problematik auch Gil 1979, 18-24; Lefèvre 2015g. 49 Lefèvre 2015g, 338: „Es ist eine Welt ohne Gott, die Senecas Tragödie über weite Strecken widerspiegelt.“ deren Ende etwas versöhnlicher erscheint, können höchstens erreichen, in Würde zu sterben, ein tieferer Sinn in Form einer ‚Bewährungsprobe‘ ist auch hier nicht ersichtlich. 42 Lefèvre möchte das Scheitern aus einem bewussten Fehlverhalten er‐ klären: „Wer Gott anerkennt und sich ihm unterwirft, ist in Wahrheit frei“, 43 doch bringt die Unterwerfung unter das Schicksal keine Rettung. Sicherlich misst die stoische Lehre dem Menschen trotz seiner Determination eine gewisse Selbstver‐ antwortung für das eigene Handeln zu, da ihm durch seine ratio die Möglichkeit gegeben ist, sich für das Richtige zu entscheiden. 44 Dies beinhaltet somit auch die Freiheit zum Schlechten. 45 Lefèvres Deutung allerdings, der Mensch stehe durch diese Entscheidungsmöglichkeit über dem fatum, 46 ist problematisch. Scheint sie noch für eine Medea, Phaedra oder einen Atreus zu funktionieren, deren falsche Entscheidungen dadurch erklärbar sind, dass sie von Affekten geleitet und nicht von Vernunft motiviert sind, 47 beginnt das Konzept bei den Troades oder im Oe‐ dipus zu wanken. Die Existenz dieser Figuren erscheint in der determinierten Welt absurd, da kein Versuch, ihre Situation zu verbessern, einen Ausweg bietet. Diese negative Sichtweise auf das Schicksal als willkürliche, unverständliche Macht scheint der Auffassung des zumeist in den Prosaschriften skizzierten fatum als lenkende, wohlwollende Instanz diametral entgegengesetzt. 48 Lefèvres Idee, für diese problematischen Stücke die Präsenz einer göttlichen Macht zu negieren, 49 ist ebenfalls schwierig. Senecas Protagonisten kommen gerade wegen der stets ge‐ genwärtigen Allmacht des fatum ständig an ihre Grenzen und gehen daran zu‐ grunde. Doch dies macht die Stücke nicht unstoisch, im Gegenteil: Sie sind ge‐ 36 1. Grundlegende Prämissen <?page no="37"?> 50 Fischer 2008, 243; ähnlich auch 178 allgemein für die Tragödien. 51 Wiener 2014a, 216-217. Gegen eine streng didaktische Auslegung der Stücke und ins‐ besondere der Chorlieder auch Stevens 1992, 129-130. 52 Wiener 2014a, 188: „The crucial point, however, remains unsolved: how is Seneca the tragedian able to guarantee that the audience will make correct use of this critical jud‐ gement and come to the conclusion he intended? “. prägt von einem unverrückbaren Glauben an die Existenz eines fatum als alles regierender Instanz. Was sie aufzeigen, sind die negativen Auswirkungen, die dieses Weltprinzip für das Individuum haben kann. Die Tragödien stellen keines‐ falls einen Versuch dar, stoische Konzeptionen zu negieren, sondern sie zu relati‐ vieren. Es wird aufgezeigt, dass die eigene Existenz in Extremsituationen nicht immer sinnhaft erklärbar sein kann. Dies jedoch wie Fischer als Aporie zu be‐ zeichnen, geht zu weit: So stellt Fischer für die Troades die Überlegung an, Seneca wolle hier gar keine Antwort geben, sondern es werde „in diesem Drama nur die Vereinbarkeit von Determination und menschlicher Willensfreiheit visualisiert […] und nicht das Theodizeeproblem.“ 50 Die Frage nach Determination und Wil‐ lensfreiheit ist indes ein notwendiger Schritt im Umgang mit dem Theodizeeproblem. Ferner zeigt Seneca durchaus Möglichkeiten auf, wie man trotz der scheinbaren Absurdität des Seins einen Weg finden kann, um daran nicht zu‐ grunde zu gehen. Insgesamt ist es schwierig, sich dieser Problematik zu nähern, da Seneca selbst nirgends Hinweise auf die Deutung seiner Tragödien gibt und so keinerlei ex‐ terne Hilfestellung bietet, um die Stücke besser zu verstehen. Allerdings steht dies nicht im Widerspruch zu einer philosophisch-didaktischen Intention Se‐ necas. Wiener legt dar, dass die senecanischen Tragödien nicht dazu gedacht seien, konkrete Inhalte zu lehren, sondern eine Sichtweise auf eine sehr viel komplexere Welt zu ermöglichen und somit vielschichtigere Fragestellungen zu präsentieren, als es in Senecas philosophischen Traktaten der Fall sei. 51 Die Tragödien seien ein multidimensionales System, das eine große Fülle an De‐ monstrations- und Exemplifikationsmöglichkeiten bietet. Problematisch sei je‐ doch die Frage, wie Seneca sichergehen könne, dass der Leser die erwünschten Schlüsse ziehe. 52 Hierfür hat Seneca den Dramen einen stückimmanenten Überbau beige‐ geben, der die Komplexität des Stückes vereinfacht und es dem Rezipienten er‐ möglicht, den Argumentationsverlauf der Tragödie und damit ihre Interpreta‐ tion selbst zu erschließen. Es handelt sich hierbei um einen Part, dessen Funktion mindestens genauso umstritten ist wie die Tragödien selbst: die Chorlieder. 37 1.3. Theodizee <?page no="39"?> 53 Harrison 2015a. Im Brill’s Companion to Seneca findet sich immerhin der bereits zitierte Beitrag von Mazzoli 2014. 54 Bartsch/ Schiesaro 2015. 55 Leo 1897, 511: „Der Chor hat in Senecas Tragödien hauptsächlich das Geschäft, die vier Zwischenakte mit Liedern auszufüllen.“ Hose 2016, 113 weist darauf hin, dass dieser Funktionsverlust schon im griechischen hellenistischen Theater zu verzeichnen sei. 56 Überblick über die (bis dato) wichtigsten Deutungen am ausführlichsten bei Stevens 1992, 7-62; ferner Kugelmeier 2007, 148-153; aktuell und konzise: Mazzoli 2014; Ku‐ gelmeier 2016, 139-144. 57 Cf. z.B. Egermann 1972, bes. 43-52; Gil 1979; Pratt 1983, bes. 87 und 130; Lefèvre 2015h. Auch Star 2015 (ähnlich Star 2016) plädiert für eine philosophische Lesart der Tragödien und führt dies u.a. auf eine bereits republikanische Tradition der Nutzung der Tragödie zur Behandlung philosophischer Fragestellungen zurück. 58 Lefèvre 2015d allgemein zum politischen Gehalt der Tragödie; ferner Grimal 1979; Grewe 2001, zum Chor bes. 114-139; Lefèvre 2015c; Lefèvre 2015d; außerdem Bishop 1964 und Bishop 1985. Bishops Ansatz, die Tragödien und insbesondere die Chorlieder als politische Chiffre zu deuten und ein Register von Codewörtern zu erstellen, das eins-zu-eins-Zuordnungen von mythologischen Inhalten zu zeitgeschichtlichen Tatsa‐ chen beinhaltet, erscheint starr und fragwürdig. Wertung u.a. bei Kirichenko 2013, 2 und Trinacty 2015, 30-31. 59 Kohn 2013, 25-31; cf. auch Cattin 1963, 9, der dem Chor neben dieser technischen Funktion allerdings auch weitere zugesteht. Dewey 1937 stellt klar, dass der technische 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder Trotz manifester Probleme und ihrer noch immer strittigen Funktionsweise werden die Chorlieder in aktueller Forschungsliteratur oft einfach übergangen. So fehlen Untersuchungen zum Chor sowohl im aktuellen Brill’s Companion to Roman Tragedy 53 als auch im Cambridge Companion to Seneca . . 54 Die wichtigsten Deutungsrichtungen seien an dieser Stelle exemplarisch umrissen. Leos Stig‐ matisierung der Lieder als Zwischenaktspiele 55 und damit die Degradierung hin zu reinen ἐμβόλιμα wird inzwischen von der Forschung weitgehend abgelehnt. Ein Handlungsbezug wird vor allem auf der Ebene einer inhaltlich-thematischen Beziehung gesucht. 56 Hierbei lassen sich verschiedene Kategorien klassifizieren, die Hand in Hand mit den Deutungsversuchen der Tragödien insgesamt gehen: Besonders häufig werden die Chorlieder als Ausdrucksmittel von philosophi‐ schen Haltungen gesehen. 57 Ferner werden politische Elemente herausgear‐ beitet, um die Annahme zu stützen, die Tragödien seien dazu bestimmt, die „po‐ litische pravitas“ 58 aufzuzeigen. Neben diesen inhaltlichen Zuordnungen finden sich Interpreten, die im senecanischen Chor vor allem ein technisches Element sehen wollten, das beispielsweise Zeit für Kostümwechsel ermögliche 59 oder der <?page no="40"?> Einsatz des Chores wesentlich für die Dramaturgie der Stücke ist (Auflistung 291), aber dass es verfehlt wäre, den Chor nur hierauf zu reduzieren. 60 So vergleicht Hill 2000 Senecas Chorlieder mit Filmmusik oder Opernarien und stellt die These auf, der Inhalt der Lieder sei weniger von Belang als ihre unterhaltende Funktion. 61 Cf. Marx 1932, 14-57; Bishop 1964, 13-42; Bishop 1968; auch Mazzoli 2014, bes. 565- 567. Kritische Wertung dieser Methode bei Stevens 1992, 8-9. 62 Cf. z.B. Canter 1925, bes. 31-55; Brandt 1986; hierzu auch Pratt 1983, 150-163. 63 Guter Überblick bspw. bei Stevens 1992; Gärtner 2003. 64 Zwierlein 1966, 76-80. Auf der Annahme unterschiedlicher Chöre baut auch die Kritik von Fantham 2000 auf, die deshalb ebenfalls eine Nichtaufführbarkeit für die Troades erweisen möchte. Gegenposition mit technischen Hinweisen Marshall 2000. 65 Cf. Töchterle 1994, 218; auch Wessels 2014, 164. Wessels nimmt hier u.a. die Phoenissen als Beleg, dass Seneca seine Chorlieder erst nach der Tragödie komponiert und dann willkürlich eingesetzt habe. Dagegen z. B. Seek 1978, 391-392; Trinacty 2014, 145. Den‐ noch schließt sich nicht aus, dass die Chorlieder erst nach der Tragödie, aber dennoch nur für das jeweilige Stück komponiert wurden. Da der Chor die verdichtende Erklär‐ instanz des Stückes ist, ist anzunehmen, dass dieser als letztes verfasst wird. Zu diesem Arbeitsschritt ist es bei den Phoenissen entweder nicht mehr gekommen oder der Chor ist im Laufe der Überlieferung verloren gegangen. 66 Haywood 1969, 416. reinen Unterhaltung diene. 60 Einige Analysen konzentrieren sich auf die Metrik, die jedoch sehr mechanisch und wenig auf ihre Bedeutung untersucht wird. 61 Bisweilen werden die Chorpassagen als Redeteile gesehen und tragen somit der Meinung Rechnung, die Tragödien hätten vor allem rhetorischen Charakter. 62 Dass politische und philosophische Ebenen in die Chorlieder eingebettet und nicht einfach voneinander zu trennen sind, ist inzwischen hinreichend er‐ wiesen. 63 Strittiger ist, in welchem konkreten Zusammenhang die Chorlieder zur Aussage der gesamten Tragödie stehen und nach welchem System sie funk‐ tionieren. Als problematisch wird hier vor allem die Tatsache bewertet, dass der Inhalt der Chorlieder oft widersprüchlich erscheint, sei es, dass einzelne Lieder konträre Positionen verträten oder dass sich diese nicht mit der dramatischen Handlung vereinbaren ließen. Zwierlein sieht diese Inkonsequenzen gar als Be‐ weis für eine Nichtaufführbarkeit der Stücke. 64 Ein Erklärungsansatz hierfür beruht auf der Methode, die Lieder als selbst‐ ständige Einheit und losgelöst von der dramatischen Handlung zu betrachten. Töchterle nimmt die Konzeption der Chorlieder schon bei den griechischen Tragikern als „stock of songs“ an, also als thematischen Fundus, aus dem sich der Autor bedienen konnte, um passende Chorlieder später für die jeweilige Tragödie auszuwählen. 65 Als losgelöst von der Handlung betrachtet auch Hay‐ wood die Chöre und klassifiziert sie als „individual pieces of lyric poetry.“ 66 Auch Cattin erwägt die Möglichkeit, die Chorlieder seien ganz ohne Bezug zu einem 40 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="41"?> 67 Cattin 1963, 102: „Aussi ne nous paraît-il pas exclu que Sénèque ait écrit certains de ses chœurs à part, sans penser d’abord à les insérer dans une tragédie.“ 68 Cf. die Wertung von Mazzoli 2014, 568: „a cold classification of lyric themes“. Zusam‐ menfassung der Kritik an Cattin bei Stevens 1992, 9-10. 69 Davis 1993, 3. Interessant ist der Hinweis (10), dass die Komplexität der Lieder erst später beim Lesen der Stücke, nicht beim ersten Hören erfasst werden könne, wo man sich auf ein generelles Erstverständnis beschränken müsse. Dass die Aussage der Lieder sicherlich nicht für ein Laienpublikum gedacht war, ist evident. 70 Davis 1993, 183: „we are dealing not with the work of a philosopher, but with the work of a dramatist using philosophy for dramatic ends.“ 71 Mazzoli 1996; knappe und aktuellste Darstellung dieser These mit Anwendung auf die Tragödien in Mazzoli 2014, 561-564; abgewandelte, noch schematischere Unterteilung in Untergruppen ausgehend von Schlüsselwörtern, die sich in Chorlieder und Handlung entsprechen, Mazzoli 2006. Auch Dewey 1937 ordnet die Chorpartien verschiedenen bestimmten Stück geschrieben worden. 67 Cattin ordnet die Lieder bzw. sogar einzelne Verse verschiedenen thematischen Untergruppen zu („Les thèmes phi‐ losophiques, pathétiques, pittoresques“), wobei ein Mehrwert auf interpretativer Ebene jedoch nicht erreicht wird. 68 Davis sieht einen engeren Bezug zwischen Chor und Handlung. Ein wichtiger Schritt in seiner Arbeit ist das Aufzeigen von Parallelen einzelner Junkturen in Chorliedern und Sprechpartien der jeweiligen Tragödie, was der „stock of songs“-These deutlich widerspricht. Er kommt zu dem Schluss, hervorzuheben sei die „significance of choral odes for interpreta‐ tion of the plays.“ 69 Dabei müsse man jedoch scharf unterscheiden zwischen Seneca dem Philosophen und Seneca dem Dramatiker. Der philosophische Inhalt der Chorlieder sei lediglich zu dramaturgischen Zwecken gebraucht, um bei‐ spielsweise zu vertiefen, wie eine Figur denke oder fühle. 70 Dies erscheint ober‐ flächlich. Dass viele Lieder tiefgehenden philosophischen Gehalt haben, ist schwer von der Hand zu weisen. Deren sinnhafter Zusammenhang wird freilich zerstört, wenn man die Chorpartien, wie es in der Untersuchung von Davis geschieht, ebenfalls aus ihrem Kontext löst und nur die Bezüge zur Handlung zulässt, die in das Interpretationsschema passen. So klassifiziert Davis die Lieder in die Unterkategorien mythology, philosophy und prayer und nutzt somit die Ergebnisse, die er über die Verknüpfung von Akt und Chorlied gewonnen hatte, kaum. Auch Mazzoli stellt den Zusammenhang zur Handlung in der Zuordnung der Chorlieder zu verschiedenen Kategorien her, die in jeweils unterschiedli‐ chem Beziehungsgrad zum Aktgeschehen stünden. So unterscheidet er Kate‐ gorie K (kairós) als realen Bezug zur dramatischen Handlung, G (gnomé) für allgemeine Sinnsprüche und M (mythos), für mythische Beispiele und Ver‐ weise. 71 Zwar lassen sich die Lieder leicht nach diesem Schema klassifizieren, jedoch führt diese Zuteilung auf inhaltlich-interpretativer Ebene nicht weiter. 41 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="42"?> Funktionsgruppen zu (Teilnahme an der dramatischen Situation; philosophische Re‐ flexion; Beschreibung der dramatischen Situation, eines Charakters etc.). 72 Gil 1979, 186; ähnlich auch I-II; 88. 73 Gil 1979, 185-187. 74 Stevens 1992, 190. 75 Stevens 1992, 178: „The Chorus, I argue, is an ignorant interpreter of what it sees. It is left to us, the audience, to evaluate the presentations for ourselves, to ask whether we see things differently than the Chorus, and to determine the moral consequences of interpreting images one way or another.“ 76 Stevens 1992, 331: „The chorus is made up of perfectly ordinary citizens, but the ordinary voice of conventional wisdom is no longer noble; it speaks the folly of common opinion.“ 77 Fischer 2008, 8. 78 Fischer 2008, 123: „Der Chor, dessen Denken […] naiver Natur ist, kann nur in religiöser oder populärphilosophischer Weise reflektieren. […] Die Reflexionen des Chores er‐ weisen sich jedoch angesichts der Dramenhandlung als unbrauchbar.“ Die Ablösung der Chorlieder von der Handlung und deren Neuordnung nach Untergruppen trägt keinesfalls dem ursprünglichen Kompositionsprinzip Rech‐ nung, da der Chor so aus dem dichten Geflecht gerissen wird, in dem er eigent‐ lich geschaffen wurde. Dass die Chorpassagen offensichtlich als integraler Be‐ standteil eines bestimmten Theaterstückes konzipiert und nicht als separates Liederbuch komponiert worden sind, beweisen manifeste Bezüge und Einbet‐ tungen in den ganz spezifischen Kontext sowie in einen festgeschriebenen Ge‐ dankenverlauf. Gil betrachtet zwar die Lieder noch als losgelöst von der restlichen Tragödie, hält den Chor jedoch immerhin für ein Hilfsmittel zum Verständnis der Stücke. Problematisch ist dabei seine Auffassung, der Chor gebe „Hinweise, die dem Leser genügen, um die Handlung stoisch zu beurteilen.“ 72 Dies lässt sich nur auf einige wenige Lieder anwenden, denn eine große Anzahl ist gerade nicht sto‐ ischen Inhalts und scheint eher Verwirrung als Klarheit zu stiften. Gil unterteilt deshalb in Lieder mit und ohne Handlungsbezug. 73 Stevens kommt zu dem Schluss, der Chor sei ein „completely ignorant ob‐ server whose impressions create ambiguity and tempt the audience to misun‐ derstand the action.“ 74 Dieser Ansatz sieht den tragischen Chor als Kontrastfolie zum Aktgeschehen. Der Chor sei ein „uninformed informer“, der naiv die Ge‐ schehnisse auf der Bühne interpretiere und die Entscheidung, welche seiner Sichtweisen zu übernehmen oder zu verwerfen seien, dem Urteil des Rezipienten überlasse. 75 Diese scheinbare Naivität des Chores deutet Stevens als ironische Umkehrung des allwissenden griechischen Chores. 76 Eng an diese Deutung schließt sich Fischer an, die im Chor einen Widerhall von „populärphilosophi‐ sche[n] Meinungen“ 77 und damit keinen Vermittler von ernstzunehmenden Aussagen des Stückes sieht. 78 Das Problem an Stevens und Fischers Auffassung 42 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="43"?> 79 Kirichenko 2013, 252. 80 Kirichenko 2013, 253: „Dadurch, dass der Chor die Trennlinie zwischen der Bühnen‐ fiktion und der Außenwelt ständig kreuzt, verfestigt er den Eindruck, dass es sich bei der Bühnenhandlung um nichts anderes als ein bloßes Trugbild handelt; dadurch aber, dass er die Bühnenereignisse sowohl aus der Perspektive eines zur fiktionalen Welt gehörenden Akteurs erlebt als auch aus einer philosophisch distanzierten Perspektive heraus betrachtet, erlaubt er auch uns, das lehrreiche Potenzial dieses Trugbildes als Folge seiner emotionalen Wirkung zu erfahren.“ 81 Kirichenko 2013, 278. 82 Bishop 1964, 43. Auf Bishop baut teilweise auch die Untersuchung von Kugelmeier 2016 auf. Allerdings sieht dieser die geringe Bedeutung des Chores als dramatis persona als Hinweis auf die Nichtaufführbarkeit der Stücke (bes. 166-167; ähnlich auch Kugelmeier 2007, 148-167). Ferner negiert Kugelmeier einen direkten Handlungsbezug zwischen Akt und Chorlied, den Bishop sieht: Bishop stützt sich zunächst auf die Ideen von Monte Casoni (zitiert nach Bishop 1964, Bishop xvii: „ogni canto corale sia legato all’azione des Chores ist, dass diese Erklärung nur für die Lieder Gültigkeit beanspruchen kann, in denen tatsächlich Widersprüche zur Handlung nachzuweisen sind. Oftmals entsprechen die Chorpartien jedoch dem senecanischen Weltbild. Weiter greift der Ansatz von Kirichenko: Er nimmt zunächst an, dass der senecanische Chor „nur die Rolle eines klassischen tragischen Chors spielt.“ 79 Der Chor verfügt somit über eine gewisse Distanz und präsentiere sowohl Wahres als auch Falsches, erzeuge aber gerade durch die Vermengung zwischen Fiktion und Wahrheit eine emotionale Erschütterung beim Leser, die diesem den Weg zu einer intellektuellen Erkenntnis eröffne. 80 Gerade in der Widersprüch‐ lichkeit der Aussagen des Chores liege somit dessen Funktion als ‚lehrreiches Trugbild‘: „Die auf den ersten Blick zerrissene, sich selbst widersprechende Stimme des Chors erweist sich somit paradoxerweise als diejenige Instanz, die den disparaten, verwirrenden Sinneseindrücken, denen wir in Senecas Tragö‐ dien ausgesetzt sind, eine einheitliche Bedeutung verleihen kann. Es handelt sich dabei natürlich nicht um den - einzig richtigen - Sinn der jeweiligen Tra‐ gödie […], sondern um einen anhand des Bühnengeschehens erzielten Sinnes‐ entwurf.“ 81 Kirichenko betont hier zurecht die Konzeption der senecanischen Tragödien als Pool von Möglichkeiten, die sich für die Interpretation eröffnen. Genauso wenig bleiben die Chorlieder auf eine einzige Deutungsrichtung be‐ schränkt. Allerdings ist es wichtig festzuhalten, dass die Chorlieder nicht einfach willkürlich Übereinstimmungen oder Widersprüche in sich und zur Handlung aufweisen, sondern dass sie sich auf ein geordnetes System zurückführen lassen. Bishops Arbeiten zum Chor betonen diese strukturierte Komposition der Chorlieder. Er nimmt an, dass sich die Tragödie in zwei Stränge unterteilen lasse, die dramatic line, also die Bühnenhandlung, und die odic line, die Handlung in den Chorliedern. 82 Diese beiden Ebenen verliefen zwar parallel zueinander und 43 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="44"?> logicamente o psicologicamente e come, anche quando non sia evidente, il legame si scorga sempre nelle scene che precedono i canti.“). In den folgenden Analysen kehrt Bishop diese plausible Feststellung jedoch um, indem er davon ausgeht, dass das Chor‐ lied nicht das bereits Geschehene verdichte, sondern eine Art Vorausschau auf das Kommende liefere: „Now it is a characteristic of Senecan tragedy that the philosophy of the tragedy is presented by the choral odes, whereas the acts merely act out the principle laid down by the preceding odes.“ (Bishop 1972, 331). 83 Bishop 1964, 44. 84 Bishop 1964, 46. 85 Bishop 1964, 44. 86 Wertung von Bishops Ansatz z.B. bei Stevens 1992, 30-33. Gärtner 2003, 25; Fischer 2008, 116. Fischer gibt zunächst an, sich an Bishops Theorie orientieren zu wollen, weicht jedoch davon ab, indem sie die Lieder nicht als „line“, sondern gesondert be‐ trachtet und somit die argumentative Entwicklung innerhalb der chorischen Reflexion außer Acht lässt. Die enge politische Deutung wird in Bishop 1985 (cf. S. 39, Anm. 58) weiterverfolgt. seien vielfältig miteinander verzahnt, doch für sich genommen autark. 83 Den‐ noch ergebe sich der volle Sinn der beiden Komponenten erst durch ihr Zusam‐ menspiel: „The odic line is only an interesting series of poems unless the dra‐ matic line is there to work out the tragedy; the dramatic line is only a series of savage, blunt-edged disasters without the catastrophe-building functions of the odes.“ 84 Bishop legt sodann einen schematischen Ablauf fest, nach dem die Oden funktionierten: Das erste Lied (directive ode) erläutere allgemeine Prinzipien, alle weiteren verstärkten Einzelaspekte oder fügten neue hinzu. 85 Dieser Aufbau lässt sich jedoch nicht konsequent durchhalten. Gerade bei Liedern, die einander zu widersprechen scheinen, müssen Unstimmigkeiten mühsam weginterpre‐ tiert oder ignoriert werden, um das Konstrukt beizubehalten. Insgesamt fehlt Bishops Arbeit eine tiefergehende interpretative Anwendung seines Systems. Erst in der Conclusio wird eine politische Ebene in Betracht gezogen und werden fragwürdige direkte Zuschreibungen einzelner Tragödienfiguren zu Zeitge‐ nossen Senecas vorgenommen. Wie genau die Chorlieder zu dieser politischen Deutung beitragen, bleibt letztlich vage. 86 Dennoch bildet Bishops These in Zu‐ sammenschau mit den zuvor genannten Ansätzen eine hilfreiche Grundlage, um das senecanischen Chorkonzept zu beschreiben. Das Problem der Widersprüchlichkeit der Chorlieder ist außerdem eng ver‐ zahnt mit der Frage nach der personalen Zuordnung des Chores. Gärtner fasst den senecanischen Chor nicht als homogene Gruppe auf, sondern unterteilt ihn in zwei Chorgruppen. So gebe es „zwei grundverschiedene Typen der Chorge‐ staltung […]: einerseits den unbeteiligt aus einer Position programmatisch ge‐ priesener Mittelmäßigkeit heraus das Unglück der hochgestellten Helden be‐ obachtenden und analysierenden Chor, andererseits die konträre Spielform 44 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="45"?> 87 Cf. Gärtner 2003, 1 und 47. 88 Cf. Sutton 1986, 41-42. 89 Cf. Stroh/ Breitenberger 1994, 251 mit Anm. 23 und 261-263. 90 Cf. hierzu z.B. Brandt 1986, 2-3: „Stellt man die starke Präsenz der einen Kompo‐ nente fest, so impliziert das nicht die Unwirksamkeit der anderen.“ eines selbst am Leiden der Großen beteiligten und in der Bewältigung dieses Leidens absorbierten Chors.“ 87 Auch Sutton trifft eine Unterscheidung in pri‐ mary and secondary choruses. 88 Strohs Darlegungen gehen in eine ähnliche, al‐ lerdings stärker auf die Dramaturgie konzentrierte Richtung, wenn er für die Troades unterschiedliche Chöre annimmt, die sich auf der Bühne abwech‐ selten. 89 Trotz seiner Variabilität ist es unwahrscheinlich, dass Seneca an den Einsatz unterschiedlicher Chöre in seinen Stücken gedacht hat. Vielmehr scheint der Chor als vielfältiges Medium konzipiert zu sein. Er verkörpert zwar zumeist eine bestimmte soziale Gruppe, doch diese Zuordnung wird nicht bis in die letzte Konsequenz verfolgt. Neben der Funktion, zwischen Lied und Aktge‐ schehen überzuleiten, sind die lyrischen Partien an sich in erster Linie Erklär‐ instanz der dramatischen Handlung. In seiner Rolle als Handlungsdeuter muss der Chor dabei nicht gesichtslos sein, sondern die Zugehörigkeit zu einer be‐ stimmten Gruppierung, zumeist zu dem jeweiligen betroffenen Volk, erleichtert diese Aufgabe sogar. Indem der Chor durch die Handlung selbst betroffen wird, scheint seine Deutung unmittelbarer und glaubhafter als die eines außenste‐ henden Beobachters. Der Chor wird so auch zur Mittlerfigur zwischen Stück und Publikum. Dabei treibt er die Handlung nicht voran, sondern er vertieft ihre Deutung. In diesem Sinne dürfen die Chorlieder nicht als direkte Reaktion auf die Handlung, sondern als deren verknappte Zusammenfassung auf reflexiver Ebene gesehen werden. Dass sich hierbei Widersprüche ergeben, entspricht der natürlichen Abfolge einer Auseinandersetzung mit einem Problem, die ver‐ schiedene Argumente gegeneinander abzuwägen sucht. Kontroversen in der Gedankenführung sind hierbei nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht. Folgendes ist festzuhalten: Die Chorlieder nehmen trotz ihrer Eigenstän‐ digkeit vielfach Bezug auf das Aktgeschehen und müssen deshalb mit ihm in Verbindung gesetzt werden. Das Verhältnis von Chorpartien und dramati‐ scher Handlung muss also auf ein komplexeres System zurückgeführt werden. Zunächst ist es zwingend notwendig, bei der Analyse des Chores niemals aus den Augen zu verlieren, worauf er referiert, und die Lieder des‐ halb an eben der Position ernst zu nehmen, an der sie sich im Stück be‐ finden. Ferner ist es unmöglich, die Chorlieder auf eine einzige Deutungs‐ richtung hin reduzieren zu wollen. 90 Die Stücke sind maßgeblich geprägt von ihrem Verfasser, der die Person des Philosophen, Politikers, Rhetors und Er‐ 45 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="46"?> 91 Cf. Trinacty 2015, 38. 92 Cf. zu diesem Problem auch Wiener 2006, 2, Anm. 2 und 3. ziehers in sich vereint. 91 Diese Prämisse gilt nicht nur für die Chorlieder, sondern für die Deutung der Tragödien insgesamt. Gerade diese Vielschich‐ tigkeit erschwert gleichwohl ihre Fassbarkeit. Hierdurch besteht die Gefahr, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. 92 Es ist somit wichtig, sich vor dem Hintergrund der Mehrdeutigkeit die Frage nach der Hauptintention der Stücke zu stellen. Diese ist im Kern stets philosophisch-theologischer Natur, wobei die eingangs skizzierte Theodizeeproblematik eine wichtige Rolle spielt. Dass zusätzlich weitere Ideen aus anderen Bereichen einfließen, er‐ gibt sich zwangsläufig aus der Person des Schreibers selbst, dessen Erfah‐ rungen und Sichtweisen den Tragödien eine politische und pädagogische Couleur geben. Man muss also bei der Betrachtung von Senecas Tragödien nach der Leitidee suchen, die das Stück zusammenhält. Diese ist jedoch nicht nur implizit in die Handlung der Dramen eingewoben, sondern explizit formuliert in den jewei‐ ligen Chorpartien: Die ‚odic line‘ ist nicht einfach nur erweiternde Parallel‐ handlung, sondern dient der Interpretation der ‚dramatic line‘. Allerdings darf nicht ein einzelnes Lied für sich als Interpretationsaussage gesehen werden, sondern die Gesamtheit aller Chorpartien in einer Tragödie. Der Chor fungiert gleichsam als Prozesshelfer, der den Rezipienten beim Verständnis der Tragödie unterstützt. Dabei bilden die einzelnen Lieder nacheinander den Verstehens‐ prozess ab, der letztlich zur Erkenntnis der Stückaussage führt. Widersprüche und Kontraste sind deshalb erlaubt, da Fehlschlüsse und Rückschritte natürli‐ cher Bestandteil dieses Vorgangs sind. 46 2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder <?page no="47"?> 93 Lefèvre 2015h, 264 zu Marx 1932, 8-9. 94 So unterstellt Gärtner 2003, 1 dem Chor im Thyestes gar „geistige Demenz“. 95 So z.B. Grimal 1964, 2: „On a souvent lʼimpression quʼelles interrompent lʼaction, ou même ne sʼen soucient pas.“ 96 Kirichenko 2013, 250, Anm. 6. 97 Dass die Methode der Inhaltsverdichtung generell ein konstitutives Merkmal der Senecatra‐ gödien ist, zeigt die Untersuchung von Seidensticker 1969. 3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie Den Chorliedern liegt ein Prinzip zugrunde, das sowohl alle wichtigen inhaltlichen Komponenten mitberücksichtigt als auch eine Handreichung zum Verständnis der Tragödien darstellt. Dass die Chorlieder maßgeblich zur Deutung der Tragödien beitragen, wurde oftmals bemerkt. So konstatiert Lefèvre mit Rückbezug auf Marx: „Wenn W. Marx zu Recht behauptet hat, Senecas Chor stehe über den Ereignissen, seine Lieder seien nicht ein Akt der Hingabe, sondern eher eine Zugabe, er ge‐ winne keine Einsicht, sondern habe eine Ansicht, er fühle sich vom Geschehen nicht angesprochen, sondern sage etwas dazu - darf man erwarten, daß Seneca die Deutung des Geschehens in den Chorliedern vorträgt.“ 93 Allerdings wird dieser Ansatz nicht konsequent weiter verfolgt. Zwar wird der Chor als objektiver Deuter angesehen, gleichzeitig werden ihm jedoch logische Brüche 94 vorgeworfen, wenn die Chorlieder nicht zum Aktgeschehen passen. 95 Ein erhellendes Bild liefert Kiri‐ chenko: „Es ist fast so, als sei der Chor ein an einem offenen Fenster stehender Passant, der alles, was sich innerhalb des Hauses abspielt, beobachten und sich sogar mit seinen Bewohnern unterhalten kann, der aber nicht in der Lage ist, ir‐ gendetwas dagegen zu unternehmen, wenn die Bewohner entscheiden, das Fenster von innen zuzuschließen.“ 96 Allerdings bleibt es nicht bei dieser passiven Rolle des Chores: Er ist nicht nur Beobachter, sondern auch Betroffener und vor allem Deuter, der die Funktion übernimmt, dem Zuschauer die Geschehnisse im Haus zusammenzufassen und zu erklären. Diese Deutung des Geschehens erfolgt nach einem fest disponierten Ablauf. Die Chorlieder spiegeln in chronologischer Abfolge die Kernaussagen der einzelnen Akte wider. Senecas Chorliedern ist in seinen Tragödien eine Schlüsselrolle zuge‐ dacht. Sie sind dafür verantwortlich, den Kern der Tragödie zu verdichten. 97 Ihre Aufgabe ist es, die wichtigen Leitideen, die tragend für das Stück sind, geordnet aufzuzeigen. Das maßgebliche System, auf das sie sich zurückführen lassen, ist also ein literarisches. Sie bilden gleichsam eine Tragödie im Kleinen, die jedoch von sämtlicher Handlung entschlackt ist. Die Chorlieder formen den Leitfaden zur In‐ <?page no="48"?> 98 Dällenbach 1977; knapper und mit Abgrenzung zur Metalepse Cohn/ Gleich 2012; ferner Wolf 1993, 295-296; Scheffel 1997; Nünning 1998, 373. 99 Ménestrier 1691, 20 (Graphie sic). 100 Furetière 1690, Art. Abysme (Graphie sic). Weitere Erläuterungen zu diesen Definitionen bei Gruber 1987, 224-225. 101 Nach Dällenbach 1977, 17: „lʼimage dʼun écu accueillant, en son centre, une réplique minia‐ turisée de soi-même.“ 102 Zur Begriffsgeschichte cf. Gruber 1987, 220-230, auch mit Hinweisen zur Graphie; Nünning 1998, 373; außerdem Dällenbach 1977, 9 und 15-19; für die Rolle im Theater bes. 22-25; ferner Voigt 1954. Voigt betont hier auch die Rolle des Chores, der als „Zwischenschicht“ in Form einer mise-en-abyme vermitteln könne (11). 103 Dällenbach 1977, 23 weist auf diese von Gide nicht intendierte Ausweitung des Begriffs hin: „Ce quʼil [Gide] exige en revanche, cʼest, on lʼa vu, quʼelle transpose le sujet même de l’œuvre.“ „Sujet“ ist nach Dällenbachs Definition dabei die gesamte Aussage des Werks, nicht nur ein Teilgebiet oder lediglich das Thema im wortwörtlichen Sinne (61). Zu dieser problematischen Konzeptausdehnung auch Gruber 1987, 220. 104 Dällenbach 1977, 76. 105 Dällenbach 1977, 78: „elle fait le départ entre ce qui est essentiel et ce qui n’est qu’acces‐ soire.“ 106 Dällenbach 1977, 19: „meilleure que toute autre, la métaphore héraldique est seule habilitée, en dernière instance, à dire ce que, dans certains de ses livres, l’écrivain ‚a voulu‘.“ terpretation der Tragödien. Diese reduzierende Spiegelung des Wesentlichen lässt sich literaturtheoretisch mit dem Begriff der mise-en-abyme fassen. Dällenbach hat eine umfassende Monographie zur Erklärung dieses Konzeptes vorgelegt. 98 Ur‐ sprünglich stammt der Begriff aus der Heraldik und findet sich beschrieben bei Mé‐ nestrier: „Abime est le milieu & le centre de l’Ecu, quand on suppose que l’Ecu est rempli de trois, quatre ou plusieurs autres figures, qui etant elevées en relief font de ce milieu une espece d’Abime.“ 99 Etwas präziser ist die Definition von Furetière im Dictionnaire universel von 1690: LʼAbyme sei „Terme de blason. C’est le cœur, ou le milieu de l’Escu, ensorte que la pièce qu’on y met ne touche et ne charge aucune autre pièce telle qu’elle soit. Ainsi on dit d’un petit Escu qui est au milieu d’un grand, quʼil est mis en abyme.“ 100 Die mise-en-abyme bezeichnet in der Heraldik also eine Miniatur des Wappens, die in dessen Mitte noch einmal abgebildet wurde. 101 Diese Theorie wurde später für die Literatur nutzbar gemacht und maßgeblich von André Gide für den nouveau roman weiterentwickelt. 102 Im Laufe der Zeit wurde sie auf immer kompliziertere Randphänomene angewendet, 103 in ihrer Grundbedeu‐ tung bezeichnet sie jedoch nach Dällenbach Folgendes: „l’aptitude de doter l’œuvre […] d’un appareil d’auto-interprétation. En affirmant d’un récit que rien ne lʼéclaire mieux que sa mise en abyme.“ 104 Die Quintessenz des Werks wird in knapper Form auf verdichtetem Raum dargelegt. 105 Dies dient der konzisen Bestimmung der Au‐ torintention. 106 Dällenbach unterteilt die mise-en-abyme dabei in verschiedene Ver‐ wendungsformen: Erstens als einmalig auftretendes Phänomen, zweitens als stück‐ 48 3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie <?page no="49"?> 107 Cf. Dällenbach 1977, 82. 108 Cf. S. 24. weise über die Erzählung verteiltes System, das mit dieser in stetiger Verbindung steht, und drittens als Motiv, das mit gleichbleibender Aussage in verschiedener äußerer Form immer wieder auftaucht. 107 Senecas Chorlieder lassen sich der zweiten Gruppe zuordnen. Sie präsentieren über die gesamte Tragödie hinweg den Argu‐ mentationsgang der Interpretation, indem sie die wesentlichen Aussagen der ein‐ zelnen Akte der Reihe nach verdichten. Ziel der folgenden Untersuchung soll es sein, aufzuzeigen, dass die Chorlieder in den senecanischen Tragödien das Element sind, das die Idee des Stückes maßgeblich transportiert. Dies kann nur erkannt werden, wenn man die Chor‐ lieder in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachtet und sie im komplexen Handlungszusammenhang an der ihnen zugedachten Position behandelt. Es soll im Folgenden eine Analyse zweier Stücke anhand ihrer Chorlieder erfolgen, um deren Funktion und Einbettung in die Tragödien zu erweisen. Diese soll, wie eingangs erläutert, 108 die Tragödien Oedipus und Troades zum Gegenstand haben, da sie beide hinsichtlich der Theodizeefrage als besonders problematisch empfunden werden und deshalb ihre Interpretation in der Forschung stark um‐ stritten ist. Ihre Chorpartien können, wie gezeigt werden wird, hierfür eine Lö‐ sung anbieten. 49 3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie <?page no="51"?> 109 Zum Vergleich der Struktur der beiden Stücke cf. Pratt 1939, 91-104; Müller 1972; Schetter 1972a; Walter 1975, 23-27; Aygon 1998; Wiener 2006, 103-109 mit wei‐ terer Literatur; Fischer 2008, 261-262; Boyle 2011, xlix-lxx auch zu weiteren Quellen; Lefèvre 2015m, 54-56; ferner Töchterle 1994, 9-18 und Töchterle 2014, 490. Töchterles Kommentar wird im Folgenden maßgeblich herangezogen und wo nötig durch weitere Literatur ergänzt. Einige darüber hinausgehende Ansätze sowie aktuelle weiterführende Literatur bietet Boyle 2011. 110 Sen. benef. 1, 6: Itaque non, quid fiat aut quid detur, refert, sed qua mente, quia be‐ neficium non in eo, quod fit aut datur, consistit, sed in ipso dantis aut facientis animo. […] Animus est, qui parva extollit, sordida inlustrat, magna et in pretio habita deho‐ nestat. Sen. epist. 95, 57: Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas. 4. Fallbeispiele 4.1. Oedipus Senecas Oedipus unterscheidet sich signifikant von der sophokleischen Vor‐ lage. 109 Bei Sophokles wiegt sich Oidipus zu Beginn in Sicherheit, erst im Laufe des Stückes beginnt seine Welt mit dem schrittweisen Erfassen der Wahrheit zu wanken. Der senecanische Oedipus ist von Beginn des Stückes an zutiefst verunsichert und von dunklen Ahnungen wegen Apolls Schick‐ salsspruch geplagt. Das Stück konzentriert sich weniger auf die Wahrheits‐ findung als solche als auf die Abbildung des Erkenntnisprozesses der ei‐ genen ausweglosen Situation. Dieser ist gekennzeichnet durch das stetige Scheitern des Protagonisten, der die eigene Hilflosigkeit immer mehr be‐ greifen muss. Die übergeordnete Macht, der Oedipus ausgeliefert ist, ist das fatum, das ihn ins Verderben treibt. Oedipus versucht zu verstehen, wehrt sich und verliert dennoch am Ende. In diesem Stück geht es Seneca weniger darum, eine Lösung oder einen Ausweg aufzuzeigen, sondern darzulegen, wie der Mensch die Welt begreifen kann und wie diese seiner Meinung nach konzipiert ist. Dabei steht zentral im Stück die Frage der Schuld und Verantwortung in einem determinierten System. In der stoischen Philosophie ist im Grunde für die Schuldhaftigkeit einer Person nur die eigene Gesinnung wichtig. Beson‐ ders Seneca hebt die Rolle des animus, also des Vorsatzes bei einer Hand‐ lung, hervor. Ist eine gute Handlung nicht intendiert, ist es auch keine gute Handlung, und umgekehrt: Liegt keine Absicht bei einer schlechten Tat vor, ist eine Person auch nicht schuldig. 110 Dann ist die Handlung vom Schicksal <?page no="52"?> 111 Zur Behandlung der Schuldfrage und des Vorsatzes in der Stoa cf. Forschner 1981, 199-211; Inwood 1985, 95-101; Wiener 2006, 245-254 und 103-129 zum Oedipus. Zur Schuldfrage im Oedipus auch Park Poe 1983; Davis 1991. Stevens 1992, 85-98 weist außerdem auf den Gedanken der hamartia hin. Der Begriff sei zunächst mit Aristoteles als „foreseeable injury without vice“ (89) aufzufassen. Für die Tragödie sei er dahingehend auszuweiten, dass der error nicht notwendigerweise in der Ver‐ antwortung des Menschen selbst liegen müsse, sondern ebenso durch eine überge‐ ordnete göttliche Macht provoziert werden könne, indem der Mensch durch das Schicksal in eine Position gebracht werde, in der sich gar keine andere Möglich‐ keit böte, als einen Fehler zu begehen (91; 97-98). Laut Stevens gelte dieses Prinzip jedoch nicht als Entschuldigungsgrund in den senecanischen Tragödien (161). Der Mensch habe die Verantwortung, sich fehlerfrei in sein fatum zu fügen, dass der Mensch dabei oft scheitere, sei die Tragik des täglichen Lebens und deshalb idealer Stoff für die Tragödien. 112 Sen. dial. 2, 7, 4: Potest aliquis nocens fieri, quamvis non nocuerit. […] Omnia scelera etiam ante effectum operis, quantum culpae satis est, perfecta sunt. 113 Cf. zu diesem Problem Wiener 2006, 107-108. bestimmt und gewollt. 111 Diese Dominanz der Intention bei der Bewertung einer Handlung geht so weit, dass jemand als schuldig angesehen wird, der eine schlechte Handlung nur geplant, aber letztlich wegen äußerer Um‐ stände nicht habe ausführen können. 112 Eine Fallprüfung nach der stoischen Ethik konzentriert sich also auf die Frage nach dem Vorsatz. Es ist somit möglich, dass zwar der Tatbestand objektiv erfüllt ist, da eine Tat tatsächlich begangen wurde. Dennoch ist dies nach stoischer Auffassung nicht zwangsläufig verurteilbar, wenn kein Vorsatz vorliegt, die Er‐ füllung des Tatbestandes auf subjektiver Ebene also entfällt. Es wurde kein Un‐ recht begangen, da sich Unrecht durch den bewussten Verstoß gegen eine Regel oder einen Wert charakterisiert. Spielt man dieses Schema an der Figur des Oe‐ dipus durch, müssen zunächst zwei Fälle unterschieden werden. Die Hauptan‐ klage besteht im parricidium und im Inzest mit Iocaste. In diesem Fall ist der objektive Tatbestand erfüllt (Oedipus hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet). Der subjektive Tatbestand ist hingegen nicht erfüllt, denn Oedipus weiß nicht um seine wahre Identität und kann somit weder in Laius noch in Iocaste seine Eltern erkennen. Nach stoischer Lehre wäre Oedipus aufgrund seines Nichtwissens nicht schuldig zu sprechen. Scharf davon zu scheiden ist der Nebenanklagepunkt. Interpreten haben der Figur des Oedipus vorgeworfen, er habe, auch wenn er für den Vatermord nicht zur Rechenschaft zu ziehen sei, nichtsdestotrotz einen Mann getötet und damit Unrecht begangen. 113 Zwar ist diesmal der Tatbestand auf objektiver und auf subjektiver Ebene erfüllt (Laius ist tot und Oedipus wollte ihn töten), allerdings lässt sich für das Verhalten von Oedipus hier ein Rechtfertigungsgrund anführen: Oedipus betont, es habe sich 52 4. Fallbeispiele <?page no="53"?> 114 Töchterle 1994, 18-19. 115 Fischer 2008, 246-266 möchte hier den fatum-Begriff umdefinieren, um das Theodi‐ zeeproblem zu umgehen, da es sonst beim Oedipus um ein nicht erklärbares Phänomen der stoischen Philosophie gehe (261). Es handele sich um fortuna, nicht um fatum, „dass trotzdem fatum verwendet wird, liegt an der Vorstellung des unabwendbaren Verhäng‐ nisses, die mit dem Geschehen verbunden ist und die der fortuna-Begriff nicht fasst. Mit der stoischen Vorstellung des fatum hat Oedipusʼ Verwendung des Begriffs nichts gemein.“ (248-249). Dieses Vorgehen, die fatum-Konzeption so zu verändern, dass sie wieder ins Bild passt, ist weder notwendig noch legitim. Zur Darstellung des Schicksals im Oedipus cf. bes. auch Aygon 1998. um Notwehr gehandelt, da sein Gegner ihn zuerst angegriffen habe (cum prior iuvenem senex / curru superbus pelleret, 770-771). Oedipus verteidigt in diesem Sinne nur sein Recht der eigenen körperlichen Unversehrtheit und ist von der Schuld freizusprechen. Das Problem, das Seneca in seiner Tragödie aufwirft, ist jedoch nicht das der feststellbaren Schuld, denn hier ist Oedipus nach stoischer Auffassung nicht zu belangen. Die Schwierigkeit besteht auf Gewissensebene: Unabhängig davon, dass Oedipus von außen nicht verurteilt werden kann, hat er gleichwohl Unge‐ heuerliches begangen. Im Lateinischen lässt sich diese Spannung mit den Be‐ griffen nefas und scelus beschreiben. Zwar kann Oedipus vom menschlichen scelus freigesprochen werden, doch der Tatbestand des nefas übersteigt das ir‐ dische Rechtssystem, da es einen Verstoß gegen die Weltordnung darstellt. Dieser spiegelt sich zum einen sichtbar in der Pestgeißel, die Theben heimsucht. Um diese abzuwenden, wäre es ausreichend, den frevelhaften König Oedipus seines Amtes zu entheben und Buße tun zu lassen. Doch das Problem liegt in Oedipus selbst. Für ihn ist es nicht möglich, seine Schuldlosigkeit anzunehmen, da er dann auch seine Taten anerkennen müsste. Dies steht für ihn aufgrund der Schwere der Vergehen jedoch außer Frage. Töchterle fasst zusammen: „Vor der Ungeheuerlichkeit großer, wenn auch subjektiv unschuldig (im error) began‐ gener Verbrechen (scelera) versagt also das moralische Modell der Stoa für den Täter und dessen Tragik vertieft sich zu fast völliger Ausweglosigkeit. Wen das Schicksal für solche Taten vorsieht, der ist durch diese scelera befleckt, auch wenn er sie im error begeht.“ 114 Die Determination durch das fatum treibt Oe‐ dipus in das Verbrechen hinein. 115 Die Entschuldigungsmethode, die die Stoa hierfür anbietet, ist für ihn nicht gültig, da auf emotional-psychologischer Ebene ein Akzeptieren seiner Verbrechen unmöglich ist. Senecas Oedipus exemplifi‐ ziert das Hadern des Menschen mit der Welt, der am Schluss zu der resignie‐ renden Erkenntnis kommen muss, dass er dem Schicksal hilflos ausgeliefert ist. Das Glaubens- und Rechtssystem, das die Stoa für eine ethische Bewertung an‐ bietet, stößt an seine Grenzen. Gleichwohl ist das Stück keine Abkehr vom sto‐ 53 4.1. Oedipus <?page no="54"?> 116 Im sophokleischen Oidipus tritt anstelle eines Götterprologs ebenfalls Oidipus auf die Bühne, allerdings mit Creon und einem Priester als Dialogpartner, die ihn über die verheerende Lage der Stadt Theben in Kenntnis setzen, die von der Pest heimgesucht wird. Bei Seneca übernimmt diese expositorische Funktion der König selbst. Insgesamt fällt auf, dass Oedipus einen großen Prozentsatz der Redeanteile im gesamten Stück erhält. Seneca stellt einen einzigen Protagonisten ins Zentrum des Geschehens, der so völlig alleingelassen erscheint. Cf. Lefèvre 2015k, 326-329, der Oedipus gar als mo‐ noman deutet. Zur Rolle der Monologe bei Seneca cf. auch Lefèvre 2015m, 63-64. 117 Die Pest nimmt in seiner Schilderung ungeheuerliche Ausmaße an. Die Vorlagen bei Thukydides, Sophokles und Lucrez sind bis zum Exzess übersteigert; cf. ausführlich Cattin 1963, 40-51; Schmitz 1993, 25-29; ferner Töchterle 1994, 166-168 zum Vergleich mit den Vorbildern. 118 Zwar weist Oedipus den Vorwurf der Angst (haud est virile terga Fortunae dare, 86) in seiner späteren Unterhaltung mit Iocaste vehement zurück (abest pavoris crimen ac probrum procul, / virtusque nostra nescit ignavos metus, 87-88), doch seine vorherge‐ henden Äußerungen strafen ihn Lügen. Zur Furcht als charakteristischer Affekt des Oedipus cf. Töchterle 1994, 137-139; Aygon 2015, 272-277. 119 Diese düstere Vorahnung ist wesentlich stärker ausgeprägt als bei Sophokles, wo Oi‐ dipus anfänglich noch keinerlei Zusammenhang zwischen seiner Herrschaft und der Pest sieht. Er vermutet sogar, das Erschlagen der Sphinx könne eine späte Rache her‐ vorgerufen haben. ischen Weltbild, sondern zeigt auf, dass Extremsituationen existieren, in denen das fatum weder Sinn noch Trost spenden kann und deshalb nicht positiv zu bewerten ist. Diesen Verstehensprozess hat Seneca in den Chorliedern des Stü‐ ckes abgebildet. 4.1.1. Exposition des Leids Der senecanische Oedipus beginnt mit einem Monolog des Königs, 116 der die Verheerungen der Pest in Theben beschreibt. 117 Oedipus versucht den Grund für dieses Leid zu begreifen. Er vermutet hinter der Pest eine finstere Ursache. Seine gesamte Rede ist geprägt von einer unbestimmten Furcht, die er empfindet (horrore quatior). 118 Die Ahnung einer eigenen Mitschuld schwelt in ihm, da er von der Krankheit bisher verschont wurde (cui reservamur malo? , 31) und er argwöhnt, dass seine Vergangenheit mit der Bestrafung der Stadt zusammen‐ hängen könnte (sperare poteras sceleribus tantis dari / regnum salubre? fecimus caelum nocens, 35-36). 119 Er versucht diese Beunruhigung jedoch zu negieren, da er glaubt, der unheilvollen Prophezeiung des Apollonorakels entronnen zu sein und so den drohenden Inzest vermieden und die Naturgesetze durch sein freiwilliges Exil gewahrt zu haben (tua, / natura, posui iura, 24-25). Selbst an die Königsherrschaft, durch ihre herausgehobene Stellung stets gefährdet, sei er nur zufällig geraten (in regnum incidi, 14). Dass er das Orakel durch die Tötung des 54 4. Fallbeispiele <?page no="55"?> 120 Zum doppelten Pestmotiv cf. Schmitz 1993, 40-41. 121 Cf. Lefèvre 2015a, 323: „Es ist, als klinge im Chor Oedipusʼ innere Stimme nach, als spinne er die von Oedipus geäußerten Gedanken weiter. […] Seine Stimme könnte in einer mo‐ dernen Inszenierung über den Lautsprecher kommen, um sinnfällig zu machen, daß sie gleichsam der ‚innere‘ Monolog des monomanen Oedipus ist.“ Anzumerken ist, dass der Bezug der Pest auf Oedipus selbst von Schuldgefühlen und einem Verantwortungsbewusst‐ sein für seine Stadt zeugt, deren Verderben er nicht sein möchte; cf. hierzu Gärtner 2003, 16. 122 Gil 1979, 186 verweist darauf, dass die Themaexposition generell ein Proprium des ersten Chorliedes in den Seneca-Tragödien sei. Cf. auch das erste Chorlied der Phaedra, das der Liebe als dem treibenden Affekt im Stück gewidmet ist. 123 Nach Arabien (117), zu den Parthern (119), bis nach Indien (123). Die Völkernamen stehen symbolisch für die enorme geographische Ausdehnung; cf. Töchterle 1994, 223. 124 Lefèvre 2015a, 316 weist darauf hin, dass Seneca die Chronologie für seine Zwecke leicht verändert, da Bacchus laut der Mythologie eigentlich erst nach dem Indien‐ feldzug nach Theben gekommen sei. Laius und die Heirat mit Iocaste schon längst erfüllt hat, ist ihm nicht bewusst. Und so bleibt er ratlos angesichts der grausamen Strafe, mit der sein Reich ge‐ schlagen wird. Oedipus, der Rätsellöser par excellence, steht vor einem Myste‐ rium, für das er keine Erklärung finden kann. Er hofft schließlich auf Hilfe von außen: Creon wurde zum Apollonorakel geschickt, um dessen Rat einzuholen. Nach dieser Exposition folgt das erste Chorlied (110-201). Dieses behandelt ebenfalls die Pest. 120 Die Bezüge zwischen der Rede des Königs und dem Chorlied sind teilweise so eng, dass Lefèvre gar vermutet, es handle sich um einen inneren Monolog des Königs, der die Rede im Stillen weiterspinne. 121 Es ist jedoch nicht notwendig, dem Chor die Worte aus dem Mund zu nehmen. Gerade der enge thematische Bezug zur dramatischen Handlung ist das Proprium der Lieder. So ist hier die Aufnahme des beinahe identischen Themas keine Redundanz, son‐ dern die selbständige Darlegung der Problematik seitens des Chores. 122 Der Un‐ terschied zur Darstellung des Oedipus liegt in der Perspektive: Im Chorlied sprechen die Bürger von Theben, die vom Leid unmittelbar selbst betroffen sind. Oedipus ist bei seiner Beschreibung der Pest außenstehender Beobachter, da das Königshaus von der Seuche verschont bleibt. Gerade dies wertet Oedipus als Indiz für seine Verantwortlichkeit für das Leid, das über die Stadt kommt. In den ersten Versen (110-113) wird Thebens desolate Situation be‐ schrieben, die mythische Vorgeschichte und der Indienfeldzug des Gottes Bacchus (113-123). Bacchus, der Schutzgott der Stadt Theben, sei von den Thebanern seit jeher unterstützt worden und so seien sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt, 123 um für ihn zu kämpfen. 124 Sie selbst entbehrten nun je‐ doch jeder Hilfe. Die Erwähnung dieses Feldzuges ist auf der einen Seite ein wehmütiger Rückblick auf die glorreiche Vergangenheit, andererseits ein 55 4.1. Oedipus <?page no="56"?> 125 Cf. Töchterle 1994, 222. 126 Zu den Abweichungen und Parallelen zu den Vorlagen ausführlich Töchterle 1994, 228-235. 127 Lefèvre 2015a, 317 weist hierbei auf die gliedernde Funktion der Adoneen hin, die die Sapphiker unterteilten. Zur Metrik des 1. Chorliedes allgemein Töchterle 1994, 219-220. 128 Eine ähnliche Reihenfolge der Erkrankung ausgehend vom Opfertier findet sich bei Verg. georg. 3, 486-503; cf. dazu Töchterle 1994, 228. 129 Lefèvre 2015a, 317 stellt die Gelenkfunktion dieser Verse heraus, die die durch dy‐ namische Anapäste charakterisierte zweite Hälfte des Liedes einleiteten. Zum Bezug auf Verg. Aen. 3, 137-142 cf. Schmitz 1993, 50. 130 Cf. den Prolog des Oedipus: nec ulla pars immunis exitio vacat, 52. 131 Cf. Lefèvre 2015a, 319. 132 Cf. Lefèvre 2015a, 318: „Durch die Aneinanderreihung untereinander nicht zusam‐ mengehöriger Bilder sollte einfach die Vorstellung ‚Hölle auf Erden‘ evoziert werden.“ Vorwurf an Bacchus, der die Treue seines Volkes nicht durch göttliche Hilfe belohnt. 125 Der Chor äußert Unverständnis für die unbegreifliche Gewalt und identifiziert sie als das Schicksal selbst (labimur saevo rapiente fato, 125). Der Chor fühlt sich diesem saevum fatum schutzlos ausgeliefert und findet keine Erklärung für dessen Grausamkeit. Es folgt eine detaillierte Beschreibung des ungeheuren Ausmaßes der Pest, die durch die persönliche Betroffenheit des Chores die Darstellung des Oedipus an Grausamkeit deutlich übertrifft. Sämtliche Lebewesen sind von der Pest befallen: 126 Haustiere (133-144), Wei‐ detiere und Wildtiere (145-153). 127 Makabererweise erkranken die ersten Tiere im Moment ihrer Opferung, 128 einer gottesfürchtigen Handlung (135- 138). Die Seuche scheint sich somit durch religiös korrektes Verhalten nicht aufhalten zu lassen. Nach den Tieren wird auch die Flora befallen und ver‐ nichtet (154-158). 129 Schließlich werden durch diese universelle Kontamina‐ tion 130 sämtliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt, was sich anhand allerlei düsterer Prodigien zeigt (160-179). Der gesamte Kosmos ist von der Pest be‐ fallen. 131 Die verschiedenen Episoden des Grauens, die daraus resultieren, ermangeln jeder rational erfassbaren Struktur und versinnbildlichen so das Chaos, das auf der Erde herrscht. 132 Der Chor nimmt nun die Auswirkungen der Krankheit auf das Individuum in den Blick und zählt deren Symptome auf (180-201). Anders als Oedipus, der keinen direkten Kontakt mit der Krank‐ heit hat und der vor allem die Folgen, nämlich die zahlreichen Begräbnisse beschreibt, kann der Chor hier ins Detail gehen, da die Bürger von Theben die Krankheit am eigenen Leib erfahren. Die Qualen seien schlimmer als der Tod (o dira novi facies leti, / gravior leto, 180-181): Der Körper sei schwach (piger ignavos alligat artus / languor, 182-183) und von fiebriger Hitze ge‐ 56 4. Fallbeispiele <?page no="57"?> 133 Auch Oedipus hatte zu Beginn des Stückes bereits um den Tod als Erlösung ge‐ beten (71-74.) 134 Lefèvre 2015a, 320-321 deutet: „Dementsprechend erhoffen sich die Menschen keine Rettung, sondern betrachten sich willig als Opfer. […] Es ist Zynismus, daß sich solches Geschehen in einem traditionellen kultischen Rahmen vollzieht, aber es ist wie in anderen Tragödien Senecas ‚a cult without god‘.“ Die Annahme des zyni‐ schen Untertons ist treffend, da sich die Götter hier tatsächlich als grausame, in‐ differente Instanz erweisen. Sich gerade ihnen zu Füßen zu werfen, erscheint als bittere Ironie. Allerdings wirkt das erste Chorlied gerade nicht so, als würden sich die Menschen willig als Opfer betrachten. Der Tod bleibt ihnen stattdessen als letzter Rettungsanker, da ein Weiterleben unendliche Qualen bedeuten würde. 135 Auch Caviglia 1996, 90 weist auf die bisher ungelöste Problemsituation hin, zu deren Klärung der Chor mit diesem Lied nichts beigetragen hat: „Nessuna ‚risposta‘ quindi dal Coro.“ 136 Der Tod des Laius müsse gesühnt werden (217-218); der flüchtige Fremde müsse ver‐ trieben werden (234-235); der Mörder habe ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Mutter (238). plagt (tum vapor ipsam / corporis arcem flammeus urit, 184-185), Blut tropfe aus den Nasenlöchern (stillatque niger naris aduncae / cruor, 189-190) und die Kranken stöhnten vor Schmerz (intima creber viscera quassat / gemitus stri‐ dens, 191-192). Schließlich erbäten die Menschen den Tod von den Göttern als Erlösung (prostrata iacet turba per aras / oratque mori, 197-198). 133 Dies wäre der einzige Ausweg, den die Götter noch gewährten, andere Rettung werde verweigert (delubra petunt, haut ut voto / numina placent, / sed iuvat ipsos satiare deos, 199-201). 134 Unbegreifliches Leid und die Absenz göttli‐ cher Hilfe stehen in diesem ersten Chorlied schroff nebeneinander. Somit wird das Leitthema der Tragödie dargelegt: Wie ist es möglich, dass in einer Welt, die vom göttlichen fatum gelenkt wird, das dem Menschen leitende Konstante und schützende Macht sein soll, gleichwohl Unglück existiert, und sich das Schicksal als schlecht und sinnlos erweisen kann? Hier geht es also um die Theodizeefrage. Der Chor zeigt sich zunächst genauso ratlos wie Oe‐ dipus selbst. 135 Die ausführliche Schilderung der aus nächster Nähe erlebten Krankheitssymptome lässt seine Verzweiflung dabei noch greifbarer wirken als die des Oedipus, der von der Pest selbst nicht betroffen ist. Im Folgenden wird ein Verständnisprozess eingeleitet, um die Herkunft des Leids zu be‐ greifen. 4.1.2. Göttliche Strafe für vorsätzlichen Frevel Creon kehrt vom Orakel zurück und referiert dessen Antworten. Diese sind voll von manifesten Anspielungen auf Oedipus. 136 Trotzdem sind weder Creon noch 57 4.1. Oedipus <?page no="58"?> 137 Schöpsdau 1985 zeigt die Doppelstruktur im Erkenntnisprozess des Oedipus auf. Immer weiter rücke der König von dem Weg zur Wahrheitsfindung ab, bis er schließlich am Beginn des vierten Aktes in einem Neuansatz zu verstehen beginne. Plausibel erscheint die Annahme, dass ihn eine Weile der Affekt der Furcht verblendet habe; zur Weiter‐ führung dieser These cf. Töchterle 1994, 16-18. Zu diesem Problem auch Wiener 2006, 106-107 und Lefèvre 2015m, 55. Es darf hier nicht vergessen werden, dass die Szene auch dramaturgischen Wert besitzt: Für den wissenden Rezipienten sind diese Anspie‐ lungen leicht zu verstehen und erhöhen so die Spannung, wann Oedipus verstehen wird. Cf. auch Wiener 2006, 110-111, die feststellt, Oedipus scheitere, da er nur die offensichtlichen Informationen wahrnehme und weil er durch Angst vor der eigenen Schuld zu engstirnig denke; ferner hierzu Lefèvre 2015k, 332. 138 Lefèvre 2015m, 55 sieht diese Szene als „im Hinblick auf den Handlungsablauf höchst überflüssig“ an und nimmt sie als Beleg dafür, dass „die einzelnen Szenen äußerlich gesehen nahezu unverbunden nebeneinander“ stünden und dem Stück „der Motor, die treibende Kraft“ fehle. Allerdings nimmt auch er später an, dies demonstriere, „mit welcher Beharrlichkeit das Fatum, dem Oedipus zu entfliehen suche, näherrück[e]“ (56). Ausführlich zu den mantischen Szenen Schmitz 1993, 59-85; Wiener 2006, 109-123; Aygon 2016, 184-191; ferner Schetter 1972a, 442-443. Hier wird aufgezeigt, dass gerade der ständige Wissenszuwachs Oedipus immer weiter von der Wahrheit entfernt, da der entscheidende Hinweis auf die Adoption fehlt. Oedipus selbst in der Lage, den Inhalt zu verstehen (responsa dubia sorte perplexa iacent, 211). Oedipus versucht deswegen, die Umstände des Todes von Laius genauer zu ergründen und befragt Creon ausführlich zu den Begebenheiten. Auch hier findet sich eine Vielzahl von deutlichen Hinweisen auf seine eigene Beteiligung, doch anstatt die Wahrheit zu finden, entfernt sich Oedipus immer mehr von der Erkenntnis, der er doch während seines Prologs schon recht nahe gekommen war. 137 Um mit Hilfe der Götter die Lösung zu finden, wird der blinde Seher Tiresias herbeigerufen, um zusammen mit dessen Tochter Manto eine Opferschau zur Erhellung von Apolls Willen zu vollziehen. Sowohl das Ver‐ halten der Flammen (307-334a) als auch der Opfertiere (334b-344), das Aus‐ sehen der Wunden (345-351) und schließlich der Eingeweide (352-383) geben Hinweise auf Oedipus, doch dieser sieht sich weiterhin außer Stande, die Zei‐ chen zu deuten. 138 Das Extispicium zeigt deutlich: Allem Aufwand zum Trotz, der hier betrieben wird, bleiben die Götter unverstanden. Sie geben zwar Hin‐ weise auf Oedipus als Ursache des Leids, aber diese sind zu kryptisch, um für einen nicht Eingeweihten verstanden zu werden. Ferner fehlt jegliche Anlei‐ tung, um die Situation zu verbessern. Die Götter stellen den Menschen vor voll‐ endete Tatsachen. Sich um sie zu bemühen, ist im Grunde nutzlos. Diese Ein‐ stellung mag epikureisch anmuten, doch gibt es in Senecas Konzeption einen wesentlichen Unterschied: Eine göttliche Macht existiert nicht nur, sondern plant aktiv das Leben der Menschen und lenkt es unerbittlich in die vorge‐ schriebenen Bahnen. In Thebens Schicksal ist dabei eine gütige providentia nicht 58 4. Fallbeispiele <?page no="59"?> 139 Cf. Fischer 2008, 122. 140 Cf. Dingel 1974, 72: „Die Situation des Oedipus ist also für einen Stoiker schlechthin widersinnig.“ Curley 1986, 187: „The Stoic conception of „virtus“ as the willing accep‐ tance of „fatum“ is rendered ridiculous by the presentation of a man who is guilty because fate has condemned him to break the most basic taboos of human society.“ 141 Grimal 1964, 3 sieht dieses Lied gar als völlig willkürlich an diese Stelle gesetzt an. 142 Weitere Ausführungen bei Curley 1986, 119-120. Curley geht in seiner Interpreta‐ tion der Stelle schließlich sehr weit, indem er die metatheatralischen Elemente als „apologia for tragedy in response to Stoic criticisms of that form“ (127) deutet. Töchterle 1994, 362-363 verweist u.a. auf den Dithyrambus als mögliche Quelle und den anfänglich kultischen Zweck der Chorlieder bei Aischylos. 143 Cf. hierzu Gil 1979, 183. 144 Zwar wird das Lied nach den ersten Versen wieder polymetrisch, behält jedoch die Hexameter als Gliederungselement bei, deren Anzahl sich von Strophe zu Strophe um einen Vers vergrößert. Cf. Töchterle 1994, 365 zur Metrik und zum polymetrischen Charakter des Liedes. Zum Aufbau des Hymnus cf. auch Ziegler 1979. 145 Cf. Töchterle 1994, 366 und 370-371. zu erkennen. 139 Die menschliche Existenz wird damit absurd. 140 Schließlich wird der Entschluss gefasst, eine Totenbeschwörung durchzuführen, um Laius selbst nach seinem Mörder zu fragen. Am Ende des zweiten Aktes findet somit eine Abwendung von der Vorgehensweise statt, bei den Göttern Hilfe zu suchen, da diese zweimal gescheitert war. Das zweite Chorlied (403-508) ist ein Loblied auf Bacchus. Hier wird oft ein unlogischer inhaltlicher Bruch gesehen. 141 Doch Bacchusenkomien sind in der Tragödie durchaus üblich, da sie der Funktion des Gottes als Patron des Theaters Rechnung tragen. 142 Außerdem hatte Tiresias das Preislied ex‐ plizit angeordnet (populare Bacchi laudibus carmen sonet, 227). Schließlich ist Bacchus der Schutzgott Thebens. 143 Dass hier ein rituelles Preislied für den Stadtpatron gesungen wird, ist eine nachvollziehbare Handlung. Im ersten Lied hatten die Bürger Thebens ihr Leid geklagt, im zweiten machen sie sich auf die Suche nach Hilfe und wenden sich an ihren göttlichen Beschützer. Außerdem steht das Chorlied in direktem Bezug zur vorhergegangen Hand‐ lung des zweiten Aktes, da sie in Form einer lyrischen mise-en-abyme wich‐ tige Kernelemente zusammenfasst. Der hymnische Charakter ist in den ersten beiden Versen durch den dakty‐ lischen Hexameter bestimmt. 144 Zunächst wird Bacchus in all seiner Herrlichkeit beschrieben und um Schutz gebeten (403-428). Auffällig ist die Betitelung des Gottes als lucidum caeli decus, die eigentlich Apoll vorbehalten ist. 145 Dieser hatte bisher jedoch keine Hilfe bringen können. Seine göttlichen Eigenschaften werden nun auf Bacchus übertragen. Zudem wird er mit einer Vielzahl an At‐ tributen bedacht, die Fruchtbarkeit, Sanftheit und blühendes Leben impli‐ 59 4.1. Oedipus <?page no="60"?> 146 Corymbus (403); mollia bracchia (404); virgineum caput (409); vultus sidereus (410); comam floribus vernis (412); hedera bacifera (414-415); mollis frons (414-415); effusa coma (403); crines sine lege effusi (416). Seine femininen Züge erklären sich aus der Anekdote, dass er einmal gezwungen war, sich auf der Flucht vor der eifersüchtigen Iuno als Frau zu verkleiden (418- 423) und ihm aus dieser Episode einige Relikte geblieben seien. Cf. hierzu auch Töchterle 1994, 375. 147 Bacchus sei auf seinem goldenen Löwengespann bis nach Indien und Armenien gelangt (424-428). Wichtig auch der Hinweis von Bishop 1985, 87 auf die Funktion der Flüsse Ganges und Araxes: Ganges habe mit seiner Mutter geschlafen und sich danach in dem nach ihm benannten Fluss ertränkt. Einen ähnlichen Tod habe Araxes nach der Ermordung seines Vaters gefunden. 148 Zur Verwendung des Pentheusmotivs im Oedipus cf. Mantovanelli 1996. 149 Cf. Curley 1986, 117-118. Cf. das Motiv des naturam vertere (943). Nefas (18) ver‐ wendet Oedipus schon im Eingangsmonolog zur Steigerung im Vergleich zum Va‐ termord, den er mit scelus (17) betitelt. Hierzu, vor allem mit politischer Deutung, Lefèvre 2015c, bes. 494-495. Auch hier wird also vor allem auf den Inzest ange‐ spielt. Ferner Töchterle 1994, 385, der „im unbewußten Verwandtenmord eine Par‐ allele zu Oedipus“ sieht, allerdings auch „ein Zurücktreten der moralischen Kom‐ zieren. 146 Bacchus bildet so eine Kontrastfigur zur Dürre und Ödnis, die Theben in der Gewalt haben und mit Apoll assoziiert werden. Der Chor betont im Fol‐ genden die militärische Stärke von Bacchus. Das Motiv der Feldzüge in alle Weltregionen, das im ersten Chorlied bereits angeklungen war, wird aufge‐ griffen und weiter ausgebaut. 147 Bacchus erscheint als unwirkliche Lichtgestalt in all der Not, die die Thebaner erleiden. Der Gebetsstil wird durch die te-Ana‐ pher aufrechterhalten, es handelt sich also weniger um einen impliziten Vorwurf als um ein flehentliches Bitten, das aber durchaus vom do-ut-des-Gedanken mo‐ tiviert ist. Im Weiteren preist der Chor das Gefolge des Bacchus (429-444). Dessen erster Vertreter ist ein angetrunkener Silen (429-430), auf den die Maenaden folgen, deren Taten der Chor beschreibt. Zuerst wird anhand geographischer Hinweise auf die Geschichte von Orpheus angespielt, der von den Bacchantinnen zerrissen wurde (432-435). Orpheus habe als Sänger dem Gott Apollon nähergestanden als Bacchus, was diesen erzürnt habe. Sodann folgt die Rückwendung nach Theben mittels der Pentheusgeschichte. 148 Pentheus hatte sich als Frau ver‐ kleidet, um das Treiben der Maenaden heimlich zu beobachten und sich somit über das Verbot von Bacchus hinwegzusetzen. Die von Bacchus in Rausch ver‐ setzten Maenaden bemerken ihn jedoch und töten ihn. Besonderes Augenmerk gilt der Mutter von Pentheus, Agaue, die ihren eigenen Sohn zerrissen habe. Für Agaues Verbrechen werden die Begriffe impia und nefas gebraucht, als Hinweis auf einen Verstoß gegen die göttliche Weltordnung. Das zerstörte Mutter- Sohn-Verhältnis ist eine weitere manifeste Anspielung auf Oedipus, der durch den Inzest mit Iocaste ebenfalls die Familiengesetze außer Kraft setzt. 149 Aller‐ 60 4. Fallbeispiele <?page no="61"?> ponente“ (386). Aufgrund der angeführten scharfen Begriffstrennung im Prolog scheint dies jedoch eher unwahrscheinlich. 150 Zwischen diesen und den vorhergehenden Versen wird eine Lücke angenommen, da eine unerklärliche Doppelung mit der zuvor bereits knapp angedeuteten Pentheusge‐ schichte, dafür aber das Fehlen der eigentlichen Tatbeschreibung bemängelt wird. Töchterle 1994, 384 erläutert jedoch plausibel, dass Seneca diese Doppelungen öfter einsetze und „gerade die Aussparung der zentralen Untat […] schön das Aussetzen der ratio und die Erinnerungslücke“ abbilde. 151 Zwar haben die Maenaden sowohl bei Orpheus als auch bei Pentheus das Gefühl, er habe ihnen persönlich Unrecht angetan, doch dahinter steht gleichwohl Bacchus, der erst sein ‚Wertesystem‘ derart etabliert hat, dass sie nun dessen rigorose Einhaltung für richtig befinden. 152 Zum Mythos cf. Töchterle 1994, 386. 153 Die Parallele zur Position des Oedipus ist evident. 154 Pratum (451); platanus verno folio viret (452); nemus laurus (453); garrula avis per ramos obstrepit (454); vivaces hederae (455); vitis (456); leo (457); tigris (458). dings sind die Handlungen der Maenaden und insbesondere die von Agaue nicht selbstverschuldet, sondern durch Ekstase provoziert worden. 150 Dies gibt dem Abschnitt einen negativen Beigeschmack, da Bacchus offensichtlich nicht davor zurückschreckt, wehrlose Marionetten zu schaffen und für eigene Rachegelüste zu instrumentalisieren. 151 Zwar erscheint Bacchus umso mächtiger, doch miss‐ braucht er seine göttliche Gewalt für egoistische Zwecke. Das ambivalente Bild verstärkt sich in den folgenden Abschnitten des Liedes. Es werden weitere Taten des Gottes in Erinnerung gerufen. Zunächst werden seine Triumphe zu Wasser genannt. Der Chor erzählt die Geschichte von Ino (445-448), der Amme des Gottes, die Bacchus als Säugling zusammen mit ihrem Mann Athamas vor der eifersüchtigen Iuno verbarg. Aus Rache trieb Iuno Athamas in den Wahnsinn, der daraufhin seinen Sohn Learchos tötete. Ino stürzte sich auf der Flucht vor ihrem Mann mit ihrem Sohn Melicertes ins Meer. Bacchus entschädigte beide daraufhin für ihre Leiden und erhob sie zu Meer‐ gottheiten. 152 Hier zeigt sich, dass der Gott ebenfalls in der Lage ist, treue An‐ hänger zu belohnen. Ino und Athamas begehen zwar einen vorsätzlichen Frevel gegen Iuno, dieser wird durch ihre Verdienste Bacchus gegenüber jedoch wieder aufgewogen. Allerdings erhält nur Ino als Ziehmutter des Gottes diese Beloh‐ nung, Athamas hingegen bleibt wie schon zuvor Agaue ein Spielstein im Macht‐ treiben der Götter. 153 Gänzlich ungnädig verhält sich Bacchus, als er von Piraten geraubt wurde, die er zur Strafe in Delphine verwandelte (449-466). In diesem Abschnitt wird einmal mehr die Gabe von Bacchus, Fruchtbarkeit zu schaffen, gezeichnet, als er mithilfe des Meergottes Nereus auf der Seeräuberfregatte eine blühende Tier- und Pflanzenwelt entstehen lässt. 154 Die Häufung der Flora und Fauna beschrei‐ 61 4.1. Oedipus <?page no="62"?> 155 Wieder reichen geographische Hinweise aus, um auf die bezeichneten Personen zu verweisen. 156 Die beiden Völker werden hier gleichsam als eines dargestellt, obwohl ihre geographi‐ sche Situierung keinesfalls in derselben Region zu verorten ist. Töchterle 1994, 397 erläutert, dies entspräche „Senecas Bestreben […], möglichst viele Völkerschaften auf knappem Raum anzuführen“, um die Macht von Bacchus so besonders beeindruckend erscheinen zu lassen. 157 Dieser zerhackte als Strafe seinen eigenen Sohn. Wieder wird eine pervertierte El‐ tern-Kind-Beziehung genannt, die an die Geschichte von Oedipus gemahnt. 158 Cf. Töchterle 1994, 403 mit Verweis auf v. 808 und v. 844. Wichtig auch die Anmerkung, der Cithaeron sei ebenfalls als Ort der Verbannung festgelegt worden (Phoen. 12-18); hier schließt sich der Kreis. benden Begriffe in wenigen Versen wirkt erdrückend, oft treten schmückende Epitheta hinzu, und die kraftstrotzenden Tiere haben mit dem dahinsiechenden Vieh in Theben nichts zu tun. Deutlich baut sich hier erneut der Kontrast zur todbringenden Dürre des Anfangs aus. Es folgen die Siege des Gottes zu Land. Es werden Beispiele von Menschen genannt, 155 die sich Bacchus widersetzt hatten und dessen Macht zu spüren be‐ kamen: Midas (467-468), unterworfene Stämme wie die Geten (469) und die Massageten (470), 156 Lykurg (471), 157 verschiedene Nordvölker (472-477), die Gelonen (478) und schließlich die Amazonen (479-483), die nach ihrer Nieder‐ lage gegen den Gott zu Maenaden wurden und sich seinem Gefolge anschlossen. Der Chor wendet sich nun erneut dem Pentheusmord zu (484-485). Nur diese Episode kommt zweifach vor. Ausschlaggebend hierfür ist die Verbindung mit Oedipus, auf die hier noch offensichtlicher angespielt wird. Der Berg Cithaeron (484), der erwähnt wird, ist nicht nur der Schauplatz des Mordes an Pentheus, sondern zugleich der Ort, an dem Oedipus als Säugling ausgesetzt wurde. 158 Den Zuschauern, die die Geschichte bereits kennen, muss sich aufgrund dieses Wis‐ sensvorsprungs folgende Assoziation aufdrängen: Dort, wo Pentheus für seinen Frevel bestraft wurde, nahm der des Oedipus seinen Anfang. Indem er überlebte, muss er sein Schicksal unweigerlich erfüllen. Es folgt die Geschichte der Proe‐ tustöchter (486-487), die von Bacchus in den Wahnsinn getrieben wurden, da sie ihm den Dienst verweigert hatten. Zum Abschluss des Liedes wird von einer Wohltat des Gottes berichtet, der Errettung der Ariadne (488-503), als diese von Theseus verlassen wurde. Die detaillierte Beschreibung der Hochzeitsfeier kontrastiert noch ein weiteres Mal scharf mit der Pestschilderung des ersten Chorliedes: Schließlich wird Ariadne vergöttlicht, Apoll (498), Cupido (500) und sogar Jupiter (502) stehen Spalier. Es erscheint so, als habe Bacchus den gesamten Götterhimmel fest im Griff. Das 62 4. Fallbeispiele <?page no="63"?> 159 Bei Ino und Athamas erfolgte diese bewusste Auflehnung nicht gegen Bacchus, sondern gegen Iuno. 160 Auf den politischen Gehalt des Dialogs soll hier nicht weiter eingegangen werden. Eine gründliche Aufschlüsselung der relevanten Wortnetze etc. findet sich bei Töchterle 1994, 424-427. Zur Zeichnung der Figur des Oedipus cf. Lefèvre 2015d, 357-358. Cf. auch Wiener 2006, 117. Lied endet in hymnischen Versen, in denen das thebanische Volk Bacchus ewige Treue schwört und um Hilfe bittet. Das zweite Chorlied bietet einen Versuch, das geschilderte Leid des ersten Liedes zu begreifen, indem es die Rolle der Götter in den Blick nimmt. Es erwägt die Möglichkeit der Pest als einer gottgesandten Strafe für unrechtes Verhalten, die man durch die adäquate Reaktion wieder abwenden kann. Auffällig ist, dass sich die Personen in allen erwähnten Mythen bewusst gegen den Gott aufge‐ lehnt und die Strafe in Kauf genommen haben. 159 Hier ist somit auch der Tat‐ bestand auf subjektiver Ebene erfüllt. Das Belohnungs- und Bestrafungssystem von Bacchus funktioniert nach dem vergilischen Prinzip des parcere subiectis et debellare superbos. Wer sich seinen Gesetzen beugt, wird gerettet, wer sich wi‐ dersetzt, wird vernichtet. Es liegt hierin also die Möglichkeit, das Leid zumindest rational begründen zu können. Dies entspricht dem Denkmuster des Oedipus, der versuchte, mittels der Orakelbefragung über eine göttliche Instanz Antwort und Hilfe zu erlangen und so einen eventuellen Fehltritt wieder gut zu machen. Der dritte Akt geht dieser Vorstellung weiter auf den Grund. 4.1.3. Göttliche Strafe für unabsichtlichen Frevel Nachdem der Chor geendet hat, kehrt Creon von der Totenbeschwörung des Laius zurück. Oedipus befragt ihn über die Ergebnisse. Creon lässt sich erst nach Androhung von Folter (518-519) und Hinrichtung (521-522) dazu bewegen, zu sprechen, da er die Reaktion des Oedipus fürchtet. Dieser geriert sich wie ein wahrer Tyrann, der mit brutaler Gewalt seine Ziele zu erreichen sucht. 160 Creons Bericht (530-658) ist sehr ausführlich gehalten. Der Spannungsbogen bis zur Erscheinung des Laius (619) wird kontinuierlich gesteigert, indem minutiös zu‐ nächst der Ort der Beschwörung beschrieben wird: Bei der Auflistung der Op‐ fergaben finden sich deutliche Parallelen zum zweiten Chorlied, denn Milch und Wein, die dort als Hochzeitsgaben gereicht wurden (495-496), werden als Trankopfer dargebracht (libat et niveum insuper / lactis liquorem, fundit et Bacchum manu, 565-566). Auch die bewusste Verwendung der Personifikation von Bacchus für den Wein lässt die Anknüpfung an das Lied enger erscheinen. Nach einigen Prodigien und dem Auftritt weiterer Gestalten aus der Unter‐ 63 4.1. Oedipus <?page no="64"?> 161 Besonders nennenswert sind hier die Sparten (586-588), die ausführliche Behandlung im dritten Chorlied finden werden, und Agaue, die Maenaden und Pentheus, die wie‐ derholt im zweiten Chorlied thematisiert wurden (615-618); cf. Töchterle 1994, 454 und 467. 162 Zuvor stellt der Geist des Königs noch einige Überlegungen über das Haus des Cadmus an, das zum Verwandtenmord verflucht sei (626-630). Wiederum steht der Pentheus‐ mord im Vordergrund der Reflexion. 163 Cf. Töchterle 1994, 474: „Die Aussagen des Laius sind überdeutlich, aber für Oedipus zu diesem Zeitpunkt jenseits seines Vorstellungsvermögens.“ 164 Töchterle 1994, 495 zeigt in einer detaillierten Grafik die kunstvolle Technik der beiden Kontrahenten auf, jeweils Stichworte des anderen aufzugreifen und dadurch eine ma‐ ximale Pointierung zu erreichen. welt 161 kommt Laius aus dem Totenreich herauf. Anstatt seinen Mörder zu be‐ nennen, prangert er an, dass Theben dem Frevel des maternus amor (629) ver‐ fallen sei. 162 Er führt dies auch als den Grund für das Leiden seines Vaterlandes an, Götterzorn sei auszuschließen (patria, non ira deum, / sed scelere raperis, 630- 631). Schließlich enthüllt Laius die Identität seines Mörders und denunziert einen König, sowohl den Vatermord als auch die Blutschande begangen zu haben (634-635). Oedipus greift an diesem Punkt der Berichterstattung noch nicht in Creons Rede ein, da er immer noch keine Verbindung zu seiner eigenen Person sieht. 163 Auch weitere Hinweise, so beispielsweise auf die Sphinx (640-641), führen nicht dazu, dass Oedipus begreift. Erst als Creon von der konkreten Auf‐ forderung an die Thebaner berichtet, ihren König zu vertreiben, um sich von der Pest zu befreien (647-653), beginnt Oedipus zu ahnen, wer gemeint ist. Der beschworene Geist prophezeit gar noch in Andeutungen die Blendung (655- 658), bevor er seinem Sohn Rache schwört und verschwindet. Oedipus wird von heftiger Furcht ergriffen, doch er glaubt weiterhin an einen Irrtum, hält er doch Merope und Polybus für seine leiblichen Eltern. Auch für den Mord an Laius fühlt er sich nicht verantwortlich, denn er sieht keine Verbindung zu dem Mann, den er vor seiner Ankunft in Theben einst erschlug. Schließlich kommt er zu dem für ihn einzig logischen Schluss: Er wittert eine Verschwörung zwischen Creon und dem Seher Tiresias, die ihn vom Thron vertreiben wollten (669-670). Es folgt ein kurzer rhetorischer Schlagabtausch zwischen Oedipus und Creon, der versucht, die Vorwürfe von sich zu weisen, und den König ermahnt, sich lieber in sein Schicksal zu fügen (tibi iam necesse est ferre fortunam tuam, 681). 164 Oedipus gebärdet sich jedoch despotisch und lässt sich zu einigen fragwürdigen Herrschaftsaussagen hinreißen (regna custodit metus, 704). Als Creon dem König immer wieder rhetorisch gewandt Paroli bietet, greift dieser schließlich zu Bra‐ chialgewalt, um den vermeintlichen Widersacher zum Schweigen zu bringen: Der König lässt seinen Schwager in Ketten legen und ins Verlies werfen. Diese 64 4. Fallbeispiele <?page no="65"?> 165 Cf. Wiener 2006, 119-121 mit Widerlegung von Lefèvre 2015d, der diese Szene als einen Beleg für eine politische Lesart des Stückes heranzieht. 166 Cf. Schöpsdau 1985, 99: „Im 2. und 3. Akt gerät Oedipus immer weiter vom Fatum ab, bis er am Ende des 3. Aktes sowohl objektiv wie subjektiv am weitesten von ihm entfernt ist: die Verhaftung Creons trifft objektiv den Falschen; subjektiv glaubt Oedipus damit den Fall Laius erledigt zu haben.“ Cf. auch Töchterle 1994, 499: „Wichtig ist, daß Oe‐ dipus hier mit dem höchsten Punkt seiner Machtentfaltung den tiefsten seines Irrtums erreicht hat.“ Handlung zeugt von Tyrannei, doch dahinter steht vor allem die blanke Angst vor den unbegreiflichen Geschehnissen und Ahnungen, die ihn zu überwältigen drohen. Es geht hier nicht in erster Linie um die politische Zeichnung eines Tyrannen, 165 sondern um die Illustration eines Gemütszustandes. Oedipus be‐ findet sich an dieser Stelle auf dem Gipfel seiner Verblendung und paradoxer‐ weise am weitesten von der Wahrheit entfernt, wo sie doch das erste Mal im Stück klar ausgesprochen wurde. 166 Den letzten konsequenten Schritt zur Lö‐ sung des Rätsels kann er nicht gehen, da er nicht in der Lage ist, das Pestleiden aus einem weitreichenden Ursachenkomplex zu lösen und es auf sich selbst zu beziehen. Auf dem Höhepunkt von Oedipus’ Verzweiflung interveniert nun der Chor mit seinem dritten Lied (709-763). Die Anfangsverse wirken zunächst wie eine Entlastung des Oedipus: Nicht er sei der Grund für Thebens Leid, sondern alter Götterzorn (non tu tantis causa periclis, / non haec Labdacidas petunt / fata, sed veteres deum / irae secuntur, 709-712). Es wird eine Erbschuld des thebanischen Volkes erwogen. Hierbei ist im Gegensatz zum zweiten Lied auffällig, dass allen folgenden Beispielen gemein ist, dass der göttliche Frevel nicht wissentlich be‐ gangen wurde. Zunächst beschreibt der Chor die Stadtgründung durch Cadmus, der sich auf der Suche nach seiner Schwester Europa schließlich auf Apolls Geheiß im the‐ banischen Gebiet niedergelassen habe (712-724). Sodann folgen einige Verse (726-730), die die Tötung des Drachen durch Cadmus beschreiben und der den Anfang einer Liste von nova monstra (724) bildet, die Theben im Laufe der Jahre heimsuchten. Die Tötung des Drachen ist deshalb von Belang, weil dieser ein Sohn des Ares war und Cadmus Theben somit bereits von der Gründung an Götterzorn aufgeladen hat. Allerdings lässt er sich auf den Kampf mit dem Un‐ geheuer nur ein, da dieses eine Quelle verteidigt, an der Cadmus Wasser für ein Jupiter-Opfer holen soll. Da der Drache dabei einen Großteil seiner Gefährten tötet, bleibt Cadmus nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen. Die Tötung des Aressohnes ist also kein bewusster Fehltritt, denn Cadmus weiß nicht, um wen es sich bei seinem Gegner handelt, sondern im Gegenteil der Versuch, eine gottesfürchtige Handlung wie geheißen auszuführen. Für den Rezipienten des 65 4.1. Oedipus <?page no="66"?> 167 Cf. zum Vergleich mit anderen Versionen Boyle 2011, 281-282. 168 Dass sich Seneca stark auf die ovidische Version des Mythos rückbezieht, zeigen die teilweise wortwörtlichen Übernahmen aus met. 3, 138; cf. hierzu Davis 1993, 106, der auch die Parallele in der Schuldfrage sieht, und Töchterle 1994, 517. 169 Cf. Schmitz 1993, 39; Töchterle 1994, 501; Gärtner 2003, 17; Aygon 2016, 263. 170 Cf. Töchterle 1994, 502. Cadmus verlässt Theben nach der Tötung seines Enkels Pen‐ theus durch Agaue. 171 Töchterle 1994, 502. 172 Töchterle 1994, 502. Anders Gil 1979, 184, der im dritten Lied eine Parteinahme des Chores für den König sieht. Selbst wenn dies das Ziel gewesen sein sollte, so hat sich bei der Analyse gezeigt, dass diese Strategie scheitert. Chorliedes drängt sich erneut die Assoziation mit Oedipus auf: Auch er begeht ohne Absicht ein nefas. Um zu verhindern, dass das Verhalten des Cadmus als vorsätzlicher Frevel wahrgenommen werden könnte, hält Seneca die Beschrei‐ bung der Begebenheiten bewusst knapp und spart Details aus. 167 Der ‚Nach‐ wuchs‘, der aus den Zähnen des Drachen entsteht, die Sparten (731-750), die sich direkt nach ihrer Schöpfung bis auf wenige Ausnahmen gegenseitig töten, begründen die Tradition des Brudermords. Der Chor endet mit der Geschichte von Actaeon (751-763), der aufgrund des Zorns Dianas von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde. Seit Ovid ist Actaeon vom Vorwurf der Hybris frei‐ gesprochen, da er die Göttin versehentlich erblickt und das Zusammentreffen nicht willentlich herbeigeführt hat. 168 Eine Abrundung des dritten Liedes fehlt. Dieser offene Schluss wirkt wie eine Einladung, die Geschichte bis zu Oedipus selbst fortzuspinnen. 169 Die Parallelen zwischen mythischer Vergangenheit und Oedipus sind offensichtlich: Cadmus und Oedipus erlangen beide ihr Reich durch Tötung eines Ungeheuers, beide müssen später ihr Leben in der Fremde beenden. 170 Die Nennung der Sparten, die sich gegenseitig töten, verweist auf den kommenden Krieg zwischen Eteocles und Polyneices. Auch Actaeons Schicksal lässt sich mit dem des Oedipus vergleichen, denn, wie Töchterle kon‐ statiert: „Actaeon erkennt am Ausgangspunkt seines Übels, am Badeplatz der Diana, seine neue Natur, Oedipus findet an seinem Ursprungsort seine wahre Identität.“ 171 Das dritte Chorlied mutete zunächst wie eine Exkulpierung von Oedipus an. Dies scheitert jedoch, denn „[…] der Versuch des Chores, die Un‐ schuldsbehauptung seines Königs mit mythologischen Beweisen zu stützen, schlägt für den Zuschauer ins Gegenteil um und stimmt ihn auf die Anagnorisis ein.“ 172 Neben den Anspielungen auf die thebanische Vergangenheit spiegelt das dritte Lied in der konzentrierten Form der mise-en-abyme vor allem die Frage nach der Ursache des Leidens wieder, die den dritten Akt dominiert hatte. Diese wird in einer Erbschuld gesehen, die eine höhere Macht verärgert habe. Dies erinnert zwar an die Antwort, die bereits das zweite Lied aufgezeigt hatte, doch 66 4. Fallbeispiele <?page no="67"?> 173 Nach dem zweiten Chorlied noch 615-618, 933, 1005-1007. 174 Cf. Schöpsdau 1985, 90 und Töchterle 1994, 222. die Konzeption ist hier eine andere: Hatten sich die Gegner des Bacchus im zweiten Lied noch bewusst auf ein Kräftemessen mit dem Gott eingelassen, ge‐ raten die Protagonisten der mythischen Beispiele hier unfreiwillig in eine Si‐ tuation, die die Götter erzürnt. Seneca verzichtet hier interessanterweise auf eine erneute Anspielung auf den Pentheus-Mythos, obwohl er sich sonst im Stück wiederholt darauf bezieht. 173 Da Pentheus ein Paradebeispiel für be‐ wussten Götterfrevel ist, muss er ihn an dieser Stelle unbedingt aussparen. Ob‐ wohl in keinem der Beispiele also vorsätzlich ein Vergehen begangen wurde, ist die göttliche Strafe jedoch, unabhängig von der Motivation des Übeltäters, glei‐ chermaßen hart. Die Situation erscheint somit am Ende des dritten Chorliedes unlösbar: Nefas wird bestraft, egal ob ein Vorsatz vorliegt oder nicht. Es findet keinerlei Differenzierung unter moralischen Kriterien statt, die bei einem scelus einen Täter entlasten könnten. Der vierte Akt setzt sich mit dieser hoffnungs‐ losen Ausgangssituation auseinander. 4.1.4. Utopie: Selbstbestimmung des Menschen Oedipus erscheint wie verwandelt. So befindet er sich beinahe in derselben Stimmung wie im Prolog, als er, von dunklen Ahnungen geplagt, der Wahrheit schon nahe war. Er hat wieder eine reflexive Grundhaltung eingenommen, hält zum ersten Mal seit seiner Anfangsrede wieder einen Monolog (764-775) und besinnt sich auf sich selbst zurück. 174 Er erinnert sich, lange vor seinem Regie‐ rungsantritt einen Mann im Streit erschlagen zu haben (768-769). Allerdings sieht er weiterhin keine Parallele zu dem Mord an Laius, hatte der Kampf doch fernab von Theben stattgefunden. Um einen Zusammenhang endgültig auszu‐ schließen, forscht Oedipus bei Iocaste genauer über die Umstände des Todes nach. Oedipus muss in diesem Dialog (773-783) jedoch erkennen, dass tatsäch‐ lich er selbst Laius getötet hat (782-783). Um die Erkenntnis zu vervoll‐ kommnen, berichtet ein Bote vom Tod des Polybus und im Zuge dessen auch von der damaligen Adoption (802). Der Hinweis auf die entstellten Füße des Säuglings (812) und die Heranziehung des Hirten Phorbas, der dem Königspaar das Kind damals übergeben hatte, lassen keinen Zweifel mehr daran, dass es sich um Oedipus gehandelt haben muss. Phorbas enthüllt schließlich auch das schreckliche Geheimnis des Inzests (coniuge est genitus tua, 867). Der folgende Monolog des Oedipus kreist um die Strafe, die er für sich selbst für angemessen hält: Den Tod, an den er zunächst denkt, sieht er als unverhältnismäßig milde 67 4.1. Oedipus <?page no="68"?> 175 Cf. Hor. carm. 2, 10. Zur Behandlung der Seefahrt als Bild in Senecas Chorliedern all‐ gemein cf. Cattin 1963, 80-84. Das vierte Lied weist an dieser Stelle deutliche Bezüge zur dramatischen Handlung auf, denn die hier genannten Winde finden ihre Entspre‐ chungen wiederum im Eingangsmonolog des Oedipus, als er das Pestklima beschreibt. Cf. Töchterle 1994, 569. Zephyri leves (38) = Zephyro levi (884); aura lenis (37) = lenis aura (887-888); gravi spiritu (885-886) = gravis vapor (47). 176 Cf. Hor. carm. 4, 2, 3. 177 Cf. S. 54. für seine Taten an und fordert sich zu einer noch härteren Selbstbestrafung auf (aude sceleribus dignum tuis, 879). Nach diesem Entschluss eilt er zum Palast, um Iocaste zu informieren. Der vierte Akt erklärt die Ursache der Pest: Oedipus hat die Naturgesetze verletzt und somit seine ganze Stadt ins Unglück gestürzt. Die Tragik in der Figur des Oedipus liegt darin, dass diese Missachtung der Natur nicht wissent‐ lich geschieht, sondern gerade sein unbedingter Wille, die Prophezeiung zu ver‐ meiden, ihn unerbittlich seinem Schicksal zuführt. Oedipus hat versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ist damit jedoch gescheitert. Das vierte Lied (881-914) charakterisiert den Versuch einer freien Selbstbestimmung des Menschen als erstrebenswerte Utopie. Die ersten Verse äußern den Wunsch, das Leben nach eigenem Ermessen gestalten zu können (fata si liceat mihi / fingere arbitrio meo, 882-883). Ausge‐ hend von der Prämisse der Selbstbestimmung spinnt der Chor diesen Gedanken weiter und erörtert die Lebensführung, die er nach eigenem Willen wählen würde, nämlich den Lebensweg an der goldenen Mitte zu orientieren (tuta me media vehat / vita decurrens via, 890-891). Dieses Ideal wird durch Seefahrts‐ metaphern verdeutlicht (883-889). 175 Der Chor untermalt die These sodann an‐ hand des Beispiels von Daedalus und Icarus (892-908). Icarus wird äußerst ne‐ gativ gezeichnet. So haften ihm in der Schilderung des Chores die Attribute der Unüberlegtheit (demens, 893) und Selbstüberschätzung (nimis imperat, 896-897) an, seine Flugbahn zeuge außerdem von Tollkühnheit. Das Meer wird nicht nach Icarus benannt, 176 sondern Icarus nimmt dem Meer gewaltsam seine ursprüng‐ liche Bezeichnung (nomen eripuit freto, 897). Icarus wird als Paradebeispiel für das Missachten der aurea mediocritas dargestellt. Der Chor resümiert diese Bei‐ spiele und Metaphern in einer allgemeinen Lebensregel: Alles, was das Maß übersteigt, habe keine stabile Grundlage (quidquid excessit modum / pendet in‐ stabili loco, 909-910). Hier ist erneut eine Zuschauerassoziation mit Oedipus intendiert, der sich die Königsherrschaft angemaßt habe. Oedipus hatte im Prolog selbst über die Gefahren dieser exponierten Position reflektiert. 177 Der Chor wird an dieser Stelle jäh durch den Botenbericht eines Palast‐ dieners unterbrochen. Es wirkt beinahe so, als hätte der Chor seinen Gedan‐ 68 4. Fallbeispiele <?page no="69"?> 178 Zu weiteren Überlegungen zur Akteinteilung cf. Töchterle 1994, 579-581 und Töch‐ terle 2014, 486, der ebenfalls für ein Fünf-Akt-Schema plädiert und die beiden letzten Chorlieder als Rahmung des Botenberichts sieht; anders Boyle 1997, 83 und Boyle 2011, 98-99, der sechs Akte und fünf separate Chorlieder annimmt. 179 Cf. Töchterle 1994, 589: „Oedipus weiß sich subjektiv unschuldig, fühlt sich aber gleich‐ wohl durch seine großen Untaten so befleckt, […] daß dieses Wissen nicht zählt.“ Hier zeigt sich erneut die unauflösliche Spannung zwischen scelus und nefas; cf. auch Wiener 2006, 107-109. kengang noch nicht beendet, denn sein Bild des Lebens, das man nach freiem Willen und Maßgabe hehrer Ideale führen kann, verbleibt im Status einer Skizze, die noch schärferer Konturierung bedürfte. Doch die Weiterführung bleibt der Chor schuldig. Die Erklärung hierfür findet sich im letzten Chor‐ lied. Auffällig im Oedipus ist die Tatsache, dass es sich scheinbar um ein Stück mit sechs Akten und fünf Chorliedern handelt. Die letzten Akte sind jedoch eng miteinander verknüpft, was für die beiden letzten Chorlieder ebenso gilt. Das vierte Lied zeichnet die Utopie der Selbstbestimmung, das fünfte Lied beschreibt im direkten Anschluss daran die Realität des durch das fatum determinierten Menschen. Es handelt sich also vielmehr um eine Un‐ terteilung der Lieder in 4a und 4b. Dasselbe gilt für die Schlussakte. Es würden sich für die letzten beiden Akte außergewöhnlich kurze Passagen ergeben. Auch inhaltlich ist der vermeintliche 6. Akt (998-1061) nicht mehr als ein kurzer Ausblick, um das Geschehen abzurunden, und hat somit den Status eines Epilogs. Es scheint plausibler, auch hier eine Unterteilung in 5a und 5b vorzunehmen. 178 4.1.5. Realität: Unausweichliche Determination durch das fatum An das Chorlied schließt sich der Auftakt des letzten Aktes an. Ein Botenbericht schildert die Selbstjustiz des Oedipus nach der Anagnorisis. Dort wird auch wiedergegeben, wie Oedipus seine Bestrafung begründet. Der Tod sei nicht hart genug, da er ermögliche, dem Schicksal zu entrinnen. Dies sei eine Erlösung und keine Strafe. Der Selbstmord als Ausweg bleibe somit Menschen vorbehalten, die sich weniger vorzuwerfen hätten. Der Tod sei zwar angemessen für einen Vatermörder, nicht aber für einen, der ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Mutter gepflegt habe, da dies eine Perversion der Naturgesetze sei (natura in uno vertit Oedipoda, 943). An der Formulierung des Verses zeigt sich die innere Spannung, die Oedipus zerreißt: Die treibende Macht der Katastrophe ist als Subjekt des Satzes die Natur selbst. Oedipus ist nur Spielball ihrer Machen‐ schaften. Gleichwohl befindet er sich seiner Vergehen schuldig, da er sie ja be‐ gangen hat. 179 Sein ganzes Streben, dem Schicksalsspruch zu entgehen, muss 69 4.1. Oedipus <?page no="70"?> 180 Cf. Töchterle 1994, 21; Grimal 1991, 17-18 und 407-409; Schöpsdau 1997, 82-91, auch zur Diskussion über den Selbstmord im Vergleich mit den Phoenissen. 181 Die Bewertung des Selbstmordes als erstrebenswerter Ausweg, der nicht als Bestrafung angesehen werden könne, wird in den Troades ausgeführt; cf. Kapitel A. 4.2. 182 Die Blendung ist bei Seneca weitaus minutiöser und brutaler gestaltet als bei Sophokles. Oedipus reißt sich die Augen mit bloßen Händen heraus und überprüft dann in einer grotesken Situation, ob auch wirklich keine Reste mehr vorhanden sind. Cf. auch Fuhr‐ mann 1968, 45-50 allgemein zur Funktion grausiger Motive bei Seneca. Ironisch wirkt, dass Oedipus in den Phoenissen die Blendung als zu feige und wenig grausam empfindet; cf. hierzu Schöpsdau 1997, 82. 183 Dass der Oedipus somit einer klaren Handlungsanweisung entbehrt, fasst Töchterle 1994, 22 zusammen: „Fest steht: mehr noch als in seiner Prosa […] läßt uns Seneca in seiner Tragödie auf das Böse und in die Abgründe der Menschenwelt blicken, Lösungen wie dort bietet er hier nicht an.“ 184 Cf. zu dieser „Übererfüllung des fatum“ Wiener 2006, 123-129, ferner Töchterle 1994, 17-18; 21 und Littlewood 2004, 88-90. Schöpsdau 1985, 100 hingegen sieht die Ent‐ scheidung des Oedipus für die Blendung als Übernehmen „der Realisierung des Fatums in die eigene Verantwortung“. Cf. auch Curley 1986, 107-111 und 126-127. Curley be‐ wertet die Blendung ebenfalls positiv als Sinnbild des „man magnanimous enough to endure an ironic universe“ (127); ähnlich auch Schetter 1972a, 427-433. ihm völlig sinnlos erscheinen, denn er erkennt nun, dass er dem Schicksal in die Hände gespielt hat. Er muss einen Weg finden, um sich vor dem Sturz in die Absurdität zu schützen. Sein Schicksal im Nachhinein anzunehmen, kann nicht ausreichen. Es gilt, eine geeignete Bestrafung zu finden, um die Verbrechen zu sühnen. Die Ablehnung des Selbstmordes ist auffällig, da die Stoa diesen gerade für solch ausweglose Situationen empfiehlt. 180 Doch Oedipus will nicht fliehen, sondern strafen. Passend erscheint ihm die Methode der Blendung. Dies sei weitaus schlimmer als der Tod, würde so doch ein langsames, besonders qual‐ volles Dahinsiechen befördert, das jeglichen Lebensgenuss verhindere (949- 951). 181 Es ist allerdings fraglich, ob Seneca die Entscheidung des Oedipus positiv bewerten wollte. Die grausige, detailgetreue Beschreibung des Aktes der Blen‐ dung selbst (958-974) 182 hebt vielmehr ihre Unverhältnismäßigkeit hervor. 183 Die Bestrafung des Oedipus resultiert nicht aus rationaler Überlegung und be‐ wusster Entscheidung, sondern aus einem übersteigerten Affekt. 184 In scharfem Kontrast zu diesem drastischen Bild hebt nun der Chor zu seinem letzten Lied (980-997) an und entspinnt eine abschließende philosophische Reflexion, die an das vierte Lied anknüpft. Er singt von der Macht des Schicksals, der sich niemand widersetzen könne (fatis agimur: cedite fatis, 980). Die gleichmäßigen anapästischen Dimeter ver‐ leihen dem Lied eine bedrückende und resignierende Note. Die Parzen hielten die Lebensfäden stets fest in der Hand, eine Veränderung des Lebenslaufes sei nicht möglich (981-986). Der Mensch sei von der Wiege bis zur Bahre determi‐ 70 4. Fallbeispiele <?page no="71"?> 185 Zum Schluss des Liedes cf. Lefèvre 2015f, 436. 186 Zu diesem Vers Wiener 2006, 125. 187 Töchterle 1994, 15 zur Neugestaltung des Selbstmordes bei Seneca. Lefèvre 2015d, 350- 352 verweist auf auffällige Parallelen der Schilderung von Iocastes Selbstmord zu Agrippinas Tod in der Octavia und zeigt ferner auf, dass sich das Thema des Inzests auch als Anspielung auf Neros inzestuöses Verhältnis zu seiner Mutter sehen lässt, womit er den politischen Gehalt der Tragödie unterstreicht (352-357 mit weiterer Li‐ teratur zu dieser Deutung). 188 Auch das Motiv des Muttermords lässt sofort an Nero denken, cf. Lefèvre 2015d, 352. niert (primusque dies dedit extremum, 988). Kein Gott könne diese Tatsache ver‐ ändern (non illa deo vertisse licet, 998), Beten sei zwecklos in Anbetracht dieser unumstößlichen Ordnung (it cuique ratus prece non ulla / mobilis ordo, 991-992). Sein Schicksal zu fürchten und vor ihm davonlaufen zu wollen, mache alles nur noch schlimmer (multis ipsum metuisse nocet / multi ad fatum venere suum / dum fata timent, 993-995). 185 Anders als im vorhergehenden Lied verzichtet der Chor hier auf ein Exempel. Zuvor hatte das Icarus-Motiv dazu gedient, erneut Asso‐ ziationen mit Oedipus zu wecken. Am Ende des letzten Liedes folgt stattdessen eine Überleitung (995-997), die den nach seiner Blendung auftretenden Oedipus ankündigt. Der Zuschauer muss an dieser Stelle die Bezüge nicht mehr selbst herstellen: Oedipus fungiert hier als lebendes Beispiel. Iocaste eilt hinzu und wird mit der rasenden Agaue verglichen (1004-1006). Der Vergleich mit der Mutter des Pentheus ist an dieser Stelle das erste Mal explizit aufgeführt und rundet so die Reihe der Anspielungen auf die Episode ab. Auch Iocaste hat von dem Inzest mit ihrem Sohn erfahren. Sie versucht, die Schuld dem Schicksal allein zuzuschreiben, denn niemand könne schuldig werden, wenn das Schicksal es von vorneherein bestimmt habe (fati ista culpa est: nemo fit fato nocens, 1019). 186 Iocaste wählt hier die stoische Argumentati‐ onsweise der Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz. Oedipus lässt sich jedoch auf diese Erklärungsstrategie nicht ein. Es stellt sich für ihn nicht die Frage nach der objektiv feststellbaren Schuld, für ihn ist klar, dass er im Bewusstsein seiner Taten nur über die Selbstbestrafung bis zu einem gewissen Grade seinen inneren Frieden wiedererlangen kann. Iocaste wählt daraufhin den Selbstmord und er‐ sticht sich mit dem Schwert, bezeichnenderweise in den Unterleib. 187 Oedipus klagt, nun auch noch indirekt zum Mörder seiner Mutter geworden zu sein (bis parricida, 1044), 188 das Schicksal sei also noch härter zu ihm gewesen als ur‐ sprünglich prophezeit. Er beschließt daraufhin, ins Exil zu gehen, und fordert sein grausames Schicksal und sämtliche damit verbundene Übel auf, die Stadt mit ihm zu verlassen. Der Kreis schließt sich am Schluss des Oedipus. Mit der Verheerung der Pest hatte das Stück begonnen, mit ihrem Auszug endet es. 71 4.1. Oedipus <?page no="72"?> 189 Töchterle 1994, 608 konstatiert zum fünften Lied: „auch das Problem der rechten Lebenswahl [viertes Chorlied] hat er [der Chor] unter sich gelassen, vom Podest der moralischen Instanz schaut er nun hinab und kommentiert.“ Aber gerade auf das Problem der rechten Lebenswahl versucht der Chor hier eine zusammenfassende Antwort zu finden. 190 Ob dies wirklich, wie Caviglia 1996, 99 meint, als consolatio für Oedipus gedacht ist, scheint zweifelhaft. Das fünfte Lied hat einen deutlich resignativen Tonfall, denn der Chor sagt schließlich selbst, dass er den Lebensentwurf des vierten Liedes vor‐ ziehen würde. Die völlige Determination durch das fatum entspricht aber dem Glauben an eine Weltordnung, die sich nicht ändern lässt. 4.1.6. Oedipus: Einsicht in die existentielle Absurdität Das fünfte Chorlied ist das Resultat einer langen Reflexionskette, die über das ganze Stück hinweg geflochten wurde. 189 Alle Kerngedanken, die in den vo‐ rigen Chorpartien zur Sprache gekommen waren, werden durch die Conc‐ lusio zu einem abschließenden Ergebnis geführt. Seneca schafft hier einen synthetisierenden Schlusschor, der die Interpretation der Tragödie auf den Punkt bringt. Im ersten Lied hatte der Chor eine Exposition der desolaten Situation gegeben und somit die Frage nach dem Leid definiert. Im zweiten Lied hatte er eine göttliche Strafe vermutet, die für einen vorsätzlichen Frevel erfolgt sei. Im dritten Lied wurde dieser Gedanke dahingehend wei‐ tergesponnen, dass das Strafmaß für unabsichtlichen Frevel das gleiche sei. Das vierte Lied stellt einen Gegenentwurf dar, das Bild eines Menschen, der nach eigenem Gutdünken sein Leben völlig frei gestalten kann. Im Rahmen einer solchen utopischen Konzeption ist allerdings jeder Frevel das Resultat einer freien Gewissensentscheidung und damit zu verurteilen. Doch der Chor wird unterbrochen und kann diesen Gedanken gar nicht zu Ende bringen, da diese Konzeption der Welt nicht der Realität entspricht. Deswegen versucht er auch gar nicht, im letzten Lied noch einmal darauf einzugehen, sondern stellt abschließend fest, nach welchem Gesetz die Welt seiner Meinung nach funktioniert: Der Mensch ist vollkommen determiniert. Alles wird durch die Macht des fatum regiert. 190 Daraus ergibt sich die Frage nach der Schuld des einzelnen und welche Eigenverantwortung bleibt, wenn jede Handlung de‐ terminiert ist. Diese Fragestellungen entsprechen dem Konflikt, in dem sich Oedipus befindet und an dem er verzweifelt. Der Mensch hat auf das Schicksal keinen Einfluss und ist ihm hilflos ausgeliefert. Die Konsequenzen für sein bewusstes oder unbewusstes Fehlverhalten muss er ertragen. Das Rechtssystem der stoischen Ethik, das Schuldlosigkeit bei fehlendem Vor‐ satz proklamiert, wird somit wirkungslos. Oedipus ist das Negativbeispiel für einen Menschen, der an der stoischen Schuldkonzeption zerbricht und keinen 72 4. Fallbeispiele <?page no="73"?> 191 Cf. Wiener 2006, 126-127: „Aber gerade das Determinismus-Problem im Oe‐ dipus-Mythos wird in seiner Paradoxie entscheidend für Senecas Wahl des Tragö‐ dienstoffes gewesen sein, nicht um Andersdenkende von den Lehren der Stoa zu überzeugen, sondern um die Problematik auch innerhalb der stoischen Doktrin in ihrer fast übermenschlichen Schwierigkeit erschütternd zu Bewußtsein zu bringen.“ Der Fehler von Oedipus besteht nach Wiener 2006, 128 darin, „die Gnade des Schicksals, ihn unwissend zu belassen, nur beinahe [anzunehmen].“ Und weiter: „Alle Fehlentscheidungen, die Oedipus im Verlauf des Dramas trifft, […] sind Handlungen, die aus verfehlter Selbsteinschätzung, Furcht und affektgelenkter Re‐ aktion resultieren.“ Zur Determination auch Wiener 2014a, 215-216. 192 Ähnlich Fischer 2008, 269: „Die Dramen sind in dieser Hinsicht als Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem zu verstehen und nicht als Absage an die stoische Philoso‐ phie.“ 193 Das Motiv der Furcht dient also dazu, den falschen Umgang mit dem fatum zu demonstrieren, und ist damit nur Mittel zum Zweck. Keinesfalls handelt es sich jedoch, wie Aygon 2015, 275-276 suggeriert, um eine Affekttragödie, in der das fatum nur eine nebensächliche Rolle spiele. 194 Cf. Töchterle 1994, 18: „So bleibt also error die Ursache seines Unglücks und nicht subjektive Schuld, und Oedipus Opfer eines grausamen Schicksals. Und es fällt schwer, derartiges Übel als göttliche providentia [ …], etwa als Prüfung der virtus [ …] zu akzeptieren.“ Ausweg aus der unlösbaren Absurdität des Seins findet. 191 Dieser Verste‐ hensprozess eines Menschen, der am Ende erkennen muss, dass die eigene Existenz absurd ist, ist minutiös in den Chorliedern abgebildet. In der Form einer mise-en-abyme verdichten sie die Aussagen der einzelnen Akte und legen so in chronologischer Reihenfolge die Problemstellung des gesamten Dramas dar. Ist das dabei gewonnene, resignierende Ergebnis nun aber als Aporie oder gar Absage an die stoische Philosophie zu verstehen? Sicherlich nicht. Se‐ neca geht es zunächst darum, den status quo aufzuzeigen und anhand einer Extremsituation zu illustrieren, dass das fatum nicht immer nur Ange‐ nehmes für das Individuum bereithält. 192 Der Oedipus bietet hierfür noch keinen idealen Lösungsansatz: Oedipus ist maßlos in seiner Art zu strafen, getrieben wird er dabei von den Affekten der Furcht und des Zorns, nicht von vernünftiger Überlegung. 193 Ferner bringt seine Bestrafung nur bedingt Hilfe. Zwar befreit er sein Volk von der Seuche, für ihn selbst gibt es jedoch keine Rettung. 194 Doch das Stück verbleibt nicht völlig ohne Lösung: Oe‐ dipus gibt einen Hinweis auf das richtige Verhalten, indem das seinige als eindeutig falsch gezeichnet wird. Er dient als überzeichnete negative Kon‐ trastfolie, von der es sich abzusetzen gilt. Daraus lassen sich bereits einige Maximen für das richtige Handeln ableiten. So erscheint beispielsweise Io‐ castes Selbstmord als wesentlich würdevollere Methode. Dieser geht jedoch 73 4.1. Oedipus <?page no="74"?> 195 Phoen. 319 iubente te vel vivet als Kulminationspunkt einer langen Auflistung von möglichen Selbstbestrafungen; cf. hierzu Schöpsdau 1997, 90-91. 196 Zur Titelproblematik Troades (E-Überlieferung) vs. Troas (A-Überlieferung) cf. Wilson 1983, 27-30; Stroh/ Breitenberger 1994, 251 mit Anm. 23; Stroh 2014, 435. Aufgrund der tragenden Rolle des Chores neige ich dem Titel Troades zu. 197 Grundlegend für die Troerinnen ist der Kommentar von Elaine Fantham 1982. Knapper und für einen kurzen Überblick gut geeignet Owen 1970; Steidle 1972; Schetter 1972b; zum Vergleich mit Euripides Pratt 1939, 56-63; Mueller-Goldingen 2005, 129-135 und Boyle 1994. Boyles Kommentar zeichnet sich ferner durch die Wertschätzung der Troe‐ rinnen als Bühnenstück - im Gegensatz zu Fanthams Sicht als „closet drama“ (Boyle 1994, xi) - sowie eine hervorragende englische Übersetzung aus. Keulen 2001 bringt wenig neue Erkenntnisse und wird nur sporadisch herangezogen. 198 Cf. Fantham 1982, 15; Boyle 1994, 6: „And to many, including the present editor, the world-view of most of the plays is decidedly unstoic, the Stoic ideology itself being critically exhibited within a larger, more profound, more disturbing vision.“ (auch Boyle 2011, xix mit Bezug auf den Oedipus). 199 Fischer 2008, 45 mit Verweis auf epist. 70, 7; 91, 14 und den Epilog von de prov.; cf. auch 203, bes. Anm. 184 mit weiterer Literatur. 200 Fischer 2008, 45. der Aspekt der Bestrafung ab, da er eine Erlösung aus dem Leiden der Welt darstellt. Ausführlicher wägt Oedipus die Frage nach dem Selbstmord in den Phoenissen ab. Dort kommt er letztlich zu dem Schluss, nicht der Tod, son‐ dern das Weiterleben in einem absurden Weltsystem sei die schlimmste Strafe. 195 Diese Überlegung sowie die Reflexion darüber, wie ein angemes‐ sener Umgang mit einem ungnädigen fatum konkret aussehen kann, kommen eingehender in den Troades zur Sprache. 4.2. Troades Seneca geht in den Troerinnen 196 einen Schritt weiter als im Oedipus. 197 Er nimmt es als gegeben an, dass das fatum nicht immer wohlwollende, helfende Instanz ist, sondern ein grausames Weltprinzip, das den Menschen bis in die Absurdität seiner Existenz hineintreiben kann. Damit sind die Troerinnen das Stück, das bezüglich der Theodizeefrage am kritischsten wirkt. 198 Seneca befasst sich in der Tragödie mit einer möglichen Lösung einer hoffnungslosen Situation und mit der Frage nach dem Tod als Ausweg. Laut stoischer Lehre ist in einer determi‐ nierten Welt der Tod „die einzige Sache, die der Mensch wirklich in seiner Hand hat.“ 199 Doch einfach nach der Maxime: „Wenn das Schicksal unerträglich scheint, bleibt als Ausweg immer noch der Tod“ 200 scheint es bei Seneca nicht zu funktionieren. Wenn Fischer konstatiert: „Seneca gesteht seinen Dramenfi‐ guren Handlungsfreiheit zu, aber für die besiegten Trojaner kann sich diese nur 74 4. Fallbeispiele <?page no="75"?> 201 Fischer 2008, 223. 202 Die beiden Tode von Astyanax und Polyxena, die Seneca im Stück behandelt, sind ex‐ plizit keine Selbstmorde, sondern durch die Griechen angeordnete Hinrichtungen. 203 Konziser Vergleich z.B. Steidle 1968, 44-61; Wilson 1983, 28-29; Boyle 1994, 27; Wessels 2014, 52-57; Stroh 2014, sowie zu weiteren römischen Vorbildern ausführ‐ lich Harrison 2015b. 204 Calder 1970, 75. Anders urteilt Pratt 1939, 63: „Thus even in this less dramatic of Seneca’s plays there is more suspense and more anticipation than in the Euripi‐ dean. In this work the Roman dramatist has created one of his most original and certainly one of his best tragedies.“ Zu weiteren Bewertungen des Stückes cf. Fan‐ tham 1982, vii. 205 Dass hier Hecuba den Prolog spricht, mag zunächst überraschen. Seneca hat durchaus eine Vorliebe für das Auftreten von Geistern im Prolog (cf. Agamemnon und Thyestes), und in den Troerinnen würde es naheliegen, den Geist des Achill auftreten zu lassen. Stattdessen entscheidet er sich für einen rein menschlich gestalteten Prolog. Gerade diese Personenwahl ist bezeichnend. Fantham 1982, 204 konstatiert: „he has chosen as a prologue speaker a character without fore-knowledge or power to direct future events.“ Gerade die Machtlosigkeit gegenüber dem fatum ist es, die Seneca im Stück hauptsächlich vor Augen führen möchte. als Freiheit zum Tod äußern,“ 201 dann stellt sich hier die Frage, weshalb über‐ haupt noch Trojaner(innen) am Leben sind und sich nicht schon für den Selbst‐ mord entschieden haben. 202 In den Troades differenziert Seneca die stoische Sichtweise auf den Selbstmord und relativiert sie, indem er sie auf den Einzelfall anwendet. Seine Version lehnt sich nur in Teilen an die euripideischen Vorlagen an und hat hauptsächlich eigenständigen Charakter. 203 Dies hatte vielfach eine negative Bewertung des Stückes zur Folge. So resümiert Calder: „Seneca thought that by gathering what he believed good from four earlier versions he could compose a fifth and best play. He was wrong.“ 204 Die Troerinnen ge‐ hören sicherlich zu Senecas düstersten Tragödien. Stärker noch als in seinen anderen Stücken wirkt die Handlung hier auf den ersten Blick wie eine Zu‐ sammenstellung von Einzelszenen, die allenfalls lose durch die äußeren Rah‐ mengegebenheiten miteinander verknüpft sind. Der Chor ist es jedoch, der diese Vielfalt an Themen ordnet und auf einen gemeinsamen Nenner bringt: Die Frage nach dem Ausweg aus der durch das unbarmherzige und willkür‐ liche fatum regierten Welt. 4.2.1. Der Tod als universell gültiger Ausweg aus dem Leid? Das Drama beginnt konventionell. In ihrem Eingangsmonolog (1-66) widmet sich Hecuba, die Königin von Troja, vor den Ruinen der gefallenen Stadt einem typisch senecanischen Thema: 205 Dem Topos der Fallhöhe. Troja sei das beste 75 4.2. Troades <?page no="76"?> 206 Fantham 1982, 205 verweist darauf, dass ein Unterschied zur Version des Euripides darin bestehe, dass sich Seneca weniger dem menschlichen Trauern um das gefallene Troja widme, sondern den Fall der Stadt als allgemeines Exempel für die Launen des Schick‐ sals heranziehe. Der persönliche Charakter fehle durch Apostrophen jedoch nicht gänzlich. Zur Verarbeitung des Troja-Motivs in anderen Werken Senecas sowie bei weiteren Autoren cf. Fantham 1982, 206-207 und Boyle 1994, 27. 207 Zur Kontroverse über die Metrik und die daraus resultierende Verszählung des ersten Chorliedes cf. Fantham 1982, 220-223. 208 Fantham 1982, 223 weist darauf hin, dass die Themenwahl des Chorliedes nicht direkt auf Euripides zurückzuführen sei, sondern Seneca hier vielmehr eine eigenständige Wahl getroffen habe, um eines der Themen seines Stückes ausführlich zu behandeln. Bereits in diesem ersten Lied ist ein von Euripides gänzlich verschiedener Fokus und Interpretationsansatz des Stoffes angelegt. Beispiel für den Wankelmut Fortunas, die besonders die Mächtigen stürze (non umquam tulit / documenta fors maiora, quam fragili loco / starent superbi, 4-6). 206 Hecuba beschreibt die mythische Entstehung Trojas und illustriert dessen Größe (6-13), was die folgende Schilderung der Zerstörung durch die Griechen umso drastischer erscheinen lässt (14-27). Da Hecuba Paris geboren und schon wäh‐ rend der Schwangerschaft vorausgeahnt habe, dass dieses Kind ihrer Stadt Ver‐ derben bringen werde (prior Hecuba vidi gravida, 36), sieht sie die Schuld für das Verderben ihrer Stadt und ihrer Familie weniger bei den Griechen als bei sich selbst (meus ignis iste est, facibus ardetis meis, 40). Deshalb beklagt sie, dass sie selbst trotz ihres hohen Alters noch am Leben sei (vivax senectus, 42), während ihre Kinder zu jung gestorben seien (umbrae minores, 33). Ein weiterer Toter, den sie zu beklagen hat, ist ihr Ehemann Priamus. Sie prangert das Verbrechen des Königsmordes an (regiae caedis nefas, 44), da Priamus grausam durch Pyr‐ rhus ermordet wurde (45-50), ohne begraben zu werden. Hecuba beklagt schließlich das Schicksal aller Trojanerinnen (56-62), die an die Sieger verlost werden. Im ersten Akt beleuchtet Hecuba schlaglichtartig die gegenwärtige Situation der trojanischen Bevölkerung: Einige von ihnen sind tot, anderen droht ein Leben in Leid und Sklaverei. So stellt sich am Ende des ersten Aktes die Frage, ob die Lebenden oder die Toten das bessere Los gezogen haben und ob der Tod nicht, selbst wenn er grausam ist wie der von Priamus, dem Leben in Unfreiheit vorzuziehen ist. Hecuba vollzieht diese Gewichtung bereits durch ihre klimak‐ tische Gliederung der Argumente: Erst die Zerstörung der Stadt, der Tod der Kinder, der Tod des Königs und schließlich an letzter Stelle das Überleben‐ müssen. Das erste Chorlied (67-163) 207 streicht diese Fragestellung deutlich heraus, indem es thematisch Hecubas Bitte um den Tod, der sie von ihrem Leid erlösen soll, aufgreift. 208 Es erfolgt als Wechselgesang zwischen Hecuba und dem Chor. 76 4. Fallbeispiele <?page no="77"?> 209 Auch Boyle 1994, 33 betont die Einzigartigkeit dieses Chorliedes. Der Wechselgesang findet sich sonst nur noch im vierten Akt des Agamemnon, dort zwischen Kassandra und dem Chor. Cf. auch Gärtner 2003, 30. Ausführungen zur Verwendung im griechi‐ schen Chor bei Hose 1990-1991, Bd. 1, 169-172. Hose zeigt auf, dass das Amoibaion zunächst dazu diene, das Wissen des Chores durch den Dialog zu erweitern, Euripides sich jedoch immer weiter von der Vorstellung löse, dass sich der Chor sein Wissen erst erarbeiten müsse. Ferner wird darauf hingewiesen, dass auch bei Euripides bereits ein Rückgang dieser Form bzw. ein Bedeutungsverlust der Rolle des Chores in Wechselge‐ sängen zu verzeichnen sei. 210 François-Garelli/ Bastos 1991, 96 geben Hinweise zu einer möglichen szenischen Um‐ setzung auf der Bühne: „Elles sont les Troyennes. Qui/ où sont-elles ? Contrairement à ce qui se passe dans le modèle grec, elles ne sont pas ‚en face‘, postées pour observer et authentifier les errements ou les progrès des protagonistes. Je choisis alors qu’elles ne soient pas non plus ‚autres‘, mais justement: les mêmes avec une manière d’être diffé‐ rente, jouant ensemble, humblement, anonymement, de ces moments où les destinées singulières sont en suspens ou achoppent. Une femme, seule, restera dans l’anonymat, ancrage permanent du collectif intermittant. C’est elle qui devra annoncer la réappari‐ tion d’Achille qui verrouille la tragédie. Parce qu’à ce moment, plus que la nouvelle, m’importe sa réception par celles qui vont en souffrir: une femme, pour dire toutes les autres, sera roulée sur les fortifications effondrées par le ressac de la légende.“ Hier wird also das Potenzial, das sich aus dem Motiv der Isolation und der Gruppe ergibt, erkannt und umgesetzt. Diese Form, in der griechischen Tragödie noch völlig gängig, ist bei Seneca selten. 209 Für das hier angestrebte Klagelied entfaltet das Amoibaion jedoch eine besondere Kraft. Der gezielte Einsatz des Wechselgesanges an dieser Stelle un‐ terstreicht die soziale Funktion des Chores. Der Chor repräsentiert in diesem ersten Lied eindeutig die Trojanerinnen (turba captivae mea, 63). Dies ist für die Zwecke des Chorliedes besonders eindrucksvoll dargestellt: 210 Hecuba appelliert an ihre Gefährtinnen, da sie sich Kameradinnen wünscht, die die Bürde im Leid mittragen (Fidae casus nostri comites, 83). Doch ihr Hoffen auf Trost durch So‐ lidarität scheitert am sozialen Gefälle. Ihre Stellung als Königin verwehrt ihr den Zugang zum Chor. Die Frauen verbleiben eine unnahbare Gruppe, die ihre Königin zwar respektiert und ihr gehorcht, sie aber nicht als gleichberechtigt in ihrer Reihe aufnimmt (vulgus dominam vile sequemur, 81). Der Chor ändert sein Verhalten gegenüber seiner Königin auch in der Extremsituation nicht, wodurch Hecuba durch ihre hervorgehobene Stellung vom Chor isoliert bleibt. Zu Beginn des Liedes fordert Hecuba den Chor auf, ein Klagelied anzu‐ stimmen (turba captivae mea, / ferite palmis pectora et planctus date, 63-64). Der Chor erinnert zunächst daran, dass Trauer und Klage für ihn aufgrund der ver‐ gangenen zehn Kriegsjahre nichts Neues seien (non rude vulgus lacrimisque novum / lugere iubes, 67-68). Sodann erwähnt der Chor einen neuen Grund der Trauer (nova fletus causa, 78). Dieser bleibt zunächst noch im Dunkeln, denn der 77 4.2. Troades <?page no="78"?> 211 Fantham 1982, 226 sieht die ausführlichen Beschreibungen der Trauerrituale als Beleg für die Rezitationsdramenthese, da Senecas Chor in diesem Falle seine Handlungen nicht optisch verdeutlichen könne und auf verbale Kommentierungen angewiesen sei. Doch Senecas bildhafte Sprache, die seine Tragödien charakterisiert, steht in keinerlei Wider‐ spruch zu einer möglichen Bestimmung zur Aufführung, sondern ist als reizvolles stilis‐ tisches Merkmal zu sehen. 212 Implizit ist er bei den zuvor betrauerten toten Kindern Hecubas genannt. 213 Verg. Aen. 2, 526-558. Chor erteilt das Wort wieder Hecuba, der es vorbehalten sei, ihn zu nennen. Die Königin gibt dem Chor detailliertere Anweisungen für den Trauerritus (83-98). 211 Die Tatsache, dass sie spricht, sowie die Erwähnung der toten Gatten (90) schüren die Erwartungshaltung, dass nun Priamus betrauert werden soll. Umso mehr er‐ staunt es, dass Hecubas Rede mit der Aufforderung endet, den Tod Hectors zu beweinen (Hectora flemus, 99). Dies scheint zunächst überraschend, da Hector zuvor noch keine direkte Erwähnung gefunden hatte. 212 Doch die Nennung Hec‐ tors verfolgt hier einen konkreten Sinn, den der weitere Verlauf des Liedes zu Tage fördert. Zunächst begeht der Chor, so wie es ihm Hecuba verordnet hat, die Totenklage um Hector (99-116) und stimmt in Hecubas Klageruf ein (Hectora flemus, 116). Die Wortwahl spiegelt die Machtlosigkeit der Frauen wider. Es sind nicht sie selbst, die sich beim rituellen Trauertanz schlagen und ihr Haar raufen, sondern Subjekt der Sätze sind stets andere Dinge (z. B. die rechte Hand, die Brust etc.). Hecuba beklagt ebenfalls (117-129), dass Hectors Tod zugleich Trojas Ende bedeutet habe (tecum cecidit summusque dies / Hectoris idem patriaeque fuit, 128- 129). Es klingt hier deutlich an, dass Troja im Falle von Hectors Weiterleben noch eine reelle Chance gehabt hätte. Sein Tod kam jedoch zu früh. Sodann fordert Hecuba zur Klage um Priamus auf (Vertite planctus: / Priamo vestros fundite fletus, / satis Hector habet, 130-133). Der Chor beweint seinen grausamen Tod (131-141). Priamus sei erst nach dem Tod seiner Kinder gestorben. Das Bild des Vaters, der vor seiner eigenen Ermordung erst noch die eigenen Kinder zu Grabe tragen muss (post elatos Hecubae partus / regumque gregem / postrema pater fu‐ nera cludis, 138-139), lässt Priamus noch bedauernswerter als Hector erscheinen, der die Ermordung des eigenen Kindes nicht mehr lebend mitansehen musste. Angespielt wird an dieser Stelle auf die Ermordung des Polites durch Pyrrhus, der nach dem Sohn auch Priamus tötete. 213 Als sich der Chor über den verstüm‐ melten Leichnam des Priamus und die frevelhafte Hinrichtung des Königs auf dem Altar des Zeus Herkeios entrüstet, schneidet Hecuba ihm unvermittelt das Wort ab. Sie, um deren Ehemann es doch geht, verbittet sich weitere Klagen um Pri‐ amus und begründet dies überraschend damit, dass dieser nicht zu beklagen, son‐ dern zu beneiden sei (Alio lacrimas flectite vestras: non est Priami miseranda mei / mors, 142-144). Sie behauptet sogar, Priamus sei glücklich (Felix Priamus, dicite 78 4. Fallbeispiele <?page no="79"?> 214 Zur auffälligen Motivveränderung im Vergleich zu Pacuvius, wo Priamus noch bedauert wird, cf. Harrison 2015b, 123. 215 Fantham 1982, 231 verweist hier auf die deutlichen Parallelen zu Ov. met. 13, 519-522. 216 Ähnlich deutet Fantham 1982, 91 für das Stück insgesamt: „Seneca would not have claimed that death is the same for all; the end of life is a blessing and favour to the old, the bereaved, the dishonoured, a cruelty for those too young to have realized their potentials as men.“ cunctae, 145). 214 Sie begründet dies damit, dass er niemals das Joch der Sklaverei tragen und den Jubel der griechischen Sieger mitansehen müsse (146-155). Der Chor zeigt sich von der Argumentation der Königin überzeugt und preist Pri‐ amus in den letzten Versen des Chorliedes (156-163) überschwänglich glücklich, da er durch den Tod seine Würde habe bewahren können. Der Bogen zu Hector wird geschlagen, indem der Chor erwähnt, dass Priamus nun auch seinen Sohn wiedersehen könne (160). Nach einer letzten Glücklichpreisung des Priamus (161) endet der Chor mit der allgemeinen Sentenz, dass jeder glücklich sei, der alles in den Tod mit sich nehmen könne (felix quisquis bello moriens / omnia secum con‐ sumpta tulit, 162-163). 215 Diese Definition, nach der der Tod als glücklicher Ausweg aus dem Leiden gesehen wird, scheint jedoch nicht für jeden zu gelten. So ist Hector hiervon ausgenommen. Hecuba fordert in seinem Fall nicht dazu auf, die Klagen zu revidieren, und Hector wird an keiner Stelle des Chorliedes glücklich gepriesen. Erklären lässt sich dies so: Hector hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Er hätte Troja retten können, durch seinen Tod lässt er sein Volk gleichsam im Stich. Sein Dahinscheiden kann deshalb nicht befürwortet werden, sondern kommt beinahe einer Vernachlässigung seiner Pflichten gleich. Bei Pri‐ amus ist dies nicht der Fall: Troja ist zum Zeitpunkt seines Todes bereits einge‐ nommen, seine Kinder sind tot, die Stadt in Brand gesetzt. Für ihn gibt es nichts mehr auszurichten. Der Tod ist die Möglichkeit, seine Würde zu bewahren, selbst wenn die Umstände eines Königs unwürdig sind. Hector hingegen fällt zwar eh‐ renhaft im Kampf, doch wäre sein Weiterleben wünschenswert gewesen. Das erste Chorlied nimmt also mit der Gegenüberstellung des Todes von Hector und Priamus und deren Bewertung die Problematik des ersten Aktes wieder auf, in dem darüber reflektiert wird, ob der Tod ein Ausweg aus dem Leid sein kann. Der Chor kommt zu dem Schluss, dass unterschieden werden müsse zwischen Men‐ schen, für die diese Lösung erstrebenswert ist, und zwischen denen, die so ihre Pflichten im Leben nicht zufriedenstellend erfüllen können. 216 79 4.2. Troades <?page no="80"?> 217 Es ist wahrscheinlich, dass Hecuba zu diesem Zeitpunkt die Bühne verlassen hat, da sie bei ihrem späteren Auftreten noch nichts von der Verkündigung des Talthybius zu wissen scheint (cf. hierzu Fantham 1982, 232). 218 Cf. zu dieser Technik Fantham 1982, 233. Seneca greift hier auf sämtliche schon im Oedipus verwendeten gängigen Zeichen zurück (die Erde reißt auf und bebt, die gesamte Natur gerät in Aufruhr, 170-176; Apoll als unheilverkündender Gott, 170). 219 Nur die anderen noch lebenden Heerführer hätten den ihnen zustehenden Preis er‐ halten (203-210) und dabei sei der Sieg der Griechen gänzlich Achill zu verdanken, Trojas Zerstörung sei nur noch Beiwerk zu Achills Leistung gewesen (Ilium vicit pater, / vos diruistis, 235-236). 220 Es sei paradox, dass es von Agamemnon abgelehnt würde, die Kinder des Feindes zu töten, obwohl er doch selbst (und mit ihm viele Griechen) ihre Kinder durch Feindes‐ 4.2.2. Ist der Tod besser als das Leben? Überleitend führt der Chor nun den Griechenboten Talthybius ein (164-167) und befragt ihn, weshalb die Griechen trotz ihres Sieges immer noch nicht abgereist seien (168-201). 217 Wie im Oedipus spielt der Bote zunächst mit dem Topos, die Nachricht sei zu grausam, um sie auszusprechen und erzeugt so besonderen Schre‐ cken. 218 Den Griechen sei etwas Übernatürliches, der Geist des Achill (umbra Thes‐ salici ducis, 181) erschienen. Zunächst werden seine Heldentaten beschrieben (182- 189) und als deren Krönung der Sieg über Hector. Die Formulierung Hectorem et Troiam trahens (189) verweist noch einmal auf den herben Verlust, den Hectors Tod für die Trojaner bedeutet, und zeigt, dass auch aus Sicht der Griechen damit der Fall der Stadt besiegelt war. Es stellt sich schließlich heraus, dass Achills Geist aus Zorn die Abreise der Griechen durch eine Flaute verhindert. Achill fordert als wei‐ teres Opfer für seine Heldentaten, dass Polyxena, die Tochter von Hecuba und Pri‐ amus, auf seinem Grab geopfert werde, ihr Henker solle Achills Sohn Pyrrhus sein (desponsa nostris cineribus Polyxene / Pyrrhi manu mactetur et tumulum riget, 195- 196). Dass sie ihm vor ihrer Ermordung erst angetraut werden solle (desponsa), wirkt in diesem Kontext äußerst makaber. Beinahe paradox erscheint nach der Schilderung der Grauensbotschaft durch Talthybius die Beschreibung der nun wieder trügerisch friedlichen Natur (199-202) und insbesondere der Erwähnung des Chores der Tritonen, der leise ein Hochzeitslied anstimmt, das in Wirklichkeit Po‐ lyxenas Totenklage sein wird. Übergangslos schließt sich an den Abgang des Talthybius ein Streitgespräch zwischen Pyrrhus und Agamemnon an (203-359). Die Diskussion zerfällt zu‐ nächst in Rede und Gegenrede. Die beiden Streitenden nehmen Bezug auf die Anordnung des Achill und argumentieren, ob die geforderte Opferung der Po‐ lyxena tatsächlich stattfinden solle (Pyrrhus) oder wegen zu großer Unmensch‐ lichkeit nicht auszuführen sei (Agamemnon). Die Argumente des Pyrrhus wirken insgesamt schwächer und von Jähzorn 219 und Rachgier 220 geleitet. 80 4. Fallbeispiele <?page no="81"?> hand verloren hätten. Es handle sich hier um nichts Neues (solita iam et facta expeto, 249). Ausführlich zur Szene Seidensticker 1969, 163-179. 221 Vor dem Hintergrund, dass Agamemnon seine eigene Tochter Iphigenie den Göttern für besseren Wind geopfert hat, wirkt seine Argumentation wie die eines Mannes, der aus seinen Fehlern gelernt hat. Offensichtlich scheint er nun einem fraglosen Befehls‐ gehorsam gegenüber den Göttern um den Preis eines unschuldigen Menschenlebens kritisch gegenüber zu stehen. Agamemnon reagiert hierauf mit einer besonnenen Rede, die wesentlich aus‐ gefeilter konstruiert ist als die des Achillsohnes. 221 Er entkräftet die Rede des Pyrrhus zunächst auf affektiver Ebene, indem er ihm Jähzorn, der ein altersbe‐ dingter Fehler sei (Iuvenile vitium est regere non posse impetum, 250), unterstellt. Da diese Disposition jedoch von Achill ererbt sei (fervor […] paternus, 251), könne man auch dessen Forderungen nicht vollkommen ernst nehmen. Daran schließt er ein Plädoyer für die clementia an, die einem Sieger zu Ehren gereiche. Schließlich versucht er, Pyrrhus auf persönlicher Ebene anzusprechen und an dessen Gewissen zu appellieren. Die Schuld an Polyxenas Opferung werde letzt‐ lich auf ihn selbst zurückfallen, da jemand, der böse Taten nicht verhindere, genauso schuldig sei wie der, der sie begehe (qui non vetat peccare, cum possit, iubet, 291). Die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit ist eines der zentralen Motive in den Tragödien, das bereits im Oedipus ausführlich behandelt wurde. In den Troerinnen wird diese Problemstellung vertieft: Wenn man sich seiner Verantwortlichkeit bewusst ist, ab welchem Punkt darf man sich ihr entziehen? Und macht man sich nicht auch schuldig, wenn man die Augen verschließt? Ist man dann nicht genauso schuldig wie der Täter selbst? Auf Agamemnons Rede folgt ein längerer Schlagabtausch zwischen den Kon‐ trahenten (292-359), der letztlich keinen Fortschritt bringt. Pyrrhus beharrt auf seinem Standpunkt, Agamemnons Versuche, ihn umzustimmen, laufen ins Leere. Als Agamemnon seinen geringen Erfolg sieht, wechselt er die Strategie und schlägt vor, den Seher Calchas hinzuzuziehen, um zu erfragen, was der Wille der Götter sei. Er hofft so, den verbohrten Pyrrhus noch umstimmen zu können, wenn sein Aufruf zur Gnade durch göttlichen Beistand unterstützt würde. Al‐ lerdings geht dieser Schuss gehörig nach hinten los: Die Prophezeiung des Cal‐ chas (360-370) besagt nicht nur, dass Polyxena geopfert werden soll (mactanda virgo est Thessali busto ducis, 361), sondern fordert noch ein zweites Opfer. Auch Hectors Sohn müsse von Trojas Zinnen gestürzt werden, erst dann werde güns‐ tiger Wind eintreten (turre de summa cadat, / Priami nepos Hectoreus et letum oppetat, 367-368). Agamemnons Versuch, die Eskalation der Grausamkeiten zu 81 4.2. Troades <?page no="82"?> 222 Fantham 1982, 241. Fantham bemängelt hier den fehlenden Zusammenhang der Szenen 1 und 2 und führt dies darauf zurück, die Szenen hätten keine griechische oder römische Bühnenvorlage, sondern gingen lediglich auf Passagen aus Ovids Metamorphosen zu‐ rück (232-233 und 240-241 mit weiteren möglichen Quelltexten). 223 Z.B. Keulen 2001. Fischer 2008, 216-217 sieht die Szene als Sinnbild der Absurdität des fatum: Agamemnon wolle, was moralisch sei, aber im Widerspruch zum fatum stehe, Pyrrhus wolle die Vorgaben des fatum erfüllen, was aber moralisch verwerflich sei. 224 Pyrrhus wird so auch als negative jugendliche Gegenfigur zur besonnenen Polyxena gezeichnet, cf. Rota 1997, 186-188. 225 Interessant ist aber, in welchem Licht Seneca die Rhetorik erscheinen lässt. Egal ob rhetorische Raffinesse von der ‚guten‘ oder der ‚schlechten‘ Partei verwendet wird, rhetorische Kraft führt letztlich nicht ans Ziel, sondern brachiale Gewalt setzt sich durch. Bedenkt man die politischen Umstände der kaiserlichen Diktatur, erklärt sich die pessimistische Sicht auf die Möglichkeiten der Rhetorik. Cf. hierzu Dänzer 2015. vermeiden, ist völlig gescheitert. Statt ein Kinderopfer zu verhindern, sollen nun gar zwei ausgeführt werden. Es stellt sich in diesem Akt die Frage, worauf die lange, letztlich sinnlose Diskussion abzielt. Auch die scheinbare Losgelöstheit von der restlichen Hand‐ lung hat dafür gesorgt, dass die Szene von Seiten der Forschung harscher Kritik ausgesetzt wurde. So konstatiert beispielweise Fantham: „Despite its complex argumentation and verbal ingenuity […] the quarrel between Agamemnon and Pyrrhus […] is the weakest dramatic unit in the play. Detached from the action at beginning and end, it also lacks the sense of dramatic direction that we would expect from a good adaptation of any scene by Euripides […].“ 222 Versuche, die Szene aufzuwerten, wurden vor allem dahingehend unternommen, dass man in dem Rededuell eine Parabel für Senecas Vorstellung eines perfekten Beleh‐ rungsgesprächs sehen und ihm so zumindest pädagogischen Wert zuschreiben wollte. 223 Diese Interpretation geht fehl: Zwar erinnern einige Stellen zunächst an Senecas mahnende Worte in De clementia, als er den jungen Herrscher in gemäßigte Bahnen zu lenken sucht. Der frustrierende Ausgang des Gesprächs weist jedoch in eine andere Richtung, scheitert doch Agamemnons Überzeu‐ gungsversuch völlig. Insgesamt wirkt Agamemnons Rede wie eine rhetorisch ausgefeilte Sammlung von Sentenzen. Er ist Pyrrhus argumentativ und rheto‐ risch zwar überlegen, kann jedoch gegen dessen Ungestüm und Eigensinn nichts ausrichten. 224 Deshalb ist das Rededuell von vorneherein zum Scheitern verur‐ teilt und eignet sich nicht als Muster für ein Überredungsgespräch. 225 Es existiert eine keinesfalls marginale Verbindung der Szene zum restlichen Stück. Offensichtlich wird diese jedoch erst, wenn man das zweite Chorlied hinzuzieht. Der erste Akt hatte die Frage beantwortet, ob der Tod einen Ausweg aus einer hoffnungslosen Lage bedeuten kann, und war zu dem Schluss ge‐ kommen, dass dies nicht für jeden gelte. Der zweite Akt nimmt Personen in den 82 4. Fallbeispiele <?page no="83"?> 226 Zu den metrischen Motiven des Chorliedes cf. Fantham 1982, 262. 227 Irreführend deutet Marti 1945, 226 das zweite Chorlied als durchgängig stoisch. Zum Bezug auf Lucrez cf. Haywood 1969, 418-419; Fantham 1982, 263-264. Zu Bezügen zu Horaz cf. Grimal 1964, 5 und DeglʼInnocenti Pierini 1993/ 1994; zur Verbindung mit der Tradition der consolationes cf. Audano 2018. Ausführlich zum zweiten Chorlied, Senecas Todeskonzeption im Allgemeinen und zum Zusammenhang mit den Prosaschriften Kugelmeier 2001; cf. ferner zur Bewertung des Todes Gil 1979, 32-50. 228 Cf. Owen 1970, 125; Schetter 1972b, 267-271; Gil 1979, 107-108; Draper 1987, 141- 150; Littlewood 2004, 94-95; Kugelmeier 2007, 153-156; Heil 2013, 153-159; Tri‐ nacty 2014, 150-154; Lefèvre 2015b, 395-396; Littlewood 2015, 168-172. Blick, die unausweichlich sterben müssen. Polyxenas Schicksal steht bereits fest und kein Versuch, dies zu ändern, fruchtet. Auch das zweite Chorlied hat den Tod als Thema und befasst sich mit der Frage nach dessen Beschaffenheit. Se‐ necas Asklepiadeen 226 fassen den Inhalt des langen Rededuells zusammen: Der Chor reflektiert über den Sinn des Todes. Er betont zunächst die eigene Macht‐ losigkeit, was im zweiten Akt durch das Scheitern von Agamemnons Argu‐ mentation gegenüber dem jähzornigen Pyrrhus deutlich geworden war. Der Chor stellt zuerst die Frage nach einem Leben nach dem Tod (Verum est […] / umbras corporibus vivere conditis, 371-372). Im Anschluss folgt sogleich die an das erste Chorlied anknüpfende Frage, ob der Tod einen Vorteil gegenüber dem Weiterleben darstelle (non prodest animam tradere funeri, / sed restat miseris vivere longius? , 376-377) und ob der Tod die völlige Existenzvernichtung bedeute (an toti morimur nullaque pars manet / nostri, 378-379): In mythisch-lyrischen Bildern malt er sodann aus, dass ein jedes Lebewesen sterben müsse und der Tod unausweichlich sei (382-396). Wie stets ist das fatum der zentrale Begriff (hoc omnes petimus fata, 390), das als lenkendes Prinzip alles regiert. Auffällig ist allerdings, dass die Antworten epikureisch anmuten. 227 Auf den ersten Blick mag die Conclusio des Chores ernüchternd klingen: Nach dem Tod gebe es kein Weiterleben und der Tod selbst sei nichts (Post mortem nihil est ipsaque mors nihil, 397). Die Menschen, die auf ein Leben nach dem Tod hofften, würden enttäuscht, doch die Menschen, die sich fürchteten, könnten dies getrost auf‐ geben (spem ponant avidi, solliciti metum, 399). Die Geschichten über die Un‐ terwelt seien reine Phantasie (402-406). Das Lied endet mit den rätselhaften Versen, dass der Tod da sei, wo auch das Ungeborene sei (quaeris quo iaceas post obitum loco? / quo non nata iacent, 407-408). Die Einordnung des zweiten Chorliedes hat vielfach Probleme bereitet: 228 Als unlogisch wurde bemängelt, dass der Chor hier auf der einen Seite das Weiterleben nach dem Tod negiere, auf der anderen Seite jedoch Achills Geist sein Unwesen treibe. Lefèvre tut Achills Erscheinung als bloße Ein‐ bildung des Pyrrhus ab, der so seine eigenen Wünsche rechtfertigen 83 4.2. Troades <?page no="84"?> 229 Lefèvre 2015b, 396: „Die Achilles-Motivation ist somit Einbildung. Sie ist Symbo‐ lisierung, Theologisierung und damit Objektivierung des eigenen Wünschens und Wollens.“ 230 Zusätzlich wertet der Seher Calchas den Geisterauftritt rituell auf, so wie es auch schon Tiresias bei der Totenbeschwörung des Laius im Oedipus getan hatte. 231 Cf. auch die Geisterszenen im Oedipus und im Hercules furens. 232 Zur Epiphanie des Achill auch Schmitz 1993, 175-190; zu den Geisterszenen all‐ gemein Wiener 2006, 300-306. 233 Kugelmeier 2001, 43; ähnlich Stroh 2014, 440. 234 Kugelmeier 2001, 45. 235 Cf. z.B. Davis 1993, 136-143. Davis deutet die Widersprüchlichkeit der beiden Chorlieder so, dass ein Unterschied in der Todeskonzeption bei Astyanax und Po‐ lyxena gegeben sei, der sich in den beiden Chorliedern widerspiegle: „For As‐ tyanax and Andromache there is comfort to be gained from belief in the soul’s survival.“ (143). Diese Interpretation geht jedoch zu weit, da weder die Haltung zum Tod von Astyanax noch von Polyxena im Stück klar benannt wird. Auch ihr Verhalten am Ende ist sehr ähnlich und liefert keine Hinweise auf signifikante Diskrepanzen. Dass hier, wie Davis annimmt (143), keinerlei philosophische Ideen über den Tod weitergegeben werden sollen, erscheint als unhaltbare These. Wei‐ tere Überlegungen bei Hill 2000, 581-584. Kirichenko 2013 legt dar, es handle sich bei diesem Widerspruch um das Aufzeigen eines „lehrreichen Trugbild[es]“ (256). könne. 229 Bei dem Auftritt von Geistern handelt es sich jedoch in erster Linie um ein Theaterelement. 230 Es geht hier nicht darum, eine Aussage über das Weiterleben nach dem Tod zu treffen, sondern um ein imposantes Grusel‐ motiv. 231 Der Effekt, der hierdurch erzielt wird, ist rezeptionsästhetisch gesehen ungleich eindrucksvoller, als wenn ein lebendiger Grieche die For‐ derungen überbringen würde. 232 Diese dramaturgischen Mittel dienen thea‐ tralischen Effekten, stehen nicht in Zusammenhang mit der Interpretation des Stückes und haben mit der eigentlichen Argumentationslinie der Tra‐ gödie und damit auch der des Chores nichts zu tun. Wichtig ist zudem die Feststellung Kugelmeiers, das Drama sei zunächst ohne die Chorlieder kon‐ sistent. Die Lieder müsse man von der dramatischen Handlung „losgelöst als fortlaufende gedankliche Entwicklung zum zentralen Thema des Stücks […] betrachten: der Reflexion darüber, welche Kraft die […] bedrohte menschliche Existenz noch aus dieser unausweichlichen Vernichtung zu ziehen imstande ist.“ 233 Man müsse den Chor somit als „kontinuierlichen gedanklichen Strom neben der Handlung“ 234 begreifen. Schwieriger ge‐ staltet sich das Problem, dass Priamus im ersten Chorlied als glücklich im Tode bezeichnet wurde, da er nun im Elysium weile und Hector wieder‐ sehen könne. 235 Um die Widersprüche zwischen erstem und zweitem Chor‐ lied aufzulösen, nimmt Kugelmeier an, es würden zwei unterschiedliche Meinungen des Chores präsentiert. So sei der Chor nicht als didaktisches 84 4. Fallbeispiele <?page no="85"?> 236 Kugelmeier 2001, 44-45. 237 Stroh/ Breitenberger 1994, 251 mit Anm. 23; Heil 2013, 153; Stroh 2014, 447. Nach Fischer 2008, 205 handle es sich um „zwei Chöre mit verschiedenen Ansichten über das Leben nach dem Tod (Chor I der Trojanerinnen: Elysium, Chor II der Grie‐ chen: Nihilismus)“; ferner 225-226 mit anderer Aufteilung: „So beschreibt der Chor I eine mythische Jenseitsvorstellung und der Chor II philosophische Gedanken dazu.“ 238 Lefèvre 2015f, 426: „[Daraus] ergibt sich die Konsequenz, daß der Chor nur meinen kann: ‚Glücklich Priamus, der alles überstanden hat! ‘ Dieser gängige Gedanke ist aber in der gängigen Vorstellung gekleidet, daß Priamus im Elysium weile - ohne daß der Chor damit eine eschatologische Aussage machen will. Bei genauerem Fragen stünde er (jeden‐ falls Seneca) nur zu der Ansicht, daß Priamus glücklich sei, weil er nicht mehr lebe.“ 239 Fantham 1982, 92 liest dieses Chorlied als negative Sichtweise auf den Tod. Diffe‐ renzierte Darlegung der Argumente gegen diese Sichtweise bei Kugelmeier 2001. 240 Zu der Gleichschaltung der Begriffe Fischer 2008, 2 und 11-12; auch Lefèvre 2015b, 399 und Lefèvre 2015f, 424-425 und 427. Mittel zu begreifen, der eine philosophische Meinung widerspiegle, sondern gebe lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln „Anstöße zur weiteren Re‐ flexion über einen Themenkomplex […], mit dem letztlich weder philoso‐ phische Lehren noch das Theater zu einem abschließenden Ende kommen.“ 236 Ähnlich gehen auch Fischer, Stroh und Heil vor, wenn sie hier zwei verschiedene Chöre annehmen. 237 Doch liegt gerade in der Offenle‐ gung des Gedankenganges des Chores die didaktische Stärke der Lieder: Der schrittweise vorgenommene Reflexionsprozess ermöglicht, dem Chor gleichsam in den Kopf hineinzusehen, und macht nur so seine Schlussfol‐ gerungen am Ende nachvollziehbar. Zudem ist der Bruch zwischen erstem und zweitem Chorlied weniger gravierend als angenommen: Lefèvre argu‐ mentiert zutreffend, dass das erste Chorlied nur dazu diene, Priamus als glückselig zu beschreiben. 238 Wie bereits gezeigt, ist die Hauptaussage des ersten Chorliedes die Kontrastierung von Hector und Priamus, die darauf abzielt, zwei verschiedene Gruppen zu illustrieren, für die der Tod unter‐ schiedlichen Stellenwert einnimmt. Das Hauptanliegen des zweiten Liedes ist es hingegen, die Wertung des Todes als positiv zu begreifen: Die kom‐ plette Existenzvernichtung bedeutet zwar, dass aus dem Tod nicht insofern Hoffnung geschöpft werden könne, als er ein besseres Weiterleben biete, aber auch, dass es keinen Schmerz und kein Leid mehr gebe. 239 Dies ist zwar epikureisch, aber für Seneca nicht unbedingt ungewöhnlich, denn auch in stoischer Auslegung wird dem Tod als Ausweg aus dem Leiden eine hohe Bedeutung beigemessen. Bei Lucrez soll die Nichtigkeit des Todes der Furcht vor den Göttern entgegenwirken, bei Seneca werden die Götter durch das fatum ersetzt. 240 Dass es die fata sind, die den Tod von Polyxena und As‐ 85 4.2. Troades <?page no="86"?> 241 Grundlegende Darstellung zur Willensproblematik bei Seneca: Griffin 1976, 383- 384; Zöller 2003; Inwood 2005, 132-156 und 302-321; Wildberger 2006, 336-341; Inwood 2008; Setaioli 2014a. 242 Anders Lefèvre 2015f, 427 und 431, der den Menschen als Ersatz für die Götter sieht. Er nimmt hier beispielsweise Iasons Ausruf zur Stütze, Medea solle dorthin fahren, wo es keine Götter gebe (1026-1027). Dies ist jedoch nicht Negierung einer existierenden göttlichen Macht, sondern Ausdruck völliger Verzweiflung ange‐ sichts der Katastrophe, die jegliche Vorstellung göttlichen Wohlwollens über‐ steigt. Ebendies ist der Kern des Theodizeeproblems. tyanax fordern, mag für einen Stoiker, der das fatum als positive Macht empfinden sollte, erstaunlich klingen. Tatsächlich ist Senecas Blick auf das fatum wie schon im Oedipus kritisch. Das fatum ist zu einer Macht ge‐ worden, die keinen Trost spendet, sondern Angst macht. Gerade in den Troerinnen zeigt sich, dass es hier keine Hoffnung mehr gibt, die eigene Si‐ tuation verbessern zu können, sondern nur die Möglichkeit, eine gewisse innere Freiheit zu bewahren. Der freie Wille besteht also höchstens darin, sich freiwillig dafür zu entscheiden, das fatum anzunehmen. 241 Essentiell ist, dass Seneca die Macht des fatum nicht für nichtig erklärt. Gerade seine un‐ vermeidbare Präsenz lässt die Figuren scheitern. Seneca negiert das fatum und die stoische Philosophie somit nicht, 242 sondern nimmt eine Umwer‐ tung von einem positiven zu einem negativen Konzept vor. Ob er nun im ersten Lied ein Weiterleben im Elysium in Freiheit oder die vollkommene Auflösung im zweiten Lied proklamiert - dies sind lediglich unterschied‐ liche Konzeptionen, die zum selben Ziel führen: Seneca sieht im Tod die Erlösung vom fatum und nicht das Aufgehen darin. Das zweite Chorlied porträtiert so in wenigen Versen die Spannung zwischen unbedingtem Fa‐ tumsglauben und dem Verzweifeln daran und gibt eine epikureische Ant‐ wort als Trost für ein stoisches Weltprinzip. Der rote Faden des Stückes erscheint mit Abschluss des zweiten Chorliedes luzide: Im Fokus des zweiten Aktes stand die Diskussion über Polyxenas Opfe‐ rung, also über den Tod als Strafe. Nach dem vorhergehenden ersten Akt, der in einer Art Exposition klargemacht hatte, dass unterschieden werden müsse in die, die den Tod als Ausweg wählen können, und die, denen diese Möglichkeit nicht offensteht, beschäftigt sich das zweite Chorlied nun generell mit der Frage nach der Beschaffenheit des Todes. Hier tritt die Überlegung zu Tage, ob Poly‐ xenas Opferung wirklich als Strafe oder nicht vielmehr als Gnade zu sehen und ob der Tod nicht generell dem Leben vorzuziehen sei. 86 4. Fallbeispiele <?page no="87"?> 243 Inspiration für dieses morbide Versteck lieferte wahrscheinlich Accius. Cf. hierzu Stroh 2014, 436. 244 Fantham 1982, 277: „Love for her son keeps Andromache from the escape that death could have given her and makes her dependent on the whim of the gods.“ Im Fol‐ genden auch zu Vorlagen bei Ovid und Ennius. Cf. auch Boyle 1994, 20: „her son Astyanax is what holds her to life.“ 245 Fantham 1982, 274-275 stellt die plausible Vermutung an, es könne sich um den paedagogus von Astyanax handeln. 246 Zum Vergleich mit der Parallelstelle in der Phaedra cf. Fantham 1982, 283. 4.2.3. Weiterleben(müssen? ) Der dritte Akt (409-813) nimmt mit seinen 400 Versen gut ein Drittel des ge‐ samten Stückes ein. Seneca führt konsequent die Grundfragen des Stückes weiter und widmet sich nach der Beschäftigung mit dem Tod nun dem Leben und der Frage nach dessen Sinnhaftigkeit. Protagonistin der Szene ist Andro‐ mache, die ihren Sohn Astyanax vor den Griechen im Grabhügel ihres verstor‐ benen Mannes Hector verborgen hält. 243 Odysseus macht sich im darauffol‐ genden Rededuell daran, ihr das Geheimnis des Verstecks zu entlocken und sie zur Herausgabe ihres Kindes zu bewegen. Andromache nimmt in ihrem Eingangsmonolog lose Bezug auf das erste Chorlied und die trauernden Trojanerinnen (Quid, maesta Phrygiae turba, la‐ ceratis comas, / miserumque tunsae pectus effuso genas / fletu rigatis? , 409- 411). Andromache stilisiert ihre eigene stumme Trauer gleichsam als sto‐ isch-empfindungslos (torpens malis rigensque sine sensu fero, 417) und als dem banalen Weinen der Trojanerinnen überlegen. Allerdings entspricht diese scheinbare Emotionslosigkeit nicht der Realität: Andromache ist rasend vor Trauer um Hector und vor Furcht um Astyanax. So bringt sie den Wunsch vor, Hector in den Tod zu folgen und sieht sich nur durch Astyanax daran gehindert (Iam erepta Danais coniugem sequerer meum, / nisi hic teneret: hic meos animos domat / morique prohibet, 418-420). Andromache teilt sich so selbst der Gruppe derer zu, die den Tod zwar als erstrebenswert betrachten, ihn aufgrund ihrer momentanen Situation jedoch nicht wählen können. 244 Trotz der Aussichtslosigkeit ihrer Lage habe diese noch das Potenzial zur weiteren Verschlechterung (miserrimum est timere, cum speres nihil, 425): Andromache berichtet einem Greis, dessen Verbindung zu ihr nicht ganz ge‐ klärt werden kann, 245 dass ihr nachts im Traum Hector erschienen sei und sie vor der geplanten Ermordung ihres Sohnes gewarnt habe. Andromaches Kummer über diese Gefahr für Astyanax hat jedoch einen merkwürdigen Bei‐ geschmack. Ähnlich wie in der Phaedra, als Phaedra Hippolytus mit Theseus vergleicht und ihr sexuelles Verlangen gleichsam auf ihn projiziert, 246 sieht 87 4.2. Troades <?page no="88"?> 247 Cf. Rota 1997, 174: „un monologo, che non è certo un esempio di amore materno.“ 248 Dass Astyanax dennoch kein Kleinkind mehr ist, beweisen seine späteren heroi‐ schen Handlungen und seine Fähigkeit zu sprechen. Älter als sieben oder acht Jahre darf man sich den Jungen aufgrund der sonstigen Beschreibungen definitiv nicht vorstellen. Cf. zur Altersproblematik auch Fantham 1982, 275: „Seneca may have de‐ liberately changed the tradition to add to the boy’s potential as a Stoic hero.“ 249 Ein Problem stellt die weitere Rolle des Greises dar. Ein Abgang dieser Figur wird nicht indiziert, jedoch schweigt er den Rest der Szene. Cf. hierzu ausführlicher Fantham 1982, 273. Es ist wahrscheinlich, dass er sich schweigend in den Hintergrund zurückzieht und das Feld den beiden Gegnern überlässt. 250 Fantham 1982, 271: „The agon of Ulysses and Andromache fighting to discover and conceal the child’s hiding place would itself be a whole episode of Greek tragedy and is treated by Seneca on that scale.“ 251 Cf. hierzu ausführlich Fantham 1982, 272-273. Andromache ihren Sohn als Abbild des verstorbenen Gatten und bedenkt ihn mit Ausdrücken, die einem Kind nicht angemessen sind (461-468). 247 Dass es sich bei Astyanax auch bei Seneca um einen kleinen Jungen handelt, belegt die Wortwahl infans oder puer, sowie das häufig verwendete Epitheton parvus. 248 Da von Andromaches prächtiger Heimatstadt nur noch ein Trüm‐ merhaufen übrig ist, bleibt ihr als letzte Versteckmöglichkeit für das Kind Hectors Grabhügel (superestque vasta ex urbe ne tantum quidem / quo lateat infans, 482-483). Nur der Greis weiß davon und rät ihr, sie solle den Griechen erzählen, ihr Sohn sei bei der Zerstörung der Stadt umgekommen. Androma‐ ches kurze, nahezu sarkastischen Analysen der eigenen Lage treffen ins Mark, etwa als sie konstatiert, von ihrer einst so stolzen Familie seien nur noch ein Grab, ein Kind und eine Gefangene übrig (en intuere, turbae quae simus super: / tumulus, puer, captiva, 507-508). Doch gleichzeitig wirkt sie so un‐ nahbar, dass es schwerfällt, mit ihr Mitleid zu empfinden. Es scheint beinahe, als wäre sie über das Gebrochensein schon hinaus und sei so zu einer un‐ menschlichen Stärke gelangt, die sie zugleich von allem abschottet. Sie kämpft bis zuletzt und weiß doch um die bittere Wahrheit, dass sie letztlich alles dem fatum unterordnen muss (fata si miseros iuvant, / habes salutem, fata si vitam negant, / habes sepulchrum, 510-512). Kurz darauf betritt Odysseus die Bühne. 249 Das Rededuell zwischen ihm und Andromache ist der Höhepunkt des Stückes. 250 Zwei Gegner treffen aufeinander: Der listige Taktiker, der mit allen Mitteln sein Ziel erreichen will, und die ent‐ schlossene Mutter, die dies um jeden Preis verhindern will. Interessant ist die Tatsache, dass Odysseus offensichtlich die Rolle des euri‐ pideischen Talthybius übernimmt. 251 Bei Euripides ist diese Figur äußerst pro‐ minent. Sie steht sinnbildlich für Gewissenskonflikte zwischen Pflichterfüllung und Opportunismus, blindem Befehlsgehorsam und Grausamkeit. Eigentlich 88 4. Fallbeispiele <?page no="89"?> 252 Boyle 1994, 27 sieht Odysseus weniger negativ als „reluctant executor of the army’s will.“ 253 So solle Andromache den Griechen die Angst vor Hectors Wiederauferstehung nehmen (magna res Danaos movet, / futurus Hector: libera Graios metu, 550-551). Odysseus be‐ hauptet dabei, selbst nicht aus Rachsucht zu handeln. Er hätte auch einen Griechensohn geopfert, wenn es das fatum verlangt hätte (neve crudelem putes, / quod sorte iussus Hectoris natum petam, 553-554). Ironischerweise nennt er hier Orestes (555), der später großes Verderben über ein Griechengeschlecht bringen wird. hätte auch Seneca, blickt man auf seine anderen Tragödien und die ihn inter‐ essierenden Spannungsfelder, den Griechenboten besonders in den Fokus rü‐ cken müssen. Überraschenderweise bleibt er jedoch eine Nebenfigur mit wenig sinntragenden Passagen. Es ist Odysseus, der sich stattdessen als Vertreter des skrupellosen Politikers geriert, der alles der Staatsräson unterordnet und dabei jeglicher Menschlichkeit entbehrt. 252 Seneca überträgt die Eigenschaften des Talthybius auf Odysseus und damit vom einfachen Boten in die Führungsriege. Dies bewirkt einmal, dass das Rededuell zwischen Andromache und Odysseus standesgemäß auf Augenhöhe stattfindet, und zweitens bietet die Figur des Odysseus eine adäquatere Personifikation der politisch motivierten Rücksicht‐ losigkeit. Odysseus wäscht seine Hände in Unschuld: Er verweist darauf, dass er selbst nur ausführende, nicht die befehlende Gewalt sei, die den Plan zur Ermordung von Astyanax ausgeheckt habe, - dies sei das fatum selbst gewesen (Durae minister sortis, 524). Er heuchelt Mitleid mit Andromache, bleibt jedoch unerbittlich. Seine Eingangsrede (524-555) wirkt beinahe unfreiwillig komisch, da er diese in Form einer captatio benevolentiae rhetorisch aufbauscht, um in einem großen Spannungsbogen schließlich den Inhalt der Prophezeiung wie ein Staatsgeheimnis zu enthüllen, während Andromache längst schon Bescheid weiß. Die gesamte Situation ist eine Farce: Die deplatzierten Appelle an Andromaches Vernunft und Empathie und die Überzeugungsversuche mit scheinbar rationalen Argumenten wirken kaltblütig und grausam. 253 Seneca kri‐ tisiert die Praxis eines Befehlsgehorsams, der eigene Verantwortung ablehnt und sich hinter klingenden Worten verschanzt. In Frage gestellt wird zwar nicht der objektive Grund, den Odysseus vorbringt, denn seine Handlungsmotivation ist durchaus nachvollziehbar: Durch den Tod des Astyanax soll verhindert werden, dass Troja eines Tages wiedererstehen könne und ein neuer Krieg heraufbe‐ schworen werden müsse. Dass dies eine berechtigte Sorge ist, zeigt Androma‐ ches Stilisierung des Astyanax als neuer Hector, der Troja eines Tages rächen wird (469-474). Seneca prangert jedoch die Art an, wie Odysseus die Befehle durchsetzt, das offensichtliche Vergnügen, sich mit Andromache im Rededuell zu messen, obwohl von vorneherein klar ist, dass er ihr keine Chance lassen wird, sowie seinen utilitaristischen Umgang mit dem fatum, das als Vorwand 89 4.2. Troades <?page no="90"?> 254 Fischer 2008, 217: „An dieser Stelle kommt es nicht darauf an, stoische Schicksalslehre darzustellen, sondern der Fokus wird auf das menschliche Handeln gerichtet, und die fata bleiben bloße Hülle ohne theologischen Gehalt.“ Mit direktem Bezug auf Odysseus cf. auch 218-220. 255 Fischer 2008, 219. 256 Cf. Lefèvre 2015b, 398-399. 257 Dies entspricht der negativen Zeichnung des fatum in den Tragödien; cf. Fischer 2008, 182: „Kennzeichen des fatum ist Unvermeidlichkeit, Unveränderlichkeit und Notwen‐ digkeit.“ für politisch motivierte Ziele herangezogen wird. Fischer erläutert hier, es handle sich gar nicht um ein fatum im stoischen Sinne, sondern nur um die Instrumentalisierung des fatum zur Durchsetzung des Willens der Griechen. 254 Sie folgert daraus: „Denn die Welt der Troas ist eine Welt ohne Götter und ohne göttliches fatum. Der Mensch erfindet und instrumentalisiert die fata.“ 255 Ähn‐ lich begegnet Lefèvre diesem Problem, indem er das fatum als vorgeschobenen Grund der rachedurstigen Griechen sieht. 256 Er generalisiert dieses Vorgehen für das gesamte Stück und möchte so das Theodizeeproblem der Troades als nichtig erweisen, da Seneca nicht das fatum an sich als böse empfinde, sondern das Handeln der Menschen. Diese Deutung ist nicht zutreffend. Es handelt sich in den Troades sehr wohl um die Darstellung eines stoischen fatum. Odysseus und die Griechen sind nicht Ersatz, sondern Personifikation des fatum, das mit dem Menschen willkürlich verfährt. In den Griechen ist alles angelegt, was dem fatum als solchem anzulasten ist: Unerbittlichkeit, Grausamkeit, Willkür und Unausweichlichkeit. Gleichwohl ist offensichtlich, dass nicht in Frage gestellt wird, dass diese Macht existiert. Senecas Stück stellt anhand von Extremsitua‐ tionen die Grausamkeit des fatum dar und zeigt Möglichkeiten des Umgangs damit auf. 257 Odysseus glaubt Andromaches Lüge nicht, dass ihr Sohn bereits tot sei. Sie versucht daher zunächst, Odysseus auf rhetorischem Weg Paroli zu bieten und echtes Mitleid bei ihm zu erregen. Sie habe alles verloren, was ihr einmal wichtig gewesen sei, nicht nur ihren Sohn (U.: ubi natus est? A.: Ubi Hector? Ubi cuncti Phryges? / ubi Priamus? unum quaeris? Ego quaero omnia, 571-572). Odysseus wirft ihr Wortklauberei vor (Magnifica verba, 575), droht grausame Folter an und versucht es mit erneuten Appellen an ihre Vernunft oder ihr Mitgefühl mit den Griechen, beißt jedoch weiter auf Granit. Folter und Tod könnten sie nicht schrecken, da sie sowieso sterben wolle (Tuta est, perire quae potest, debet, cupit, 574). Dieser Satz ist ein Sinnbild für Andromaches Befinden: Sie möchte sterben, da das Leben für sie nichts mehr bietet (cupit), muss sich aber dem fatum beugen und kann den Tod deswegen nur wählen (potest), wenn dieser für sie auch vorgesehen ist (debet). Einen Moment lang scheint es, als hätte Androma‐ 90 4. Fallbeispiele <?page no="91"?> 258 Zu der vergleichbaren Stelle im Thyestes cf. Fantham 1982, 307. 259 Zum Ritual der Hikesie cf. Gödde 1998. 260 Astyanax auf der Bühne zu verstecken, ist eine dramaturgisch geniale Erfindung, die den besonderen Nervenkitzel der Szene ausmacht. Cf. auch Fantham 1982, 272: „The keynote of Seneca’s action is the hiding of the boy „on stage“ and the central role of the tomb.“ Die Spannung in der gesamten Szene ergibt sich daraus, dass dem Zuschauer klar ist, dass Odysseus im Grunde weiß, wo Astyanax versteckt ist. Das Bühnenbild hat man sich so vorzustellen, dass nichts zu sehen ist außer der drohend aufragende Turm im Hintergrund, im Vordergrund Hectors Grabhügel. Das restliche Troia liegt in Schutt und Asche. Dass Astyanax also im Grab versteckt sein muss, ist naheliegend. Es ist vielmehr die Frage, wie Odysseus Andromache zur Preisgabe des Geheimnisses be‐ wegen will und ob er nicht letztlich trotz seines Wissens Gnade walten lässt. Doch Odysseus führt seinen Auftrag konsequent bis zum Ende aus. Was ihn dabei so un‐ sympathisch erscheinen lässt, ist weniger sein Pflichtbewusstsein als seine offenkun‐ dige Freude an der Perfidie und den unlauteren Mitteln, die er einsetzt, um sein Ziel zu erreichen. ches Hartnäckigkeit gesiegt, denn Odysseus scheint geneigt, ihr zu glauben. Doch nach einem kurzen Ringen (605-612) bohrt er aufgrund der verdächtigen Körpersprache Andromaches weiter (magis haec timet, quam maeret, 618). Se‐ neca spielt hier mit der Zuschaueremotion: Der kurzen Erleichterung folgt die Ernüchterung. Odysseus beschließt, die Sache nun mit List zu versuchen und erfüllt so das erste Mal seine sprichwörtliche Rolle (advoca […] totum Ulixen, 613-614). Er droht, da er des Astyanax nicht habhaft werden könne, Hectors Grab zu zerstören, um Achills Opferforderung wenigstens teilweise gerecht zu werden (638-639). Dies stellt Andromache vor ein grausames Dilemma: Soll sie die Totenschändung ihres geliebten Gatten erdulden und damit dessen friedli‐ ches Dasein in der Unsterblichkeit riskieren oder das Leben ihres Sohnes preis‐ geben (hinc natus, illinc coniugis sacri cinis, 643)? Außerdem würde Hectors Leiche so den Sohn erdrücken, was sie sich noch schlimmer ausmalt als die Ermordung des Astyanax durch die Griechen (ne pater natum obruat / prematque patrem natus, 690-691). 258 In einem letzten Aufbäumen wirft sich Andromache Odysseus zu Füßen und fleht um Gnade (691-704). Mit der Geste der Hikesie kennzeichnet sie sich selbst offiziell als Schutzflehende und liefert sich Odysseus völlig aus. 259 Odysseus bleibt jedoch hart: Andromache könne erst dann um Gnade bitten, wenn sie ihren Sohn herbeigeschafft habe (Exhibe natum et roga, 704). Andromache weiß, dass sie verloren hat und wiegt sich dennoch in der trügerischen Hoffnung, Odysseus könne vielleicht doch am Ende Gnade vor (Un-)Recht ergehen lassen, da sich aus seiner vagen Äußerung schließen lässt, dass es noch einen Funken Hoffnung gebe. 260 91 4.2. Troades <?page no="92"?> 261 Zum Wechsel zum anapästischen Metrum cf. Fantham 1982, 309. 262 Cf. S. 35. Zum Begriffspaar auch Lefèvre 2015f, 438-440. 263 Ausführlich zu diesem Motiv cf. Fantham 1982, 314-316. Andromaches Widerstand bricht nun völlig. 261 Sie fordert ihren Sohn auf, aus dem Versteck herauszukommen. Seneca erweist sich hier erneut als Meister des verstörenden Sarkasmus, als Andromache das Erscheinen des Astyanax mit den Worten kommentiert: hic est, hic est terror, Ulixe, / mille carinis (707-708). Bildlich muss die Situation auf der Bühne folgendermaßen aussehen: Aus dem hohen Grabhügel tritt ein kleiner Junge hervor. Diesen parvus hostis als Schrecken für die mille carinae zu bezeichnen, ist blanker Hohn. Auffällig ist, dass Andromache ab diesem Punkt nicht mehr von fatum, sondern nur noch von fortuna spricht (711; 735). Anders als sonst in den Tragödien fallen hier die beiden Begriffe nicht zusammen, sondern werden scharf geschieden. Für Andromache ist jedes ra‐ tionale Prinzip des Schicksals aufgehoben, seine Schläge sind grausam, willkür‐ lich und nicht durch Vernunft begründbar. 262 Hatte Odysseus zuvor (704) noch in Aussicht gestellt, Andromache solle es mit Bitten versuchen, wenn sie ihm erst den Sohn ausgeliefert habe, scheint er sich dessen nun nicht mehr zu erinnern. Andromaches Argumente, der kleine Astyanax und das zerstörte Troja könnten doch wohl keine Gefahr darstellen, bleiben wirkungslos. Andromache wirft Odysseus offen Verschlagenheit, nie‐ dere Beweggründe und mangelnde Tapferkeit vor (o machinator fraudis, o sce‐ lerum artifex / virtute cuius bellica nemo occidit, 750-751). Sie bezichtigt ihn der Feigheit, da er sich höchstens bei Nacht traue, tapfer zu sein, oder bei Tage nur, wenn er ein kleines Kind töte, das ihm sowieso unterlegen sei, und er sich des Sieges gewiss sein könne (nocturne miles, fortis in pueri necem / iam solus audes aliquid et claro die, 755-756). Odysseus tritt so in Gegensatz zu Hector, der als Held im Kampf fiel. Andromaches Kritik prallt jedoch an Odysseus ab, der nun, da er sein Ziel erreicht hat, die Sache möglichst schnell beenden möchte. Er gesteht Andromache nur noch eine kurze Zeit für das Lebewohl zu. Sie verab‐ schiedet sich von ihrem Sohn (flebilius aliquid Hectoris magni nece / muri vide‐ bunt, 784-785) und schließt in einer rührenden Geste dem lebenden Kind die Augen, als sei es bereits tot (788-789). So erfüllt sie gleichsam die Totenriten an ihrem dem Tode geweihten Sohn. 263 Auffällig ist, dass Andromache nun, als sie offenkundig verloren hat und nichts mehr tun kann, um ihren Sohn zu retten, merkwürdig ruhig erscheint. Ihre Haltung ist von einem Moment zum anderen von unbändiger Wut und Kampf zu völliger Gefasstheit übergegangen. Sie schickt ihren Sohn mit den Worten in den Tod, er sei nun frei und könne zu seinem freien Troja zurückkehren (i, vade liber, liberos Troas vide, 791). Nachdem sie akzeptiert hat, dass sich der Tod von Astyanax nicht länger abwenden lässt, 92 4. Fallbeispiele <?page no="93"?> 264 Wohl aufgrund seines zu jungen Alters, cf. Fantham 1982, 320. 265 Stroh 2014, 444 resümiert: „This mother is pitiless.“ Allerdings liegt es gar nicht bei Andromache, Gnade walten zu lassen. Sie weiß, dass sie verloren hat und sucht nun einen Weg, damit fertig zu werden. nimmt sie das Schicksal an und konzentriert sich auf die positiven Aspekte seines Loses. Der Tod wird als Erlösung aus der Unfreiheit und dem Leiden betrachtet, als etwas Erstrebenswertes. Und so kann sie noch nicht einmal er‐ schüttern, als Astyanax sie um Hilfe anfleht (Miserere mater! , 792). Dies ist be‐ sonders eindrücklich, da Astyanax bei Euripides stumm bleibt. 264 Auch die Tat‐ sache, dass Astyanax nicht seinen Henker Odysseus, sondern seine Mutter anfleht, steigert den Schockeffekt. Hier wirkt es ungleich härter, als Andro‐ mache den klagenden Knaben von sich wegschiebt und ihm gar das Jammern verbietet. Sie stilisiert ihren Sohn durch seinen drohenden Tod zum Helden (occidis parvus quidem, / sed iam timendus, 81). Dies fügt sich zu dem durch‐ wachsenen Bild, das Andromache als Mutterfigur bietet. Es ist nicht reine Mut‐ terliebe, die sie an Astyanax bindet, sondern vor allem dessen Fähigkeit, Hector für sie weiterleben zu lassen. Nach der Niederlage im Rededuell, die bedeutet, dass Astyanax als lebende Erinnerung an ihren Mann nicht länger bei ihr sein kann, hofft sie nur noch, dass Astyanax bald in einer besseren Welt sein werde, die nicht mehr den Zwängen des grausamen Schicksals unterworfen ist. 265 Andromache scheint ihren Sohn gar um sein Los zu beneiden, da sie selbst nun ein Dasein als captiva fristen muss. Die Figur der Andromache bleibt also am‐ bivalent: Sie scheint auf persönlicher Ebene unnahbar und lässt keine Identifi‐ kationsmöglichkeiten zu. Dennoch erscheint ihr Verhalten nach außen im Kon‐ text der existenziellen Vernichtung würdevoll und nachahmenswert. Odysseus beendet den dritten Akt, indem er Astyanax abführt. Der dritte Akt ist vor allem aufgrund der Sichtweise auf das fatum relevant: Dieses wird nicht länger als helfendes, sondern als grausames Prinzip gesehen. Zwar ist aus Sicht der Griechen die Entscheidung für die Ermordung des As‐ tyanax rational erklärbar, da einem erneuten Krieg zwischen Griechen und Tro‐ janern vorgebeugt werden soll, doch für Andromache und ihren Sohn liegt hierin kein Trost. Das fatum bedeutet für sie nur Negatives. Gleichwohl ist of‐ fensichtlich, dass Seneca nicht in Frage stellt, dass seine Macht existiert und es kein Entrinnen gibt. Der Tod ist keine Option: Andromache muss zunächst ihren Sohn beschützen, und kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Doch auch nachdem sie an dieser Aufgabe gescheitert ist, entscheidet sie sich nicht für den Selbstmord. Auch wenn ein konkreter Grund, weiterzuleben, für sie nicht mehr ersichtlich ist, ist der Tod keine realisierbare Möglichkeit. Offen‐ sichtlich ist dieser Ausweg in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen, und dies ist 93 4.2. Troades <?page no="94"?> 266 Vorlage ist neben dem 1. Stasimon der Hecuba des Euripides die Parodos in dessen Troades. Eingehender zu diesen Vergleichen cf. Fantham 1982, 324-325. 267 Gil 1979, 178-180 negiert hingegen einen direkten Zusammenhang zwischen 3. Akt und 3. Chorlied. 268 Cf. Fantham 1982, 324. 269 Cf. Haywood 1969, 419. 270 So sei z.B. Thessalien (815-818) berühmt für seine Pferde und gemahne so an Achill. 271 Cf. Fantham 1982, 326: „Yet he certainly intended the Homeric coloring to be recognized and admired, while for connoisseurs, knowledge of Homer’s presentation would add to their appreciation of Seneca’s art of variation.“ (326). Weitere Literatur zur Homerrezep‐ tion und zu weiteren literarischen Quellen dieser Stelle bei Fantham 1982, 324-326. ihr im Innersten bewusst. Andromache weiß, dass das fatum ihr nicht erlaubt, zu sterben, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünscht. Der dritte Akt behandelt also die Problematik, ein Leben weiterleben zu müssen, das keinerlei Perspektive oder Ausweg bietet. Unmissverständlicher und eindeutiger widmet sich dieser Problematik, die Seneca in den Fokus seines Stückes rückt, das dritte Chorlied (814-860). 266 Dieses kondensiert den langen dritten Akt auf knapp 50 Sapphiker. 267 Das Me‐ trum ist bereits ein Hinweis auf den Inhalt, da bereits bei Horaz und Catull be‐ sonders der Sapphiker für Reisegedichte verwendet wird. 268 Der Chor knüpft an Andromaches Worte an, die mehrfach ihr Los beklagt hatte, als Gefangene wei‐ terleben zu müssen. Das Lied nimmt dieses Schicksal in den Blick und befasst sich mit dem, was Gefangene erwartet und wohin sie verstreut werden (Quae vocat sedes habitanda captas? , 814). Die folgenden Verse und nahezu das ganze Chor‐ lied bestehen aus einer Auflistung von möglichen Orten, die künftig das Exil der Trojanerinnen darstellen könnten (815-850). Der Katalog scheint zunächst als willkürliche Auswahl an Orten des homerischen Schiffskatalogs. 269 Fantham hat jedoch gezeigt, dass die Auswahl der Städte stets im engen Bezug zu den Troja‐ nerinnen steht. 270 Außerdem geht die Vielzahl griechischer Orte über eine De‐ monstration homerischen Katalogwissens und geographischer Kenntnis hinaus: 271 Die schier unüberschaubare Menge an Möglichkeiten verdeutlicht Willkür und Zerrissenheit, die den Trojanerinnen drohen. Ausweglosigkeit bleibt für die überlebenden Frauen, deren Leben jeglichen Sinns beraubt wird. Nicht umsonst hatte Andromache im dritten Akt gesagt, sie suche alles: All das, was ihr Halt gegeben hat, ist nicht mehr, und selbst die bereits zerstörte Heimat und die Kameradschaft werden ihr und den anderen Frauen nun genommen. In diesem Chorlied stellt sich die Frage: Ist das Leben lebenswert, wenn man in seinem ei‐ genen Leben gleichsam nicht mehr zu Hause ist? Und wenn das nicht der Fall ist, ist dann, vor der Folie des zweiten Liedes, der Tod nicht das bessere Los, bzw. was macht das Weiterleben noch erträglich? Die letzten Verse des Liedes verdeutli‐ 94 4. Fallbeispiele <?page no="95"?> 272 So z.B. Sparta, Mykene und Argos. 273 Zur griechischen Form cf. Fantham 1982, 332. 274 Zwierlein 1966, 91. 275 Cf. Fantham 1982, 334: „We should not try to justify the architecture of this play, or even of each episode within it, by the standards of Greek stage tragedy.“ chen einmal mehr, dass es vor dem fatum kein Entrinnen gibt: Der Chor äußert den Wunsch, dass wenigstens einige Orte als Exil für die Trojanerinnen ausge‐ nommen werden mögen und nennt dabei die Herkunftsorte prominenter griechi‐ scher Helden. 272 Aber genau dies sind die Orte, an die die Trojanerinnen ge‐ sendet werden sollen, da sich die führenden Helden ihre Beute als erste aussuchen. Bitter-ironisch ist, dass der Chor als letztes und schlimmstmögliches Ziel die Heimat des verschlagenen Odysseus nennt (nocens saxis Ithace dolosis, 857) und direkt danach fragt, wohin das Schicksal wohl die Königin von Troja, Hecuba, verschlagen werde (Quod manet fatum dominusque quis te, / aut quibus terris, Hecabe? , 273 858-859). Es ist natürlich auch den Zuschauern hinlänglich be‐ kannt, dass sie eben in das verhasste Ithaca gesendet werden soll. Das fatum geht keinerlei Kompromisse ein. Es regiert unerbittlich und oftmals mit dem denkbar schlechtesten Ausgang für das Individuum. Damit wird die Aussage des dritten Aktes in knapper Form verdichtet. Das fatum wird als grausame Macht darge‐ stellt, der man sich unbedingt zu beugen hat. Das erste Chorlied macht die Di‐ chotomie deutlich zwischen denen, die im Unglücksfalle sterben können, und denen, für die dies nicht möglich ist. Das zweite Chorlied preist die erste Gruppe glücklich, das dritte demonstriert das Leid der zweiten Gruppe. Der Tod im Ver‐ gleich zum Weiterleben ist zwar oftmals eine Gnade, bleibt aber, wenn das fatum ihn nicht vorgesehen hat, unerreichbar. Offen ist nach dem dritten Chorlied also nur die Frage, wie man diese Situation bewältigen kann, ohne daran zu Grunde zu gehen. Hiermit beschäftigt sich der vierte Akt. 4.2.4. Der richtige Umgang mit einem ungnädigen fatum Der vierte Akt (861-1008) charakterisiert sich durch eine Vielzahl von Einzel‐ personen, die sich gegenseitig in ihrem Leid übertrumpfen wollen. Zunächst tritt Helena auf, die bisher im Stück noch keine Rolle gespielt hatte. Hier wurde erneut der mangelnde Stückzusammenhang kritisiert, 274 da Seneca zwischen den Handlungssträngen von Polyxena und Astyanax ungeordnet springe und un‐ kommentiert neue Figuren einführe. Die Kritik rührt hauptsächlich daher, dass stets der direkte Vergleich mit den griechischen Vorlagen angestrebt und dabei außer Acht gelassen wird, welche eigenständige Leistung Seneca mit der Paral‐ lelschaltung der beiden Handlungen vollbracht hat. 275 Außerdem wurde bereits 95 4.2. Troades <?page no="96"?> 276 Boyle 1994, 20: „The third and fourth odes focus on social dissolution.“ Hierzu auch Boyle 1997, 68. 277 Dass die anderen Frauen von Polyxenas bevorstehender Opferung noch nichts wissen, ist oft als dramaturgisch unlogisch bemängelt worden (zur Auflistung von Kritikern und Lö‐ sungsversuchen cf. Fantham 1982, 332-334). Allerdings ist es möglich, wie Steidle 1972, 222- 224 zeigt, dass Hecuba tatsächlich noch von nichts weiß, da während der Prophezeiung neben Calchas nur Pyrrhus und Agamemnon zugegen sind. 278 Die derartige Integration Helenas in das Geschehen scheint Senecas eigene Erfindung ge‐ wesen zu sein, cf. Fantham 1982, 334 und 337. Die vorgetäuschte Hochzeit ist Senecas ei‐ gene Kreation, eventuell jedoch inspiriert von der Iphigenie des Euripides (cf. Fantham 1982, 337). 279 Zur deutlichen Verknappung im Vergleich mit Euripides cf. Seidensticker 1969, 156; Mueller-Goldingen 2005, 138-147. gezeigt, dass Senecas Stück durch einen roten Faden wohl arrangiert ist und einem stringenten Argumentationsverlauf folgt. Dies gilt ebenfalls für den vierten Akt. Insbesondere ist dies sichtbar durch die Zusammengehörigkeit der Chorlieder drei und vier, die bewusst aufeinander bezogen sind. 276 Helena beklagt, dass ihr die Aufgabe zuteilgeworden sei, Polyxena zu täu‐ schen, 277 indem sie ihr vorgaukeln solle, sie würde sie für ihre Hochzeit mit Pyr‐ rhus vorbereiten, nicht für ihre Hinrichtung. 278 Sie tröstet sich jedoch damit, dass es für Polyxena besser sei, nicht zu wissen, was sie erwarte, denn ohne Angst zu sterben sei erstrebenswert (optanda mors est sine metu mortis mori, 869). Helena stellt hier eine Idee vor, mit der Angst vor dem Tod umzugehen, nämlich indem man die Augen vor der Realität verschließt. Gleichwohl fällt es ihr schwer, Polyxena im Folgenden zu belügen (871-887). Hierauf tritt Andromache auf, die Helena mit ihrer Schuld am Unglück Trojas konfrontiert (pestis, exitium, lues / utriusque populi, 892- 893). Seneca verfolgt die Diskussion der Schuldfrage nicht schwerpunktmäßig weiter, sondern konzentriert sich auf andere Aspekte. 279 Andromache beendet ihre Tirade mit gewohnt beißendem Sarkasmus, als sie bemerkt, dass man immerhin keine Hochzeitsfackeln mehr bräuchte, da das brennende Troja diese Aufgabe über‐ nehme (quid igne? thalamis Troia praelucet novis, 900). Helena reagiert auf Andro‐ maches Hohn, indem sie versucht, die Schuld von sich zu weisen. Sie führt an, sie erleide selbst sogar noch Schlimmeres als die Trojanerinnen, da sie Paris nicht offen betrauern könne (solus occulte Paris / lugendus Helenae es, 908-909). Außerdem führe sie schon viel länger als die Trojanerinnen das Leben einer Gefangenen. Der Verlust Trojas wiege zwar schwer, doch ihre Situation sei ungleich komplizierter, da sie statt des Verlustes der Heimat sogar Angst vor ihr haben müsse (perdere est patriam grave, / gravius timere, 912-913). Sie versucht sich so mit den anderen zu solidarisieren. Neidvoll blickt sie auf die scheinbare Gemeinschaft der Trojane‐ rinnen, die sich in ihren Augen gegenseitig Trost spenden könnten. Der Wunsch, dazuzugehören, ist deutlich (vos levat tanti mali / comitatus, 913-914). Am Ende 96 4. Fallbeispiele <?page no="97"?> 280 Boyle 1994, 27 sieht Hecubas Verhalten als „sympathetic towards Helen“. Hierfür lassen sich jedoch keine Anzeichen finden. Hecuba ist vollkommen auf sich selbst fixiert. ihrer Argumentation versucht sie gar, sich als Opfer der Leidenschaft des Paris dar‐ zustellen (917-922). Schließlich bittet sie Andromache unter Tränen, Polyxena weiter für die Hochzeit vorzubereiten, weil sie es selbst nicht über sich brächte. Dies weckt Andromaches Argwohn, dass mit der geplanten Hochzeit nicht alles mit rechten Dingen zugehe, und sie fordert von Helena Offenheit. Sie seien alle bereit zu sterben, aber wollten dem Tod sehenden Auges entgegengehen (fare, quam po‐ enam pares / exprome et unum hoc deme nostris cladibus, / falli: paratas perpeti mortem vides, 935-937). Andromaches Auffassung vom richtigen Verhalten in einer Leidenssituation ist eine gänzlich andere als die eingangs von Helena geschilderte: Dem Schicksal ins Gesicht sehen und es im vollen Bewusstsein dessen, was ge‐ schieht, ertragen. Diese Haltung zeigte sich bereits im dritten Akt in der völligen Gefasstheit, die sie in dem Moment annimmt, als klar ist, dass die Situation nicht mehr zu retten ist. Bezeichnend ist auch, dass sie die geplante Ermordung von As‐ tyanax den gesamten vierten Akt über nicht mehr anspricht. Sie akzeptiert, was geschehen muss, und bleibt, zumindest äußerlich, aufrecht und würdevoll. Helena gesteht schließlich den grausigen Plan der Griechen. Hecuba, die ebenfalls anwesend ist, fleht daraufhin erneut darum, endlich sterben zu dürfen (dura et infelix age / elabere anima, 963-964) und scheint am Ende ihres Ver‐ zweiflungsausbruches, wie zuvor schon Andromache bei Astyanax, makabe‐ rerweise die todgeweihte Tochter zu beneiden, deren Leiden nun bald ein Ende haben wird (laetare, gaude, nata! , 967). Andromache konstatiert resigniert, dass der Tod nicht dazu diene, Leidende zu erlösen, weil er nicht allen offenstehe (prima mors miseros fugit, 954). Für einen kurzen Moment versucht sie, eine Verbindung zwischen Hecuba und sich zu schaffen, die sie doch beide das schlimmste Los hätten (Nos, Hecuba, nos, nos, Hecuba, lugendae sumus, 969), weil sie in Gefangenschaft in einem fremden Land sterben müssten und nicht in der heimischen Erde begraben werden könnten. Helena eröffnet den beiden Frauen mit einem gewissen Sadismus, dass Andromache Pyrrhus und Hecuba Odysseus zugelost worden seien. Dies verweist zurück auf das dritte Chorlied, wo eben diese Heerführer bittend ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig werden sie so chiastisch den Mördern ihrer beiden Kinder zugeteilt. Hecuba entrüstet sich über ihr Los und stilisiert sich nun selbst zu der bemitleidenswertesten Frau der Gruppe, da sie als Hectors Mutter bei dem Mann leben müsse, der die Waffen Achills, des Mörders ihres Sohnes, erbeutet habe (quis matrem Hectoris / armis Achillis miscet? , 986-987). Sie verhindert so ein Bündnis mit Andromache als Leidensgenossin, indem sie sich als ihr im Leid überlegen charakterisiert. 280 Als 97 4.2. Troades <?page no="98"?> 281 Hose 1990-1991, Bd. 2, 326-331 bezeichnet die Gesamtheit der Troerinnen, ungeachtet sozialer Schichten, als „Schicksalsgemeinschaft“. 282 Die Sapphiker im vierten Lied sind weniger oft durch Adoneen unterbrochen, cf. zur Metrik ausführlicher Fantham 1982, 256. 283 Fantham 1982, 324. 284 Das Frage-Antwort Prinzip zweier Chorlieder wurde bereits im Oedipus für die Lieder 4a und 4b aufgezeigt. 285 Cf. hierzu auch Fantham 1982, 357. sie gegen Ende ihrer Rede ausruft, sie werde Odysseus folgen und ihr Schicksal werde wiederum ihr folgen, dreht sie auf tragische Weise das Kleantheswort um (me mea sequentur fata, 994). Hecuba verkörpert einen dritten Typus, der seinem Schicksal entfliehen will, doch immer wieder von ihm eingeholt wird. Seneca stellt im vierten Akt drei Arten vor, mit einem schlimmen Schicksal umzugehen: Man kann es sich schönreden und verleugnen wie Helena vor Po‐ lyxena, man kann es akzeptieren wie Andromache oder man kann vor ihm da‐ vonlaufen wie Hecuba. Andromaches Vorgehen ist sicherlich das würdevollste: Nicht umsonst hat Seneca dieser Figur den gesamten dritten Akt, den Höhe‐ punkt des Stückes, gewidmet. Ihr Verhalten gibt eine gewisse Richtung vor, wie man in einer verzweifelten Lage handeln kann: Man muss, wenn alle Möglich‐ keiten erschöpft sind, die Grausamkeit des Schicksals aufrecht akzeptieren. Darin liegt nicht unbedingt Trost, aber eine gewisse Würde. Ferner ist im vierten Akt Folgendes auffällig: Es treten drei Frauengestalten auf, die mehr oder minder im selben Boot sitzen und sich gegenseitig trösten könnten. Dies ist jedoch nicht der Fall, sondern jede geriert sich als Einzel‐ kämpferin, die versucht, gegen die anderen gleichsam im Leiden zu gewinnen. Es wird angedeutet, dass gerade in der Gemeinschaft Halt zu finden wäre, doch diese Chancen lassen die Protagonistinnen ungenutzt verstreichen. Von der So‐ lidarität unter den Frauen, die im Euripidesstück eine große Rolle spielt, 281 ist hier nichts zu spüren. Die Stringenz des Stückes und die Einbettung des vierten Aktes in den Ge‐ samtkontext sind insbesondere sichtbar durch die Zusammengehörigkeit der Chorlieder drei und vier (1009-1055). Die beiden Oden sind bewusst aufeinander bezogen: Beide sind 47 Verse lang, haben dasselbe Metrum 282 und behandeln das Thema der Gefangenschaft. Elaine Fantham spricht hier von einem „comple‐ mentary pair“, das aus einer „arrival ode and departure ode“ bestehe. 283 Der Zu‐ sammenhang der beiden Lieder ist jedoch noch expliziter: Das dritte Lied stellt eine Frage, das vierte Lied gibt die Antwort. 284 Die Kritik, das vierte Lied passe nicht in das Stück, 285 geht also fehl. Seine Motive beziehen sich konkret auf das Schicksal der Trojanerinnen: So wird der Kontext der Seefahrt evoziert, um an das bevorstehende Exil der Frauen zu er‐ 98 4. Fallbeispiele <?page no="99"?> 286 Cf. Fantham 1982, 357: „Like the women, the mythical figures are survivors, and Phrixus shares their fate of being abduced into an unknown world.“ 287 Zum Bild des brennenden Troja bei Homer und anderen Vorgängern cf. Fantham 1982, 364-365. Deutlich ist hier außerdem der Querverweis auf die brennenden Scheiter‐ haufen und damit der Bezug zum zweiten Chorlied 392-395 (Fantham 1982, 365; Amo‐ roso 1984, 197; Boyle 1994, 21). 288 Die Interpretation von Allendorf 2017, der ausgehend von einer philosophischen Deu‐ tung von signum das Chorlied als Abgesang auf die epikureische Philosophie sehen möchte, geht zu weit. innern, ebenso beziehen sich die mythischen Beispiele auf sie. 286 Vor allem aber wird gezielt noch einmal der Aspekt der Solidarität hervorgehoben. Der Chor hebt an mit der Aussage, dass es Unglücklichen helfe, wenn man mit der Trauer nicht alleine sei (Dulce maerenti populus dolentum, 1009). Allerdings handelt es sich hier weniger um den positiven Aspekt des Mottos ‚geteiltes Leid ist halbes Leid‘, der besonders bei Euripides prominent ist, sondern um das niederträchtige Gefühl der Schadenfreude (semper a semper dolor est malignus / gaudet in multos sua fata mitti, 1013-1014), denn es sei leichter, ein schweres Los zu tragen, wenn es anderen genauso ginge (ferre quam sortem patiuntur omnes, / nemo recusat, 1016-1017). Hier spiegelt sich das Verhalten wider, das im vierten Akt deutlich hervorgetreten war: Jede der Frauen kämpft für sich und ist zufrieden, dass es den anderen zumindest nicht besser ergeht als ihr selbst. Das gegenseitige Stützen und Ermutigen, das potenziell gegeben wäre, bleibt aufgrund des Ego‐ ismus der einzelnen Akteure ungenutzt. So entsteht eine Art künstliche Solida‐ rität, die jedoch einer ihrer wesentlichen Grundpfeiler entbehrt: des Altruismus. Und so wirkt die Forderung des Chores, alle Glücklichen zu entfernen (Nemo se credet miserum, licet sit: tolle felices, 1019-1020), auf unheilvolle Weise mensch‐ lich und realistisch. Wenn es niemanden gäbe, mit dem man sich vergleichen könne und dem es bessergehe, komme einem das eigene Unglück gar nicht so schlimm vor (est miser nemo nisi comparatus, 1023). Es folgt eine lange Auflis‐ tung von Beispielen, die diese Einstellung verdeutlichen sollen (1024-1041). So hätten etwa Deucalion und Pyrrha keinen Grund zur Klage gehabt, da es keine Menschen mehr gegeben habe, die in einer besseren Lage als sie selbst gewesen seien (1038-1041). Hiernach erfolgt ein Bruch, der Chor nimmt in den letzten Versen des Liedes nun ganz konkret die Trojanerinnen in den Blick. Er fühlt sich in ihren Schmerz ein, den sie empfinden werden, wenn sich die Schiffe der Griechen mit ihnen von Troja entfernen. Am Ende des Liedes lässt der Chor eine Mutter zu ihrem Sohn sagen, dass Troja dort sei, wo der Rauch der brennenden Stadt aufsteige (Ilium est illic, ubi fumus alte / serpit in caelum, 1053-154). 287 Der Chor endet mit den Worten, dass die Troer daran immer ihre Heimat erkennen werden (Troes hoc signo patriam videbunt, 1055). 288 Der Tonfall ist hier ein ganz 99 4.2. Troades <?page no="100"?> 289 Interessanterweise handelt es sich hier allem Anschein nach nicht mehr um Talthybius. Fantham 1982, 366 verwirft die Überlegung, es könne sich eventuell gar nicht um einen Griechen, sondern um einen Trojaner handeln: „It cannot be that Seneca wished us to as‐ sume a Trojan messenger, since he allocates to this figure not only the death narratives but also the orders to depart.“ Und weiter: „Not only that, but Seneca has rejected the opportu‐ nity provided by Talthybiusʼ previous appearance at 164-201, to use him as a unifying fi‐ gure, binding the demands of Achilles to the occasion of their implementation. Why? Be‐ cause no identified Greek could have condemned the Greek actions as scelus 1057 (cf. 1120 and 1129)? Certainly Seneca attached great importance to presenting the catastrophe of his tragedy trough a neutral figure, because this provides the audience with a guarantee of ob‐ jectivity, so that they can accept the narrative as moral truth.“ (Fantham 1982, 366-367). Allerdings hatte Seneca an früherer Stelle Talthybius noch bewusst auf der Bühne einge‐ führt, um ihn sogleich wieder zu verbannen. So ist es ihm möglich, den Unterschied zur euripideischen Figur zu verdeutlichen und die Figur des Odysseus dadurch zu verändern, wie bereits gezeigt wurde. An der späteren Stelle ist diese funktionale Unterscheidung und Figurenumwertung nicht mehr nötig, weshalb er Talthybius wieder aus dem Plot kürzt, um mehr Transparenz und weniger Ablenkung von seinen Hauptpersonen Andromache und Odysseus zu erlangen. anderer als zu Beginn des Liedes: Das zerstörte Troja, die Heimat, die fortan alle im Herzen tragen werden, stellt gleichsam die Rückbesinnung auf einen ge‐ meinsamen Wert dar. Der Trost liegt nicht länger nur darin, dass es allen gleich schlimm ergangen ist, sondern vielmehr in einem gemeinsamen Sehnen nach einem höheren Ziel, das ein verbindendes Element in der Gruppe schafft. Der negativ gefärbte Anfang des Liedes spiegelt das typisch menschliche Verhalten und die Realität wider. Genauso verhielten sich auch die Heldinnen im vierten Akt. Das Ende des Liedes gibt einen Ausblick, wie es anders verlaufen könnte. Das Leid wird zwar nicht direkt gelindert, aber mit Hinweis auf ein positives, integres Verhalten so umgewertet, dass es immerhin ein Zusammengehörig‐ keitsgefühl schafft und die Menschen nicht ihre Würde verlieren lässt. Das vierte Lied liefert also eine Perspektive, wie man mit einem ungnädigen fatum um‐ gehen kann: Die menschlichen Werte müssen erhalten werden. Das Bewahren der eigenen Integrität kann ermöglichen, eine Extremsituation durchzustehen. Erfolgt diese Rückbesinnung auf gemeinsame Werte zudem in einer größeren Gruppe, entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das Kraft spenden kann. Der fünfte Akt exemplifiziert schließlich diese Aussagen. 4.2.5. Astyanax und Polyxena: ein heroischer Tod? Der letzte Akt besteht im Wesentlichen aus dem Botenbericht über die Opferung von Astyanax und Polyxena. Ein Bote tritt auf und klagt darüber, dass sich das grausame Schicksal erfüllt habe (O dura fata, saeva, miseranda, horrida! , 1056). 289 Auf die Frage, welchen Grund zum Trauern er zuerst verkünden solle, Polyxena oder 100 4. Fallbeispiele <?page no="101"?> 290 Cf. hierzu auch Boyle 1997, 134-137. 291 Deutlich verschieden ist diese Szene von der Version des Euripides. Fantham 1982, 365-366: „In the Greek Troades where Astyanax is conceived as a little helpless child, his death cannot be presented as an heroic act. Instead, Talthybius, whose duty it was to take away the boy, returns to Hecuba with the corpse, which he has washed for burial, but without any ac‐ count of his death (two lines suffice to mention it, 1134-35)“. Führt man sich Senecas ei‐ Astyanax, erwidert Hecuba, dass sie jeder einzelne Unglücksfall betreffe (sua quemque tantum, me omnium clades premit; / mihi cuncta pereunt, 1061-1062). Hier zeigt sich erneut Hecubas Auffassung ihrer eigenen Rolle, in der sie sich als Kö‐ nigin für alle Trojaner verantwortlich fühlt. Daneben führt sie den Wettkampf weiter, wer am bemitleidenswertesten sei. Der Bote berichtet, dass beide getötet worden, jedoch heldenhaft gestorben seien (sed uterque letum mente generosa tulit, 1064). Andromache, weiterhin unnatürlich abgeklärt, fordert sodann vom Boten eine detaillierte Schilderung der Ereignisse. Zunächst erfolgt eine Beschreibung des Settings, in dem die Untat stattgefunden hat: Des einzig noch stehenden Turmes von Troja, der drohend aufragt, auf dem einst Priamus seinen Enkel geherzt habe und der nun zu dessen Richtplatz werden soll (1068-1076), sowie der schaulustigen Menge, die herbeiströmt, um die Hinrichtung zu sehen (1076-1087). Die Menschen suchen sich überall Plätze, von denen sie möglichst gut sehen können, und be‐ setzen neben hohen Bäumen, Anhöhen, Felsen und Ruinen schließlich als frevel‐ hafte Steigerung sogar Hectors Grabhügel, den Andromache zuvor noch mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte (atque aliquis nefas / tumulo ferus spectator Hectoreo sedet, 1086-1087). Die Griechen werden als verrohtes Volk dargestellt, das kei‐ nerlei Gesetze des menschlichen Anstands sowie des göttlichen Rechts mehr wahrt. Diese Szenen erinnern stark an Senecas Schilderungen des römischen Pu‐ blikums im Theater (epist. 7), das mit voyeuristischer Freude den Gladiatoren‐ kämpfen beiwohnt. 290 Grausam ist auch die Schilderung der Szenerie, als Odysseus Astyanax zum Richtplatz führt. Dazu trägt vor allem Senecas Wortwahl bei, der Astyanax erneut als parvulus (1089) bezeichnet und so die Absurdität der Situation vor Augen führt: Ein griechischer Held schleift ein kleines Kind zum Schafott. Doch Astyanax durchbricht dieses Bild abrupt: Furchtlos steuert er auf den Abgrund zu (nec gradu segni puer, / ad alta pergit moenia, 1090-1091). Angesichts des Todes gibt er sich völlig unerschrocken (intrepidus animo, 1093). Er erscheint nicht länger als der hilflose Knabe, sondern nimmt die Zügel selbst in die Hand, überlässt den Grie‐ chen nicht die Genugtuung, ihn tatsächlich hinzurichten, sondern springt selbst freiwillig von den Zinnen (sponte desiluit sua / in media Priami regna, 1002-1003). Astyanax bleibt der Held der Szene, ein kleiner Junge, der dem Schicksal trotzig die Stirn bietet, indem er selbst das Heft in die Hand nimmt und nach seinem eigenen Willen die Art seines Endes zumindest im Kleinen bestimmt. 291 Als der Bote be‐ 101 4.2. Troades <?page no="102"?> genen Tod vor Augen, mag dies beinahe als eine Vorausdeutung erscheinen, da er seinen erzwungenen Selbstmord geradezu in Szene setzte, um dem fatum insofern ein Schnipp‐ chen zu schlagen, als er die Umstände seines Todes nach eigenem Gutdünken festlegte. 292 Das fatum ist grausam mit ihm umgegangen, sein Körper ist so zerstört, dass er keine Grab‐ stätte mehr bekommen kann (eine letzte Ehre, die ihm im Euripidesstück immerhin zuteil wird). Andromaches Totenriten, die ante mortem durchgeführt wurden, bekommen so ein besonderes Gewicht. Die Szene erinnert deutlich an die Verstümmelung des Hippolytus im Tode in der Phaedra. Zum Vergleich der beiden Stellen cf. Fantham 1982, 374. 293 Cf. auch die Kritik in epist. 7 (hierzu Grimal 1991, 224-225 und Wessels 2014, 45-46). Seneca erläutert an dieser Stelle auch etwas eindrücklicher die Motive, die das Publikum zum Zusehen bewegen (cf. hierzu auch Shelton 2000): Bei den Griechen ist es einmal Freude, durch das Opfer günstigen Wind zu erlangen und abreisen zu können, zum anderen Schadenfreude (hi classis moram / hac morte solvi rentur, hi stirpem hostium / gaudent recidi, 1126-1128). Insgesamt wirken das Publikum und die gesamte Szenerie noch pervertierter als bei der Hinrichtung von Astyanax. Die Freude am Gaffen (odit scelus, spectatque, 1129) und dabei auch die Wortwahl des scelus prangern die Griechen offen an. Zwar ist letztlich alles dem fatum untergeordnet, doch spielt das Wie ebenfalls eine Rolle und entbindet das Individuum nicht von der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen. Fantham 1982, 376: „The moral evil of these events is now stressed much more strongly than it was in the first narrative.“ Ausführlich zur Metatheatralität der Stelle Boyle 1997, 119-121; Littlewood 2004, 240-258, zur Metatheatralität und Selbstkonstruktion der senecanischen Figuren cf. Schiesaro 2003; Littlewood 2004, 172- 258; allgemein zur Problematik Fitch/ McElduff 2008 und Kirichenko 2013, 79-100. richtet, der Körper des Astyanax sei bei dem Sturz völlig zerschmettert worden, fügt sich Andromaches Reaktion darauf erneut in das unnatürliche Mutterbild, das sie verkörpert. So konstatiert sie nur knapp in einer geschmacklosen Pointe, Astyanax sei sogar im Tode seinem Vater ähnlich (Sic quoque est similis patri, 1117). Die grau‐ same Entstellung von Astyanax nach seinem Sturz, die der Bote schildert (1110- 1117), kann dennoch nichts an dem würdevollen Eindruck ändern, den er durch sein Verhalten hinterlässt. 292 Ein Tod in Würde ist höher angesehen als ein Be‐ gräbnis in Ehren, das Astyanax verwehrt bleibt. Die Doppelmoral der Griechen, die hier angeprangert wird, tritt dabei nur allzu deutlich hervor. Sie weinen allesamt um den Knaben und selbst Odysseus kann nicht ungerührt bleiben. Doch niemand unternimmt etwas, um die Hin‐ richtung zu verhindern, ja sie ergötzen sich an dem Leid, das geschieht. Kaum ist der erste Mord geschehen, schreiten sie sogleich blutdurstig zum nächsten, um Polyxenas Hinrichtung beizuwohnen. Senecas Beschreibung gleicht der der Ermordung von Astyanax. Zunächst wird erneut die Umgebung beschrieben. Seneca sagt diesmal ganz explizit, dass die räumlichen Gegebenheiten um Achills Grab aussehen wie in einem Theater (theatri more, 1125). Zusammen‐ genommen mit den schaulustigen Zuschauern ist der kritische Zeitbezug un‐ missverständlich. 293 Es folgt die Schilderung der Hinrichtung selbst: Wieder wirkt die Situation grotesk, bis zuletzt wird vorgegaukelt, es handle sich um eine 102 4. Fallbeispiele <?page no="103"?> 294 Fantham 1982, 18 stellt hier allerdings zurecht fest, dass dieser Zorn im Tod dem sto‐ ischen Bild widerspricht. Ähnlich Star 2015, 248. 295 Rota 1997, 178: „è proprio in loro che si possono ravvisare quei tratti di purezza e di integrità che gli adulti sembrano in molti casi avere perso.“ 296 Anders gewichtet Fantham 1982, 90: „What mattered was not personal initiative in the act of dying but fearless and understanding acceptance of the end. So, when Astyanax jumps to his death, he is certainly asserting his free choice, but what makes this heroic is the proof of his courage. And Polyxena, in offering her throat to the knife, is partly demonstrating the positive and courageous welcome of death that Seneca wanted all men to observe and imi‐ tate.“ 297 Anders deutet Fischer 2008, 223 (ähnlich auch Fischer 2014, 765-766): „Polyxena und As‐ tyanax entgehen dem Zwang, indem sie sich im Sinne des philosophischen ducunt volentem fata, nolentem trahunt freiwillig opfern.“ Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese ‚Opferung‘ erst unternommen wird, nachdem sie nicht mehr abzuwenden ist. Dass der Selbstmord, wenn auch augenscheinlich freiwillig, erst durch die äußeren Umstände erfor‐ derlich wird, konstatiert Wessels 2014, 44: „Der Selbstmord mag damit, äußerlich besehen, in der Hand des einzelnen liegen; letztlich steht er jedoch - und dies ist der Aspekt, den Seneca dann in den Tragödien näher aufzuzeigen sucht - im Kontext eines durch kulturelle (oder staatliche) Gewalten bestimmten Konflikts.“ Hochzeit (Brautfackeln, Helena als Brautführerin). Polyxena verhält sich ge‐ nauso ehrenhaft wie der kleine Astyanax. Sie weiß zu jedem Zeitpunkt, was sie erwartet, und geht ihrem Tod tapfer entgegen (movet animus omnes fortis et leto obvius, 1146). Auch sie bleibt bis zum letzten Moment standhaft und wendet ihr Gesicht nicht von ihrem Henker Pyrrhus ab, sondern bleibt mutig bis zum letzten Atemzug (audax virago non tulit retro gradum, / conversa ad ictum stat truci vultu ferox, 1151-1152). Selbst Pyrrhus, der vehement ihre Opferung ein‐ gefordert hatte, zögert einen Moment, bevor er sie durchbohrt. Noch im Tod fällt sie vorwärtsgeneigt und trotzig, um wenigstens noch mit ihrem Blut die Erde auf Achills Grab zu beschweren (cecidit, ut Achilli gravem / factura terram, prona et irato impetu, 1158-1159). 294 Dieses Auflehnen gegen die griechische Bevormundung und die Entschlossenheit, dem festgesetzten Los den eigenen Stempel aufzudrücken, erfolgt nach dem gleichen Muster wie bei Astyanax. Auch Polyxena stirbt in Würde. Beide Kinder beschämen durch ihr mutiges Sterben ihre griechischen Mörder. 295 Ist dies nun als heroischer Tod zu bezeichnen? Sie gehen gefasst in den Tod und indem sie aufrecht und tapfer sterben, stellt sich ihr Tod als beinahe freiwillig dar. 296 Die Betonung liegt hier jedoch auf ‚beinahe‘: Weder Polyxena noch As‐ tyanax wollen sterben, Astyanax hatte seine Mutter zuvor noch um Hilfe ange‐ fleht. 297 Erst, als sich ihre Situation als unabänderlich darstellt, gestalten die beiden ihre Hinrichtung selbst. Dies ist zwar ein Tod in Würde, doch ein bitterer Beige‐ schmack besteht fort: Letztlich bleiben zwei ermordete Kinder und eine schaulus‐ tige Menge, die sich an diesem Opfer ergötzt. Von einer positiven Lösung kann hier 103 4.2. Troades <?page no="104"?> 298 Seneca lässt das Ende hier abrupt mit dem Ende des Botenberichts zusammenfallen. Es gibt nichts mehr zu sagen oder zu kommentieren, da kein Stoff mehr übrig ist. Fantham 1982, 385 konstatiert abschließend: „Pragmatically absurd, this poetic condensation of time makes the end of the emotional drama coincide with physical departure; the exodos is real and final.“ 299 Cf. zur stoischen Auffassung über den Selbstmord bei Seneca Griffin 1976, 367-388; Gil 1979, 40-44; Edwards 2014, 335 mit Bezug auf epist. 26, 10: Qui mori didicit servire de‐ didicit; supra omnem potentiam est, certe extra omnem. Ferner Wessels 2014, 42-46 mit weiterer Literatur. Wessels (42) weist (maßgeblich auf Grundlage des 70. Briefes) au‐ ßerdem auf den wichtigen Punkt hin, dass der Selbstmord auch für Seneca kein leicht‐ fertig zu wählendes Mittel sei: „Seneca akzeptiert als Rechtfertigung nur die bewußte (klarsichtige) Entscheidung des Weisen, der nach gründlicher Abwägung von Pro und Contra dem Leben den Tod vorzieht. Selbstmord - das ist demnach kein Akt der Ver‐ zweiflung, keine Frage der Psychopathologie oder der ererbten Dispositionen, kein Phänomen der sozialen Ansteckung oder des Egoismus, sondern eine kühle Kosten- Nutzen-Rechnung.“ 300 Diese Reflexionen über den Selbstmord im Stück ließen sich natürlich auch auf Seneca selbst zurückbeziehen. Zu Senecas Tod und dessen stoischer Gestaltung cf. Grimal 1991, keine Rede sein. Dies konstatiert auch Hecuba, als sie sarkastisch ausruft, der Krieg sei vorbei, zwei Kinder seien hingerichtet worden (concidit virgo ac puer; / bellum peractum est, 1167-1168). Hecuba fleht noch einmal um die Gnade, sterben zu dürfen, doch dies bleibt ihr vorerst verwehrt. Auch ihr fatum erfüllt sich unerbitt‐ lich und der Bote fordert die Gefangenen auf, zu den Schiffen aufzubrechen, um ihr Exil anzutreten. Troja ist nun völlig ausgelöscht. 298 4.2.6. Troades: Die Würde als Ermessensspielraum des Individuums Wir sehen uns in diesem Stück mit Figuren konfrontiert, die den Boden unter den Füßen verlieren und deren fatum, das ihnen in der Welt eigentlich Halt geben sollte, sich stets gegen sie zu wenden scheint. Anders als im Oedipus geht es nicht mehr darum, zu erkennen, dass das fatum, wenngleich es unausweich‐ lich den Weg des Menschen vorschreibt, oftmals das Leben jeglichen Sinns be‐ raubt und in die Absurdität führt. Seneca geht nun einen Schritt weiter: Aus‐ gehend von der Prämisse der Absurdität behandelt er den angemessenen Umgang mit dem status quo. Deshalb steht an erster Stelle die Frage nach dem Tod als Ausweg aus dem Leid: Im Oedipus war dies bei der Erwägung des Straf‐ maßes nur kurz angeklungen, in den Troerinnen behandelt Seneca diesen Aspekt grundsätzlicher. Selbstmord ist dabei nicht einfach als freie Willensentscheidung zu verstehen, die als Maßnahme herangezogen werden kann, wenn im stoischen Sinne das eigene Leben nicht mehr mit den Vorgaben der virtus in Einklang gebracht werden kann. 299 Selbstmord bedeutet auch, sich aus der Ver‐ antwortung zu ziehen. 300 Diese guten Gewissens abzugeben, ist jedoch nur mög‐ 104 4. Fallbeispiele <?page no="105"?> 238-239; Keulen 2001, 5-6; Bezüge zum potentiellen Nutzen des Selbstmordes als Ausweg aus der politischen Situation cf. Edwards 2014, 336-337. 301 Cf. zu dieser Sicht auf den Selbstmord bei Seneca auch Griffin 1976, 377-378. lich, wenn man selbst keine tragende Rolle für die Gesellschaft innehat. 301 Ab‐ gesehen davon ist es möglich, dass das Schicksal den Tod zum erwünschten Zeitpunkt nicht vorsieht und diese Option somit nicht zur Verfügung steht. Dennoch muss auch in diesen Fällen versucht werden, das fatum würdevoll anzunehmen. Seneca stellt in seinem Stück verschiedene Typen vor, die jeweils einen anderen Umgang mit dem Leiden und ihrem fatum verkörpern. Helena, Hecuba, Andromache, Polyxena und Astyanax bewältigen alle auf ihre eigene Weise die Situation. Hierbei wird der Methode der drei letzteren Figuren zwar der Vorzug gegeben, aber auch sie sind weit davon entfernt, als glücklich be‐ zeichnet werden zu können. Der fünfte Akt exemplifiziert die Problematik des Stückes zusammenfassend. Diese hatte ihre verdichtete Darlegung in Form einer mise-en-abyme in den Chorliedern gefunden. Im ersten Lied wird darüber reflektiert, ob der Tod ein Ausweg aus dem Leiden sein könne. Es wird festgestellt, dass dies nur für manche erstrebenswert ist, da der Tod nicht allen offensteht. Im zweiten Lied wird der Tod als solcher beleuchtet und findet eine positive Bewertung als Ende aller Schmerzen. Im dritten Lied wird die Grausamkeit des Weiterlebens unter schrecklichen Bedingungen beschrieben. Das vierte Lied deutet schließlich eine Art Ausweg aus diesem Dilemma an, wenn man zur Gruppe derer gehört, die den erstrebenswerten Tod vorerst noch nicht antreten können: Das Akzeptieren des fatum und das Bewahren der eigenen Würde bis zum letzten Atemzug, au‐ ßerdem die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte, um in einer Art Gruppen‐ zusammengehörigkeit Halt zu finden und der egoistisch motivierten Isolation entgegenzuwirken. Gerade auf dieser Ebene ist der Unterschied zu Euripides manifest: In seiner Version gibt es noch Hoffnung und Trost, die vor allem im Gemeinschaftsgefühl der Frauen liegen. Die Mitgefangenen sind in der Lage, das Leid zu begreifen und es mitzutragen. Die Solidaritätsebene entfällt in Se‐ necas Version. Die Frauen erscheinen als Einzelkämpferinnen. Keine von ihnen fungiert als Identifikationsfigur, trotzdem sind ihre Beweggründe aus mensch‐ licher Sicht meist gut nachvollziehbar. Senecas Drama wirkt dadurch verzwei‐ felter, abgründiger, aber auch realistischer. 105 4.2. Troades <?page no="107"?> 302 Cf. Fischer 2008, 201: „Der Mensch soll sich dem Schicksal fügen, dabei bewirkt seine Willenseinstellung die Freiheit“ (mit Verweis auf dial. 7, 15, 7-8 deo parere libertas est). Edwards 2014, 330 mit Bezug auf epist. 61, 2; 82, 17: „dying well is dying willingly“ und 334: „Death is to be accepted. Sometimes it is to be chosen.“; hier auch weitere Ausfüh‐ rungen zu Senecas Sicht auf Tod und Selbstmord im Kontext der stoischen Philosophie. 303 Boyle 1994, 19 fasst für die Troerinnen zusammen: „Troades reflects this self-consciously dying age. […] Among its major concerns: human power, human impotence, human knowledge, human delusion, language, fate, death, compassion, freedom and captivity, history’s determined and dissolving cycle. The themes of death and dissolution pervade and unite the play.“ (Ähnlich auch Boyle 1997, 67-68). 304 Parallelen zwischen einzelnen Begebenheiten und Figuren der Tragödien und Se‐ necas Leben selbst zu ziehen, ist zwar möglich, jedoch spekulativ und nicht be‐ 5. Seneca und das fatum: Die Tragödien als resignative Reflexion Nach Senecas Ansicht ist es nicht möglich, das fatum zu vermeiden, sondern nur, im Kleinen den eigenen Lebensweg so zu gestalten, dass er in Würde durchschritten werden kann. In diesem kleinen Gestaltungsspielraum liegen die begrenzten Möglichkeiten der menschlichen Willensentscheidung. 302 Diese re‐ signative Reflexion ist nicht als Tröstung zu bezeichnen, sondern vielmehr als bedrückend luzide Bestandsaufnahme einer Situation, die kaum verbessert werden kann. 303 Dennoch erscheint es nicht legitim, die senecanischen Tragödien deshalb als unstoisch zu bezeichnen, denn das Weltbild des Oedipus und der Troe‐ rinnen ist trotz allem das eines Stoikers: Das fatum existiert und lenkt das Leben der Menschen. Doch es fehlt die Möglichkeit, in dieser Sicht der Dinge Hoffnung und Halt zu finden, wenn das fatum Schlechtes vorsieht. Die Bit‐ terkeit und die poetische Bildgewalt der Stücke bewirken, dass man sie nicht lesen kann, ohne bis ins Mark betroffen zu sein. Das fatum, das dem Men‐ schen in Senecas Schriften als stützende Konstante Kraft gegeben hat, wan‐ delt sich zu einer unbegreiflich grausamen Macht. Auch wenn eine Festle‐ gung auf eine bestimmte Abfassungszeit der Tragödien sicherlich nicht möglich ist, erscheint es unwahrscheinlich, dass es sich hier um Erzeugnisse des jungen Seneca handelt. Jede einzelne Tragödie gelangt letztlich über einen wohl reflektierten Verstehensprozess zu der ihr eigenen, ernüch‐ ternden Erkenntnis. Das hohe Maß an Depressivität und Resignation, wel‐ ches die Stücke prägt, spricht gegen eine Schaffensperiode, in der Seneca seine Möglichkeiten der politischen Gestaltung positiv bewertete. 304 <?page no="108"?> weisbar. Der resignative Grundtenor der Stücke ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Cf. hierzu Kapitel A. 1.1.3, bes. S. 31; ferner Henry/ Walker 1983, bes. 137- 138. 305 Cf. hierzu Wiener 2006, 17, die die Tragödien als „eine intellektuell anspruchsvolle Art stoischer Moraldidaxe“ bezeichnet. Hier schließt sich die Frage nach Senecas Absicht bei Abfassung der Stücke an: Da die Tragödien, wie der Mangel an zeitgenössischen Erwähnungen be‐ weist, offensichtlich keinen unmittelbar pädagogischen Auftrag zu Senecas Leb‐ zeiten erfüllten, liegt die Idee nahe, Seneca habe mit den Stücken entweder pri‐ vate Zwecke verfolgt, etwa die Kanalisierung seiner eigenen Resignation, oder sie aufgrund der Zeitumstände für eine postume Veröffentlichung bestimmt. Als offen pädagogische Lehrstücke sind die Tragödien demnach sicher nicht zu be‐ zeichnen, plakative Didaktik geht ihnen ab. Dennoch beinhalten sie wichtige philosophische Aussagen und Reflexionen, die weitergegeben werden sollen. Um diese zu erfassen, ist zunächst mehr Mitarbeit vonseiten des Rezipienten vonnöten als bei didaktisch aufbereiteten philosophischen Traktaten. 305 Ferner ermöglicht es die Tragödie durch ihre Vielschichtigkeit, mit der Hauptaussage weitere Nebenstränge zu verweben, die je nach Rezipient einen ganz eigenen existenziellen Transfer ermöglichen. Hierin liegt sicherlich auch ein Grund für die Vielzahl an Interpretationen, die an die senecanischen Tragödien herange‐ tragen wurde. Gerade dies ist die Stärke der Stücke, dass sie sich nicht auf eine einzige Aussageebene reduzieren lassen. Dennoch hat Seneca dafür Sorge ge‐ tragen, dass die Hauptintention der Stücke, ihr philosophischer Überbau, nicht verloren gegangen ist. Dies geschieht nicht mittels einer simplen Interpretati‐ onsanleitung, sondern mithilfe der Chorlieder, deren Aufgabe es ist, die Kern‐ problematik der jeweiligen Tragödie zu verdichten. So hat der Chor im Oedipus minutiös die Untersuchung der Schuldfrage in einem determinierten System aufgezeigt, die bis zu der Erkenntnis führt, dass die eigene Existenz unter einem missgünstigen fatum absurd sein kann. In den Troades erörtert der Chor Um‐ gangsmöglichkeiten mit einem ungnädigen fatum und definiert letztlich das Bewahren der Würde als Ermessensspielraum des Menschen. Die Tragödien sind eine Form des Philosophierens für Fortgeschrittene. Sie sind weder so theoretisch noch so linear wie ein philosophischer Traktat, son‐ dern behandeln komplexe Fragestellungen anhand von Figuren in Extremsitua‐ tionen, deren Ergebnisse an den Rand der existenziellen Bestimmung führen. Um das Wesentliche dabei nicht aus den Augen zu verlieren, hat Seneca seinen Stücken einen Schlüssel zum Verständnis beigegeben, der den Verstehenspro‐ zess abbildet und lenkt: seine Chorlieder, das heißt anders gesprochen: die Es‐ senz der Tragödie. Durch die Untersuchung der Chorlieder hat sich gezeigt, dass 108 5. Seneca und das fatum: Die Tragödien als resignative Reflexion <?page no="109"?> sich das senecanische Chorkonzept auf ein komplexes System zurückführen lässt, das mit dem Begriff der mise-en-abyme beschrieben werden kann. In chro‐ nologischer Reihenfolge werden die Kernaussagen der einzelnen Akte ver‐ dichtet und fungieren so als kondensierte Interpretationsanleitung der Tragödie. Diese Erkenntnis soll den Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung von Jakob Baldes dramatischem Chor bilden. Es stellt sich die Frage, inwiefern Balde in seinen dramatischen Werken auf die Konzeption des senecanischen Chores zurückgegriffen hat. Besonders relevant ist diese Problemstellung in Hinblick auf die Tragödie Jephtias, die Balde in enger Anlehnung an Seneca verfasst hat und in der somit eine Orientierung an dessen Chorkonzept naheliegt. Ferner muss untersucht werden, ob eine Rezeption des senecanischen Chorkonzeptes auch in andere dramatische Werke Baldes Eingang gefunden hat oder ob hier unterschiedliche Chorfunktionen zur Anwendung kommen. 109 5. Seneca und das fatum: Die Tragödien als resignative Reflexion <?page no="111"?> B. Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk <?page no="113"?> 1 Epithal., 666-696. Ausgabe mit Übersetzung und Kommentar Weiß 2015, außerdem Stroh 2015, bes. 647-685; Stroh 2018, 558-561. Zur Chorprobe bes. Stroh 2006b, 216; Stroh 2015, 649; 657-658; 673-675. Zu weiteren polymetrischen Arbeiten Baldes cf. Heider 1999, 181-196. Zur musikalischen Tätigkeit Baldes Ursprung 1951; außerdem Tschulik 1977. 2 Zu diesem Dithyrambus als „Unsinns-Gedicht“ Heider 1999, 184-165. 3 Hierzu kurz Heider 1999, 184. 4 Behandlung der Aufführbarkeit jeweils z.St. Beim Regnum poetarum handelt es sich freilich nicht um ein Drama im eigentlichen Sinne, sondern um eine Deklamation, doch auch diese ist für eine Aufführung und nicht zur stillen Lektüre bestimmt. Die Stücke, die über Chorpartien verfügen, sind in chronologischer Reihenfolge: Regnum poetarum (1628), Iocus serius (1629), Tilly (1632), Philomela (1645), Drama Georgicum (1647), Arion Scaldicus (1649), Jephtias (1654). Hinzu kommen Auftritte des Chores in anderen Werken, die auch im weitesten Sinne nicht mehr als dramatisch zu bezeichnen sind: Hier hat der Chor meist die Funktion eines komischen Elements. So gipfelt das Epithalamion (1635) in einer missratenen Chorprobe, in der der Dirigent Apoll zur Verzweiflung getrieben wird, da die göttlichen Choreuten nicht in der Lage sind, auch nur eine seiner Anweisungen adäquat umzusetzen, und ständig den Text vergessen. 1 Schließlich muss Apoll das Hochzeitslied mithilfe der Musen ohne den Chor vortragen. Ähnlich burlesk geht es im Poema de vanitate mundi zu, in dem der Dithyrambus am Ende of‐ fensichtlich nur dazu dient, Schabernack zu treiben und mit der feierlichen Gat‐ tung zu spielen. 2 In Richtung der senecanischen mise-en-abyme-Funktion geht eine Passage im Maximilianus Austriacus, die als poetisches Reflexionsmedium dient. 3 Allerdings ist die einzige Gemeinsamkeit der Stelle mit einem Chorlied ihre polymetrische Gestaltung. Auch in den Werken, die einen dramatischen Chor besitzen, ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass Baldes Chor je nach literarischem Kontext verschieden verwendet wird. Zwei Hypothesen scheinen plausibel: Erstens wäre es möglich, dass Baldes Chor unterschiedlich agiert, je nachdem ob er für die Bühne oder für das Papier gedacht ist. Die Unterscheidung wäre demnach zu treffen in Le‐ setexte (d. h. Tilly, Philomela, Drama Georgicum, Arion Scaldicus) und Bühnen‐ texte (Iocus serius, Regnum poetarum, Jephtias). 4 Allerdings widerspricht dieser Annahme der Iocus serius: Der Chor spielt, soweit eine gesicherte Aussage auf Grundlage der Perioche möglich ist, nur eine marginale Rolle und scheint hier keinen vergleichbaren Stellenwert wie z.B. in der Jephtias zu haben. Eine andere Klassifizierung der Texte mit Chorpassagen ist also angebracht: Es bietet sich als Unterscheidung das literarische Genre an, d. h. ob ein Text der Gattung der Tragödie zugeordnet werden kann oder nicht. Als tragisch gelten hier solche Werke, die der basalen und populären Definition als Tragödie entsprechen, also <?page no="114"?> 5 Frenzel/ Frenzel 1990, 123 weisen darauf hin, dass sich das barocke Jesuitendrama aus dem Humanistendrama entwickelt habe. Dieses habe wiederum die Gattungsbezeich‐ nung der Komödie und der Tragödie „nach dem guten oder unglücklichen Ausgang oder dem Stand der auftretenden Personen“ unterschieden. Auch Wels 2009, 70-71 zeigt auf, dass die von Euanthius in De Fabula (4, 2) gegebene Definition weit verbreitet war: „die Tragödie [stelle] die Schicksale berühmter Menschen dar, enthalte lebensgefähr‐ liche Bedrohungen und große Leidenschaften und habe ein trauriges Ende. Die Komödie entwickle dagegen gewöhnliche Schicksale ohne große Gefahren mit einem fröhlichen Ende“. Tilg 2015, 87 erläutert: „A clear-cut definition of ‚comedy‘ is impossible. […] Yet, in most cases, a certain comic mode, intended to make an audience laugh, is sufficiently discernible from a tragic mode intended to make the audience feel pity and fear.“ als Theaterstück mit trauriger Handlung und schlechtem Ausgang. 5 Zu dieser Gruppe gehört nur die Jephtias. Auf Grundlage dieser Einteilung sollen zunächst knapp die nicht-tragischen Texte, geordnet nach ihrem Entstehungsdatum, auf ihre Chorfunktion hin untersucht werden, um sodann das Hauptaugenmerk auf den Chor in der Jephtias zu richten. Aufgrund ihres geringen Bekanntheitsgrads wird jeweils auch eine inhaltliche Würdigung der Werke erfolgen. 114 B. Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk <?page no="115"?> 6 Allgemeine Hinweise zum Stück Westermayer 1868 (Nd. 1998), 33-35; Schmidt 1986; Stroh 2004a, 249-252; Stroh 2004d, 59-68; Stroh 2006b, 206-208; Wiener 2010, 28-33; Wiener 2013 (auch zum Zusammenhang mit den affixiones zum Thema Christus und Cupido, deren Em‐ bleme in derselben Handschrift überliefert sind wie das Regnum poetarum. Zu diesen Emb‐ lemata cf. bes. auch Hess 2013). 7 Die Stücke 1 und 2 (Horatius und Lucretius) sind bislang weder gedruckt noch in der Se‐ kundärliteratur eingehender behandelt. Dasselbe gilt für die Stücke 5 (Martialis), 6 (Plautus/ Martialis), 7 (Catullus) und 11 (Iuvenalis). In den Opera omnia gedruckt sind die als elegisch oder episch aufzufassenden Stücke 3 (Lucanus: Op. om. 3, 266-278 (Fehlpag.); außerdem kurze Behandlung bei Burkard 2009, 304-306), 4 (Ovidius: Op. om. 5, 325-331; neuere Aus‐ gabe mit dt. Übersetzung von Wolfgang Schibel und Hermann Wiegand, in Kühlmann/ Wie‐ gand 1989, 212-227; kurze Behandlung bei Stroh 2018, 542-545), 9 (Statius: Op. om. 3, 278- 281), 10 (Claudianus: Op. om. 3, 281-284; kritische Edition Schmidt 1986; Behandlung auch bei Stroh 2007a) und 12 (Vergilius: Op. om. 3, 284-286; kurze Behandlung bei Lefèvre 2010 sowie eine historisch orientierte Untersuchung bei Wiegand 2006). Stück 8 (Seneca) erfährt eine gründliche kritische Edition mit Kommentar und Übersetzung in Stroh 2004d. Das zu‐ gehörige Chorlied wird darin allerdings nicht berücksichtigt, eine kurze Behandlung der Verse 1-4 findet sich in Stroh 2004a, 251, Anm. 34. 8 Clm 27271.III, f. 86v. Übers. Verf. 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum Aus der frühen Schaffensperiode ist ein aufschlussreicher Text erhalten, der ideal‐ typisch darstellt, was Balde unter einem tragischen Chor versteht, und der in Kurz‐ form seine wesentliche Chorpoetik widerspiegelt. Es handelt sich um das Regnum poetarum, eine 1628 am Münchner Wilhelmsgymnasium aufgeführte Schuldekla‐ mation, die der damals 24jährige Jesuit in seiner Funktion als Lehrer der Poeten‐ klasse verfasst hat. 6 Trotz der Wichtigkeit für Baldes Auffassung der antiken Lite‐ ratur ist das Regnum poetarum bislang immer noch kaum bekannt. Nur wenige Teile wurden überhaupt gedruckt, einige Abschnitte nachfolgend erschlossen. Das Werk in seiner Gesamtheit liegt nur in einer Handschrift der Bayerischen Staatsbi‐ bliothek in München vor (clm 27271.III, f. 86r-111v) und harrt noch einer Gesamt‐ edition, die es einer breiteren Leserschaft zugänglich macht. 7 Den Titel des Stückes erklärt Balde in der Vorrede: 8 Excitavit autem nos maxime praeteritum Epiphaniae festum, ubi solenne est Reges et aulicos creare […]. Et nos quoque Regnum Poetarum constituimus, ut quisque intel‐ ligat, quid et quantum de iis sentiamus. <?page no="116"?> 9 Plausibel erscheint die mündliche Vermutung von Wiener (ähnlich auch Wiener 2010, 28- 33), Balde könnte mit diesem etwas künstlich anmutenden Bezug zum Epiphanienfest eine Art Apologie liefern, dass er kein religiöses, sondern ein literarisches Thema gewählt habe. 10 Clm 27271.III, f. 86r. Übers. Verf. 11 Für einen knappen Überblick cf. Schmidt 2003 und Arndt 2009 (mit einem ausführlichen Forschungsüberblick 7-14). Eine tiefgehende Analyse der Geschehnisse des Dreißigjäh‐ rigen Krieges unter dem Blickwinkel der Staatenbildungstheorie gibt Burkhardt 1992. Be‐ sonders interessant ist hier die Berücksichtigung der Auswirkungen von Medien und Pro‐ paganda, 225-244 (ebenfalls behandelt bei Arndt 2009, 208-227). Eine stärker auf die europäische Perspektive ausgerichtete Untersuchung liefert Kampmann 2013. 12 Hierzu zusammenfassend Kampmann 2013, 34. 13 Zu den Gründen und Folgen der Königswahl cf. Schmidt 2003, 30-31; Kampmann 2013, 36- 38. Zur Person des Böhmischen Winterkönigs cf. besonders Pursell 2003; den kommen‐ tierten Ausstellungskatalog von Wolf 2003 mit der dazugehörigen Einführung Wagner 2003; Bilhöfer 2004. 14 Arndt 2009, 63. Inspiriert hat uns besonders das gerade vergangene Dreikönigsfest, wo es Brauch ist, Kö‐ nige und ihr Gefolge zu wählen […]. Und auch wir haben ein Königreich der Dichter ge‐ schaffen, damit ein jeder versteht, was wir über sie denken und wie sehr wir sie schätzen. Das Regnum poetarum sei demnach anlässlich des Dreikönigsfests verfasst worden, und da dort Könige aufträten, wolle sich Balde dieser Tradition anschließen. Aller‐ dings bevorzuge er als Literat die Spezies der Dichterkönige. 9 Auch sein weiteres Vorgehen wird expliziert. Nacheinander sollen berühmte antike Dichter auftreten und in dem für sie als charakteristisch erachteten Stil einige Stücke zum Besten geben: 10 Declamatio seu Regnum Poetarum, in quo Stylus cuiusque Poetae ad exemplum ve‐ terum conformatur eiusque diversitas cum materiae varietate tum etiam alia atque alia Harmonia explicatur. Deklamation oder Königreich der Dichter, in welchem der Stil eines jeden Dichters nach dem Vorbild der Alten gestaltet wird und eines jeden Besonderheit sowohl durch die unterschiedliche Stoffwahl als auch besonders durch ein jeweils eigenes Klangbild verdeutlicht wird. Das Thema, bella, funera und triumphi, entstammt der aktuellen Zeitgeschichte, der ersten Dekade des 30jährigen Krieges. Adäquat lässt sich der Text deshalb nur in Kenntnis seines historischen Hintergrunds begreifen: 11 Nach dem Prager Fens‐ tersturz 1618 12 hatten die Böhmischen Rebellen einen eigenen protestantischen König eingesetzt, Friedrich V. von der Pfalz. 13 Diese Revolution war jedoch nicht von Erfolg gekrönt, denn, wie Arndt feststellt, „fehlte es den Aufständischen an allem: an Weitblick, Verbündeten und Geld.“ 14 Die empfindlichen Machteinbußen 116 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="117"?> 15 Zum Böhmischen Krieg cf. Schmidt 2003, 28; Arndt 2009, 59; Kampmann 2013, 35-50. 16 Cf. Schmidt 2003, 32; Arndt 2009, 68-69. Auch Wiegand 2006 gibt neben der Analyse der poetischen Darstellungen einen kondensierten Überblick über die historischen Abläufe (74-76). 17 Cf. Arndt 2009, 70-71. Ausführliche Informationen liefert die materialreiche Untersu‐ chung von Pick 1922. 18 Cf. Stroh 2004d, 59 und 62. 19 Es ist anzumerken, dass Balde sich hier nicht ganz an die historischen Tatsachen hält: In Wahrheit hatte Elisabeth Stuart ihren Mann nicht verlassen, sondern stand ihm trotz seiner Niederlage bis zuletzt zur Seite. Die hier vorgegebene Abwesenheit der Königin war eine kurze Reise, um ein weiteres Kind Friedrichs auf die Welt zu bringen (cf. durch Verlust des Königreichs Böhmen sowie vor allem die Angst vor einer Initi‐ alzündung für weitere Unabhängigkeitsbestrebungen ließen die Katholiken schnell zum Gegenschlag ausholen. So wurde aus dem Prager Aufstand der Böh‐ mische Krieg, der den Grundstein für den Dreißigjährigen Krieg legte. 15 Unter der Führung von Kaiser Ferdinand II., der sich mit Kurfürst Maximilian von Bayern verbündete, wurde ein Heer zusammengestellt, das die Aufständischen in die Schranken weisen sollte. Nach einigen Scharmützeln, in denen sich auf katholi‐ scher Seite vor allem die Feldherren Heinrich von Dampierre und Charles von Bucquoy einen Namen machten, gelang dies 1620 in der Schlacht am Weißen Berg. 16 Dort schlugen die Katholiken unter der Heerführung Johann von Tillys ihre Gegner vernichtend. Für den Böhmischen König ging die Sache vergleichsweise glimpflich aus: Er verlor zwar seine Kurfürstenwürde und seine Ländereien, ent‐ ging aber durch seine Flucht ins holländische Exil der Todesstrafe. Der Spottname Winterkönig, den ihm seine kurze Regierungszeit einbrachte, ist bis heute populär geblieben. Wesentlich übler erging es seinen Anhängern, von denen 27 ihrer pro‐ minentesten Vertreter im sogenannten Prager Blutgericht 1621 öffentlich hinge‐ richtet wurden. 17 Dies sind die wichtigsten Ereignisse, die in Baldes Regnum poe‐ tarum thematisiert werden. Zunächst sei ein kurzer Überblick über den Aufbau des Werkes gegeben: Ins‐ gesamt umfasst der Text 12 Partien, die jeweils von einem antiken Dichterkönig bestritten werden. Die einzelnen Referenten werden von einem orator ‚anmo‐ deriert‘, wahrscheinlich Baldes Rolle selbst, der so seine Schüler auf die Bühne zitierte. 18 Horaz beginnt mit einer Ode an Kaiser Ferdinand II. Auf ihn folgt Lucrez, der den Kometen von 1618 als übles Vorzeichen deutet. Der Komet for‐ dert sogleich das erste Opfer, Dampierre, dessen Tod Lucan beklagt. Hierauf folgt ein satirischer Mittelteil, der die Stücke 4-7 umfasst und sich vornehmlich auf die Figur des böhmischen Winterkönigs konzentriert. Dieser schreibt in einer Art Heroidenbrief im Stile Ovids an seine Ehefrau Elisabeth Stuart, um sie zur Rückkehr zu ihm zu bewegen. 19 Martial fügt eine bissige Invektive auf Fried‐ 117 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum <?page no="118"?> Wiegand 2006, 76). Zur Ehe von Elisabeth Stuart und Friedrich von der Pfalz cf. Lemberg 1996. 20 Stroh 2004d. rich an. Allerdings rufen seine niveaulosen Wortspiele - besonders der Spott‐ name rex hiemalis und die sich daraus ergebenden satirischen Möglichkeiten haben es ihm angetan - Plautus auf den Plan, der, im Bestreben, es besser zu machen, auf die Bühne eilt, sich dann aber von Martial in einen heftigen Streit darüber hineinziehen lässt, wer der bessere Dichter sei. Darüber vergisst er sein eigentliches Vorhaben, Friedrich zu verunglimpfen. Diese Aufgabe muss schließlich Catull übernehmen, der in einer Selbstparodie seines c. 4 Friedrichs Feigheit anprangert. Der Tonfall wird daraufhin wieder ernst, denn nun widmet sich Balde dem Schicksal der Anhänger Friedrichs während des Prager Blutgerichts. Dieser Teil wird, ganz in Manier einer senecanischen Tragödie, am Ende von einem polymetrischen Chorlied beschlossen. Es folgt die Schilderung des Todes eines weiteren katholischen Opfers, Bucquoy, durch Statius sowie ein Lob‐ lied auf Johann von Tilly durch Claudian. Als Nachtrag zum satirischen Mit‐ telteil fügt Juvenal eine ausufernde Beschimpfung der Calvinisten an, wo‐ nach das Stück durch Vergil seinen krönenden Abschluss findet, der Maximilian von Bayern für seine Verdienste in der Schlacht vom Weißen Berg lobt. Das Regnum poetarum setzt sich somit zusammen aus Enkomien auf katholische Feldherren, die neben satirische Spottgedichte auf die Pro‐ testanten gesetzt werden. Im Folgenden soll näher auf das Chorlied eingegangen werden, das sich an den Seneca-Teil anschließt. Wenngleich es sich beim Regnum poetarum nicht um eine Tragödie im eigentlichen Sinne handelt, ermöglicht es wichtige Einsichten für die Analyse von Baldes Chorkonzept und für seine Sichtweise eines typisch senecanischen Tragödienstils. Das Chorlied im Regnum poetarum fungiert gleichsam als poetische Definition von Baldes Chorverständnis. Allein die Tat‐ sache, dass es Balde als elementar erachtet, Seneca mit einem Chor auftreten zu lassen, spricht für die Bedeutung, die er diesen Partien beigemessen hat. Balde sieht den Chor offenbar als dramaturgisch essentiell und als konstitutives Ele‐ ment der Seneca-Tragödien an. Um zu erörtern, wie und mit welcher Absicht Balde seinen Chor an Seneca anlehnt, soll zunächst der Inhalt der vorhergehenden Seneca-Passage umrissen werden, zu der Stroh bereits eine ausführlich erläuterte Edition sowie eine Übersetzung vorgelegt hat. 20 Seneca berichtet in knapp 100 düsteren Trimetern über das Prager Blutgericht aus dem Jahre 1621. Nach einer allgemeinen Einlei‐ tung (1-10) folgt die genaue Schilderung der Hinrichtungen (11-88), die sich 118 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="119"?> 21 Jan Jessenius war ein berühmter protestantischer Gelehrter und einer der führenden Köpfe beim Böhmischen Ständeaufstand. Cf. die immer noch maßgebliche Biographie von Pick 1926; ferner Röhrich 1974. Die exponierte Behandlung des Jessenius bei Balde ergibt sich einerseits aus dessen Person: Ein Intellektueller, der seine Bildung gleichsam als Waffe dem Feind zu Verfügung stellte, musste besonders verwerflich erscheinen. Andererseits galt die Bestrafung des Jessenius als vergleichsweise grausam. 22 Gliederung nach Stroh 2004d, 113. 23 Cf. Stroh 2004d, 67; Fuhrmann 1968, 49. 24 Diss. poet. 27; cf. hierzu S. 167-168. 25 Cf. die einleitenden Erläuterungen zu den Urteilen der Prager Exekution in Pick 1922: „Doct. Johan Jessenius […] ist zwar dahin condemniret, daß ihm die Zunge heraus gerissen / und er alsdann lebendig geviertheilet werden sollen / Man hat ihn aber auß gnaden verurtheilet/ daß ihme die Zunge sol abgeschnitten / darauff mit dem Schwerte gerichtet / hernach in 4. Stücke zerhawen / und dieselbe vor dem Galgen Thor auf die Strassen / der Kopff aber am Brücken Thurm auffgestecket werden.“ Dass dieses Urteil tatsächlich so vollstreckt wurde, belegen zahlreiche Zeugnisse in Pick 1922. So lesen wir im Eingangsbericht über die Vollstreckung der Strafen, der Richter habe ihm „die Zunge mit einem Zänglein herausgezogen / die‐ selbe abgeschnitten / und darauff ihn Enthäuptet.“ Ähnliche Formulierungen und Abbildungen des Geschehens finden sich auch auf zeitgenössischen Flugblättern (cf. z.B. Pick 1922, Blätter 8, 9, 10, 13). zunächst mit Exekutionen verschiedener Delinquenten befasst (11-51), um dann ausführlich die Hinrichtung des Jessenius darzulegen (52-88). 21 Darauf folgt ein knapper Epilog (89-97). 22 Balde greift auf die Methode des Botenberichts zurück. Die Form gibt im Prinzip bereits vor, was sich inhaltlich ereignen wird, da traditionell ein nuntius zwischengeschaltet wird, wenn die Geschehnisse zu drastisch sind, um sie direkt auf der Bühne darzustellen. 23 In seiner Dissertatio de studio po‐ etico lehnt Balde jegliche Aufführung von Gewaltszenen vor Publikum ab. 24 Das hindert ihn allerdings nicht daran, im Botenbericht zu umso ausufern‐ deren Schilderungen zu greifen. Die Genrewahl, die Balde im Regnum für die Tragödienpassage trifft, ist durchaus als eine Vorankündigung zu verstehen, dass die folgenden Ereignisse blutrünstig werden. Und tatsächlich lässt Balde bei seiner Beschreibung kein grausiges Detail aus, und wo ein wahrheitsge‐ treuer Bericht zu unspektakulär wäre, fügt er sogar noch etwas an. So er‐ geht er sich z.B. bei der Hinrichtung des Jessenius zuerst in einer minutiösen Darlegung der wohl real erfolgten prämortalen Amputation der Zunge, um ihn dann bei lebendigem Leib vierteilen zu lassen - eine Strafe, die zwar zunächst vorgesehen war, aber tatsächlich zum Tod durch Enthaupten ab‐ gemildert und erst post mortem vollstreckt wurde. 25 Die Beschreibung der Scheußlichkeiten nimmt teilweise ein solches Ausmaß an, dass an vielen Stellen der Bote vor seinem eigenen Bericht zurückschreckt. Auch dies ist 119 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum <?page no="120"?> 26 Cf. S. 80 zu den Troerinnen und bspw. der Botenbericht über den Tod des Hippo‐ lytus (Phaedr. 991-1120). 27 Cf. Fuhrmann 1968, bes. 45-50; Charles-Saget 1998; ausführlich Wessels 2014. Dass Balde diese Funktionen auch allgemein der Tragödie zuschreibt, zeigt seine Erläu‐ terung im Vorwort des Tilly (Cf. S. 133). 28 Clm 27271.III, f. 101v-102v. Transkription und Übersetzung Verf. Danken möchte ich an dieser Stelle besonders Herrn Lav Šubaric und Herrn Martin Korenjak für Hilfe beim Entziffern und Übersetzungshinweise. Insgesamt wurde kaum in den Text eingegriffen. Zwei plausible Konjekturen sind übernommen von Stroh, der einen Ausschnitt in einer Fußnote behandelt hat (Stroh 2004a, 251, Anm. 34). schon in den Seneca-Tragödien gängig. 26 Hierin bleibt Balde seinem stilisti‐ schen Vorbild treu. Nicht umsonst hat er das Prager Blutgericht als Thema für Seneca ausgewählt, dessen Tragödien gerade aufgrund ihrer „Ästhetik des Hässlichen und Grausigen“ berüchtigt sind. 27 Diese detailreich ausgestal‐ teten Gruselszenen sind hier dem Zweck geschuldet, den Schülern ein mög‐ lichst authentisches Bild von Senecas Stil zu vermitteln. Dafür sind die Er‐ eignisse aus Prag ein besonders geeignetes Exempel. Hierauf folgt nun ein polymetrisches Chorlied, das sich der Kernaussage des Botenberichts, nämlich die Zurechtweisung der aufsässigen Protestanten, noch einmal in knapperer Form annimmt. Anders als der Seneca wurde die Chorpas‐ sage bisher noch nicht eingehender untersucht. Der Text soll deshalb im Fol‐ genden in seiner Gesamtheit vorgestellt werden. 28 120 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="121"?> 29 Ms. Totius: Tutius Stroh. 30 Ms. fortis: forti Stroh. 31 Heider 1999, 181, Anm. 161 schlägt vor, sedere curru durch sidere cursu zu ersetzen, um statt der zweiten Hälfte eines Elfsilblers erneut einen Adoneus zu erhalten. Da Balde in diesem Abschnitt jedoch mit verschiedenen Ausformungen des Elfsilblers experimen‐ tiert, neige ich der in der Handschrift verzeichneten Junktur zu. Chorus T<u>tius 29 parvus per aquas phaselus Non nimis forti[s] 30 Zephyro tumescens Navigat, quam si medias ferirent Suppara nubes. Non tu fide Britanniae, 5 Non blandis pelagi minis Nam si fideris occides Et nati lachrymas dabunt. Fortuna fortes fortior opprimit Nec secum patitur senes beatos 10 Sedere curru. 31 Vix ipsos Juvenes diu fovebit Tandem audacius ingruens Miscebit omnem lugubri fato domum Heu quam luctus Praga rebellis 15 Exempla sui miseranda dedit Plangite lacrymis, laceraeque comas Vestra Bohemae funera matres Qui Romuleos horrore novo Violat fasces, sentiet idem 20 Caesaris aquilas, Caesaris enses, Maestumque forum gladiosque truces Sanguine tinget. Der Chor Sicherer durchmisst das kleine Boot das Wasser, wenn es sich im lauen Wehen des Zephyrs bläht, als wenn es mit seinen Segeln in die Wolken stoßen wollte. Traue du England nicht, traue nicht dem bedrohlichen Schmeicheln der See, denn dein Ver‐ trauen wird dein Untergang sein und deine Kinder werden Tränen vergießen. Fortuna drückt die Starken umso stärker zu Boden und duldet nicht, dass Menschen, die im Glück alt geworden sind, mit ihr im Wagen sitzen. Kaum wird sie selbst jungen Men‐ schen lange gewogen sein, und wird dann schließlich umso heftiger über sie herein‐ brechen und das ganze Haus durch düsteres Schicksal ins Chaos stürzen. Oh weh! 121 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum <?page no="122"?> 32 Der Plural erklärt sich, wie Stroh 2007a, 74, Anm. 20 für den Tilly feststellt, aus der Tatsache, dass der Doppeladler gemeint ist. 33 Metrische Analyse des gesamten Chorliedes bei Heider 1999, 181, Anm. 161. 34 Zitiert wird nach der Oxford-Edition von Otto Zwierlein, in Vers 695 ist allerdings die E-Überlieferung (meas phaselos) unterdrückt und stattdessen die Balde vertraute A-Über‐ lieferung (meos phaselos) verwendet. Phaselus ist auch im Regnum poetarum maskulin ge‐ braucht. Zur Überlieferungslage der Senecatragödien zur Zeit Baldes cf. Stroh 2004d, 75. 35 Die Ähnlichkeit der beiden Texte spricht für Strohs Konjekturen: Das Endungs-s in der Handschrift könnte durch eine Doppelung des s bei nimis entstanden sein. Tutos in 698 stellt ein zusätzliches Argument für die Veränderung von Totius hin zu Tutius dar. Welch beklagenswerte Beispiele seiner Trauer bot das aufständische Prag. Beweint tränenreich eure Toten, ihr Mütter Böhmens, mit zerrauftem Haar! Wer die Ruten der Söhne des Romulus durch neuen Schrecken verletzt, wird wieder die Adler 32 und die Degen des Kaisers zu spüren bekommen und den jammervollen Marktplatz und die mordlustigen Schwerter mit Blut tränken. Der in einer sapphischen Strophe 33 verfasste Beginn (1-4) ist offensichtlich an einem Chorlied des Hercules Oetaeus (695-700) orientiert, den Balde noch un‐ eingeschränkt als echt ansah: 34 Stringat tenuis litora puppis Nec magna meos aura phaselos Iubeat medium scindere pontum Transit tutos Fortuna sinus Medioque rates quaerit in alto, Quarum feriunt sipara nubes. Mein bescheidenes Schiff streife die Küsten, kein starker Wind befehle meinem Boot mitten durch das Meer zu pflügen, Fortuna geht an sicheren Buchten vorbei und sucht die Schiffe auf hoher See heim, deren Segel bis in die Wolken stoßen. Die Übereinstimmungen zwischen der Ps.-Senecapassage und Baldes Text sind evident: Magna aura (Herc. Oet. 696) entspricht der baldeschen Junktur forti Zephyro (2). 35 Die auffällige Ähnlichkeit von quam si medias ferirent suppara nubes (3-4) und quarum feriunt sipara nubes (Herc. Oet. 700) lässt keinen Zweifel, dass Balde dieses Chorlied vor Augen hatte, als er den Text für das Regnum poetarum verfasste. Auch inhaltlich haben beide Texte denselben Gedanken zum Gegenstand: das Maßhalten, eines der am häufigsten in den Senecatragödien behandelten Motive. Bei Balde geht es allerdings weniger um eine allgemeine Lebensweisheit als um eine konkrete Warnung an die Protestanten, die sich im Böhmischen Aufstand verblendete Ziele setzten. 122 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="123"?> 36 Auch Seneca streut gelegentlich konkrete Toponyme ein, um den Bezug zwischen Akt und Chorlied zu verstärken, cf. z.B. das erste Chorlied des Thyestes. 37 Cf. Weiß 1966; Schmidt 2003, 31; Pursell 2003, 175-177; Arndt 2009, 47. 38 Cf. Wiegand 2006, 77. 39 Auffällig ist, dass Balde ernstzunehmende Gegner, wie Christian von Dänemark, hier bewusst nur am Rande erwähnt. Nur im Claudian des Regnum poetarum findet Christian von Dänemark Beachtung. Nach den ersten vier Versen emanzipiert sich Baldes Chor mit den folgenden Glykoneen (5-8) von der Vorlage. Die abstrakte Reflexion wird abrupt durch die Nennung von England (Britanniae, 5) durchbrochen, 36 dessen Wankelmut mit dem unbeständigen Wetter auf See verglichen wird. Diese Anspielung lässt sich nur einordnen, wenn man den historischen Kontext berücksichtigt: Zwar ge‐ hörte England im Dreißigjährigen Krieg nicht zu den Hauptakteuren, diente aber in den Augen der Böhmischen Rebellen als Absicherung. Sie spekulierten darauf, England werde im Falle des Scheiterns ihres Aufstandes rettend ein‐ greifen. Schließlich war ihr neueingesetzter König, Friedrich von der Pfalz, mit einer Tochter des britischen Königshauses verheiratet. Diese Rechnung ging bekanntermaßen nicht auf, denn der englische König, Jakob I., war zu sehr mit eigenen innenpolitischen Problemen beschäftigt, um seinem erfolglosen Schwiegersohn unter die Arme zu greifen. 37 Erst einige Jahre später beteiligte er sich im englisch-spanischen Krieg, allerdings weniger um Friedrichs willen, als vielmehr, um eigene Machtinteressen gegen die Habsburger zu verteidigen. Vers 5 ist somit an Friedrich V. im Besonderen sowie an alle aufständischen Protestanten im Allgemeinen gerichtet: Blindes Vertrauen in die falschen Ver‐ bündeten hat fatale Konsequenzen. Balde stellt einen konkreten Bezug zur vor‐ hergehenden Tragödienpassage her, da hier unweigerlich die blutige Nieder‐ schlagung des Prager Aufstandes vor Augen tritt. Im Grunde bedürfte es keiner weiteren Erläuterung, doch der Chor lässt es nicht bei der bloßen Warnung bewenden. Mit der Erwähnung der weinenden Kinder (Et nati lachrymas dabunt, 8) verweist er darauf, dass man mit unüber‐ legtem Handeln nicht nur sich selbst ins Unglück stürze, sondern seine ganze Familie. Hier sind im erweiterten Sinne auch gemeint: alle politisch-religiösen Partisanen. Erneut kritisiert der Chor an dieser Stelle im Besonderen Friedrich von der Pfalz, der sich feige aus der Verantwortung stahl, während seine An‐ hänger im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf für ihn hinhalten mussten. Dies fügt sich gut in die Gesamtstruktur des Regnum poetarum ein, wo Friedrichs Feigheit, deutlich überspitzt dargestellt und kaum historisch belegbar, 38 nach‐ gerade zum Topos gerät. 39 123 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum <?page no="124"?> 40 9: alkäischer Elfsilbler, 10: Hendekasyllabus, 11: halber Hendekasyllabus (2. Hälfte), 12: Hendekasyllabus, 13: Glykoneus, 14: jambischer Trimeter; cf. Heider 1999, 181, Anm. 161. 41 Cf. auch Stroh 2004a, 51, Anm. 34. 42 Die Wahl der Anapäste ist auch bei Seneca typisch für Passagen traurigen Inhalts, cf. Bishop 1968, 199-203. 43 Ähnliche Bilder verwendet Balde in Claudians Tilly-Teil. Hierzu Stroh 2007a, 68. 44 Besonders deutlich sind diese in den ersten vier Versen. Das sich daran anschließende sentenzenhafte Fortuna fortes fortior opprimit (9), das den polymetrischen Teil einleitet, 40 knüpft an den Anfang des Liedes an, der besagt, dass alles, was das Maß übersteige, größerer Gefahr ausgesetzt sei. Dieser Gedanke ist senecanisch 41 und klingt beinahe wie ein direktes Zitat, ist jedoch eine Umkehrung des sprichwörtlichen Fortes fortuna adiuvat. Die Idee von der Willkür und Allmacht Fortunas wird im Folgenden weiter ausgeführt. Man solle sich nicht in Sicherheit wiegen, gleichgültig ob man über längere Zeit Erfolg habe (in dieser Rolle fungieren hier die senes beati, 10) oder ob man sich gerade erst in eine Machtposition gebracht habe (dies bedeutet der Hinweis auf die iuvenes, 12). Fortuna werde gegen übermäßiges Glück ein‐ schreiten und es in ein umso schrecklicheres Gegenteil verkehren. Der Chor exemplifiziert dies in den folgenden anapästischen Dimetern, die er bis auf den Klauselvers (23) beibehält. 42 Wieder greift er hier zu Toponymen (Praga, 15; Bohema, 18), um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wer der Adressat der Verse ist. Zum zweiten Mal liegt der Fokus auf den mitbetroffenen Angehörigen (Bohemae matres, 19), die durch die Missetaten ihrer Sprösslinge mit in den Ab‐ grund gezogen werden. Balde unterstreicht den Aspekt der Rücksichtslosigkeit seitens Friedrichs von der Pfalz und der Böhmischen Rebellen, die ihre religiöse Glaubensgemeinschaft durch ungehöriges Handeln ebenfalls in Misskredit und Bedrängnis gebracht haben. Der Schluss des Liedes behandelt die Bestrafung der Aufständischen. Mit der Nennung der römischen Fascen (19-20) spielt Balde auf Kaiser Ferdinand II. an, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 43 der die Protes‐ tanten, wenn sie es noch einmal wagen sollten, die kaiserliche Position in Frage zu stellen, erneut bestrafen werde. Die bedrohlichen Schlussverse evozieren noch einmal den düsteren Grundcharakter, der die gesamte 8. Passage des Regnum (Senecateil und Chorlied) durchzogen hatte und der ihn stark von den satirischen Gedichten, die zuvor beherrschend gewesen waren, absetzt. Betrachtet man die Eigenschaften, die den Chor im Regnum poetarum cha‐ rakterisieren, ergibt sich folgendes Bild: Der Stil des Chorliedes ist insgesamt stark an Seneca orientiert. Neben wörtlichen Übernahmen 44 und dem senten‐ zenhaften Ausdruck gilt dies vor allem für die inhaltliche Ebene (philosophische 124 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="125"?> 45 Cf. S. 15-19. Reflexion über das Maßhalten). Baldes Chor verzichtet auf die blutrünstigen Ausmalungen, die der Tragödientext bietet, und hebt das Geschehen auf eine lyrische Ebene, auf der die Aussage des vorangegangenen Botenberichts in ver‐ dichteter Form dargelegt wird. Dieses Vorgehen ist in den Senecatragödien an‐ gelegt: Die Ereignisse der einzelnen Akte prägen sich durch ihren Bildcharakter ein, der oftmals durch detaillierte und manieristisch übersteigerte Schreckens‐ gemälde zustande kommt. Der Chor kommt ohne all dies aus, er fungiert gleichsam als Interpretationsanleitung des dramatischen Geschehens, indem er dessen Essenz abbildet und moralisch ausdeutet. Balde hat diese Funktion der mise-en-abyme, die der Chor bei Seneca innehat, erkannt und überträgt sie auf seinen Chor im Regnum poetarum, der als lehrhaftes Exempel für Senecas Stil gedacht ist. Im Unterschied zu Seneca ist zu beobachten, dass der Chor sich nicht nur auf den Botenbericht rückbezieht, sondern auf die Hauptaussagen des ganzen Regnum poetarum. So nimmt das Chorlied an mehreren Stellen Bezug auf Fried‐ rich von der Pfalz, der im Seneca kaum genannt wird. Er übersteigt das Konzept der mise-en-abyme der einzelnen Akte, indem er Aussagen des gesamten Werkes bereits miteinbezieht. Hierbei spielt freilich der Adressatenbezug eine Rolle: Baldes Zuschauer und Leser sind vor allem seine Schüler, denen es gilt, ein Ma‐ ximum an Wissen in möglichst leicht verständlicher Form zu vermitteln. Des‐ halb bevorzugt Balde Methoden, die auf das Wesentliche hindeuten. Insgesamt lässt sich festhalten: Wie eine Senecatragödie mitsamt ihren Chor‐ liedern funktioniert, hätte man deutlicher als mit dem achten Stück des Regnum poetarum kaum erklären können. Baldes Chor dient wie bei seinem Vorbild Se‐ neca als Hilfe zur Deutung der Tragödie, indem er das Prinzip der Aussagen‐ verdichtung anwendet. Balde, der im Kontext der Jesuitengymnasien dichtet, 45 verstärkt den didaktischen Nutzen der Chorlieder, indem er diese explizit für die Gesamtdeutung des Stückes verwendet. So fungiert sein Chor als Interpre‐ tationsanleitung noch expliziter. Die Untersuchung des Regnum poetarum hat verdeutlicht, was der junge Balde unter einem tragischen Chor bei Seneca verstanden hat. Allerdings ist das Werk nicht als eigenständige Dichtung anzusehen, da es vorrangig der Exemplifikation des Stils antiker Autoren dient. Die im Regnum poetarum herausge‐ arbeiteten Konzeptionen zum Chor sind damit nicht zwangsläufig als repräsen‐ tativ für Baldes eigenes Schaffen zu bewerten, da er lediglich stilistische Merk‐ male Senecas als typisch erkennt und herausstellen möchte. In einem nächsten 125 1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum <?page no="126"?> 46 Zum Iocus serius grundlegend Stroh 2008b, ferner Westermayer 1868 (Nd. 1998), 38-39, Anm. 4; 274-276 Abdruck der deutschen Perioche; Rütsch 1932, 173-174; Becher 1941, 282 mit Anm. 3; Valentin 1978b, 2, 777-780; Dünnhaupt 1990, 398, Nr. 33.1; 33.2; Stroh 2004a, 253-263; Stroh 2006a (Übersetzung der zweiten Hälfte des dritten Aktes); Stroh 2006b, 211-212; Tilg 2012, 453-457; Stroh 2018, 545-548. 47 Tilg 2012, 453 vertritt die von Stroh 2008b, 279 entwickelte These, es handle sich um „eine für eine spätere Aufführung gekürzte Bearbeitung“. 48 Valentin 1972, mit Einleitung zur Überlieferungssituation, Abdruck der deutschen sowie der lateinischen Perioche, ferner der Wiener Handschrift: Cod. Pal. Vind. 13303. Stroh 2008b, 257 weist allerdings darauf hin, dass Valentins Publikation aufgrund vieler Fehler „nur mit Vorsicht zu gebrauchen“ sei. 49 Cf. hierzu Stroh 2008b, 256 und Tilg 2012, 453-454. Tilg 2012, 456-457 stellt außerdem die Überlegung an, Balde könnte mit dem Iocus serius eine Art witzigen Fürstenspiegel vorgelegt haben. Dieser Effekt ergibt sich automatisch, da Balde geläufige Techniken wie die Herrscherparodie heranzieht, die dem Humor seines Publikums entsprechen. Stroh 2008b sieht die Hauptintention treffend im komischen Spiel (283): „Wer keinen Sinn für Humor besitzt, ist bei Balde immer fehl am Platze. Um aber seinen Iocus serius genießen zu können, sollte man auch Freude am Kasperletheater haben - und am besten ein echtes Kindergemüt.“ Schritt ist also zu fragen, inwiefern sich Elemente des senecanischen Chorkon‐ zepts in Baldes eigenen Werken manifestieren. 1.2. Gattungsmarker: Iocus serius Von 1628-1630 war Balde am Innsbrucker Gymnasium beschäftigt. Aus seiner dortigen Lehrtätigkeit ist ein Schulstück überliefert, das an burlesker Komik kaum zu überbieten ist. Im Iocus serius schafft der junge Balde eine amüsante Verknüpfung von moralischer Inhaltsvermittlung und (oftmals) derbem Humor. 46 Der Überlieferungszustand des Stückes ist allerdings lückenhaft, viele Szenen sind nur noch anhand der Perioche rekonstruierbar. 47 Dies gilt auch für die einzige Chorpartie des Stückes. Durch Valentin liegt die Transkription der Wiener Handschrift vor. 48 Die Grundidee des Werkes ist das Durchspielen einer Leitidee, nämlich wie aus Spaß Ernst werden kann, anhand einer Vielzahl von Einzelszenen. In einer Art Hinführung wird berichtet, dass der Anlass des Stückes die Geschichte des Heiligen Genesius Mimus sei, der sich zum Spaß hatte taufen lassen und dann tatsächlich zum Märtyrer wurde. Die Anbindung an das Motiv der Taufe scheint vornehmlich dem Aufführungsgrund des Stückes geschuldet zu sein. Balde hatte den Iocus serius anlässlich der Taufe der Clara Isabella, der Tochter von Leopold V. von Österreich, im Jahre 1629 auf die Bühne gebracht. 49 Balde lässt eine kurze, durch das Beispiel des Kampfes der Zentauren und der Lapithen illustrierte Ab‐ 126 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="127"?> 50 Nur dt. Perioche, Argument, 2 = Valentin 1972, 416. Zur Gattung des Iocus serius cf. auch Behrens 1981, 151; Stroh 2008b, 259. 51 Ein besonders berühmtes Beispiel ist der Cenodoxus des Jakob Bidermann (1602). Zu Definition und Geschichte der Tragikomödie cf. Roselt 2012. Behrens 1981, 143 weist auf den in Masens Poetik (Palaestra eloquentiae ligatae III) bestimmten Unterschied zwischen der Tragico-comoedia und der Comico-tragoedia hin: So ende die erstere „bei tragödienhaftem Beginn mit dem glücklichen Ausgang der Komödie“, die letztere solle „den umgekehrten Weg gehen bzw. für einige Personen komisch und tragisch für die übrigen enden“. Bei Balde ist der Unterschied allerdings nicht so klar zu erkennen: Zwar beginnt das Stück insgesamt komischer als es endet, doch sind auch gegen Ende des Werks erneut komische Szenen mit gutem Ausgang, so die Geschichte des Kaisers Pa‐ laeologus, eingestreut. 52 Dt. Perioche, Praeludium Comicum, 3 = Valentin 1972, 416; lat. Perioche, Praeludium Comicum, 2 = Valentin 1972, 420. Dieser Dialog liefert den burlesken Einstieg in den Iocus serius. So lässt Vulpinus seinen Herrn glauben, das Stück werde nur zu dessen Ehren abgehalten. Dieser berichtet daraufhin von seinen wenig überzeugenden Hel‐ dentaten im Krieg, so dem Äpfelbraten hinter dem Ofen. 53 Zu den im Jesuitentheater üblichen Mittlerfiguren interlocutor als „eine Art Conféren‐ cier“ und spectator als „idealer Zuschauer“ cf. Stroh 2008b, 260-261. 54 Zur Prosaform cf. Stroh 2008b, 264-265, mit Hinweisen auf weitere in Prosa verfasste zeitgenössische Komödien und auf das Regnum poetarum, dessen Plautus- und Martial-Szene ebenfalls in Prosa abgefasst ist. 55 Westermayer 1868 (Nd. 1998), 274, Anm. 2. 56 Cf. hierzu Stroh 2004a, 261-264; Tilg 2012, 456. handlung folgen, wie aus Spaß Ernst werden könne. Hierbei bezeichnet er die Gattung seines Stückes als Comicotragoedia. 50 Diese bei Baldes Zeitgenossen beliebte Form 51 ist für die Vermengung von Scherz und Ernst die naheliegendste Wahl. Insgesamt überwiegen im Iocus serius eindeutig die Elemente der Ko‐ mödie. Tragisch sind nur die bisweilen gravierenden Umschwünge in einigen Szenen und das einzige Chorlied des Stückes. Nach einem kurzen Praeludium zwischen dem Ritter Ferricrepus Thraso und seinem Knappen Vulpinus, 52 an das sich eine Unterredung zwischen einem in‐ terlocutor und einem spectator über die Entstehung von Scherzen anschließt, 53 beginnt das eigentliche Theaterstück, das ungewöhnlicherweise in Prosa ver‐ fasst ist. 54 Auffällig ist, dass die nun folgenden acht Geschichten nur lose über das Leitthema zusammengebunden sind und sonst wenig miteinander gemein haben. Die Schauplätze sind auf der ganzen Welt angesiedelt und die Anzahl der verschiedenen Charaktere ist beachtlich. Gerade letzteres lässt sich auch aus dem Umstand erklären, dass es sich um ein Schulstück handelt und Balde mög‐ lichst viele Schüler in einer Bühnenrolle unterbringen wollte. Die ungewöhn‐ liche Struktur des Stückes, das Westermayer als „Quodlibet tragikomischer Szenen“ klassifiziert, 55 hat die Frage nach Baldes Vorbildern für das Stück auf‐ geworfen. 56 In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass Balde sich be‐ 127 1.2. Gattungsmarker: Iocus serius <?page no="128"?> 57 Valentin 1978b, 2, 778: „Balde ne sait toujours pas nouer une intrigue“. Valentin mutmaßt sodann, dass die lose Struktur „le chaos de l’existence“ (780) widerspiegle. Ähnlich auch Valentin 2001, 553-554. 58 Diss. poet. 24; Text und Übersetzung Burkard 2004, 60-61. Auf die Parallelen zwischen den beiden Stücken machte mich Thomas Gärtner aufmerksam. Zum Verhältnis von Balde und Gazet cf. Wiegand 1986, bes. 258-262, allerdings ohne Bezug auf den Iocus serius. wusst für die assoziative Struktur des Iocus serius entschieden hat. Für unwahr‐ scheinlich halte ich Valentins Idee, dass Balde noch nicht in der Lage gewesen sei, eine stringente Intrige zu konstruieren. 57 Inspiration für den Aufbau des Iocus serius könnten die Pia hilaria (1619) des Angelin Gazet gewesen sein. Auch dieses Stück weist einen ähnlich losen Handlungsaufbau auf. Ferner über‐ schneiden sich einige Motive, z.B. die Geschichte des heiligen Dunstan. Dass Balde Gazet und auch die Pia hilaria kannte, ist wahrscheinlich. Zumindest muss dies einige Jahre später der Fall gewesen sein, da er Gazet dann in seiner Dis‐ sertatio de studio poetico lobend erwähnt: 58 Haut absimili Melancholia praeditum fuisse accepimus Angelinum Gazaeum, ipsis‐ simum Auctorem Piorum Hilarium: ut publicae professionis titulum statim intelligas. Idem morosus, ac laetus; dulcis, & acidus; facundus, & taciturnus; comis, & acer; ju‐ cundus, & torvus fuit. ita perhibent viri fide dignissimi. Gustatis eijus salibus, di‐ cendum est aliquid Samsonicum. De torvo exiit Hilaritas, & de amaro egressa est dulcedo. Wir wissen, daß Angelinus Gazeus mit einer nicht unähnlichen Melancholie begabt war, eben jener berühmte Autor der Pia Hilaria; damit du sogleich verstehst, was der Titel öffentlich bekannt gibt: Er war sowohl mürrisch als auch fröhlich, sowohl süß als auch sauer, sowohl redegewandt als auch schweigsam, sowohl freundlich als auch heftig, sowohl liebenswürdig als auch finster. So berichten es zuverlässige Männer, die Glauben verdient haben. Hat man seinen Geist und seinen Witz erst einmal ge‐ kostet, so muß man mit Samson sagen: „Aus der Finsternis kam Fröhlichkeit, aus dem Bitteren ist Süße entsprungen.“ Balde hebt hier besonders den bei Gazet gelungenen Wechsel verschiedener Emotionsebenen hervor. Ähnliches strebt er im Iocus serius für seine Comicotragoedia an. Das Stück ist in drei Akte unterteilt, die sich jeweils in eine un‐ terschiedliche Zahl von Einzelszenen gliedern. Die ersten beiden Szenen des ersten Aktes berichten von einer Begegnung mit dem Teufel. Zunächst trifft dieser auf den Edelmann Stephanus, der seinen Diener herbeiruft, damit dieser ihm die Stiefel ausziehe, und diesen dabei zum Spaß als Teufel bezeichnet. Der Teufel nimmt ihn jedoch beim Wort, erscheint anstelle des Dieners höchstpersönlich und schlägt Ste‐ 128 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="129"?> 59 Beide Szenen sind nicht erhalten, es existiert jedoch eine lateinische Nachdichtung von Stroh auf Grundlage der Perioche (Stroh 2011). 60 Stroh 2008b, 270 weist allerdings darauf hin, dass der Inhalt in der Handschrift im Vergleich zu der Perioche wohl bearbeitet wurde, denn hier wird der Philosoph nicht hingerichtet, sondern nur davongejagt, und vermutet, Balde selbst könnte den Ausgang der Szene bearbeitet haben, um eine Doppelung mit der nächsten Ge‐ schichte zu vermeiden. phanus nach getaner Arbeit die Stiefel um die Ohren. In der folgenden Szene, nach einer kurzen moralischen Bewertung der Szene zwischen interlocutor und spectator, gerät dem Teufel selbst ein Streich nicht wie geplant: Als Frau verkleidet, möchte er den keuschen Schmied Dunstanus verführen. Doch dieser macht den Avancen schnell ein Ende, indem er den Höllenfürsten mit seiner glühenden Zange kräftig in die Nase kneift. Szene drei und vier wech‐ seln abrupt an einen exotischeren Schauplatz, nach Japan. 59 Ludovicus, ein Christ, behauptet, höllische Geister seien nicht ernst zu nehmen, weshalb auch die japanischen heidnischen Götter nicht verehrt werden müssten. Amüsant ist die lose Anbindung an die Vorszene: Ludovicus sei die Ge‐ schichte zu Ohren gekommen, der Teufel sei so wenig furchteinflößend, dass er gar von einem einfachen Schmied mit der Zange erwischt worden sei. Der japanische Götzenpriester Bonzius ist über die Äußerungen des Ludovicus empört, sein Angestellter Saccainus verspottet Ludovicus und treibt seine Späße mit ihm. Daraufhin wird er vom Teufel besessen. Nur Ludovicus kann ihn schließlich erlösen. Es folgt wiederum eine kurze Unterredung zwischen spectator und interlocutor, die das Geschehene kommentieren. Insgesamt fällt in diesen ersten vier Szenen auf, dass zwar für alle Beteiligten ein Scherz zu Ernst wird und unangenehme Folgen mit sich bringt, doch als drastisch sind diese noch nicht zu bezeichnen. Die Betroffenen kommen mit einem Denk‐ zettel davon. Gravierender sind die Konsequenzen in der folgenden Ge‐ schichte: Die Szenen 5-7 spielen am Hof des Assyrerkönigs Ninus. Dieser hat eine Auseinandersetzung mit einem Philosophen, der in offensichtlicher An‐ spielung an Diogenes in einem Fass umherwandelt. Der Philosoph treibt seine Scherze mit dem König und untergräbt dessen Autorität, doch Ninus zeigt sich wenig humorvoll und verurteilt den Philosophen zum Tode. 60 Doch auch für den König selbst wird aus Scherz schnell blutiger Ernst: Als er in der darauffolgenden Szene seiner Frau Semiramis zum Spaß die Bitte gewährt, fünf Tage lang regieren zu dürfen, lässt sie als erste Amtshandlung den un‐ liebsamen Gatten hinrichten. Bei den letzten Szenen des ersten Aktes bleibt das Lachen wegen des tragischen Ausgangs im Halse stecken. Nach dem ersten Akt folgt kein Chorlied, sondern lediglich erneut eine kurze Unterre‐ 129 1.2. Gattungsmarker: Iocus serius <?page no="130"?> 61 Amüsant und zugleich aufschlussreich für Baldes Frauenbild ist die Bezeichnung dieses Gesprächs als „nutzlichen politischen discurs.“ (Dt. Perioche, Akt I, Szene 7, 5 = Valentin 1972, 418.) Stroh 2008b, 271 gibt den wichtigen Hinweis, dass diese Stelle ein Beleg dafür sei, dass die Szene mit Baldes und nicht mit den heutigen Augen gelesen werden müsse: „Während wir als gläubige Feministen der Story entnehmen, dass Frauen doch gar nicht so unpolitisch sind, wie eine konservative Vorzeit gemeint hat, lässt Balde seinen misogynen Spectator fast das Gegenteil fol‐ gern: Frauen, die größten Scheusale, dürfen nie an die Macht kommen.“ 62 Stroh 2008b, 272 verweist auf die manifeste Anspielung auf das Don Juan-Motiv. 63 Transkription mit Übersetzung dieser Szene Stroh 2008b, 284-285. 64 Lat. Perioche, Akt II, Chorus, 6 = Valentin 1972, 422; Übers. Stroh 2008b, 275. 65 Stroh 2008b, 275, Anm. 123 weist auf die Ähnlichkeit dieses Ausdrucks zu zwei weiteren Titeln Baldes hin: Lyr. 2, 33 (= Choreae mortuales) und die 1649 zum Tod der Kaiserin Leopoldine verfasste Chorea mortualis. dung zwischen spectator und interlocutor über die Schlechtigkeit der Frauen. 61 Der gesamte zweite Akt findet wieder auf weniger exotischem Boden statt, nämlich in Sachsen. In fünf Szenen erfahren die Zuschauer vom Schicksal des Fürsten Ramirus. Dessen Hofmeister Machiovellus bringt ihn dazu, dem Glauben an Himmel und Hölle abzuschwören. Als Ramirus beim Hinausgehen über den toten Soldaten Godefridus stolpert, lässt er jegliche Achtung vor den Toten vermissen und lädt ihn zum Spaß zu einem Fest‐ mahl ein. 62 Die Toten nehmen ihn beim Wort: Die Gräber öffnen sich und Godefridus macht sich mit seinen Kumpanen auf, dem versprochenen Schmaus beizuwohnen. Mitten in die komische Beschreibung des ausgelas‐ senen Gelages, in der sich herrliche deutsch-lateinische Mischdialoge der betrunkenen Sachsen finden, 63 platzt die morbide Abordnung. Die Gäste fliehen, nur Ramirus bleibt starr vor Schreck zurück, wird von Godefridus gepackt und an der Wand zerschmettert. Nach dieser grausigen Szene, die rasant vom Absurd-Komischen in bitteren Ernst kippt, tritt ein Chor auf, der nur noch über die beiden Periochen zu re‐ konstruieren ist. Die lateinische Perioche gibt dabei Einblick in Thema und per‐ sonelle Besetzung des Chores: 64 Manibus ad suas tumbas reversis, ipsoque Ramiro secum inter mortales Choreas 65 elato, sex atrati Iuvenes IOCUM SERIUM plorabili versu examinant, et tragicam fatalis coenae catastrophen ex ioco natam hominibus lugentes ingerunt. Nachdem die Toten in ihre Gräber zurückgekehrt sind und Ramirus selbst mit ihnen unter Totentänzen davongetragen wurde, prüfen sechs schwarze Jünglinge den „Ernsten Scherz“ in kläglichen Versen und machen voll Trauer den Menschen klar, wie hier die tragische Katastrophe eines verhängnisvollen Mahls aus einem Scherz entstanden ist. 130 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="131"?> 66 Dt. Perioche, Akt II, Chorus, 7 = Valentin 1972, 418-419. 67 Auch Stroh 2008b, 275 definiert das Chorlied als „nach Art einer griechischen bzw. senecani‐ schen Tragödie“. 68 Der Katarrh ist ein Übel, das Balde selbst plagte: So schrieb er gar eine Ode an seinen Katarrh (Lyr. 2, 35). 69 Die Szene ist durchweg heiter gestaltet und grenzt durch die sprachliche Gestaltung ans Alberne: So wechselt die Anrede an den gereizten Kaiser durch die Diener und Kaiserin Irene zwischen einem übertriebenen O rex Assyriorum und deutsch anmutenden, lautma‐ lerischen Einsprengseln wie gudigudigudi, Schnipf Schnepf Schnedrium und glinglanglorium Die deutsche Perioche liefert ergänzende Informationen zum Inhalt des Chor‐ liedes: 66 Sechs Jünglinge in Klagklaidern bewainen den laidigen aussgang der angestelten Malzeit / warnen jedermann / damit sich kainer hinfürnan understehe / mit den Todten zu schertzen / vil weniger sie spottweiss zum Schlemmen und Demmen zuberueffen. Dann an welcher Tafel die Todten werden anfangen essen / an derselben müssen die Lebendige fasten. Der Chor ist eine Gruppe von Trauernden, die ein Klagelied anstimmt und die Er‐ eignisse des zweiten Aktes erklärt und bedauert. Das Lied erläutert die Gefahr, wie Spaß in Ernst umschlagen kann, und warnt davor, mit den Toten Schabernack zu treiben. Mit der Thematisierung des Motivs Iocus serius übernimmt der Chor die Aufgabe, den Akt zusammenfassend zu interpretieren und fungiert also nach dem mise-en-abyme-Konzept. 67 Das Chorlied schließt sich inhaltlich mit seinem ernst‐ haften Tonfall an den für Ramirus tödlichen Ausgang der Szene an. Der Chor dient Balde als Mittel, um die Gattungsmischung durchzuführen, die er in seiner Comicotragoedia schaffen möchte: Der verdichtende Chor markiert den Tragödiencha‐ rakter der Passage und kann so mit Nachdruck die ernsthafte Aussage des Stü‐ ckes vertreten. Aufgrund zu geringer Textbasis können weiterführende Ana‐ lysen zur Chorfunktion im Iocus serius nicht unternommen werden. Festzuhalten bleibt, dass Balde mit einem typischen tragischen Chor für die Dauer des Chorliedes den Anschein einer Tragödie erwecken möchte, bevor das bunte Treiben erneut seinen Lauf nimmt. Der dritte Akt führt zunächst in den ersten beiden Szenen eine Geschichte vor Augen, wie eine Verkehrung ins Komische auch positive Folgen haben kann. Der Kaiser Palaeologus leidet an Katarrhen, die nicht aufbrechen wollen. 68 Seine Leibärzte hecken deshalb zusammen mit der Kaiserin Irene ein Komplott aus: Der Kaiser soll bis zur Weißglut gereizt werden, um so die Katarrhe zum Platzen zu bringen. Der Plan gelingt: Die Kammerdiener des Kaisers treiben ihren Herren mit ihrem schlechten Benehmen in die Raserei, die Gesundung erfolgt auf dem Fuß. 69 Nachdem der Kaiser über das Vorgehen in Kenntnis gesetzt 131 1.2. Gattungsmarker: Iocus serius <?page no="132"?> (Akt III, Szene 2, 15v. = Valentin 1972, 433); cf. zu dieser Szene auch Stroh 2008b, 276, der sie treffend als „runde[n] Spaß fürs Kinderherz“ bezeichnet, und Tilg 2012, 457. 70 Lat. Perioche, Epilogus, 7 = Valentin 1972, 423. 71 Erstausgabe (postum) München 1678; zitiert wird nach Op. om. 8, 1-332. Eine (teil‐ weise unvollständige) Übersetzung liegt vor bei Böhm 1889. Zum Tilly cf. das Vor‐ wort von Böhm 1889 (V-XXVII mit Fokus auf Tillys Biographie, XXI-XXVII zum Werk); Knapp 1848, 294-298; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 45-51; Dünnhaupt 1990, 398, Nr. 32 (falsche Datierung auf 1630); Stroh 2004a, 266-270; Stroh 2006b, 214-216; Stroh 2007b und bes. Stroh 2007a. wurde, lobt und belohnt er seine Diener für ihren Scherz. Nach einem kurzen Gespräch zwischen interlocutor und spectator folgen die letzten beiden Szenen, in denen die eingangs versprochene Geschichte vom unfreiwilligen Märtyrer berichtet wird. Der Hofnarr des Kaisers Diocletianus, Genesius Mimus, macht sich über die Christen lustig und äfft sie nach. Er treibt es so weit, sich zum Spaß taufen zu lassen. Hierbei ereilt ihn jedoch die religiöse Erleuchtung. Diocletianus fingiert, zunächst ebenfalls zum Scherz, einen Märtyrerprozess. Als Genesius sich jedoch standhaft weigert, dem Glauben zu widersagen, macht der Kaiser aus Scherz Ernst und lässt Genesius konsequent enthaupten. Der interlocutor beendet das Stück, indem er moralische Schlüsse daraus zieht (ex toto Dramate utilia documenta deducit). 70 Balde gelingt es mit seinem Stück meisterhaft, den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle zu tauchen. Von überdrehten, ausge‐ lassenen Szenen, in denen die Strafe milde oder gar zur Belohnung gerät, wird der Bogen bis hin zu Figuren gespannt, die einen Scherz mit ihrem Leben be‐ zahlen müssen. Durch die bunte Durchmischung kann sich der Zuschauer nie sicher sein, was als Nächstes auf ihn wartet. Der Chor spielt in diesem Stück nur eine untergeordnete Rolle. Sein einziger Auftritt als trauernde Jünglingsgruppe nach dem missglückten Trinkgelage ist ein Spiegel der Gattungsmischung, die Balde im Iocus serius praktiziert: Er ist ein tragisches Element, das in einen Ko‐ mödienkontext verpflanzt wird und so als eine Art Marker für den Tragödien‐ charakter an dieser Stelle fungiert. Den tragischen Chor als typisches Element der Tragödie zu verwenden, bleibt, wie sich zeigen wird, in Baldes Werken kein Einzelfall. 1.3. Ordnende Konstante: Tilly 1687 erscheint postum das Werk Magnus Tillius redivivus sive M. Tillij Pa‐ rentalia, das Balde bereits 1632 verfasst hatte: 71 Anlass ist der Tod des Jo‐ hann von Tilly, der nach der Schlacht bei Rain am Lech seinen Verletzungen erlag. Balde beschreibt, wie er mit seinem Freund Alphonsus Tillys Toten‐ 132 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="133"?> 72 Stroh 2007a, 67. 73 Cf. hierzu Schmidt 1986; Stroh 2007a, 67-68. 74 Cf. Stroh 2004a, 266 mit Anm. 73; Stroh 2006b, 214-215; Stroh 2007b, 76; Stroh 2007a, 69 weist darauf hin, dass wohl vor allem die dichterischen Partien gemeint seien; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 50 nimmt an, dass einige Partien des Werkes sogar aufgeführt wurden; dagegen Stroh 2007a, 75, Anm. 36. 75 6: severa gemendi voluptate; 6: doloris amorisque conflictu, ac variorum affectuum tempestate regios inundant animos vultusque & magnifice plangunt; 39: fruemur tra‐ gicae voluptatis spectaculo; 73: tragica voluptate; 88: tragicam malorum majestatem non sine mixtura voluptatis. 76 Cf. zur Gattungsfrage Stroh 2007a, 69; 75, Anm. 36. 77 Laut Stroh 2006b, 215 habe Balde dem Hexameter den Vorzug vor dem tragischen Trimeter gegeben, um den panegyrischen Charakter zu betonen. bett einen Ehrenbesuch abstattet und so zum folgenden Stück inspiriert wird. Obgleich Balde Tilly wohl nie persönlich getroffen hatte, 72 empfand er tiefe Verehrung für den großen Strategen. Schon im Regnum poetarum von 1628 hatte Balde Tilly aus dem Munde Claudians gehuldigt. 73 Im Tilly wird die Figur des Feldherrn christlich stilisiert, was bereits der Untertitel des Werks Heroibus Christianis Heroem Christianum damus besagt. Balde wählt eine prosimetrische Form. Die Gattung wird im Laufe des Werkes wiederholt als tragisch beschrieben. 74 Balde hebt hier besonders auf das Proprium der Tra‐ gödie ab, Gefallen an schrecklichen Gegenständen und starke Affekte zu er‐ zeugen. 75 Trotz der dramatischen Form ist offensichtlich, dass der Tilly nicht wirklich für eine Aufführung bestimmt, sondern als Lesedrama konzipiert war. Durch die prosimetrische Form mit langen, erzählenden Passagen ist das Werk kaum spielbar. Stroh weist ferner darauf hin, dass die handelnden Per‐ sonen die Regieanweisungen selbst direkt aussprechen, was nur im Kontext eines Lesestückes sinnvoll ist. 76 Auch der wenig stringente Aufbau wider‐ spricht einer Konzeption als echtes Theaterstück. Nach der dedicatio (2-3) folgt zunächst ein argumentum (3-7), in dem der Titel der Parentalia erläu‐ tert wird. Hieran schließt sich eine Erzählung an, in der berichtet wird, wie Balde zusammen mit seinem Freund Alphonsus Tillys Leichnam die letzte Ehre erweist (8-19). Alphonsus händigt Balde ein Gebetbüchlein mit dem Schlachtengebet Tillys aus. Nach dessen Lektüre (19-25) beginnt Balde, das Gebet ausführlich zu kommentieren (25-37). Dabei überkommt ihn jedoch plötzlich der Schlaf (37). Er erlebt eine Traumvision und erfährt die Dichter‐ weihe (37-39). Da Balde nun offiziell zum Dichten befähigt ist, beginnt an dieser Stelle auch der erste hexametrische Abschnitt (38). 77 Zu den beiden Freunden gesellt sich des Weiteren ein niederländischer Verwandter des Al‐ phonsus, Symphorianus. Nach der Vorstellung eines kurzen Kriegstage‐ buchs (40-46) erinnert Alphonsus Balde an dessen Versprechen, eine Tra‐ 133 1.3. Ordnende Konstante: Tilly <?page no="134"?> 78 Stroh 2007a, 70. Zu diesem Chorlied auch Stroh 2004a, 268-270. 79 Cf. S. 130-131. Auch die Formulierung sex atrati bellatores (77) erinnert stark an die Beschreibung des Jünglingschores sex atrati Iuvenes im Iocus serius. 80 Cf. Kapitel A. 4.2.1. 81 Zur Ähnlichkeit der beiden Chorlieder cf. auch Stroh 2004a, 70 und Stroh 2007a, 75, Anm. 58. gödie auf Tilly zu dichten (Alphonsus me commonere coepit temporis promissaeque Tragoediae, 46). Erneut wird die Gattung für den Tilly also ex‐ plizit bestimmt. Es wäre demnach möglich, die vorhergehenden Passagen als Vorspiel zu klassifizieren und erst das Folgende als die angekündigte Tra‐ gödie aufzufassen. Allerdings trifft diese Gattungszuordnung auch für den weiteren Verlauf schwerlich zu. Die drei Gefährten werden vom göttlichen Inspirationshauch durchfahren und in einen Tempel versetzt (48). Die Wände des Tempels sind mit Malereien von Tillys Heldentaten versehen (48-49). Es stellt sich heraus, dass auch Tillys Leichnam in den Tempel versetzt wurde. Doch damit nicht genug: Bojaria, die Personifikation Bayerns, kommt nun ebenfalls hinzu, um den Toten zu beklagen und zu preisen. Es entwickelt sich ein Streit zwischen den Gefährten, ob eher Bojaria oder Austria, die für die Länder stehen, in deren Auftrag Tilly Krieg geführt hat, besseren Grund zur Trauer hätte und deshalb Tillys Schwert als Andenken verdiene (50-62). Um dies zu ermitteln, wird aus dem Briefwechsel der Kontrahentinnen vorge‐ lesen, zunächst Bojarias Brief vom 30. April 1632, in dem diese ihrer Schwester Austria von Tillys Tod berichtet (62-67). Bevor jedoch Austrias Antwortbrief verlesen werden kann, gesellt sich zu der Trauergemeinde Mars, der, zornig über den Verlust des letzten würdigen Kriegers, eine Rede hält (69-73). Allerdings ist der Kriegsgott kein begnadeter Redner: Er ver‐ haspelt und wiederholt sich und droht schließlich lieber mit physischer Ver‐ geltung. Die Zeichnung dieses Charakters trägt eher zur Belustigung als zum Preis auf Tilly bei. Nach dieser Wutrede hält Alphonsus einen prosaischen Panegyricus auf den großen Feldherren (73-76). Hierauf treten sechs schwarzgekleidetete Krieger auf, um das erste Chorlied (78-80) zu singen. Sie tragen ihr Lied in Schreitversmaßen vor, so dass man sich vorstellen kann, wie sie, wie Stroh mutmaßt, 78 im Kreis um den aufgebahrten Tilly herumgehen. Schon im Iocus serius hatte Balde schwarzgekleidete Jüng‐ linge als trauernden Chor auftreten lassen. 79 An dieser Stelle fügt sich der Trau‐ erchor allerdings homogener in den Rahmen der Parentalia ein. Inhaltlich lehnt sich das Lied eng an das erste Chorlied aus Senecas Troerinnen an. 80 Wenn Baldes Chor als Refrain singt: Tillium flemus, kann man nicht umhin, das Hectora flemus der Trojanerinnen im Ohr zu haben. 81 In der ersten Strophe legt der Chor zu‐ 134 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="135"?> 82 Diese Passage erinnert zunächst an das Tragödienthema des armorum iudicium, der Fortgang der Intrige trägt jedoch Baldes eigenwilligen Stempel. 83 Zu diesem Chorlied kurz Stroh 2007a, 70. 84 Cf. Kapitel A. 4.1.4. 85 Cf. Kapitel A. 4.2. nächst die rituellen Handlungen dar, mit denen er dem toten Tilly die letzte Ehre erweist. Die folgenden Strophen behandeln die Vergänglichkeit des menschli‐ chen Lebens: Wenn sich selbst ein Held wie Tilly dieser habe beugen müssen, könne es für niemanden ein Entrinnen geben. Tillys Leichnam wird beklagt und so der Anlass des Stückes noch einmal genannt. Tillys Ableben wird dabei als etwas Unabänderliches und Natürliches beschrieben, seine hervorgehobene Stellung vor allen Menschen wird jedoch betont. Das erste Chorlied bildet somit thematisch eine geeignete Exposition für Tillys Trauerfeier. Es entspinnt sich im folgenden Abschnitt (80-82) ein Gespräch zwischen Balde, Alphonsus und Symphorianus, das die Themen des Liedes kommentie‐ rend vertieft, bis Austria den Tempel betritt und ebenfalls einen Klagegesang anstimmt (83-88). Es folgt ein Dialog zwischen Austria, Bojaria und Mars, die sich über die zukünftige Bestimmung für Tillys Schwert unterhalten und es letztlich Austria zusprechen (94-97). 82 Schließlich wird auch Austrias Antwort‐ brief verlesen (97-101). Der Soldatenchor stimmt erneut ein Chorlied an (102- 105), das sich an Seneca anlehnt. 83 So beginnt Baldes Chor sein Lied mit den Worten: Voto si liceat frui, eine Reminiszenz an das fata si liceat mihi aus dem Chorlied 4a des Oedipus. 84 Baldes Chor reflektiert allerdings weniger über die Macht des fatum, sondern erörtert das Soldatentum als erstrebenswerten Le‐ bensweg. Der Chor legt dar, dass er sich, wenn er frei wählen könnte, ganz dem Kriegsdienst verschreiben würde, da dieser erfolgsversprechender sei als etwa die Anwaltstätigkeit (Voto si liceat frui / optem militiam magis / quam lites humilis fori / Et pacem trepidam sequi, 102). Tilly selbst wird als herausragendes Beispiel angeführt und seine Eigenschaften werden gelobt. Das zweite Chorlied nimmt mit einem Preis des Soldatenlebens Tillys Berufsstand in den Blick und trägt somit dazu bei, das Bild des Feldherrn zu komplettieren. Symphorianus erklärt Alphonsus, dass das fröhliche Lied an dieser Stelle an‐ gemessen sei, denn nur die menschliche Hülle Tillys müsse beklagt werden, sein Wesen aber sei durch ewigen Ruhm unsterblich geworden (TILLIUM verissimo gemitu planxerunt extinctum: quia vero militia ejus lausque bellicis laboribus pa‐ rata non expiravit, non necesse habuit lugeri, sed celebrari: homo enim mortuus, non miles: homo extinctus, non Dux: homo defletur, non TILLIUS, 105). Die Argu‐ mentation erinnert erneut an die in Senecas Troerinnen, wo über den Stellenwert des Todes reflektiert wurde. 85 Nach weiteren, exkursreichen Ausführungen der 135 1.3. Ordnende Konstante: Tilly <?page no="136"?> 86 Stroh 2007a, 71. drei zum Thema Krieg, Soldatentum und Ehre (105-112), die wiederum die Themen des Liedes kommentarartig vertiefen, füllt sich der Tempel mit weiteren göttlichen Landesvertreterinnen (u.a. Gallia, Roma und Alemannia), um Tilly die letzte Ehre zu erweisen. Die Freunde, die Göttinnen und Mars erörtern im Folgenden weitere Aspekte von Tillys Leben und Charakter (112-141). Es schließt sich das dritte Chorlied an, in dem Tilly erneut in einem Wechselgesang zwischen den Kriegern und Alemannia charakterisiert wird (142-248 [Fehlpag.]). Der Chor antwortet auf Fragen der Alemannia zu Tillys Verhalten in verschiedenen Lebenssituationen. Der Fragenkatalog wird durch das eben‐ falls häufig in den senecanischen Chorliedern erörterte Problem der Fallhöhe eingeleitet (Leviora volant, graviora cadunt / Omnia pereunt, nihil est stabile / Et quod miserum est, saepe celerius / Majora ruunt, tumulusque brevis / Bella coercet, 102). Durch das folgende umfassende Bild, das sich vom besungenen Helden ergibt, wird jedoch der Eindruck vermittelt, dass Tilly seine herausra‐ gende Position nicht zu Kopf gestiegen und sein Sturz nicht selbst verschuldet sei. Er habe seine Integrität bis in den Tod gewahrt, der durch rein äußerliche Umstände eingetroffen sei. Das dritte Lied hat also die Aufgabe, Tillys Unfehl‐ barkeit und Erhabenheit über menschliche Fehler zu unterstreichen. Es folgen weitere Kommentare zum Lied sowie Klage- und Preisgesänge der Tempelbesucher, u.a. eine Klage des Mars darüber, dass es nun keine richtigen Heroen mehr gebe (253-260), eine Arie der Austria, in der sie ihre Freude über den Besitz von Tillys Schwert ausdrückt (260-261), und Romas Preislied auf Rom und dessen Anfänge (278-281). Das folgende Chorlied beinhaltet wenig neue Aspekte. Es behandelt das Wesen des wahren Soldaten (284-285). Tilly erscheint durch die vorangegangenen zahlreichen Charakterisierungen als idealtypischer Vertreter des Soldatenstandes. Das vierte Lied stellt somit eine Ergänzung zu den vorhergehenden Chorpassagen dar. Es schließt sich eine Intrige von Mars an, der Austria testen will, ob sie Tillys Schwert wieder abgeben würde (285-316). Stroh weist zurecht darauf hin, dass dieser Teil des Werkes als einziger eine Handlung aufweise und somit noch am ehesten einem Theaterstück ähnele. 86 Die Passage ist vor allem ein Zeugnis für Baldes liebevoll-versponnene Wertschätzung der Sprache selbst: Bojaria zeigt einen Brief von Mars vor, der auf ein Löwen‐ fell geschrieben wurde. Es stellt sich heraus, dass Mars das Schriftstück nicht in klassischem Latein, sondern vielmehr in einem altlateinisch anmu‐ tenden Dialekt, der bereits Züge des später besonders im Drama Georgicum 136 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="137"?> 87 Cf. S. 151. 88 Schon diese noch in klassischem Latein gehaltene Einleitung lässt vermuten, dass Mars kein begnadeter Schriftsteller ist. 89 Ein Abschnitt im altlateinischen Dialekt liest sich beispielsweise folgendermaßen (312): DUELLICUM GLADIUM ANQUISIVIT AUSTRIA. TUTEMET EXPERIRE, NUMNE AMET. NUMNE MUSSET. SI EJUS CUPEDO GRANDESCIT; AUT SI OCULIS IN AMITTUNDO TIMEFACTA FLUENTER UVESCIT: MANIFEST’ ’ST AMASSER. LINQUE ERGO ILLI INDU MANU, NE ME INCILET SURPENTEM. Bojaria übersetzt bzw. interpretiert so (313): Austria quidem bellicum gladium M. TILLII acquisivit, me donante sed explora, an ejus amore tangatur, et reverentia. Si magna cupiditate flagrat possidendi, aut amissura, madidis oculis ubertim fleat, timeatque detri‐ mentum, patefecisse amore scias. quare in manibus ejus relinque. Ne me accuset que‐ rula quasi surripuissem. 90 Stroh 2007a, 72. 91 Cf. den Arion Scaldicus und die Jephtias. 92 Der zusammenfassende Schlusschor ist gerade im Jesuitentheater durchaus üb‐ lich. So verfügt bspw. auch Avancinis Fiducia in deum sive Bethulia liberata über einen solchen. Für Balde cf. bes. in der Jephtias. entwickelten Oskischen trägt, 87 verfasst hat (312-313), um sich mit Bojaria in einer Art Geheimsprache gegen Austria zu verschwören (Scribo tibi stylo veteri, ut si Austria curiosa esset, non intelligeret, 312). 88 Eine richtige Hand‐ lung jedoch kann sich auch aus dieser Idee nicht entwickeln, denn die bo‐ denständige Bojaria liefert der hochtrabenden Austria eine Übersetzung in sauberes Latein, so dass sie den Brief ebenfalls verstehen kann (313). 89 Die Intrige ist so schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Es geht Balde hier of‐ fensichtlich mehr um den Spaß an der Sprachspielerei als darum, tatsäch‐ lich einen Spannungsbogen aufzubauen. In einem letzten Lob der Göttinnen (316-328) wird angedeutet, dass Tilly nach seiner Apotheose in den Himmel in den guten Taten der Menschen auf Erden weiterlebe. Das fünfte Chorlied (329-331) wird wieder von den sechs schwarzgekleideten Kriegern vorge‐ tragen, die schon das erste Lied übernommen hatten. Da es bei Seneca meist nur vier Chorlieder gibt, vermutet Stroh, es könne sich hier um eine nach der griechischen Tragödie modellierte Exodos handeln. 90 Allerdings fällt auf, dass Balde auch in anderen Werken mehr als vier Chorlieder ver‐ wendet. 91 Dies ist auch bei zeitgenössischen Autoren nicht unüblich. Ge‐ rade das letzte Chorlied trägt besonders wichtige Inhalte vor und bündelt die vorangegangene Handlung noch einmal. 92 Dies ist auch beim fünften Lied im Tilly der Fall: Inhaltlich bezieht es sich vor allem auf das dritte Chorlied. Anhand des Phaeton-Mythos wird erneut der Topos der Fallhöhe erläutert. Sodann wird unterstrichen, dass Tilly aufgrund seiner Integrität über jegliche Versuchung erhaben sei. Normale Menschen könnten Tilly nur bedingt nacheifern, da dessen Wirken unerreichbar und sogar gefährlich 137 1.3. Ordnende Konstante: Tilly <?page no="138"?> 93 Stroh 2007a, 72. 94 Stroh 2007a, 69. 95 Cf. hierzu Stroh 2006b, 218; Stroh 2007b, 76 und Stroh 2007a, 73. sei, wenn man selbst nicht Tillys Charakterfestigkeit aufweise. Dies wider‐ spricht nicht der sonst im Stück postulierten Moral, dass die Menschen Tilly in guten christlichen Taten weiterleben lassen sollen. Es wird lediglich be‐ tont, dass man Tilly nicht gleichkommen könne. Ein Nachahmen im Kleinen sei jedoch möglich und wünschenswert. Allerdings müsse man sich dabei seiner eigenen Grenzen bewusst sein, da man, anders als der integre Tilly, größere Gefahr laufe, zu scheitern. Balde schafft mit dem letzten Chorlied eine geschickte Rückanbindung an den Untertitel des Werks. Er betont Tillys christliche Vorbildfunktion, unterstreicht jedoch zugleich, passend zum panegyrischen Charakter des Werkes, die „einsame Größe des Magnus Til‐ lius“. 93 Nach dem fünften Chorlied werden die Beteiligten aus ihrer Entrü‐ ckung zurückversetzt. Die Freunde danken Balde, dass er die Verschriftli‐ chung der Totenfeier auf sich nähme (331). Mit Reflexionen Baldes über das Erlebte (332) endet das Werk. Besieht man diese Inhaltszusammenfassung, die den vielfältigen Wen‐ dungen und detailverliebten Abwegen des Werks kaum gerecht wird, wird deutlich, dass sich ein einheitlicher Zugriff als schwierig erweist. So be‐ zeichnet Stroh den Tilly treffend als „ein Werk von labyrinthischer Verschlungenheit“. 94 Mit dem Tilly legt uns Balde einen kuriosen Feldherrenspiegel vor, in dem der ernste Tonfall immer wieder durch absurde Rahmenbedingungen oder komödiantische Einlagen gebrochen wird. Es fehlt eine stringente Hand‐ lung, die panegyrischen Einlagen sind teilweise redundant. Als ernstgemeinter Lobpreis für Tilly ist dieses Werk ungeeignet. Was hatte Balde mit dem Tilly also bezweckt? Stroh vermutet, es handle sich hier um eine Vorübung für das wohl ursprünglich geplante Epos Tillias, das Balde, vielleicht aufgrund stetig zuneh‐ mender Kriegsmüdigkeit, schließlich nie verfasste. 95 Dass Balde offenbar selbst der Meinung war, das Werk sei in seiner Komplexität nur als Etüde zu gebrau‐ chen, könnte erklären, weshalb er sich nie um eine Veröffentlichung des Tilly bemühte. Interessant bleibt Baldes Gattungsbestimmung des Werks als Tra‐ gödie, obwohl kaum tragische oder dramatische Elemente zu erkennen sind. Die Passagen, die am ehesten an eine Tragödie erinnern, sind die Chorlieder. Als einziges Element scheint der Chor einem durchgängigen Schema zu folgen und weist einen in sich stimmigen Charakter auf. Durch sein regelmä‐ ßiges Auftreten verleiht er dem Werk Struktur und eine formale Ordnung, die 138 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="139"?> 96 Cf. Stroh 2004a, 268: „Der Tilly kommt trotz seines Prosimetrums einer Tragödie nahe und die Chorpartien dienen dazu, Akteinteilungen zu suggerieren.“ zumindest ein Fünf-Akt-Schema suggeriert. 96 Vorbild für Sprache und Stil ist eindeutig Seneca. Die Lieder übernehmen auch inhaltlich eine ähnliche Aufgabe, indem sie wichtige Themen aufgreifen und vertiefen. Von einer Funktion nach dem mise-en-abyme-Konzept lässt sich allerdings nur schwerlich sprechen, da eine chronologische, aufeinander aufbauende, stringente Interpretation des Ge‐ schehens aufgrund der Handlungsarmut des Tilly nicht möglich ist. Die wich‐ tigsten Themen allerdings, die im ganzen Werk immer wieder benannt werden, finden auch Eingang in die Chorlieder. So bestimmt das erste Chorlied mit seinen Klagen den Rahmen der Parentalia für Tilly und erinnert an den Anlass des Stückes. Das zweite Chorlied nimmt mit einem Preis des Soldatenlebens Tillys Berufsstand in den Blick. Das dritte widmet sich eingehender Tillys Charakter, das vierte vertieft die Themen der vorhergehenden Lieder. Das fünfte Lied liefert schließlich eine Art Schlussinterpretation, indem es die Einzigartigkeit von Tillys Charakter unterstreicht und seine Vorbildfunktion für andere Menschen bestimmt. Anders als das übrige Stück werden die Chorlieder im Tilly nicht durch burleske oder unerwartete Elemente durchbrochen. Interessant ist auch, dass die Themen der Lieder im Prosakommentar der Gefährten Baldes noch einmal verstärkt werden. Außerdem ist auffällig, wie Balde die Stilisierung des Feldherrn mittels des Chores auf eine moralisch-christliche Ebene hebt und dort auch den Platz sieht, um über die Eignung einer Person als Leitfigur zu reflek‐ tieren. Diese Rolle wird der Chor später in der Jephtias erneut übernehmen, wenn er den Charakter Jephtes behandelt. Der Chor im Tilly zeigt deutlich, welch hohen Stellenwert die Chorlieder für Balde einnehmen: Sie sind der in‐ tegrale Bestandteil einer Tragödie. Solange der Chor als Leitinstanz prägend ist, kann das Stück ohne klare Regeln funktionieren, um dennoch als tragisch defi‐ niert zu werden. Im Iocus serius war es vorrangig um Belustigung gegangen, weshalb dem Chor dort keine tragende Funktion zugeschrieben wurde. Doch selbst in diesem Kontext hatte der Chor Balde als tragischer Gattungsmarker gedient, um das Genre der Comicotragoedia zu unterstreichen. Im Tilly geht Balde so weit, dass nur der Chor tatsächlich im Tragödiensinne funktioniert, während das restliche Stück als bunte, teilweise komische Gattungsmischung erscheint. Soll die Gattung der Tragödie angezeigt werden, ist für Balde ein strukturierender Chor, der nach senecanischer Manier die Leitthemen des Werks bestimmt, unverzichtbar. 139 1.3. Ordnende Konstante: Tilly <?page no="140"?> 97 Erstausgabe München 1645; zitiert nach Op. om. 6, 194-258. Grundlegend sind die Bei‐ träge von Thill 1980 (wieder abgedruckt in: Thill 1991, 23-41) und Schilling 2002 (beide jedoch mit dem Schwerpunkt auf dem Epinicium divini amoris); ferner Rädle 2006, 139- 143; Stroh 2006b, 227. Einen Abschnitt in ihrer Arbeit zum Tierlobgedicht widmet auch Schnoor 2017, 116-122 Baldes Philomela, der Fokus liegt dabei allerdings nur auf den ersten vier Gedichten. Hinweise auch bei Knapp 1848, 322-323; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 126-128 mit Verweis auf den Brief von Caspar Baerlaus an Balde, in dem er dessen Philomela lobt; Dünnhaupt 1990, 391-392, Nr. 16; Heider 1999, 191-193. 98 Kühlmann 1990, 27. 99 Abdruck des lateinischen Textes z.B. in Diepenbrock 1852, 310-341 (mit deutscher Übersetzung). 100 Zur Autorenfrage cf. Thill 1980, 434-435; Schilling 2002, 377. Informationen zu Peck‐ hams Gedicht zusammengefasst bei Schnoor 2017, 104-106. 101 Zur Motivgeschichte cf. Thill 1980, 433-434 und Schilling 2002, 376-377, bes. zu Verg. georg. 4, 511-515; Schnoor 2017, 85-128 v.a. mit Hinweisen auf Plinius den Älteren (10, 81-85). 1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela Dass der Chor in einem anderen Gattungskontext weitere Funktionen erhalten kann, zeigt Balde in einem Werk, das mit einer Tragödie so gut wie nichts zu tun hat. In der Opera-omnia-Ausgabe findet sich im sechsten Band im Anschluss an die Tragödie Jephtias ein weiteres mit Chören versehenes Stück, das bislang von der Forschung nur wenig beachtet wurde: Die Paraphrasis lyrica in Philo‐ melam (1645). 97 Bei genauerem Besehen wird man jedoch feststellen, dass sich dieses Stück, wie schon Kühlmann in seiner Einleitung zum Nachdruck der Ge‐ samtausgabe feststellt, 98 zu Unrecht unter den Dramatica eingeordnet findet. Mehr als einen der Form nach dialogischen Charakter hat es mit einem Drama nicht gemein. Es handelt sich um eine Adaption des mittelalterlichen Werkes Philomena, 99 für das Balde noch den Heiligen Bonaventura (1221-1274) als Autor annahm. Inzwischen geht man davon aus, dass der Verfasser John Peckham, Erzbischof von Canterbury und Schüler von Bonaventura, gewesen sei. 100 Prot‐ agonistin ist sowohl bei Peckham als auch bei Balde die Seele (Anima), der die Nachtigall ihre Stimme leiht, um ihrer Liebe zu Christus Ausdruck zu geben. Grundlage bildet die Geschichte, die Nachtigall werde, wenn sie ihren Tod nahen fühle, jede Stunde mit steigender Intensität singen, bis ihre Kehle zerreiße. Baldes Entscheidung für das Nachtigallenmotiv überrascht wenig. Die Nach‐ tigall ist in paganer und christlicher Literatur ein prominentes Thema. Man denke an Vergil, Plinius den Älteren, 101 Marie de France oder den berühmten Gedichtzyklus Trutznachtigall des Jesuiten Friedrich von Spee, Inspiration für das bis heute beliebte Weihnachtslied Lieb Nachtigall wach auf (Erstausgabe 140 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="141"?> 102 Zwar erschien der Band erst nach von Spees Tod im Jahre 1649, also nach Baldes Phi‐ lomela, dennoch ist möglich, dass Balde zumindest Teile des Werkes bekannt waren. 103 Hierzu Weiß 2015, 107-111. 104 Heider 1999, 161. 105 Cf. zu den ersten beiden Büchern der Urania victrix die Ausgabe von Claren et al. 2003. 106 Über den Adressaten des Widmungsbriefes wissen wir nicht mehr, als dass Balde ihn zu seinen Freunden zählte (amicis sum gratificatus, 194). 107 Praef. 194. Übers. Verf. Bamberg 1670). 102 Dem Gesang der Nachtigall huldigt Balde schon im Epithala‐ mion (128-163). 103 Der Schwerpunkt liegt dort auf der Variabilität des Nachti‐ gallengesangs, der für alle Stimmungslagen adäquat sei. Dies ist auch für die Philomela von Belang, da Christus sowohl betrauert als auch verehrt werden soll. Ferner ist die Thematisierung der religiösen Liebe ein Motiv, das Baldes Dichtung schon vor der Philomela prägt. So ist das „christliche Liebesfeuer“ 104 in den Oden häufig vertreten und später ebenfalls die christusliebende Seele in der Urania victrix (1663) Protagonistin. 105 Der Aufbau der Philomela orientiert sich auf den ersten Blick an dem Peck‐ hams. Nacheinander werden kurze Abschnitte des mittelalterlichen Gedichtes in der ursprünglichen Reihenfolge der Strophen zitiert, denen mitunter sehr unterschiedliche Paraphrasen folgen. Die Gliederung der Texte ergibt sich hierbei aus den Singstunden der Nachtigall, die mit den Gebetszeiten der ka‐ tholischen Liturgie (Hora prima, tertia, sexta, nona, vesper) gleichgesetzt werden. Trotz des zunächst ähnlichen thematischen Ausgangspunktes wie bei Peckham ist der Begriff ‚Paraphrase‘ für Baldes Werk zu weit gegriffen, denn vieles haben die beiden Versionen nicht gemeinsam. Balde leitet sein Stück mit einem Brief an Stephanus Firmio (194-195) ein. 106 Er habe das mittelalterliche Gedicht in mehrere Blöcke aufgeteilt und zu diesen eigene Bearbeitungen ver‐ fasst. Während die Philomena Peckhams die Form eines mittelalterlichen Reim‐ gedichts, ähnlich den Carmina Burana, aufweist, entscheidet sich Balde für eine metrisch anspruchsvollere Form: 107 Nos universum carmen, in certa membra tribuimus: horum argumento, Boethianis, ut plurimum, metris expresso, quod Horatianis, paulo ante, plus satis indulseramus. Ich habe das ganze Gedicht in einzelne Abschnitte aufgeteilt. Deren Inhalt habe ich zumeist mit Metren des Boethius ausgedrückt, da ich mich kurz vorher den horazi‐ schen Metren mehr als genug gewidmet hatte. 141 1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela <?page no="142"?> 108 Zu Peckhams und Baldes Metren cf. Thill 1980, 436-437; kurz auch Rädle 2006, 141- 142. 109 Praef. 194. Übers. Verf. 110 Zur Titelfrage cf. auch Thill 1980, 432-433 und Heider 1999, 191. 111 In seiner Jephtias allerdings rekurriert er auf diese Methode mit der Benennung seiner Protagonistin Menulema, cf. ausführlicher S. 171-173. Balde möchte sich, nachdem er mit seinen Oden die horazischen Metren zu Genüge bearbeitet hat, nun mit Boethius einer neuen Herausforderung stellen. 108 Balde geht auch auf die Frage des Titels ein: 109 Oden suam S.D. Philomenam, hoc est, Dilectam inscripsit. Nisi cognatione nominum ex composito lusit: crediderit latentem in affini vocabulo Philomelam facile depre‐ hendi posse. Sein Gedicht nennt der Heilige Bonaventura Philomena, das heißt die Geliebte. Wenn er nicht explizit auf die Ähnlichkeit der Begriffe angespielt hat, so glaubte er wohl, dass man das in dem ähnlichen Wort schlummernde Philomela leicht erkennen könne. Es handle sich bei Bonaventura (bzw. Peckham) um ein Wortspiel mit den ver‐ wandten Begriffen Philomela und Philomena. 110 Dieses sei so leicht zu durch‐ schauen, dass Bonaventura sich nicht die Mühe gemacht habe, es genauer zu erläutern. Die Nachtigall (Philomela) verleihe der von Gott geliebten Seele (Phi‐ lomena = Dilecta) ihre Stimme, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Allegorie der Nachtigall und der Seele wird bei Peckham durch den Titel zur Sprache gebracht. Balde entscheidet sich in seinem Werk gegen die explizite Auflösung des Bildes durch den Namen. 111 An den Einleitungsbrief schließt sich zum Auftakt des Stückes eine Marienode an (195). Danach erfolgt in 29 Kapiteln die eigentliche Paraphrase des Peckham-Gedichtes. Die ersten 27 Stücke (196-249) sind dabei auf drei Sprech‐ instanzen aufgeteilt: Anima, die mit der Stimme der Nachtigall Christus besingt, Auctor, der die Anima zum Singen auffordert, und ein Chor. Nach den einlei‐ tenden Stücken (I-VI, 196-202), in denen die Anima zum Singen aufgefordert und ihr die Stimme der Nachtigall verliehen wird, wird der Inhalt der folgenden Kapitel festgelegt (VII, 202-203): In allen Stücken besingt die Seele in Art der Christusminne des Hohelieds ihre Liebe zu Christus. Außerdem wird in Wech‐ selgesängen und Einzelarien die Heilsgeschichte thematisiert: Die Schöpfung (VIII-X, 203-208), die Geburt Jesu (XI-XIV, 208-214), die mühevollen Aufgaben Christi (XV, 214-215), seine Wundertaten (XVI, 216-217) und seine Lehren (XVII, 218-219). Schließlich bittet sie darum, die Mysterien der Passion schauen zu dürfen (XVIII, 220-222). Die folgenden Stücke (XIX-XXII, 222-228) be‐ schreiben die Trauer der Anima und ihre Liebe zum leidenden Christus. Durch 142 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="143"?> 112 Zum Pervigilium Veneris cf. die kommentierte Neuedition von Barton 2018, bes. das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte (48-61); zu Baldes Epinicium 55-56. Das Epinicium divini amoris ist der am häufigsten behandelte Abschnitt der Philomela, cf. hierzu Baumgartner 1925, 654-655 (deutsche Übersetzung); Thill 1980, bes. 438-448; Schilling 2002. 113 Thill 1980, 440; 443-444; Schilling 2002, 376. 114 Zu Einflüssen durch Vergil und Catull cf. Thill 1980, 439-444. 115 Thill 1980, 432. 116 Thill 1980, 435. 117 Baumgartner 1925, 644. die Kontemplation des Sterbenden am Kreuz gerät die Seele schließlich in eine religiöse Verzückung, die sie die imitiatio Christi und den eigenen Tod ersehnen lässt (XXIII, 228-229). Nach einer weiteren Beteuerung ihrer Liebe und einer Klage über den Undank der Menschen (XXIV, 229-231) erfolgt eine ausführliche Beschreibung der Passion durch den Chor (XXV, 231-241). Schließlich wird die Anima zum Kreuz gerufen (XXVI, 241-242), um sich mit Christus im ewigen Leben zu vereinen. Es folgt ein Dithyrambus, der noch einmal die Liebe der Seele zu Christus preist (XXVII, 242-248). Das Stück gipfelt nach diesen lyrischen Gesängen von Auctor, Anima und Chor im Epinicium divini amoris (XVIII, 249-250), einer Paraphrase des spätan‐ tiken Pervigilium Veneris. 112 Bei Balde geht es jedoch nicht um die Verherrlichung des Frühlings und der Liebesgöttin, sondern um einen Preisgesang für die Seele, die endlich in den Himmel eingehen und sich mit Christus vereinigen kann. So hat die Passage den Charakter eines Epithalamium. 113 Inhaltlich ist der Bezug auf das Pervigilium Veneris so zu erklären, dass in dessen beiden letzten Strophen ebenfalls der Mythos von Procne und Philomela und damit die Nachtigall the‐ matisiert wird. Die Heranziehung dieser weiteren Vorlage wirkt sich deutlich auf die äußere Form und den Sprachstil aus, der in seiner antikisierend-paganen Ausformung vom Rest der Philomela verschieden ist. 114 Auch das letzte Stück des Zyklus stellt einen Genrebruch dar: Balde ersetzt Peckhams Epilog mit einer Art christlichem Heroidenbrief der in den Himmel aufgefahrenen Philomela an ihre auf Erden verbliebene Schwester Procne (XXIX, 251-258). In Baldes Philomela fließen somit mittelalterliche Tradition, pagane antike Lyrik, Mariendichtung sowie Einflüsse von Hohelied und Psalmendichtung in‐ einander. Durch die Disparatheit der einzelnen Partien entzieht sich das 1600 Verse lange Stück trotz der inhaltlichen Rahmung durch die Vorlage einem klaren hermeneutischen Zugriff. Thill definiert das Werk als „transition entre le lyrisme et l’élégie, entre les Odes ou les Sylves et l’Urania victrix“ 115 und kon‐ statiert schließlich lediglich: „un grand souffle mystique la traverse“. 116 Auch Baumgartners Definition als „liturgische Poesie“ 117 wirkt eher wie eine behelfs‐ 143 1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela <?page no="144"?> 118 Oswald 2006. Cf. ferner auch Thill 1980, 434-435. 119 Detaillierte Beschreibung des Ablaufs bei Oswald 2006, bes. 347-349. 120 Oswald 2006, 347. 121 Oswald 2006, 349. 122 Oswald 2006, 352-353; zur Ode Schäfer 1976, 195-203; Stroh 2004c. 123 Oswald 2006, 354-355; zur Ode Schäfer 2002. mäßige Festlegung. Das Thema, die Liebe zu Christus, scheint als roter Faden nicht auszureichen, um die unterschiedlichen Genres zu einem homogenen Werk zusammenzubinden. Doch war offenbar genau dies Baldes Kompositionsprinzip bei der Abfassung der Philomela: Eine wichtige Inspirationsquelle hierfür ist die jesuitische Medi‐ tationslyrik nach den Vorgaben des Ordensvaters Ignatius von Loyola, deren Inhalte und Zielsetzungen sowie den Einfluss auf Balde Oswald grundlegend dargelegt hat. 118 Diese Exercitia spiritualia waren fest in der jesuitischen Aus‐ bildung und im späteren Ordensleben verankert. 119 Ziel war, durch Meditation „den Willen Gottes für den eigenen Lebensweg zu erkennen.“ 120 Diese Medita‐ tion verlief im Stillen, der Exerzitant trat dabei jedoch in ein inneres Gespräch mit den Heiligen und Gott, das zur reinigenden Erkenntnis führen sollte. Diese Reinigung erfolgt auch über das bewusste Auslösen von Affekten, deren Kul‐ mination in der befreienden Trauer die Erlösung bringt. Neben dem dialogischen Charakter der Exerzitien ist die Methode der Kontemplation von Bedeutung: Betrachtet wurde das Leben Jesu als Exemplum, insbesondere die Passion und der „Leidensweg Jesu, um seine Bereitschaft zur Nachfolge des gekreuzigten Herrn zu überprüfen.“ 121 Oswald weist daraufhin, dass Balde generell nicht ab‐ geneigt war, diese Exerzitientradition in sein literarisches Schaffen zu inte‐ grieren: So fordere seine Ode Abdolonymus (Lyr. 1, 1) dazu auf, geistliche Übungen zu betreiben und sich in die Stille des eigenen Inneren zurückzu‐ ziehen. 122 Auch in Sylv. 8, 10 zeige sich Balde als Exerzitienbegleiter. 123 Doch besonders die Philomela erklärt sich vor dem Hintergrund dieser Meditations‐ übungen: Die Seele, die in das Zwiegespräch mit Gott tritt und über das Leben und Sterben des Herrn reflektiert, dadurch von Liebe zu Christus entbrennt, um schließlich in Vereinigung mit ihm Erlösung zu erlangen, ist eine ausführliche poetische Ausarbeitung der Exerzitien. Allerdings kommt zu dieser Bestrebung, eine jesuitische Tradition in eine eigene literarische Form zu gießen, noch eine weitere Motivation hinzu. Stroh weist darauf hin, Balde habe am Anfang seines (vorerst) letzten Sil‐ venbuches angekündigt, zur ovidischen Elegie, gerichtet an Maria, übergehen zu wollen (Sylv. 7, 1, 1-4: Tempus erit, quo te, NASONEM, FLACCE, relicto / cultris et exsectum sequar) und folgerichtig steht am Schluss des Buches der berühmte 144 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="145"?> 124 Stroh 2006b, 226; ferner Heider 1999, 72-73. Freilich ist die Lossagung von der Gattung nicht sehr konsequent durchgehalten, denn Balde veröffentlichte 1646 noch zwei wei‐ tere Silvenbücher. 125 Stroh 2006b, 227. 126 Cf. Kapitel B. 1.1.6. 127 Praef. 194. Übers. Verf. Kupferstich mit dem Untertitel cantatum satis est, frangite barbita. 124 Doch da es zur angekündigten Dichtung nie gekommen sei, wirke die Philomela vielmehr „wie eine Art Ersatz für die von Balde geplante elegische Mariendichtung.“ 125 Zu dieser Annahme würde sowohl die einleitende Marienode als auch der elegische Briefschluss passen. Ferner ist das Experimentieren mit verschiedenen Gat‐ tungen als solches eine Methode, die Baldes Werke durchweg charakterisiert. Dies war bereits im Iocus serius und im Tilly deutlich geworden und wird sich auch im Arion Scaldicus zeigen. 126 Balde scheint nach der Beendigung seines lyrischen Werks auf der Suche nach einer neuen Gattung zu sein, möchte sich jedoch zugleich von der vorhergehenden noch nicht lossagen. So entsteht mit der Philomela ein Werk, das es ermöglicht, Lyrik in einen größeren Kontext einzubinden, mit neuen Formen zu kombinieren und dabei vom paganen in einen christlichen, ja sogar traditionell-jesuitischen Rahmen zu überführen. Hierfür bietet sich auch die Wahl der boethischen Metren besonders an: Balde kann so weiter in lyrischen Maßen schreiben, bedient sich jedoch des Hand‐ werkszeugs eines christlichen Autors statt des paganen Horaz. Die Philomela ist eine eigenwillige Mischung von Antikenverehrung und religiösem Sehnen und damit ein Produkt seiner literarischen Experimentierfreude. Balde schreibt in der Einleitung selbst, dass ihn sein dichterischer Elan zu einer ausufernden Paraphrase des mittelalterlichen Gedichts getrieben habe. Dies gelte besonders für die Chorpartien: 127 Paraphrasis nostra modo pari passu cum S. Doctore incedit: modo largius exundat, sententiam duntaxat secuta, impetu ulterius rapta. Praesertim in Choris: quos affec‐ tibus Animae, in divina mysteria suspensae permittere placuit. Meine Version hält manchmal mit der des Heiligen Bonaventura Schritt, manchmal greift sie weiter aus, wobei sie zwar dem Inhalt folgt, aber durch meine Inspiration ausführlicher ausgestaltet wurde. Besonders gilt das für die Chorpartien: Sie wollte ich der Anima, die die Mysterien Gottes schaut, zum Ausdruck ihrer Gefühle zur Seite stellen. Die Philomela ist mit zahlreichen Chorpartien versehen. Diese treten jedoch erst ab Stück XIX (222), also nach ungefähr der Hälfte des Werkes hinzu. Hatte in der ersten Hälfte des Stückes der Wechselgesang ausschließlich zwischen dem 145 1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela <?page no="146"?> 128 Cf. auch eine ähnliche Verwendung im Regnum poetarum S. 124 mit Anm. 42. 129 Cf. Kapitel A. 4.2.1. Auctor und der Anima bzw. der Philomela als ihrer Personifikation stattgefunden, tritt nun der Chorus als weitere Sprechinstanz ein. Auffällig dabei ist, dass die zweite Hälfte beinahe ausschließlich aus Chören besteht. Die Figur des Auctor tritt nicht mehr auf, sie ist durch den Chor ersetzt worden. Da der Auctor vor allem die Funktion hatte, die Seele zum Singen zu animieren, ist sein Wegfall nicht erstaunlich. Der Aufforderung wurde schließlich bereits Folge geleistet. Stattdessen entscheidet sich Balde dafür, nun den Chor sprechen zu lassen. Bei diesem handelt es sich offensichtlich nicht um einen dramatischen Chor. Aller‐ dings ist der Zeitpunkt, ab dem Balde den Chor einsetzt, äußerst aussagekräftig: Ab Stück XIX wechselt der Tonfall deutlich vom Freudigen (Schöpfung, Geburt, Wunder) zum Tragischen (intensive Thematisierung der Passion). Der Chor fungiert also erneut als eine Art Gattungsmarker, der anzeigt, dass tragische Inhalte zur Sprache kommen. Hiermit geht auch die senecanische Verwendung von Anapästen für traurige Inhalte einher. 128 Allerdings verwendet Balde die Chorpassagen der Philomela nicht im Sinne des mise-en-abyme-Konzeptes. Viel‐ mehr ist der Chor ein Medium, um Gefühle zu transportieren, und fungiert somit, wie von Balde im Vorwort gefordert, als affektives Mittel. Schon der Um‐ stand, dass Balde den Chor erst so spät auftreten lässt, ist ein deutliches Indiz dafür, dass hier eine emotionale Steigerung erreicht werden soll. Somit ist der Tonfall der einzelnen Chorarien - als Chorlieder im klassischen Sinne sind sie nicht zu bezeichnen - äußerst gefühlvoll: Sie sind geprägt von Wiederholungen, Apostrophen und rhetorischen Fragen. Der erste Chor (XIX, 222-223) beklagt Christi Tod am Kreuz: Tristis, nimium tristis imago / En: virginei velleris Agnus / Animam mitem laniatus agit. Interessant ist die Frage der Spre‐ cherinstanz: Wenn der Chor ausruft: Meus ille, meus moritur SPONSUS (223), stellt sich die Frage, weshalb an dieser Stelle die erste Person Singular gewählt wird. Anders als im ersten Chorlied der Troades, 129 in dem der personal als Troe‐ rinnen aufzufassende Chor die erste Person Plural verwendete (Hectora flemus), um Hecuba in ihrer Trauer beizustehen, verbleibt die Sprecherinstanz hier in der Einzahl. Noch auffälliger ist der Vers Me me miseram! (222), wo sogar die feminine Form verwendet wird. Die Seele ringt also gleichsam mit sich selbst: Der Chor ist hier offensichtlich weniger personell als eigenständiger Teilnehmer am Geschehen aufzufassen, sondern verstärkt die Anima in ihrer Klage, um ihren Gesang inbrünstiger werden zu lassen. Auch die folgenden Chorpassagen bleiben emotional aufgeladen: Christus wird angesprochen und sein Tod beklagt (XXII, 226-228). Wie in den Meditationen üblich, beschuldigt der Chor auch sich 146 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="147"?> selbst, da er in seiner Unwürdigkeit weiterlebe, während Christus sterben müsse (Ego vilis, inops, rea furtorum / Dignaque laqueo. Tu deprensae / Aliena volens delicta luis / Ego mortalis, sed tu moreris, 226-227). Dass die Anima im nächsten Stück (XXIII, 228-229) den Entschluss fasst, Christus nachzueifern und ebenfalls sterben zu wollen, erscheint somit als logische Konsequenz aus der Reflexion des Chores. Stück XXIV (229-231) preist die Dankbarkeit und Liebe der Seele zu Christus und beschreibt erneut ihren unermesslichen Schmerz. Die Erlösung wird somit umso dringlicher herbeigesehnt. Außerdem wird der Undank der restlichen Menschen angeprangert. In Stück XXV (231-241) verändert Balde seine Methode in der Chorverwendung: Es handelt sich nicht mehr um einen Chor, der die Gefühle der Anima intensiviert, sondern um zwei verschiedene Chöre, die die Passion Christi erörtern. Chor I bleibt dabei allgemeiner und klagt in antikisierenden Versen über die Undankbarkeit der Menschen. Chor II ist hingegen dem christlichen Kontext verhaftet. Er präsentiert den Katalog der Leidenswerkzeuge, so z.B. die Dornenkrone und das Waschbecken des Pilatus, und kommentiert sie in einem kurzen Klagegesang (234-240). Balde weist im Übertitel zur Passage darauf hin, dass er hier bewusst von der Vorlage abweiche, da es ihm sinnvoller erscheine, alle Passionsgegenstände an einer einzigen Stelle aufzuzählen, um die emotionale Erschütterung zu verstärken (Chorus II. Cum armis & instrumentis Dominicae Passionis. Quae S. Bonventura, toto hoc Opusculo, sparsim Philomelae suae ingerit: Auctor, hoc loco, in unius collecta faciem scena, utpote Lectoris affectibus ciendis magis idoneae proponenda putavit, 234). Auffällig ist, dass diese lange Chorpassage weniger Wert auf die Affekterregung zu legen scheint und sich damit von Baldes ursprünglich benannter Funktion des Chores entfernt. Es werden kaum Gefühle thematisiert, sondern die Emotionen sollen durch das Betrachten der vorgezeigten und beschriebenen Gegenstände her‐ vorgerufen werden. Nach der Präsentation der Leidenswerkzeuge richten sich die beiden Chöre in einem echten Zwiegespräch an alle Christen (240-241). Es wird erörtert, das Gott den Menschen trotz seiner Zurückweisung liebt und er‐ löst (Cho. I: Homo dilectus sprevit Amantem / Tenuis res est, et vilis, Amor. Cho. II: Amor ingratum coget amare / Dulcis vis est, et suavis, Amor, 240). Der Chor repräsentiert hier zwei widerstreitende Parteien, die durch ein Streitgespräch eine Fragestellung erörtern. Dieses ist stark rhetorisiert und erinnert mit seinem knappen Pointenabtausch mehr an eine theologische Disputation als an einen Meditationstext. Es geht Balde jedoch nicht darum, eine Vorlage für eine tat‐ sächlich, etwa in einer Rhetorikklasse, abzuhaltende Diskussion zu liefern, son‐ dern er versinnbildlicht in dem zweigeteilten Chor die Möglichkeit, einen in‐ neren Konflikt mit rhetorischen Mitteln auszutragen, um zu einer für sich selbst annehmbaren Lösung zu kommen. Ebenfalls zweigeteilt ist der Chor im fol‐ 147 1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela <?page no="148"?> 130 Hinweise zu diesem Dithyrambus bei Heider 1999, 192-193. 131 Heider 1999, 147-182, bes. 148-152 und 183-197 zur Geschichte des Dithyrambus bei Balde allgemein. Ferner Schäfer 1976, 178-195. 132 Cf. hierzu Heider 1999, 148. 133 Heider 1999, 190. 134 Heider 1999, 193. 135 Heider 1999, 192, Anm. 204. genden Stück (XVI, 241-242). Hier schließen sich die beiden Chöre letztlich in der Aufgabe zusammen, die Anima zum Kreuz zu rufen (Cho. II: Citius, citius PHILOMELA voles / Ad stillantis vulnera J E S U , 242). Es folgt erneut ein Chorgesang in Form eines Dithyrambus über die Raserei der Liebe (XVII, 242-248). 130 Der antike griechische Wechselgesang zwischen Chor und Vorsänger wird bei Balde zum Dialog zwischen Anima und Chor. Heider weist darauf hin, dass Balde einen Dithyrambus in christlichem Gewand schon in der Parthenia (1643) verwendet hatte. 131 In diesem an Maria gerichteten Gedicht war ebenfalls der Auctor als Sprecher durch den Chor ersetzt worden. 132 Heider unterstreicht, dass Balde in der Parthenia das erste Mal „den Schritt vom Polymetrum zum christlichen Gesang“ 133 vollziehe. Balde mache somit Ge‐ brauch „von dieser mystisch exaltierten Besessenheit, in der das antik Dionysi‐ sche und spätmittelalterliche Mystik sich zu neuer Einheit verbinden und zum Inbegriff des christlichen Dithyrambus kumulieren.“ 134 Der Dithyrambus in der Philomela stellt insofern eine Steigerung dar, als er sich nun nicht mehr an Maria, sondern an Jesus Christus selbst richtet. Heider bemerkt weiterhin, nur das po‐ lymetrische Lied der Anima (243) sei als echter Dithyrambus zu bezeichnen, während der restliche Chor „als Einleitung und poetologische Grundlegung des eigentlichen DITHYRAMBUS fungiert.“ 135 Nun ist aber gerade der Wechselge‐ sang das Charakteristikum, das die gesamten Chorpartien in der Philomela aus‐ zeichnet. Erklärbar wird dies, wenn man die Philomela als nicht-dramatisch auffasst und somit den Chor von jeglicher dramatischen Funktion löst. Eine Rolle wie in den Senecatragödien als verdichtende Erklärinstanz muss er nicht erfüllen, da es keine dramatische Handlung gibt, die erläutert werden müsste. Anders als im Tilly soll der Chor hier auch nicht mehr den Anschein einer Tra‐ gödie erwecken. Vielmehr fungiert er, wie von Balde im Vorwort angekündigt, als emotionales Verstärkungsmoment. Seine Rolle ist gleichsam eine liturgische: Wie im Gottesdienst zunächst der Priester oder ein Vorsänger einzelne Rezita‐ tive alleine vorträgt und dann die Gemeinde zur Intensivierung miteinstimmt und in Varianten das Gesagte wiederholt, so antwortet hier der Chor auf die 148 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="149"?> 136 Für die Melodramatica der Jephtias wurde von Tschulik 1977 aufgezeigt, dass Balde für seine Melodien auf zeitgenössisches Kirchenliedgut zurückgreift (Cf. S. 210, Anm. 299). Gut mög‐ lich wäre, dass er für die Philomela ebenfalls gängige Rezitativmelodien im Ohr hatte. 137 Erstausgabe München 1647; zitiert nach Op. om. 8, 337-432. Informationen zum Werk bei Knapp 1848, 323-325; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 164-173; Schäfer 1976, 131-135; Schäfer 1987, 255; Leonhardt 1987; Dünnhaupt 1990, 392, Nr. 17; Stroh 2004a, 244; Stroh 2006b, 228-230; Kagerer 2014, 534-536. 138 Zum Ulmer Waffenstillstand z.B. Westermayer 1868 (Nd. 1998), 165-167; Steinberger 1906, 217-106; Schäfer 1987, 255; Valentin 2001, 551-552; Kagerer 2014, 532-533. Gesänge der Anima. 136 Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Chor teil‐ weise aus derselben Perspektive spricht wie die Anima. Das Ich wird gleichsam aufgespalten in ein multiples Ich, welches von denselben Gedanken und Ge‐ fühlen bewegt wird wie das Individuum. Dieses multiple Ich ist zudem in der Lage, Konflikte auszutragen und widerstreitende Ideen im Dialog mit sich selbst zu erörtern. Der Kerngedanke bei den Chorpartien der Philomela ist also das Bestreben, der einzelnen Seele eine kraftvollere, differenziertere Stimme zu geben. Balde spielt hierfür mit den Facetten, die der Chor ihm bietet: Er lässt ihn aus Sicht der Anima sprechen, er inszeniert einen Wechselgesang mit ihr oder teilt ihn in mehrere Gruppen auf, die ein bestimmtes Thema diskutieren. Balde sieht den Chor offenkundig als weniger fest definiertes Gebilde an als Seneca, sondern als offenen Raum, der je nach Gattungskontext mit verschiedenen Funktionen gefüllt werden kann. 1.5. Ohne Chor: Drama Georgicum Umso interessanter ist es, dass der Chor im Drama Georgicum, 137 das zumin‐ dest dem Titel nach den Ansprüchen eines Theaterstückes gerecht werden sollte, einfach wegfällt. Trotz des fehlenden Chores ist es nötig, das Werk kurz zu behandeln, da gerade das Weglassen der Chorlieder Schlüsse über Baldes Verständnis des Chores zulässt. Es zeigt sich schnell, dass es sich auch hier nicht um ein dramatisches Werk im klassischen Sinne handelt. Balde behandelt im Drama Georgicum den Ulmer Waffenstillstand von 1647. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges war die Lage für Kurfürst Maximilian prekär: Um den starken katholischen Verbündeten zu schwächen, verwüs‐ teten schwedische und französische Truppen systematisch das bayerische Gebiet. 1647 ging Maximilian schließlich einen inoffiziellen Friedensvertrag zwischen Bayern auf der einen Seite und Schweden und Frankreich auf der anderen Seite ein. 138 Dieser sogenannte Ulmer Waffenstillstand war jedoch nur von kurzer Dauer und hatte auf den weiteren Kriegsverlauf wenig Ein‐ 149 1.5. Ohne Chor: Drama Georgicum <?page no="150"?> 139 Balde war von 1640-1648 als Historiograph an Maximilians Hof beschäftigt. Aller‐ dings war sein Verhältnis zu diesem Amt äußerst zwiespältig, cf. hierzu Breuer 2006; Kagerer 2010, 55-58; Kagerer 2014, bes. 97-133. 140 Zuletzt vertreten in Breuer 2006, 44. Auch Leonhardt 1987, 475; Schäfer 1987, 255 und Schäfer 2006, 67 gehen von einer Auftragsarbeit durch Maximilian aus. Va‐ lentin 1978b, 2, 775-776 nimmt wie Westermayer 1868 (Nd. 1998), 160 an: „le Drama Georgicum […] avait pour but déclaré de soutenir publiquement l’armistice d’Ulm“. 141 Zu Baldes Wahl der Themen cf. Kagerer 2014, 100-103; ferner 123-133 zur nega‐ tiven Sichtweise Baldes auf historiographische Auftragsarbeiten. 142 Cf. Kagerer 2014, 533-534 mit Hinweis auf den zweimal (346, 356) im Drama Geor‐ gicum genannten Gesandten Marsilly de Croissy, einen Vertrauten von Claude de Mesmes, als möglichen Initiator, und auf Baldes Aussage, er selbst habe das Thema bearbeiten wollen (semet ipsam irritans cupiditas, 346). Dies widerspricht Breuers These einer widerwilligen Übernahme des Auftrags durch Balde (Breuer 2006, 44; ähnlich Westermayer 1868 (Nd. 1998), 168). In diese Richtung auch Stroh 2006b, 228: „kein eigentliches Auftragswerk, auch wenn es von den Franzosen gewünscht und dem Kurfürsten nicht unrecht war.“ Gegen Breuers These auch Stroh 2017, bes. 237 mit Anm. 69 und 250-251. Steinberger 1906, 95-96 nimmt zwar Claude de Mesmes als Initiator an, geht jedoch ebenfalls davon aus, dass Balde diesen Auftrag nur ungern übernommen habe. 143 Zum Verhältnis zwischen Balde und Claude de Mesmes cf. Westermayer 1868 (Nd. 1998), 174-180; Steinberger 1906, 48-49; Beitinger 1968, 42-46; Schäfer 1976, 130-133; Lestringant 1986, bes. 104 zur Widmung im Drama Georgicum; Burkard 2010; sowie Stroh 2017 mit zahlreichen Textbelegen aus dem Briefwechsel und Erwähnungen in Baldes Werken. Stroh stellt den Thesen von Franck und Burkard einer politisch moti‐ fluss. Dennoch sah sich Maximilian zunächst als Friedensbringer. Weshalb sich Balde für den Ulmer Waffenstillstand als Thema entschied, ist nicht zweifelsfrei zu klären. Breuer vermutet, dass Maximilian Balde, der damals das Amt als dessen Hofhistoriograph innehatte, 139 damit beauftragte, den Vertrag zu preisen. 140 Allerdings gibt es für diese Annahme keinen direkten Beleg und da Balde sonst in der Themenwahl relativ frei war, wäre dies eine auffällige Ausnahme gewesen. 141 Am wahrscheinlichsten erscheint die These von Kagerer, dass Balde die Anregung zum Thema von anderer, nämlich französischer Seite bekam, Maximilian aber durchaus mit der Wahl einver‐ standen war. 142 Für eine Auftragsarbeit ist Baldes Behandlung des Ulmer Waffenstillstandes schließlich auch zu ungewöhnlich. Das Werk besteht aus verschiedenen Partien, die erst in der Gesamtschau miteinander verbunden sind. Zunächst erfolgt ein Widmungsbrief (338-346) an den Gesandten Claude de Mesmes, Comte d’Avaux, mit dem Balde zahlreiche freundschaftliche Briefe wechselte und dem er sein neuntes Silvenbuch ge‐ widmet hatte. Schon im Titel des Werkes wird das Drama Georgicum de Mesmes zugeeignet. 143 Dies ist auffällig, wäre es doch gebührend gewesen, Baldes Brot‐ geber Maximilian anzusprechen. Doch es wird noch erstaunlicher: Was folgt, ist 150 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="151"?> vierten Verbindung die Annahme einer aus der Liebe zur Literatur geborenen Freund‐ schaft entgegen. 144 Leonhardt 1987 sieht das Stück in der Tradition der fabula Atellana, da diese ebenfalls aus dem Oskischen stamme. Balde verweist zwar selbst auf diese Gattung (349), sein Drama hat aber auch mit einer Atellane kaum etwas gemein. 145 Balde hebt vor allem die Sprachkunst des Ennius hervor, der als natürlichster Vertreter des Oskischen gelte (347-348). Auch im Solatium Podagricorum (1661) fügt Balde ein oskisches Gedicht nach Art des Ennius ein (Op. om. 4, LXI, 91-92) und gibt einen Index nominum et verborum zur Übersetzungshilfe bei (114-117). Zum Oskischen bei Balde cf. Faller 2005, 277-281 mit Hinweisen auf mögliche Quellen und die Verwendung des Oskischen in De Eclipsi solari und im Poema de vanitate mundi, 280-281 zum Drama Georgicum. Generell liegt im Barock die Beschäftigung mit dem Oskischen im Trend. Zu weiteren zeitgenössischen Sprachtrakten cf. Leonhardt 1987, 477 mit Anm. 7. 146 Gemeint sind wohl das Poema de vanitate mundi (1638) und der Ehrenpreis (1638). Zu Wertungen Baldes muttersprachlicher Dichtungen cf. kurz Kagerer 2014, 663-664. 147 Westermayer 1868 (Nd. 1998), 171 sieht in der Inschrift „klar genug prophetische Mah‐ nungen an die Deutschen zu einmüthigem Handeln hervortreten.“ Winkler (unveröfftl. Vortrag 2018) hat einige Elemente der Inschrift identifizieren können: So handle es sich um eine Prophetie des Gottes Dubenus (altlat. für Dominus), der meddix bicolos, also mitnichten ein Preis des Ulmer Waffenstillstands, sondern ein ausführlicher Sprachtraktat über das Oskische, bzw. über das, was Balde darunter versteht (347-350). Balde entwickelt eine pseudosprachwissenschaftliche Theorie über einen erfundenen Kunstdialekt, den er als oskisch betitelt. 144 Hierfür greift er auf verschiedene altlateinische Quellen zurück und suggeriert, aus diesen das echte Oskisch rekonstruiert zu haben. 145 Diese theoretische linguistische Ab‐ handlung bildet im Folgenden die Grundlage für eine praktische Umsetzung. Bevor das eigentliche Drama beginnt, erfolgen zunächst einige Prolusiones in Form von fünf lyrischen Dialogen zwischen dem Autor und der Muse Thalia (351-360). Im ersten Dialog wird Balde für seine Versuche gescholten, in der Muttersprache Deutsch zu dichten, und muss sich entschuldigen (351-353). 146 Der Dichter gelobt Besserung und berichtet der Muse im zweiten Dialog von seinem Verlangen, eine alte Dichterquelle, die Hipp-Osco-Crene, aufzusuchen (353-354). Nach einigen Unterhaltungen über das genaue Wesen dieser Quelle (Dialoge drei, vier und fünf, 354-360) wird Balde schließlich in einen Zauber‐ wald entrückt. Dort findet er die ersehnte Quelle (360-365), und entdeckt einen Stein, der mit einer rätselhaften Inschrift versehen ist (mysticis plenum charac‐ teribus saxum, 360). Balde gibt dem Leser mit diesem Stein ein Enigma auf. In der Appendix zum Stück (412-418) ist die komplette kryptische Inschrift des Steins abgedruckt, ein Hinweis zur Entschlüsselung fehlt jedoch. Er behauptet, diese aus religiöser Scheu nicht verraten zu wollen. Die Enträtselung der In‐ schrift bleibt dem Leser selbst überlassen. 147 Balde erörtert, welche Dichter be‐ reits aus der Quelle getrunken hätten. Ganz im Sinne des für sich sprechenden 151 1.5. Ohne Chor: Drama Georgicum <?page no="152"?> der zweifarbige Würdenträger, sei der blauweiße Maximilian, der Triton marinus stünde für Gustav Adolph und die Lilie für Frankreich. 148 Stroh 2006b, 228 vermutet, da die Komödie normalerweise im Bürgerniveau spiele und es für Bauern kein eigentliches Drama gab, „musste die Sprache sozusagen noch unter das Komödienniveau abgesenkt werden.“ Quellennamens seien dies vor allem altlateinische Dichter wie Plautus, Terenz und Accius gewesen (365). Balde spricht sich mit Horaz Mut zu (Nunc est bi‐ bendum, 365) und genehmigt sich einen Schluck. Der Effekt stellt sich mit so‐ fortiger Wirkung ein: Der Leser erfährt in einem witzigen Dithyrambus (365- 369), dass Balde fortan oskisch spricht. Der Boden für den Beginn des eigentli‐ chen Drama Georgicum ist bereitet. Dieses spielt sich als Dialog zwischen zwei Bauern ab, die sich folgerichtig auch in der Sprache des einfachen Volkes un‐ terhalten, die bei Balde oskisch ist. 148 Um dem Leser das Verständnis zu erleich‐ tern, bietet der Dichter ebenfalls eine Transkription ins klassische Latein sowie erläuternde Kommentare zu linguistischen Besonderheiten seiner eigenen Phantasiesprache. Hierin zeigt sich die offensichtliche Konzeption als Lesestück, die Balde auch explizit nennt: Vor Beginn des Stückes hatte Balde dem Leser noch einige Informationen zum Oskischen und besonders zu dessen berühm‐ testem Vertreter Ennius an die Hand gegeben (370-372). Am Ende dieser Ein‐ leitung verkündet er, der Vorhang werde sich nun öffnen, bzw. der Leser solle die Seite umblättern (verte folium, & Attellanum Drama perlege. Sin spectator esse mavis, occupa subsellia. Siparium dimotum est, 372). Insgesamt erinnert die Sze‐ nerie des folgenden Stückes selbst (373-409) an die Rahmenbedingungen von Vergils Eklogen. Die beiden Bauern Meliboeus und Alphesiboeus unterhalten sich im ersten Akt (373-383) über die Leiden der Landbevölkerung. Zum Ge‐ spräch kommt im zweiten Akt (384-405) noch ein dritter Teilnehmer hinzu: Als Ziegenhirt Damon verkleidet, schleicht sich Merkur unter die Bauern, um ihnen vom Ulmer Waffenstillstand zu berichten (384-393). Die Maskerade des Göt‐ terboten fliegt jedoch auf, bevor er mit seinem Preis zum Ende kommen kann, denn er verrät sich über seine Sprache: Merkur berichtet in sauberen lateini‐ schen Hexametern. Der Unterschied zu ihrem eigenen Dialekt fällt den Bauern selbstverständlich auf und sie fühlen sich von dem hochtrabenden Gefährten nicht ernst genommen. Merkur lenkt schließlich ein und berichtet den beiden Bauern ebenfalls auf Oskisch vom Ulmer Frieden (394-402). Lobend erwähnt wird hier erneut Claude de Mesmes (Unose tantum protelat MEMMIUS ipsum, 402). Merkur offenbart am Ende seiner Rede schließlich seine wahre Identität (402-405). Ein Epilog leitet zum dritten Teil des Dramas über. Im letzten Akt (406-409) unterhalten sich Alphesiboeus und Meliboeus über den erstaunlichen Besuch des Gottes und preisen den verkündeten Frieden. An dieser Stelle endet 152 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="153"?> das eigentliche Drama. Es folgt schließlich ein Epilog zum eingangs gefundenen saxum augurale (410-412) mit einer Kopie seiner Inschrift (414-418), ein teil‐ weise auf Oskisch verfasstes Epicitharisma an Maria (419-425) und eine Ode an Claude de Mesmes, in der Balde wieder zum klassischen Latein zurückfindet und an die allgegenwärtige Vergänglichkeit erinnert (426-432). Was bezweckte Balde mit diesem merkwürdigen Stück? Fest steht, dass er das angekündigte Thema sehr eigenwillig behandelt hat. Der Ulmer Waffenstill‐ stand spielt nur eine marginale Rolle im Drama Georgicum. Vielmehr konzen‐ triert sich Balde auf die Sprache als solche und stellt sein Pseudo-Oskisch in den Vordergrund. Bereits im Widmungsbrief an Claude de Mesmes vermerkt er, dass er schon länger vorgehabt habe, dieser Sprache eine eingehendere Studie zu widmen. Dass ihn das Thema jedoch schon früher interessierte, zeigt unter an‐ derem der Brief des Mars im Tilly, dessen erfundenes Altlatein schon Grundzüge des Oskischen im Drama Georgicum trägt. Baldes Konzentration des Drama Ge‐ orgicum auf das Oskische lässt sich zum einen im Kontext der zeitgenössischen Sprachdebatte verorten. Plädierten die Protestanten in Rückgriff auf Luther ri‐ goros für eine Stärkung der Muttersprache in allen Bereichen, hielten die Ka‐ tholiken und in vorderster Front die Jesuiten am Lateinischen als Bildungs‐ sprache fest. Balde scheint zunächst der jesuitischen Linie zu folgen, indem er auf Latein dichtet und sich sogar in den Prolusiones für seine deutschen Erzeug‐ nisse entschuldigt. Doch seine Entscheidung, statt des klassischen Lateins noch weiter in der Sprachgeschichte zurückzugehen und ein (freilich rekonstruiertes) Oskisch zu verwenden, ist schließlich ein Statement für sich. So wählt er nämlich statt der der Elite vorbehaltenen Hochsprache den einfachen Bauerndialekt, um adäquat darzustellen, was das Volk wirklich betrifft. Manifest wird die sprach‐ liche Diskrepanz zwischen Hoch- und Volkssprache im Unverständnis der beiden Bauern für den hochtrabenden Merkur, mit dem die Kommunikation zunächst kläglich scheitert. Das Oskische im Drama Georgicum ist durchaus als Eintreten für eine Aufwertung der Volkssprache zu sehen, wobei Balde für diese Problembehandlung mit der Erfindung eines Kunstdialekts einen eigenen Weg wählt. Zweitens könnte die Verwendung des Oskischen auch eine politische Aussage beinhalten: So wenig, wie Merkur auf sprachlicher Ebene die beiden Bauern erreichen kann, gilt dies für den Inhalt seiner Rede. Der zwischen den Führungspersonen abgeschlossene Friedensvertrag, der nur auf dem Papier ein‐ gehalten wurde und für das Leid, das marodierende Soldatentruppen der einfa‐ chen Bevölkerung zufügten, keinerlei Besserungen brachte, scheint kein Ge‐ genstand zu sein, auf den Balde einen ausschweifenden Panegyricus verfassen wollte. Mit dem Ausweichen auf das Oskische als Hauptgegenstand des Stückes hat er dies einerseits umgangen, andererseits seine kritische Sichtweise auf die 153 1.5. Ohne Chor: Drama Georgicum <?page no="154"?> 149 Kagerer 2014, 1 weist zurecht darauf hin, dass Balde „sich in erster Linie als Dichter“ gefühlt habe und führt später (113) eine Passage aus dem Tilly an, in der sich Balde gegen die „pedantische Mühe des Annalenschreibens“ ausspricht (cf. Tilly, 40). 150 Zu diesem Dithyrambus auch Heider 1999, 193-195. Dinge bekundet. Allerdings ist es zu weit gegriffen, das Drama Georgicum als bewusste politische Polemik abzustempeln. Neben inhaltlichen Argumenten darf nicht nicht vergessen werden, dass eine Erfindung wie die des Pseudo-Os‐ kischen Baldes persönlichen Vorlieben entspricht. Balde ist kein Politiker, son‐ dern durch und durch Literat. 149 Sein Schreiben ist kaum an äußere Zwecke gebunden, sondern dient der Verwirklichung seiner Freude an der Poesie der Sprache. Balde hat mit dem Drama Georgicum in erster Linie seiner eigenen phantasievollen Feder die Zügel schießen lassen und ein historisches Thema nach seinen dichterischen Ansprüchen gestaltet. Ganz gleich ob es sich beim Drama Georgicum um eine Auftragsarbeit oder eine eigene Idee handelte, als historische Panegyrik ist das Werk nicht zu gebrauchen. Auch Maximilian musste letztlich einsehen, dass Balde trotz seiner literarischen Begabung auf‐ grund seiner Eigensinnigkeit für das Amt des Hofhistoriographen ungeeignet war. Dies zeigt sich an Baldes Entbindung von dieser Aufgabe im folgenden Jahr. Trotz der durch den Titel suggerierten Klassifikation des Drama Georgicum als Theaterstück zeigt sich, dass dieses Werk eine bunte Gattungsmischung dar‐ stellt. Dabei kommt das Drama Georgicum ohne Chorpassagen aus. Auch der Dithyrambus am Anfang erinnert keineswegs an ein Chorlied (365-369), son‐ dern kann durch seine Ungewöhnlichkeit und Einbettung in die absurde Situa‐ tion höchstens als Gattungsparodie gewertet werden. 150 Besieht man sich die Zielsetzung des Werks, wird deutlich, weshalb Balde gänzlich auf einen Chor verzichtet oder sogar verzichten muss. Zunächst lässt sich festhalten, dass, wie im Tilly und in der Philomela, kaum dramatische Handlung stattfindet und Balde deshalb auf eine Erklärinstanz verzichten kann. Anders als im Tilly soll hier auch nicht mehr an die Gattung der Tragödie erinnert werden, da Balde sein Stück in den Kontext der Atellane einbettet und es deutlich komisch-absurde Züge trägt. Er benötigt den Chor somit nicht als Gattungsmarker. Wenn Balde au‐ ßerdem anhand der Konzentration auf das Oskische für einen angemessenen Adressatenbezug plädiert, wäre die Verwendung von Chorliedern das falsche Mittel. Da im Drama Georgicum in erster Linie auf die Bedürfnisse des einfachen Volkes aufmerksam gemacht und gleichzeitig die Praxis der Mächtigen, über die Köpfe ihrer Schutzbefohlenen hinweg zu entscheiden, kritisiert wird, stünde dieser Aussage ein tragischer Chor, der mit einer hohen Gattung und einer ge‐ wissen Größe und Distanz assoziiert wird, diametral entgegen. Balde belässt sein Stück auf der Ebene des einfachen Dialoges zwischen den beiden Protagonisten, 154 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="155"?> 151 Der Arion Scaldicus ist eines der am wenigsten erforschten Werke Baldes. Zwar wurde er in die Opera omnia aufgenommen (6, 259-336), doch bislang widmete sich nur Eckart Schäfer in einem grundlegenden Aufsatz ausführlicher dem Stück (Schäfer 2006). Wes‐ termayer 1868 (Nd. 1998), 192-193 erwähnt es nur kurz und bezeichnet es als das „letzte, schon matte Alpenglühen [Baldes] lyrische[r] Poesie“ (192); Valentin 1978b, 2, 776 und Valentin 2001, 551 übergeht das Werk mit der Wertung „l’énigmatique naumachie“. Weitere knappe Informationen bei Stroh 2006b, 230. Die erste Fassung, ein anonymes Manuskript, wie Schäfer 2006, 51 vermutet, ist verloren. 152 Vergleich der beiden Versionen bei Schäfer 2006, 55-56 und 60-64. Zu Stradas De Bello Belgico auch Kagerer 2014, 604-607. Strada diente Balde nicht zum ersten Mal als Vor‐ bild: Schon in der Philomela gehen Motive auf diesen zurück. Cf. hierzu Schnoor 2017, 110-111 und 120-121, die Parallelen von Stradas Wettstreit zwischen der Nachtigall und einem Lautenspieler und Baldes ähnlich gehaltenem Agon zwischen Nachtigall und einem Flötenspieler im vierten Gedicht der Philomela aufzeigt. die aus sich selbst heraus die Kraft haben, alles zu sagen, was gesagt werden muss. Trotz des fehlenden Chors ist das Drama Georgicum somit gleichwohl von elementarer Bedeutung für Baldes Verständnis dieser Instanz: Chorlieder sollten, wenn sie weder für die Gattungszuordnung noch für die Deutung der Handlung benötigt werden, ausgespart werden. 1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus 1649 verfasst Balde mit dem Arion Scaldicus ein weiteres Werk, in dem er wie im Drama Georgicum nicht hält, was er verspricht. 151 Er erklärt, ein historisches Thema behandeln zu wollen, überrascht jedoch erneut mit einer eigenwilligen Bearbeitung. Er kündigt an, die Eroberung Antwerpens durch Alexander Far‐ nese im Jahr 1585 zu beschreiben. Als Quelle bezieht sich Balde auf das Bellum Belgicum des Jesuiten Famianus Strada, das 1647 in Rom erschienen war. 152 Al‐ lerdings ist Baldes Version kaum mit der Stradas vergleichbar, da es ihr an Ernsthaftigkeit mangelt. Zwar legt Balde eine christliche Deutung des Stoffes vor: Bereits der Untertitel seines Werks weist darauf hin, dass es sich um ein allegorisches Stück handelt, in dem Alexander Farnese als Muster des sich gegen alle Widrigkeiten bewährenden christlichen Menschen aufzufassen sei (Poema Allegoricum, Hominis Christiani, Statum, Militiam, pericula, daemonum insultus ac demum gloriosam de ijs Victoriam repraesentans, 259). Die christliche Bewer‐ tung einer historischen Persönlichkeit nimmt Balde schon im Tilly vor, wo das ursprüngliche Thema allerdings durch ungewöhnliche Rahmenbedingungen und unerwartete Einschübe überlagert wurde. Dasselbe Vorgehen lässt sich im Arion Scaldicus beobachten, in dem Balde die Handlung jedoch nicht mit über‐ raschenden Szenen durchbricht, sondern, wie er es auch schon im Drama Ge‐ 155 1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus <?page no="156"?> 153 Zu den Praeludia cf. Schäfer 2006, 57-60. 154 Schäfer 1976, 154 und Schäfer 2006, 64, Anm. 31 weist darauf hin, dass Balde sich selbst gerne in horazischer Tradition als Proteus stilisierte. 155 Zur metrischen Form kurz Schäfer 2006, 58. 156 Informationen zusammengefasst bei Schäfer 2006, 51-52. orgicum betrieben hatte, dem eigentlichen Stück ein ausführliches, prosimetri‐ sches Vorspiel voranstellt (260-278). 153 Dessen Handlung ist so skurril, dass jede andere Aussageebene in den Hintergrund tritt und der christliche Gehalt des Stückes zunächst nicht zu erkennen ist: Der Leser wird Zeuge, wie Arion auf dem Rücken seines Delphins auf einem Fluss, der Schelde (Scaldis), nach Ant‐ werpen reist. Begleitet wird er von Proteus nebst Tritonen (260-261). 154 Grund für diesen hohen Besuch im Antwerpener Land ist, wie aus dem Gespräch der Reisenden nach und nach ersichtlich wird, ein Auftrag Neptuns. In einer Göt‐ terversammlung habe dieser das Problem zur Sprache gebracht, dass es einen erheblichen Mangel an Talenten gebe, die siegreiche Taten auf dem Wasser be‐ singen könnten (Ut Neptunus graviter quaestus sit Regni sui famam in dies magis obsolescere, defectu faventium ingeniorum, quae res toto oceano praeclare gestas literis mandarent, 268). Eine Ausnahme bilde freilich Famianus Strada mit seinem Bellum Belgicum (268), der die auf dem Fluss ausgefochtene Schlacht um Antwerpen behandelt habe. Um diesem Werk und dem Helden Farnese zu ge‐ bührendem Ruhm zu verhelfen, seien Arion und Proteus beauftragt worden, ein Drama hydraulicum, ein Wasserstück, in Art der Isthmischen Spiele aufzuführen (Jubemur hic ludos exhibere hydraulicos; veteri more, sed novo ritu atque exemplo, Isthmia Farnesiana, 265; Laetus proinde Neptunus statim imperavit ludos vett. Isthmiorum imitatione edendos, 268). Nachdem alle Vorbereitungen für die Auf‐ führung getroffen wurden, kann das eigentliche Drama beginnen. Es zeigt sich deutlich, dass Baldes Stück, wie von Neptun angekündigt, novo ritu verfasst ist, denn es hat keine Sprechverse, sondern besteht aus alkäischen Oden. 155 Der Aufbau entspricht jedoch dem klassischen Dramenschema: In fünf Akten wird die Belagerung und Eroberung von Antwerpen beschrieben. Die historische Ausgangslage, zu der dem Leser in den Praeludia an verschiedenen Stellen Informationen geliefert werden, ist zusammengefasst folgende: Das ka‐ tholische Heer möchte unter der Führung Alexander Farneses das protestanti‐ sche Antwerpen einnehmen. Die Belagerung der Stadt ist jedoch nicht sehr er‐ folgreich, da die Antwerpener über die Schelde immer wieder für Nachschub sorgen können. Farnese ersinnt einen listigen Plan, um dieses Treiben zu un‐ terbinden. 156 Hier setzt das Drama Hydraulicum ein. Im ersten Akt (279-287) berichten Proteus und Arion vom Aufbau einer aus Schiffen bestehenden See‐ blockade auf der Schelde durch die Katholiken. Die Antwerpener Bürger sind 156 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="157"?> 157 Bis auf den letzten Chor handelt es sich stets um die Begleiter des Arion, die von ihm wie von einem Chorführer angeleitet werden; cf. zu dieser Rolle des Arion Schäfer 2006, 58. 158 Parallelen zum 1. Stasimon in der Antigone von Sophokles sind manifest. somit von der Versorgung abgeschnitten und die Eroberung der Stadt scheint nur noch eine Frage der Zeit. Der Fokus der Berichterstattung liegt auf den Emotionen der betroffenen Akteure. So legt Proteus die Gefühle des Alexander Farnese (279-280), dann die der im Flussgott Scaldis personifizierten Schelde selbst dar (282-283), während Arion einen Trostgesang für Scaldis anstimmt (284-287). Neben Proteus und Arion kommt auch der Begleitchor des Arion zu Wort, 157 der am Ende der ersten Szene ein Loblied auf Alexander Farnese an‐ stimmt (281). Das Lied berichtet noch einmal knapp vom Bau der Schiffsbrücke und deutet diese am Ende des Liedes als Sinnbild für Farneses herausragenden und standfesten Charakter (Pons est ipse Animus Ducis / Justi propositi tenax, 281). Der Chor hebt sich nicht auffällig vom übrigen ersten Akt ab, da Proteus und Arion ebenfalls in lyrischem Tonfall über die Geschehnisse berichten. Seine Perspektive ist allerdings neutraler, da die beiden Erzähler vor allem auf die Gefühle des Scaldis eingehen. Somit übernimmt der Chor hier eine im Vergleich zur Philomela gegensätzliche Rolle: Er dient nicht der emotionalen Verstärkung, sondern der objektiven Zusammenfassung und hat so mise-en-abyme-Funktion. Die Akte zwei bis fünf nehmen die Gegenmaßnahmen der Antwerpener in den Blick. Der in der Stadt befindliche italienische Ingenieur Giambelli macht sich an die Konstruktion eines mit Bomben ausgerüsteten Bootes, das eine Bresche in den Belagerungsring sprengen und so einen Ausfall ermöglichen soll. Im zweiten Akt (288-299) beschreibt Proteus zunächst, wie die Verschwörung zwischen Scaldis und Giambelli zustande kommt (288-294). Der Schwerpunkt liegt erneut auf den Emo‐ tionen der Protagonisten. Es folgt eine direkte Ansprache des Arion an Scaldis (294- 295), die in eine satirische Verunglimpfung von Schutzamuletten für ängstliche Soldaten mündet (295-299) - offensichtlich darauf gemünzt, die Antwerpener Ver‐ teidiger als abergläubische Feiglinge abzustempeln. Das in die Proteus-Passage ein‐ geschobene Chorlied (291-292) schließt sich dem Tonfall an, wobei es eine andere Perspektive beleuchtet: Das Lied berichtet vom schlechten Gewissen der Bediens‐ teten, denen es vor dem hinterhältigen Plan Giambellis graut. Der Chor hat hier also nicht verdichtende, sondern ergänzende Funktion, indem er einen negativen emo‐ tionalen Kontrapunkt bietet. Im dritten Akt (299-306) berichtet Proteus minutiös von der Konstruktion des Sprengstoffbootes (299-301). Arion gibt dieser Beschreibung sodann eine morali‐ sche Wertung (302-303), indem er darüber reflektiert, dass der Mensch das grau‐ samste aller Lebewesen sei. 158 Nach einer Schilderung der Schiffstaufe auf den 157 1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus <?page no="158"?> Namen Proserpina durch Proteus (303-304) und einer moralisierenden Verurteilung des Scaldis durch Arion (305) beendet ein Chorlied den Akt (305-306). Der Chor führt die Argumentation des Arion weiter und prangert die Gefahr der Freude am Verbrechertum an. Er dient in diesem Akt der Hervorhebung und Vertiefung eines einzelnen Aspektes, der zuvor noch nicht ausführlich genug erläutert wurde. Der vierte Akt (306-318) beginnt mit einem Weihgebet für das Sprengstoff‐ boot (306-309) sowie einer Rede des Arion (309-313). Er beschreibt Giambellis Plan als frevelhaft und bittet darum, jemand möge ihm Einhalt gebieten. Dieser Wunsch scheint zunächst kein Gehör zu finden, denn Proteus berichtet im Fol‐ genden, wie das Schiff in See sticht (313). Der Akt wird von einem langen Chor‐ lied beschlossen, das durch Unterkapitel in verschiedene Teile gegliedert ist (313-318). Der Chor behandelt ausführlich das Thema des Schutzes und der Lenkung durch Gott. Auch in den schlimmsten Situationen könne man auf Gott als Retter hoffen. Der Chor bringt hier einen neuen Aspekt: Es scheint am Ende des vierten Aktes, als wäre die Situation ausweglos: Das Sprengstoffboot ist unterwegs und der Anschlag nicht mehr aufzuhalten. Das Chorlied verweist jedoch darauf, dass es noch Hoffnung gebe, solange man Vertrauen in Gott habe. So dient dieses Lied auch der im Untertitel angekündigten Stilisierung von Far‐ nese als christlichem Helden, der von Gott gesandt wurde. Der fünfte Akt (318-336) behandelt als großes Finale des Stückes die Ent‐ scheidungsschlacht und die Rettung durch Farnese. Zunächst schildert Proteus die Anfahrt des Schiffs (318-319). Der Spannungsbogen wird durch ein erneutes Chorlied (320-325) unterbrochen, das den Weg des Sprengstoffbootes weiter beschreibt und Giambellis Hinterhältigkeit anprangert. Der Chor treibt zunächst die Handlung weiter, um dann erneut die moralische Wertung des Anschlags zu übernehmen. Proteus verurteilt im Folgenden (325-326) die katholischen Bela‐ gerer, die das Schiff aus Neugier zu nahe an ihre eigenen Reihen herangelassen hätten. Auch hier wird ein Chorlied zwischengeschaltet (327-330), das davor warnt, nicht immer dem ersten Anschein zu trauen. Proteus berichtet sodann vom Erfolg des Attentats und den verheerenden Schäden und Verlusten, die die Sprengung der Schiffsbrücke mit sich bringt (330-333). Es wird der Anschein erweckt, als sei Giambellis Plan geglückt und das Attentat gelungen. Umso überraschender ist die folgende Passage, in der Arion ein Loblied auf den sieg‐ reichen Alexander Farnese anstimmt (333-335). Es stellt sich in einer Rück‐ blende heraus, dass Farnese in der Lage gewesen war, die gesprengte Bresche wieder zu schließen und so schließlich den Sieg über Antwerpen zu erringen. Das Stück endet mit einem Chorlied der Nymphen aus der Schelde, die die Tu‐ gend Alexander Farneses besingen (335-336). Hatte der Chor im fünften Akt vor allem dazu gedient, moralisierende Unterstützung zu bieten und als retar‐ 158 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="159"?> 159 Schäfer 2006, 65-67 weist auch auf die Ähnlichkeiten zur Interpretatio somnii und zum Tilly hin. 160 Schäfer 2006, 61. 161 Kagerer 2014, 132 zeigt, dass Baldes Bild von Strada im Arion Scaldicus positiv gezeichnet ist und er ihn gerade als einen Historiographen beschreibt, der frei von Auftrags‐ zwängen agieren konnte. Generell zum historiographischen Bild im Arion Scaldicus, bes. mit Fokus auf Auftragsarbeiten, cf. 129-133. 162 Schäfer 2006, 67. 163 Cf. hierzu Schäfer 2006, 65. dierendes Moment den Spannungsbogen auszudehnen, hat das letzte Lied die Funktion, die Gesamtdeutung des Werks zusammenzufassen. Balde hatte den Schwerpunkt des Stückes auf die detaillierte Darstellung der Planung und Durchführung des Attentats gelegt und lässt es für einen Moment sogar so aus‐ sehen, als habe der Anschlag funktioniert. Alexander Farneses Rolle scheint dabei zunächst marginal, nur im ersten Akt wird er ausführlicher gewürdigt. Das letzte Chorlied weist jedoch deutlich darauf hin, dass durch Farneses über‐ ragenden Charakter und seine Stärke niemals eine ernsthafte Gefahr bestanden habe. Auch ein noch so durchdachter Gegenschlag kann einen solchen Helden nicht aus der Bahn werfen. Unterstützt von den Aussagen aus dem Chorlied des vierten Akts erweist sich Farnese als von Gott gesandter Retter, dem niemand etwas entgegensetzen kann. Mit dem Arion Scaldicus legte Balde erneut ein Werk vor, dessen Intention nicht klar zutage tritt. Zwar wird die Belagerung Antwerpens behandelt, Baldes Bearbeitung ist aber durch die burlesken Prolusiones und die merkwürdige Dramatisierung als Panegyrik für Farnese nicht ganz ernst zu nehmen. Schon im Drama Georgicum war Baldes Methode deutlich geworden, ein ernstes Thema durch eine unernste Behandlung zu humorisieren. 159 Eckart Schäfer ver‐ mutet, Baldes Werk wolle nicht „einen Sieg und einen Sieger des vorigen Jahr‐ hunderts, sondern […] ganz aktuell einen großen Schriftsteller und Literatur‐ wissenschaftler“ feiern, da Strada im selben Jahr verstorben sei. 160 Schäfer leitet auch kritische Untertöne aus Baldes Text ab: Strada war der Hofhistoriograph Farneses und verfasste mit seinem Werk eine Herrscherpanegyrik. Er sei dabei jedoch frei gewesen, weil er das Bellum Belgicum erst nach dem Tod seines Herrn geschrieben habe. 161 Hier setze Baldes Kritik an, der als Hofhistoriograph Ma‐ ximilians dazu genötigt worden sei, Zeitgeschichte zu schreiben. Er wolle im Arion Scaldicus zum Ausdruck bringen, dass „erst der Tod eines Herrschers […] eine wahrhafte und gerechte Geschichtsschreibung möglich“ mache, und Ma‐ ximilian für seine Praxis kritisieren, Zeitgeschichte von seinen Historiographen einzufordern. 162 Die Abfassungszeit des Arion Scaldicus ein Jahr nach Baldes Entlassung als Historiograph an Maximilians Hof passe gut in dieses Bild. 163 Da 159 1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus <?page no="160"?> 164 Vermutungen zum Adressatenkreis Westermayer 1868 (Nd. 1998), 193 („wahrscheinlich auf dringendes Bitten aus Anlaß einer bestimmten Feier für ein belgisches Collegium“); Schäfer 2006, 68-69. Dort wird auch dargelegt, dass manifeste Anspielungen und Be‐ züge Baldes Autorschaft sichern. 165 So besteht das Publikum aus Nymphen und Satyrn und zahlreichen Tieren wie Ant‐ werpener Robben, cf. hierzu auch Schäfer 2006, 57. 166 Stroh 2004a, 244, Anm. 9. 167 Cf. zur Nichtaufführbarkeit auch Schäfer 2006, 60. 168 Schäfer 2006, 57-58 weist zurecht daraufhin, dass sich durch die an vielen Stellen er‐ folgte Ersetzung menschlicher und historischer Akteure durch höchstens anthropo‐ morphe Figuren auch Elemente der Fabel im Werk wiederfänden. Diese Methodik er‐ innere teilweise an Baldes Batrachomyomachia (Edition des ersten Buches mit ausführlicher Einleitung Lukas 2001), wo ebenfalls durch Fabelelemente eine Gattung parodiert wird. das Werk anonym blieb und zunächst nicht gedruckt wurde, könnte sich Balde laut Schäfer durchaus darüber im Klaren gewesen sein, dass sein Arion Scaldicus nicht überall auf Begeisterung stoßen würde. 164 Wichtiger als eine etwaige polemische Stoßrichtung ist, dass Balde durch seine eigenwillige Bearbeitung des Themas erneut eine Möglichkeit für ein Gat‐ tungsexperiment gefunden hat. Der Arion Scaldicus stellt einen gattungstheo‐ retischen Grenzfall dar. Anders als im Tilly oder der Philomela gibt es einen stringenten Handlungsfaden, der bis zum Spannungshöhepunkt gesteigert wird. Die Konzentration auf das Attentat, das zunächst gelingt, legt für große Teile des Stückes eine Einordnung als Tragödie nahe, erst die am Schluss verkündete Rettung durch Farnese schwächt die Gattungszuordnung ab. Das burleske Vor‐ spiel schafft zudem einen komischen Kontext, der der Ernsthaftigkeit des Stü‐ ckes entgegenwirkt und durch die Aufführungssituation Elemente des Satyr‐ spiels evoziert. 165 Ferner ist festzuhalten, dass der Arion Scaldicus trotz seiner Beschreibung als Drama laut Stroh „allenfalls halbdramatische[n]“ 166 Charakters ist. Eine praktische Aufführung wird sich als schwierig erwiesen haben, einmal wegen der Spezialeffekte wie dem Sprengstoffboot, außerdem wegen des langen Vorspiels, das nicht für die Bühne bestimmt, aber für das Verständnis der Rah‐ menbedingungen des Dramas unabkömmlich ist. 167 Außerdem ist die alkäische Odenform ungewöhnlich für den Theaterrahmen. Der übergeordnete dramati‐ sche Kontext bietet Balde jedoch die Möglichkeit, innovativ die Gattung Lyrik, Tragödie, Komödie und Panegyrik bzw. Panegyrikparodie miteinander zu ver‐ zahnen und zu einem großen Ganzen zu verschmelzen. 168 Ganz in dramatischer Tradition steht ferner der Chor, der im Arion Scaldicus eine prominente Rolle einnimmt. Auffällig ist dabei, dass dem Chor eine Vielzahl von Funktionen zu‐ kommt und er somit multipler eingesetzt wird als in den zuvor besprochenen Werken. Lieder am Aktende haben meist verdichtende und interpretierende 160 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken <?page no="161"?> Funktion. Ferner tritt der Chor nicht nur am Aktende auf, sondern nimmt auch sonst am Geschehen teil. Dabei bringt er Einwürfe zur moralisierenden Ver‐ stärkung, führt Argumente weiter aus, bringt neue Aspekte oder dient als re‐ tardierendes Moment. Eine wichtige Rolle kommt dem Chor außerdem im Schlusslied zu, das die Rolle Farneses beschreibt und damit die Schlüsselinter‐ pretation des Stückes gibt. Der Chor im Arion Scaldicus fungiert also vorrangig nach dem mise-en-abyme-Konzept und passt sich an die Erfordernisse der Tra‐ gödie an, importiert aber auch Funktionen, die Balde in anderen nicht-tragi‐ schen Kontexten verwendet hatte, und ist so ein Spiegel der Gattungsmischung, die im Stück kreiert wird. Er dient gleichsam als offener Raum, der immer so gefüllt werden kann, wie das Stück es gerade erfordert. Die Untersuchung des Chores in Baldes nicht-tragischen Stücken hat ge‐ zeigt, dass dieser je nach Gattungskontext unterschiedliche Funktionen in‐ nehat. Der Chor wird anders eingesetzt, wenn ein Werk wenig bzw. keinen tragischen Charakter hat: So dienen die Chorpassagen in der Philomela im tragischen Teil über die Passion Christi der emotionalen Verstärkung und dem Austragen eines inneren Konflikts, im Drama Georgicum werden sie ganz weggelassen. Je mehr ein Werk jedoch in die Nähe einer Tragödie ge‐ rückt werden soll, desto mehr werden Chorlieder nach dem mise-en-abyme- Konzept verwendet. Dass Balde dieses als typisch senecanisch erachtet, zeigt das Chorlied im Regnum poetarum. Die Theorie überträgt Balde dann auf seine eigenen Werke: Im Tilly ist der Chor das einzige Element, das den Tra‐ gödiencharakter aufrechterhält, und im Iocus serius dient er der Hervorhe‐ bung des tragischen Anteils der Tragikomödie. Im Arion Scaldicus, der in großen Teilen einer Tragödie gleichkommt, aber auch andere Gattungsele‐ mente beinhaltet, wird der Chor variabel an den jeweiligen Kontext ange‐ passt, wobei das mise-en-abyme-Konzept überwiegt. Je tragischer also ein Werk ist, desto stärker hält sich Baldes Chor an das senecanische Prinzip. Interessant ist nun die Frage, ob Balde den Chor in einem rein tragischen Text konsequenterweise ganz diesem Konzept unterordnet oder ob auch hier eine freiere Verwendung beobachtet werden kann. 161 1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus <?page no="163"?> 169 Zur Jephtias Knapp 1848, 325; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 67-70 und 197-198; Scheid 1904; Scheid 1930, 51-56; Porwig 1932, 29-35; Sypherd 1948, 50-56; Beitinger 1968, 66- 70; Valentin 1977, 128-129; Valentin 1978a; Valentin 1978b, 2, 780-795; Bauer 1987, bes. 461-467; Rädle 1989, 242-245; Dünnhaupt 1990, 394, Nr. 22.1; Konstanciak 1991, 249- 251; Tschiedel 2001, 346-350; Stroh 2004a, 271-308; Stroh 2005, bes. 231-236; Stroh 2006b, 233-235; Bremer 2009, 305-311. Eine umfassende Untersuchung stellt zudem die in der Institutsbibliothek der Universität Innsbruck zugängliche, jedoch unveröffent‐ lichte Magisterarbeit von Christoph 1998 dar. Die einzige Monographie, die sich aus‐ schließlich mit der Jephtias befasst, ist Führer 2003. Diese Dissertation ist allerdings in großen Teilen problematisch (cf. ausführliche Wertung in der Rezension von Lukas 2004 und die Besprechung von Stroh 2004a, 271, Anm. 85 und Stroh 2005, 231, Anm. 188 und 236, 212). Von der ersten Fassung des Stücks mit dem Titel Jephte 1637 ist nicht mehr als die Perioche (abgedruckt z.B. in Valentin 1978a, 67-72) erhalten. In der Instituts‐ bibliothek der Klassischen Philologie in München ist außerdem die nicht veröffentlichte Übersetzung des Stückes von Beitinger 1990 zugänglich, die mit Erläuterungen, einer Inhaltsangabe und einer metrischen Analyse des gesamten Stückes versehen ist. 170 Balde nennt vor allem die Phoenissen und den Thyestes als Vorbilder: Ante omnes Senecae tragoedias, illi Thebais est […] Utitur tamen omnibus: Thyeste quam maxime. (Dedicatio, 6). Zur Vorrede der Jephtias cf. Burkard 2006a, 175-179. Valentin 1978b, 2, 785 nennt Balde den „Seneca christianus de l’Allemagne.“ Cf. zum Sprachstil im Vergleich mit Seneca Burkard 2006a, 176 und Valentin 1978b, 2, 781: „Elle [Jephtias] équivaut en effet à un essai de réhabilitation catholique du sénéquisme. Mais d’un sénéquisme du présent, c’est-à-dire adapté à la culture chrétienne et tempéré par une revendication en faveur de la bienséance, Balde désapprouvant les outrances de son maître […].“ 171 Ri 10, 17-11, 11. 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias 2.1. Problematik des Stoffes Im Folgenden soll nun Baldes großes Bibeldrama, die Jephtias, untersucht werden. 169 Sprache und Stil sind offen an Seneca orientiert, 170 wenngleich an den religiösen Inhalt des Werkes angepasst. Balde behandelt in diesem Stück ein alttestamentliches Thema aus dem elften Kapitel des Buches der Richter. 171 Der Priester Jephte gelobt, dass er, sollte er siegreich von einem Feldzug gegen die Ammoniter zurückkehren, Gott das erste, was ihm begegne, opfern werde. Bei seiner erfolgreichen Rückkunft trifft er jedoch zuerst auf seine eigene Tochter Menulema. Das Stück behandelt die Ge‐ wissensentscheidung zwischen Liebe und Pflicht und im Besonderen den Kon‐ flikt zwischen der pietas eines religiösen Herrschers gegenüber Gott und den Gefühlen eines Vaters für die einzige Tochter. <?page no="164"?> 172 Zu Stoff und Motivgeschichte cf. Porwig 1932 (vornehmlich für den deutschen Sprach‐ raum); Sypherd 1948; Szarota 1979, 43-44; Linton 2004; Bremer 2009; Bauks 2010. 173 Prolus. 12-13: Idem argumentum ante me tractarunt Georg. Buchananus Scotus, & Jac. Cornelius a Marca, vir clariss. Belga. Quum nostram Scenam adornaremus Ingoldstadij, sane neutrum legeramus. Alterius videndi cura non tetigerat animum: alterius nomen & fama, nec aures. Postea utrumque nactus, perlustrando comperi, etiam tertiae falci messem relictam esse. Zu Lummenaeus a Marca Scheid 1904, 25; Führer 2002, 92-93; Janning 2005, 269-297 und 351, bes. 272-276 zum Iephte mit einer Untersuchung der Chorpar‐ tien. Janning arbeitet heraus, dass der Chor bei a Marca wesentliches Element der Tra‐ gödie ist und vor allem der Darstellung von Gefühlen dient; zu Buchanan Scheid 1904, 22-25; Porwig 1932, 17-18; Sypherd 1948, 13-20; MacFarlane 1981, bes. 190-205; Walter 1987, 247-248; Führer 2002, 91-92; Janning 2005, 324-325 zum Chor; Ferradou/ Green 2009; Bremer 2009, 299-305. 174 Valentin 1978b, 2, 798. Weitere Informationen cf. Scheid 1904, 22-26; Valentin 1978a, 54-55; Janning 2005, 272. Zu weiteren möglichen Vorbildern cf. Scheid 1904, 21-22; Valentin 1978b, 789. Zusammenfassende Beschreibung der einzelnen Fassungen cf. Porwig 1932, bes. 12-38; Führer 2003, 121-123. 175 Cf. Führer 2002; Führer 2003 und Führer 2006 (Hierzu Stroh 2004a, 271, Anm. 85 und Stroh 2005, 236, Anm. 212: „Der Versuch Führers […], Baldes ,Jephtias‘ als gegenreformatori‐ sches Meditationsdrama zu deuten, scheint nicht gelungen. […] Man sieht leicht, dass die großen Themen des Konfessionsstreits (Rechtfertigungslehre, Schriftprinzip, Willensfrei‐ heit, Sakramente usw.) […] keine Rolle spielen.“). 176 Cf. Stroh 2004a, 271; Stroh 2007a, 73. Der Jephte-Stoff war in der Frühen Neuzeit ein beliebtes Motiv. 172 Dies gilt beispielsweise für Buchanan und Lummenaeus a Marca, die Balde in seiner Vor‐ rede zur Jephtias beide erwähnt, zugleich aber betont, von keinem der beiden beeinflusst gewesen zu sein. Nach Sichtung der beiden Stücke habe er befunden, es sei noch genug für eine „dritte Sichel Ernte“ übrig. 173 Balde behauptet, dass er Marcas Version vorziehe. Valentin bemerkt hier jedoch: „En réalité, Marca est un plagiaire de Buchanan dont il se borne à préciser les idées pour les mettre en plein accord avec la position romaine.“ 174 Diese angebliche Präferenz sei dem‐ nach weniger der literarischen Überlegenheit dieser Version als eher dem Um‐ stand geschuldet, dass Buchanan Protestant, a Marca Katholik war. Balde wird durchaus bewusst gewesen sein, dass a Marcas Fassung nicht mehr als eine schlechte Kopie Buchanans war, entscheidet sich jedoch bewusst für die religiös ‚korrekte‘ Anschauung. Zwar stellt Balde seine Jephtias in katholische Tradition, deshalb allerdings wie Heidrun Führer zu vermuten, es handle sich um ein gegenreformatorisches Stück, 175 geht zu weit. Es ist zwar möglich, bei Berücksichtigung des historischen Kontextes einen politischen Unterton zu erkennen: Schließlich stand Balde als Je‐ suit loyal hinter der katholischen Front des Dreißigjährigen Kriegs. So vermutet Stroh, in der Figur des Jephte könnten Anklänge an Tilly gesehen werden. 176 Da Anspielungen höchstens allgemeiner Natur sind, wäre es allerdings zu weit ge‐ 164 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="165"?> 177 Cf. z.B. Sylv. 9, 4 und 9, 11; cf. auch Stroh 2010 zu Baldes Friedensoden. 178 Zum Streit über Jephtes Opfer cf. Porwig 1932, 8-9; Valentin 1978b, 2, 789-793; Szarota 1979, 43; Linton 2004 (mit ausführlichen Literaturangaben). 179 Dies gilt auch für Buchanan und Lummenaeus a Marca. Weitere Beispiele z.B. bei Mac‐ Farlane 1981, 195-197. 180 Prolus. 14-23. 181 Cf. hierzu auch Valentin 1978a, 58-59; Valentin 1978b, 2, 789. griffen, die Jephtias aus diesem Grunde als politisch zu bezeichnen. Baldes Dich‐ tung wird im Laufe seines Lebens friedfertiger und ist geprägt von Kriegsmüdig‐ keit, da er mit den zahlreichen Opfern und dem Leid der Zivilbevölkerung haderte. 177 Die Zielsetzung von Baldes Drama ist christliche Exegese des Alten Testa‐ ments und nicht konfessionelle Polemik. Die Problematik des Jephte-Stoffs bot reichlich Anlass zu Diskussionen: Wieso fand gerade ein Stoff solches Interesse, der doch den jüdisch-christlichen Gott in einem so fragwürdigen Licht er‐ scheinen ließ? Anders als in der Geschichte von Abraham und Isaak, die zwar den unbedingten Gottesgehorsam proklamiert, letztlich aber durch die Verscho‐ nung Isaaks betont, dass dies nicht zum Nachteil gereiche, muss Jephte die Op‐ ferung seiner Tochter tatsächlich vollziehen. Selbstverständlich suchten die theologischen Exegeten den Fehler nicht bei Gott selbst. Man zielte stattdessen darauf ab, bereits den Akt von Jephtes Gelübde als leichtfertig darzustellen. 178 Diese levitas sei der Grund allen Übels, hätte Jephte besonnener agiert, wäre es zum Dilemma, sich zwischen Gottes- und Vaterliebe entscheiden zu müssen, nicht gekommen. An eben dieser Auslegungstradition orientiert sich eine Viel‐ zahl von Jephte-Stücken aus der Frühen Neuzeit. 179 Balde geht anders vor: Zunächst verschiebt er die Diskussion über die Recht‐ mäßigkeit von Jephtes Gelübde aus dem Stück heraus in das Vorwort, in dem er anhand des Bibeltextes und der Heranziehung maßgeblicher Kommentatoren die verschiedenen Aspekte von Jephtes Schuld beleuchtet. 180 Hierbei lenkt er das Augenmerk auf einen wesentlichen Punkt: Die Frage, die er an den Stoff stellt, ist nicht länger: Inwiefern ist Jephte durch sein Gelübde schuldig geworden? Son‐ dern: Zu welchem Zweck hat Gott dieses Gelübde überhaupt erlaubt? 181 Balde legt dem Stück somit das Theodizeeproblem zugrunde: Wie kann ein gütiger, verzeihender Gott solch eine Tat zulassen oder gar einfordern? Die Ausgangsposition der Fragestellung kommt den Seneca-Tragödien zunächst sehr nahe: Wie im Oedipus das fatum Oedipus dazu verdammt, schuldhaft zu werden, muss auch Jephte durch eine Verpflichtung Gott gegenüber eine schreckliche Tat begehen. Der Unterschied zu Oedipus liegt allerdings darin, dass Jephte sein Gelübde freiwillig ausspricht. Doch Balde marginalisiert diesen 165 2.1. Problematik des Stoffes <?page no="166"?> 182 Zu früheren typologischen Deutungen Stroh 2004a, 274-275, bes. Anm. 90. Balde be‐ zieht sich vor allem auf Nicolaus Serarius, Jacobus Salianus und Cornelius a Lapide; zu diesen dreien cf. z.B. Rädle 1989, 243 mit Anm. 9. 183 Cf. Valentin 1978b, 2, 788-798; Lefèvre 2016, 96-97 mit Verweis auf Baldes Beschreibung in der Dedicatio: Hic Jephte est; haec Jephtias. (7). Stroh 2004a, 277 nimmt hingegen an, der Titel sei als „Tragödie von Jephte“ zu deuten, da die typologische Ebene schon in der ersten Fassung enthalten gewesen sei. Letzteres ist zwar richtig, schließt eine Über‐ setzung des Titels als „Tochter des Jephte“ aber nicht aus. Fest steht, dass Balde Jephtes Tochter in der überarbeiteten Fassung stärker in den Fokus gerückt hat und die Typo‐ logie expliziter gemacht hat. Diese Tendenz zur Verdeutlichung spiegelt sich im neuen Titel. 184 Abgedruckt in Valentin 1978a, 67-72. Periochen des Jephte und der Jephtias Dünnhaupt 1990, 399, Nr. 34.1, 34.2, 34.3. Zum Vergleich beider Versionen Wimmer 1983, 631. 185 Op. om. 1, 39-42. 186 Hierzu Stroh 2004a, 262-263 und Stroh 2008b, 255-256. Aspekt, indem er einen heilsgeschichtlichen Überbau hinzufügt und den Stoff typologisch deutet: Jephtes Tochter steht für Jesus Christus, der für die Men‐ schen geopfert werden muss, um sie zu erlösen. 182 Der Kern des eigentlichen Dramas verschiebt sich dementsprechend eben‐ falls: Es steht nicht länger Jephte im Fokus, sondern dessen Tochter. Diese Um‐ gewichtung hat Balde allerdings erst nach einem Reifungsprozess des Dramas vorgenommen: 1637 heißt das Stück noch Jephte, in der Fassung von 1654, der die ausführlichen Kommentare vorangestellt sind, ist der Titel zu Jephtias, Tochter des Jephte, verändert worden. 183 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) 2.2.1. Der Jephte als Tragödie nach klassischem Ideal Vom 1637 in Ingolstadt aufgeführten Jephte ist nur noch die Perioche erhalten. 184 Weitere Informationen zum Stück lassen sich jedoch der an Andreas Brunner gerichteten Ode 1, 33 entnehmen, 185 die Balde anlässlich der Erstaufführung des Stückes in Ingolstadt verfasst hatte. Balde erklärt zunächst, dass er die Gattung der Komödie - gemeint ist wohl der Iocus serius - hinter sich lassen wolle (Spleni litatum jam satis. ilia / Laboret alter rumpere Comicus, 9-10). 186 Statt als Komö‐ dienschreiber die Bäuche vor Lachen zum Platzen zu bringen, wolle er sich nun lieber der Tragödie widmen (Affer cothurnum, deme soccos, 19). Die Tragödie habe eine reizvollere Zielsetzung und einen anspruchsvolleren Auftrag (Major Tragoedum cura, major / Ordo movet, 11-12). Balde behauptet gar, traurige Stoffe versprächen mehr Befriedigung (juvat esse tristem, 12; Insana (nam quid dissi‐ 166 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="167"?> 187 Valentin 1978a, 67. Erläuterungen hierzu Stroh 2004a, 293. 188 Übers. Stroh 2004a, 293. 189 Diss. 27. Text und Übersetzung in der Edition von Burkard 2004, 32-35. mulo) juvant / Lamenta, 13-14; Non est voluptas nulla, dolentium / Audire qu‐ estus, 17-18). Antikes Vorbild für die Tragödie sei Seneca (totum Corduba me suo / Pervasit Annaeo, 14-15). Gerade diese Aussage ist im Kontext der Brunnerode von großer Bedeutung. Balde spricht sich hier deutlich für die klas‐ sizistische Tragödie nach antikem Muster aus. Explizit lässt er dies auch in der Perioche des Jephte verlauten: TRAGOEDIAM […] damus; […] ad veterum quidem Theatralium Legum lineamenta. 187 Eine solche Tragödie, „nach den Um‐ rissen der antiken Gesetze für das Theater verfasst“, 188 entsprach jedoch offenbar nicht dem Zeitgeschmack. Balde beklagt diesen später in der Dissertatio de studio poetico von 1658 ganz explizit: 189 Quot videmus fabulas quotidie dari ab iis, qui Poesin ne quidem intelligunt: nec absque plausu; vitio vulgi, cujus tota voluptas stat in sensibus: maxime natat in oculis: in auribus jam vix praeter modulatam haeret. Recita Carmen pulcerrimum. praeferetur illi gannitus Cauponis ebrii. stulti clava, clavam Herculis in populari Dramatio super‐ abit. Parasitus, Rusticus titubans, Nuntios mendax primariae personae, ceteros Ac‐ tores obscurant. plauditur comice. Sapienter dicta Tragoedi praetervolant. Totius Tra‐ goediae ad affectum concitandum ingeniosa Inventio, dispositaeque scenae, sine monstris subsidunt. Si Medea exhibenda est; sanguine theatrum cruentet, necesse est; vivis infantibus ante ora Spectatorum laceratis. quidquid reclamet Horatius, cum Eu‐ ripide, Empedocle & Sophocle. Vidimus busta: surrexit incendium. tonuerunt fabre‐ factae nubes. audivimus fragorem, & sonitus irati Iovis. volarunt ignei alipedes. Nep‐ tunus inter septem Phocas tridentem septies movit. Tum enimvero Pluto quattuor equis, flammas vomentibus, invectus, totam litem diremit. ingens Choragi ingenium! iste Musis operatur; olim haut dubie miranda quaedam edet in lucem. Ita pyrausta & Poeta, unum, idemque nomen, & decus obtinent. Quod stupeas, saepe magni Viri, &, qui docti videri volunt, his sumptuosis, & illustribus nugis (quae valdius oblectant populum) capti, domum revertuntur. Spectavimus, inquiunt, mirabilia, & Docta: ignari, Agyrtam, an Poetam spectaverint. Wie viele Dramen sehen wir täglich Menschen aufführen, die die Dichtung nicht einmal verstehen! Und das nicht einmal ohne Beifall - durch die Schuld der Masse, deren ganze Unterhaltung von den Sinnen abhängt und vor allem in den Augen schwimmt; in den Ohren bleibt sie nur haften, wenn sie gesungen ist. Trage ein wun‐ derschönes Gedicht vor. Man wird ihm das Gekläffe eines betrunkenen Wirtes vor‐ ziehen. Die Keule des Toren wird die Keule des Herkules in einem Volksdrämchen übertreffen. Der Parasit, der schwankende Bauer, der lügnerische Bote stellen als 167 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) <?page no="168"?> 190 Cf. Burkard 2004, 216-217. 191 Cf. hierzu Burkard 2004, 218. 192 Burkard 2004, 213. 193 Text und Übersetzung zitiert nach Stroh 2004a, 294. Hauptpersonen die anderen Schauspieler in den Schatten. Man gibt Beifall wie bei einer Komödie. Die lehrreichen Sentenzen des tragischen Schauspielers fliegen vor‐ über. Die geniale Erfindungskraft der ganzen Tragödie und die strenge Anordnung der Szenen - dazu geschaffen, die Affekte zu erregen - fallen ohne Wunderdinge durch. Falls man die Medea auf die Bühne bringt, muß sie unbedingt das Theater in Blut tauchen, die Kinder müssen lebend vor den Augen des Publikums zerrissen werden, mögen auch Horaz, Euripides, Empedokles und Sophokles noch so sehr Pro‐ test einlegen. Gräber haben wir gesehen, Brand stieg auf, künstliche Wolken don‐ nerten. Ein Krachen haben wir gehört und das Tönen des erzürnten Jupiter. Feurige Flügelrosse flogen umher; Neptun schüttelte zwischen sieben Robben siebenmal den Dreizack. Dann aber fuhr Pluto auf vier flammenspeienden Pferden einher und be‐ endete den ganzen Streit. Was für ein unglaubliches Genie der Regisseur ist! Er dient den Musen und wird sicher einmal etwas Bewundernswertes in der Öffentlichkeit präsentieren. So haben ein Feuerwerker und ein Dichter ein und denselben Namen, ein und denselben Ruhm. Worüber du dich wundern dürftest: Oft kehren große Männer, die kunstverständig erscheinen wollen, nach Hause zurück, ganz im Bann dieser aufwendigen und glänzenden Nichtigkeiten („sie unterhalten und fesseln das Volk mehr“). „Wir haben“, sagen sie, „Wunderbares und wahre Kunst gesehen“; sie wissen in Wahrheit nicht, ob sie einen Gaukler oder einen Dichter gesehen haben. Balde plädiert für die Reinhaltung der Tragödiengattung, die mit einem populare Dramatium nichts zu tun habe. 190 Er kritisiert die Präferenz des Publikums für leichte Kost und komische Figuren sowie die Forderung nach aufsehenerre‐ genden Effekten, die als einzige eine Tragödie noch attraktiv machten. So werde die Wirkung der Stücke außer Kraft gesetzt. 191 Diese auf äußere Effekte be‐ dachten Stücke seien nicht länger als Dichtung, sondern als Gaukelei zu be‐ zeichnen. Ferner lehnt Balde blutrünstige und grausame Szenen auf der Bühne ab. Burkard weist darauf hin, dass nicht klar gesagt sei, gegen wen konkret sich Baldes Kritik in der Dissertatio richtet. Er vermutet jedoch plausibel, dass nur das zeitgenössische Jesuitentheater gemeint sein könne, das es auf Schaueffekte angelegt habe. 192 Schon in der gut zwanzig Jahre vorher verfassten Perioche des Jephte kritisiert Balde die voyeuristische Freude der Zuschauer: 193 Nam finge hoc fabricante, theatrum inundare sanguine, lacerari in propatulo infantes, transadigi pectora, immolari filios: Argutior alius miserum Choragum Cothurno pul‐ sabit, admonebit Senecae, exprobrabit neglectas leges Tragicas: Medeam et cruenta 168 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="169"?> 194 Erstausgabe München 1635; allgemeine Informationen zum Stück Weiß 2015, 22-24. Stroh 2015, 643-647. 195 Auch die Chorpartien im Nabuchodonosor dienen der Unterhaltung. Es sind vor allem Chöre von Knaben, Engeln oder personifizierten Tugenden, die ohne festes System auftreten. Nur zwei Chorpartien (p. 50-51 und p. 65) haben Elemente eines antiken Chores. 196 Erst später wird er unter wechselnden Namen fester Bestandteil des Jephte-Stoffs. Zahl‐ reiche Beispiele hierzu Porwig 1932. Konstanciak 1991, 249 scheint Ariphanasso schon für den Jephte anzunehmen, vermischt hierbei jedoch die Perioche des Jephte und die spätere Ausarbeitung der Jephtias, da sie die in der Amberger Ausgabe von 1654 abgedruckten Lieder des Ariphanasso schon für den Jephte heranzieht. simulacra intra Scenam fuisse cohibenda. Ita quas pompas plebs indocta miratur im‐ modice; Docti modice delibant, Summae Rei intenti. Denn angenommen, dieser macht es möglich, dass das Theater im Blut schwimmt, dass Kinder in aller Öffentlichkeit zerfetzt, Brüste durchbohrt und Söhne geopfert werden, so wird ein anderer, gewitzterer, den armen Regisseur mit dem Cothurn treten, ihn an Seneca erinnern und ihm vorhalten, dass er die Gesetze der Tragödie missachtet habe: Man hätte Medea und solche Bilder der Grausamkeit hinter die Szene verbannen müssen. So kosten die Gebildeten nur mäßig von dem Schaugepränge, das das ungebildete Volk unmäßig bewundert. Ihnen kommt es auf die Hauptsache an. Balde stellt sich auch hier deutlich gegen das Verlangen des zeitgenössischen Publikums, das nach Effekten, Spektakel und leichten Stoffen giere. In der Ode 1, 33 schlägt Balde eine ähnliche Richtung ein wie in der Jephte-Perioche und in der Dissertatio. Er definiert seine Tragödie als klassisch von Seneca beein‐ flusst. Sie solle sich ganz an antiken Mustern orientieren (varias mihi / Antiqui‐ tatis vibret imagines, 21-22). Hier ist der Adressat, Andreas Brunner, klar be‐ nannt. Dieser hatte u.a. 1635 einen pompösen Nabuchodonosor verfasst, auf den Balde schon im Epithalamion Bezug nimmt. 194 Das Stück wurde wohl mit Ballett- und Gesangseinlagen aufgeführt und hatte mit einer strukturierten klassizisti‐ schen Tragödie, wie sie Balde im Sinn hatte, wenig gemein. 195 In der Ode setzt er seinen Jephte damit vom Werk Andreas Brunners ab. 2.2.2. Die Einführung der Figur des Ariphanasso In den folgenden Versen widmet sich Balde sodann dem Inhalt seines Jephte (29- 92). Die skizzierte Handlung unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen der erhaltenen Jephtias. Eine Neuerung ist allerdings die Einführung der Figur des ägyptischen Soldaten Ariphanasso, der Jephtes Tochter liebt. Balde ist der erste, der den Liebhaber zur Dramenhandlung hinzufügt. 196 Da Ariphanasso weder in der 169 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) <?page no="170"?> 197 Cf. S. 184 mit Anm. 239. Dieser Grundton spiegelt sich später auch in zwei Liebesliedern in den Melodramatica (Stücke 1 und 2), die auf Ariphanasso entfallen (Cf. auch Kapitel B. 2.3.3). 198 Cf. S. 184 mit Anm. 241. 199 Cf. S. 199. 200 Auch Stroh 2005, 234 stellt fest, dass Ariphanasso ein „nicht ohne Ironie gezeichneter Lieb‐ haber“ sei; ähnlich auch die Beschreibung von Stroh 2019, 432 als „den tölpelhaften Heiden Ariphanasso, der sich in die als Typus Christi fungierende Titelheldin der Iephtias hoff‐ nungslos vergafft hat.“ 201 Cf. auch Stroh 2018, 566: „Balde [hat] hier in diesem jungen ägyptischen Söldner einen echten, sympathischen, fast schon heldenhaften Liebhaber dargestellt, einen jungen Mann, dem […] die Herzen nicht nur der weiblichen Zuschauer zufliegen müssen.“ 202 Prolus. 27. Übers. Verf. ausführlichen Inhaltsbeschreibung der Brunnerode noch in der Perioche des Jephte Erwähnung findet, ist es wenig wahrscheinlich, dass diese Figur schon in der Ver‐ sion von 1637 auftrat. Zum einen übernimmt Ariphanasso eine auflockernde Funktion in der düsteren Dramenhandlung. Der kopflos verliebte Ägypter ist eine sympathische Figur, die Balde bewusst als Publikumsliebling hinzugefügt hat, um den finsteren Grundtenor des Dramas zeitweise zu durchbrechen: Ariphanasso ist emotional, impulsiv und alle seine Handlungen dienen dem höheren Ziel, Menu‐ lema glücklich zu machen und ihr Herz zu gewinnen. Seine Ständchen für die Geliebte sind schlicht, aufrichtig und spiegeln die treue Seele des aufopferungs‐ vollen Liebhabers. 197 Dennoch erhört ihn Menulema nicht, sondern schickt ihn als Soldat in den Krieg. 198 Doch auch dort werden ihm Steine in den Weg gelegt: Er plant einen Angriff auf den feindlichen Ammoniterkönig, wird dabei jedoch ge‐ fangengenommen. Ihm gelingt zwar die Flucht, doch durch ein Missgeschick ver‐ passt er schließlich die Entscheidungsschlacht. 199 Der liebenswerte Pechvogel ist so eine Figur, auf deren Auftreten sich die Zuschauer immer wieder freuen konnten und die durch ihre zutiefst menschlichen Züge ein hohes Identifikations‐ potenzial bot. 200 Die Einführung von Ariphanasso in der späteren Fassung könnte also ein Hinweis darauf sein, dass Balde seinem Publikum bewusst einen Sympa‐ thieträger präsentieren wollte, der diesem trotz der bedrückenden Tragödienhand‐ lung erlaubt, mit ihm mitzufiebern oder zu schmunzeln. 201 Allerdings belässt er es nicht bei dieser Funktion des Ariphanasso, sondern rechtfertigt seine Hinzufü‐ gung mit einer bibelexegetischen Erklärung. Balde erläutert das Vorgehen in seinem Vorwort selbst: 202 Sicut enim Menulema, tenera inflexione posita, in virile nomen Emmanuelis commu‐ tari potest; ita Ariphanasso in femineum Pharaonissa. Explica & repone literas hujus nominis; suaviore sono pronuncianda, non Ariphanasso, sed Pharaonissa tibi occurret; 170 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="171"?> 203 Stroh 2005, 233; ähnlich Stroh 2004a, 279-280. Dagegen Führer 2006, 675-676, mit Anm. 48. Zur Rolle des Ariphanasso cf. auch Scheid 1904, 28-29; Porwig 1932, 30-31; Bauer 1987, 462-463; Stroh 2004a, 305-308; Stroh 2006b, 234; Stroh 2018, 565-570. 204 Cf. bes. S. 203-206. ingeretque faces illius taedae nuptialis, quam caeleste Salomonis Epithalamium ac‐ cendit. Wie nämlich Menulema durch eine kleine Umstellung in den männlichen Namen Emmanuel verwandelt werden kann, so kann auch Ariphanasso in den weiblichen Namen Pharaonissa verändert werden. Entwirre die Buchstaben dieses Namens und ordne sie neu und nicht Ariphanasso, sondern das weicher auszusprechende Pharao‐ nissa wird sich dir zeigen. Sie wird das Feuer jener Hochzeitsfackel tragen, die das himmlische Hochzeitslied des Salomo entfachte. Stroh erläutert: „Weil man das Hohelied Salomonis seit langem auf die Liebe der Kirche oder der menschlichen Seele zu Christus deutete und weil Salomo es zu seiner Hochzeit mit einer Tochter des ägyptischen Pharaos geschrieben haben sollte, darum heißt nun dieser Liebhaber der Jephtetochter Ariphanasso, ein Anagramm für Pharaonissa, ‚Pharaos Tochter‘. So korrespondiert also das Mäd‐ chen Menulema dem Mann Christus (Emmanuel); der Mann Ariphanasso […] entspricht der liebenden Seele bzw. der Pharaotochter (Pharaonissa)! “ 203 Balde adelt die Figur des Ariphanasso also, indem er ihr einen höheren Sinn verleiht. Wie die Anima in der Philomela verkörpert er die menschliche Seele, die Christus von ganzem Herzen liebt. Folgerichtig geht Ariphanassos Funktion über die ko‐ mödiantische und liebenswerte in der zweiten Hälfte der Jephtias hinaus, da dort die typologische Deutung des Stücks im Vordergrund steht und Ariphanasso zur Unterstützung der ernsthaften theologischen Aussage hinzugezogen wird. 204 2.2.3. Die explizitere Typologie in der Jephtias Nicht nur, um seine Auslegung der Ariphanasso-Figur explizit zu machen, be‐ dient sich Balde der Technik des Anagramms. Zu dieser Methode greift er auch in der Jephtias, um die typologische Deutung von Jephtes Tochter zu erklären. Auch im Jephte ist die christliche Allegorie bereits angelegt (Tu nascituro, nobilis Hostia, / Dicere praelusisse CHRISTO, 74-75). Der Unterschied zur Jephtias liegt jedoch darin, dass Balde dort die Typologie ganz explizit macht. So erhält in der Fassung von 1654 Jephtes Tochter einen Namen. In der Bibel wird die Jephte-Tochter nicht namentlich genannt. Bei Lummenaeus a Marca heißt sie 171 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) <?page no="172"?> 205 Die Anlehnung an Iphigenie erscheint aufgrund des stark an Euripides orientierten Stückes naheliegend. 206 Cf. Prolus. 25: Expressi Jeph<t>ias, Menulema a nobis dicta, hoc est, transpositis per ana‐ gramma literis Emmanuel, nobiscum Deus. Burkard 2004, XXXIV-XXXV weist darauf hin, dass Balde Anagramme in der Dissertatio de studio poetico eigentlich ablehne (Diss. 18), damit aber nur Anagramme als bloßes „virtuoses Kunsthandwerk“ (XXXIV) meine, nicht sinnstiftende Kreationen wie die seine in der Jephtias. 207 Führer 2003, 53 und 89. Auf die weitere, wenig plausible Deutung der Ode durch Führer, die bspw. das speculum Othonis als Anspielung auf den Emblematiker Otto van Veen sieht (Führer 2003, 87; 90) oder weitere typologische Deutungsebenen erkennen will (Führer 2003, 133-135; 143-148; auch Führer 2002 und Führer 2005, 823-824), soll hier nicht weiter eingegangen werden. Sie ist hinreichend widerlegt bei Stroh 2004a, 275- 276, mit Anm. 94 und Lukas 2004. 208 Neutestamentliche Allegorien des alttestamentlichen Stoffes finden sich bspw. bereits auf mittelalterlichen Bilddarstellungen (cf. hierzu Porwig 1932, 10-11). Zu weiteren christlichen Exegeten, die Balde inspiriert haben könnten, cf. Valentin 1978b, 2, 792; Stroh 2004a, 274-275, mit Anm. 90. Baldes durch die Namensgebung explizites Gleich‐ setzen von Menulema und Christus ist allerdings in ihrer Art ein Novum (cf. Porwig 1932, 30). 209 Lukas 2004. Hyanthe, bei Buchanan Iphis. 205 Balde nennt seine Heldin Menulema. Im Vorwort des Stückes legt er dar, dass Menulemas Name als Anagramm für Emmanuel, also für Jesus Christus selbst aufzufassen sei. 206 Heidrun Führer möchte aufgrund der Brunnerode diese explizite Aussageebene bereits für die erste Fassung an‐ nehmen. 207 Allerdings bietet die Ode keinerlei Hinweise auf eine solche Na‐ mensgebung. Es ist unwahrscheinlich, dass Balde diese in der sonst sehr aus‐ führlichen Ode verschwiegen hätte. Auch in der Perioche des Jephte ist der Name Menulema an keiner Stelle erwähnt, Balde spricht stets von Jephtias. Freilich konnte Balde erwarten, dass die allegorische Ebene auch schon im Jephte von seinem Publikum verstanden wurde. Dennoch liegt der Unterschied in den beiden Fassungen darin, dass Balde durch die Namensgebung die Typologie noch klarer herausstreicht und ihr so mehr Gewicht verleiht. 208 Veronika Lukas stellt fest: „Man darf wohl davon ausgehen, daß die allegorische Exegese des Alten Testamentes seinen [Baldes] Zeitgenossen durchaus präsent war, daß man also entsprechende Gedankengänge beim Publikum schon voraussetzen konnte, selbst wenn man sich auf eine Andeutung in der Perioche beschränkte. Schließ‐ lich hat die Vermutung von Valentin und Bauer einiges an Plausibilität für sich, daß die Überarbeitung, die nach Baldes eigenen Angaben auf die rein diesseitigen Jephtetragödien seiner Vorgänger reagierte, gerade diese Dimension des Stoffes deutlicher herausstellt.“ 209 Die Verdeutlichung für die zweite Fassung unterstreicht die Aussage von Baldes Tragödie: Indem Menulema zum Symbol für Jesu Leiden und Sterben wird, erhält ihr Tod einen Sinn: Wie Christus für 172 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="173"?> 210 Zur Namensgebung mit weiteren Auslegungsmöglichkeiten cf. Stroh 2004a, 277 und Bauks 2010, 58-61. 211 Die Märtyrerrolle Menulemas unterstreicht auch Valentin 1978a. Allerdings geht er hierbei weiter und sieht in Jephtes Tochter eine stoische Heldin. Dagegen Bauer 1987 und Stroh 2004a, 272-273, der betont, es gehe hier vorrangig um das Herausstellen der für die Jesuiten zentralen Tugend des Gottesgehorsams; Anm. 87: „Balde hat gerade das stoische Postulat der Affektlosigkeit trotz seines immer latenten Stoizismus […] explizit abgelehnt. […] An seiner Jephtias betont Balde umgekehrt gerade die starke Affekthal‐ tigkeit“. Hierzu auch Führer 2005. 212 Porwig 1932, 31. 213 Lefèvre 2016 und Lefèvre 2018. Ohne Begründung auch Bremer 2009, 306. 214 Lefèvre 2016, 99; Lefèvre 2018, 144; 155-156. 215 Lefèvre 2016, 99; Lefèvre 2018, 145; 157. das Wohl der Menschheit sein Leben gegeben hat, opfert sich auch Menulema für die Sicherheit ihres Volkes. 210 Menulema wird zur ehrbaren Märtyrerin sti‐ lisiert, 211 Jephte durch seine Taten gleichsam zum Helden, der sein privates Glück dem Wohlergehen der Allgemeinheit unterordnet. So macht Balde das Problem der Schuldfrage obsolet. Johanna Porwig konstatiert: „Wenn jedes Ge‐ schehen als Wille Gottes, jeder Schicksalsschlag als Läuterung oder Prüfung und das ganze Dasein als bloße Vorbereitung auf ein besseres Jenseits angesehen wird, muß bei gottergebenen Seelen […] dem Konflikt und der Tragik jeder Boden entzogen werden. Wenn es gar gilt, ein Vorbild des kommenden Welter‐ lösers zu werden, wird das an sich traurige Schicksal sogar ersehnt und benei‐ denswert.“ 212 2.2.4. Jephte und Jephtias als Bühnenstücke Zwei deutliche Veränderungen vom Jephte hin zur Jephtias lassen sich also aus‐ machen: Die Einführung der Figur des Ariphanasso und die Verwendung des Anagramms Menulema für Emmanuel. Kein Unterschied besteht hingegen in der Konzeption beider Fassungen als Bühnenstücke: Für unzutreffend halte ich die Überlegungen von Lefèvre, der vermutet, die Jephtias sei als überarbeitete Leseversion des Jephte konzipiert worden. 213 Als Argumente werden angeführt, dass der häufige Wechsel von Chorpartien mit verschiedenen Sprechern auf der Bühne nicht darstellbar, 214 die Dramaturgie insgesamt zu verschachtelt und das Stück zu lang sei. 215 Zudem verweist Lefèvre auf Baldes Einleitung zum Stück. Dort bemerkt Balde, er habe ein ausführliches Vorwort beigegeben, um den Mangel an Lebendigkeit auszugleichen, der sich durch die Abwesenheit von Schauspielern ergebe. Ferner habe ein Buch den Vorteil, dass man es beiseite‐ legen könne; dem Lauf einer Tragödie hingegen könne man sich nicht 173 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) <?page no="174"?> 216 Ad Lectorem, 10-11. 217 Lefèvre 2018, 500. 218 Lefèvre 2016, 111. 219 Burkard 2006a, 170 weist darauf hin, dass die Behandlung poetologischer Fragen Haupt‐ gegenstand von Baldes Vorreden sei. 220 Ad Lectorem, 11; Westermayer 1868 (Nd. 1998), 69 führt ein Stück von Bidermann an, das von „Mittag bis in die Nacht volle sieben Stunden“ gedauert habe; Stroh 2004a, 302 unterstreicht, dass „auch die zweite, überlange Fassung mit einer Dauer von, ungekürzt, etwa sieben, acht Stunden reiner Spielzeit, durchaus für das Theater bestimmt“ sei. entziehen. 216 Lefèvre führt weiterhin aus, Balde könnte die Jephtias „für die Lek‐ türe des Fürsten Weikhard von Auersperg höchstselbst bestimmt“ haben, an den eine Widmung vorangestellt ist. 217 Er vermutet, Balde, der mit seiner Situation in Amberg unzufrieden gewesen sei, habe sich von dem Fürsten gewisse Privi‐ legien erhofft, zu welchem Zweck er zahlreiche Parallelen zwischen der Figur des Jephte und dem Fürsten geschaffen habe. 218 Diese Dedicatio hat jedoch höchstens oberflächlich politische Bedeutung. Balde verweist nur kurz am Ende auf Bezüge seines Adressaten zu Jephte, um der Topik der Widmungsvorrede gerecht zu werden, nicht aber, um Auersperg tatsächlich in den Mittelpunkt seiner Jephtias zu stellen. Den Großteil des Widmungstextes verwendet Balde stattdessen darauf, in aller Ausführlichkeit die Konzeption seiner Tragödie zu bestimmen. 219 Er definiert die Jephtias als Stück in senecanischer Nachfolge und betont ihre Stellung als klassizistische Tragödie, die sich von der zeitgenössi‐ schen Produktion abhebe. Balde betont hier also erneut den literarischen An‐ spruch, den er bereits für seinen Jephte in der Brunnerode gestellt hatte und später in der Dissertatio noch einmal hervorgehoben hat. Dass er mit der Wid‐ mung an Auersperg auch utilitaristisch gedacht haben mochte, ist möglich, war jedoch sicherlich nicht der vornehmliche Beweggrund für die Herausgabe der Jephtias. Balde wollte der Öffentlichkeit eine Tragödie präsentieren, die sich formal an klassischen Vorbildern orientierte und inhaltlich ein theologisches Streitthema erörterte. Aufbau und Sprache sind zwar eng an Seneca angelehnt, Abweichungen, die bei einer antiken Tragödie möglicherweise gegen eine Auf‐ führbarkeit gesprochen hätten, sind bei Balde aber aus dem Usus des zeitgenös‐ sischen Jesuitentheaters zu erklären. So waren lange Stücke an der Tagesord‐ nung. Balde weist zwar selbst darauf hin, dass die Jephtias besonders ausführlich geraten sei, führt jedoch mit der Flavia ein Stück von Bernardino Stephonius ins Feld, das sogar noch länger sei. 220 Zahlreiche Schauplatzwechsel, exotische Ku‐ lissen und ein hohes Personalaufgebot waren nichts Ungewöhnliches. Ferner gilt zu beachten, dass eine komplizierte Dramaturgie bei Balde keine Seltenheit ist. Auch im Iocus serius, der ja explizit für die Bühne bestimmt war, wird die Dramaturgie stets durch unerwartete Elemente durchkreuzt. Die Jephtias war 174 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="175"?> 221 Cf. Stroh 2004a, 291-292. Ähnlich auch Stroh 2006b, 233. Für unzutreffend halte ich die Überlegung von Führer 2002, 90, Balde habe das Stück drucken lassen, damit es als „jesuitische Modelltragödie im Dienst der Gegenreformation“ genutzt werden könne. 222 Balde begründet dies selbst in einem eigenen Vorwort zu den Stücken. Ersetzt werden nicht nur zwangsläufig Chorpartien, sondern vor allem emotionale Passagen, die sich zur Vertonung eignen. Ausführlicher zu den Melodramatica cf. S. 208-212. fraglos dramaturgisch schwierig umzusetzen, doch ist dies vielmehr Baldes un‐ konventionellem literarischem Stil geschuldet, der bisweilen ohne Rücksicht auf die konkrete Aufführungssituation Ideen zu verwirklichen suchte. Es ist offensichtlich, dass Balde das Stück als echtes Theaterstück konzipierte. Die ausführliche Aufbereitung und Kommentierung für die private Lektüre zeugt dabei, wie Stroh plausibel darlegt, von Baldes Stolz auf seine Jephtias, die er für so anspruchsvoll hielt, dass sie auch neben einer Aufführung einem brei‐ teren Publikum zugänglich gemacht und durch den Druck verewigt werden sollte. 221 Hierauf sind auch die Hinweise zum Lesen des Dramas in der Vorrede an den Leser gemünzt. Hauptintention war jedoch, das Werk auf die Bühne zu bringen. Dass Balde der Anspruch, den er mit seiner Jephtias an das Publikum stellt, offensichtlich bewusst war, spiegelt sich in zwei Zugeständnissen, die er in der überarbeiteten Version macht: Einmal in der bereits erwähnten Figur des verliebten Ariphanasso, den er dem Publikum als tollpatschigen Sympathie‐ träger und auflockerndes Element liefert. Zweitens in den Melodramatica, die sich in der Appendix zur Amberger Erstausgabe finden. Dort hat Balde der Jephtias Musikstücke beigegeben, mit denen in einer Aufführung einige Partien ersetzt werden konnten, um den Genuss für die Zuschauer zu erhöhen. 222 Die Tatsache, dass auch die Noten zu den Singstücken abgedruckt sind, widerspre‐ chen der These, die Jephtias sei als Lesedrama in den Druck gebracht worden, da die Komposition von Singstücken ohne eine intendierte Aufführungssitua‐ tion zwecklos wäre. Sie zeugen von Baldes Bemühen, sein Stück dem zeitge‐ nössischen Publikum schmackhaft zu machen und Kompromisse einzugehen, um eine Aufführung zu ermöglichen. Obwohl es sich bei der Jephtias immer noch um eine klassizistische Tragödie handelt, hält sich Balde im Vergleich zum Jephte nicht mehr rigoros an deren Reinform, sondern gesteht auflockernde Elemente zu. Dass ein Beleg für eine Aufführung fehlt, könnte allerdings darauf hindeuten, dass Balde seine Zeitgenossen mit der Jephtias trotz allem überfor‐ derte. 175 2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654) <?page no="176"?> 223 Stroh 2004a, 297-298, Anm. 167 nimmt an, es gebe keinen Unterschied in der Chorver‐ wendung der beiden Fassungen. 224 Lefèvre 2016; Lefèvre 2018. 225 Zum Lied der Gefährtinnen Menulemas cf. S. 192-193; zu denen der Gefährten Jephtes cf. S. 196 (Schlaflied für Jephte) und S. 187-188 (Wechselgesang). 2.2.5. Der Chor im Jephte Interessanterweise scheinen diese Lizenzen die Chorlieder nur am Rande be‐ rührt zu haben. Die meisten Chorlieder bleiben in der Version mit den Melodramatica erhalten. Auch zwischen den Chören des Jephte und denen der Jeph‐ tias sind nur geringe Unterschiede zu erkennen. 223 Lefèvre hat anhand der Pe‐ riochen der beiden Versionen einen Vergleich der Chorlieder unternommen. 224 Er arbeitet heraus, dass nur drei Chorlieder in der Jephtias hinzugekommen seien, der Auftritt der Sodales Virginis Menulemae nach der vierten Szene des dritten Akts und der Chorus Asseclarum Jephtae nach der ersten und vierten Szene des vierten Akts. In den ersten drei Akten scheint der Einsatz von Chören in beiden Stücken also relativ ähnlich gehalten zu sein. Eine Abweichung stellt hier nur das dritte Chorlied der Jephtias dar, ein Lob des Friedens. Außerdem kommt in der Jephtias in den letzten beiden Akten das Schlaflied für Jephte am Ende der ersten Szene des vierten Aktes hinzu, das vor dem Klagelied der Freun‐ dinnen Menulemas in den Bergen eingeschoben wird. Nach der vierten Szene desselben Aktes findet ein Wechselgesang zwischen Jephte, Aodus und dem Chor statt, der Jephtes letzten Entscheidungskampf beleuchtet. Nicht mehr zu rekonstruieren sind kleinere Redeanteile des Chores, die in die Perioche keinen Eingang gefunden haben, in der Jephtias jedoch gerade in der zweiten Hälfte des Stückes äußerst häufig sind. Auf die Bedeutung der hinzugekommenen Lieder wird an späterer Stelle in der detaillierten Untersuchung der Jephtias hingewiesen werden. 225 Festzuhalten bleibt hier Folgendes: Die Einfügung der neuen Chorpartien scheint in erster Linie zwei Gründen geschuldet. Wie die Untersuchung der Chorpartien in Baldes nicht-tragischen Stücken zeigt, hat Balde in vielfältigen Kontexten mit Chorfunktionen experimentiert und ist so in der Lage, einen Chor souveräner und flexibler einzusetzen als noch im 17 Jahre zuvor verfassten Jephte. Außerdem stellt Balde in der Jephtias die typolo‐ gische Deutung klarer heraus. Auch die Bearbeitung des Chores wird diesem theologischen Zweck angepasst. Der Chor dient ihm als Mittel, um sicherzu‐ stellen, dass auch ohne gedrucktes Vorwort das Stück selbst seine Deutung ex‐ plizit vorträgt. Hierfür den Chor zu benutzen, ist naheliegend, soll die Tragödie doch in senecanischer Nachfolge stehen. Die Übernahme des senecanischen Chorkonzepts wäre die logische Konsequenz. Im Folgenden soll nun untersucht 176 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="177"?> 226 Zitiert wird im Folgenden nach Op. om. 6, 1-181, die sich im Wesentlichen auf die Erstausgabe Amberg 1654 beziehen. Nicht berücksichtigt wird die Kölner Ausgabe von 1660, da dort zahlreiche Abweichungen zur Erstausgabe zu verzeichnen sind. Die Vers‐ zählung ist von der Verf. zur besseren Übersicht eingefügt. 227 Jephte ist aus einer unehelichen Verbindung hervorgegangen und wurde deswegen von seinen Brüdern vertrieben, cf. Ri 11, 1-3. Zu den Chorliedern der Jephtias cf. auch Heider 1999, 195-197. Allgemein auch Stickler 1937, 39-43. 228 Im Oedipus wird die Sonne allerdings als negativ empfunden und als übles Omen für einen neuen unheilbringenden Tag angesehen. In der Medea bilden Sonnenaufgang und Untergang den zeitlichen Rahmen des Stückes. Auch Balde spielt auf diese Einheit der Zeit an, da Jephte am Ende des vierten Aktes verkündet, für die Opferung auf den nächsten Sonnenaufgang zu warten (3366-3367, p. 142), wenngleich die zeitliche Hand‐ lungsspanne der Jephtias die 24 Stunden freilich um ein Vielfaches übersteigt. werden, ob Balde seinen Chor nach dem senecanischen mise-en-abyme-Konzept agieren lässt oder ob sich Abweichungen ergeben und, wenn ja, wie sich diese erklären lassen. 2.3. Die Chorlieder der Jephtias 2.3.1. Der Chor nach senecanischem Muster 2.3.1.1. Jephte: Ein idealer Herrscher Im ersten Akt in der ersten Szene (1-53, p. 30-31) 226 wird Jephtes Exil im Lande Tob beschrieben, sodann seine Rückberufung als Richter und Fürst von Gilead. Im Anfangsmonolog ruft Jephte die Sonne an (Solis jubar, 1, p. 30) und beklagt seinen Status als aus dem Heimatland Vertriebener (ejectum domo, 7, p. 30; pro‐ fugus erro, 22, p. 30). Dabei unterstreicht er seine Schuldlosigkeit an der Situation (Sine crimine exsul, 24, p. 30), die allein auf seine uneheliche Geburt zurückzu‐ führen sei (solo scelere Genitoris nocens, 26, p. 30). 227 Es ergeben sich thematische Parallelen zum senecanischen Oedipus, die sich auch in der Wortwahl manifes‐ tieren: So erfolgen auch zu Beginn des Oedipus die Klage über die Heimatlosig‐ keit (exul, 13; profugus, 23), Anrufung der Sonne (maestum iubar, 2) 228 und erste Reflexionen über Schuld. Jephte betont, dass er trotz der ihm widerfahrenen Ungerechtigkeit keine Rachegedanken hege (vindices paenas tamen / Sumpsisse numquam, 8-9, p. 30), da er dafür von zu reiner Gesinnung sei (defuit / Animo voluntas prava, 14-15, p. 30). Jephte verkörpert in diesem Eingangsmonolog das in den Senecatragödien proklamierte Ideal, sein Schicksal stets würdevoll an‐ zunehmen. Jephte kommt sodann auf seine Familie zu sprechen, die mit ihm im Exil weile, und lobt mit zärtlichen Worten seine Tochter, die ihm als einziges 177 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="178"?> 229 Zu diesem Chorlied Janning 2005, 126-127; ausführlich Lefèvre 2016, 101-110 mit Übersetzung und detaillierter Kommentierung. Lefèvre 2016, 111-113 vermutet, dass das Thema der ambitio erst in der Jephtias hinzugekommen sei, da die Perioche des Jephte das Thema noch nicht erwähne. Ziel sei gewesen, das Lied enger an die Widmung an Auersperg anzubinden, der ebenfalls als ambitus expers stilisiert wird. Diese Deutung geht jedoch zu weit: Erstens ist nicht sicher, wie das erste Chorlied des Jephte inhaltlich genau ausgesehen hat, da die Perioche nur eine sehr verkürzte Übersicht liefert. Zwei‐ tens ist wahrscheinlich, dass Balde, wenn er das Chorlied tatsächlich erweitert hat, dies vor allem getan hat, um seine Interpretation des Stoffes zu unterstützen, indem Jephte möglichst positiv stilisiert wird. Kind alles bedeute (37-43, p. 30). Diese erste Vorstellung Menulemas lässt die später folgende Opferung umso tragischer erscheinen und weckt das Mitgefühl der Zuschauer mit dem liebenden Vater. Die Expositionsszene nutzt Balde dazu, Jephte zu einer positiven Figur zu stilisieren: Er ist integer, besonnen und sympathisch. Bereits an dieser Stelle scheint es schwierig, ihn als leichtfertigen Mann zu sehen, der im eigenen In‐ teresse (militärischer Machtgewinn) ohne nachzudenken das fatale Gelübde ab‐ gibt. Dieser Eindruck verfestigt sich in dem in der zweiten Szene (54-199, p. 31- 38) folgenden Gespräch zwischen Jephte und den Gesandten aus Gilead, die ihn bitten, aus dem Exil zurückzukehren, um das Land gegen die Ammoniter zu verteidigen. Ungeachtet seiner natürlichen Anlagen, die ihn als Fürsten aus‐ zeichnen und an denen ihn die Gesandten sofort erkennen (vultus […] nobilis, / Totumque corpus arduum spirant Ducem, 57-58, p. 31), lehnt Jephte zur Verwun‐ derung der Bittsteller die neue Machtposition zunächst ab, da er sich mit seiner jetzigen Situation begnügen könne (Leg. I.: Quis sceptra spernat? Je.: sorte con‐ tentus sua, 100, p. 32). Erst die Aufforderung der Gesandten, es nicht für sich selbst, sondern für sein Volk zu tun (Leg. II.: Privata si te permovent minus bona: / Saltem obstinatum publica exorent mala, 104-105, p. 32-33), kann Jephte letztlich erweichen. Gleichwohl bleibt er vorsichtig, da er den Wankelmut des Volkes fürchtet (Fluxa popularis fides, 143, p. 34) und lässt sich sein neues Amt durch einen Schwur bestätigen (160-161, p. 34). Im Folgenden beschreiben die Gesandten ihm die finsteren Pläne von Ammon und bitten Jephte erneut, die drohende Gefahr von ihrem Volk abzuwenden (171-196, p. 34-35). Dieser erklärt sich bereit und ruft zum Aufbruch. Jephte erscheint am Ende dieser Unterredung als aufopferungsvoller, umsichtiger Held mit Führungsqualitäten, der sein pri‐ vates Glück dem Wohl des Volkes unterordnet und sich nicht aus der Verant‐ wortung stiehlt. Dem ersten Akt folgt das erste Chorlied (200-309, p. 35-38) über den Ehrgeiz der Menschen, das von den Anhängern Jephtes vorgetragen wird. 229 Der Chor thematisiert in einem ersten Gedankengang (200-239, p. 35-36) zunächst das 178 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="179"?> 230 Lefèvre 2016, 106 zeigt Entsprechungen der verwendeten Bilder in der Medea, im Oe‐ dipus und im Hercules Oetaeus auf. Er erörtert (110), dass „der erste Chor insgesamt weit davon entfernt ist, expressis verbis eine <christliche> Theologie vorzutragen, obwohl er dazu die ideale Plattform gewesen wäre. Die bewußte Seneca-Nachfolge steht im Vordergrund.“ 231 Die Wortwahl ist hier noch einmal dieselbe wie im Aktgeschehen zuvor. Laster der unmäßigen Herrschsucht (Dira regnandi […] cupido, 200, p. 35) und dessen negativen Einfluss auf den menschlichen Charakter. Dazu fügt sich der schon im Regnum poetarum angeklungene Topos der Fallhöhe. Reihungen von negativ besetzten Verben (Cupit, ardet, audet, 229, p. 36), Verwendung von se‐ necanischen ‚Affektvokabeln‘ (Urit, 201, p. 35; cupido, 200, p. 35; vis, 203, p. 353; furit, 208 und 209, p. 35), typische Chormetren (sapphische Strophen; Anapäste) sowie die sprachliche Höhe erinnern deutlich an den senecanischen Chorlied‐ stil. 230 Auf diese sentenzenreiche Passage folgt mit der Nennung von Jephte (240, p. 36) ein Wechsel vom Allgemeinen zum Konkreten und vom Negativen zum positiven Gegenbild. Jephte sei zum Anführer erkoren worden. Er sei ein geeigneter Kandidat für das Amt des Herrschers, da er nicht von persönlichem Ehrgeiz und Herrschsucht angetrieben werde (Ambitus expers, 242, p. 36). Jephte ist also frei von der zu Beginn des Chorlieds angeprangerten cupido regnandi. Trotz der Aussicht auf Ehre und Ruhm habe man ihn sogar erst überzeugen müssen, die Führungspo‐ sition zu übernehmen (Gloriam contra violentus ipsam / Fronte cunctator stetit irretorta, 245-246, p. 36). Da nur jemand herrschen solle, der diese Macht nicht begehre (Imperet, quisquis fugit imperare, 256, p. 37), sei Jephte genau die richtige Wahl (Regnet ut Jephte, meruit rogari, 272, p. 37). Der Chor leitet sodann mit dem Wechsel zum anapästischen Metrum zu einem dynamischen Abschlussteil (273-309, p. 37-38) über, in dem er dazu auf‐ ruft, Jephtes Beispiel zu folgen (Nos quoque fortis / Exempla viri tanta se‐ quamur, 273-274, p. 37). Er betont, dass dieser trotz schlechter Voraussetzungen die Führungsposition durch eigene Kraft verdient habe. Durch seine Selbstbe‐ herrschung und Integrität (Animus magnus dominansque sibi, 274, p. 37) gleiche Jephte fehlende nobilitas aus und müsse sich nicht auf seine Vorfahren und einen großen Namen verlassen (Quid stemma juvat? patriae quid opes? / Exsul, pro‐ fugus, contemptus, inops / Virtute sua surgit in altum, 277-279, p. 37). 231 Hier darf nicht vergessen werden, dass der Chor im ersten Lied aus den Gefährten Jephtes besteht, die auch ein ganz persönliches Interesse am Lobpreis ihres Anführers haben: Jephte wird hier nicht nur allgemein zum Idealbild stilisiert, sondern wird insbesondere auch zum Vorbild für seine eigenen Soldaten, die genauso wie ihr Anführer die Chance haben, durch eigene Leistung Ehre zu erlangen. Das Mittel, 179 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="180"?> 232 Auffällig ist die Verwendung stoischer Diktion (virtus; animus magnus; dominans sibi), die Balde jedoch durch die Betonung der eigenen Kraft übersteigt. 233 Zur Figur des Ariphanasso cf. S. 169-171. um Tapferkeit zu beweisen, sei der Sieg über Ammon (Mihi materia / Fortia bello fiet agendi / Barbarus Ammon, 299-301, p. 38). Durch das Epitheton Barbarus wird unverkennbar darauf hingewiesen, dass dieser Feind durch seine Sitten und Ungläubigkeit eine große Gefahr für das Volk von Gilead darstelle, die mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Durch das Erreichen der selbstbe‐ stimmten Ehre könnten schließlich sogar die Launen des Schicksals ausgehebelt und das eigene Glück selbst in die Hand genommen werden (Fortuna volat, For‐ tuna rapit, / Fortuna dedit, Fortuna dabit / Hanc Fortunam sibi quisque facit, 304- 306, p. 38). In dieser Vorstellung ist ein deutliches Abweichen von der seneca‐ nischen Determinationskonzeption zu verzeichnen: Das Schicksal ist nicht nur zu akzeptieren, sondern kann durch eigene Kraft mit positiven Werten gefüllt werden. 232 Dies entspricht der christlichen Vorstellung, die den guten Taten des Einzelnen einen hohen Wert beimisst. Der aus der Perspektive der Soldaten ge‐ sprochene Schluss des Chorliedes spiegelt die persönliche Sichtweise der Ge‐ fährten Jephtes auf das Geschehen: Ruhm und eine ehrenvolle Position können durch die eigene virtus erlangt werden. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für ihren Herrscher Jephte, sondern auch für sie selbst. Jephte erweist sich somit als vor‐ züglicher Anführer, da er seinen Soldaten ein ideales Verhalten vorlebt und sie zur Nachahmung anregt. Das erste Chorlied nimmt mit der Opposition von unmäßiger Herrschsucht und idealem Herrscher den Kern des ersten Aktes auf. Der positive Eindruck, den die Eingangsszenen von Jephte vermittelt haben, wird zusammengefasst. Jephte erscheint als tugendhafte Leitfigur, der man sich bedingungslos anver‐ trauen kann und die den Versuchungen der Macht nicht erliegt. Den Platz als Herrscher nimmt er ein, um sein Volk vor dem Verderben zu schützen. Ferner motiviert er seine Anhänger durch sein vorbildhaftes Verhalten, ihm nachzuei‐ fern. All diese Aussagen bereiten den Boden für Baldes typologisch intendierte Interpretation des Stoffes, die keine moralische Schuld bei Jephte erkennen lässt. 2.3.1.2. Notwendigkeit des Gelübdes Der zweite Akt (310-1670, p. 38-96) verfügt über zwei Handlungsebenen: Der erste Handlungsstrang thematisiert die Liebe des ägyptischen Soldaten Aripha‐ nasso zu Jephtes Tochter Menulema, 233 der zweite seinen Antagonisten Ammon, der als Sinnbild des tyrannischen Herrschers schlechthin gezeichnet wird. In der ersten Szene (310-443, p. 38-42) betritt zunächst Ariphanasso die Bühne und stellt sich in einem Monolog selbst vor. Er erklärt seine unermessliche Liebe für 180 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="181"?> Menulema (Menulema totum cordis occupat sinum, 319, p. 39) und preist ihre Vorzüge. Demgegenüber nennt er seine eigene schlichte Herkunft und spricht sich Mut zu, trotzdem einen Eroberungsversuch zu wagen (quid sis, vides / Ad haec inops et pauper. Audendum est tamen, 358-359, p. 40). Allerdings beunruhigt ihn die Tatsache, dass Menulema Jüdin und sehr gläubig ist (Hebraea Virgo Numen unicum colit, 430, p. 41). Er befürchtet, er habe als ägyptischer Heide deshalb keine Chance (Ut cuncta adessent atque confluerent bona, / Soceri colentis Numen adversum tibi / Gener esse nequeas, 441-443, p. 43) und verlässt nieder‐ geschlagen die Bühne (desine. Insanis miser, 443, p. 43). Die Expositionsszene der Figur des Ariphanasso dient zum einen dem Einbezug der Zuschauer: Der Ägypter lässt dem Publikum mit der ehrlichen Schilderung seiner Liebe und Verzweiflung kaum eine andere Wahl, als mit ihm mitzuleiden. Ferner wird Menulema durch Ariphanassos Rede bereits positiv stilisiert und als tugendhaft und religiös charakterisiert. Scharf in Kontrast dazu steht der König der Ammoniter in der zweiten Szene (444-629, p. 42-67). Dieser tritt zunächst mit einer wüsten Schmährede auf den jüdischen Glauben in Erscheinung, in der er sämtliche Glaubensgrundsätze ge‐ hässig in den Schmutz zieht und dem jüdischen Volk jegliche territorialen Rechte abspricht (444-548, p. 42-45). Er macht deutlich, dass er keineswegs auf die durch einen Boten überbrachte Forderung Jephtes nach sofortiger Unterwer‐ fung einzugehen gedenke (549-561, p. 45). Den neuen Fürsten von Gilead stuft er als vermessenen Machtaspiranten ein, der kein ernstzunehmender Gegner für ihn sei (562-572, p. 45). Um diese Vorstellung noch deutlicher zu machen, greift er auf die antike Mythologie zurück: Jephte sei Phaeton vergleichbar, sein Vorhaben sei Hybris und damit zum Scheitern verurteilt, denn der Krieg mit den Ammonitern sei eine noch größere Aufgabe als den brennenden Sonnenwagen anzuhalten (Cur non eadem audacia hic Phaeton novus / Solis quadrigam sistere incensam parat! / Majora tentans subeat immiteis equos / Tardare Martis, 564-567, p. 45). Schließlich fordert er seine Untergebenen auf, ihm Genaueres über Jephte zu berichten (573-575, p. 45). Als erstes tritt sein Krieger Jaramazda auf (576- 583, p. 45-46). Herablassend verunglimpft er Jephtes uneheliche Herkunft und schätzt sowohl ihn als auch sein Volk nicht als ernsthafte Bedrohung ein. Anders sieht es Ammons Berater Beharola (584-618, p. 46-47), der davor warnt, Jephte nicht ernst zu nehmen (Qui non timetur, hunc timendum censeam, 584, p. 46). Jephte sei wie ein verwundetes Tier, das, in die Enge getrieben, besonders ge‐ fährlich werde (600-614, p. 46). Seine Verzweiflung könne ungeahnte Kräfte in ihm wecken (Opifex salutis ipsa desperatio est, 618, p. 67). Ammon verhöhnt Be‐ harola jedoch seinerseits mit einem Tiervergleich als Feigling: Er sei ein Hase mit Kriegshelm (Tute galeatus lepus, 620, p. 67), der nicht länger würdig sei, ihn 181 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="182"?> 234 Cf. z.B. 690-694, p. 69: Leg.: Vis, atque moles absque consilio ruunt. / Am.: Cumulare parta posse, consilium voco. / Leg.: Quod possides injuria, damnum voces. / Am.: Imperia, quae non semper assurgunt, cadunt. / Leg.: Imperia, quae per crimen assurgunt, cadent; für Seneca z.B. das Gespräch zwischen Pyrrhus und Agamemnon im zweiten Akt der Tro‐ ades (hierzu S. 80-82). 235 Die Androhung von Brachialgewalt als Methode zur Tyrannenzeichung ist bereits in den Seneca-Tragödien ein gängiges Mittel: cf. Dänzer 2015. Hier droht Ammon schließ‐ lich, im Falle eines Krieges selbst die unschuldigen Kinder noch im Mutterschoß zu töten (Nullus effugiat necem. / Scrutemur uteros; quodque catulorum latet, / Imo extra‐ hamus ense, 741-743, p. 70). 236 So führt Ariphanasso einen despektierlich formulierten Katalog seiner Götter und der ägyptischen Bräuche an (761-770, p. 71). zu beraten. Jephte wird in der zweiten Szene aus Sicht seiner Feinde beschrieben. Durch seine vorhergehende Charakterisierung im ersten Akt ist deutlich, dass er zu Unrecht unterschätzt wird und die Hybris nicht ihm, sondern Ammon selbst anzulasten ist. Es folgt das Aufeinandertreffen des Ammoniterkönigs mit dem Gesandten Jephtes in der dritten Szene (630-750, p. 67-70). Ammon ist äußerst misstrauisch und lässt den Gesandten zunächst auf versteckte Waffen untersuchen (634-635, p. 67). Außerdem ist er unaufrichtig und beschließt, sich im Gespräch zu ver‐ stellen (Simulabo vultus interim, 640, p. 67). Sprache und Stil des Rededuells er‐ innern an die Stichomythien in den Seneca-Tragödien, in denen vor allem Sen‐ tenzen ausgetauscht werden. 234 Ammon entpuppt sich als rhetorisch unterlegen. Da es ihm nicht gelingt, dem jüdischen Boten im Streitgespräch Paroli zu bieten, greift er schließlich zu wüsten Drohungen (718-750, p. 69-70) und bricht das Gespräch ab. 235 Die Unterredung endet mit Ammons Kriegserklärung, die un‐ mäßige Grausamkeit vorausahnen lässt (Unus modus sit iste, saevitiae modum / Servare nullum, 748-749, p. 70). Ammon zeigt sich nach den beiden Szenen als Tyrann: Er vertraut niemandem außer sich selbst, überschätzt sich maßlos, duldet keine Widerworte, ist unreflektiert und grausam. Durch die Diskreditie‐ rung ihres Königs zeichnet Balde die Ammoniter als Barbaren, die Jephtes Volk moralisch und intellektuell weit unterlegen sind. Bevor diese Charakterisierung auf die Spitze getrieben wird, erfolgt in der vierten Szene ein kurzer Auftritt von Ariphanasso (751-839, p. 70-71). Als Kon‐ sequenz aus seinen zuvor erfolgten Überlegungen, Menulema könne ihn wegen seines Glaubens ablehnen, schwört er seinen ägyptischen Göttern ab und be‐ kehrt sich zum Judentum. Die Bekehrungsrede ist amüsant, 236 voll inbrünstiger Liebeserklärungen für Menulema und schwankt stets von einem Extrem (Hoff‐ nungslosigkeit und Verzweiflung) ins andere (übertriebene Zuversicht und Ta‐ tendrang). Schließlich fasst Ariphanasso den Entschluss, ganz nach dem antiken 182 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="183"?> 237 Z.B.: Nescit Tyrannus esse, qui perimit cito; / Vindicta quae lentescit, haec est dulcior, 906- 907, p. 75. Die folgenden Überlegungen zu angemessenen Bestrafungen für Jephte er‐ innern an den Eingangsmonolog des Tantalus im Thyestes. 238 Auch der Aufbau entspricht einem typischen senecanischen Botenbericht (Zurück‐ schrecken vor dem unsagbaren Inhalt des Berichts; Beschreibung des Schauplatzes und der Akteure; detaillierte Darlegung des grausigen Geschehens; Reaktion der Zu‐ schauer). Topos der militia amoris mit aller Kraft um Menulema zu kämpfen (835-839, p. 73). Balde gesteht seinem Publikum mit Ariphanassos Rede erneut eine Er‐ holungspause zu. Ökonomischer wäre es gewesen, die Charakterisierung Am‐ mons erst völlig abzuschließen, um dann den Fokus auf Jephte und seine Tochter zu legen, doch der Einschub der Bekehrungsszene belohnt die Zuschauer mit dem Auftritt einer positiv konnotierten Figur und hält den Spannungsbogen der Liebesgeschichte aufrecht. Außerdem wird ein kurzer Ruhepunkt vor der fol‐ genden pompösen und grausamen Szene geschaffen. In der fünften Szene (840-1090, p. 73-80) greift Balde auf die Methode des Botenberichts zurück. Er vermeidet so einen erneuten Schauplatzwechsel und die Darstellung der ausnehmend scheußlichen Begebenheiten auf der Bühne. Fünf verschiedene Kundschafter aus Gilead berichten von ihren Beobachtungen bei den Ammonitern: Diese sind militärisch klar in der Überzahl (Explorator I, 840-857, p. 73). Ammon selbst zeichnet sich auf der einen Seite durch Grau‐ samkeit, auf der anderen durch Verschwendungssucht und Prahlerei aus. So wird ein Gastmahl beschrieben (Explorator II, 858-929, p. 73-75), das deutlich an Senecas Thyestes angelehnt ist. Ammon ergeht sich in übermäßigem Prunk, wähnt sich unverwundbar und auf dem Gipfel seiner Macht. Der Einsatz von zahlreichen Wendungen zur Umschreibung ungebremster Raserei unterstreicht seinen Jähzorn. 237 In alledem wird dieser vollkommene Bösewicht zum finsteren Gegenbild des bescheidenen Jephte. Der dritte Kundschafter warnt Jephte ein‐ dringlich vor der Gefahr durch Meuchelmörder (Explorator III, 930-935, p. 75- 76). Auch vor dieser unehrenhaften Methode scheint Ammon nicht zurückzu‐ schrecken, um seinen Feind zu beseitigen. Die Szene gipfelt in der Schilderung der bestialischen Hinrichtung eines unschuldigen jüdischen Knaben (Explorator IV, 936-1058, p. 76-79). Erneut sind Parallelen zum senecanischen Thyestes ma‐ nifest, da sich die Szene an der Opferung der Thyestes-Söhne orientiert. 238 Ammon entspricht in seinem Gebaren dem senecanischen Atreus und damit dem größenwahnsinnigen und blutrünstigen Tyrannen. Jephte wird diesem an‐ tiken Barbaren als gläubiger, jüdischer Held entgegengestellt. Die Beschrei‐ bungen des exotisch anmutenden Kults und des Sadismus, dem das wehrlose Opfer ausgesetzt ist, grenzen die Geschehnisse deutlich von der später erfol‐ 183 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="184"?> 239 Cf. zur Schlichtheit der Ständchen auch Stroh 2018, 568: „Schon die bloße Dämlichkeit dieses (trotz vierfachem Versmaß) völlig monotonen Lieds zeigt, dass Balde seinen Helden in keiner Weise ernst nimmt.“ 240 Cf. S. 210. 241 Dies lässt sich als autobiographische Selbstironie verstehen: Balde selbst war nach ei‐ gener Aussage Ähnliches mit einer uneinsichtigen Ingolstädter Bäckerstochter wider‐ fahren, worauf er in den Jesuitenorden eintrat. Ausführliche Besprechung des Lauten‐ motivs bei Balde bei Hess 1979. Cf. hierzu auch Stroh 2004a, 243 (Anm. 7 mit weiterer Literatur) und 307-308; Stroh 2018, 538-539. genden religiös motivierten Opferung Menulemas ab, die in rituell geregelten Bahnen verläuft. Der Bericht der Kundschafter schließt mit einer Aufzählung der Gräueltaten von Ammons Soldaten (Explorator V, 1059-1090, p. 79-80). Die Ammoniter sind wahre Barbaren: Sie verehren Götzen, schrecken nicht vor grausamen Ritualen zurück und scheinen keinerlei Prinzipien zu besitzen. Sie stellen so eine Bedrohung für das gläubige und rechtschaffene Volk von Gilead dar, die um jeden Preis abgewendet werden muss. In der sechsten Szene (1091-1296, p. 80-85) betritt Menulema zum ersten Mal selbst die Bühne und gibt ihrem Entsetzen über das Gehörte Ausdruck. Sie betont jedoch ihr Vertrauen in Gott, der Hilfe bringen werde (DEUS ille, qui totus manus / Totusque pes est; ille feriet, ac truces / Calcabit hostes, 1115-1117, p. 81). Ariphanasso kommt hinzu, berichtet Menulema von Jephtes Aufbruch in den Krieg und bietet mutig an, selbst für sie in die Schlacht zu ziehen (1120-1139, p. 81). Menulema äußert den Wunsch, aktiv etwas für das Wohl ihres Volkes tun zu können (Est sanguis hoc in corde qui patriae bono / Natus profundi fervet: est animus quoque, 1162-1163, p. 82). Da ihr dies als Frau jedoch nicht möglich ist, entsendet sie Ariphanasso in den Krieg und wendet sich selbst dem Gebet zu. Ariphanasso erklärt ihr daraufhin in aller Inbrunst erneut seine Liebe (1180- 1295, p. 82-85). Seine Rede ist durchsetzt von mehreren lyrischen Partien (1236- 1244, p. 84; 1249-1259, p. 84; 1266-1272, p. 85; 1277-1285, p. 85), die in ihrer Ein‐ fachheit aufrichtig und bewegend sind, aber die Zuschauer sicherlich auch ein wenig zum Schmunzeln gebracht haben dürften. 239 Die zahlreichen Anklänge an das Hohelied tragen zudem der von Balde intendierten Deutung des Aripha‐ nasso als christusliebende Seele Rechnung. Trotz der Binnenreime sind die Ständchen in antiken Metren verfasst (Glykoneen, Anapäste, Asklepiadeen). Dennoch ist gut vorstellbar, dass eine musikalische Begleitung hinzugenommen wurde und die Lieder des Ariphanasso auch akustisch eine deutliche Abwechs‐ lung darstellten. Für die Melodramatica nutzte Balde diese Partien tatsächlich, um sie als Liebeslieder zu vertonen. 240 Schließlich wirft Ariphanasso seine Laute fort (1289, p. 85) 241 und fordert sich selbst auf, in den Krieg zu ziehen, um seine Braut für sich zu gewinnen (Ex hoste caeso gloriam et Sponsam cape, 1296, p. 85). 184 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="185"?> 242 Jephtes Schilderung ist eng angelehnt an das Preislied des Mose aus dem Alten Testa‐ ment (Ex. 15, 1-21). Er konkretisiert das Motiv der militia amoris also, indem er echten Kriegsdienst und Heldentaten leisten möchte. Die Szene zwischen Ariphanasso und Menu‐ lema beleuchtet das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel: Ariphanasso, der zuerst auch wie die Ammoniter heidnischen Göttern angehangen hatte, be‐ kehrt sich zum wahren Glauben und ist bereit, für diesen sein Leben zu geben. Sein Beweggrund ist die Liebe, was in scharfem Kontrast zu Ammons Motivation (Hass und Gier) steht. Da Menulema für Christus steht, verkörpert Ariphanasso die Liebe zum wahren Glauben und die Bereitschaft, alles für ihn zu opfern. Ariphanassos Auftritt geht in dieser Szene über die Funktion der Auflockerung durch das Vorantreiben der Liebesgeschichte hinaus. Ariphanasso wird von der Nebenfigur zum Protagonisten, da er als Stellvertreter Menulemas in den Kampf aufbricht (Ariphanasso: tu meas partes age, 1171, p. 82) und so als exekutive Ge‐ walt der Titelheldin fungiert. Diese Umgewichtung bereitet die tragende Rolle vor, die Ariphanasso in der typologischen Deutung des Stückes zukommen wird. Der Fokus richtet sich in der siebten Szene (1297-1418, p. 86-89) nun auf Jephte selbst, der eine flammende Feldherrenrede an seine Soldaten hält (1297- 1367, p. 86-87) und zum Schutz des Vaterlandes aufruft (Tandem dedecus / Abo‐ lete ferro, vindicate patriam, 1366-1367, p. 87). Dabei erweist er sich als rheto‐ risch versierte Führungsperson, die mit Plan und Überlegung in die Schlacht zieht, um Volk und Religion zu schützen. Dies steht im deutlichen Gegensatz zum jähzornigen Ammon, der Gilead mit Krieg überzieht, um seine persönliche Macht und die seiner heidnischen Götter zu steigern und um seinen Blutdurst zu befriedigen. Sodann tritt ein weiterer Kundschafter auf (Explorator ult., 1368- 1370, p. 88) und berichtet vom Vorrücken des Feindes. Jephte gibt den Marsch‐ befehl (1370-1372, p. 88) und kündigt an, noch ein Gebet sprechen zu wollen, um Gott gewogen zu machen (Placabo precibus Numen interea pium, 1373, p. 88). Dieses private Gebet (1374-1418, p. 88-89) ist geprägt von tiefer Religiosität. Der Wechsel zum Hexameter unterstreicht den hymnischen Tonfall. Jephte preist die Allmacht Gottes (Omnipotens, penes est quem rerum immensa po‐ testas, 1374, p. 88) und bringt verschiedene Beispiele dafür, wie Gott die Feinde der Juden vernichtet hat. Besonderen Schwerpunkt legt er dabei auf die Flucht der Israeliten aus Ägypten und die Vernichtung des Pharaos und seiner Armee im Roten Meer (1379-1385, p. 88). 242 Schließlich bittet Jephte auch für sich um Beistand. Ammon sei sowohl für sein Volk als auch für den rechten Glauben eine Gefahr und müsse vernichtet werden (Da Pater Ammonem dirum imma‐ nemque tyrannum / Da mihi terrarum communem atque aetheris hostem / 185 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="186"?> Sternere, 1409-1411, p. 89). Jephtes Gebet endet damit, dass er sein Gelübde aus‐ spricht: Das erste, was ihm begegnen werde, solle bei erfolgreicher Rückkunft aus dem Krieg als Opfer gebracht werden (Si dederis, Voveo: Quodcunque re‐ verso / Victori ante meas mihi primum occurrerit aedes, / Sit sacrum, sacraque tibi mactetur ad Aras, 1411-1414, p. 89). Jephte vertraut mit aller Kraft auf die Macht Gottes, die dieser schon öfter für sein Volk bewiesen hat. Er ist zutiefst gläubig und legt das Schicksal seines Volkes in Gottes Hände. Die Selbstlosigkeit und Besonnenheit, die Jephte bisher durchweg charakterisiert haben, verhindern zudem, dass man dem Fürsten Leichtfertigkeit unterstellen könnte. Jephtes Ge‐ lübde erscheint als notwendige Konsequenz der verzweifelten Lage: Die Am‐ moniter sind in der Überzahl, sie sind grausame Barbaren und bedrohen Jephtes Volk und Glauben mit der völligen Vernichtung. Nur eine außergewöhnliche Maßnahme kann noch Hilfe bringen. Jephtes Entscheidung für das Gelübde kann in Baldes Version des Geschehens moralisch nicht verurteilt werden. Die übergeordnete Aussage des zweiten Aktes, die Exkulpierung Jephtes und die Rechtfertigung seines Tuns als notwendig, um den wahren Glauben zu ver‐ teidigen, findet ihre verkürzte Darstellung im zweiten Chorlied (1419-1667, p. 89-96). Das Lied schließt zunächst im hexametrischen Maß an Jephtes Gebet an und fordert zum Lob Jephtes auf (1419-1420, p. 89). Der Chor stellt sodann fest, dass Waffengewalt nur notwendig wurde, da sich der Feind jeglicher ver‐ balen Konfliktlösung entzog (Quandoquidem spreta est facundia, 1421, p. 89). Das militärische Vorgehen als solches wird somit vorab gerechtfertigt. Es folgt ein Preis von Jephtes Qualitäten (1424-1440, p. 89-90), der in Teilen an das erste Chorlied erinnert. Besonders wird hervorgehoben, dass es sich um ein bellum iustum (1426, p. 89) handle, und damit Jephtes uneigennütziges Interesse unter‐ strichen. Es folgt, eingeleitet durch ein Trompetensignal, ein neuer Abschnitt, in dem der Chor allgemein über Mut und Feigheit reflektiert (1441-1500, p. 90- 91). Die Beispiele bewegen sich in mythischer Sphäre: So ist für die tapfer Ge‐ fallenen Trost und Verherrlichung im Götterhimmel bei Mars zu finden (Celsis sideribus Marspiter invehit / […] militem, 1465-1466, p. 90). Das christliche Wei‐ terleben nach dem Tod wird an dieser Stelle nicht explizit erwähnt, klingt jedoch an. Das Vorgehen, mythische Beispiele in den Chorliedern heranzuziehen, um das Aktgeschehen und Bezüge zu den Protagonisten zu verdeutlichen, war als Technik schon in Senecas Chorliedern, insbesondere im Oedipus deutlich ge‐ worden. Bei Balde kommt noch eine neue Komponente dazu: Er nutzt den an‐ tiken Kontext, um christliche Motive zu illustrieren, ohne sie jedoch explizit weiter ausführen zu müssen. Die antike Mythologie hat hier also dienende Funktion. Nach einem zweiten Trompetensignal folgt, untermalt von weiteren mythischen Beispielen und, in horazischer Diktion, die Aufforderung an jeden 186 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="187"?> 243 Op. om: patira. patria: Amberg 1654, 66. 244 Cf. hierzu S. 77 mit Anm. 209. 245 Melod. Op. om. p. 184-185; Melodr. Amberg 1654 p. 4-6; cf. zu diesem Stück S. 210-211. 246 Einen kurzen Ausblick gewährt Balde seinem Publikum auch auf das Schicksal des Ariphanasso, von dem man allerdings nur erfährt, dass er als Seemann verkleidet aus der Schlacht flieht (1592-1593, p. 94). Bürger, Mut zu zeigen und sich selbst für das Allgemeinwohl und das Vaterland aufzuopfern (Semper dulce fuit pro pat<ria> 243 mori, 1483, p. 91). Der Bezug zum vorhergehenden dramatischen Geschehen ist unverkennbar: Jephte verkörpert alle geforderten Eigenschaften: Er ist mutig, weise und zudem bereit, das eigene Wohl dem seines Volkes unterzuordnen und so ungeachtet eigener Verluste für die Rettung der Religion einzustehen. Sein Volk soll es ihm gleichtun und ihm nacheifern. Wie schon im ersten Chorlied, wird hier erneut Jephtes Vorbild‐ funktion betont. Es schließt sich ein Wechselgesang zwischen dem Chor und einem Seher an, der in Ekstase einzelne Szenen des Kriegsgeschehens voraussieht (1505-1651, p. 91-95). Muster für diesen Rahmen ist der Wechselgesang zwischen Kassandra und dem Chor in Senecas Agamemnon (659-781). Sonst war der Wechselgesang in Senecas Chorliedern nur noch im ersten Lied der Troades eingesetzt worden. 244 Wichtig ist hier erneut die Personalität des Chores. Balde setzt zwar in die Überschrift des Chorliedes in der Jephtias zunächst nicht explizit dazu, um wen es sich handelt, in den Melodramatica jedoch, deren drittes Stück dieses Chorlied ersetzt, findet sich der Titel Classicum Jephtai Exercitus contra Am‐ monem R. 245 Die Empfänger der Vision des Sehers sind also Jephtes Soldaten, die die Prognose für das Schlachtgeschehen hören. Balde schafft somit einen Bo‐ tenbericht, der sogar die zeitliche Distanz überwinden kann. Dies dient natürlich auch dem Zweck, den Soldaten Mut zu machen, um für die Verteidigung des Glaubens einzustehen. Dazu ist die Vision des Sehers äußerst geeignet: Ammon präsentiert sich erneut rasend und blutrünstig, die Soldaten aus Gilead hingegen tapfer und von dem hehren Ziel beseelt, die Ihren zu beschützen. 246 Insofern wird den Soldaten deutlich vor Augen geführt, dass sie auf der Seite der moralisch Überlegenen sind und gerechtfertigt in den Kampf ziehen. Schließlich treffen im Kampf Jephte und Ammon aufeinander, wobei einer von beiden den Tod findet. Der Seher löst die Spannung über den Sieger der Schlacht jedoch noch nicht auf (Jephte an Ammon? Vat.: Occubat, 1574, p. 93). Obwohl der Ausgang des Krieges nicht vorweggenommen wird, mindert die Vorhersage des Sehers die Motivation der Soldaten nicht, engagiert in die Schlacht zu ziehen. Er gibt ihnen die Rechtfertigung für ihr Tun und bestärkt sie in ihrem Vorhaben. Der Abschnitt endet schließlich mit einer Bitte des Chores um Gottes Beistand 187 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="188"?> 247 Frauenrollen werden in Jesuitenstücken vornehmlich weggelassen oder zumindest auf ein Minimum reduziert; cf. hierzu Becher 1941, 304. 248 Zu dieser Stelle cf. Führer 2006, 679-686. Führer erkennt hier noch eine zweite allego‐ rische Ebene, indem sie in Menulema nicht nur Christus, sondern auch Maria sieht. Plausible Anzeichen dafür lassen sich aus Baldes Text jedoch nicht erkennen (cf. da‐ gegen auch Stroh 2004a, 275, Anm. 94). (1652-1667, p. 95-96). Der Wechselgesang unterstreicht den Kern des zweiten Aktes, die Notwendigkeit des Gelübdes, aus der Perspektive der Soldaten. Jephte tritt für die richtige Sache ein und das Volk von Gilead muss ihn mit allen mög‐ lichen Mitteln dabei unterstützen. Nur so kann der wahre Glaube bewahrt werden. Das Gelübde kann nach dem zweiten Akt und insbesondere nach dem zweiten Chorlied nicht als negativ bewertet werden. Jephte hat die richtige Ent‐ scheidung in einer Extremsituation getroffen und sein Schicksal und das seines Volkes in die Hände Gottes gelegt. Seine Untertanen unterstützen ihn bei der Verteidigung des Glaubens und stehen hinter ihm. 2.3.1.3. Bellum iustum Der dritte Akt (1668-2489, p. 96-118) nimmt zunächst die zu Hause gebliebene Menulema in den Blick. In der ersten Szene (1668-1843, p. 96-101) berichtet ihr Bediensteter Baracus, der in Baldes Stück zusammen mit Aodus die Rolle der senecanischen Amme einnimmt, 247 über die Unvorhersehbarkeit und Grausam‐ keit des Krieges (1668-1718, p. 96-97), um daraufhin Menulemas Angst um ihren Vater und ihre Liebe zu ihm zu beschreiben (1719-1738, p. 97-98). Menu‐ lema liebt ihren Vater aufrichtig und verschmilzt beinahe in Personalunion mit ihm (Anima puellam patris animari putes, / Vitaque eadem vivere, 1736-1737, p. 98). Die Anspielung auf den christlichen Dreifaltigkeitsglauben ist evident und lässt sich als Hinweis auf Baldes typologische Interpretation der Bibelge‐ schichte sehen. Ferner wird die Zuneigung von Menulemas Mutter zu ihrer Tochter geschildert und Menulemas Bescheidenheit und Schönheit gelobt (1739-1761, p. 98). Baracus berichtet sodann von einer Webarbeit Menulemas, die düstere Vorzeichen enthält (1762-1821, p. 98-100). 248 Es handelt sich um eine Darstellung der Opferung Isaaks - eine unmissverständliche Vorausdeutung auf das kommende Geschehen. Menulema ist beeindruckt von der Frömmigkeit und Demut Isaaks, der sich willig dem Tode weiht, doch wird sie zugleich von angst‐ vollen Ahnungen erfüllt. In der Nacht wird sie von Albträumen geplagt, die sie um ihren Vater bangen lassen (1822-1828, p. 100). Baracus beendet seinen Mo‐ nolog mit der zuversichtlichen Feststellung, dass Furcht typisch für Frauen sei und er an Jephtes Erfolg glaube (1829-1843, p. 100-101). 188 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="189"?> 249 Besonders Claudian und Statius schimmern in dieser Szene durch. 250 So erinnern etwa die Beschreibungen in der Stiermetapher (1886-1903, p. 102) stark an das Ungeheuer, das in der Phaedra Hippolytus den Tod bringt (Phaedr. 1035-1049). 251 Z.B. wenden die Soldaten Ammons ihren Verfolgern den Rücken zu: Fit plena caedes. Terga fugientum secat, 1940, p. 103. In der zweiten Szene (1844-2084, p. 101-107) treten zwei Boten auf, die vom Sieg des Heeres aus Gilead künden. Die grandiose Schlachtbeschreibung bedient sich neben den naheliegenden epischen Modellen 249 erneut einer Vielzahl von senecanischen Bildern und Ausdrücken. 250 Durch das Aufteilen des Botenbe‐ richts auf mehrere Gesprächspartner erzeugt Balde Dynamik und Spannung, da die Schilderung durch drängende Nachfragen stets vorangetrieben wird. Es wird von der Feigheit der Ammoniter berichtet, die zu fliehen versuchten, 251 von Jephte und seinem Heer jedoch beherzt verfolgt und gestellt wurden. Jephte erweist sich als mutiger Feldherr, der seiner Vorbildfunktion gerecht wird und dem seine Kämpfer bereitwillig nachfolgen (Nunc.: Omnis secuta praevium pube Ducem / Mucrone stricto. Bar.: Cuncta in exemplo sita, 1920-1921, p. 103). Dazu kommt göttliches Eingreifen: Der Himmel steht in Flammen und versetzt die Feinde in Angst und Schrecken (Sed et igne vero constitit supra caput / Succinctus aether: atque […] Adversa subito castra turbavit metu, 1922-1924, p. 103). Auch Ammons Plan, Jephte mittels eines ehrlosen Hinterhalts zu meucheln, scheitert am Mut und der Tapferkeit des Feldherrn von Gilead (1953-1977, p. 104), der schließlich sogar Ammons Heerführer Jaramadza tötet (1983-2000, p. 104-105). Baracus erkundigt sich auch nach dem Verbleib von Ariphanasso. Balde scheint zunächst seinem Publikum den Gefallen zu tun, ihm über das Schicksal seines Sympathieträgers Klarheit zu verschaffen. Er weckt jedoch nur die Erwartung und hält die Spannung aufrecht, da die Boten nichts Genaueres berichten können (Nescitur, ubi sit. Fama non constat sibi. / Vinctum, solutum, mortuum, vivum canit, 2004-2005, p. 105). Baracus bricht daraufhin in eine Klage über den Vermissten aus, die er mit allgemeinen Reflexionen über die Grausamkeit des Schicksals verbindet (2009-2053, p. 105-106) und die dem Publikum wohl aus der Seele spricht. Die Boten lenken Baracus sodann von seiner Klage ab, indem sie ihm Jephtes Sieg schildern (2054-2084, p. 106-107). Jephte und sein Heer erscheinen nach der Schlachtschilderung als die recht‐ mäßigen Sieger, da sie ihr Volk tapfer gegen blutrünstige und feige Barbaren verteidigt haben. Deren negative Charakterzeichnung macht einmal mehr deut‐ lich, wie notwendig dieser Verteidigungskrieg gewesen ist, um die eigenen in‐ tegren Wertvorstellungen und den wahren Glauben vor dem Untergang zu be‐ wahren. Gott unterstützt sein Volk bei dem Kampf, indem er die Naturgewalten gegen die Feinde einsetzt. 189 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="190"?> 252 In den Melodramatica wird dieses Chorlied ebenfalls durch ein Musikstück ersetzt und nur noch von Aodus gesungen; cf. S. 211. Der Gedanke des bellum iustum wird im darauffolgenden Chorlied (dritte Szene, 2085-2212, p. 107-111) vertieft. Das dritte Lied hat erneut die Form des Wechselgesangs und ist in einen Rahmendialog mit Menulemas zweitem Erzieher Aodus und dem Chor, der das Volk von Gilead präsentiert, einge‐ bettet. 252 Der Chor verurteilt zunächst die Grausamkeiten des Krieges (Bello nulla salus, 2092, p. 107). Der Zuschauer wird an dieser Stelle nicht umhin gekonnt haben, die eigenen Lebensumstände zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges vor dem inneren Auge zu sehen, wenn Balde das Leid der Zivilbe‐ völkerung beschreibt (2097-2107, p. 108): Frauen und Kinder bangen um die Männer, die in den Krieg ziehen mussten, die Dörfer werden von Soldaten geplündert und das Vieh geraubt. Dem gegenübergestellt werden die Vor‐ züge des Friedens, der als bukolisches Idyll gezeichnet wird (2108-2123, p. 108): Die Herden kehren auf ihre Weiden zurück und die Hirten lassen ihre Flöten wieder erklingen. Aodus greift die Opposition von Kampf und Ruhe in Form von Naturmetaphern, die er schließlich auf den Krieg zwischen den Ammonitern und Gilead bezieht, noch einmal auf (2124-2167, p. 108-109). Der Chor antwortet darauf in einem anapästischen Teil mit einer Reflexion über die Vergänglichkeit menschlicher Werke und Macht (2168-2183, p. 109- 110). Das Schicksal habe die höchste Gewalt (Nulla potestas extra sortem / Jacet et metas, 2179-2180, p. 110). Der Chor macht somit deutlich, dass die letzte Entscheidung immer in Gottes Hand liegt. Die Parallelen zwischen der Aussage des Chorliedes und der Handlung des Aktes sind offensichtlich: Gott ist allmächtig, seine Kraft entscheidet letztlich alles. Auch im Krieg gegen die Ammoniter hatte göttliches Eingreifen die Entscheidung herbei‐ geführt. Erneut legt Balde dem Chor für diese Erklärung keine christliche Terminologie in den Mund, sondern verwendet antike Begrifflichkeiten. So wie der Chor in den Senecatragödien mythische Exempla herangezogen hatte, um die Handlung zu deuten, bedient sich Balde der antiken Diktion, um christliche Inhalte darzulegen. Das Chorlied mündet sodann in einen überleitenden Teil, der die Ankunft des siegreichen Jephte ankündigt und zu dessen freudigem Empfang aufruft (2184- 2212, p. 110-111). Makaber und unheilvoll ist, dass er sich insbesondere an Me‐ nulema wendet und sie bittet, als erste vorauszugehen (Tuque, o! FILIA PRIN‐ CIPIS, / […] In pompam venias prior, 2207-2212, p. 110-111). Für den wissenden Zuschauer kommt dies dem Todesurteil gleich. Hier wird einmal mehr die starke 190 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="191"?> 253 Der senecanische Chor war nur in manchen Liedern eindeutig personal greifbar ge‐ wesen (z.B. im ersten Chorlied der Troades), bei Balde ist dies bislang stets der Fall. 254 Cf. hierzu S. 207, Anm. 290. 255 Zum zweiten Chorlied der Szene, das im Jephte noch fehlt cf. S. 176. personale Rolle des Chores bei Balde deutlich. Es spricht das Volk von Gilead, das über Jephtes privates Gelübde nicht informiert ist. 253 Das dritte Lied erfüllt mit seiner Reflexion über Krieg und Frieden seine ak‐ tinterpretative Funktion, indem es erneut Jephtes Handeln als notwendig und richtig darstellt, da dieser seinem Volk durch seine Taten ein Leben in Frieden und Freiheit garantiert. Ferner zeigt es Gottes Macht auf und unterstreicht, dass der Sieg gegen die Ammoniter gottgewollt ist, um den wahren Glauben zu ver‐ teidigen. Dennoch fällt das Lied formal etwas aus dem Rahmen: Seine Platzie‐ rung findet nicht am Ende des Aktes statt, sondern bereits vor der letzten Szene. Im Arion Scaldicus war dies öfter der Fall gewesen, in der Jephtias ist es das erste Mal. Der Inhalt der folgenden Szene erklärt diese Abweichung: Hier findet die Begegnung zwischen Jephte und Menulema statt, die zentrale Stelle, die die Dramaturgie des gesamten Dramas verändert. Insofern ist die vierte Szene eher als selbstständige Scharnierstelle denn als zum dritten Akt zugehörig zu sehen. Dies manifestiert sich für die Darstellung auf der Bühne akustisch darin, dass zunächst noch einmal ein Trompetenspiel zwischengeschaltet wird, um die Szene pompös einzuleiten (Scena tubarum, intercalaris, p. 111), sowie optisch für die Leseversion in den Asterisken (p. 111), die die Ankündigung des Trompe‐ tenliedes umrahmen. Balde setzt diese schon in der Erstausgabe vorhandenen Asterisken im Stück sonst nur noch ganz am Schluss zur Verdeutlichung der typologischen Interpretation ein. 254 Neben dem Kriterium der Auffälligkeit lassen sich die Sternchen somit schon als Hinweis darauf verstehen, dass die typologische Deutung nun in den Vordergrund rücken soll. Die beiden umrah‐ menden Chorlieder unterstreichen schließlich die Sonderposition der die Peri‐ petie einleitenden Szene. 255 191 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="192"?> 256 Cf. z.B. die Schifffahrtsmetaphern in 2251-2253, p. 112 und deren Verwendung als Bild für das wankelmütige Schicksal, das Balde bereits im Regnum poetarum anklingen ließ. 257 Dies ist freilich bereits Teil der alttestamentlichen Geschichte und nicht erst Baldes Erfindung. Durch die christliche Kontextualisierung erfährt sie jedoch eine neue Deu‐ tung. 258 Cf. zum Lied Lefèvre 2018, 144-145. 2.3.2. Der Chor auf Abwegen: Verlust der mise-en-abyme-Funktion 2.3.2.1. Der Umbruch: fatale Begegnung zwischen Vater und Tochter Das Zusammentreffen zwischen Vater und Tochter beschreibt Balde ausführlich (2213-2391, p. 111-116). Der Sprachstil bleibt senecanisch. 256 Die Begegnung der beiden erfolgt zu Beginn der Szene (2221-2222, p. 111), der Spannungsbogen entsteht durch das Informationsgefälle zwischen Jephte und Menulema, die noch nicht um die Tragweite der Situation weiß. Balde legt den Schwerpunkt sodann auf die Opposition zwischen dem vom Schmerz überwältigten Jephte und der beinahe unnatürlich abgeklärt erscheinenden Menulema, die in dem Moment, in dem sie schließlich vom Inhalt des Gelübdes erfährt (2325-2342, p. 114), jegliche zuvor empfundene Emotionalität ablegt und sich widerstandlos in ihr Schicksal fügt. Ihre Wortwahl verändert sich schlagartig und erinnert an ein christliches Gebet (Hoc quidquid in me spirat, est, Genitor, tuum. / Reddo repetenti. Corpus in tua est manu, 2345-2346, p. 114). Es folgen weitere Bilder, die sich an Inhalte des christlichen Glaubens anlehnen: So erinnern die Ver‐ gleiche Menulemas mit einem Opfertier an Jesu Sterben, das mit dem Symbol des Lamms Gottes assoziiert wird (quin esse possum et Hostia, 2354, p. 115), und Menulemas frommer Wunsch nach zwei Monaten Aufschub, um in den Bergen im Kreise ihre Gefährtinnen ihre Jungfernschaft zu beweinen (2383-2388, p. 115), 257 evoziert Jesu Rückzug auf den Ölberg mit seinen Jüngern. In der Szene werden Jephtes Pflichtbewusstsein und seine Loyalität unter‐ strichen. Zusammen mit den vorhergegangenen Charakterisierungen ist es nicht möglich, ihm Vorwürfe zu machen, übrig bleibt nur Mitleid für den gram‐ gebeugten Vater. Menulemas Reaktion verhindert durch ihre Gelassenheit eben‐ falls eine Schuldzuweisung. Die deutliche Verwendung von christlichem Voka‐ bular und neutestamentlichen Anspielungen weisen zudem bereits auf die typologische Deutung hin. Es folgt eine anapästische Chorpassage, die im Jephte wohl noch nicht ent‐ halten gewesen ist. 258 Es handelt sich um einen kurzen Klagegesang der Freun‐ dinnen Menulemas (2392-2404, p. 116), dessen Modell das erste Chorlied der Troades ist. Balde hat diese Stelle vor allem deshalb eingefügt, um die Sonder‐ stellung der Begegnungsszene zu betonen, indem er sie durch zwei Chorpartien 192 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="193"?> 259 Cf. S. 191. 260 Lefèvre 2018, 145 schließt aus der Stelle, „daß Balde mit Rücksicht auf den Widmungs‐ empfänger Jephtes schweres Schicksal und seine besondere Empfindsamkeit bzw. Hu‐ manitas herausstellen wollte“, weil Balde hier zum wiederholten Mal Jephte als bedau‐ ernswert zeichne. Dies hat jedoch mit von Auersperg nichts zu tun, sondern dient lediglich der Unterstützung von Baldes typologischer Deutung. 261 Zum dreigeteilten Soldatenchor cf. kurz Janning 2005, 61. 262 Cf. Stroh 2004a, 287, der in diesem Chor ein Überraschungsmoment sieht: die Pointe, das ‚Opfer‘ zu beschimpfen, erzeuge Komik. 263 Der Chor bedient sich hier vor allem des etwa schon in der griechischen Tragödie, bei Horaz (sat. 1, 3, 107) sowie bei Seneca (cf. z.B. Phaedr. 559) beliebten Topos der unheil‐ bringenden Frau. Die christliche Anspielung an Eva und die Vertreibung aus dem Pa‐ radies ist ebenfalls evident. 264 Cf. Kap. A. 4.1.2. rahmt. 259 Inhaltlich fügt sich das Lied in die Argumentationsstrategie ein, Jephte positiv zu stilisieren, da Menulemas Gefährtinnen ihn ebenfalls nicht beschul‐ digen, sondern bemitleiden. Nach einem Epilog Jephtes (2405-2417, p. 116) 260 schließt sich ein weiteres Chorlied der Soldaten (2418-2489, p. 116-118) an. Dabei vertritt der Chor drei verschiedene Meinungen und streitet sich so gleichsam mit sich selbst. 261 Der erste Chor (Chorus miserans) bemitleidet Jephte und erörtert die Launenhaftig‐ keit des Schicksals. Ein angenehmes Leben könne von einem zum anderen Mo‐ ment ohne Grund ins Unglück gestürzt werden (2436-2444, p. 117). Dieser Teil des Chorliedes erinnert stark an die Theodizeeproblematik und negative fatum-Konzeption, die in den Seneca-Tragödien zu Tage getreten war. Interes‐ sant ist dabei, dass der Chor den Inhalt des Liedes gleich zu Anfang stärker auf Gott selbst bezieht (Rerum magne Sator, quas patimur vices? , 2418, p. 116). Zur antik-senecanischen Diktion, die weiterhin bestehen bleibt, kommen christliche Klänge hinzu. Der christliche Gehalt des Stückes beginnt nun auch in den zuvor durchweg pagan formulierten Chorliedern stärker durchzuscheinen. Der zweite Chor verurteilt Menulema, da sie die Freuden des Triumphes verdorben habe (Chorus damnans). 262 Frauen seien die Wurzel alles Übels (Semper prima ma‐ lorum / Femina radix, 2445-2446, p. 117). 263 Menulemas Verhalten sei einer züch‐ tigen Frau nicht angemessen gewesen, da sie ihren Vater zu Hause hätte er‐ warten sollen (2455-2462, p. 117-118; 2468-2471, p. 118). Menulema sei deshalb an ihrem Schicksal selbst schuld, da sie aus eigenem Antrieb dem Tod entge‐ gengelaufen sei (Ad gladios properat ipsa, 2475, p. 118). Hier wird, ähnlich wie im senecanischen Oedipus, 264 die Möglichkeit einer Individualschuld an einem grausamen Schicksal zur Sprache gebracht. Interessanterweise richtet sich die Kritik nicht gegen Jephte, sondern allein gegen Menulema. Balde lässt Jephte selbst nicht ins Visier der Anklage geraten. Dass Menulema in seiner Deutung 193 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="194"?> 265 Cf. Kap. A. 4.1.3. 266 Cf. S. 148-149. 267 Cf. auch Valentin 1978b, 2, 787; zur variablen Chorverwendung in der Jephtias kurz auch Janning 2005. nicht ernsthaft verurteilt werden kann, steht indes außer Frage. Der Chor der Entschuldigung (Chorus excusans) übernimmt schließlich Menulemas Verteidi‐ gung. Ihr Vergehen sei nicht absichtlich begangen worden und ihr Verhalten richtig gewesen, da es von Liebe zu ihrem Vater (totum / Delictum Menulemae / Est amor, inque Patrem cognato ex pectore fusus, 2465-2467, p. 118) und Tugend (Magnae virtutis alumna est, 2472, p. 118) motiviert gewesen sei. Das grausame Schicksal sei anzuprangern, nicht Menulema (Fortunae potius ludum plectamus iniquae, 2463, p. 118). Hier thematisiert der Chor die ebenfalls im Oedipus vor‐ gebrachte Fragestellung, ob eine Schuld auch ohne vorsätzlich falsches Ver‐ halten gegeben sei. 265 Mit der Aufspaltung in einen Chorus miserans, damnans und excusans fällt Balde aus dem vorherigen Muster, das er seinen Chorpartien zugrunde gelegt hatte: Der Chor verliert seine Funktion als interpretative Verdichtungsinstanz der Aktaussage; stattdessen erörtern die drei Chöre eine dem gesamten Stück übergeordnete Fragestellung in einem Streitgespräch und bringen verschiedene Positionen zur Sprache. Die Methode, ein Problem argumentierend in einem Chorlied zu erörtern, hatte Balde bereits in der Philomela angewandt. 266 In der Jephtias nutzt er diese Technik nun, um die Theodizeeproblematik des Stückes zu besprechen. Anders als Seneca, der unterschiedliche Standpunkte auf ver‐ schiedene Chorlieder verteilt, um einen Reflexionsprozess abzubilden, kann Balde dies mit der Unterteilung des Chores innerhalb eines einzigen Liedes durchführen. 2.3.2.2. Die Suche nach der richtigen Entscheidung Mit dem Auftreten des Soldatenchores wird ein genereller Wandel in der Chor‐ verwendung angezeigt: Der Chor mischt überall mit, wirft Zwischenkommen‐ tare ein und treibt die Handlung mit voran. Dies ist im Prinzip für Balde kein Novum: Auch im Arion Scaldicus war der Chor variabler eingesetzt worden und nicht mehr streng am mise-en-abyme-Schema ausgerichtet. Auffallend ist bei Balde jedoch der an diesem Punkt einsetzende schematische Wechsel vom ver‐ dichtenden Zwischenaktchor zu einer freien Verwendung. Keine der folgenden Chorpartien verfügt noch über die elementare Funktion der Handlungsverdich‐ tung: Abstrakte Reflexionen fehlen, der Tonfall ist persönlich oder es werden Lieder dann gesungen, wenn solche im wörtlichen Sinne gebraucht werden. 267 194 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="195"?> 268 Lefèvre 2018, 146 stellt hier fest, dass Balde „bezüglich des Umfangs über sämtliche Monologe Senecas hinaus“ gehe. Allerdings ist die gesamte Jephtias auch etwa fünfmal so umfangreich wie eine Seneca-Tragödie, weshalb längere Monologe nicht erstaunlich sind. 269 Cf. S. 61. In der ersten Szene des vierten Akts (2490-2644, p. 119-123) wird der innere Kampf dargestellt, den Jephte ausficht, um die richtige Entscheidung zu treffen (Agon primus Jephtae, secum luctantis ex amore naturali in filiam, voto immo‐ landum, p. 119). 268 Der Monolog beginnt mit einer Klage über sein schweres Los, den vergifteten Sieg und die schier unmögliche Pflicht, sein geliebtes Kind zu opfern, um sein Gelübde zu erfüllen (2490-2555, p. 119-120). Sodann führt Jephte zwei mythische Beispiele für Kindermord an (2556-2573, p. 120-121): Athamas, der auch im senecanischen Oedipus als Exemplum herangezogen worden war, 269 sowie Medea. Die Wahl dieser Beispiele ist äußerst interessant: Athamas steht programmatisch für einen Menschen, der ohne eigene Absicht von den Göttern zum Verbrechen getrieben wird, Medea hingegen entscheidet sich selbst aus Rache für den Kindsmord. Jephte beschreibt in den folgenden Versen seine eigene Lage, die sich zwischen diesen beiden Fällen ansiedeln lässt (2574-2617, p. 121-122): Sein Gelübde hat er zwar aus freien Stücken abgelegt, die Opferung seiner eigenen Tochter war dabei jedoch nie intendiert. In jedem Fall muss er mit seiner Entscheidung gegen ein Gesetz verstoßen: Entweder gegen das Gottes, indem er sein Gelübde bricht, oder gegen das der Natur, wenn er seine einzige leibliche Tochter tötet. Schließlich führt Jephte ein weiteres Exempel an: Die Opferung von Isaak durch Abraham (2618-2610, p. 122). An‐ statt jedoch durch den guten Ausgang dieser biblischen Parallele Mut zu fassen, macht sich Jephte die Unterschiede zu seiner eigenen Situation bewusst (Exempla distant: Nil tibi prodest avus, 2624, p. 122). Abraham sei die Opferung ohne sein Zutun angeordnet worden, deshalb habe es auch genügt, die Bereit‐ schaft zu zeigen, Isaak zu opfern, um seinen Glauben zu beweisen. Die tatsäch‐ liche Durchführung sei dann nicht mehr erforderlich gewesen (2625-2629, p. 122). Jephte impliziert hier, dass er anders als Abraham durch sein Gelübde die Opferung selbst initiiert habe und er sich damit nicht auf denselben gnädigen Ausgang verlassen könne. Schließlich fasst Jephte das Dilemma, in dem er sich befindet, noch einmal prägnant zusammen: Bewahre er seine pietas als Vater, verwirke er dieselbe gegenüber Gott (Gnatae ut pius sit, in Deum sit impius, 2636, p. 123). Dieser Gedanke bewirkt den entscheidenden Sinneswandel bei Jephte, denn die Hoheit Gottes steht über allen anderen Werten. Er entschließt sich 195 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="196"?> 270 Cf. auch Stat. silv. 5, 4. Zu Baldes Schlafode cf. Beitinger 1968, 23-27. Zu dem Schlaflied auch Lefèvre 2018, 146-155, mit Übersetzung und Verweisen auf antike Parallelstellen. Für abwegig halte ich allerdings Lefèvres Interpretation (155), Balde habe (mit Verweis auf genannte Ode an den Schlaf) selbst an Schlaflosigkeit gelitten und gleichsam als „expertus zum expertus“ das Lied an Auersperg gerichtet (dieser sei aufgrund seines Ehrgeizes ebenfalls schlaflos gewesen), weshalb das Stück als „dezente Huldigung“ eingefügt worden sei. 271 Vermutlich war dieses Stück deshalb im Jephte (laut Perioche) noch nicht vorhanden. 272 Ähnlich auch Lefèvre 2018, 153. 273 Menulema. Thamar, & Rachel, cum Choro caeter. Virg., p. 126. deshalb am Ende seines Ringens dazu, das Gelübde zu erfüllen (Mactetur ergo, 2637, p. 123). Nach dem Monolog setzt der Chor mit dynamischen Anapästen ein. Er be‐ schreibt zunächst Jephtes Verzweiflung (2645-2666, p. 123) und stimmt eine tröstende Kantilene an, um den Ruhelosen in den Schlaf zu wiegen (2667-2745, p. 123-126). Dieses Stück ist von zauberhafter Leichtigkeit und lyrischer Qua‐ lität, die in Teilen Ähnlichkeit mit Baldes Ode an den Schlaf (Lyr. 2, 36) auf‐ weist. 270 Für die Handlung oder Interpretation des Stückes ist die Passage jedoch nicht entscheidend. 271 Der Chor ruft den Schlaf herbei und preist seine wohltu‐ ende Wirkung in vielfältigen poetischen Bildern. Das Lied hat die Funktion, die düstere Stimmung auf der Bühne etwas aufzulockern, und bildet einen ästheti‐ schen Ruhepol inmitten der bedrückenden Handlung. 272 Die zweite Szene beleuchtet Menulemas Exil in den Bergen (2746-3142, p. 126-136). Menulema führt einen Wechselgesang mit Rachel, Thamar und dem Chor der restlichen Gefährtinnen. 273 Sie kündigt das Ende der zweimonatigen Besinnungszeit an und erklärt sich zur Opferung bereit (Bis luna crescens revocat occursu domum / Favete Sacro. stare promissis decet, 2748-2749, p. 126). Rachel beklagt, dass der Mond wiedergeboren werden könne, nicht aber der Mensch, wenn er einmal gestorben sei (2750-2760, p. 126). Menulema erwidert hierauf, dass jeder einmal sterben müsse und es besser sei, dies geschehe in der Blüte des Lebens (2761-2772, p. 126). Der Chor der Freundinnen unterstützt Menu‐ lema zunächst und äußert die Ansicht, es sei ehrenvoll, den Tod anzunehmen, wenn er unvermeidbar sei. Den Selbstmord und die freiwillige Entscheidung für den Tod lehnt er jedoch ab (2773-2792, p. 127). Rachel und Thamar versuchen im Folgenden weiterhin, Menulema umzustimmen und zur Flucht zu bewegen. Sie geht auf diese Vorschläge jedoch nicht ein und betont ihre Entschlossenheit, zu sterben. Sie nimmt ihr Los an und legt ihr Leben in die Hände des Schicksals (Caetera in Fatis sedent, 2794, p. 127). Der Chor schlägt sich im Folgenden auf die Seite von Rachel und Thamar und präsentiert seine Vorstellung von einem düs‐ teren, freudlosen Totenreich, während sich Rachel und Thamar bemühen, Me‐ 196 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="197"?> 274 Cf. auch S. 211 mit Anm. 306. nulema die Schönheit der Natur im Diesseits schmackhaft zu machen. Dies lässt Menulema jedoch unberührt (2826-2891, p. 128-130). Auch Thamars Argument, Menulema werde durch ihren frühen Tod kinderlos sterben (2892-2906, p. 130), wehrt Menulema ab, da ihre Entscheidung, auf Kinder zu verzichten, ehren‐ hafter sei als Kinder zu bekommen und diese wie Rebekka, Lea oder Sara Gott zu weihen (2907-2918, p. 130). Der Chor bittet die Gestirne, die Zeit anzuhalten, verflucht Jephte und sein Gelübde (2943-2966, p. 131-132) und bringt so die Verzweiflung von Rachel und Thamar zum Ausdruck. Auch die folgenden Aus‐ malungen des Mädchenchores über die Grausamkeit des Todes und der Unter‐ welt (2973-3000, p. 132; 3013-3054, p. 133-134) sowie Rachels und Thamars Versuche, Menulema erst zum Bleiben zu überreden und schließlich sogar ge‐ waltsam festzuhalten, fruchten nicht. Während sich der Chor vorrangig mythi‐ scher Beispiele und antiker Diktion bedient, greift Menulema auch auf dezidiert christliche Bilder zurück. So beschreibt sie, für das Wohl aller zu sterben und durch ihren Tod den anderen das Leben zu schenken (Moriamur, ut vivatis, 2972, p. 132; Vado pro vobis mori, 3059, p. 134). Schließlich gerät Menulema in Ekstase, prophezeit den Tod Christi, dem ihr eigener vorausgehen werde (Mundi Vic‐ timam / Mundo priorem, Virgo natam Virgine / Praecedo, 3115-3117, p. 136) und eilt zu ihrem Vater. Der Chor beschließt die Szene in einem poetischen Vergleich Menulemas mit einer Hirschkuh, die ihren Jägern entkommen sei (3134-3142, p. 136). Während des ganzen Wechselgesangs entfällt zwar ein großer Sprechanteil auf den Chor, allerdings unterscheiden sich diese Partien deutlich von den ver‐ dichtenden Zwischenaktchorliedern in der ersten Hälfte des Stückes. Sie dienen nicht mehr der mise-en-abyme, sondern der emotionalen Unterstützung der Aussagen von Rachel und Thamar. Dass Balde der Passage insgesamt vor allem emotionalen Gehalt zumisst, zeigt sich auch später an der Ersetzung der ge‐ samten Szene in den Melodramatica durch zwei Klagelieder der Freundinnen, die Menulemas als Arie vorgebrachte Erwiderung rahmen. 274 Ferner bietet der Chor die Möglichkeit, zusätzliche Argumente einfließen zu lassen und die Dis‐ kussion dynamischer zu gestalten. Beide Techniken in der Chorverwendung hatte Balde bereits in der Philomela angewendet. Außerdem schaffen die Pas‐ sagen des Chores wie im Arion Scaldicus einen emotionalen Kontrapunkt, der dazu beiträgt, dass Menulema, die sich davon nicht beeindrucken lässt, umso standhafter und integrer wirkt. In der dritten Szene richtet sich der Fokus noch einmal auf Jephte und dessen endgültige Entscheidung für die Opferung seiner Tochter (3143-3170, p. 136- 197 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="198"?> 275 Zu diesem Auftritt des Chores Lefèvre 2018, 155-156, der ihn „dramaturgisch gesehen [als] Fremdkörper“ (156) klassifiziert, da er hier keine tragende Rolle innehabe. Gerade für die Verkörperung von Jephtes Seelenqualen bietet er jedoch ein eindrucksvolles dramaturgisches Mittel, um den Zuschauern dessen Inneres zu vermitteln. Die Über‐ legung von Lefèvre 2016, 32, Anm. 99, dass im Jephte offenbar kein Chor den vierten Akt beschlossen habe, scheint am Kern der Sache vorbeizugehen, denn auch in der Jephtias handelt es sich nicht mehr um ein vollständiges Chorlied, das den Akt beendet. 137). Mut für diesen Entschluss gibt ihm ein Traumbild der tapferen und stand‐ haften Menulema, das ihm im Schlaf erschienen ist (3147-3170, p. 136-137). Der in der vierten Szene (3171-3367, p. 137-142) folgende Bericht von Aodus über die Rückkehr des Mädchens in die Stadt bestätigt den Eindruck ihrer Tap‐ ferkeit. Der Chor wohnt der Unterredung zwischen Aodus und Jephte bei. Dieser Auftritt des Chores scheint im Jephte noch nicht stattgefunden zu haben. Es handelt sich hier allerdings auch nicht um ein Chorlied im eigentlichen Sinne, sondern um Äußerungen des Chores, die in ein größeres Gespräch eingebettet sind. 275 Der Chor ist bei diesem Auftritt nicht personal bestimmt: Er verkörpert hier gleichsam die innere Stimme des Vaters, indem er dessen Gefühle zum Ausdruck bringt. So beschreibt er auf der einen Seite Jephtes Trauer und vertritt auf der anderen die Position, dass das Gelübde eingehalten werden müsse (Votum lituras nescit humanas pati, 3209, p. 138), auch wenn Jephte selbst ins Zaudern kommt. Ein weiteres, besonders fein konstruiertes Beispiel für das Zwiegespräch zwischen Jephte und seinem Gewissen bzw. dem Chor ist die gleichsam auf der Metaebene geäußerte Befürchtung, er würde sich durch den Kindsmord zum beliebten Sündenbock für die Tragiker machen. Der Chor wi‐ derlegt dies sogleich, indem er anführt, dass sich Jephte aufgrund seiner ehren‐ haften Motive nicht schämen müsse, zum Tragödienhelden zu werden ( Jepht.: In quae pudendus monstra, quasve fabulas / Transcribar olim. Nullus immani reo / Parcet Tragoedus. Quisque sontem sentiet, / Aut faciet. Omni vapulabit hoc caput / Nocens cothurno. Chor.: Nulla diffidit sibi, / Aut in theatrum progredi Virtus timet, 3234-3239, p. 139). Jephte nennt sodann in bitterer Ironie ein Rätsel, dessen Lösung er selbst ist und das das furchtbare Dilemma, in dem er sich befindet, durch eine Vielzahl von Oxymora beschreibt (Mystes profanus, carnifex pie impius / Judex inique justus, invitus volens / Rebus bonis iratus, impatiens malis / Victusque victor, immolavit hostiam / Similem immolanti, 3247-351, p. 139). Er beschreibt seine Angst, vor seinem eigenen inneren Gericht nicht bestehen zu können (Mentis tribunal ipse formido meae, 3255, p. 139). Schließlich erinnert er sich jedoch erneut an Abraham und fordert sich auf, seinem Vor‐ fahren würdig zu werden und den Mut für die Tat aufzubringen (Sequor vo‐ cantem mollis Abrami nepos, 3314, p. 141). Und so kündigt Jephte die Opferung 198 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="199"?> 276 Der vorangestellte qui-Satz sowie der als Konsequenz folgende Hauptsatz Me videat (3368-3370, p. 143) ist offensichtlich nach dem Modell von Hecubas Eingangsmonolog in den Troerinnen modelliert. für den nächsten Morgen an (Cras cum renatum fonte Nabathaeo jubar / Infundet Orbi Phoebus, explebo Sacrum, 3366-3367, p. 142). Der Chor hat in dieser Szene die Aufgabe, Jephte bei seiner Entscheidung zu helfen. Der Chor verkörpert die Position, das Gelübde müsse eingehalten werden, und drängt dazu, die Opferung zu vollziehen. Er ist somit Dialogpartner und Mittler von Jephtes innerer Argumentation. Gleichzeitig beschreibt er Jephtes Gefühle und macht sie so greifbarer. Der Chor übernimmt hier also erneut die Funktion, die Balde in der Philomela eingesetzt hatte, nämlich die emotionale Verstärkung sowie die Präsentation verschiedener argumentativer Gedankengänge. Am Ende des vierten Aktes ist Baldes Deutung der Bibelgeschichte noch einmal bestätigt: Jephte erscheint auf der einen Seite als liebender Vater, der sich die Entscheidung nicht leicht macht, doch dessen Religiosität und Pflichtbe‐ wusstsein ihn letztlich zum notwendigen Schritt anleiten. Menulemas nahezu überirdische Gelassenheit und Akzeptanz ihres Opfers entlasten ihn zusätzlich. Die Grundlage für das Finale des Stückes ist damit gelegt. 2.3.2.3. Deus Emmanuel - Menulema Deus Der fünfte Akt (3368-4808, p. 143-181) widmet sich dem Bericht der Opferung Menulemas. Balde wählt für die Geschehnisse, ganz nach klassischem Muster, die Form des Botenberichts, wie er sie bereits im Regnum poetarum angewendet hatte. Allerdings lässt er, ähnlich wie er es mit den fünf Kundschaftern in der fünften Szene des zweiten Aktes durchgeführt hatte, statt eines Berichtes drei sich steigernde Berichte aufeinanderfolgen. Der Rezipient ist jeweils Aripha‐ nasso, der mit etwas Verspätung ebenfalls aus dem Krieg zurückgekehrt ist. In der ersten Szene (3368-3480, p. 143-146) betritt Ariphanasso die Bühne und berichtet von seinen Taten im Krieg: 276 Zunächst plante er einen Anschlag auf Ammon (3370-3371; 3380-3381, p. 143), wurde dabei jedoch entdeckt und gefangengenommen (3382-3385, p. 143). Ariphanasso gelang zwar die Flucht, doch er wurde weiterhin vom Pech verfolgt. Um zu entkommen, rettete er sich auf ein Schiff, das jedoch in einen Sturm geriet, abgetrieben und zerstört wurde. Durch den Schiffbruch verpasst Ariphanasso sogar die Entscheidungsschlacht. Als es ihm schließlich gelingt, zum Kampfplatz zurückzukehren, ist Jephtes Heer bereits gen Heimat gezogen (3386-3429, p. 143-144). Ariphanasso schildert so‐ dann die Verheerungen auf dem Kampfplatz und die Verzweiflung der besiegten Ammoniter (3430-3454, p. 144-145). Umso glücklicher ist er über Jephtes Sieg, 199 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="200"?> 277 Dieses Wettern gegen die Juden lässt sich im Sinne der typologischen Deutung auch dem Topos zuordnen, die Juden seien Christusmörder. der dessen Volk vor demselben Schicksal bewahrt habe, und bedauert, nicht selbst bei der Siegesfeier anwesend gewesen zu sein (3455-3459, p. 145). Es ist offensichtlich, dass Ariphanasso von Menulemas Geschick noch nichts weiß. Für den wissenden Zuschauer ist es deshalb bitter ironisch, als der Verliebte sich ausmalt, wie Menulema den Festzug angeführt habe (3460-3465, p. 145), denn genau dies hatte ihr Schicksal besiegelt. Auch seine weiteren Überlegungen sind herzzerreißend und kaum zu ertragen, wenn er sich schämt, der Geliebten nun unter die Augen zu treten, da er durch seine Gefangennahme keine Heldentaten vollbringen konnte (3466-3480, p. 145-146). Mit dem unerwarteten Auftreten Ariphanassos befriedigt Balde zunächst die Neugier des Publikums, das bisher über den Verbleib des Ägypters im Unklaren gelassen wurde. Außerdem dient sein Monolog als retardierendes Moment, da auch das Publikum noch nicht in‐ formiert ist, ob die Opferung tatsächlich vorgenommen wurde. Balde hält somit die Spannung aufrecht und verstärkt diese, indem er die Zuschauer mit ihrer Identifikationsfigur mitleiden lässt und die Hoffnung schürt, die Geschichte habe doch einen gnädigen Ausgang gefunden. Diese wird jedoch durch die fol‐ genden Botenberichte als nichtig erwiesen. Der erste Botenbericht in der zweiten Szene (3481-3557, p. 146-148) durch Aodus ist so allgemein gehalten und unklar, dass Ariphanasso gar nicht begreift, um wen und worum es sich eigentlich handelt. Seine Zwischenkommentare drücken völliges Unverständnis aus und wirken beinahe unfreiwillig komisch (Quid velit, nondum assequor, 3517, p. 147; nullum intelligo, 3535, p. 147; Quidquid enarras, mihi / Nimis alta nox est, 3541-3542, p. 147). Für den informierten Zu‐ schauer ist indes durch die Äußerungen des Aodus bereits klar, dass die Opfe‐ rung tatsächlich erfolgt ist. Die tragische Ironie, die sich durch dieses Informa‐ tionsgefälle ergibt, prägt die gesamte Szene. So versteht Ariphanasso zwar, dass ein Kind getötet wurde, bezieht die Erzählung jedoch nicht auf Menulema und antwortet beinahe sarkastisch, als er die Trauer des Henkers mit Niobe ver‐ gleicht (Niobe nova, 3545, p. 148). Auch der nächste Bericht in der dritten Szene (3558-3751, p. 148-153) durch den Barbaren Bagloas schafft noch keine Klärung, sondern treibt die absurde Gesprächssituation weiter auf die Spitze. Bagloas ist während seines gesamten Berichts äußerst aufgewühlt und emotional. Zunächst vergleicht er die Juden mit der Drachensaat des Cadmus, die sich gegenseitig umge‐ bracht hätten (3572-3578, p. 148-149), und prangert die Tatsache, dass die Juden nun Menschenopfer brächten, als gottlos an (3581-3596, p. 149). 277 Die 200 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="201"?> 278 Cf. S. 80-82. 279 Cf. S. 196. Diskussion über die Rechtmäßigkeit von Menschenopfern, die in den fol‐ genden Szenen mehrfach aufgenommen wird, erinnert an die Diskussion in den Troades zwischen Pyrrhus und Agamemnon über die Opferung der Po‐ lyxena. 278 Sodann beschreibt er ausführlich den durch Atreus begangenen Kindsmord (3598-3643, p. 149-150). Dabei weist er darauf hin, dass Atreus wenigstens ein Motiv gehabt habe, nämlich Rache, da Thyest ihm Frau und Herrschaft streitig gemacht habe (3601-3604, p. 149). Schließlich deutet er an, dass in Gilead noch Grausigeres geschehen sei als beim Mahl des Thyest (Vincit Mycenas Maspha, 3643, p. 150): Es sei ein Mord ganz ohne Grund ge‐ schehen und als rechtmäßiges Opfer deklariert worden (3644-3661, p. 150- 151). War im zweiten Akt noch Ammon mit Atreus verglichen worden, ist es nun Jephte selbst, der ihm gleichgesetzt wird. Ariphanasso reagiert zu‐ nächst zornig und möchte Bagloas für die Verleumdung der Juden strafen (3662-3671, p. 151). Der Vorwurf des Menschenopfers kommt ihm unwahr‐ scheinlich vor, da solche Bräuche typisch für Barbaren und nicht für ein got‐ tesfürchtiges Volk seien (3672-3691, p. 151-152). Er beschließt, der Unge‐ wissheit ein Ende zu machen und selbst die Lage in Augenschein zu nehmen (3692-3696, p. 152). Allerdings erfassen ihn dabei bereits böse Ahnungen (3697-3713, p. 152). Um sich selbst Mut zu machen und zu beruhigen, stimmt Ariphanasso ein anapästisches Lied an (3714-3730, p. 152-153), in dem er sich auf seine Liebe zu Menulema besinnt, die ihm Kraftquelle für alles sei. Hatte im vierten Akt noch der Chor die Aufgabe übernommen, Jephte zu trösten und mit einem Lied in den Schlaf zu wiegen, 279 muss Ariphanasso dies für sich selbst tun. Er erhält keine emotionale Unterstützung, sondern legt sein Innenleben selbst offen. Dies passt zu seiner Rolle, da der gefühlsbetonte Ägypter auch zu Beginn des Stückes stets in eigener Person seine Gefühle vorgetragen hatte. Als Identifikationsfigur für das Publikum bleibt er so un‐ mittelbarer und nahbarer. Schließlich kommt Baracus hinzu und kann in der vierten Szene (3752-4272, p. 153-167) traurige Gewissheit bringen. Baracus trägt in lyrischen Sapphikern (3752-3881, p. 153-175) vor, sodass sein Bericht Liedcharakter erhält. Auch der Beginn seiner Rede erinnert zunächst an ein typisches Chorliedthema: Das Lob des Maßhaltens und der goldenen Mitte (3752-3764, p. 153-154). Übermäßige Erregung führe zu schlechten Taten (Omnis affectus violens ab aequo / Trudit in pejus, 3766-3676, p. 154), besonders der Affekt der Furcht habe negative Folgen für das Individuum (3765-3774, p. 154). Baracus leitet hiervon zur Opferthematik 201 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="202"?> über (3775-3803, p. 154-15). Für Opfertiere sei es besser, wenn sie nicht wüssten, was ihnen bevorstünde, weil sie dann keine Angst empfänden. Außerdem müsse es sich um Tiere handeln, Menschenopfer seien abzulehnen. Schließlich fügt er die Mahnung an, stets die Folgen zu bedenken, wenn man den Göttern etwas gelobe, denn dies könne nicht rückgängig gemacht werden (3805-3822, p. 155). Baracus wird im Folgenden konkret und prangert Jephte an, der unüberlegt etwas Unvorhersehbares gelobt habe (Quid Galadino nocuit Dynastae / Quam repentinus nimiumque praceps / Ardor in Votum! , 3825-3827, p. 155). Baracus wirft Jephte zunächst Leichtfertigkeit vor und gibt ihm die Schuld an Menulemas Opferung. Ariphanasso unterbricht das Lied einige Male, versteht bislang jedoch noch nicht, worauf es abzielt. Baracus fährt fort, Jephtes Verzweiflung und die Trauer des gesamten Volkes nach der Tat zu beschreiben (3836-3851, p. 156). Er beschließt seinen Gesang mit einer allgemeinen Klage über die Wankelmütigkeit des Schicksals, das stets ins Negative umschlagen könne (3653-3881, p. 156- 157). Dass Baracus zunächst in Liedform vorträgt, hat zwei Gründe: Erstens drückt das sapphische Maß einen hohen Grad an Emotionalität aus. Als Menu‐ lemas enger Vertrauter kann er die Sachlage nicht objektiv betrachten. Zweitens übernimmt Baracus in dieser Szene die Rolle des Chores. In lyrischen Versen und poetischen Bildern verdichtet er das Geschehene und weist auf das Kern‐ problem - die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Opferung - hin. Die Tendenz, die Chorfunktionen auf die handelnden Personen des Dramas zu übertragen, wird also weiter vorangetrieben. Zuvor hatte sich Ariphanasso selbst mit einem Lied trösten müssen, nun übernimmt Baracus die mise-en-abyme-Funktion und macht den Chor in dieser Szene obsolet. Ariphanasso stellt Baracus schließlich zur Rede und verlangt Klarheit. Nach einem aufreibenden Frage-Antwort-Spiel, in dem Baracus eine Andeu‐ tung an die nächste fügt (3882-3959, p. 157-159), erfährt Ariphanasso schließlich von Menulemas Opferung durch ihren eigenen Vater (Tua Patris obtruncata sacrifica manu / Menulema vixit, nostra dulcis Jephtias, 3962-3963, p. 159). Der Ägypter ist zunächst entsetzt und richtet all seinen Zorn gegen Jephte (3964-4012, p. 160). Ariphanasso vergleicht in Rückgriff auf den Be‐ richt des Bagloas Jephte explizit mit Atreus und bestätigt, dass ersterer tat‐ sächlich noch mehr Schuld auf sich geladen habe (Atreum nocentior / Facit innocentem, 3985-3986, p. 159). Doch wie im zweiten Akt Jephte als christ‐ lich-jüdischer Held die heidnische Atreusfigur, die ihre Personifikation in Ammon gefunden hatte, moralisch und militärisch besiegt, überwindet er auch in der zweiten Hälfte des Stückes den Atreusmythos: Der Vergleich seiner eigenen Tat mit der des Atreus wird als falsch erwiesen, da Jephte sehr wohl eine Motivation gehabt habe, die sein Handeln rechtfertigt. Erneut 202 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="203"?> 280 So bedeckt Menulema selbst im Fallen noch züchtig ihren Leib mit dem Kleid. Cf. stellenweise als Vorlage für Menulemas heldenhaftes Sterben Polyxenas Tod (Sen. Troad. 1148-1164). übersteigt Balde durch den christlichen Überbau das antike Exempel. Jephte habe auf Gottes Geheiß und zum Wohle seines Volkes gehandelt (Natam ut saluti devoveret civium, / Super incubantis sensit afflatum Dei, 4014-4015, p. 160). Er habe überlegt und besonnen gehandelt (Praecipiti nihil / Turbine peractum: spatia consilijs data: / Deliberatum est, 4026-4027, p. 161). Den Vor‐ wurf der Leichtfertigkeit bei Gelübden, den Baracus zuvor angebracht hatte, entkräftet er also für Jephte. Dies fügt sich ein in die ausführliche Charak‐ terisierung Jephtes und die Explikation seines Handelns im ersten Teil des Stückes. Ariphanasso zeigt sich zunächst unnachgiebig und bleibt voller Hass auf Jephte. Baracus beschreibt sodann die Verzweiflung von Menulemas Mutter (4054-4083, p. 161-162). Menulema hingegen sei zum Opfer bereit gewesen und habe sich willig in ihr Schicksal gefügt (jam superba, jam ferox / Deliberata morte, jam ferrum petens: / Animosque supra vulgua ex‐ celsos gerens, 4109, p. 163). Auch als Baracus von der Hinrichtung selbst be‐ richtet (4121-4157, p. 163-164), liegt der Fokus auf Menulemas Todesent‐ schlossenheit und ihrer Tugendhaftigkeit, die sie bis zuletzt bewahrt. 280 Sie habe keinerlei Angst gezeigt und darum gebeten, dem Tod sehenden Auges entgegentreten zu können (Videam supremum / libero caelo fruar […] Spec‐ tetur ensis, et mori me sentiam, 4137-4139, p. 163-164). Ariphanasso bricht in lautes Klagen aus und ruft im Zorn aus, Jephte hätte es wenigstens Atreus gleichtun und Menulemas Fleisch verzehren sollen (Satura tyranne carnibus fauces tuas: / Satura tuo cruore, 4177-4178, p. 165). Baracus erläutert sodann, dass das Brandopfer durchgeführt worden sei und die Zeichen gezeigt hätten, dass das Opfer gottgewollt gewesen sei (4183-4218, p. 165-166). Auch Ari‐ phanasso konstatiert daraufhin, dass Gott Jephte zwar freigesprochen habe (Jephtae cruentum facinus absolvit Deus, 4020, p. 166), dies sei der Preis für den Sieg gewesen. Er verdammt dies jedoch als barbarischen Brauch (4222- 4225, p. 166) und fragt sich, wie Jephte als Vater noch weiterleben könne (Truculente Genitor. Vivere etiam nunc potes, 4238, p. 166). Ariphanasso be‐ schreibt hier das Dilemma Jephtes, das das gesamte Stück prägt und das die Kernproblematik in die Nähe des senecanischen Oedipus setzt: Es besteht objektive Schuldlosigkeit, subjektiv empfunden ist das Verbrechen jedoch zu grausam, um damit einfach weiterleben zu können. Der Ausgangspunkt für die Theodizeeproblematik ist im Oedipus und in der Jephtias zunächst sehr ähnlich. In der Jephtias wird die Fragestellung jedoch mit einem heilsge‐ 203 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="204"?> 281 Cf. S. 143-144. schichtlichen Sinn versehen. Dieser wird Ariphanasso in der letzten Szene eröffnet. In der fünften Szene (4273-4808, p. 167-181) tritt erneut der Chor der Jung‐ frauen auf (4273-4751, p. 167-180). Wieder ist die Vorlage für diesen Wechsel‐ gesang das erste Chorlied der Troerinnen. Rachel und Thamar agieren als Chor‐ führerinnen und fordern die Gefährtinnen Menulemas auf, einen Klagegesang anzustimmen. Menulemas Tod wird betrauert und die reinigende Kraft der Tränen gelobt (Tristis flendi sit causa, licet / Quaedam tamen est flere voluptas, 4298-4299, p. 168). Ariphanasso möchte daraufhin miteinstimmen. Nach ei‐ nigen fruchtlosen Bemühungen, sich Tränen zu entlocken (4300-4329, p. 168- 169), gelingt es ihm, und das Weinen bringt die ersehnte Erleichterung (4330- 4343, p. 169). Rachel, Thamar und Ariphanasso klagen im Wechsel mit dem Chor im Folgenden gemeinsam und lassen ihrer Trauer freien Lauf (4344-4660, p. 169-177). Eingefügt in die Klage sind mythische Beispiele für Wiedergeburt und Auferstehung, die jedoch mit Menulemas Tod nicht vergleichbar seien: Die Verwandlung Daphnes in einen Lorbeerbaum (4371-4398, p. 170-171), die Ver‐ jüngung des Aeson durch Medea (4418-4434, p. 171-172), der Phönix (4462- 4507, p. 172-173) und Philomela (4517-4539, p. 174). Auch wenn der Chor zu diesem Zeitpunkt noch die Verschiedenheit dieser Exempla zu Menulema be‐ tont, wird durch die Thematisierung der Wiedergeburt die typologische Deu‐ tung vorbereitet. Der Chor bedient sich hier erneut der Antike, um die christliche Interpretation zu stärken. Im Fortgang des Gesangs wird nun Menulema als Heldin gelobt, die für ihr Vaterland gestorben sei (4546- 4564, p. 174-175). Ari‐ phanasso leitet hiervon zu Menulemas Motivation für die Opferung über und drückt seine Ahnung aus, eine höhere Macht möge ihre Entscheidung gelenkt haben. Aufgrund seiner Liebe zu ihr möchte er diesem Gott ebenfalls folgen (4562-4580, p. 175). Die Jungfrauen und Ariphanasso preisen und betrauern noch einmal inbrünstig Menulema (4581-4660, p. 175-177). Die Trauer wird hierbei beinahe zum Selbstzweck. Durch das bewusste Erwecken und das in‐ tensive Empfinden der Emotion gehen die Klagenden ganz im Weinen auf und werden gereinigt. Auf diese Weise werden sie vorbereitet, um im Folgenden einen höheren Sinn schauen zu können. Diese Vorstellung liegt den Exercitia spiritualia zugrunde, mit Hilfe derer ebenfalls bewusst Affekte ausgelöst werden sollten, um in einen Dialog mit den Heiligen und Gott zu treten. Diese jesuitische Meditationslyrik hatte bereits einen wichtigen Einfluss auf Baldes Philomela dargestellt, 281 auch in der fünften Szene der Jephtias ist sie eine wichtige Inspi‐ rationsquelle. Ariphanasso wird hier von Rachel und Thamar in die Exerzitien 204 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="205"?> 282 Cf. S. 147. 283 Das Besingen verschiedener Andenken an die Jephte-Tochter findet auch bei Lumme‐ naeus a Marca statt, allerdings ohne die christliche Aussagebene; cf. hierzu Janning 2005, 275. 284 Die Kursivierung in Baldes Text zeigt deutlich die Markierung als Zitat. 285 Cf. zu diesen Symbolen auch Stroh 2004a, 290. 286 Der ausufernde Klagegesang der fünften Szene wird in den Melodramatica durch drei kürzere Gesänge ersetzt. Zu vermuten ist jedoch, dass Ariphanasso seine Kommentie‐ rung dennoch zwischen den Liedern vorbringen sollte, da sein plötzlicher Abgang in der letzten Szene sonst nicht erklärbar wäre (Cf. auch S. 211-212 mit Anm. 306). eingeführt und absolviert sie sodann selbst. Auch die Methode der Kontempla‐ tion, die in den Meditationen wesentlich ist, wird im Folgenden beachtet. Wie in der Philomela die Leidenswerkzeuge der Passion aufgezählt wurden, 282 werden nun auch Gegenstände vorgezeigt, die Menulema besessen hatte. 283 Darin eingeflochten finden sich zahlreiche Bezüge zur Auferstehung Christi. Hierzu gehören beispielsweise der Weinkrug, den Menulema am Vortag mit den ans letzte Abendmahl gemahnenden Worten (Credite […] / Vos, dum Calicem sumitis istum, / Memores nostro sanguine pasci: / Quem pro patria victima fundam, 4665-4668, p. 178) 284 verwendet hatte, der Dorn, den sie als Haar‐ schmuck trug (4683-4686, p. 178), ihr dreifach verflochtener Ring (4690-4705, p. 178-179) als Hinweis auf die Dreifaltigkeit, ihr Dornenkranz (4716-4720, p. 179) und die Nägel (4725-4728, p. 179), die sie im Augenblick ihres Todes in der Hand hielt. 285 Der Klagegesang und die Präsentation der Gegenstände bewirken bei Ari‐ phanasso einen endgültigen Sinneswandel: Er erkennt Menulemas Tod nun als von Gott gewollt an und deutet ihn als Zeichen für ein neues Zeitalter (4706- 4715, p. 179). Er entsagt schließlich der irdischen Liebe und weiht sein Leben ganz der Verehrung der toten Menulema (4741-4751, p. 180). In dieser Szene zeigt sich besonders deutlich, dass Ariphanasso im letzten Akt des Dramas von einer Nebenfigur, die zuvor als Publikumsliebling fungiert hatte, zu einer Haupt‐ figur avanciert. 286 Dabei behält er seine Rolle als Identifikationsfigur bei. Aller‐ dings bezieht sich diese nun auf die typologische Deutung des Stückes. Aripha‐ nasso verkörpert die christusliebende Seele, also den Menschen an sich - und damit auch die Zuschauer. Er tritt in dem Moment in den Vordergrund, in dem Menulema für ihr Volk stirbt, also die typologische Interpretation des Stückes manifest ist. Nach Christi Tod bleibt der Mensch zunächst alleine zurück und muss seinen Tod verarbeiten. Dies erfolgt über den Weg der Trauer, der letztlich zur Freude und Dankbarkeit über die Erlösung der Menschheit führt. Dies ge‐ schieht bei Ariphanasso mittels der Exerzitien-Technik, die schließlich den er‐ wünschten Effekt erzielt: Er ist nun gereinigt und bereit, den höheren heilsge‐ 205 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="206"?> 287 Lefèvre 2018, 157. Im Aufsatztitel spricht er von einer „Überwindung von Senecas Chortechnik“. 288 Lefèvre 2018, 158. schichtlichen Sinn, den er bislang nur ahnt, zu schauen. Hilfestellung dabei gaben ihm Rachel, Thamar und der Jungfrauenchor, der keine mise-en-abyme- Funktion mehr innehat, sondern auf Techniken aus Baldes Philomela zurück‐ greift. Der klassische senecanische Tragödienchor, der in den ersten Akten präsent war, hat nun über 1000 Verse lang geschwiegen. Wie lässt sich diese Rollenver‐ änderung des Chores innerhalb des Stückes erklären? Lefèvre stellt fest, dass die „von Seneca praktizierte Klarheit im Aufbau verlorengegangen“ sei. 287 Den‐ noch konstatiert er: „Senecas Technik lugt allenthalben durch“. 288 Doch die Emanzipation vom senecanischen Chorsystem erfolgt nicht willkürlich, son‐ dern nach einem festgesetzten Plan. Dies wird deutlich, wenn man den Moment des Umschwungs betrachtet: Er erfolgt mit dem dreigeteilten Soldatenchor am Ende des dritten Aktes. Dieser setzt mit Vers 2418 numerisch gesehen fast exakt auf der Hälfte des Stückes ein. Tatsächlich befindet sich hier der Wendepunkt der tragischen Handlung: Zuvor war die fatale Begegnung von Vater und Tochter erfolgt. Dies bedeutet jedoch auch, dass der Konflikt ab dieser Stelle eine neue Gestalt annimmt. Zuvor hatte er sich auf äußerer Ebene abgespielt, als kriegerische Auseinandersetzung mit dem heidnischen König Ammon. Mit dem Zusammentreffen von Jephte und Menulema verlagert er sich jedoch in eine andere Dimension: Der ‚Kampf ‘ spielt sich nunmehr auf einer inneren Ebene ab, da Jephte über die richtige Entscheidung zu reflektieren hat. Bezeich‐ nenderweise wählt Balde in den Kapitelüberschriften des ersten und zweiten Tragödienteils unterschiedliche Begriffe, zunächst das unmissverständliche bellum, später das Verbum luctari. Eine dramatische Handlung im eigentlichen Sinne findet kaum noch statt, es geht um das Austragen eines inneren Konflikts mittels argumentativer Gedankenvorgänge. Der Chor wird als interpretative Reflexionsinstanz nicht mehr benötigt, es kommen keine neuen Aspekte hinzu. Die bereits dargelegte Problematik wird nun von den handelnden Personen selbst vertieft. Stattdessen werden Instanzen benötigt, die die Monologe auflo‐ ckern, den Gedankenvorgang durch Fragen vorantreiben und emotionale Un‐ terstützung oder Widerspruch leisten. Überspitzt könnte man formulieren: Der Chor wird in dem Moment zur handelnden Person, in welchem es keine äußere Handlung mehr gibt. Balde setzt den Chor in der zweiten Hälfte der Jephtias so ein, wie er es in der Philomela und im Arion Scaldicus getan hatte, oder er lässt ihn, wie im Drama Georgicum, einfach weg, wenn er ihn nicht benötigt. 206 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="207"?> 289 Vorstellbar für eine Aufstellung auf der Bühne wäre, dass sämtliche Choreuten für den Schlusschor zusammenkommen. 290 Balde verbildlicht diesen Aufstieg in die göttliche Sphäre in der Druckfassung sogar, da einige Sternchen in den Text des Chores einfügt sind (p. 181, nach v. 4776). Im Vorwort erklärt er, dass diese die Öffnung des Himmels und die Auferstehung Christi symboli‐ sierten: Post asteriscos tamen, quos ultimo folio invenies, aperit se caelum et gloriosa Christi Anastasis. (Prolus. 28); cf. hierzu Rädle 1989, 245. Vor allem jedoch wandelt sich der Konflikt Mensch-Mensch zu einem Kon‐ flikt Mensch-Gott. Dies zeigt sich auch im veränderten Sprachstil: Zu der all‐ gegenwärtigen Seneca-imitatio treten zunehmend christliche Begriffe und Bilder hinzu. Zudem fällt der Gebetscharakter der langen Monologe Jephtes und Menulemas ins Auge. Parallel dazu erfolgt die Auflösung der Chorlieder und die Übertragung von Chorfunktionen auf handelnde Personen des Dramas. Dies erklärt sich aus dem christlichen Gehalt des Stückes: Der im christlichen Glauben erzogene Mensch muss seine religiösen Konflikte im Zwiegespräch mit Gott austragen. Eine weitere Instanz, die diese Entscheidungen von außen in‐ terpretiert, ist nicht mehr nötig oder sogar unerwünscht. Die Auflösung des Chores ab dem eigentlichen Wendepunkt hin zum religiösen Bibeldrama ist also die dramaturgisch logische Konsequenz. Erst ganz am Schluss der Tragödie lässt Balde seinen senecanischen Chor noch einmal auftreten. Hierbei handelt es sich nicht länger um den Jungfrau‐ enchor, sondern um einen personal nicht näher bestimmten Chorus. 289 Dass dieser nicht auf eine Personengruppe reduziert werden kann, ergibt sich aus seiner umfassenden Funktion: Ihm kommt die wichtigste Aufgabe der gesamten Tragödie zu. In seinem letzten Lied (4752-4808, p. 180-181) übernimmt er es, das Stück insgesamt in dem heilsgeschichtlichen Sinne zu deuten, den Balde ihm zugrunde gelegt hat. Wurde die Jephtias auf der Bühne gespielt, ohne dass Baldes erläuterndes Vorwort zur Hand war, fungierte der Chor gleichsam als Sprach‐ rohr des Autors selbst. So legt er dar, dass es keinen Grund zur Trauer mehr gebe. Es werde nun eine neue Zeit anbrechen, in der die Toten wieder aufer‐ stünden. Das Lied schließt mit der expliziten Erläuterung des Namens von Jephtes Tochter: Dea nobiscum, Menulema soror, / Rediviva suum nomen ha‐ bebit. / DEUS EMMANUEL, MENULEMA DEUS (4802-4804, p. 181). 290 Mit dem einfachen Kunstgriff, Menulema einen Namen zu geben, der als Anagramm für Emmanuel steht, bietet Balde die Gesamtdeutung des Stückes: Der Tod der Jephtias ist nicht länger als Verbrechen zu sehen, für das ein Schuldiger gefunden werden muss, sondern als notwendiger Schritt für die Erlösung der Welt. Balde erklärt so ein alttestamentliches Problem, in dem er es neutestamentlich auslegt. Doch es ist nicht nur das Alte Testament mit dem er sich in seinem Stück 207 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="208"?> 291 So resümiert Valentin 1978b, 2, 794 zurecht: „Jephtias est la somme théâtrale de sa pensée théologique.“ 292 Op. om. 6, 182-193. Mit Notentext nur zugänglich in der Erstausgabe Amberg 1654, Anhang zu den Melodramatica, 1-19. Im Folgenden werden bei Zitaten aus den Melodramatica sowohl die Seitenzahl des Abdrucks ohne Noten aus den Opera omnia sowie die der Erstausgabe mit Notentext angegeben. Cf. auch Dünnhaupt 1990, 394, Nr. 22.2. Zu den Melodramatica Scheid 1904, 33; Sypherd 1948, 53-54; Beitinger 1968, 68-70; eingehender Tschulik 1977, bes. 364-368; knapp auch Hofmann 1985/ 1986, 194-195. 293 Cf. Stroh 2004a, 303 mit Anm. 192, der allerdings annimmt, vor allem die Sprechchöre seien ersetzt worden; Führer 2006, 686-690. 294 Praef. Melod. Op. om. 182; Melodr. Amberg 1654, 1. Übers. Verf. auseinandersetzt. Es ist die Theodizeefrage insgesamt: Wie Oedipus sieht sich Jephte mit einer Situation konfrontiert, in der er Schuld auf sich geladen hat. Diese Schuld wird zwar durch die göttliche Macht negiert, ist aber dennoch auf Gewissensebene nicht zu ertragen. Doch im Gegensatz zu Oedipus wird Jephte erlöst. Balde gibt Menulemas Tod einen höheren Sinn und macht Jephtes Tat damit nicht nur entschuldbar, sondern notwendig. Anders als Seneca findet Balde in Gott die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens. Die Jephtias ist Aus‐ druck seines tiefen Gottvertrauens, das er in ein beeindruckendes dramatisches Gewand gekleidet hat. 291 Baldes Mittel, seine Gedanken darzulegen, sind die se‐ necanische Tragödie und insbesondere deren Chor, dessen Potenzial als Inter‐ pretationsinstanz er erkannt und für seine Zwecke weiterentwickelt hat. 2.3.3. Die Melodramatica Zum Abschluss der Betrachtung der Jephtias soll ein kurzer Blick auf die ein‐ gangs erwähnten Melodramatica geworfen werden, die Balde der Amberger Erstausgabe beigegeben hat. 292 Balde hat die 13 Lieder im Untertitel stets mit einem Verweis gekennzeichnet, der exakt angibt, wo das jeweilige Lied im Stück zu platzieren ist. Es ist wahrscheinlich, dass die Melodramatica die bezeichneten Partien ersetzen sollten. 293 Hierfür sprechen die Formulierung Pro, die der je‐ weiligen Stellen- und Seitenangabe vorangestellt ist, und die Doppelungen, die sich ergeben würden, fügte man die Lieder einfach nur in den Dramentext ein. Wie ausgreifend die Ersetzung jedoch gestaltet werden sollte, ist nicht näher bestimmt. Balde vermerkt immer nur die erste Seite der zu verändernden Stelle. Hier gewährt er also eine gewisse dramaturgische Freiheit. Weshalb die Melodramatica überhaupt der Jephtias hinzugefügt wurden, erläutert Balde in einem kurzen Vorwort: 294 Permittente magis, quam approbante Auctore, haec Melodramatica eduntur. putaverat sufficientibus Choris, qualeis eruditae aures desiderare poterant, Tragoediam suam 208 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="209"?> 295 Cf. Tschulik 1977, 362; Stroh 2004a, 297, Anm. 166; 302-302, Anm. 191; Lefèvre 2016, 97. 296 In der Urania victrix hebt Balde ebenfalls zu polemischen Zwecken den Gegensatz zwi‐ schen wahrer Bildung und Musik hervor (2, 4, 33-34 an den Musiker Pamphilus Sarga): Quis canit, et pariter studijs operatur honestis? / Musicus, et Musas vix reperitur amans. 297 Praef. Melod. Op. om. 182; Melodr. Amberg 1654, 1. Übers. Verf. 298 In der Dissertatio de studio poetico (Kap. 27; cf. S. 167-168) stellt Balde kritisch fest, dass Gesungenes vom Publikum besser aufgenommen werde als der reine Wortlaut (tota instructam esse: etiam absque vocali tumultu. Obstinatis tamen petitionibus denique assensus est. Eher mit Duldung als mit Zustimmung des Autors werden diese Melodramatica her‐ ausgegeben. Er hatte gedacht, seine Tragödie sei mit genügend Chorliedern versehen, wie sie sich gebildete Ohren wünschen konnten: und sie waren auch frei von Ge‐ sangslärm. Schließlich beugte er sich dennoch den hartnäckigen Bitten. Balde hatte seine Jephtias ursprünglich nur mit den an der antiken Tragödie angelehnten Sprechchören versehen. 295 Doch offensichtlich wurde das Fehlen musikalischer Lieder gerügt. Balde selbst war zwar der Meinung, dass seine eigenen lyrischen Chorpartien im Prinzip ausreichten, bot jedoch schließlich die Melodramatica als eine Art Zugabe, die für eine Aufführung verwendet werden konnten, um der Tragödie eine gefälligere Note zu geben. Balde betont den Wert seiner ursprünglichen Chorlieder: Ihr stilistischer Anspruch sei für gebildete Leser äußerst geeignet. 296 Im Folgenden zeigt er sich allerdings versöhnlicher und gesteht zu, dass die gesungenen Stücke durchaus zum Genuss beitragen könnten. Diese positive Eigenschaft sei auch schon in der Antike ein willkom‐ mener Effekt gewesen: 297 Chori certe idcirco à Vett. instituti fuere, ut illorum beneficio irritamina affectuum, dum Cantus mollis fluit, per aurium conchylia, quasi per musicos canales, in animum derivarentur. Die Chorlieder wurden sicherlich von den Alten deshalb eingeführt, damit durch ihren Wohlklang, während der Gesang sanft dahinfließt, die Lockmittel für die Gefühle durch die Ohrmuscheln wie durch Resonanzkörper ins Herz geleitet werden. Balde wirkt also dem Vorwurf entgegen, die Melodramatica stünden seinem Anspruch im Wege, eine klassizistische Tragödie verfasst zu haben. Auch die gesungenen Stücke entsprächen im Grunde der antiken Tradition und Intention. Seine Lieder stellten nur gleichsam eine moderne Adaption dar. Balde kommt seinem Publikum mit den Liedern entgegen und erkennt ihr Potenzial, seine Jephtias für einen breiteren Geschmack aufzubereiten. 298 Auch bei der Kompo‐ 209 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="210"?> voluptas stat in sensibus: maxime natat in oculis: in auribus jam vix praeter modulatam haeret). Mit den Melodramatica kommt er eben dieser Präferenz entgegen. 299 Tschulik 1977, 366-367: Für den Chor der Gefährtinnen Menulemas in der zweiten Szene des vierten Aktes bediene sich Balde der Melodie des Liedes „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“; für den Jungfrauenchor nach der vierten Szene im vierten Akt nehme Balde ein Marienlied „O Muetter der Barmherzigkeit“ als Grundlage. Tschulik kann so zeigen, dass Otto Ursprungs These, Balde sei Komponist aller Stücke gewesen (Ur‐ sprung 1951, 1101), zumindest für einige Lieder nicht trägt. Dies bezieht sich allerdings nur auf die Melodien. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass ein anderer Autor als Balde die Texte verfasst haben könnte. Chronologisch unhaltbar ist die Annahme von Walter 1987, 244, Orlando di Lasso (gest. 1594) habe die Musik komponiert. 300 Müller 1930, I, 84. 301 Stück 9, das von Menulema selbst vorgetragen wird, nimmt hierbei die Erwiderung der Klagegesänge vor. 302 Zur Emotionalität der Lieder auch Führer 2006, 687. sition der Melodien scheint er sich den Vorlieben der Allgemeinheit angepasst zu haben, da er auf bereits bekannte Lieder zurückgegriffen hat. Tschulik kann für drei der Stücke zeigen, dass diese auf populäre Lieder zurückgehen. 299 Diese Lieder waren Baldes Zeitgenossen so bekannt, dass sie den Zuschauern leicht ins Ohr gingen. So konnte ein schneller Wiedererkennungseffekt erzielt werden. Zwar stellen die Melodramatica einen Kompromiss dar, den Balde für sein Pu‐ blikum eingeht, allerdings scheint die Idee von Müller zu weit zu gehen, sie als „letzte[n] Versuch, die große Synthese zwischen Wortdrama und Oper, zwischen künstlerisch weltlichen und religiösen Interessen, zwischen Diesseits und Jen‐ seits zu vollziehen“, 300 zu sehen. Die Jephtias soll eine klassizistische Tragödie bleiben, deren Abgrenzung zum pompösen zeitgenössischen Theater eben nicht nivelliert wird. Die Melodramatica sollen lediglich den Zugang zum Stück er‐ leichtern. Von besonderem Interesse ist, welche Passagen Balde durch Liedpartien er‐ setzen wollte. Naheliegend wäre die Vermutung, Balde habe einfach seine Sprechchöre durch Singstücke ausgetauscht. Doch ist dies nicht der Fall. Die Melodramatica lassen sich in drei thematische Gruppen einteilen: Von den 13 Liedern entfallen zwei Liebeslieder auf Ariphanasso (1-2), vier sind Kriegs- und Triumphlieder (3-6) und sieben Klage- und Trauergesänge (7-13). 301 Baldes Er‐ setzungen sind also vornehmlich Lieder mit emotionalem Gehalt. 302 Diese ent‐ sprechen größtenteils nicht den ursprünglichen Chorliedern, die nur in zwei Fällen betroffen sind. Angedacht wird zunächst die Ersetzung des zweiten Chor‐ liedes durch einen Schlachtruf. In diesem werden die Soldaten aufgefordert, in den Krieg zu ziehen, die Untaten der Ammoniter geschildert und Jephte als An‐ führer gelobt. Balde überführt so die Kernaussagen des zweiten Chorliedes in 210 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="211"?> 303 Zum zweiten Chorlied der Jephtias cf. S. 187-188. 304 Melod. Op. om. 185; Melodr. Amberg 1654, 6. 305 Zum dritten Chorlied cf. S. 190-191. 306 So wird z.B. die gesamte zweite Szene des vierten Aktes durch drei Gesänge ersetzt: Zwei Klagelieder der Gefährtinnen Menulemas (Stücke 8 und 10), die Menulemas Re‐ das dritte Stück der Melodramatica. 303 Jephte und Ammon werden in Opposition gesetzt und der Krieg gegen die Ammoniter gerechtfertigt. Die Verdichtungs‐ funktion des Liedes wird also auch im Gesangsstück bewahrt. Der Marschcha‐ rakter des zweiten Chorliedes, in das Balde sogar Trompetensignale als Regie‐ anweisung eingefügt hatte, eignet sich gut für die Umformung in einen laut schmetternden Soldatenchor. In der Frage, wie umfangreich die Ersetzung sein sollte, bieten sich zwei Lösungen an: Entweder bis zum Ende des eigentlichen Liedes, bevor das Kampfgeschehen in einem Wechselgesang zwischen Seher und Chor vorausgesehen wird, oder erst nach Ende der Szene. Das dritte Stück endet mit der Frage, ob Ammon oder Jephte siegreich aus dem Kampf hervorgehen werde (quis victor futurus; Novit Iehova). 304 Auch das zweite Chorlied hatte of‐ fengelassen, welcher der beiden Heerführer die Entscheidungsschlacht ge‐ wonnen habe. Eine nahtlose Weiterführung der Handlung wäre also auch bei einer größeren Ersetzung möglich. Balde bietet noch eine weitere Alternative für ein Chorlied an: Das sechste Stück, ein Lied des Aodus, kann als Ersatz für das dritte Chorlied dienen, den Wechselgesang zwischen Aodus und dem Chor, das einen Preis des Friedens zum Thema hatte und am Schluss Menulema ermutigte, ihren Vater als erste zu begrüßen. 305 Dieses Lied war im Jephte von 1637 noch nicht vorhanden. In der Jephtias dient es zusammen mit dem dreigeteilten Soldatenchor vornehmlich der Rahmung der entscheidenden Begegnung zwischen Jephte und Menulema und betont die Sonderstellung der Szene. Diese Funktion kann das sechste Stück der Melodramatica gleichermaßen übernehmen. Aodus beklagt auch hier die Grausamkeiten des Krieges und drückt seine Freude über das Ende der Kampf‐ handlungen und Jephtes Sieg aus. Am Ende des Liedes fordert Aodus Menulema auf, ihrem Vater entgegenzugehen, und leitet so das fatale Treffen zwischen Vater und Tochter ein. Balde nimmt also auch an dieser Stelle keine inhaltliche Veränderung vor, sondern ersetzt nur formal den Sprechchor durch eine Ge‐ sangspartie. Den dreigeteilten Soldatenchor am Ende des dritten Aktes, der den Wendepunkt in der Verwendung der Chorlieder markiert hatte, lässt er unver‐ ändert. Weitere musikalische Ersetzungen von Chorpartien betreffen nur Pas‐ sagen, in denen der Chor nicht nach dem mise-en-abyme-Konzept fungierte und Aufgaben übernommen hatte, die nicht interpretierende, sondern emotionale Funktion hatten (maßgeblich Trauergesänge). 306 Auch den synthetisierenden 211 2.3. Die Chorlieder der Jephtias <?page no="212"?> aktion (Stück 9) rahmen. Cf. auch S. 197. Auch die fünfte Szene wird durch zwei Kla‐ gegesänge ersetzt, die jedoch vor dem Schlusschor eingefügt werden (Cf. auch S. 205, mit Anm. 286). 307 Melod. Op. om. 191; Melodr. Amberg 1654, 15. Schlusschor, der die Deutung des Stückes übernimmt, behält Balde bei. An diesen wird nur die letzte Strophe des elften Stückes angehängt, das zu Beginn der letzten Szene des fünften Aktes eingesetzt werden sollte. Inhaltlich handelt es sich auch hier um ein Klagelied, das von Menulemas Freundinnen vorge‐ tragen wird. Die letzte Strophe endet jedoch versöhnlich, indem zum Ende des Trauerns aufgefordert wird, da Menulema immer in den Herzen der Menschen weiterlebe (Finire luctum tempus est, suadente Solis occasu / In pectore tamen Iephtias perpetuo vivebit). 307 Diese Wendung ins Glückliche fügt sich nahtlos an die typologische Deutung an, die der Chor zuvor verkündet hatte. Balde schafft mit der Aufteilung des elften Stückes eine elegante Rahmung der letzten Szene seines Stückes, die die positive Auslegung der Jephtegeschichte noch einmal unterstreicht. Bei der Betrachtung der Melodramatica wird deutlich, dass Balde geschickt Passagen seines Stückes für musikalische Ersetzungen auswählt, die sich hierfür besonders anbieten. Es sind vor allem emotionale Szenen, die sich leicht in Me‐ lodien fassen lassen. Da die Lieder größtenteils knapper sind als die ursprüng‐ lichen Szenen, erlaubt ihr Einsatz Kürzungen, die den Zugang zum Stück eben‐ falls erleichtern. Die Melodramatica sind ein Zugeständnis Baldes an sein Publikum. Dabei hat er jedoch darauf geachtet, die einzelnen Lieder so in seine Tragödie einzupassen, dass sie den Aufbau und die Deutung des eigentlichen Stückes nicht verändern. Die Jephtias bleibt somit in der ursprünglichen und in der durch die Melodramatica veränderten Version ein in sich geschlossenes, in‐ tegres Kunstwerk. 2.4. Die Jephtias als Synthese von Gattungskonzeptionen und Gedankenwelt Dass Balde diese Lieder seiner Druckfassung beigegeben hat, zeugt von dem un‐ bedingten Willen, seine Jephtias auf der Bühne zu sehen. Der fehlende Beleg für eine Aufführung lässt allerdings befürchten, dass auch der Zusatz der Melodrama‐ tica nicht ausreichte, um das anspruchsvolle Bibeldrama den Zeitgenossen schmackhaft zu machen. Gut 360 Jahre später liegt es jedoch noch immer als be‐ eindruckendes Zeugnis von Baldes literarischem Genie vor. In seine Jephtias ist alles Wesentliche eingeflossen, das Balde als Autor ausmacht. Der biblische Stoff 212 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias <?page no="213"?> bietet ihm die Möglichkeit, seine tiefe Religiosität und sein Vertrauen zu Gott in Verse zu fassen und dabei eine Vielzahl von Genres miteinzubeziehen. Seien es grausame Kriegsschilderungen, finstere Botenberichte, erschütternde Gewissens‐ konflikte, amüsante Liebeserklärungen, berührende Glaubensbekenntnisse oder melancholische Reflexionen: Balde findet mit seiner virtuosen Sprache für jede Kategorie die richtigen Worte und schafft mit seinem Bibeldrama ein buntes Ta‐ bleau, das seinesgleichen sucht. Baldes Vorbild ist hierbei die senecanische Tra‐ gödie, doch ist sein eigener dramatischer Stil so prominent, dass mit der Jephtias keinesfalls ein Rezeptionsprodukt, sondern ein eigenständiges Werk entstanden ist. Der antike Text prägt Baldes gesamtes Werk, wird jedoch durch die eigene christliche Auslegung verwandelt. Der souveräne Umgang mit Inspirationsquellen gilt auch für die Chorlieder der Jephtias. Diese kommen in ihrer Grundkonzeption aus den senecanischen Stücken. Im Laufe seiner dramatischen Produktion hat Balde sich jedoch weitere Funktionen des Chores zu eigen gemacht, die er je nach Bedarf einsetzen konnte. Wie die Jephtias ein homogenes Konglomerat vieler Ele‐ mente baldischen Schreibens darstellt, so lassen sich auch ihre Chorlieder auf ein vielschichtiges System zurückführen. Im ersten Teil der Tragödie fungiert der Chor nach dem Prinzip der mise-en-abyme und übernimmt die Aufgabe, die jeweilige Aktthematik verdichtend zu spiegeln und die Kernpunkte der Handlung geordnet zusammenzufassen. Hier entspricht die Aufgabe des Chores der Seneca-Tragö‐ dien. Balde hatte auf die Technik der mise-en-abyme stets zurückgegriffen, wenn er Chorlieder im tragischen Kontext verwendete, also im Regnum poetarum, im Iocus serius und im Tilly, wo der Chor als Gattungsmarker für die Tragödie ver‐ wendet wurde. In der zweiten Hälfte der Jephtias, nach dem Auftritt des dreige‐ teilten Soldatenchores, löst sich Balde vom Konzept der mise-en-abyme. Da keine äußere Handlung mehr zu interpretieren ist, nimmt der Chor nun selbst an dieser teil, wird Handlungsträger wie im Arion Scaldicus, dient der emotionalen Verstär‐ kung der Gedankengänge, der argumentativen Reflexion oder der affektiven Rei‐ nigung wie in der Philomela oder wird fortgelassen wie im Drama Georgicum. Und doch fällt ihm am Stückende die Hauptaufgabe zu, nämlich die Interpretation des Stückes, die typologische Deutung des Jephte-Stoffes, unmissverständlich zu be‐ nennen. Balde nutzt in der Jephtias alle Facetten, die ihm ein dramatischer Chor bieten kann: Die gesamte Bandbreite an Funktionsmöglichkeiten, nämlich Handlungs‐ träger, Aktdeuter und auktoriale Erklärinstanz zu sein, bringt er in seiner Tra‐ gödie zur Synthese. Mit der Jephtias hinterlässt er ein Werk, das wie kein anderes ein Porträt des Literaten Balde zeichnet: Er ist ein beeindruckender Dramatiker, genialer Denker, kritischer Theologe, feinfühliger Lyriker, und nicht zuletzt ein Autor, für dessen Schreiben der Humor konstitutives Element ist. 213 2.4. Die Jephtias als Synthese von Gattungskonzeptionen und Gedankenwelt <?page no="215"?> Ergebnisse Die Untersuchung hatte sich zum Ziel gesetzt, die Funktion des Chores in Jakob Baldes dramatischem Werk zu bestimmen. Dessen prominentestes Beispiel ist das Bibeldrama Jephtias von 1654. Die darin enthaltenen Chorpartien lassen sich jedoch nicht einheitlich mit einem Konzept beschreiben, sondern hängen maß‐ geblich von zwei wichtigen Einflussfaktoren ab: Erstens von ihrem tragischen Vorbild Seneca, zweitens von Baldes eigenen Experimenten mit Chorfunktionen in verschiedenen Werken dramatischen Charakters. Die Analyse von Baldes Chorverständnis war in zwei Schritten erfolgt: Zunächst wurde der Chor in den Tragödien Senecas in den Blick genommen (Teil A), sodann sämtliche dramati‐ sche Werke Baldes auf ihre Chorkonzeption untersucht (Teil B). Da über die Konzeption des senecanischen Chores bislang kein Konsens er‐ reicht ist, ging es zunächst darum, zu bestimmen, wie seine Funktionsweise in dieser Arbeit verstanden und definiert wird. Hierfür wurde als erstes festgelegt, unter welcher Einschätzung grundlegender Forschungsprobleme (Aufführbar‐ keit, Datierung, Theodizee) die Tragödien behandelt werden (Kapitel A. 1.1- 1. 3), und ein thematisch geordneter Überblick zu bestehenden Deutungslinien des senecanischen Chores gegeben (Kapitel A. 2). Die gewonnenen Ergebnisse konnten sodann in eine eigene konzeptuelle Be‐ stimmung überführt werden (Kapitel A. 3). Die Chorlieder sind das Herzstück der senecanischen Tragödien: Ihre Aufgabe ist es, in chronologischer Abfolge die Hauptaussagen der jeweiligen Akte konzise zusammenzufassen und so einen Leitfaden zur Interpretation der Stücke darzustellen. Die verdichtete Präsenta‐ tion wesentlicher Inhalte lässt sich literaturtheoretisch mit dem Begriff der mise-en-abyme fassen, ein Konzept, das ursprünglich aus der Heraldik stammt und für die Literaturwissenschaft nutzbar gemacht wurde, um die reduzierte Spiegelung von Kerngedanken eines Werks zu beschreiben. Zwei Fallbeispiele illustrieren, dass Senecas Chorlieder nach diesem Prinzip fungieren: Beim Chor im Oedipus (Kapitel A. 4. 1) tritt klar zutage, dass die Lieder die Problemstellung zum Ausdruck bringen, die dem Stück zugrunde gelegt ist: Sucht man nach dem Grund, weshalb der Mensch unsagbarem Leid ausgesetzt ist (Lied 1), ist es unerheblich, ob dieses als Strafe für vorsätzlich begangenen Frevel (Lied 2) oder für ein unabsichtliches Vergehen (Lied 3) gesandt wurde, da die Härte des Schicksals stets gleich sei. Könnte der Mensch frei nach eigenem Willen handeln (Lied 4a), wäre es möglich, durch seine Taten bewusst sein <?page no="216"?> Schicksal zu beeinflussen. Da die Welt jedoch gänzlich determiniert ist (Lied 4b), ist es nicht möglich, dem fatum zu entrinnen. Dieser Schritt für Schritt in den Chorliedern abgebildete Verstehensprozess, der in die ernüchternde Erkenntnis mündet, dass das fatum das Individuum zerstören kann, steht im größeren Kon‐ text der Diskussion um Verantwortung und Schuld in einem determinierten System. Oedipus wird dabei zum Paradebeispiel eines Menschen, der nach der stoischen Ethik, die die Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz fordert, freige‐ sprochen werden müsste und dennoch an der Last seiner Taten zugrunde geht. Das zweite Stück, die Troerinnen, behandelt die Frage nach dem richtigen Verhalten, wenn die Macht des fatum zerstörerisch wirkt (Kapitel A. 4. 2). Auch hier übernimmt der Chor die Rolle, die Thematik verdichtend darzulegen. Die Lieder erörtern stückweise die Frage nach einem Ausweg aus dem Leiden. Dabei wird dargelegt, dass der Tod nicht für jeden eine wählbare Option ist (Lied 1), obwohl er eine erstrebenswerte Lösung sein kann (Lied 2). Ein Weiterleben ist grausam (Lied 3) und kann nur durch ein adäquates Verhalten ertragen werden: Das offene Akzeptieren des fatum und das Bewahren der eigenen Würde (Lied 4). Die Möglichkeiten der menschlichen Willensentscheidung beschränken sich darauf, den eigenen Lebensweg möglichst würdevoll zu gestalten. Senecas Tragödien sind somit trotz ihres resignativen Charakters nicht als antistoisch zu bezeichnen, sondern greifen Extremsituationen heraus, für deren Komplexität und existenzielle Bedrohung die Stoa keine praktischen Lösungen aufzeigen kann. Die Tragödien sind eine Form des Philosophierens für Fortge‐ schrittene, ihre Chorlieder fungieren dabei als kondensierte Interpretationsan‐ leitung, die nach dem Prinzip der mise-en-abyme die einzelnen Akte zusam‐ menfasst (Kapitel A. 5). Im zweiten Teil der Arbeit wurde erörtert, inwiefern Jakob Balde diese Funk‐ tion des senecanischen Chores erkannt und übernommen hat. Um ein umfas‐ sendes Bild von Baldes Chorkonzept zu erlangen, wurden alle Werke dramati‐ schen Charakters, die über einen Chor verfügen, in chronologischer Reihenfolge besprochen. Dabei wurden Stücke diverser Gattungszuordnung (Kapitel B. 1) und die einzige erhaltene Tragödie, die Jephtias (Kapitel B. 2), behandelt. Den Anfang bildete die Untersuchung des Regnum poetarum (Kapitel B. 1. 1). Balde definiert hier durch praktische Anwendung, welche Merkmale er für einen antiken Dichter als typisch erachtet. Sein Botenbericht aus dem Mund des Seneca wird von einem Chorlied beschlossen und dient dadurch als Beleg, dass Balde den Chor als wesentlichen Bestandteil der Seneca-Tragödien erachtet hat. Auch strukturell zeigt das Chorlied im Regnum poetarum, dass Balde verstanden hat, wie ein Chor bei Seneca funktioniert: Die wesentlichen Aussagen des Bo‐ tenberichtes, nämlich die Ursachen des Böhmischen Krieges und die daraus re‐ 216 Ergebnisse <?page no="217"?> sultierenden Konsequenzen in Form des Prager Blutgerichts, werden auf einer lyrischen Ebene zusammengefasst und interpretiert. Der Chor im Regnum poe‐ tarum fungiert ebenfalls nach dem mise-en-abyme-Prinzip. Bei der Betrachtung weiterer Stücke zeigt sich, dass Balde den senecanischen Chor auch praktisch für seine eigenen Werke nutzt. Dies ist vor allem der Fall, wenn ein Stück einer Tragödie nahekommen oder tragische Elemente aufweisen soll. Im Iocus serius (Kapitel B. 1. 2) und im Tilly (Kapitel B. 1. 3) dient der Chor als Gattungsmarker: Beide Stücke sind von Balde partiell als tragisch ausgewiesen. Für den Iocus serius übernimmt der Chor die Aufgabe, den Anteil des Tragischen im Gattungskontext der Comicotragoedia zu unterstützen. Das einzige, nur noch aus der Perioche rekonstruierbare Chorlied fasst die Kernidee des Stückes zu‐ sammen, wie aus Spaß Ernst wird, und deutet sie im Kontext des zugehörigen zweiten Aktes, indem es davor warnt, mit den Toten Schabernack zu treiben. Im restlichen Stück wird ein Chor nicht benötigt, da der Grundtenor des Werkes eher komödienhaft ist und außerdem die Rollen des Interlocutor und des Spec‐ tator notwendige Erklärungen liefern können. Im Tilly, dessen dichterische Par‐ tien Balde zwar als Tragödie einstuft, der sich aber mangels Handlung nicht in diese Gattung einordnen lässt, ist der Chor das einzige Element, das der Gat‐ tungszuordnung Rechnung trägt. So teilen die Chorlieder das Werk formal in fünf Akte ein und bringen in lyrischen Maßen wichtige Eigenschaften von Tillys Charakter zur Sprache. Der Chor erinnert so strukturell an das senecanische Vorbild, eine Verdichtung nach dem mise-en-abyme-Prinzip ist jedoch nicht möglich, da keine Handlung zur Interpretation gegeben ist. Wenn ein Stück keinen tragischen Charakter hat, setzt Balde den Chor gänz‐ lich anders ein. In seinem religiösen Werk Philomela (Kapitel B. 1. 4), das weder Handlung noch im eigentlichen Sinne dramatische Strukturen aufweist, dient der Chor der emotionalen Unterstützung sowie der affektiven Reinigung der Anima, die mit der Stimme der Nachtigall Jesus Christus besingt. Dass überhaupt noch ein Chor auftritt, erklärt sich durch das tragische Thema der Passion Christi. Im Drama Georgicum (Kapitel B. 1. 5) streicht Balde den Chor schließlich, da er ihn im Kontext der Bauernkomödie nicht benötigt und seine Protagonisten in der Lage sind, selbst alle relevanten Aussagen zur Sprache zu bringen. Sobald der tragische Charakter eines Werkes stärker im Vordergrund steht, greift Balde auf den Chor zurück. Im Arion Scaldicus (Kapitel B. 1. 6) haben die Chorlieder zumeist nach dem mise-en-abyme-Konzept aktinterpretative Funk‐ tion, indem sie die thematisierten Eigenschaften von Alexander Farnese her‐ ausstreichen und moralisch kontextualisieren. Doch wie der Arion Scaldicus eine bunte Gattungsmischung aus Tragödie, Komödie, Fabel und Panegyrik darstellt, 217 Ergebnisse <?page no="218"?> so verbleibt auch der Chor nicht nur bei der Verdichtungsfunktion, die er im tragischen Kontext innehat. Er ist in der Lage, Argumente weiter auszuführen, neue Ideen einzuführen, der moralisierenden Verstärkung zu dienen oder als retardierendes Moment zu fungieren. Er ist damit variabler einsetzbar als der senecanische Chor. Als Bilanz der Chorfunktionen in Baldes dramatischer Produktion, die nicht rein tragisch ist, lässt sich festhalten, dass ein Chor desto enger an das seneca‐ nische Prinzip angelehnt wird, je mehr ein Stück Tragödiencharakter aufweist. Im letzten Teil der Arbeit wurde besprochen, wie Baldes Chor in einer reinen Tragödie, in der Jephtias, funktioniert (Kapitel B. 2). Beim Blick auf die Motiv‐ geschichte des Jephte-Stoffes wird deutlich, dass sich Balde für die typologische Auslegungslinie der Bibelgeschichte entscheidet und diese durch die Benennung der Jephte-Tochter als Menulema, Anagramm von Emmanuel, explizit heraus‐ stellt (Kapitel B. 2. 1). Aufschlussreich war hier ein knapper Vergleich mit der ersten Version des Stückes, die 1637 unter dem Titel Jephte aufgeführt wurde (Kapitel B. 2. 2). Un‐ terschiede zwischen den Fassungen lassen sich mithilfe der Perioche und der Ode 1, 33 an Andreas Brunner, die den Jephte zum Thema hat, aufzeigen. So fordert Balde für den Jephte noch rigoros die Konzeption als Tragödie nach klassischem Ideal, die sich dem pompösen Zeitgeschmack nicht beugen dürfe (Kapitel B. 2. 2. 1). In der Jephtias von 1654 macht Balde zwei Zugeständnisse an den Geschmack des zeitgenössischen Publikums: Erstens fügt er gesungene Liedpartien an, die Melodramatica (Kapitel B. 2. 3. 3). Balde ersetzt dabei aller‐ dings nur selten seine ursprünglichen Chorpartien, sondern tauscht vorrangig emotional behaftete Szenen durch Lieder aus. Das zweite Zugeständnis besteht in der Einführung des ägyptischen Soldaten Ariphanasso als Menulemas Lieb‐ haber (Kapitel B. 2. 2. 2). Ferner macht Balde die christliche Typologie in der Jephtias durch die Namensgebung Menulemas expliziter (Kapitel B. 2. 2. 3). Ge‐ meinsam ist der frühen wie der späteren Fassung, dass sie als Bühnenstücke konzipiert waren (Kapitel B. 2. 2. 4). Einige Unterschiede zeigen sich aber in der Chorverwendung: Im Vergleich zum Jephte werden in der Jephtias drei weitere Chorpartien hinzugefügt (Kapitel B. 2. 2. 5). Der letzte Teil der Arbeit ist schließlich den Chorliedern der Jephtias selbst gewidmet (Kapitel B. 2. 3). Hierbei hat sich gezeigt, dass der Chor in der Jephtias im ersten Teil streng nach senecanischem Muster konzipiert ist (Kapitel B. 2. 3. 1). Die Chorlieder fungieren nach der mise-en-abyme-Technik und helfen so, die von Balde intendierte typologische Interpretation des biblischen Stoffes zu unterstützen. Vorrangig dienen die Lieder dazu, Jephte als verantwortungs‐ bewussten und reflektierten Herrscher zu charakterisieren und als Gegenbild 218 Ergebnisse <?page no="219"?> zu Ammon zu inszenieren, der freiheitliche und religiöse Werte bedroht. Dies legt den Grundstein für die Rechtfertigung von Jephtes späterer Entscheidung für das umstrittene Gelübde, da er nicht im eigenen, sondern im Interesse des ganzen Volkes handelt. Diese Argumentation, die in den einzelnen Akten ent‐ wickelt wird, ist verkürzt in den Chorliedern abgebildet. Ab der Hälfte des Stü‐ ckes, nach dem Auftritt des dreigeteilten Soldatenchores, verändert sich die Funktion des Chores (Kapitel B. 2. 3. 2). Hier zeigen sich Verwendungsmöglich‐ keiten, die Balde in seinen nicht-tragischen Werken genutzt hatte: Der Chor singt Lieder nur noch im eigentlichen Sinne (z. B. ein Schlaflied für Jephte oder Klagegesänge), sonst dient er der emotionalen Unterstützung, nimmt aktiv am dramatischen Geschehen teil, um neue Aspekte einzuwerfen und bereits Ge‐ nanntes zu vertiefen, hilft bei der emotionalen Reinigung oder verstummt, wenn er weder für die Interpretation noch für andere Aufgaben benötigt wird. Erst im Schlusschor kehrt der Chor noch einmal zu seiner ursprünglichen Aufgabe zu‐ rück. Er deutet abschließend die gesamte Tragödie: Menulemas Sterben als Analogie zum Tode Christi am Kreuz und als Symbol für die Auferstehung. Die Jephtias stellt damit eine Synthese von Chorfunktionen dar, die Balde sowohl aus den Seneca-Tragödien als auch aus seiner eigenen dramatischen Praxis ab‐ leitet. Jakob Balde hat den Wert von Senecas tragischem Chor erkannt und für seine Zwecke übernommen. Seine Chorlieder sind ein Schlüssel zur Deutung der Tra‐ gödie, indem sie die Essenz des Stückes verdichtend spiegeln. Besonders deutlich wird dies im letzten Chorlied der Jephtias, in dem ganz offen die Interpretation des Werks vermittelt wird. Balde entwickelt das Konzept der mise-en-abyme weiter, indem er es an neue Gattungskontexte anpasst, es aufweicht und die Handhabung des Chores flexibler gestaltet als Seneca. Mit der variableren Ver‐ wendung des Chores streicht Balde die tragische Funktionsweise des Chores heraus und zeigt, wie geeignet der senecanische Chor für die Erschließung einer Tragödie ist. Durch sein eigenes literarisches Schaffen verdeutlicht Balde die Wichtigkeit des Chores in den Senecatragödien und verhilft ihm so zu der Größe und Wertschätzung, die ihm gebührt. 219 Ergebnisse <?page no="221"?> 1 Angabe der Erstausgabe und der in dieser Arbeit verwendeten Textgrundlage: Opera omnia = Balde 1990. 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Zwierlein, Otto (1983): Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe der Tragödien Senecas (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur 3), Mainz. 243 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur <?page no="244"?> Verzeichnis der Werke Baldes Arion Scaldicus 13, 24, 113, 137, 145, 155- 158-161, 191, 194, 197, 206, 213, 217 Batrachomyomachia 160 De Eclipsi solari 151 Dissertatio de studio poetico 119, 128, 167ff., 172, 174, 209 Drama Georgicum 13f., 24f., 113, 136, 149-156, 159, 161, 206, 213, 217 Ehrenpreis 151 Epithalamion 113, 141, 169 Iocus serius 13, 24, 113, 126-132, 134, 139, 145, 161, 166, 174, 213, 217 Jephte 163, 166-176, 178, 191f., 196, 198, 211, 218 Jephtias 13f., 18, 22, 24f., 109, 113f., 137, 139f., 142, 149, 163-213, 215f., 218f. Maximilianus Austriacus 113 Melodramatica 149, 170, 175f., 184, 187, 190, 197, 205, 208-212, 218 Oden 13, 131, 141, 143f., 166f., 170, 172, 174, 196, 218 Parthenia 148 Philomela 13, 24, 113, 140-149, 154f., 157, 160f., 171, 194, 197, 199, 204ff., 213, 217 Poema de vanitate mundi 113, 151 Regnum poetarum 13, 25, 113, 115-126, 133, 146, 161, 179, 192, 199, 213, 216f. Satiren 13 Solatium Podagricorum 151 Sylven 143ff., 150, 165 Tilly 13, 24, 113, 118, 120, 122, 124, 132- 139, 145, 148, 153ff., 159ff., 164, 213, 217 Urania victrix 141, 143, 209 <?page no="245"?> Verzeichnis der Werke Senecas Apocolocyntosis 31 De beneficiis 35, 51 De clementia 82 De constantia sapientis 52 De providentia 74 De vita beata 107 Epistulae morales 35, 51, 74, 101f., 104, 107 Tragödien Agamemnon 31, 75, 77, 187 Hercules furens 31f., 84 [Hercules Oetaeus] 24, 31, 122, 179 Medea 31, 86, 177, 179 [Octavia] 24, 71 Oedipus 24, 31f., 36, 49, 51-74, 80f., 84, 86, 98, 104, 107f., 135, 165, 177, 179, 186, 193ff., 203, 208, 215f. Phaedra 31, 35, 55, 87, 102, 120, 189, 193 Phoenissae 24, 40, 62, 70, 74, 163 Thyestes 24, 31f., 47, 75, 91, 123, 163, 183 Troades 24, 31f., 36f., 40, 45, 49, 70, 7 4 -10 8 , 120, 134f., 146, 182, 187, 191f., 199, 203f., 216 <?page no="246"?> Namensverzeichnis Accius 87, 152 Aristoteles 29, 52 Poet. 29 Auersperg, Weikhard von 174, 178, 193, 196 Avancini, Nicolaus 137 Fiducia in deum sive Bethulia liberata 137 Bidermann, Jakob 21, 127, 174 Belisarius 21 Cenodoxus 21, 127 Boethius 141f. Bonaventura, St. 140, 142, 145 Brunner, Andreas 166f., 169f., 172, 174, 218 Nabuchodonosor 169 Buchanan, George 164f., 172 Bucquoy, Charles von 117f. Catull 94, 115, 118, 143 Christian von Dänemark 123 Claudian 115, 118, 123f., 133, 189 Dampierre, Heinrich von 117f. Diokletian 132 Dunstan von Canterbury 128f. Empedokles 167f. Ennius 87, 151f. Euanthius 114 fab. 114 Euripides 23, 29, 74-77, 82, 88, 93f., 96, 99-102, 105, 167f., 172 Hec. 94 Tro. 76, 88, 94, 98f., 101f. Farnese, Alexander 155-161, 217 Ferdinand II. (Kaiser) 117, 124 Firmio, Stephanus 141 Friedrich V. (‚Winterkönig‘) 116ff., 123ff. Gazet, Angelin 128 Pia hilaria 128 Genesius Mimus 126, 132 Giambelli, Federigo 157f. Homer 94, 99 Horaz 13, 68, 83, 94, 115, 117, 145, 152, 168, 193 carm. 68 sat. 193 Jakob I. von England 123 Jessenius, Jan 119 Juvenal 115, 118 Lasso, Orlando di 210 Loyola, Ignatius von 15, 144 Lucan 115, 118 Lucrez 54, 83, 85, 115, 117 Marca, Lummenaeus a 164f., 171, 205 Marie de France 140 Martial 115, 127 Masen, Jakob 21, 127 Palaestra eloquentiae ligatae 21, 127 Maximilian I. von Bayern 117f., 149f., 152, 154, 159 Mesmes, Claude de 150, 152f. Nero 31, 71 Ovid 66, 79, 82, 87, 115, 117 her. 117 met. 66, 79, 82 Pacuvius 79 Peckham, John 140ff. Philomena 140ff. Pervigilium Veneris 143 Plautus 22, 115, 118, 127, 152 Plinius d.Ä. 140 <?page no="247"?> Sophokles 51, 54, 70, 157, 167f. Ant. 157 Oid. T. 51, 54 Spee, Friedrich von 140f. Trutznachtigall 140 Statius 115, 118, 189, 196 silv. 196 Stephonius, Bernardino 174 Flavia 174 Strada, Famianus 155f., 159 Bellum Belgicum 155f., 159 Stuart, Elisabeth 117 Tacitus 29 dial. 29 Terenz 22, 152 Thukydides 54 Tilly, Johann von 117f., 132-139, 217 Vergil 31, 56, 63, 78, 115, 118, 140, 143, 152 Aen. 56, 78 ecl. 152 georg. 56 247 Namensverzeichnis <?page no="248"?> NeoLatina herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg Die NeoLatina wurden im Jahr 2000 ins Leben gerufen und haben sich seither zu einem maßgeblichen Organ auf dem Gebiet der neulateinischen Studien entwickelt. In die Reihe finden einschlägige Monographien, kommentierte Textausgaben sowie Sammelbände zu klar umgrenzten Gebieten Eingang. Von Interesse ist die gesamte lateinische Literatur und Kultur seit der Frührenaissance, z.B. die Rezeption antiker Autoren oder die Stellung des Neulateins im Kontext der aufkommenden Nationalliteraturen. Die Reihe ist für Klassische Philologen, Neuphilologen, Historiker sowie alle auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit Forschenden von Bedeutung. Seit 2017 werden alle Bände einem Single Blind Peer-Review-Verfahren mit zwei Gutachtern unterzogen. Bereits erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ literaturwissenschaftkat/ literaturwissenschaft-reihen-kat/ neolatina 6 Joachim Camerarius Eclogae / Die Eklogen herausgegeben von Lothar Mundt 2004, XXXVII, 327 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6081-0 7 Tamara Visser Antike und Christentum in Petrarcas Africa 2004, V, 411 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6117-6 8 Gérard Freyburger / Eckard Lefèvre (Hrsg.) Balde und die römische Satire/ Balde et la satire romaine 2005, 343 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6141-1 9 Ulrike Auhagen / Stefan Faller / Florian Hurka (Hrsg.) Petrarca und die römische Literatur 2005, 337 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6142-8 <?page no="249"?> 10 Eckart Schäfer (Hrsg.) Sannazaro und die Augusteische Dichtung 2005, 278 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6193-0 11 Eckart Schäfer (Hrsg.) Sarbiewski Der polnische Horaz 2006, 321 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6224-1 12 Reinhold Glei (Hrsg.) Virgilius Cothurnatus - Vergil im Schauspielhaus Drei lateinische Tragödien von M. Maittaire 2006, 220 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6238-8 13 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Daniel Heinsius Klassischer Philologe und Poet 2007, 443 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6339-2 14 Thorsten Fuchs Philipp Melanchthon als neulateinischer Dichter in der Zeit der Reformation 2007, 428 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6340-8 15 Eckart Schäfer Michael Marullus Ein Grieche als Renaissancedichter in Italien 2008, 288 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6435-1 16 Eckart Schäfer (Hrsg.) Conrad Celtis: Oden / Epoden / Jahrhundertlied Libri Odarum quattuor, cum Epodo et Saeculari Carmine (1513) 2012, 394 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6635-5 17 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Ianus Dousa Neulateinischer Dichter und Klassischer Philologe 2009, 360 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6525-9 18 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Beiträge zu den Sylvae des neulateinischen Barockdichters Jakob Balde 2010, 351 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6614-0 <?page no="250"?> 19 Marie-France Guipponi-Gineste / Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko / Gilles Polizzi (Hrsg.) Die neulateinische Dichtung in Frankreich zur Zeit der Pléiade / La Poésie néo-latine en France au temps de la Pléiade 2015, 340 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6702-4 20 Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko (Hrsg.) Cristoforo Landinos Xandra und die Transformationen römischer Liebesdichtung im Florenz des Quattrocento 2016, 297 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6785-7 21 Stefan Tilg / Isabella Walser (Hrsg.) Der neulateinische Roman als Medium seiner Zeit/ The Neo-Latin Novel in its Time 2013, 270 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6792-5 22 Iris Heckel (Hrsg.) Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) 2014, 468 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6897-7 23 Thomas Baier / Jochen Schultheiß (Hrsg.) Würzburger Humanismus 2015, 305 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6898-4 24 T. Baier / T. Dänzer / F. Stürner (Hrsg.) Angelo Poliziano Dichter und Gelehrter 2015, 288 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6977-6 25 Patrick Lucky Hadley Athens in Rome, Rome in Germany Nicodemus Frischlin and the Rehabilitation of Aristophanes in the 16th Century 2015, 185 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6923-3 26 Philipp Weiß (Hrsg.) Jacob Balde Epithalamion 2015, 195 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6993-6 27 Thomas Baier (Hrsg.) Camerarius Polyhistor Wissensvermittlung im deutschen Humanismus 2017, 364 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8109-9 <?page no="251"?> 28 Tobias Dänzer Poetik und Polemik Angelo Polizianos Dichtung im Kontext der Gelehrtenkultur der Renaissance 2018, 295 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8163-1 29 Werner Suerbaum Vergils Epos als Drama Die Gattungstransformation der Inclyta Aeneis in der Tragicocomoedia des Johannes Lucienberger, Frankfurt 1576 2018, 514 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8225-6 30 Francesco Furlan / Gabriel Siemoneit / Hartmut Wulfram (Hrsg.) Exil und Heimatferne in der Literatur des Humanismus von Petrarca bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts L’esilio e la lontananza dalla patria nella letteratura umanistica dal Petrarca all’inizio del Cinquecento 2019, 592 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8199-0 31 Wolfgang Kofler / Simon Wirthensohn / Stefan Zathammer (Hrsg.) Joseph Resch als Bühnenautor Die Brixner Schuldramen und ihr Kontext in Vorbereitung, ca. 240 Seiten €[D] ca. 88,- ISBN 978-3-8233-8230-0 32 Carla Chiummo / Wolfgang Kofler / Valerio Sanzotta (Hrsg.) Pascoli Latinus Neue Beiträge zur Edition und Interpretation der neulateinischen Dichtung von Giovanni Pascoli / Nuovi contributi all’edizione e all’interpretazione della poesia latina di Giovanni Pascoli in Vorbereitung, ca. 240 Seiten €[D] ca. 98,- ISBN 978-3-8233-8237-9 33 Stefan Tilg / Benjamin Harter (Hrsg.) Neulateinische Metrik Formen und Kontexte zwischen Rezeption und Innovation 2019, 350 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8266-9 34 Thomas Baier / Tobias Dänzer (Hrsg.) Plautus in der Frühen Neuzeit 2020, 372 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8323-9 35 Caroline Dänzer Der Schlüssel zur Tragödie 2020, 252 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8383-3 <?page no="252"?> Der Jesuit Jakob Balde (1604-1668), der „deutsche Horaz“, ist als einer der bedeutendsten Lyriker der Frühen Neuzeit bekannt. Wenig Beachtung hat man hingegen seinem vielfältigen dramatischen Werk geschenkt, dem sich der vorliegende Band widmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein Kernelement der dramatischen Technik Baldes: Der tragische Chor. Baldes Chor entsteht aus der selbstbewussten intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Chor der senecanischen Tragödien, für dessen Funktion eine Neubestimmung vorgeschlagen wird. Damit bietet der Band grundlegende Einsichten in das dramatische Schaffen zweier unterschätzter Tragiker: Seneca und Balde. ISBN 978-3-8233-8383-3