Lernerautonomie aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen
Ein Beitrag zur professionsbezogenen Subjektive-Theorien-Forschung
0511
2020
978-3-8233-9391-7
978-3-8233-8391-8
Gunter Narr Verlag
Christa Weck
Ziel dieser qualitativen Langzeitstudie ist es, Französischlehrkräften eine Stimme zu geben und sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, Lernerautonomie, und damit effizientes Lernen, zu fördern.
Hierzu wurden ihre Subjektiven Theorien zum Großkonzept der Lernerautonomie untersucht. Dabei dienten die Gegenstandsanalysen zur Lehrperson und zur Lernerautonomie als Verständnishintergrund und Folie. Angesichts der Desiderata in Aus- und Fortbildung und der Tatsache, dass viele Lehrkräfte weder durch ihre Lern- noch durch ihre Lehrbiografie Lernerautonomie systematisch erfahren bzw. erforscht haben, zeigt sich die Relevanz der Studie und ihrer Forschungsfragen.
Dadurch dass bei allen Interviewten dieselben Fragenbereiche impulsgebend angesprochen wurden, konnten die komplexen Einzelfalldarstellungen zusammengeführt werden. Die Subjektiven Theorien der Interviewten erweitern einerseits das Konzept der Lernerautonomie um den Aspekt der Lehrkraft, die zur Lernerautonomie hinführt, und lassen andererseits für die Lehrerfortbildung Schwerpunkte zur Zusammenführung der wissenschaftlichen Daten und der Unterrichtspraxis erkennen.
<?page no="0"?> Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Christa Weck Lernerautonomie aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen Ein Beitrag zur professionsbezogenen Subjek�ve-Theorien-Forschung <?page no="1"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="2"?> Christa Weck Lernerautonomie aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen Ein Beitrag zur professionsbezogenen Subjektive-Theorien-Forschung <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8391-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9391-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0222-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="4"?> Für Katharina und Peter <?page no="6"?> 7 Inhalt Vorwort .................................................................................................................... 11 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel und Zweck der Studie ..... 13 Teil I Lehrperson und Lernerautonomie in der fremdsprachendidaktischen Professionalisationsforschung 1 Lehrperson ........................................................................................................ 29 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik .................... 29 1.2 Ausbildung .............................................................................................. 48 1.3 Fortbildung und Praxis ......................................................................... 64 1.4 Fazit ........................................................................................................... 78 2 Lernerautonomie (LA) .................................................................................... 81 2.1 Lernerautonomie im europäischen, fremdsprachendidaktischen Diskurs ..................................................................................................... 81 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit ......................................... 86 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung .......................................................................................... 102 2.4 Zusammenfassung: Begriffsbestimmung „LA“ im Kontext des Fremdsprachenlernens ....................................................................... 147 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik ............................................. 150 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens .......... 169 Teil II Forschungskonzept und Forschungsmethode 1 Studien und Stimmen aus der Praxis ........................................................ 175 2 Folgerungen für das leitfadengestützte Interview meiner Studie ...... 181 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept in der Sprachlehr- und Sprachlernforschung ..................................................... 183 4 Design der vorliegenden Untersuchung ................................................... 195 4.1 Die Interviewpartner ........................................................................... 195 4.2 Die Datenerhebung .............................................................................. 198 <?page no="7"?> 8 Inhalt 4.3 Triangulation ......................................................................................... 204 4.4 Exkurs: Der Ausgangspunkt: Pilotgespräche ................................. 205 4.5 Die Aufbereitung und Auswertung der Interviews ...................... 208 Teil III Einzelfalldarstellungen 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ ............................................................. 215 1.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie .................................. 215 1.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 219 1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Französisch lernen in der Schule“ ..................................................... 239 1.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit ... 242 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, aber laufen tut bitte alleine, weil ich trag’ euch nicht.“ .............................................................................. 247 2.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie .................................. 247 2.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 251 2.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Schüler und Lehrer“ ............................................................................ 274 2.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit .... 275 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, dass die Schüler wirklich auf den Lehrer zukämen.“ ............................................................................. 279 3.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie .................................. 279 3.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 282 3.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Bedingungen für gutes Lernen“ ........................................................ 298 3.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit .... 300 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde, über die man gerne drüber möchte.“ ........ 303 4.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie .................................. 303 4.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 305 4.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Weg“ ............................................................................................ 329 4.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit . 332 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ ................................................ 337 <?page no="8"?> Inhalt 9 5.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie .................................. 337 5.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 338 5.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „LA“ ......................................................................................................... 354 5.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit ... 355 6 Zwei Kurzdarstellungen .............................................................................. 359 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „ Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ ................. 359 6.1.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie ................................. 359 6.1.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 360 6.1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Schulleben“ ................................................................................ 366 6.1.4 Kommunikative Validierung der Kurzdarstellung und Fazit .... 368 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ ....................... 370 6.2.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie ................................. 370 6.2.2 Analyse des Interviews ...................................................................... 372 6.2.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „LA - In der Sprache zurechtkommen“ ............................................ 379 6.2.4 Kommunikative Validierung der Kurzdarstellung und Fazit .... 380 Teil IV Die Einzelfalldarstellungen in der Zusammenschau 1 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten ..................... 385 2 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung ................................................................ 389 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten - Zentrale Grundgedanken und der Stellenwert von LA ........................ 393 3.1 LA - die zentrale Zielgröße im eigenen Unterricht .................... 393 3.2 LA - ein Aspekt unter anderen wichtigen Prinzipien im eigenen Unterricht .............................................................................................. 396 3.3 LA - zählt zu den Bedingungen für gutes Lernen, aber ein Idealfall ................................................................................................... 399 3.4 Ergebnisse ............................................................................................. 401 4 Sicht der Interviewten auf die Umsetzung bzw. Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens im eigenen Unterricht ................. 405 <?page no="9"?> 10 Inhalt 5 Die Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens - die Sicht der Interviewten im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung ............... 423 5.1 Handlungsleitende autonomiefördernde Prinzipien für den Unterricht ............................................................................................... 423 5.2 Der Blick auf den autonomen Lerner .............................................. 430 5.3 Die autonomiefördernde Lehrkraft .................................................. 436 5.4 Die Aus- und Weiterbildung zur autonomiefördernden Lehrkraft ................................................................................................. 438 6 Fazit .................................................................................................................. 439 Teil V Konsequenzen für die Lehrerbildung - Ausbildung, Fortbildung, Materialien und Schulkultur ...................................................................... 443 Teil VI Bilanz und Ausblick .................................................................................... 461 Literatur ...................................................................................................................... 477 Anhang I Fragebogen zu persönlichen Daten ........................................................... 533 II Leitfadengestütztes Interview - Beispiele für Fragen .......................... 535 III Strukturbilder .................................................................................................. 541 IV Zusätzliche Fragen anlässlich der Evaluation durch die Interviewpartner ............................................................................................ 553 <?page no="10"?> 11 Vorwort Diese Studie wurde als Dissertationsschrift der Philosophie des Fachbereiches 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen vorgelegt. Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater Professor em. Dr. Franz-Joseph Meißner, der mich und meine Arbeit immer mit weisem Rat, unendlicher Geduld und viel Humor begleitet hat. Sehr herzlich danke ich auch Professor Dr. Hélène Martinez für ihre so wertvolle Unterstützung und ihre Fürsorge. Auf Sabine Kauß-Oswald konnte ich zuversichtlich bauen, sie hatte immer eine praktikable Lösung prompt und herzlich zur Hand. Die Studie wäre ohne die Kooperationsbereitschaft und das mir entgegengebrachte Vertrauen der interviewten Lehrerinnen und Lehrer des Französischen nicht möglich gewesen. Sie haben für die Studie Stunden ihrer Freizeit geopfert. Dafür gilt ihnen ein ganz besonderer Dank. Ute Haßfeld hat mich dankenswerterweise beim Korrekturlesen sehr sorgfältig und professionell unterstützt. Von Herzen danken möchte ich meinem Mann Peter und meiner Tochter Katharina für ihre große Geduld. Nur mit ihrem Rückhalt konnte ich diese Schrift verwirklichen. Im Gedenken an meine lieben Eltern, durch die ich mich in Borr früh zu einer selbstständigen und selbstbestimmten Lernerin entwickeln konnte. Hemmingen, im Dezember 2019 Christa Weck <?page no="12"?> Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie „Der selbstständig denkende und selbstständig handelnde Mensch ist eines der ältesten Bildungsideale der Pädagogik; und die Erziehung zur Selbstständigkeit haben alle bedeutenden Pädagogen der Neuzeit zum Kernstück ihrer Bildungspolitik erklärt. In den heutigen modernen Demokratien Europas ist diese Erziehung unabdingbar geworden. Demokratien können nur funktionieren mit autonomen Staatsbürgern und müssen deshalb darauf bedacht sein, ihren heranwachsenden Mitgliedern von klein auf die Fähigkeit des selbstständigen Denkens und Handelns zu vermitteln.“ (Doyé 2010: 131) Doyé kommentiert im obigen Zitat die Erfordernisse einer kognitiven, lebenslang lernenden, sich ständig verändernden, mehrsprachigen demokratischen Gesellschaft (Weißbuch 1998), wie sie u. a. bereits bei Wilhelm von Humboldt (1794) oder mit Bezug zur Demokratie bei John Dewey (1916) formuliert wurden. Das Konzept der Lernerautonomie greift den Gedanken der Erziehung zur Selbstständigkeit auf und steht in den Fremdsprachen für selbstständiges und selbstbestimmtes Lernen fremder Sprachen. Lernerautonomie ist ein fachdidaktisches Großkonzept, das im Kern „gutes Lernen“ meint. Tausende von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen interpretieren dieses Konzept und entwickeln eigene Subjektive Theorien dazu, die sich handlungsleitend auf ihre tägliche Unterrichtspraxis auswirken. Die vorliegende Studie verleiht der Praxis Gehör und gibt ihr eine Stimme. Sie geht den essenziellen Fragen nach, wie Lehrerstimmen zur Lernerautonomie, und damit zum guten Lernen, aussehen und ob es angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Lernerautonomie Möglichkeiten der Unterstützung und Optimierung in der Unterrichtspraxis gibt. Die Datenerhebung zu den Subjektiven Theorien erfolgte u. a. aufgrund einer Weiterentwicklung der Struktur-Lege-Technik, einer mehrfachen Triangulierung und, im Sinne einer Langzeitstudie, über mehrere Jahre hinweg. <?page no="13"?> 14 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie a) Verortung der Studie im wissenschaftlichen Diskurs Erste pädagogische Ansätze zur Lernerautonomie (im Folgenden LA) finden sich in der Reformpädagogik der 1920er und 30er Jahre. In der Fachdidaktik wurde das Konzept der LA, zunächst in der Erwachsenenbildung, aber erst seit den 1960er und 70er Jahren systematisch erforscht. In Deutschland fand die Auseinandersetzung mit der LA seit den 1980er und 90er Jahren statt, und zwar vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Lernpsychologie (Ausubel 1960 u. a.). In der Unterrichtspraxis entwickelte sich die LA zunächst vor allem in den kleineren europäischen Ländern im Rahmen des Konzepts der „autonomen Klassen“ (Dam 1994), und zwar ausgehend von Initiativen des Europarates in den 1970er Jahren und unabhängig von speziellen Bezugswissenschaften (vgl. Trim 1977; Holec 1981a, b). Célestin Freinet verfolgte ebenfalls in den 1990er Jahren in Frankreich ähnliche Ansätze mit dem Ziel, die Schülerinnen und Schüler zu Initiatoren und Organisatoren der eigenen Lernprozesse zu erziehen. Im heutigen Diskurs gilt LA als eines der umfassendsten grundlegenden pädagogischen Konzepte. Die Erhebungen zur Unterrichtspraxis sind bislang vor allem quantitativ: z. B. TOSCA (Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg; siehe Köller et al., Hrsg. 2004), DESI (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International; siehe Klieme 2006) oder auch MES (Mehrsprachigkeit fördern; siehe Meißner et al. 2008). Insbesondere bei der Evaluierung hochkomplexer Prozesse, wie sie im Unterrichtsgeschehen vorliegen, gelten Daten, die aufgrund von qualitativen Verfahren gewonnen werden, als zusätzlich unerlässlich. Vergleiche hierzu z. B. die empirische Bildungsforschung des IQB (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen), soweit diese von den Ministerien ermöglicht wurde, oder auch die Dissertation von Tesch zu kompetenzorientierten Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht (2010). Diese qualitativen Studien sind allerdings nur erste Ansätze. Im Fokus der Bildungspolitik steht seit mindestens zwei Jahrzehnten der Begriff der Kompetenzen. Verstärkt wurde dies durch international vergleichende Schulleistungsstudien wie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study), PISA (Programme for International Student Assessment) oder DESI (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International; 1995, 2000, 2003/ 2004), durch die sich der bildungspolitische Blick auf Qualitätsstandards, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung richtet. Besehen und gemessen wurden der „Output“ bzw. die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler als Ausdruck ihrer Fähigkeit (Kompetenz), das jeweilige Wissen anzuwenden. <?page no="14"?> a) Verortung der Studie im wissenschaftlichen Diskurs 15 So etwa kommt der IQB-Bildungstrend 2015 für das Fach Französisch zu dem Ergebnis, dass bei den baden-württembergischen Schülerinnen und Schülern am Gymnasium am Ende der 9. Jahrgangsstufe insgesamt ein Leistungsabfall im Vergleich zum Jahr 2008 in den Kompetenzen Leseverstehen und Hörverstehen zu verzeichnen ist (Stanat et al., Hrsg. 2016: 194, allerdings mit dem Hinweis auf eine nur kleine Stichprobengröße im Fach Französisch). Der Begriff der Kompetenz (nach Weinert 2001) verbindet, wie der GeR (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen; Europarat 2001), Wissen aufs Engste mit Einstellungen und Tun und betont die Verantwortung und Selbstständigkeit des Einzelnen. Er zielt zentral auf „Fähigkeiten, die einen Prozess des Selbstlernens eröffnen, weil man auf Fähigkeiten zielt, die nicht allein aufgaben- und prozessgebunden erworben werden, sondern ablösbar von der Ursprungssituation, zukunftsfähig und problemoffen“ (Klieme et al. 2003: 65) sind. Der RePA (Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen) betont die einschlägigen Ausführungen Le Boterfs (2004, 2014). Kompetenzen meinen demnach Handlungsfähigkeit in bestimmten Domänen, hervorgerufen durch die Mobilisierung von entsprechenden Ressourcen: „Als kompetent gilt eine Person, wenn es ihr gelingt, die für eine Problemlösung jeweils notwendigen Ressourcen (Wissen, Einstellungen, Fertigkeiten) zu identifizieren, zu mobilisieren und miteinander zu kombinieren.“ (auch Martinez 2015a: 10) Die Förderung zum autonomen und mündigen Lerner bedeutet damit den Aufbau von Kompetenzen, die ihn zu einem aktiven, selbstverantwortlichen und lebenslangen Lernen in unserer demokratischen, globalisierten und digitalen Wissensgesellschaft befähigen. Zu diesen Kompetenzen gehört ganz wesentlich eine Medienkompetenz, wie sie z. B. in der Gemeinsamen Erklärung von Bund und Ländern zur Unterstützung der Medienkompetenz von Heranwachsenden mit dem Ziel der Teilhabe und Mündigkeit in der digitalen Welt formuliert ist (Bundesministerium für Bildung und Forschung & KMK 2017: DigitalPakt Schule; siehe auch die Strategie der KMK zur „Bildung in der digitalen Welt“ 2016 und 2017). Für die LA beim Fremd- und Mehrsprachenlernen ist der Aufbau der funktional-kommunikativen Kompetenzen grundlegend. Im Rahmen des Bildungsziels einer abgestuften und diversifizierten Mehrsprachigkeit (siehe unten) ist zu betonen, dass die rezeptiven Fähigkeiten - vor allem die mehrsprachige Lesekompetenz - mindestens ebenso relevant sind wie die produktiven Fähigkeiten Sprechen und Schreiben. Zur LA notiert Krumm: <?page no="15"?> 16 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie „[…], die Lernenden zu befähigen, die Sprache selbstständig weiterzulernen, ‚autonom‘ zu werden […] und dabei allgemeine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, wie sie in den unterschiedlichsten beruflichen Kontexten gefordert werden. Solche Schlüsselqualifikationen zielen auf andere Sprachen, Unterrichtsfächer und Lebensbereiche übertragbare Lerntechniken und Lernstrategien […], so wie diese in den Zieldimensionen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (soziale und strategische Kompetenz […]) festgehalten sind.“ (Krumm 4 2003b: 119) Angesichts eines lebenslangen Aufbaus von Sprach- und Sprachlernerfahrungen spricht der Europarat (2001) von einer „komplexen oder sogar gemischten“, „mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz“ (unterschiedliche Kompetenzen in mehreren Sprachen und Erfahrungen mit mehreren Kulturen), also von einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit, über die eine Benutzerin bzw. ein Benutzer sprachenübergreifend verfügt (ibid.: 163). Mit Beschluss vom 4.12.2003 macht auch die KMK zum Schuljahr 2004/ 2005 (für die 1. Fremdsprache und den Mittleren Schulabschluss in der 10. Jahrgangsstufe) die Ausrichtung des Unterrichts auf funktionale kommunikative, interkulturelle und methodische Kompetenzen verbindlich (KMK 2004a). In der Praxis stellt die Kompetenzorientierung allerdings eine erhebliche Herausforderung für die Lehrerinnen und Lehrer dar, zumal sie auf die Entwicklung nicht ausreichend vorbereitet wurden. Erwähnenswert ist außerdem, dass das Studium angehende Gymnasiallehrer 1 in Baden-Württemberg nur unzureichend auf didaktische Fragen vorbereitete (vgl. Reinfried 1997) und dass Innovationen im Allgemeinen oft eine Abwehrhaltung entgegengebracht wird. So führt Ellis beispielsweise zum Task-based language learning and teaching (2003: 321) aus: „An innovation constitutes a 'threat' in the sense that it may challenge existing preconceptions about teaching and require teachers to adopt new routines to replace those with which they are familiar.“ Angesichts der Kritik zur Kompetenzorientierung erschien 2007 in Ergänzung zu den Deskriptoren des GeR und zu den Sprachenportfolios das Kompetenzmodell des CARAP (Cadre de référence pour les approches plurielles des langues et des cultures) bzw. des RePA. Es handelt sich um ein europäisches Projekt des 1 Zur besseren Lesbarkeit wurden übergreifende gruppenbezogene Begriffe, wie z. B. „Lehrerinnen und Lehrer“ oder „Schülerinnen und Schüler“, durch die nicht geschlechtsspezifisch zu verstehenden Formen „Lehrer“ oder „Schüler“ zusammengefasst. Soll die Geschlechtlichkeit der Personen bezeichnet werden, so wird dies durch genusmarkierte Formen ausgedrückt (z. B. „Schülerinnen“ oder die „männlichen Lerner“ bzw. die „Jungen“). Das grammatische Maskulinum steht also durchaus zur Bezeichnung von weiblichen Personen (vgl. den Satz: „Die Mädchen sind die besseren Schüler.“). Es meint keineswegs ausschließlich männliche Personen. <?page no="16"?> a) Verortung der Studie im wissenschaftlichen Diskurs 17 Centre Européen pour les Langues Vivantes, pilotiert von Candelier (Candelier et al. 2007). Der RePA widmet sich der Lernfähigkeit und den sogenannten „weichen“ (weil nur schwer messbaren) Kompetenzen und beschreibt die Mobilisierung kommunikativer, interkultureller und sprachlernbezogener Kompetenzen. Er kann zur Konstruktion und Bewertung von Aufgaben zur Sprachlernkompetenz herangezogen werden (vgl. Meißner 2012a: 74-98, 2013). Die 2012 veröffentlichten Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife in der fortgeführten Fremdsprache (Englisch/ Französisch) (KMK 2012) reagieren auf die Diskussion und einen dort verkürzten Bildungsbegriff. Die Reaktion schließt auch die 2004 publizierten Bildungsstandards ein. Vergleiche hierzu z. B. auch Zydatiß (2005a, b) oder Tesch (2010). Die Bildungsstandards 2012 beschreiben in ihrem Kompetenzstrukturmodell - neben der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, der funktionalen kommunikativen Kompetenz und der Text- und Medienkompetenz - nun auch die Sprach(en)bewusstheit und die Sprachlernkompetenz (SLK) als eigenständige und transversale Kompetenzen, die zu den anderen drei zentralen Kompetenzen in Verbindung stehen. „Der Begriff Sprachlernkompetenz […] bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Fremdsprachen zu lernen. Dies impliziert, den eigenen Fremdsprachenlernprozess (selbst) steuern und kontrollieren zu können. SLK umfasst neben der Entfaltung entsprechender (Lern-)Strategien Einsichten in attitudinale sowie motivationale Faktoren. SLK ist somit entscheidend nicht nur für die Ausbildung der individuellen Mehrsprachigkeit, sondern auch des lebenslangen Lernens und der Pflege von Fremdsprachenkenntnissen. […] SLK trägt dazu bei, sprachliche Kompetenzen und die auf Seiten der Lernenden vorhandene Mehrsprachigkeit (Erstsprache, ggf. Zweitsprache, Fremdsprachen) selbstständig und reflektiert zu erweitern.“ (Martinez & Meißner 2017: 221, 224) Die fachdidaktische Beschäftigung mit LA (siehe z. B. die grundlegenden Forschungen von Meißner seit den 1990er Jahren, insbesondere zur Mehrsprachigkeitsdidaktik, oder die umfassenden Arbeiten von Martinez 2008, Schmenk 2008 und Tassinari 2010) und die bildungspolitischen Zielsetzungen zu Qualitätsstandards, -entwicklung und -sicherung bzw. zur Kompetenzorientierung prägen die deutschsprachige Fachdiskussion um Fremdsprachenunterricht seit den 1990er Jahren. Sie finden ihren Niederschlag in den Lehrplänen der Länder. Die Kulturhoheit der Bundesländer erklärt, weshalb die Lehrpläne nicht nur für das Fach Französisch trotz Bezug zum GeR bzw. zu den international gängigen Beschreibungen der sogenannten funktional-kommunikativen Kompetenzen, etwa DELF oder DALF, recht heterogen ausfallen. Tschirner (2001, 2005) wirft zudem angesichts amerikanischer Forschungsergebnisse zur ACTFL OPI <?page no="17"?> 18 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie Prüfung Fragen zu den Skalen des GeR auf. So geht er aufgrund dieser Studien von einer in den höheren Lernjahren verlangsamten Progression des mündlichen Kompetenzaufbaus aus und fordert u. a. eine speziell auf das Sprechen ausgerichtete Grammatikprogression. Die Befähigung zum selbstständigen Lernen zählt mittlerweile zu den Schlüsselqualifikationen der neuen Fremdsprachenlehrpläne. Das Weißbuch der Europäischen Kommission 2001 spricht ausdrücklich die Fähigkeit des lebensbegleitenden Lernens an. Quetz (2003; u. a. m. R. [mit Referenz auf] Zimmermann 3 1995) kommentiert dies wie folgt: „Zu einem Curriculum, das selbstgesteuertes Lernen fördern soll, gehören nicht nur die sprachlichen Exponenten, sondern auch Ziele wie Wissen über Sprache (Regeln, language awareness ) und das Lernen des Lernens. Hierbei geht es nicht [allein, CW] um deklaratives Wissen, d. h. die Kenntnis von Kategorien und Begriffen, sondern eher um prozedurales Wissen, das sprachlichem Handeln zugrunde liegt, ferner um Verstehens-, Lern- und Problemlösestrategien und um die Selbstreflexion beim Bearbeiten von Aufgaben, also um metakognitives Wissen über die eigenen mentalen Prozesse und deren Bedingungen […] Neuere Curricula greifen Lernziele wie Mündigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft zu selbstverantwortlichem Lernen, aber auch Theorien des handlungsorientierten Lernens und des offenen Unterrichts auf. Von daher sind geschlossene, zentral vorgegebene Curricula eigentlich nicht mehr zeitgemäß, obgleich man wegen der zunehmenden Bedeutung von Zertifikaten nach wie vor nicht auf sie verzichten kann.“ (Quetz 2003: 125, 126) So beschreibt der baden-württembergische Bildungsplan (2016) zu Französisch als zweiter Fremdsprache am Gymnasium in seinen Leitgedanken zum Kompetenzerwerb die prozessbezogenen Kompetenzen (Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz) und führt zur Sprachlernkompetenz aus: „Die Schülerinnen und Schüler können das eigene Sprachenlernen weitgehend selbstständig analysieren und gestalten. Dabei greifen sie auf ihr mehrsprachiges Wissen (Erstsprache, gegebenenfalls Zweitsprache, Fremdsprachen) und auf individuelle Sprachlernerfahrungen zurück, zum Beispiel indem sie Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen reflektieren und für ihr Sprachenlernen gewinnbringend einsetzen. Zur Erweiterung ihrer sprachlichen Kompetenzen nutzen sie vielfältige - direkte, medial vermittelte, simulierte und authentische - Begegnungen mit der Fremdsprache, auch an außerschulischen Lernorten. Sie verfügen über ein angemessenes Repertoire an sprachbezogenen Lernmethoden und Strategien, die sie ebenso wie digitale Hilfsmittel zielgerichtet und eigenständig <?page no="18"?> a) Verortung der Studie im wissenschaftlichen Diskurs 19 anwenden. Die Schülerinnen und Schüler schätzen ihre Sprachlernprozesse und -ergebnisse eigenverantwortlich ein und ziehen daraus Konsequenzen für ihr sprachliches Handeln und die Gestaltung weiterer Lernschritte.“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg & Landesinstitut für Schulentwicklung 2016: Startseite) Das selbstverantwortliche Lernen wird heute als Großbegriff allseits anerkannt. Schmenk spricht z. B. von „Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs“ (2008: 34). Um neue Konzepte in das riesige Praxisfeld zu bringen und zur Steuerung „großer Systeme“ braucht die Theorie zukunftsweisende „Bewegungsbegriffe“ (siehe Koselleck 2006). LA hat in diesem Sinne als Orientierungs- und Steuerungsbegriff ein sehr weites Referenzfeld, das fast alle Aspekte des Fremdsprachenunterrichts umfasst. Lerntheoretisch beginnt die Entwicklung hin zur LA mit der Aufgabe der behavioristischen Theorien Skinners (1956) bzw. der Rezension der linguistischen Theorien Chomskys (1957). Wichtige Stationen waren z. B. die Einführung der Interlanguage (Selinker 1972) und die Erkenntnisse aus der Lernpsychologie. Die Kognitive Psychologie zeigt, dass LA ein lernpsychologisches und fächerübergreifendes Desiderat darstellt und Lernen einen konstruktiven, subjektiven und autonomen Prozess. „Das Lernen wird als ein Prozess der Wissensintegration verstanden, d. h. die verarbeiteten Informationen werden - wenn sie behalten werden sollen - vom Lerner in das bereits vorhandene Wissen eingebunden und dieses so umstrukturiert, dass es optimal organisiert ist und jederzeit abgerufen werden kann. […] Informationsverarbeitung ist ein Prozess der Konstruktion, an dem sowohl die eingehenden Umweltreize als auch das bereits gespeicherte Wissen beteiligt sind. Psychologisch bedeutet diese Erkenntnis, dass die Informationen aus der Umwelt nicht abbildhaft in den menschlichen Geist eingehen, sondern dass jedes kognitive System abhängig vom bereits verarbeiteten Wissen eine subjektive kognitive Repräsentation der aus der Umwelt aufgenommenen Informationen konstruiert. Dieser Prozess ist ein autonomer Prozess, den der Informationsverarbeiter eigenverantwortlich durchführt.“ (Wolff 4 2003: 323) Auch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft werden seit den 1990er Jahren vermehrt in die fachdidaktische Diskussion über Selbstorganisation bzw. selbst gesteuertes Lernen eingebracht (siehe z. B. Multhaup 1995 oder Bleyhl 2009). In der Neurowissenschaft wird das menschliche Lernen als ein selbstorganisierter Prozess verstanden, bei dem Nervenzellen, Neuronen, miteinander verknüpft werden. Das Lernen wird in der Neurowissenschaft als ein permanenter Prozess angesehen; das Gehirn kann gar nicht anders als durch das Leben ständig zu <?page no="19"?> 20 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie lernen, und es lernt autonom. Sambanis (2013) betrachtet das Thema „Lernen“ aus der Perspektive des Fremdsprachenunterrichts mit Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. „Neurowissenschaftliche Befunde in evidenzbasierte Handlungsimpulse für den Fremdsprachenunterricht“ zu übertragen, insbesondere mit Fokus auf den Sprachlernprozess, war auch das Ziel der Expertentagungen von 2015 und 2017 unter den Titeln „Focus on Evidence - Fremdsprachendidaktik trifft Neurowissenschaften“ (Böttger & Sambanis, Hrsg. 2016) und „Focus on Evidence II - Netzwerke zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften“ (Böttger & Sambanis, Hrsg. 2018). Als Beispiele seien hier die Mehrsprachigkeit (z. B. Franceschini 2016), die Synchronisation im Klassenzimmer (z. B. Poeppel 2016), das stressreduzierte Lernen ( SRL; Meier 2016), metakognitive Lernstrategien (Horváthová & Reid 2016), verkörperte Kognition (z. B. Kiefer 2018: die Verankerung von Denken und Sprache in Wahrnehmungs- und Handlungserfahrung), das Schreiben mit der Hand (z. B. Arndt 2018), die Interaktionen zwischen Sprache und Musik ( Jentschke 2018) und ihre positiven Effekte auf das Fremdsprachenlernen genannt. Diese positiven Effekte beziehen sich nicht nur auf das Fremdsprachenlernen selbst, wie z. B. die Ausführungen von Franceschini (2016) zeigen, die darlegt, dass Mehrsprachigkeit weitere kognitive Fähigkeiten befördert und Demenzerscheinungen hinauszögert, also länger geistig gesund hält. Spitzer (2003) leitet aus der Hirnforschung eine Reihe von Prinzipien für das (schulische) Lernen ab, wie die Verstärkung des Lerneffekts durch Aufmerksamkeit, Emotionen, positive soziale Erfahrungen, eine interessante Lernumgebung, freiwilliges Üben und eine gute und geliebte Lehrkraft. Grundlegend spielen bei der Betrachtung von LA also auch Fragen nach den Mechanismen des Lernens und, in Bezug auf das Fremdsprachenlernen, nach dem Aufbau von Sprachlernkompetenz eine Rolle. In der Fachdidaktik wird Lernen heute vor allem als ein aktiver Prozess der Informationsverarbeitung gesehen, konstruktivistische Ansätze sprechen von einem Prozess der Selbstorganisation (vgl. Raupach 4 2006). Meißner charakterisiert den Lernprozess insbesondere als „strategisch, reflexiv, autonom und komparativ“ (Meißner 2012a: 81). Ein kompetenter Lerner verhält sich demnach dem eigenen Lernen gegenüber verantwortungsbewusst; selbstgesteuertes Lernen ist „ein dynamisches Zusammenwirken von ‚skill and will‘ und eine komplexe Leistung der Selbstregulation des Ichs.“ (Baumert 1993: 328). Die sprachvergleichende Interkomprehensionsdidaktik kann hier einen wichtigen Beitrag zur Sprachbildung und Förderung von Sprachlernkompetenz leisten. Dabei ist die Autonomie des Lerners immer auch zu relativieren, da sie Bedingungen und Einflüssen unterschiedlicher Art unterworfen ist. <?page no="20"?> b) Theorie und Praxis 21 „Setzt man als Bildungsziel die Mündigkeit und definiert diese unter anderem unter Rückgriff auf die Reflexionsfähigkeit dieser Verstricktheit des jeweils eigenen Selbst, relativiert man einerseits die personale Autonomie und verliert andererseits nicht aus den Augen, dass Menschen immer auch eingebunden sind in vorgegebene Konstellationen und Abhängigkeiten und sich auch zur eigenen Orientierung und Identifikation freiwillig einer ganzen Reihe von (Fremd-) Bestimmungen unterwerfen.“ (Schmenk 2008: 341) Gleichzeitig wird den Lehrenden, insbesondere im Fremdsprachenunterricht, ein erheblicher Einfluss auf das Lernen der Schüler zugeschrieben (vgl. z. B. Kallenbach 1996; Caspari 2003). Und diesen sollten Lehrende laut Hattie (2011) fortwährend erkennen und evaluieren: „[…] there is a powerful criterion of success for all of our teachers and school leaders - that is, that success is learning from evaluating our effect. […] Know thy impact“ (Hattie 2011: 192; Hervorhebung im Original). b) Theorie und Praxis Eine Reihe von Studien belegt allerdings, wie schon gesagt, dass Praktiker den aus der empirischen Forschung generierten Einsichten nicht immer folgen bzw. neue Konzepte nicht ohne Weiteres umsetzen können. Sie sind fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Konzepten gegenüber eher kritisch eingestellt und bewerten ihr eigenes praktisches Erfahrungswissen höher als theoretisches Wissen. Vergleiche zum Theorie-Praxis-Problem beispielsweise die Befunde von Schocker-von Ditfurth (2001) und Ellis (2003, siehe oben, sowie z. B. Appel 2000 oder Caspari 2003, unten). Dieses Theorie-Praxis-Problem verschärft sich noch angesichts eines großen Systems, dem tausende von Fremdsprachenlehrern mit ihrer jeweiligen Unterrichtspraxis angehören, und angesichts einer fehlenden systematischen Qualitätssicherung. Zur Frage der Umsetzung neuer Erkenntnisse und Konzepte durch Französischlehrkräfte gibt es bisher wenige empirische Daten. Einen Beitrag zur Qualitätssicherung liefert hier, wie oben erwähnt, Tesch (2010) mit seiner Fallstudie zu kompetenzorientierten Lernaufgaben und ihrer Umsetzung im Französischunterricht. Auch wurden bisher kaum Instrumente entwickelt - weder auf Seiten der Fremdsprachendidaktik noch durch die KMK -, um den Prozess der Umsetzung neuer fachdidaktischer Erkenntnisse und Konzepte qualitätssichernd zu steuern und zu begleiten. Das von den Ländern finanzierte IQB ist hier ein erster Anfang. Das didaktische Großkonzept LA mit seiner Vielzahl an Aspekten trifft seit Jahren auf eine Französischlehrerschaft, die dieses Konzept grötenteils in ihrer <?page no="21"?> 22 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie Lernbiografie nicht erlebt hat und ihm in ihrer Aus- und -fortbildung zum Teil nur in Ansätzen begegnet ist. Das wirft die Frage nach LA in Theorie und Praxis auf: Was passiert, wenn ein komplexes didaktisches Konzept wie LA auf eine große Lehrerschaft trifft, die das Konzept selbst nicht erfahren hat und überdies theoretischem Wissen eher mit Distanz begegnet? Welche Vorstellungen, Subjektive Theorien, haben diese Lehrkräfte von LA? c) Ziel: Qualitätssicherung Die vorliegende Studie möchte vor diesem Hintergrund der konkreten Fragestellung nachgehen, welche Sicht Französischlehrer auf das Konzept der LA haben. Die Studie ist damit im Bereich der professionsbezogenen Subjektive- Theorien-Forschung zu verorten. Ihr Ziel und Zweck ist es, einen Beitrag zur Qualitätssicherung im großen System des Französischunterrichts zu leisten. Hierzu wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt. Innerhalb der qualitativen Sprachlehr- und Sprachlernforschung gilt die Erforschung Subjektiver Theorien als geeignetes Konzept, Reflexionen über das Sprachenlernen und -lehren zu erforschen (siehe Scheele & Groeben 1998, unten). Insbesondere bei der Erforschung mentaler Prozesse gelten Daten, die aufgrund von qualitativen introspektiven Verfahren gewonnen werden, als unerlässlich (vgl. z. B. Henrici & Riemer 2003 oder Grotjahn & Marx 2012, unten). Quantitative Untersuchungen zu Lehrerauffassungen finden sich u. a. bei Meißner, Beckmann & Schröder-Sura (2008, zur Förderung von Mehrsprachigkeit), Weiß et al. (2010, zum Berufswunsch Französischlehrer/ in) oder Beckmann (2016, zu den Lernzielen im Fremdsprachenunterricht). Meißner, Beckmann & Schröder-Sura folgern aufgrund ihrer internationalen Studie in den Klassen 5 und 9 (2008) u. a., dass der Unterricht die Schüler auf das lebensbegleitende Lernen durch Förderung von LA vorbereiten sollte. Er sollte das Thema „Lernen des Lernens von Sprachen“ nachhaltig behandeln, das Europäische Sprachenportfolio integrieren, die Lernkompetenz der Schüler fördern, sie zur Autoevaluation anleiten, Sprachen- und Sprachlernbewusstheit fördern und den Lernern vor Augen führen, weshalb sie Fremdsprachenkenntnisse über das Englische hinaus benötigen (siehe unten). Beckmann (2016) kommt in ihrer Studie allerdings zu dem Ergebnis, dass die von ihr untersuchten Schüler nur eine niedrige Zielsetzungskompetenz, Sprachlernkompetenz, Selbsteinschätzungskompetenz und Sprachenbewusstheit besitzen. Sie konstatiert, dass der Unterricht teilweise an den Interessen der Lerner vorbeigeht und dass er die Schüler im Ganzen kaum emotional erreicht. <?page no="22"?> d) Forschungsfragen 23 Diese sehen in den Fremdsprachen außer Englisch keinen nennenswerten instrumentellen Nutzen. LA spielt in dem von ihnen erlebten Unterricht keine wesentliche Rolle. Ein LA fördernder Fremdsprachenunterricht folgt den Prinzipien für einen guten Fremdsprachenunterricht (siehe z. B. Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017, unten). LA steht damit im Kern für gutes Sprachenlernen und wird in der Lehrerbildung als wissenschaftliche Theorie des Lehrens und Lernens fremder Sprachen entsprechend vermittelt. Wenn aber neuen fachdidaktischen Konzepten eher eine kritische Distanz entgegengebracht wird, dann stellt sich für die qualitative Forschung die Frage, wie Lehrkräfte diesen zentralen Steuerungs- und Orientierungsbegriff für gutes Lernen verstehen und umzusetzen denken: • Wie versteht ein Französischlehrer gutes Fremdsprachenlernen, und damit LA? • Wie steht seine Subjektive Theorie zur LA im Einklang mit dem in der Forschungsliteratur definierten Begriff der LA, einschließlich des Kompetenzbegriffs? • Gibt es Möglichkeiten, einen eventuell defizitären LA-Begriff weiterzuentwickeln? d) Forschungsfragen Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Studie die Subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen, also von Experten, wie sie LA, Sprachenlernen und den Aufbau von Sprachlernkompetenz verstehen, welche Erfahrungen und Einstellungen sie hierzu besitzen und wie sie diese in ihrer eigenen Unterrichtspraxis umgesetzt sehen. Die Betonung liegt auf „sehen“, denn Subjektive Theorien sind nicht unbedingt identisch mit der beobachtbaren Unterrichtswirklichkeit. 2 Dabei geht die vorliegende Studie folgenden Fragenbereichen nach: 1. Verständnis von LA: Wie definieren Lehrkräfte des Französischen LA? Welche Erfahrungen haben sie in den Bereichen LA, Sprachenlernen und dem Aufbau von Sprachlernkompetenz gesammelt? 2. Stellenwert von LA: Welchen Stellenwert nimmt LA für sie im schulischen Kontext ein? 2 Vgl. zu diesem Aspekt z. B. Stiftung Warentest 2007. Sprachen lernen. Englisch und Spanisch. Die besten Kurse. Test spezial Weiterbildung. <?page no="23"?> 24 Einführung: Stimmen zur Lernerautonomie - Ziel-und Zweck der Studie Denken sie, dass LA durch die Lehrperson gefördert werden kann? Und wenn ja, wie kann ihrer Meinung nach eine solche Förderung in der schulischen Praxis aussehen? Versuchen sie in ihrem eigenen Unterricht LA und Sprachlernkompetenz zu fördern? 3. Angestrebte Umsetzung von LA im eigenen Unterricht: Wie wird versucht, LA und Sprachlernkompetenz zu fördern? Welche Art der lehrseitigen Unterstützung, z. B. durch Ausbildung, Fortbildung oder Materialien, erscheint nötig? Welche weiteren Faktoren spielen eine Rolle? Forschungsziele sind damit die Erhebung von Subjektiven Lehrertheorien zum Großbegriff LA im Französischunterricht und dadurch Erkenntnisgewinne 1. zur Definition von LA durch die interviewten Lehrpersonen 2. zum Stellenwert von LA bei Lehrkräften des Französischen 3. zur versuchten Umsetzung von LA im Französischunterricht 4. zur möglichen Unterstützung von Lehrkräften bei ihrer Aufgabe, LA und SLK zu befördern e) Verfahren Zur Klärung dieser Forschungsfragen verläuft die Studie in sechs Schritten: 1. Teil I gibt als Gegenstandsanalyse einen Überblick über die (relevante) fachdidaktische Literatur zu den Faktoren Lehrperson und LA. 2. Teil II geht auf die Erhebung von Subjektiven Theorien als Forschungskonzept ein. 3. Teil III stellt anhand von sieben ausführlichen Einzelfalldarstellungen Subjektive Lehrertheorien über LA im Französischunterricht dar. 4. Diese werden in Teil IV zusammengeführt; das so ermittelte Erfahrungswissen der Lehrkräfte zur LA wird damit neben die fachdidaktischen Erkenntnissen zur LA gestellt. 5. Die sich daraus abzeichnenden Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Lehrerbildung unter dem leitenden Prinzip der LA - in Ausbildung, Fortbildung und durch Materialien - werden abschließend in Teil V erörtert. 6. Teil VI zeichnet eine Bilanz der vorliegenden Studie und gibt einen Ausblick auf fortführende fachdidaktische Untersuchungen. Alle Daten wurden trianguliert, siehe hierzu II, 4.3 unten. <?page no="24"?> e) Verfahren 25 Die vorliegende Studie stützt sich auf sieben Interviews mit Französischlehrern (Lehrkräfte mit Französisch und einem oder mehreren weiteren Fächern) an baden-württembergischen Gymnasien im Zeitraum von 2007 bis 2008 und - im Sinne einer Langzeitstudie - deren Evaluation nach ein bis zwei Jahren; sie umfasst damit den Zeitraum von 2007 bis 2010. Baden-Württemberg hat, wie gesagt, bis 2015 die Ausbildung von Gymnasiallehrern ohne nennenswerte Anteile der wissenschaftlichen Fachdidaktik belassen. Diese macht allerdings den Kernbereich der Professionalisierung aus (siehe z. B. Reinfried 1997). Dabei trägt die erste Phase der Lehrerausbildung wesentlich zur beruflichen Identifikation bei (siehe die Ergebnisse der empirischen Lehrerforschung; u. a. Ehlers & Legutke 1998; Schocker-von Ditfurth 2001; König & Seifert 2012). Zwei der Interviewten (TW und CP) wurden allerdings außerhalb von Baden- Württemberg ausgebildet (Nordrhein-Westfalen und Italien; in Italien spielte bis 1999 das Thema Fachdidaktik in der Ausbildung für Mittel- und Sekundarschullehrer ebenfalls keine wesentliche Rolle), eine weitere Gesprächspartnerin (VE) ist Fortbildnerin und beschäftigt sich daher intensiv mit fachdidaktischen Fragen. Inwieweit die Beschränkung der Untersuchung auf Baden-Württemberg eine Begrenzung der Reichweite der Studie darstellen könnte, wird ebenfalls in Teil VI erörtert. <?page no="26"?> Teil I Lehrperson und Lernerautonomie in der fremdsprachendidaktischen Professionalisationsforschung Teil I gibt als Gegenstandsanalyse einen Überblick über die Forschungslage zum einen zur Person des Fremdsprachenlehrers und zum anderen zum Konzept der LA. Er soll damit den Verständnishintergrund bilden für den Rahmen der Studie und für das methodische Vorgehen, das in Teil II dargelegt wird, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung der Leitfragen und Impulse für die Interviews. Teil III widmet sich der Datenauswertung, also den Stimmen aus der Praxis und den empirischen Ergebnissen, zunächst ohne Rückbezug auf die Forschungslage. Diese wird in Teil IV gegenüberstellend herangezogen. <?page no="28"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 29 1 Lehrperson In diesem Kapitel werden im Hinblick auf die vorliegende Studie und den Faktor Lehrperson relevante fachwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Lehrerforschung vorgestellt und Aspekte der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung beleuchtet. 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik „Die Aussage von Flechsig 1971, es lägen keine nennenswerten Untersuchungen zum Fremdsprachenlehrer vor (Flechsig 1971, 3255), gilt auch für die 90er-Jahre; erst in jüngster Zeit zeichnet sich eine Änderung ab.“ (Krumm 4 2003a: 354). Während für die Fremdsprachenforschung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Lehrmethoden im Fokus des Interesses standen und in den 70er und 80er Jahren der Lerner und sein Fremdsprachenerwerb, so richtete sich erst in den 90er Jahren der Blick zunehmend auf die Lehrperson, zunächst vor allem im englischsprachigen Raum (siehe z. B. die frühen Arbeiten von Johnson 1992 und Nunan 1992 oder Freeman & Richards mit ihrem Sammelband zur Innensicht von Fremdsprachenlehrern 1996). Bereits 1982 forderte Krumm, dass neben dem Lerner auch die Lehrperson in der Forschung stärkere Berücksichtigung finden müsse. Bis Ende des 20. Jahrhunderts behandelten Forschungsarbeiten zu Fremdsprachenlehrern im deutschsprachigen Raum vor allem deren Geschichte, notwendige Qualifikationen, Aus- und Fortbildung, ihr berufliches Selbstverständnis und ihr Verhalten als Lehrkraft, weniger ihr Überzeugungswissen zum Fremdsprachenlehren und -lernen (vgl. De Florio-Hansen 1998: 9; Caspari 2003: 45-47 und 49-51, m. R. Geisler 1986 und Krumm 1995). 1996 zeigt Kallenbach in ihrer Studie zu den Subjektiven Theorien von Fremdsprachenlernern, wie groß der Einfluss der Lehrenden auf die Motivation und den Lernerfolg ihrer Schüler ist. Zum Faktor Lehrperson romanischer Sprachen notieren Meißner & Morkötter allerdings noch 2014-15 einen Nachholbedarf in der Forschung: „Doch welches gesicherte Wissen haben wir über heutige Lehrerinnen und Lehrer romanischer Sprachen im deutschsprachigen Raum (Reinfried 1997)? Zwar hat in den letzten Jahrzehnten die Professionsforschung einen Aufschwung erfahren (u. a. Terhart 2005; <?page no="29"?> 30 1 Lehrperson Baumert & Kunter 2006; Blömeke 2010), doch liegen nur wenige quantitative Studien vor (Weiß et al. 2010). Zudem sind die Stichproben nicht fachdidaktischer, sondern erziehungswissenschaftlicher Art. Über die Fachlehrerschaft des Englisch-, Französisch-, Italienischunterrichts […] sagen sie kaum etwas aus. Besser steht es um qualitative Arbeiten, die subjektive Theorien von Lehrenden allgemein oder bestimmte Fragen beleuchten (etwa Caspari 2003; Schocker-von Ditfurth 2003; Morkötter 2005 und andere). Weitere Einsichten liefern Daten zur Aktionsforschung. Hinzu kommen Berichte zu Lehrerfahrungen (vgl. Bauer et al. 1997; Beiträge in Meißner & Reinfried 1998) und Zeugnisse der oral history (zuletzt: Meißner 2008[c]). Angestoßen von der Notwendigkeit, Studienordnungen zu reformieren, haben sich zahlreiche Autoren zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern geäußert (Meißner et al. 2001; Legutke & Schocker-von Ditfurth 2006; Meißner 2007a; Leupold & Porsch 2011). Auch die Frage, inwieweit innovative didaktische Konzepte in der Praxis des Unterrichts umgesetzt werden, ist betroffen (vgl. Tesch 2010). Leider zeigt die Forschung auch hier für den Unterricht romanischer Sprachen einen deutlichen Nachholbedarf.“ (Meißner & Morkötter 2014-15: 61) Wesentlich ist die (im Grunde triviale) Erkenntnis, dass die Lehrenden bei ihrem Unterrichtshandeln auf ihre Subjektiven Theorien zurückgreifen (siehe z. B. Woods 1996; Henrici & Zöfgen, Hrsg. 1998). Krumm verweist in diesem Zusammenhang auf Zimmermann (1984, 1990) und seinen Nachweis, dass auch bei kommunikativ orientierten Fremdsprachenlehrern die Grammatik eine zentrale Rolle spielt, und auf Kleppin & Königs (1991) zur demotivierenden Form der Fehlerkorrektur. „Mit subjektiven Theorien ist dabei jenes Geflecht aus Überzeugungen (beliefs), Meinungen und verallgemeinertem Erfahrungswissen gemeint, die zusammen das Unterrichtshandeln der Lehrenden prägen (Woods 1996). Der Zwang zum Handeln unter dem Entscheidungszwang des Unterrichtsalltags und ohne über Theorien von ‚gutem Unterricht‘ zu verfügen, zwingt Lehrer dazu, eigene Handlungsmaximen zu formulieren, mit denen sie versuchen, die Komplexität des Unterrichtsgeschehens auf überschaubare, mit ihrer bisherigen Erfahrung übereinstimmende Sichtweisen zu reduzieren und Widersprüche etwa zwischen in der Ausbildung erworbenen Einsichten und der Unterrichtsrealität zu überbrücken.“ (Krumm 4 2003: 356) Die Erforschung Subjektiver Lehrertheorien gehört mittlerweile zu einem wesentlichen Bereich in der fremdsprachendidaktischen Forschung zur Lehrperson (siehe z. B. Schocker-von Ditfurth 2001; Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, Hrsg. 2001; Grotjahn 4 2003a; Caspari, Helbig & Schmelter 4 2003; Caspari 2003). Nicht zuletzt interessiert sich die Fremdsprachenforschung seit Anfang des 21. Jahrhunderts verstärkt für die Lehrenden, da sie vor allem im Sinne eines <?page no="30"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 31 gleichberechtigten Theorie-Praxis-Verhältnisses als Mitentwickler und Mitforscher verstanden werden, „deren Praxiswissen und Praxiserfahrung für die Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts unentbehrlich sind.“ (Caspari 2003: 46). Ergebnisse aus dem Bereich der fremdsprachendidaktischen Lehrerforschung mit direktem Bezug zur LA werden schwerpunktmäßig unter I, 2-3 und IV dargestellt. Zu den Forschungsergebnissen speziell zur Lehrerausbildung siehe I, 1.2. Nachfolgend werden in diesem Kapitel in chronologischer Darstellung weitere für diese Studie interessante Forschungsergebnisse vorgestellt, insbesondere zu den Normenaspekten im Fremdsprachenunterricht, zu den Schlüsselqualifikationen eines Fremdsprachenlehrers, zu seinem beruflichen Selbstverständnis und zu Erfahrungswissen, Einstellungen und Sicht auf das eigene Unterrichtshandeln. Das Kapitel endet mit ersten Schlaglichtern auf die Frage nach dem Umgang von Fremdsprachenlehrern mit Aspekten eines autonomiefördernden Unterrichts. Königs widmet sich 1983 in einer theoretischen Abhandlung den „Normenaspekten“ im Fremdsprachenunterricht und den Dimensionen des Konstrukts „Lehrer“. Er zeigt, dass die Lehrperson einer Vielzahl von Normen, wie z. B. den Lernzielen oder den organisatorischen Normen, unterworfen ist. Außerdem führt er die Dimensionen auf, die dem Faktorenkomplex „Lehrer“ zuzuordnen sind. Er liefert damit Aspekte für die empirische Lehrerforschung (Königs 1983: 354-482; vgl. auch die Besprechung in Caspari 2003: 47-48): 1. allgemeine Persönlichkeitsfaktoren (veränderliche und unveränderliche Variablen, Lehrerrolle und Rollenkonflikte) 2. fremdsprachenbezogene Lehrerfaktoren (bezüglich des Lehrgegenstands und der Rahmenbedingungen) 3. lernergerichtete Prämissen und Normen (Kenntnisse über fremdsprachenunterrichtliche und außersprachliche Spezifika der Lerner, Lehrklima) 4. methodische Prämissen und Normen (Einstellung zu und Kenntnisse und Analysen von Lehrwerken, Auswahl und Beurteilung von Inhalten, Kenntnis fremdsprachenunterrichtlicher Vermittlungsmethoden, Umgang mit und Einstellung zu technischen Medien, Unterrichtsstil, Übungsformen und Übungstypologien, institutionelle Vorgaben, Erfahrungen) 5. Grundgedanken zur fremdsprachenmethodischen Umsetzung Königs bemerkt abschließend: „So sollte man den Faktorenkomplex ‚Lehrer‘ nicht nur (aber auch! ) auf die Tätigkeit des Lehrens hin beziehen, sondern das Lehren auf das Lernen und damit auch auf die <?page no="31"?> 32 1 Lehrperson Rolle des Lernenden hin zu analysieren versuchen. Ein lehrerbezogener Faktor wie z. B. ‚Methodenkenntnisse‘ gewinnt seine tatsächliche Dimension erst dadurch, daß seine Qualität auf den Lehrer und den Lerner hin bestimmt wird.“ (Königs 1983: 483-484; Hervorhebungen im Original) In ihrem Sammelband stellen Freeman & Richards (1996) fünfzehn unterschiedliche Studien zum Lernen von Fremdsprachenlehrern vor. Diese frühen Studien liefern einerseits erste Ergebnisse zur Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, andererseits beleuchtet Freeman grundsätzliche methodische Aspekte bei der Lehrerforschung. Ein besonderer Fokus liegt auf der Erforschung, wie Lehrkräfte über ihr Unterrichtshandeln denken: „Our point is a basic one, namely, that in order to better understand language teaching, we need to know more about language teachers: what they do, how they think, what they know, and how they learn. Specifically, we need to understand more about how language teachers conceive of what they do […].“ (Freeman & Richards, Hrsg. 1996: 1) Zur ersten Phase der Lehrerausbildung ergeben sich u. a. folgende Befunde: - Die Lehrerausbildung sollte nicht nur beim persönlichen Verständnis und Wissen der Studierenden ansetzen, sondern sie auch in die Lage versetzen, ihr eigenes Denken zu artikulieren und zu analysieren, im Sinne eines kontinuierlichen Lernens (Gutiérrez Almarza 1996: 73-76; m. R. Calderhead 1988). - Die Erforschung der eigenen Autobiografie und deren Reflexion führen zu einem besseren Verständnis der eigenen professionellen Entwicklung als Lehrkraft (Bailey et al. 1996: 27). - Zur Rolle der Ausbildung von Fremdsprachenlehrern wird u. a. festgehalten: - Zur Reflexion über die Unterrichtspraxis benötigt Lehrerausbildung den Diskurs in einer allgemeingültigen professionalisierten Expertensprache und darüber hinaus Praxiserfahrungen mit unterschiedlichen, von stärker angeleiteten bis hin zu echten, Rahmenbedingungen. Im Fokus sollte die kompetente Reflexion über die eigenen Unterrichtserfahrungen liegen und weniger das Unterrichtshandeln selbst (Freeman 1996a: 236-238). - Kollaborative Ansätze können einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der eigenen Konzepte über das Lehren und Lernen liefern (Bailey 1996: 277- 278; Kwo 1996: 312-314). Zum Entwicklungsprozess von Lehrkräften durch ihre Unterrichtserfahrungen ergibt sich u. a.: - Das Unterrichtshandeln einer Lehrkraft hängt davon ab, wie sie das Unterrichtsgeschehen interpretiert, und zwar auf der Grundlage ihrer eigenen <?page no="32"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 33 Lern- und Lehrerfahrungen, ihres professionellen Wissens über und ihres allgemeinen Verständnisses von Unterricht sowie ihrer Persönlichkeit. Die Reflexion des eigenen Unterrichtshandelns auf der Grundlage dieser Faktoren trägt zur Weiterentwicklung als Lehrkraft bei (Ulichny 1996: 195; Smith 1996: 207). - Das Unterrichtshandeln von Lehrkräften hängt stärker von den eigenen Überzeugungen und dem eigenen Erfahrungswissen ab als von Theoriewissen, das nur punktuell und in Abhängigkeit zu den eigenen Überzeugungen zum Tragen kommt (Smith 1996: 214). - Erforschende und kollaborative Ansätze tragen wesentlich zu einer Professionalisierung beim Unterrichten bei (Burns 1996: 175-176; m. R. Allwright & Bailey 1991, Gebhard 1989 und Nunan 1991b). - Die Professionalisierung beim Unterrichten ist ein fortwährender Entwicklungsprozess (Moran 1996: 153). Zur Lehrererforschung hält Freeman fest (Freeman 1996b: 351-378): 1. Eine systematische Erforschung der Ausbildung und Entwicklung von Fremdsprachenlehrern ist bislang nicht erfolgt (m.R. National Center for Research on Teacher Education 1988: 27: „unstudied problem“). Dies liegt an einem fehlenden zugrundeliegenden allgemeingültigen Forschungskonzept (m.R. Freeman & Richards 1993). 2. Beim Unterrichten handelt es sich um eine komplexe kognitive Aktivität (m.R. Floden & Klinzing 1990). Lehrkräfte sind Individuen, die durch ihre Unterrichtsaktivität lernen, formen und geformt werden (m.R. Freeman et al. 1983). Um den Prozess des Unterrichtens zu verstehen, müssen die Perspektive und das Wissen von Lehrkräften miteinbezogen werden (m.R. Elbaz 1991). 3. Unabhängig vom Unterrichtshandeln und seinen Resultaten muss das Unterrichten selbst erforscht werden; dazu gehören die Rolle und die Persönlichkeit des Lehrers, die Verortung des Faches Fremdsprachen und die Frage nach den unterschiedlichen Unterrichtskontexten und den Lernern. Gleichzeitig sollte die Lehrerausbildung erforscht werden, und zwar in dem Sinne, wie sie Lehrkräfte dazu befähigt zu unterrichten. 4. Freeman (1996b) befürwortet die Pluralität von unterschiedliche Konzepten und Verfahren, um den Lernprozess von Lehrkräften beim Fremdsprachenlernen zu erforschen, ansetzend bei: - den Entscheidungen der Lehrkraft (bei der Unterrichtsplanung und -durchführung: „the decision-making framework“) - dem Verständnis und der Perspektive der Lehrkraft (durch Erzählungen und Biografie, Interviews und Beobachtungen oder Lerntagebücher: „un- <?page no="33"?> 34 1 Lehrperson derstanding teachers‘ mental worlds and their relationship to teaching practice“) - weiteren Faktoren, wie den sozialen Rahmenbedingungen, Zeit und Unterrichtserfahrung oder der sprachlichen Interaktion im Klassenraum Die jeweiligen Ansätze sollten auf einer validen Forschungsmethode basieren, die auf Prinzipien wie der Angemessenheit der Daten, ihrer Erhebung und ihrer Analyse beruhen (siehe hierzu Teil II, unten). 2006 stellt Freeman eine Rahmenstruktur vor, die die Schlüsselelemente professioneller Lehreraus- und -fortbildung umfasst: Werkzeuge, Aktivitäten und die Teilnehmer und ihre Rollen: „This framework describes social practices in terms of three basic elements: The tools used in the particular practice, the activities that make up the practice, and how the individuals are involved as participants in those activities using those tools. The tools are subdivided into physical and symbolic; participants are referred to in terms of the roles they adopt, which are shaped by how they use the tools in the activity. […] In the case of teacher training and development, I would argue that there are two overlapping social practices involved. The first practice is classroom language teaching; the second is the social practice of learning to teach. […] the second practice is preparation for (and takes its meaning from) the first.“ (Freeman 2006: 4-5; Hervorhebungen im Original) Die Studie von Woods präsentiert 1996 Wissen und Einstellungen von acht muttersprachlichen Fremdsprachenlehrern an kanadischen Universitäten. Woods weist nach, dass Faktenwissen (knowledge), Annahmen (assumptions) und persönliche Überzeugungen (beliefs) fließend ineinander übergehen, einen höheren Stellenwert haben als theoretische Erkenntnisse und entscheidend sind für das Unterrichtshandeln der Lehrkraft. Aufgrund ihrer individuellen Lern- und Lehrerfahrungen entwickelt jede Lehrkraft eigene Annahmen über die Natur der Sprache und über das Lernen und Lehren einer Fremdsprache und verfügt damit über ein ganz eigenes handlungsleitendes „BAK system“ (Netzwerk von beliefs, assumptions und knowledge ). Dieses kann durchaus Widersprüche beinhalten, die auf Spannungen innerhalb der Person hinweisen, die dabei ist, entweder ihr Verhalten oder ihre Überzeugungen zu ändern. Mit seiner Studie erbringt Woods „[…] einen überzeugenden Nachweis für zentrale Annahmen im Bereich der Lehrerbildung: Für die Rolle des Vorwissens beim Lernen, für die interpretative Natur der Lehrertätigkeit sowie für die Notwendigkeit, sich als Lehrer seiner Annahmen, Überzeugungen und seines Wissens bewusst zu sein, um sie weiterentwickeln zu können.“ (Caspari 2003: 53-54; m. R. Duarte 1998: 620). <?page no="34"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 35 Caspari betont u. a. allerdings auch, dass in Woods‘ Studie die Empirie der Theorie untergeordnet wurde, dass „die theoretische Modellbildung der empirischen Untersuchung vorangegangen ist. […] Dies hat vor allem zur Konsequenz, dass die Studie zumindest nicht im engeren Sinne als explorativ bezeichnet werden kann, zumal nicht immer klar erkennbar ist, welcher Status den Äußerungen der Untersuchungspartner/ innen in Bezug auf die Modellbildung tatsächlich zukommt. […] Zum anderen halte ich ihn [den untergeordneten Stellenwert der empirischen Daten] auch aus methodischen Gründen für riskant, weil bei einem dermaßen stark strukturierten Erwartungshorizont stets die Gefahr besteht, dass die Daten ausschließlich im Horizont des Erwarteten gedeutet werden […].“ (Caspari 2003: 54-55; u. a. m. R. Duarte 1998: 619) Caspari kommt zu dem Ergebnis, dass Woods’ Untersuchung zeigt, „dass die in die Tiefe gehende Analyse eines einzigen Untersuchungspartners ausgesprochen aufschlussreich sein kann. Sie deutet außerdem das Erkenntnispotenzial an, das in der Darstellung der persönlichen Aspekte des Wissens der Untersuchungspartner/ innen enthalten ist.“ (Caspari 2003: 56; m. R. Appel 2000: 60). Schwerdtfeger beleuchtet im Jahr 2000 die Normen im Fremdsprachenunterricht und die diesen zugrundeliegende Ideologie unter der Leitfrage: „Machen Lehrende Sprachen schwer? “ Hierzu befragte sie ca. 90 Studierende am Ende ihres Fremdsprachenlehrerstudiums nach einer Metapher zum Fremdsprachenlernen. Die Metaphern der Studierenden ließen sich den Großgruppen „Produktionsmetapher“ und „Wachstumsmetapher“ zuordnen. In verschiedenen Ländern befragte sie wiederum zwischen 1994 und 1999 die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Lehrerfortbildungsseminaren nach ihrem Konzept von Sprache als Lehrende von Fremdsprachen. Die Befragten bedienten sich vor allem der Produktionsmetapher, einer Sicht auf Sprache, ohne Blick auf Menschen und Kommunikation. Bei einer Untersuchung des fremdsprachlichen Grammatikunterrichts gelangte sie außerdem zu dem Ergebnis, „daß ein stark kognitiv-abstrakt ausgerichteter Grammatikunterricht bei dem die Erklärung der Regel im Vordergrund steht, als der ‚wahre‘ Fremdsprachenunterricht angesehen wird.“ Die Sprache wird als „ein Kanon von Gesetzen [betrachtet], dessen Mißachtung Sanktionen nach sich zieht. Diese Sanktionen werden nonverbal durch Gestik, Mimik und Tonfall an die Lernenden übermittelt. Pausen, in denen den Schülern Zeit zum Nachdenken gegeben wird, gibt es nicht“ (Schwerdtfeger 2000: 46; m. R. Schwerdtfeger 1988). <?page no="35"?> 36 1 Lehrperson „Die zu lernende Sprache ist ein Objekt mit komplizierten Konstruktionsmechanismen, das sich allein Menschen, die logisch-mathematische Intelligenz, im Sinne Howard Gardners (1991), besitzen, zu erschließen vermag. Dieses ist die Ideologie, die fremdsprachenunterrichtlicher Unterweisung bis heute unterliegt. Sie bestimmt die Diskurse der Macht, in denen sich die professionelle Beschäftigung mit Fremdsprachenunterricht befindet.“ (Schwerdtfeger 2000: 46) Schwerdtfeger kommt damit zu dem Ergebnis, dass das sogenannte logische Denken bei der Vermittlung von Fremdsprachen immer noch im Zentrum stehe und dass Lehrende damit Sprachen „schwer“ machen. Sie fordert ein Konzept von Sprache, das ihre „Einverleibung“ zugrunde legt, das „die zu lernende Sprache zurück in den Lernenden bringt“ (Schwerdtfeger 2000: 47). Appel (2000) betrachtet das Erfahrungswissen von Lehrkräften eher als „soziales Wissen“, da es bezogen ist auf die Kultur des Unterrichts. In seiner Studie befragt Appel zwanzig Fremdsprachenlehrer zu ihrem Erfahrungswissen (in episodisch-narrativen Interviews): den institutionellen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, ihrer Biografie und ihren pädagogischen und fachdidaktischen Werten. Für den Fremdsprachenunterricht erforscht er sieben wichtige Felder: Auslandserfahrungen, Ausbildung, Prüfen und Evaluieren, das Lehrwerk, Grammatik, Einsprachigkeit und „natürliches“ versus „künstliches“ Lernen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der institutionelle Rahmen und die Unterrichtssituation einen bedeutenden Einfluss auf die situative Kompetenz einer jeden Lehrkraft haben, ebenso ihre Beziehung zu den Schülern. Innerhalb dieser Kontexte werden fachdidaktische Konzepte verstanden und bewertet. Ob das Erfahrungswissen stärker durch den gemeinsamen sozialen Rahmen der befragten Lehrkräfte oder durch ihre individuelle Sicht auf diesen gemeinsamen Rahmen beeinflusst wird, bleibt allerdings nach Caspari in Appels Studie offen (vgl. Caspari 2003: 56-60). Dirks (2000) untersucht die Prozesse der Professionalisierung von Englischlehrern anhand von autobiografisch-narrativen Interviews mit 22 Lehrkräften aus Sachsen-Anhalt. Interessant an dieser Studie sind die Einflussfaktoren, die sie für die Entwicklung des beruflichen Selbstverständnisses identifiziert. Hierzu gehören die Ausbildung, die Lehrbiografie, der berufliche Austausch innerhalb und außerhalb der Schule, die institutionellen Rahmenbedingungen und die Beziehung zu den Schülern. (Siehe auch die Besprechung in Caspari 2003: 60-65.) Als Schlüsselqualifikation einer kompetenten Lehrkraft, die ihren Unterricht auf die Erfordernisse einer sich ständig verändernden Welt anpassen kann, nennt Krumm ( 4 2003a; m. R. Edge & Gick 1997) die „Selbstbefähigung“ (empowerment). <?page no="36"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 37 Mit der entsprechenden Lehrerpersönlichkeit gehen einher „‚Autorschaft‘ (authority) , d. h. die Fähigkeit, sein eigenes Leben bedeutungsvoll zu gestalten; die Fähigkeit, Erfahrung und eigenes Handeln zu reflektieren (ability, self-awareness) ; [und] Verantwortlichkeit (responsibility) insbesondere gegenüber der Autonomie der Lernenden (Edge 1994, 119 ff.).“ (Krumm 4 2003a: 354). Auf der Grundlage der Untersuchungen von Politzer & Weiss (1969) und Sanderson (1982) zu den Merkmalen eines guten Fremdsprachenlehrers hebt Krumm ( 4 2003a) Sensibilität und Flexibilität einer kompetenten Lehrkraft hervor und fasst die vorliegenden Erkenntnisse wie folgt zusammen: „Beide Untersuchungen machen deutlich, dass ein gutes Klassenklima, ein flexibles Unterrichts- und Übungsprogramm, die Aktivierung der Lernenden, eine gute Beherrschung der Zielsprache wie auch ein professionelles Selbstbewusstsein zu den Voraussetzungen für einen so definierten erfolgreichen Fremdsprachenunterricht gehören. Mitchell (1988) und Peck (1988) legen jeweils ein kommunikatives Unterrichtskonzept zu Grunde und isolieren Lehrverhaltensweisen, die es den Lernenden erlauben, bereits im Unterricht kommunikativ zu handeln. Insgesamt zeigt sich bei solchen Untersuchungen, dass nicht ein bestimmtes Lehrverhalten für sich genommen ‚gut‘ oder ‚falsch‘ ist, dass vielmehr die Angemessenheit des Lehrverhaltens in einer konkreten Unterrichtssituation und mit einer definierten Lerngruppe den Ausschlag gibt. Lehrertraining zielt daher heute verstärkt auf die Erhöhung der Sensibilität gegenüber den Lernenden und die Flexibilität des Lehrers und nicht auf die Einübung bestimmter Lerntechniken (Ziebell 1998).“ (Krumm 4 2003a: 355) Caspari untersucht 1995 bis 1996 die Entwicklung des beruflichen Selbstverständnisses bei Fremdsprachenlehrern an Gymnasien und Gesamtschulen in Mittelhessen und wertet aus 35 Interviews 12 für ihre Studie aus. 1. Ihre Studie belegt die Bedeutung der eigenen Sprachlernbiografie für das berufliche Selbstverständnis des Fremdsprachenlehrers. Sowohl die eigenen Lernerfahrungen vor Beginn der Ausbildung als auch die spezifisch fremdsprachlichen Lernerfahrungen sind wesentliche Berufswahlmotive. „[…] die eigenen Erfahrungen mit Schule allgemein und (Fremdsprachen-) Lernen während der Schul- und Universitätszeit und die außerschulischen Erfahrungen mit Fremdsprachen während dieser Zeitspanne [stellen] einen bedeutenden Einflussfaktor auf die Ausbildung des beruflichen Selbstverständnisses dar […]. Die Interviewstudie zeigt, dass sich die frühen schulischen und außerschulischen Lernerfahrungen der Befragten häufig direkt oder zumindest mittelbar in den Deutungsmustern der Befragten niederschlagen. Zudem beeinflussen sie in der Regel viele Komponenten in mehreren Bereichen des beruflichen Selbstverständnisses, so dass sie in der Gesamtstruktur vielfach und tief verankert sind.“ (Caspari 2003: 204, 206; Hervorhebung im Original) <?page no="37"?> 38 1 Lehrperson Die eigenen Lehrkräfte spielen neben der eigenen Schulzeit eine bedeutende Rolle. So haben die eigenen (Fremdsprachen-) Lehrer z. B. die Begeisterung für die Fremdsprache und für das Fremdsprachenlernen geweckt, hatten einen Einfluss auf die Berufsbzw. Fächerwahl und beeinflussen das berufliche Selbstverständnis und die Konzeption der eigenen Lehrerrolle über die Ausbildung hinaus (vgl. Caspari 2003: 156-170; u. a. m. R. die Studie an Lehramtsstudierenden von Schocker-von Ditfurth 2001: 36, siehe hierzu auch unten). Dies wird mit der frühen und dauerhaften Erfahrung mit den eigenen Lehrkräften begründet, aber auch mit dem traditionell lehrerzentrierten Unterricht, bei dem die Lehrkraft die Lernprozesse organisierte, und der Attraktivität vertrauter Handlungsmuster (Caspari 2003: 168 f.; m. R. Rutter et al. 1980: 222, Schocker-von Ditfurth 2001: 217, Castellotti & De Carlo 1995). Die schulischen Fremdsprachenlernerfahrungen der von Caspari 2003 befragten Fremdsprachenlehrer sind geprägt durch das Interesse an Fremdsprachen bzw. am Fremdsprachenlernen, den eigenen Lernerfolg, eine fleißige und systematische Lernhaltung, Schlüsselerlebnisse mit dem Spracherwerb und der Kommunikation im Zielsprachenland, die eigene Motivation für das weitere Erlernen (oft durch Auslandsaufenthalte) und den sprachlichen Kompetenzzuwachs. Caspari kann (im Unterschied zu Appel 2000 und Schocker-von Ditfurth 2001) keinen deutlichen Kontrast zwischen den schulischen Sprachlernerfahrungen und den Sprachlernerfahrungen in der Zielsprachenkultur ausmachen. Hinsichtlich der Bereitschaft zur interkulturellen Kommunikation kommt Prokopowicz (2017) jedoch zu dem Ergebnis, dass diejenigen Probanden, die sich vorwiegend an formaler Richtigkeit in der Zielsprache orientieren, deutlich weniger zur Kommunikation mit nativen Sprechern bereit sind. Zu den erlebten Unterrichtsmethoden äußern sich die befragten Lehrkräfte kaum (anders in der Untersuchung von Schocker-von Ditfurth bei Lehramtsstudierenden 2001). Caspari erklärt Letzteres mit der geringeren Rolle des Themas „eigenes Lernen“ in ihrer eigenen Studie, mit der Altersstruktur der Befragten (und der geringeren Kritik an lehrerzentrierten Verfahren vor einigen Jahrzehnten) sowie mit der inzwischen gewonnenen Erfahrung der Lehrkräfte um die Problematik des „Besser-Machens“ (Caspari 2003: 173). Das persönliche Verhältnis zur Fremdsprache bzw. zu Fremdsprachen der von Caspari befragten Fremdsprachenlehrer ist weitgehend affektiv geprägt. Caspari macht bei den Befragten verschiedene „Orientierungen“ der emotionalen Prägung aus (u. a. m. R. Bosenius 1992: 85; Börsch 1982): die Eigenschaft(en) der Fremdsprache(n), persönliche Beziehungen zu Sprechern der Zielsprache, kulturelle und institutionelle Orientierung, „exotische“ Fremdheit, Persönlichkeitsbildung und eine allgemeine kommunikative Orientierung. Die Begeiste- <?page no="38"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 39 rung für das Fach und seine Inhalte werden von vielen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit betrachtet. Bei der Auffassung von Fremdsprachen im Allgemeinen sind die der „Fremdsprachen als Kommunikationsmittel“ und „Fremdsprachen als Gegenstand, System, Fach“ die wichtigsten. Caspari zeigt, dass sich diese Auffassungen von Fremdsprache nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern sich durchaus ergänzen können (vgl. Caspari 2003: 182-187). Während die von ihr befragten Englischlehrer die Notwendigkeit und Nützlichkeit ihres Faches herausstellen, wird die Funktion des Französischen als Nachbarsprache nur einmal genannt. Caspari vermutet, „dass der traditionelle Bildungswert des Französischen (Geltung der Literatur, Bedeutung als Wissenschaftssprache) heutzutage kaum noch eine Rolle spielt“ und Fremdsprachen eher geschätzt werden „als Kontakt- und Kultursprachen in Hinblick auf Ziele des interkulturellen Lernens“ (Caspari 2003: 188). Auch das persönliche Verhältnis der befragten Lehrkräfte zu „Land und Leuten“ ist affektiv-emotional, darüber hinaus aber auch kognitiv geprägt, wenn es um die Kenntnisse des Landes und seiner Kultur geht. Dieses persönliche Verhältnis hat sich insbesondere während ihrer Auslandsaufenthalte in der Schul- und Studienzeit entwickelt und ist im Laufe des Lebens durchaus veränderbar. Caspari macht die Zuneigung bzw. das Interesse weniger an der Länge der Aufenthalte fest, sondern begründet sie eher mit dem ganz persönlichen Erleben, das nicht mit der Realität im Zielland übereinstimmen muss (m.R. Börsch 1982: 163). Sie sieht hier einen „Ansatzpunkt für eine Veränderung kontraproduktiver Erwartungen und Klischees von Fremdsprachenlehrer/ inne/ n in der Bewusstmachung ihrer subjektiven (Einzel-) Theorien im Rahmen der Lehreraus- und -fortbildung.“ (Caspari 2003: 193). Caspari stellt fest, dass die eigenen Lernerfahrungen der Lehrkräfte ihre Vorstellungen von Fremdsprachenlernen und Fremdsprachenunterricht direkt beeinflussen, indem sie ihre Erfahrungen an ihre Schüler weitergeben möchten. Am Beispiel der Komponente „Auffassungen von Fremdsprache(n)“, die stark durch die eigenen Lernerfahrungen geprägt ist, zeigt sie, wie diese Komponente indirekten Einfluss auf den Unterricht nimmt. Sie beobachtet folgende Tendenzen: Die Auffassung „Fremdsprache als Gegenstand, System oder Fach“ korreliert mit Bedeutungszuweisung von Grammatik für das Fremdsprachenlernen, Bemühen um passende Vermittlungsmethoden, Auseinanderfallen der Funktionsbereiche „Fachlehrer“ und „Pädagoge“. Die Auffassung „Sprache als Kommunikationsmittel“ harmoniert mit einer untergeordneten Rolle der Grammatik im Unterricht, dem Bemühen um die Vermittlung von Erfahrungen, der Verbindung der Funktionsbereiche „Fachlehrer“ und „Pädagoge“. <?page no="39"?> 40 1 Lehrperson Neben der lernbiografischen Erklärung für Lehrerauffassungen von Fremdsprache(n) werden in der Forschungsliteratur weitere Einflussfaktoren genannt. Schocker-von Ditfurth (2001) erklärt z. B. die systemorientierten Auffassungen auch mit dem Wunsch der Lehrenden nach Kontrolle und korrektem Sprachgebrauch beim schulischen Lernen und die kommunikationsorientierte Auffassung mit den Auslandserfahrungen der Studierenden. Appel (2000) identifiziert ein Minimalkonzept für den Fremdsprachenunterricht, das aufgrund der künstlichen Unterrichtssituation auf die Vermittlung von Grammatik und Wortschatz fokussiert und die kommunikative Anwendung im außerschulischen Bereich verortet. Und Zimmermann begründet die große Bedeutung der Grammatik im Fremdsprachenunterricht mit der Tradition der klassisch-humanistischen Bildung (z. B. in Mey & Zimmermann 1994: 7; zitiert nach Caspari 2003). Die Veränderungen von Lehrerauffassungen von Fremdsprache(n) sind entsprechend langwierig und schwierig. Caspari zeigt in diesem Zusammenhang, dass einige der Befragten Probleme haben, den Stellenwert der Grammatik zu reduzieren (Caspari 2003: 201-202). Sie vermutet, dass eine Veränderung der Unterrichtsmethodik eher realisiert werden kann als eine Weiterentwicklung solcher Komponenten, die besonders eng mit der Lernbiografie verknüpft sind, wie „Auffassung von Fremdsprache(n)“, „Persönliches Verhältnis zu Fremdsprache(n)“, „Persönliches Verhältnis zu ‚Land und Leuten‘“ oder „Persönliches Verhältnis zur Literatur“, da sie einen fest verankerten übergreifenden Stellenwert einnehmen. „Hierbei scheint es sich um die zentralen Elemente einer ‚Philosophie‘ des unterrichteten Schulfaches (BROMME 1992: 97-100) bzw. einer ‚overaching conception of teaching a subject‘ (PUTNAM / BORKO 1997: 1234) zu handeln.“ (Caspari 2003: 202) Die eigenen Lernerfahrungen wirken sich in unterschiedlicher Stärke auf eine Reihe von wichtigen Komponenten des beruflichen Selbstverständnisses aus. Wichtig ist, ob sie ein Deutungsmuster darstellen oder ob sie in direkter Relation zu einem Deutungsmuster stehen. Deutungsmuster sind differenziert, emotional besetzt, gehen einher mit tiefen Überzeugungen und verfügen über eine große Reichweite (siehe auch den Begriff des „Grundgedankens“ bei Kallenbach 1996 und den der „Deutungsmusteranalyse“ bei Wiedemann 1985). Auch das Wissen um die eigenen Lernerfahrungen spielt eine Rolle, häufig scheinen diese unbewusst zu sein (vgl. Caspari 2003: 205). Daneben identifiziert Caspari weitere Einflussfaktoren auf das berufliche Selbstverständnis, u. a.: die konkrete Situation vor Ort, die Prägung der Situation durch die Schüler, die persönlichen Auffassungen von der Lehrerrolle, die beruflichen und außerberuflichen Erfahrungen. <?page no="40"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 41 Martinez (2008) bestätigt in ihrer Untersuchung über Lehramtsstudierende, dass die eigene Sprachlernbiografie für die Herausbildung einer Subjektiven Theorie über die Sprachlernprozesse und das Fremdsprachenlernen insgesamt bedeutsam ist: „Die vorliegende Studie mit ihrem Fokus auf die Sprachlernprozesse von angehenden Lehrern bestätigt die enge Verbindung zwischen Lernerfahrungen und der Herausbildung des Sprachlernverständnisses bzw. einer subjektiven Theorie des Fremdsprachenlernens. Das Sprachlernverständnis der Studierenden wird in höchstem Maße durch ihre Sprachlernbiographie geprägt und ist oft Teil des gesamten Selbstkonzepts der Person.“ (Martinez 2008: 295) Dass die frühen Lernerfahrungen einen wichtigen Einfluss auf das gesamte Berufsleben haben, hängt vor allem damit zusammen, dass sie als Subjektive Theorien fest verankert sind. „Diese auf den eigenen Erfahrungen basierenden Theorien, die in Form von - häufig unbewussten - ‚persönlichen Wertvorstellungen‘ vorliegen (SCHOCKER-V. DIT- FURTH 2001: 258), besitzen für die Individuen durch die ihnen zugrunde liegende Authentizität des Erlebten einen so hohen Überzeugungsgrad, dass sie, wie die Studie von SCHOCKER-V. DITFURTH (2001: 262) eindrucksvoll zeigt, von den Studierenden unreflektiert verallgemeinert werden.“ (Caspari 2003: 206) Caspari kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass bei den Befragten didaktisches Wissen in Form von Erfahrungen vorliegt und entsprechend bewertet wird. „Wie WOODS (1996: 195) kann ich in den Äußerungen der Befragten keinen grundsätzlichen qualitativen Unterschied zwischen persönlichem Wissen und Einstellungen (als Oberbegriff für Meinungen, Einstellungen und Überzeugungen) feststellen. Im Gegenteil, es hat den Anschein, dass das didaktische Wissen der Befragten ganz überwiegend in Form von Erfahrungen vorliegt und damit automatisch eine persönliche Bewertung enthält. Die Tatsache, dass das didaktische Wissen primär in Form konkreter Erfahrungen vorzuliegen scheint, hinderte die Befragten jedoch nicht, daraus allgemeingültige Aussagen und Prinzipien abzuleiten.“ (Caspari 2003: 151) 2. Zum Aufgaben- und Funktionsverständnis des Fremdsprachenlehrers hält Caspari fest, dass es eine zentrale Bedeutung für die Konzeption und Praxis des individuellen konkreten Unterrichts hat und stark bestimmt wird von den individuellen Lern-, Aus- und Fortbildungserfahrungen sowie Erfahrungen mit den jeweiligen Arbeitskontexten (vgl. auch im Folgenden Caspari 2003: 207-259). <?page no="41"?> 42 1 Lehrperson Angesichts der vielfältigen auch widersprüchlichen Erwartungen, die von außen an die Lehrenden herangetragen werden (z. B. fördern und auslesen), identifiziert Caspari die Funktion des (Ver-)Mittlers als zentrale Größe im Aufgaben- und Funktionsverständnis der von ihr befragten Lehrkräfte. Dabei werden vier zu vermittelnde Bereiche von diesen angesprochen: sprachliches bzw. kommunikatives Wissen und Können, landeskundliches bzw. kulturelles Wissen, sonstiges fachbezogenes Wissen und Können (z. B. Textanalyse) und nicht primär fachbezogene Einstellungen und Arbeitsweisen (z. B. Eigentätigkeit). Bezüglich des Kontinuums „Fremdsprachen-Lehrer“ bezieht die Mehrheit die fachspezifischen Aspekte auf ihre Arbeit mit den Schülern und betrachtet die „Vermittlungsseite“ als zentrales fachbezogenes Element ihrer Tätigkeit. Ziel der Sprachvermittlungsfunktion ist die kommunikative Kompetenz der Schüler, die von den befragten Lehrkräften jeweils individuell gedeutet wird (vgl. auch Caspari 2000). Zur Vermittlungsfunktion gehört für die Lehrkräfte ebenfalls, ihre Schüler für das Fach zu interessieren und zum Sprachenlernen zu motivieren. Dabei scheint vielen eine gute, durch gegenseitige Wertschätzung geprägte Beziehung zu den Schülern notwendig, wobei sie sich als Mensch zeigen und als Persönlichkeit auf sie wirken möchten. Hier gilt es, eine individuelle Balance zwischen Distanz und Nähe und Rolle/ Funktion und Person/ Persönlichkeit zu finden, wobei bei einem Teil der Befragten mit dem Aspekt der Wertschätzung fachliche und pädagogische Aufgaben verbunden werden. (Siehe Caspari 2003: 236-237; m. R. Kelly 1991: 6.) Zur Funktion des Erziehers und Pädagogen gehört für verschiedene in der Studie von Caspari Befragte der Aspekt der Unterstützung beim Lernen (Caspari 2003: 227). Ziele sind die Motivation für das schulische und fachliche Lernen, (Selbst-) Disziplin (durch Kontrolle) und das Einüben sozialer und kommunikativer Fähigkeiten. Die Befragten positionieren sich unterschiedlich innerhalb des Spektrums „(Ver-) Mittler“ und „Pädagoge“, beide Bereiche sind aber von Bedeutung für sie und verbinden sich idealer Weise miteinander. Die Positionierung hängt vor allem von den beruflichen Praxiserfahrungen ab, aber auch von den jeweils individuellen Definitionen der Begriffe. Die von Caspari 2003 befragten Fremdsprachenlehrer sehen sich auch in der Funktion des kulturellen (Ver-)Mittlers (allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung), in der sie den Schülern landeskundliches Wissen vermitteln und ihnen die fremde Kultur nahe bringen wollen. Hierbei stoßen sie immer wieder auf die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten, wenn es um die Einstellungen und das Verhalten ihrer Schüler geht, z. B. Schüler für den Austausch zu gewinnen. „Die Fähigkeit, sich mit dieser Situation abzufinden ohne zu resignieren halte ich für eine der wichtigsten Fähigkeiten im Lehrberuf. Aus den Interviews ist zu entnehmen, <?page no="42"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 43 dass Erfolgserlebnisse bei einzelnen Schüler/ inne/ n, die eigene Begeisterung für das Fach und seine Inhalte sowie ein guter Kontakt zu Fachkolleg/ inn/ en innerhalb oder außerhalb der eigenen Schule hierfür außerordentlich hilfreich sind.“ (Caspari 2003: 241) Die Rolle des Kulturvermittlers ist stark geprägt von den eigenen kulturellen Erfahrungen und Haltungen und zudem eng verbunden mit dem Aspekt des Sprachvermittlers, „weil jede Sprache Ausdruck und Trägerin von Kultur sei und daher gar nicht ohne kulturelle Bezüge vermittelt werden könne […], zum anderen, weil die Schüler/ inne/ n über sprachliches und kulturelles Wissen verfügen müssten, um die für Fremdverstehen / interkulturelles Lernen notwendigen Fähigkeiten und Einstellungen erwerben zu können“ (Caspari 2003: 242). Die Funktionen des sprachlichen (Ver-)Mittlers und des Lernberaters bzw. Organisators von Lernprozessen wird von den von Caspari (2003) befragten Lehrkräfte als zentrale Aufgabe angesehen. In ihrer Funktion als Lernberater möchten sie den Schülern vor allem Lern- und Arbeitstechniken vermitteln. Sie betrachten es als ihre Aufgabe, die Schüler durch Kontrolle zum regelmäßigen und systematischen Arbeiten und Lernen anzuhalten, da die Schüler von sich aus nicht dazu bereit seien. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung der Lehrkraft und der Autonomie ihrer Schüler. „Die meisten der befragten Lehrer/ innen [verstehen sich] tendenziell als zentrale Steuerungsinstanz im Unterricht.“ (Caspari 2003: 251) Nur zwei der zwölf Befragten lassen in ihren Äußerungen eine gezielte Autonomieförderung erkennen. Die Befragten begründen das Fehlen selbstständigerer Arbeitsformen mit der mangelnden Bereitschaft der Schüler, der fehlenden Unterrichtszeit, den hohen Schülerzahlen pro Lerngruppe und eigenen Wissensdefiziten bezüglich des Lernens. Bei den Funktionen des Lernberaters bzw. des Organisators von Lernprozessen sieht Caspari (2003) daher besonders große Möglichkeiten für die Lehrerentwicklung. In diesem Zusammenhang weist Schocker-von Ditfurth (2001; u. a. m. R. Medgyes 1994: 57-60) darauf hin, dass nicht muttersprachliche Fremdsprachenlehrer „in einem permanenten Rollenspiel mit den Schülern in einer fremden Sprache […] interagieren“ (Schocker-von Ditfurth 2001: 76-78). Da sie sich als „reduzierte Persönlichkeit“ im Unterricht erleben, würden sie einen sicheren Zugriff auf das Unterrichtsgeschehen bevorzugen und Fehler besonders streng kontrollieren. In diesem Bereich seien die Bewusstmachung der spezifischen Rolle eines nicht muttersprachlichen Fremdsprachenlehrers, das Wissen um die positive Rolle der Fehler beim Spracherwerbsprozess und sensible Unterstützungsangebote für die angehenden Lehrkräfte unerlässlich (Schocker-von Ditfurth 2001: 78, 242; m. R. Edge 1992). <?page no="43"?> 44 1 Lehrperson 3. Interessant für die vorliegende Studie ist auch der Befund von Caspari (2003), dass ihre Untersuchungspartner fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Konzepten gegenüber eher kritisch eingestellt sind und sie ihr eigenes praktisches Erfahrungswissen höher bewerten als theoretisches Wissen. (Siehe z. B. auch die Untersuchungen von Appel 2000 und Schocker-von Ditfurth 2001.) „Diese Ergebnisse unterstreichen, dass bei der Ausbildung der Einstellungen und Vorstellungen von Lehrenden grundsätzlich andere Einflussfaktoren eine Rolle spielen als bei der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien und Konzepte. Außerdem beurteilen Lehrer/ innen die Bedeutung und Nützlichkeit fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Konzepte nach anderen Kriterien, vor allem aufgrund ihrer Praxiserfahrungen und ihrer subjektiven Theorien (vgl. auch APPEL 2000: 153).“ (Caspari 2003: 264) Das von Caspari festgestellte Fehlen einer gezielten Autonomieförderung durch die Mehrheit der befragten Fremdsprachenlehrer spiegelt sich in den Befunden von Meißner (2005b) wieder. Im Hinblick auf die Evaluation durch Lernende identifiziert Meißner (2005b: 132) vor allem Unsicherheiten bei Lehrenden in folgenden Bereichen: - die zielführende Anleitung der Lerner, eigene Lernwege zu identifizieren und zu erörtern - die explizite Arbeit mit Lern- und Lehrprotokollen - Aufbau und Gespräch über eine dem Mehrsprachenunterricht zugrunde liegende Hypothesengrammatik und die Reflexion über die Zielsprache - sowie die pro- und retroaktive Vernetzung des neuen und vorhandenen Sprachen- und Lernwissens während des Lernprozesses Diese Befunde korrelieren u. a. mit den Erkenntnissen von Tesch (2010) im Hinblick auf wenig methodische Anleitungen im Französischunterricht zum autonomen Lernen. 3 Tesch (2010) folgert in seiner Dissertation zu kompetenzorientierten Lernaufgaben im Französischunterricht, dass von der Lehrerseite her der Umsetzung innovativer Ansätze bisweilen gewisse Faktoren im Wege stehen. Darunter nennt er: das Zielkonzept „Wissen über die französische Sprache und Kultur“ und das Lehrkonzept der Lernkontrolle, das die Lernbegleitung überwiege und meist gepaart sei mit instruktivistischem und konstruktivistischem Lehrverhalten (insbesondere scaffolding ). Allerdings nicht zur Förderung von Kompetenzaufgaben, denn dort fehlen Instruktion und Diagnose. So konstatiert 3 Siehe auch unten (Kapitel IV) die Befunde zur Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht von Heyder & Schädlich (2014) und Méron-Minuth (2016). <?page no="44"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 45 er fehlende Instruktion für die Aufgabenbearbeitung, insbesondere für das autonome Arbeiten in Kleingruppen, und die Abwesenheit von expliziter Diagnose und Selbstevaluation. Bei Themen, Aufgaben und zur Verfügung stehender Zeit findet keine Lernerpartizipation statt. „An mehreren Stellen fehlte dagegen die für die Aufgabenbearbeitung notwendige Instruktion, insbesondere im Hinblick auf autonomes Arbeiten in Kleingruppen. Bemerkenswert ist die fast vollständige Abwesenheit expliziter Diagnose. Selbst explizite Diagnoseinstrumente im Aufgabenmaterial (z. B. Mehrfachantwort- und Zuordnungsaufgaben zum Lese- und Hörverstehen) wurden nicht zur Diagnose, sondern zur lehrergesteuerten Texterschließung ohne Bezug zu diagnostischen oder (selbst-) evaluativen Prozessen verwendet. Selbstevaluative Materialien wurden dem Zeitmanagement geopfert. Dies bedeutet eine starke Einschränkung hinsichtlich einer Förderung von LA, denn ohne explizite bzw. transparente Diagnose ist ein diesbezüglicher Strategienaufbau an entscheidender Stelle erschwert. Die Aufgaben- und Gestaltungskonzepte der beobachteten Lehrkräfte sahen keine Lernerpartizipation vor. Über Themen und Aufgaben sowie über die zur Verfügung gestellte Zeit entschieden allein die Lehrkräfte. […] In methodischer Hinsicht wurde, wie erwähnt, keine explizite Diagnose praktiziert und in zwei von drei Fällen fällt auf, dass wenig methodische Anleitung zum autonomen Lernen gegeben wurde, obwohl die Klassen gerade in dieser Hinsicht Bedarf zu haben schienen.“ (Tesch 2010: 356-357) Zwischenfazit Aus dem oben Gesagten lässt sich Folgendes festhalten: 1. Dem Faktorenkomplex „Lehrperson“ können Dimensionen zugeordnet werden wie: allgemeine Persönlichkeitsfaktoren, fremdsprachenbezogene Lehrerfaktoren, lernergerichtete Prämissen und Normen, methodische Prämissen und Normen und ihre Grundgedanken zur fremdsprachenmethodischen Umsetzung (Königs 1983; auch Schwerdtfeger 1988, 2000). 2. Das Unterrichtshandeln von Lehrkräften hängt stärker von den eigenen Subjektiven Theorien, den eigenen Grundgedanken und Überzeugungen und dem eigenen praktischen Erfahrungswissen ab als von Theoriewissen (z. B. Ulichny 1996; Smith 1996; Dirks 2000; Schocker-von Ditfurth 2001; Caspari 2003; Martinez 2008). Lehrkräfte beurteilen die Bedeutung und Nützlichkeit fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Konzepte vor allem aufgrund ihrer Praxiserfahrungen und ihrer Subjektiven Theorien. Didaktisches Wissen liegt insbesondere in Form von Erfahrungen vor (z. B. Smith 1996; <?page no="45"?> 46 1 Lehrperson Woods 1996; Appel 2000; Schocker-von Ditfurth 2001; Caspari 2003). An dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass in der bisherigen Lehrerforschung nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass in die Praxiserfahrungen Faktoren wie emotive Intelligenz, soziale Intelligenz, Empathie oder Einstellung zu den Lernern hineinspielen. Die in die Tiefe gehende Erforschung eines einzigen Untersuchungspartners kann daher ausgesprochen erkenntnisreich sein (Caspari 2003). Die Veränderungen von Lehrerauffassungen von Fremdsprache(n) sind entsprechend langwierig und schwierig (z. B. Caspari 2003). 3. Ein wichtiger Einflussfaktor für Lehrerauffassungen resultiert aus der eigenen Sprachlernbiografie. Sie beeinflusst das berufliche Selbstverständnis von Fremdsprachenlehrern, ihre Vorstellungen von Fremdsprachen, Fremdsprachenlernen und Fremdsprachenunterricht und letztlich ihr Unterrichtshandeln (z. B. Schocker-von Ditfurth 2001; Caspari 2003; Martinez 2008). Auch das Aufgaben- und Funktionsverständnis hat eine zentrale Bedeutung für die Konzeption und Praxis von konkretem Unterricht. Es wird stark von den individuellen Lern-, Aus- und Fortbildungserfahrungen sowie den Unterrichtserfahrungen bestimmt (z. B. Dirks 2000; Caspari 2003). Weitere Einflussfaktoren für Lehrerauffassungen können z. B. der schulische Rahmen, die Notengebung, die konkrete Situation vor Ort, die Prägung der Situation durch die Schüler, eigene berufliche und außerberufliche Erfahrungen, Auslandserfahrungen, Traditionen und Normen im Bildungskontext oder die „Philosophie“ des unterrichteten Schulfaches sein (z. B. Bromme 1992; Mey & Zimmermann 1994; Putnam & Borko 1997; Schwerdtfeger 1988, 2000; Appel 2000; Dirks 2000; Caspari 2003). 4. Beim Aufgaben- und Funktionsverständnis nehmen die Funktionen des sprachlichen Vermittlers und des Lernberaters einen zentralen Stellenwert ein (Caspari 2003). Ziel der Sprachvermittlung ist die kommunikative Kompetenz der Schüler. Als Lernberater möchten Lehrkräfte den Schülern vor allem Lern- und Arbeitstechniken vermitteln und sie durch Anleitung und Kontrolle zu regelmäßigem und systematischem Lernen anhalten, selbst wenn die Schüler von sich aus nicht dazu bereit seien (Caspari 2003). In der Auffassung von Lehrkräften dominiert bisweilen die Meinung, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung von Lehrkräften und der Autonomie von Schülern gibt. Die meisten der von Caspari (2003) <?page no="46"?> 1.1 Zur Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik 47 befragten Lehrkräfte sahen sich tendenziell als zentrale Steuerungsinstanz im Unterricht, nur eine Minderheit lässt eine gezielte Autonomieförderung erkennen. (Siehe auch Schocker-von Ditfurth zum nicht muttersprachlichen Fremdsprachenlehrer 2001; Helmke 2011 sowie Schart 2014 zur effizienten Klassenführung als Voraussetzung für erfolgreiches Lernen; Legutke & Schart 2016: 9, m. R. Hattie 2008, 2011 und Terhart 2014 zu den Herausforderungen des Fremdsprachenunterrichts durch die technologischen Umwälzungen und „dass es dabei [beim Meistern und produktiven Nutzen dieser Herausforderungen, CW] in einem erheblichen Maße auf die Lehrkraft ankomme“.) 5. Weitere Untersuchungen (z. B. Meißner 2005b; Tesch 2010) konstatieren eine oft fehlende Anleitung für die selbstständige Aufgabenbearbeitung sowie die Abwesenheit von expliziter Diagnose und Selbstevaluation. 6. Das Fehlen selbstständigerer Arbeitsformen wurde bei Caspari (2003) von der Lehrerseite mit mangelnder Bereitschaft der Schüler, zu knapper Unterrichtszeit, zu hohen Schülerzahlen pro Lerngruppe und eigenen Wissensdefiziten bezüglich des Lernens begründet. Tesch (2010) führt dieses Fehlen zurück auf das Zielkonzept „Wissen über die französische Sprache und Kultur“ und das Lehrkonzept der Lernkontrolle. Sie überwiegten die Lernbegleitung und seien meist gepaart mit instruktivistischem und konstruktivistischem Lehrverhalten (inbesondere scaffolding ). 7. Möglichkeiten für die Weiterentwicklung von Lehrkompetenz werden im Rahmen des Lernberaterkonzepts bzgl. der Rolle des Organisators von Lernprozessen ausgemacht (z. B. Caspari 2003; Tesch 2010). Im Fokus einer professionellen Aus- und Fortbildung wird insbesondere die kompetente und erforschende Reflexion gesehen, und zwar im Hinblick auf die eigene Sprachlernbiografie, die eigene Persönlichkeit in ihrem Bezug zu Lehren und Lernen, das eigene professionelle Wissen, das eigene Verständnis von Unterricht und dem eigenen Unterrichtshandeln; auch im Hinblick auf die verwendeten tools (z. B. Calderhead 1988; Gebhard 1989; Allwright & Bailey 1991; Nunan 1991b; Gutiérrez Almarza 1996; Bailey et al. 1996; Freeman 1996a, 2006; Ulichny 1996; Smith 1996; Burns 1996). Dabei sollte reflexives Lernen immer auch mit dialogischem Lernen verbunden sein, um eine „multiperspektivisch informierte Sichtweise auf das <?page no="47"?> 48 1 Lehrperson 1.2 Ausbildung „Die Fremdsprachenforschung entdeckte daher die Lehrperson als zentralen Akteur der Lehr- und Lernprozesse wieder, folgte dabei jedoch nicht der ursprünglichen Zielsetzung des Persönlichkeitsansatzes. Es konnte nicht darum gehen, die ideale Lehrerpersönlichkeit zu identifizieren. […] Vielmehr richteten sich die Forschungsbemühungen darauf, ein besseres Verständnis für das Zusammenspiel von Individualität und professionellen Kompetenzen in jeweils singulären Kontexten zu entwickeln. […] Die Herausforderung besteht deshalb darin, dem subjektiven Faktor in allen Phasen des Aus- und Fortbildungsprozesses gerecht zu werden und die Professionalisierung als eine Form der Rollenausgestaltung und Identitätsbildung zu verstehen.“ (Legutke & Schart 2016: 26) Legutke & Schart beschreiben im obigen Zitat eine Neuorientierung in der Fremdsprachenforschung, die in den 1990er Jahren begann (siehe z. B. Bailey & Nunan 1996, Voices from the language classroom) und die noch Eingang in die Aus- und Fortbildung finden muss. Die Studie von Schädlich (2015, Fachpraktika im Master of Education Französisch aus der Perspektive der Studierenden: Ein Beitrag zur Entwicklung reflexiver Handlungskompetenz? ) zeigt beispielhaft, dass die Ausbildung hier erst am Anfang steht. Das wirft die für die vorliegende Studie relevante Frage auf, wie die Gruppe der heute praktizierenden Lehrkräfte aussieht und auf welche Art der Ausbildung sie zurückblicken kann. Die Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland sind laut Statistischem Bundesamt im Schuljahr 2014/ 15 um mehr als 68 % über 40 Jahre alt und um mehr als 42 % über 50 Jahre alt (Statistisches Bundesamt 2016a; ein Jahr zuvor lag die Gruppe der über 50jährigen noch bei 44 %). Der Anteil der weiblichen Lehrkräfte liegt insgesamt bei 72 %. Rund 37 % der Lehrkräfte sind im Schuljahr 2014/ 15 in Teilzeit beschäftigt; der Anteil der Frauen liegt in diesem Segment bei 87,3 % (Statistisches Bundesamt 2016b). Fremdsprachenklassenzimmer [zu] entwickeln“ (Legutke & Schart 2016: 35; siehe z. B. auch Abel 2018: 162-164 zu „Fortbildungen mit professionellen Lerngemeinschaften“, „Reflexionsmöglichkeiten sowie Interaktion und kritischer Austausch“). Als Ziele werden die Sensibilität gegenüber den Lernern und die Flexibilität von Lehrerinnen und Lehrern formuliert, die zu einem angemessenen und LA-förderlichen Unterrichtshandeln befähigen (z. B. Edge 1994; Ziebell 1998; Krumm 4 2003). <?page no="48"?> 1.2 Ausbildung 49 Die Gruppe der heutigen Französischlehrerinnen und -lehrer an deutschen Gymnasien ist heterogen. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil der weiblichen Lehrkräfte in diesem Fach besonders hoch ist. (Siehe z. B. Pütz 2008b, dessen Erhebungen am Romanischen Seminar der Universität zu Köln 85 % weibliche Studierende konstatieren; die Zahlen korrelieren z. B. mit denen der Justus-Liebig-Universität Gießen, die in ihrer Statistik für das Wintersemester 2017/ 2018 84,9 % weibliche Studierende im Fach Französisch ausweist.) Die eigenen Schulerfahrungen (als Schüler) der Mehrheit der heutigen Französischlehrer reichen in die siebziger und achtziger Jahre zurück. Ihre zweiphasige Lehrerausbildung gliederte sich in eine erste universitäre Phase mit mehr oder weniger fachdidaktischen Anteilen (Baden-Württemberg aber beispielsweise erst ab 2015 mit wissenschaftlich-fachdidaktischen Studienanteilen; generell ohne verpflichtendes Auslandsstudium) und in eine zweite Phase mit zweijähriger Referendariatszeit mit allgemeinpädagogischer und fachdidaktischer praktischer Ausbildung. Die Ausbildung findet in meist zwei Schulfächern statt und ist auf einen bestimmten Schultyp ausgerichtet. (Siehe z. B. Kuhfuß 2010: 342. Zur Ausbildung in Ostdeutschland bis 1990 siehe I, 1.2.) Daran hat sich bis heute grundlegend nichts geändert; Forderungen gehen in Richtung einer stärkeren Koordinierung und Verzahnung der einzelnen Studienbereiche und Phasen (vgl. z. B. Bausch, Christ & Krumm 4 2003: 475). Französischlehrer unterrichten ihr Fach unter vielfältigen Rahmenbedingungen und in einem durch zahlreiche Faktoren geprägten Unterrichtskontext. Dabei spielen unter anderem die jeweiligen Lehrpläne, die Unterrichtsmaterialien, aber auch die fachdidaktische Diskussion und nicht zuletzt das Fächerwahl- und Lernverhalten der Schüler eine wichtige Rolle. Der sich weiterentwickelnde fachdidaktische Diskurs, der den Schüler als selbstständigen und eigenverantwortlichen Lerner fokussiert und der eine veränderte Rolle der Lehrkraft als Lernberater in den Blick nimmt sowie den Einsatz neuer Medien berücksichtigt, macht eine Weiterentwicklung der Lehrerausbildung notwendig (vgl. Meißner & Morkötter 2014 zur „Kompetenzorientierung als Herausforderung für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern romanischer Sprachen“). Eine dritte Phase der Lehrerfort- und -weiterbildung ist jedoch nicht systematisch angelegt. „Es gehört zu den wichtigen Erkenntnissen der Forschungen zu den Unterschieden von Novizen und Experten im Lehrberuf, dass die Länge der Berufserfahrung nicht unmittelbar zu besseren didaktischen Kompetenzen führt (Krauss/ Bruckmaier 2014: 252). Lehrende benötigen ein tiefes Verständnis für das Geschehen im Klassenraum und zugleich ein umfassendes didaktisches Handlungsrepertoire.“ (Legutke & Schart 2016: 22-23) <?page no="49"?> 50 1 Lehrperson Neben der Persönlichkeit haben die fachdidaktischen Kompetenzen einen wichtigen Einfluss darauf, wie gut eine Lehrkraft die komplexen Prozesse des Unterrichts gestaltet. Bereits die universitäre Ausbildung muss daher auf eine professionelle fachdidaktische Grundlage bei den angehenden Lehrkräften zielen. „Persönlichkeit und professionelle Kompetenz von Lehrenden entscheiden wesentlich über die Qualität von Unterricht. Während die individuellen Variablen - Geschlecht, Alter, emotive und soziale Intelligenz, menschliche Reife, Belastbarkeit (um im Schulalltag zu bestehen) u. a. m. - allenfalls schwach in der universitären Ausbildung gefördert werden können, greift der Hochschulunterricht stark auf das fachinhaltliche und fachdidaktische Wissen und Können, das Analysevermögen zur Komplexion der in einem Lernkontext lern- und lehrrelevanten Faktoren, die Fähigkeit des reflexiven Lehrens u. a. m. zu. Grundgelegt wird der beeinflussbare Anteil von Lehrkompetenz durch entsprechende fachwissenschaftliche, fachdidaktische und erziehungswissenschaftliche Studien nach den akademischen Standards der Einheit von Lehre und Forschung. In Deutschland hat dies die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK, z. B. 1998), in der EU etwa die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (z. B. 2005) mehrfach unterstrichen. Art und Qualität der Ausbildung tragen wesentlich dazu bei, wie erfolgreich eine Lehrkraft in ihrer Jahrzehnte währenden beruflichen Tätigkeit ihrem Auftrag nachkommen kann.“ (Meißner & Morkötter 2014-15: 60-61) Zur professionellen Ausbildung von Fremdsprachenlehrern äußert Meißner (2008b): „Nicht nur Experten wissen, dass der entscheidende Faktor für die Qualität von Unterricht die berufsbezogene Qualität der Lehrerbildung - der 1. und 2. Phase sowie der Lehrerfortbildung - ist.“ (Meißner 2008b: 3) Die Forderungen nach einer Professionalisierung und Berufsorientierung der bis dahin einseitig philologisch geprägten universitären Ausbildung von Fremdsprachenlehrern gehen auf den Anfang der siebziger Jahre zurück (vgl. Krumm 1973; Bludau et al. 1978). Die Folge war die Integration von fremdsprachendidaktischen, berufsfeldorientierten und schulpraktischen Studien in die erste Ausbildungsphase in Westdeutschland - dort allerdings uneinheitlich. In Ostdeutschland orientierte sich bis nahezu 1990 eine einphasige Ausbildung einheitlich am verpflichtenden Hauptfach Russisch, berufsorientierte Anteile waren erst im Hauptstudium vorgesehen. (Vgl. hierzu Bausch, Christ & Krumm 4 2003: 477.) „Eine deutschsprachige Ausbildungsforschung existiert [allerdings] erst in Anfängen“ vermerkt Trautmann noch 2010 (347; siehe z. B. auch Krumm 1993a; Krumm & Legutke 2001; Schocker-von Ditfurth 2001). In den letzten Jahren ist diese jedoch stärker in den Blick genommen worden, wie z. B. die Bei- <?page no="50"?> 1.2 Ausbildung 51 träge im 2016 erschienen Band Fremdsprachendidaktische Professionsforschung: Brennpunkt Lehrerbildung von Legutke & Schart (Hrsg.) zeigen. König & Seifert (2012) weisen, insbesondere mit Blick auf den Nachhilfeunterricht, darauf hin, dass „der Professionalisierungsprozess angehender Lehrkräfte bereits vor Eintritt in das Studium beginnt“ (König & Seifert 2012: 25; auch Schocker-von Ditfurth 2001: 346 f.). Die Erfahrungen der Schulzeit und aus weiteren pädagogischen Kontexten, spätestens die erste Phase der Lehrerausbildung, führen nach Ausweis der empirischen Lehrerforschung wesentlich zur beruflichen Identifikation. In ihrer Erhebung zeigt Schocker-von Ditfurth (2001) die Notwendigkeit auf, „die fachdidaktischen Wissensbestände für die Studierenden [schon in der Lehrerausbildung, CW] interessant und relevant werden zu lassen“ (ibid.: 104). Zuvor, 1997, übte Reinfried bereits, wie erwähnt, deutliche Kritik an Teilen der universitären Lehrerausbildung (zur heutigen Situation in Baden-Württemberg siehe unten): „Während in Nordrhein-Westfalen, Hessen und anderen Bundesländern darüber diskutiert wird, ob 16, 20 oder 24 Semesterwochenstunden Fachdidaktik (mit der Betreuung schulpraktischer Studien) unverzichtbar für den Lehramtskandidaten sind, der in der Sekundarstufe II unterrichten will, hält man in Baden-Württemberg 4 Semesterwochenstunden (und ein einziges fakultatives Praktikum) für ausreichend und ist nicht einmal bereit, diesen lächerlichen Anteil von 2,5 % Fachdidaktik am gesamten Studienumfang (im Rahmen einer Zwei-Fächer-Kombination) durch Bereitstellung der dafür erforderlichen Ressourcen zu garantieren.“ (Reinfried 1997: 213) Meißner kommt zehn Jahre später noch zu einem ähnlichen Fazit: „Eine Reihe deutscher Länder erfüllt grundlegende Qualitätskriterien für die Lehrerausbildung in der 1. Phase nicht oder nur sehr unzureichend. Sie entlässt junge Lehrerinnen und Lehrer in eine Jahrzehnte währende Praxis, ohne dass diese Einsicht in jene Wissenschaft bekommen, die ihr berufliches Handeln erforscht.“ (Meißner 2008b: 4) Ebenso Pütz, der im gleichen Jahr feststellt, dass das Studium der Fachdidaktik Französisch an deutschen Hochschulen, auch bei den neuen BA/ MA-Studiengängen und deren Modularisierung, sehr heterogen ist, sowohl in Bezug auf „Status, Anzahl und Art der Veranstaltungen“ als auch in Bezug auf den sogenannten „ workload, auf Qualifikationsnachweise“ und den „zeitlichen Anteil und den Status der Fachdidaktik in der Abschlussprüfung, einschließlich der Frage ihrer professionellen Vertretung“ (Pütz 2008a: 328-331; m. R. Vollmer 2007; auch Königs 2008: 11 und Kuhfuß 2010: 342 f.). Inzwischen wurde die universitäre Lehrerausbildung zwar weiterentwickelt (z. B. fachdidaktischer Anteil in Baden-Württemberg ab 2015), dennoch sind bis heute die fachwissenschaftlichen, <?page no="51"?> 52 1 Lehrperson fremdsprachendidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Studienanteile in den einzelnen Bundesländern recht unterschiedlich (insbes. König & Seifert 2012: 19-31 und die Ergebnisse ihrer Längsschnittstudie LEK zur Wirksamkeit der erziehungswissenschaftlichen Lehrerausbildung oder Nieweler 2017a: 269 zum uneinheitlichen Konzept des Praxissemesters im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland). Reinfried betrachtet, wie gesagt, die wissenschaftliche Fremdsprachendidaktik als notwendigen Teil eines professionellen Hochschulstudiums für angehende Lehrkräfte (m.R. Vollmer 1995). Sie müsse „ein solides Fundament an didaktischen Kenntnissen vermitteln und ein nachhaltiges Interesse an didaktischen Fragestellungen wecken“ (Reinfried 1997: 211). Dadurch könne im Bereich der didaktisch-methodischen und pädagogisch-psychologischen Kompetenzen ein lebenslanges Lernen initiiert werden und einer Distanzhaltung zur wissenschaftlichen Fachdidaktik und einem methodischen Stillstand entgegengewirkt werden. Die vom Fachverband Moderne Fremdsprachen in den Kasseler Leitlinien (1996) geforderte größere Berufsnähe der universitären Lehrerausbildung setze eine bundesweite inhaltliche Umorientierung der neusprachlichen Lehramtsstudiengänge in den Universitäten voraus. In der Deutsch- und der Englischdidaktik heben Krumm & Legutke (2001: 1125 ff.) hervor, dass ein berufsorientiertes Fremdsprachenlehrerstudium so ausgerichtet sein sollte, dass sowohl sprach- und literaturwissenschaftliche Anteile als auch sprachdidaktische und landeskundliche Elemente einzubeziehen sind, ebenso lerner- und interaktionsbezogene Aspekte und die Rolle der Lehrkraft als „Mittler zwischen den Kulturen“ - mit einer entsprechenden kompetenten Einstellung zur Mehrsprachigkeit und Interkulturalität, unter Berücksichtigung des jeweiligen Lernortes (auch Neuner 1994, Helbig 1997, Krumm 1993a, b, 1998). Bei der Einbeziehung methodisch-didaktischer Aspekte in die Lehrerausbildung heben sie die Verknüpfung von Theorie und Praxis, die Verknüpfung des fachwissenschaftlichen mit dem fremdsprachendidaktischen Studium und die Einbeziehung des forschenden Lernens bereits in der Erstausbildung hervor. Auch Schocker-von Ditfurth (2001) betont die Relevanz unterschiedlicher Wissensbereiche für die fremdsprachliche Lehrerausbildung und sieht deren reflexive Adaption und das Anbahnen professioneller Handlungskompetenz als Ziele der Ausbildung. Zu den Kompetenzbereichen zählt sie die Selbstkompetenz (lernen zu unterrichten), die Situationskompetenz (der soziale bzw. kulturelle Handlungskontext des Fremdsprachenklassenzimmers und der Schule), die Sachkompetenz (Wissen, Einstellungen, Fertigkeiten) und die Sprachkompetenz <?page no="52"?> 1.2 Ausbildung 53 (fremdsprachliche Kompetenzen und Rolle der Fremdsprache, siehe auch oben zur Rolle des nicht muttersprachlichen Fremdsprachenlehrers). Ähnlich Reinfried (1997), der sechs Bereiche nennt, die die Lehramtsstudiengänge für Fremdsprachen abdecken und miteinander koordinieren sollten: „Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft (mit medienwissenschaftlichen Anteilen), Auslandswissenschaft (mit starker Berücksichtigung der interkulturellen Problematik), Fremdsprachendidaktik, Erziehungswissenschaft (unter Einschluß von pädagogischer Psychologie) und Sprachpraxis.“ (Reinfried 1997: 212). 4 Darüber hinaus spricht er sich für eine Verzahnung der drei Phasen, insbesondere der 1. und 2. Ausbildungsphase aus. Bereits in der ersten Ausbildungsphase sollten Theorie und Praxis aufeinander bezogen werden. Ein höherer Praxisbezug wäre durch eine größere Anschaulichkeit in didaktischen Seminaren und Vorlesungen gegeben (die neben wissenschaftlichen Ergebnissen z. B. auch Schulbücher, weitere Schulmedien oder exemplarische Unterrichtsaufzeichnungen heranziehen sollten). Ebenso könnte Lehrerverhaltenstraining (z. B. in Form des Microteachings) zu mehr Praxisnähe beitragen. Eine weitere wichtige Möglichkeit sei die der schulpraktischen Studien, Praktika mit der Begleitung von Hochschullehrern. „Den Berufsbezug in den neusprachlichen Studiengängen auf wissenschaftliche Weise sicherzustellen: Das ist, zusammenfassend formuliert, die Hauptaufgabe der Fachdidaktiken.“ (Reinfried 1997: 219) Auch König & Seifert betonen die wichtige Funktion einer Kombination von Theorie und Praxis: „Das erziehungswissenschaftlich begleitete Praktikum wirkt sich nachweislich auf das pädagogische Unterrichtswissen und das bildungswis- 4 Für das Curriculum einer schulbezogenen Fremdsprachendidaktik nennt Reinfried (1997) folgende relevante Bereiche (u. a. m. R. Weller 1979 und Meißner 1995a): gesellschaftlicher Kontext von Fremdsprachenunterricht, Lernziele und Stellung des Unterrichts in der jeweiligen Fremdsprache im Fächerkanon, personale Faktoren (Rolle des Fremdsprachenlehrers, Fremdsprachenschüler und ihre Motivation), Fremdsprachenerwerbstheorie, Methodenkonzeptionen, Lehrverfahren und Lerntechniken, fremdsprachenunterrichtsbezogene Mediendidaktik (Lehrwerke, visuelle Medien, auditive Medien, Filme, CALL bzw. Multi-Media), fremdsprachenunterrichtsbezogene Literaturdidaktik und Sprachwissenschaft, Möglichkeiten und Formen von Ergebniskontrollen und Beurteilung der Schüler, Landeskundedidaktik und interkulturelles Lernen und Unterrichtsanalyse (Klassenzimmer-Diskurs, Sozialformen bei Unterrichtsaktivitäten, Unterrichtssprache). Diese sollten nach Reinfried (1997) einen Anteil zwischen 8 und 16 Semesterwochenstunden pro Studienfach in der ersten Phase der Ausbildung ausmachen, wobei er darauf hinweist, dass die Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (1995) einen Anteil von mindestens 20 %, also 16 Semesterwochenstunden pro Studienfach, für die Fachdidaktik/ Sprachlehrforschung fordert. <?page no="53"?> 54 1 Lehrperson senschaftliche Wissen der angehenden Lehrkräfte aus.“ (König & Seifert, Hrsg. 2012: 28) Siehe auch die Ergebnisse von Schocker-von Ditfurth (2001) unten, die in ihrer Studie nachweist, dass sich durch ein Fachpraktikum mit begleitenden Seminaren in der ersten Ausbildungsphase „eine gleichermaßen praxis- und forschungsorientierte Lehrerausbildung verwirklichen lässt“ (Schocker-von Ditfurth 2001: 11). 2008 konstatiert Pütz zwar eine zwischenzeitlich stärkere Bemühung der Hochschulen hinsichtlich einer verbesserten fachdidaktischen und praktischen Vorbereitung der Lehramtsstudenten, aber auch eine notwendige Optimierung der fremdsprachlichen Kenntnisse der Studierenden des Französischen, denen förderungsbedürftige Kompetenzen im Wortschatzbereich und beim sprachlichen Ausdruck bescheinigt wird (vgl. Pütz 2008b: 369-373; u. a. m. R. Meißner 2002a und Tschirner 2004). Siehe auch die Studie von Bürgel & Siepmann (2010) zu Wortschatz- und Hörverstehenskompetenzen und ihre Empfehlung, zu Beginn des Studiums bei den Studierenden zunächst eine Konsolidierung des Grundwortschatzes vorzunehmen und dann gezielt Auf- und Ausbauwortschatz einzuführen sowie das Hörverstehen durch authentisches Hörmaterial und eine systematische Schulung von Hörverstehensstrategien zu fördern. Darüber hinaus regen sie an, am Ende des Studiums einen verpflichtenden Mindestwortschatz vorzuschreiben und valide zu testen. Universitäre Studien- und Prüfungsordnungen sollten sprachliche Mittel und zu erreichende kommunikative Fertigkeiten konkretisieren und verpflichtend festschreiben. Pütz fordert mit Meißner et al. und Vollmer (Meißner, Königs et al. 2001; Meißner 2007a; Vollmer 2007): „- eine substanzielle Einführung in die Theorie des Lehrens und Lernens fremder Sprachen […]. - eine systematische Förderung von Lernstrategien. - eine Erweiterung der unterrichtspraktischen Versuche. - eine kontinuierliche begleitende Vertiefung und Erweiterung der fremdsprachlichen Kenntnisse.“ (Pütz 2008b: 369) Die Ergebnisse von Martinez (2008) untermauern diese Forderungen. Martinez kommt in ihrer Studie über Lehramtsstudierende in Bezug auf die universitäre Fremdsprachenausbildung u. a. zu folgenden Ergebnissen: 1. Es findet „eine starke Fokussierung auf die Einzelsprachendidaktik“ statt, obwohl dem Französischen die Rolle einer Brückensprache für andere romanische Sprachen zukommt (Martinez 2008: 293-294; m. R. Caparelli 2003, Böing 2004, Bär et al. 2005, Bär 2006, Legutke 2006). <?page no="54"?> 1.2 Ausbildung 55 2. Die Förderung der interaktiven Kompetenz sowie die Entwicklung der Reflexion (language learning awareness) ist bei fortgeschrittenen Französischlernern unzureichend. Ein Zusammenhang wird mit dem Fehlen an zufrieden stellenden Evaluierungsinstrumenten gesehen (Martinez 2008: 291; m. R. Pekarek Doehler 2000). 3. Die Selbstständigkeit der Lernenden wird nur unzureichend gefördert (Martinez 2008: 294; m. R. Caspari 2001, 2003). 4. Die Unterstützung einer metakognitiven Steuerung bzw. die Beschäftigung mit Fremdsprachenlernprozessen ist defizitär (Martinez 2008: 307). 5. Bei der Definition von LA werden bestimmte Aspekte ausgeklammert, wie z. B. die Kontrolle über die Lernprozesse: „LA wird in den Definitionen der Studierenden auf die Kontrolle von Lernorganisation, überwiegend im Sinne der Individualisierung von Lernwegen und im Sinne von Methodenkompetenz reduziert. Allenfalls umfasst LA die Kontrolle der Lerninhalte. Die anderen in der Literatur identifizierten Kontrollebenen, einschließlich der an Sprachverarbeitung gebundenen Kontrolle über die Lernprozesse, bleiben weitgehend ausgeklammert. LA ist mit Wertvorstellungen verbunden, denen man sich schwer entziehen kann, andererseits ist LA im schulischen Fremdsprachenunterricht schwer erreichbar.“ (Martinez 2008: 305) 6. Martinez (2008: 298-299) konstatiert außerdem, dass ihre Studie die Befragten erst dazu anregte, Fremdsprachenlernen und Fremdsprachenunterricht zu reflektieren und sich bewusst zu machen, und geht davon aus, dass die durch die Studie implizit angeregte Selbstreflexion und Bewusstmachung sinnvoll waren. „(Teil-)Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass die Studierenden durch die Forschungsfragen und das Forschungsarrangement zum Nachdenken über eigene und fremde Lernprozesse angeregt wurden. Ferner kann auf der Grundlage studentischer Aussagen angenommen werden, dass die Selbstreflexion und die Bewusstmachung, die implizit durch diese Studie angeleitet wurden, sinnvoll sind.“ (Martinez 2008: 298-299) Im Anschluss an ihren Beschluss von 2004 zu den Standards für die Lehrerbildung legt die KMK 2008 in ihren ländergemeinsamen Anforderungen für die Lehrerausbildung eine grundlegende fachdidaktische Ausrichtung für die erste Phase der Lehrerausbildung fest: „ Diese Kompetenzen werden während der verschiedenen Phasen der Lehrerbildung und in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen erworben: <?page no="55"?> 56 1 Lehrperson 1. Grundlegende Kompetenzen hinsichtlich der Fachwissenschaften, ihrer Erkenntnis- und Arbeitsmethoden sowie der fachdidaktischen Anforderungen werden weitgehend im Studium aufgebaut. 2. Die Vermittlung mehr unterrichtspraktisch definierter Kompetenzen ist hingegen vor allem Aufgabe des Vorbereitungsdienstes; zahlreiche Grundlagen dafür werden aber schon im Studium gelegt bzw. angebahnt. 3. Schließlich ist die weitere Entwicklung in der beruflichen Rolle als Lehrerin oder Lehrer Aufgabe der Fort- und Weiterbildung. “ (KMK 2008: 3; Hervorhebungen im Original) Die Fachdidaktik der Fremdsprachen wird dabei wie folgt umrissen: „- Theorien des Sprachlernens und individuelle Voraussetzungen des Spracherwerbs - Theorie und Methodik des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts einschließlich der Messung, Evaluierung und Förderung von Schülerleistungen; theoriegeleitete Analyse von Lehr- und Lernmaterialien - Theorien, Ziele und Verfahren des sprachlichen und interkulturellen Lernens und deren Umsetzung im Unterricht - Literatur-, text-, kultur- und mediendidaktische Theorien, Ziele und Verfahren - Fachdidaktische Besonderheiten in einzelnen Fremdsprachen - Anforderungen an bilinguales Lernen und Lehren“ (KMK 2008: 41) Ein anschlussfähiges fachdidaktisches Wissen soll im Studium neben anschlussfähigem Fachwissen und den Erkenntnis- und Arbeitsmethoden der Fächer aufgebaut werden: „Über anschlussfähiges fachdidaktisches Wissen verfügen Studienabsolventinnen und -absolventen - haben ein solides und strukturiertes Wissen über fachdidaktische Positionen und Strukturierungsansätze und können fachwissenschaftliche bzw. fachpraktische Inhalte auf ihre Bildungswirksamkeit hin und unter didaktischen Aspekten analysieren; - sind in der Lage, komplexe Sachverhalte adressatengerecht, auch in einfacher Sprache darzustellen; - kennen und nutzen Ergebnisse fachdidaktischer und lernpsychologischer Forschung über das Lernen in ihren Fächern bzw. Fachrichtungen; - kennen die Grundlagen fachbzw. fachrichtungs- und anforderungsgerechter Leistungsbeurteilung; - haben fundierte Kenntnisse über Merkmale von Schülerinnen und Schülern, die den Lernerfolg fördern oder hemmen können und darüber, wie daraus Lernumgebungen differenziert zu gestalten sind. <?page no="56"?> 1.2 Ausbildung 57 Mit dem Vorbereitungsdienst sollen folgende Kompetenzen erreicht bzw. weiterentwickelt werden: - fachliches bzw. fachrichtungsspezifisches Lernen planen und gestalten, - Komplexität unterrichtlicher Situationen bewältigen, - Nachhaltigkeit von Lernen fördern, - Fachbzw. fachrichtungsspezifische Leistungsbeurteilung beherrschen, - Unterricht in heterogenen Lerngruppen planen, durchführen und analysieren, - die Fähigkeit in multiprofessionellen Teams zu kooperieren. Schließlich sollen sich Lehrerinnen und Lehrer durch Fort- und Weiterbildung fachlich und persönlich in der Rolle als Lehrerin bzw. Lehrer weiterentwickeln.“ (KMK 2008: 4; Hervorhebungen im Original) Das Profil eines Fremdsprachenlehrers wird von der KMK u. a. mit folgenden Kompetenzen beschrieben: „Die Studienabsolventinnen und -absolventen verfügen über Kompetenzen in der Fremdsprachenpraxis, der Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Kulturwissenschaft sowie in der Fachdidaktik. Der schulische Fremdsprachenunterricht erfordert, dass die Studienabsolventinnen und -absolventen das im Studium erworbene Wissen systematisch abrufen und ihre Kompetenzen unterrichtsbezogen einsetzen können. Sie […] - verfügen über Erkenntnis- und Arbeitsmethoden des jeweiligen Fachs sowie über einen Habitus des forschenden Lernens, […] - können fachliche und fachdidaktische Fragestellungen und Forschungsergebnisse wissenschaftlich adäquat und reflektiert darstellen sowie die gesellschaftliche Bedeutung der Disziplin und des Fremdsprachenunterrichts in der Schule analytisch beschreiben, - kennen die wichtigsten Ansätze der Sprach-, Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik und können diese für den Unterricht nutzen, - verfügen über ausbaufähiges Orientierungswissen und Reflexivität im Hinblick auf fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse auch unter dem Gesichtspunkt von Mehrsprachigkeit - verfügen über vertieftes Wissen zur Entwicklung und Förderung von kommunikativer, interkultureller und textbezogener fremdsprachlicher Kompetenz, methodischer Kompetenz und Sprachlernkompetenz von Schülerinnen und Schülern - verfügen über erste reflektierte Erfahrungen in der kompetenzorientierten Planung und Durchführung von Unterricht in modernen Fremdsprachen und kennen Grundlagen der Leistungsdiagnose und -beurteilung im Fach.“ (KMK 2008: 39) <?page no="57"?> 58 1 Lehrperson Hallet weist darauf hin, dass solche Kompetenzprofile zur Professionalisierung der Lehrerbildung beitragen, allerdings nicht ohne Weiteres messbar seien (Hallet 2010: 351; m. R. Schocker-von Ditfurth 2008: 130 f.). In diesem Zusammenhang hebt er das auf Selbsteinschätzungen basierende Modell Osers (2001) hervor: „Das wegweisende Modell Osers (2001) hingegen beschreibt und reflektiert die eigene Genese explizit. Es beruht auf einer Erfassung von professionellen Selbsteinschätzungen von Lehrertätigkeiten, die in der Schweiz empirisch erhoben, systematisiert, theoretisiert und dann in Professions-Standards überführt wurden (vgl. Hallet 2006: 29 f.).“ (Hallet 2010: 351) Insbesondere sollten die Subjektiven Theorien der Studierenden von Anfang an in die Ausbildung miteinbezogen werden. Ihre Einstellungen und ihr Wissen sollten nach Schocker-von Ditfurth (2001: 9) unter den Aspekten der Selbsterfahrung (biografische Erfahrungen), der Situationserfahrung (Unterrichtssituation) und der Sacherfahrung (fremdsprachendidaktisches Wissen) berücksichtigt werden. Und es sollte den Studierenden bereits in der ersten Phase der Ausbildung ein „forschender und damit verstehender Zugang zum Fremdsprachenklassenzimmer“ geboten werden (Schocker-von Ditfurth 2001: 387). Schocker-von Ditfurth untersuchte im Sommersemester 1997 und im Wintersemester 1997/ 98 das berufliche Selbstverständnis und die Entstehung des für das zukünftige Unterrichtshandeln so wichtigen Lehrerwissens bei angehenden Englischlehrern im Rahmen eines Fachpraktikums an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Es handelte sich um zwei Praktikumsgruppen mit insgesamt 16 Teilnehmern (aus unterschiedlichen Bundesländern) des Lehramtes für Haupt- und Realschulen. Schocker-von Ditfurth kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund von eigenen individuellen Lernerfahrungen Subjektive Theorien zum Lernen und Lehren entwickelt werden, die einen hohen Stellenwert einnehmen (siehe oben) und durch die traditionelle Lehrerausbildung nicht grundsätzlich verändert werden können (Schocker-von Ditfurth 2001: 46-56, 256-257). Sie zeigt, dass bei der Ausbildung die von den Studierenden mitgebrachten Subjektiven Theorien durch seminarbegleitete Praktika (forschendes, reflektierendes und praxisbezogenes Lernen) systematisch berücksichtigt und bewusst gemacht werden müssen, um sie weiterentwickeln zu können. Der forschende Zugang auf die Praxis und die Praktikumserfahrungen waren „Schlüsselerfahrungen“ für die Studierenden, die zu einer grundsätzlichen Orientierung und zu einer Weiterentwicklung des beruflichen Selbstverständnisses der angehenden Lehrkraft geführt haben. (Zum Stichwort „critical incident“ verweist Schocker-von <?page no="58"?> 1.2 Ausbildung 59 Ditfurth auf Measor 1985; zu den Meinungen und Einstellungen von Lehramtsstudenten siehe z. B. Quetz 1998.) Im Einzelnen fordert Schocker-von Ditfurth im Sinne einer berufs- und wissenschaftsorientierten fremdsprachlichen Lehrerbildung und im Sinne von Verfahren, die durch ein reflektiertes Erfahrungslernen und forschendes Lernen gekennzeichnet sind, folgende hochschuldidaktische Entwicklungen (Schockervon Ditfurth 2001: 387-400): „1. Klassenforschungsorientierte Komponenten in weiteren Seminarveranstaltungen berücksichtigen und die Erziehungswissenschaft in die gemeinsame Entwicklungsarbeit einbeziehen.“ Die Studierenden sollen zu einem klassenzimmerbezogenen Reflexions- und Forschungsprozess befähigt werden, indem sie ethnografische Datenerhebungs-, auswertungs- und -präsentationsverfahren kennenlernen. „2. Fremdsprachendidaktische Wissensbestände in die biografische und praxisbezogene Auseinandersetzung einbeziehen.“ Die Haltung der Studierenden ist teilweise antiwissenschaftlich und theoriefeindlich (ibid.: 91-100, 346-347). Fachdidaktisches Wissen wird als nicht relevant für die personenbezogene Bewältigung einer komplexen Unterrichtspraxis angesehen, es wird praktischem Erfahrungswissen gegenüber als unterlegen eingestuft. Das Interesse der Studierenden für fachdidaktische Wissensbestände kann geweckt werden, wenn diese ausgehend von der Reflexion über das eigene Erfahrungswissen zur Problemlösung in der konkreten praktischen Sprachlernsituation vor Ort hinzugezogen werden. Auf ein überschaubares Angebot an fachdidaktischen Wissensbeständen ist dabei zu achten (ibid.: 127, 258-262). Ziel ist das situativ angemessene Urteilen und Handeln in komplexen Unterrichtssituationen und damit die Entwicklung eines „lokal relevanten Praxiswissens“ (ibid.: 84, 261). „3. Fremdsprachendidaktische Fragestellungen im Zusammenhang eines pädagogischen Gesamtkonzeptes reflektieren und weiterentwickeln.“ Die Studierenden sollen, möglichst in längeren Blockpraktika, eine pädagogisch orientierte, reflektierende Grundhaltung entwickeln, die auch vom gesamten Lehrerteam einer Schule getragen wird, und die Perspektive der Schüler im Sinne der Organisation von schülerorientierten Lernprozessen und einer gemeinsamen Verantwortung für den Unterricht miteinbezieht (m.R. Zydatiß 1998; Meyer 1997; Johnson 1996). Das Führen eines pädagogischen Tagebuchs soll die reflexive Arbeit unterstützen und zur Professionalisierung der Studierenden beitragen. Die Lernpro- <?page no="59"?> 60 1 Lehrperson zesse folgen einem Dreischritt, indem die Studierenden zunächst ihr persönliches Erfahrungswissen zu einer Aufgabenstellung notieren, sich danach mit fachdidaktischer Literatur auseinandersetzen und schließlich das unterrichtliche Situationswissen (Unterrichtsbeobachtung und Fragen an den Betreuungslehrer) hinzuziehen. Da schülerorientierte und lernprozessorientierte Verfahren in den Sprachlernbiografien der Studierenden keine Rolle spielten, fehle ihnen die Vorstellung, wie Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative der Schüler konkret gefördert werden könnten. Hier müssten in der Ausbildung praktikable Beispiele entwickelt und die Unterrichtsplanung offen und flexibel gestaltet werden (Schocker-von Ditfurth 2001: 251, 261, 393). Auch sollten die Erkenntnisse über Wissen und Handeln Teil der Ausbildung sein, im Sinne einer realistischen Sicht auf die eigenen professionellen Entwicklungsmöglichkeiten: „Vielen ist nicht bewusst, dass es keine gradlinige Übertragung von Reflexionswissen in pädagogisches Handeln gibt.“ Zum Beispiel sollten die Studierenden bewusst dazu angeleitet werden, ihre, durch die eigenen Lernerfahrungen geprägten, Handlungsroutinen auf ihre unterrichtliche Angemessenheit hin zu reflektieren und zu analysieren, ebenso über Themen nachzudenken wie über die Rolle der Zielsprache im Fremdsprachenunterricht. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das Dilemma zum komplexen Professionswissen von Lehrkräften gehört. Es gilt demnach, „Dilemmas als adäquate Grundstruktur des Lehrerhandelns zu akzeptieren.“ (ibid.: 89, 268, 355-366; u. a. m. R. Schön 1983; Fullan 1993: 25 ff.) „4. Das Prinzip forschenden und reflektierten Erfahrungslernens mit dem Prinzip des Modelllernens verbinden.“ Da die Studierenden in ihrer eigenen Sprachlernbiografie kaum kommunikativen, schülerorientierten und autonomiefördernden Fremdsprachenunterricht erlebt haben (Schocker-von Ditfurth 2001: 219-228, 240, 262) oder auch durch ihre schulische Betreuung oft wenig innovative Ansätze kennenlernen (ibid.: 106-108), brauchen sie praktikable Alternativmodelle und positive Rollenvorbilder, an denen sie sich orientieren können (m.R. Johnson 1994; Calderhead 1991). Angebrachte, individuell abgestimmte Kompensationsangebote sieht Schocker-von Ditfurth z. B. in den Bereichen „Umgang mit Fehlern“, „Selbstbewertung“, „schülerorientierte und handlungsbezogene Aufgabenstellungen“, „Entwicklung interkultureller Kompetenzen“ und „Förderung von Sozial- und Interaktionskompetenzen“ (Schocker-von Ditfurth 2001: 262-265. Siehe auch Nieweler 2017a: 269-270 zur personenorientierten Beratung bzw. zum Coaching von Referendaren und Praktikanten, u. a. m. R. König 2013). <?page no="60"?> 1.2 Ausbildung 61 Hierzu ist eine entsprechende Lehrkompetenz der universitären Praktikumsbetreuer notwendig und eine entspannte sowie personenbezogene Auseinandersetzung mit den Inhalten im Seminar förderlich. Ebenso sollten die schulischen Betreuer in die gemeinsame Entwicklungsarbeit vertrauensvoll einbezogen werden. „Beispielsweise können fachdidaktische Wissensbestände ausgehend von den Praxisbedingungen angeboten werden, indem sie die Angebote des Lehrwerks, das in unserem schulischen Kontext in der Regel Grundlage der unterrichtlichen Arbeit ist, durchgängig in die Reflexion einbeziehen.“ (ibid.: 109, 386) „5. Den Studierenden Unterstützungsangebote bieten und sie zu einem verstehenden Zugang auf ihr Praxisfeld anleiten.“ Die Studierenden benötigen eine gezielte Anleitung, wie sie fachdidaktisches Wissen in ihre Reflexionen über Unterricht einbeziehen können. Hierzu müssen die Hochschullehrenden z. B. die Fähigkeit zur Teamentwicklung oder die Anleitung zum selbstständigen Lernen kompetent beherrschen. Außerdem sollte für die Studierenden eine unterstützende, die Risikobereitschaft fördernde Lernatmosphäre geschaffen werden. „Die Dauer der Auseinandersetzung mit fachdidaktischen Wissensbeständen in Verbindung mit einem Praxisfeld ist für den Erfolg der Ausbildungsmaßnahme entscheidend.“ (Schocker-von Ditfurth 2001: 399) Fachdidaktisches Wissen sollte auch nach Königs (2008: 9-32) theoretisch durchdrungen und handelnd erfahrbar gemacht werden. Darunter sind u. a. ein „forschender und verstehender Zugang zum Fremdsprachenunterricht“ zu verstehen, eine „integrative Verarbeitung biografischer, unterrichtlicher und fachlicher Wissensbestände“, „reflektiertes Modelllernen in Praktika und Vorbereitungsdienst“ und „didaktisch-methodische Standards wie Kontextorientierung, Problemlösestrategien und Projektorganisation“ (Kuhfuß 2010: 345; siehe auch Trautmann 2010: 347). Auch regt Königs (2008) Schnittstellenmodule an mit einer Konzentration auf den gemeinsamen Bereich des Fremdsprachenunterrichts, z. B. zwischen Fremdsprachendidaktik und Linguistik. Weiter spricht er sich für Schwerpunktsetzungen im Studium aus, und zwar durch profilbildende Optionalmodule, wie z. B. Mehrsprachigkeit oder Neue Medien. König & Seifert (2012) konstatieren in ihrer Studie zur erziehungswissenschaftlichen Lehrerausbildung in den ersten vier Semestern, dass Lehramtsstudierende pädagogisches Professionswissen insbesondere über die Beschäftigung mit unterrichtsbezogenen Themen erwerben, dass jedoch Partizipation, das Erheben von Daten, forschendes Lernen, Kenntnisse zu Erziehen oder <?page no="61"?> 62 1 Lehrperson Innovieren, der systematische Aufbau von handlungsleitenden Kognitionen oder das Beurteilen von Lernleistungen kaum zum Studium gehören (König & Seifert, Hrsg. 2012: 20-23). Wernsing (2008) betont darüber hinaus, dass zur Lehrerausbildung nicht nur die Beherrschung der französischen Sprache („conditio sine qua non“), sondern auch die Kenntnisse von Kultur und Literatur gehören. 5 Er befürwortet die Verpflichtung zu einem Studienjahr in Frankreich und benennt die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen als wichtigste Qualifikation einer Lehrkraft. „Das Versprechen, alles für die Ausbildung des Lehrerberufs Notwendige bereitzustellen, kann die Hochschule ohnedies nicht einhalten, dazu ist das Wissen zu umfangreich geworden. Dies umso weniger, als im Gefolge von Bologna eine Verkürzung der Studienzeit ins Haus steht. Man muss sich vielmehr darauf verlassen, dass der Lehrer auch nach der Universität noch lernt und lernen will, was übrigens die wichtigste Lehrerqualifikation ist.“ (Wernsing 2008: 378) 5 So weist auch Caspari (2003: 245-247; u. a. m. R. Edelhoff 1987, Baumgratz-Gangl 1990, Krumm 1993b, Meißner 1994b) darauf hin, dass die Funktion des Lehrers als kultureller (Ver-)Mittler vielfältige Anforderungen mit sich bringt, und zwar hinsichtlich seines Aufgaben- und Funktionsverständnisses, seiner Haltungen, Kenntnisse und Fähigkeiten. Dies setze eine profunde Ausbildung, kontinuierliche Fortbildung und entsprechende interkulturelle Erfahrungen voraus, z. B. durch längere Arbeits- oder Studienaufenthalte in den Zielsprachenländern. Zwischenfazit Zur „professionellen Ausbildung von Fremdsprachenlehrern“ lässt sich festhalten: Die Erfahrungen aus der Schulzeit, aus weiteren pädagogischen Kontexten und aus der ersten Phase der Ausbildung tragen wesentlich zur beruflichen Identifikation bei (u. a. Ehlers & Legutke 1998; Schocker-von Ditfurth 2001; König & Seifert 2012). Bis heute sind die fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Studienanteile in den einzelnen deutschen Bundesländern recht heterogen (z. B. Vollmer 2007; Pütz 2008a; Königs 2008; Kuhfuß 2010; Hallet 2010; König & Seifert, Hrsg. 2012; Nieweler 2017a). Im Hinblick auf eine berufs- und wissenschaftsorientierte fremdsprachliche Lehrerbildung im Sinne des reflexiven Lehrens, das zur Anleitung reflexiven Lernens befähigt, wird für die Lehrerausbildung beginnend ab der ersten Phase gefordert: <?page no="62"?> • Optimierung und Überprüfung der fremdsprachlichen Kompetenzen, Vertiefung und Erweiterung der landeskundlichen Kenntnisse (z. B. Krumm & Legutke 2001; Meißner 2002a; Tschirner 2004; Pütz 2008b; Wernsing 2008; Bürgel & Siepmann 2010). • Systematischer Einbezug der wissenschaftlichen Fremdsprachendidaktik als notwendiger Teil eines professionellen Hochschulstudiums für angehende Lehrkräfte; fachdidaktisches Wissen sollte theoretisch durchdrungen und handelnd erfahrbar gemacht werden (z. B. Vollmer 1995; Reinfried 1997; Meißner, Königs, Leupold, Reinfried & Senger, Red. 2001: 212-224; auch in: Königs, Hrsg. 2001: 159-181; KMK 2008). • Stärkere Förderung hinsichtlich des anschlussfähigen fremdsprachendidaktischen Wissens, u. a. das Wissen über ∘ die Förderung der interaktiven Kompetenz der Lernenden ∘ die Förderung ihrer Selbstständigkeit ∘ Einsicht in Fremdsprachenlernprozesse und Möglichkeit zur Steuerung derselben ∘ Einsicht in die Entwicklung von reflexivem Lernen (language learning awareness) ∘ Förderung von Mehrsprachigkeit im Sinne des interkomprehensiven Ansatzes ∘ die Rolle des Französischen als Brückensprache (Pekarek Doehler 2001; Caspari 2001, 2003; Klein 2002; Caparelli 2003; Böing 2004; Bär et al. 2005; Bär 2006; Martinez 2008). • Ausrichtung des Studiums: Verknüpfung fachwissenschaftlicher und fremdsprachendidaktischer Studien unter Einschluss erziehungswissenschaftlicher Anteile, und begleitet von einem forschenden und damit verstehenden Zugang zu den Lernern und zum Fremdsprachenklassenzimmer; erste reflektierte Erfahrungen in der kompetenzorientierten Planung und Durchführung von Unterricht sollen ermöglicht und professionelle Handlungskompetenz soll angebahnt werden (z. B. Krumm 1993b, 1998; Helbig 1997; Krumm & Legutke 2001; Schocker-von Ditfurth 2001; Königs 2008; KMK 2008; Kuhfuß 2010; König & Seifert 2012). Dies setzt in Bezug auf die Studierenden die Berücksichtigung ihrer subjektiven Theorien voraus, und zwar unter den Aspekten ∘ Selbsterfahrung (Lernerbiografien) ∘ Umgang mit pädagogischen Situationen (auch Unterrichtssituationen) 1.2 Ausbildung 63 <?page no="63"?> 64 1 Lehrperson ∘ Einsatz von fremdsprachendidaktischem Wissen, insbesondere zum Punkt reflexives Lehren und Lernen Entsprechende Qualifikationen sollten durch seminarbegleitete Praktika (forschendes, reflektierendes Lernen) regelmäßig bewusst gemacht werden; es gilt, fremdsprachendidaktische Wissensbestände in die biografische und praxisbezogene Auseinandersetzung einzubeziehen, um die subjektiven Theorien weiterentwickeln zu können (z. B. Schocker-von Ditfurth 2001; Martinez 2008; Königs 2008; Kuhfuß 2010). • Eine größere Berufsnähe und Verknüpfung von Theorie und Praxis durch Integration von schulpraktischen Studien und längeren Blockpraktika mit begleitenden Seminaren; fremdsprachendidaktische Fragestellungen sollen hier im Zusammenhang eines pädagogischen Gesamtkonzeptes reflektiert und konkret weiterentwickelt werden (u. a. Fachverband Moderne Fremdsprachen 1996; Johnson 1996; Reinfried 1997; Meyer 1997; Zydatiß 1998; Schocker-von Ditfurth 2001; König & Seifert, Hrsg. 2012). • Das Prinzip forschenden und reflektierten Erfahrungslernens mit dem Prinzip des Modelllernens verbinden, in Praktika und Vorbereitungsdienst; Unterstützungsangebote sollten den Studierenden und Referendaren personenorientiert, individuell beratend angeboten werden (z. B. Calderhead 1991; Johnson 1994; Schocker-von Ditfurth 2001; Königs 2008; Kuhfuß 2010; Nieweler 2017a). 1.3 Fortbildung und Praxis Lehrerfortbildung wird seit Jahrzehnten als eine dritte Phase der Lehrerbildung gesehen. Sie umfasst potenziell das gesamte Berufsleben der Lehrerinnen und Lehrer. „Neben die persönliche Tätigkeit (wie reflektierende Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Studium von Fachliteratur, Gespräch mit Kollegen) tritt die veranstaltete Fortbildung. […] Der rationalistischen Vorstellung vom Wissenstransfer durch Lehrerfortbildung entsprach in der Regel eine dreischrittige Vermittlungsform: (i) der Vortrag durch einen ausgewiesenen Experten, (ii) die anschließende Diskussion und (iii) die erwartete praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse durch die Lehrenden. Auch wenn derartige Konzepte in den letzten Jahren immer wieder kritisiert worden sind, <?page no="64"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 65 ist die klassische Trias keinesfalls aus der Fortbildungspraxis verschwunden.“ (Krumm & Legutke 2001: 1131-1132) Zur Lehrerfortbildung und ihrer Weiterentwicklung gehört neben der Optimierung der Konzepte auch die Berücksichtigung des sich verändernden Kontextes, in dem Unterricht heute stattfindet. Diesen greift der Kongress von Tours 1996 auf (L’enseignement de deux langues partenaires / Der Unterricht zweier Partnersprachen) und thematisiert den europäischen Kontext, in dem Fremdsprachenunterricht steht, ebenso die unterschiedlichen Lehr- und Lernkontexte sowie die neuen Technologien (Letzelter & Meißner, Hrsg. 1998a, b): - So spricht sich Coste (Coste & Schwerdtfeger 1998: 110, 111) angesichts des außerschulischen Kontextes mit seinen diversifizierten fremdsprachlichen Zugängen und Anforderungen und angesichts einer zunehmenden Vorherrschaft des Englischen für eine „gestion du multiple“ und eine „culture cumulative d’apprentissage“ aus, ein diversifiziertes schulisches Angebot zur Förderung von mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz, unter der Berücksichtigung von Nachbarsprachen. - Bergmann (1998: 565) geht in seinem Beitrag auf das Unterrichten im Zeitalter neuer Technologien ein, einem Zeitalter, in dem „ein unermüdlicher Strom medialer Kommunikationen fließt, […] ein Strom von dichten, verengten, alle Sinne umfassenden Kontakten, in der ein authentisches Selbst in unserem erwachsenen Verständnis nur noch begrenzt zu agieren versteht und die es weder beeinflussen noch gar behindern kann.“ Das Lernen mit auf neuen Technologien basierenden Medien bedarf zudem eigener Lernstrategien, wie Raabe beim selbstgesteuerten Fremdsprachenlernen mit audiovisuellen Texten zeigt (1998: 633-650). (Siehe auch unten, Lernerautonomie und digitale Medien.) - Für die Lehrerbildung (in Frankreich) konstatiert Ott (1998: 657, 666) „immer umfangreicher werdende Listen von Teilkompetenzen, die als Anforderungsprofile von Lehrern in einer sich rasant verändernden Welt erstellt werden“. Angesichts dieser Anforderungen sieht er einen großen Reformbedarf, angefangen „in der Hochschuldidaktik in Richtung Lernerzentriertheit und Lernerautonomie“. Autonomie wird auch von Ribisch (1998: 671) in seinem Bericht über das SBP thematisiert (School-Based Project oder „Standortbezogenes Projekt“), einer Fortbildung von Englischlehrern in Eigenorganisation. SBP hat sich seit dem Schuljahr 1991/ 92 an ca. 20 Gymnasien in Wien entwickelt, und zwar aus der Unzufriedenheit mit den gängigen Konzepten für die Lehrerweiterbildung heraus. „SBP verwendet ‚Mittler‘ (‚Facilitators‘), es zielt auf Teambildung <?page no="65"?> 66 1 Lehrperson [Hervorhebung, CW] ab und betont den prozeßhaften Charakter von SCHILF (schulinterne Lehrerfortbildung).“ Krumm & Legutke (2001) nennen unter den Aspekten, die für eine konzeptionelle Erneuerung der Lehrerfortbildung und eine Erweiterung der Lehr- und Lernformen sprechen, ebenso den Handlungskontext der Lehrenden und die relevanten Teilgruppen, z. B. alle Fremdsprachenlehrer einer Schule und Vertreter der Schulleitung, die bei einer Fortbildung direkt miteinzubeziehen sind (m.R. Ehlers & Legutke 1998; Oswald 1990). Demnach ist Lehrerfortbildung nicht nur auf die einzelne Lehrkraft zu beziehen, sondern auch auf das mit ihr arbeitende Lehrerteam an ihrer Schule. Die „notwendige kooperative Dimension, die der Veränderung sozialer Organisationen inhärent ist“ wird bereits 1998 von Ehlers & Legutke betont (1998: 13; siehe z. B. auch Schocker-von Ditfurth 2001: 125). Die KMK hat diese Befunde nicht unberücksichtigt gelassen. Sie bezieht sich in ihren Standards für die Lehrerbildung (2004) auf die Erklärung des Präsidenten der KMK und der Vorsitzenden der Lehrerverbände im Jahr 2000 und formuliert: „ Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Schulentwicklung, an der Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas. Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an internen und externen Evaluationen. […] Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Planung und Umsetzung schulischer Projekte und Vorhaben.“ (KMK 2004: 3, 13; siehe auch KMK et al. 2000: 4-5; Hervorhebung im Original) Wie schon Ribisch (1998), der sehr für eine ‚unhierarchisierte“ Fortbildung optiert, so stellt auch Duxa (2010) beim Thema Lehrerfortbildung die Zusammenarbeit im Kollegium und die Ausrichtung auf Team- und Personalentwicklung heraus: „Angesichts empirischer Befunde über das hohe Belastungsausmaß des Lehrerberufs einerseits und der Wichtigkeit der Lehrerpersönlichkeit für einen erfolgreichen Unterricht andererseits ist eine zentrale Aufgabe von Lehrerfortbildungen nach wie vor die Unterstützung der Lehrperson für einen kritisch-produktiven Umgang mit den Herausforderungen ihres Tätigkeitsfeldes (personenbezogene Orientierung). Die Eingebundenheit der einzelnen Lehrkraft im Gefüge ihrer Schule macht indes deutlich, dass Entwicklungsarbeit am eigenen Unterricht nicht allein durch individuelle Persönlichkeitsentwicklung geleistet werden kann. Anstelle des vielzitierten Einzelkämpfertums kommt es vielmehr darauf an, den Schülern ein stimmiges Lernangebot bereitzustellen, das durch Zusammenarbeit im Kollegium zu vereinbaren und umzusetzen ist. Unterrichtsentwicklung als Zielebene von Lehrerfortbildung heißt daher neben der Orientierung auf die einzelne Person immer auch Team- oder Personalentwicklung.“ (Duxa 2010: 356) <?page no="66"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 67 Die von den Bologna-Beschlüssen initiierte Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes verkürzte die Ausbildungszeiten von Lehrkräften. Dies traf die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern fremder Sprachen besonders hart (z. B. haben deutsche Lehrkräfte zwei Fächer zu vertreten, französische aber nur eine! ). Die Folge war die Modularisierung der Studiengänge einschließlich der Überprüfung des Gelernten. Kritiker sprachen von der „Output-Orientierung“. Dies äußerte sich auch in der Entwicklung von Lernkontrollen. Ebenso wird, auch angesichts erweiterter Erkenntnisbestände nicht nur in der Fremdsprachendidaktik (Königs [2008] nennt hier beispielhaft die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die Lernberatung und den kompetenten Einsatz der neuen Medien), die Ausdehnung der Lehrerbildungsphase gefordert. Die gewünschte Erweiterung bezieht sich sowohl auf die Zeit vor dem Studium (Königs [2008] plädiert hier insbesondere für den Erwerb der notwendigen Sprachkompetenzen) als auch auf die gesamte Berufszeit nach dem Referendariat (vgl. z. B. Königs 2008: 15-23; Kuhfuß 2010: 345). Eine sich, wie gesagt, extrem schnell verändernde Welt, geprägt durch die rasante Entwicklung der IT-Technik, die ubiquitäre Erreichbarkeit selbst exotischer Sprachen, das internationale Partnerlernen auf Gegenseitigkeit, um nur einige Facetten zu nennen, verleiht den Lehrerfortbildungen in der dritten Phase der Lehrerbildung eine zunehmend wichtige Bedeutung. Zu Wirksamkeit von Lehrerfortbildungen in der dritten Phase der Lehrerbildung gibt es jedoch bislang kaum belastbare empirische Untersuchungen. Dies gilt auch für die Eingangsphase ins Berufsleben im Anschluss an das Referendariat. „Studien zur zweiten Phase der Fremdsprachenlehrerausbildung oder zur Berufseingangsphase gibt es bisher noch nicht […], vor allem hinsichtlich längsschnittlicher Wirksamkeitsstudien.“ (Trautmann 2010: 347-348) Dabei ist die Notwendigkeit eines berufslebenslangen Lernens angesichts des Umfangs der zu vermittelnden Qualifikationen und eines sich ständig verändernden Berufsalltags längst unumstritten (z. B. Krumm & Legutke 2001: 1126; Wernsing 2008, oben). Die KMK (2004) unterstützt diese Anforderung, indem sie die in den Standards aufgeführten Kompetenzen auch als „Ziele des lebenslangen Lernens im Lehrerberuf “ definiert (KMK 2004: 4). Sie führt zum Punkt „Innovieren“ aus: „ Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen wie in anderen Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer Kontakte zu außerschulischen Institutionen sowie zur Arbeitswelt generell pflegen. […] Lehrerinnen und Lehrer <?page no="67"?> 68 1 Lehrperson verstehen ihren Beruf als ständige Lernaufgabe.“ (KMK 2004: 3, 12; siehe auch KMK et al. 2000: 4; Hervorhebung im Original) Allerdings wird Lehrerfortbildung angesichts der handlungsleitenden Bedeutung von subjektiven Theorien zum Lernen und Lehren von Fremdsprachen und der daraus resultierenden „Beharrlichkeit“ der Lehrkräfte (Duxa 2010: 354) auch als eine Herausforderung gesehen. Raasch erläutert schon ( 4 2003: 489-491), dass es bei der Lehrerfortbildung eine Reihe von Widerständen zu überwinden gibt: kein systematischer Einbezug der ausbildenden Institutionen in die Fortbildung, skeptische Haltung der Fremdsprachenlehrer gegenüber der Relevanz ihrer Ausbildung zu Praxisproblemen und Verbleib in einer selbst erarbeiteten Routine, kein Vorliegen von systematischen Erfolgskontrollen von Fortbildungen, begrenzte Ressourcen der Verbände. „Das skeptische Fazit, dass die Situation der Lehrerfortbildung - trotz allen Engagements und aller Kompetenz der Fortbildner und der fortbildenden Institutionen - angesichts der Notwendigkeiten enttäuschend ist, darf nur eine Konsequenz haben, dass nämlich umso mehr Anstrengungen unternommen werden, die psychologischen und soziologischen Faktoren ebenso wie die strukturellen Bedingungen positiv und nachhaltig zu beeinflussen. Nicht das Wissen über die angemessenen Konzepte und Aktivitäten fehlt […]“ (Raasch 4 2003: 490-491) Krumm & Legutke (2001) spezifizieren, aus welchen Gründen Lehrerfortbildung konzeptionell erneuert werden sollte, auch hinsichtlich der Lehr- und Lernformen (m.R. Ehlers & Legutke 1998; eine ähnliche Skepsis findet sich bei Ellis 2003, siehe oben): 1. Lehrerwissen ist praktisches und persönliches Wissen und steht neben dem wissenschaftlich erzeugten Wissen über Unterricht. Fortbildung hat die Aufgabe, einen Dialog über Unterricht zwischen den Vertretern beider Wissensbereiche herzustellen. (Vgl. Freeman & Richards 1996.) 2. Die Handlungsforschung zeigt den komplexen Zusammenhang von Wissen und Handeln auf und betont, dass „kein direkter Weg vom Wissen zur Absicht und von der Absicht zum Handeln führt“. (Krumm & Legutke 2001: 1132; vgl. auch Wahl 1991; ebenso Schocker-von Ditfurth 2001, oben) 3. Studien zur Berufsbiografie zeigen, dass bei Fortbildungen sowohl die Lern- und Lehrbiografie als auch die unterschiedlichen Phasen der beruflichen Entwicklung der Lehrenden zu berücksichtigen sind. (Vgl. Appel 1995.) 4. Überlegungen zur Lehrerpersönlichkeit legen nahe, dass Fortbildung das Selbstbewusstsein der Lehrenden fördern sollte, damit diese professionell „wachsen“ können. (Vgl. Edge 1994.) <?page no="68"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 69 5. Fortbildung sollte den Handlungskontext der Lehrenden und die relevanten Teilgruppen direkt miteinbeziehen. (Siehe oben, vgl. auch Oswald 1990.) 6. Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung rücken die Analyse und Reflexion der Sprachlehr- und Sprachlernprozesse in den Vordergrund und eine entsprechende kooperative Forschung der Lernenden und Lehrenden hinsichtlich deren Interpretationen des Unterrichtsgeschehens, auch im Hinblick auf das regional Geeignete. (Vgl. Holliday 1994; Kramsch 1997.) Krumm & Legutke (2001) fassen bezüglich neuer Ausrichtungen von Lehrerfortbildung zusammen: „Vier markante Tendenzen sind dabei zu erkennen: handlungsorientierte, schulinterne und lokalbzw. regionalspezifische Ansätze sowie Projekte zur kollegialen Lehrerforschung (vgl. Legutke/ Pavlovic 1999).“ (Krumm & Legutke 2001: 1134). Diese führen zu: 1. einer Neukonzeption der Lernformen. Professionelles Lernen erfolgt durch ∘ erwachsenengemäße Lernerfahrungen (relevante Themen und Aufgaben) ∘ begleitende Reflexion (Verallgemeinerung der konkreten Erfahrung und Bezug zu eigenem Wissens- und Erfahrungsbereich) und darauf basierend ∘ Entwurf und langfristige Erprobung neuer Handlungsoptionen (Vgl. auch Legutke 1995b.) 2. schulinternen Fortbildungen und/ oder Fortbildungen für die ganze Fachschaft. Der gemeinsame Diskurs über Unterricht führt zu einem Wandel der Schulkultur. (Vgl. Greber u. a. 1991; Miller 1991; Oswald 1990.) 3. einer Professionalisierung durch Lehrerforschung. Lehrende, als hochqualifizierte Professionelle, erforschen im Rahmen eines „ethischen Codes“ ihre eigene Praxis vor Ort, treten in einen kollegialen Diskurs über ihre Ergebnisse, zu deren Veröffentlichung sie ermutigt werden. Externe Fortbildner nehmen die Rolle eines Moderators (facilitator) an. (Vgl. Schön 1987, 1991; Altrichter & Posch 1990; Edge & Richards 1993; Freeman 1998; Legutke 1995a.) 4. einer neuen Tagungsdidaktik, zu einem Gesamtkonzept für Fortbildung. Sie verzichtet weitgehend auf Vorträge, bietet die Möglichkeit, in Themengruppen zu arbeiten und wird damit zu einer professionellen Lernwerkstatt. Sie ist als Baustein und Teil eines regionalen Gesamtcurriculums für Fortbildung zu sehen. (Vgl. Enns & Jahn 1995; Ehlers 1995b; Legutke 1994.) Auch Ehlers & Legutke (1998) betonen bezüglich der Lehrerfortbildung den notwendigen Dialog zwischen Theorie und Praxis. Als innovative Konzepte für die Lehrerfortbildung nennen sie: <?page no="69"?> 70 1 Lehrperson a) das Erfahrungslernen, Selbstregulation des Lern-/ Handlungsprozesses (nach Kolb 1984; beruhend auf Dewey 1938, Lewin 1951 und Piaget 1976, 1978; siehe Krumm & Legutke 2001 zur Neukonzeption der Lernformen, oben): „In der Bindung von Erfahrungsmomenten an Handlungspläne und reflexive Tätigkeit bestehen Parallelen zur Feldtheorie von Lewin (1951). […] Ein wichtiges Element dieses Prozesses ist der Einbau von Rückmeldeschleifen: Das Testen von abstrakten Konzepten in neuen Handlungs- und Erfahrungssituationen wirkt zurück auf den Handelnden, beeinflußt sein Verhalten und die Auswahl neuer Erfahrungen. […] Durch reflektierende Abstraktion entstehen neue Strukturen, die fortlaufend durch Prozesse der Selbstregulation bewertet und verbessert werden. […] Fortbildung wird damit zu einem Ort der Simulation von Lerngeschehen im Klassenraum (Legutke, 1995[a]). […] In seiner reflexiven Komponente zielt Erfahrungslernen auf den autonomen, bewußten Lehrer. Es gehört zum erklärten Ziel pädagogisch innovativer Anstrengungen, das Lernsubjekt nicht nur mit Handlungskompetenzen auszustatten, sondern es auch zu autonomisieren, daß es seinen Lern-/ Handlungsprozeß selbst steuert, überwacht, kontrolliert und bewertet. Zu diesen metakognitiv bezeichneten Kompetenzen (Brown, 1984; Flavell, 1979) gehören Lehrstrategien und ein flexibles, prozeduralisiertes Handlungswissen (= Wissen wie). Ein dritter Aspekt betrifft die Prozeßorientierung. […] Lernen findet im Lösen von Konflikten statt. […] Die Differenz in der Wahrnehmung von Problemen und Erfahrungsinhalten fordert laufende Verständigungshandlungen zwischen den Teilnehmern von Fortbildungsveranstaltungen (einschließlich des Fortbildners).“ (Ehlers & Legutke 1998: 14-16; Hervorhebung im Original) b) die Aktionsforschung, Lehrer als Forscher (nach Legutke 1998; Altrichter 1990; Altrichter & Posch 1990 u. a.; siehe Krumm & Legutke 2001 zur Lehrerforschung, oben): In „The English Teacher as Learner and Researcher“ fordert Legutke 1998, dass sich Lehrende mit ihrer eigenen Lernhistorie, den Lernprozessen anderer Lerner und ihrem Lehrprozess kritisch forschend und kreativ experimentell auseinander setzen, um ihre Lehrkompetenzen professionell weiterzuentwickeln: „They need to investigate their own attempts at planning, structuring, managing and evaluating learning processes (in teaching and micro-teaching events).“ (Legutke 1998: 157) „Ausgangspunkt der vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Aktions- und Lehrerforschung (action research) sind das Klassenzimmer als Handlungsraum und die in ihm erforderliche bzw. realisierte Berufstätigkeit […]. Lehrer sind folglich diejenigen, die ihren Unterricht erforschen, indem sie an den eigenen Fragestellungen und Datenbeobachtungen ansetzen, sie durch Analyse und <?page no="70"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 71 Prüfverfahren an theoretische Konzepte binden, derart gewonnene Ergebnisse/ Hypothesen zu ihrer Erprobung in die Praxis zurückfließen lassen, um sie erneut der Überprüfung zu unterwerfen und zur Diskussion zu stellen […]. Dazu [zu den problematischen Aspekten dieses Ansatzes] gehört u. a., daß Lehrer erst die Fertigkeiten erwerben müssen, um eigenes professionelles Handeln zu beobachten und unter Hinzuziehung weiterer Datenquellen analysieren und bewerten zu können (zum Lösungsvorschlag s. Nunan, 1989). Des weiteren besteht die Gefahr des Kreisens im Eigenen und in Erfahrungsblindheit.“ (Ehlers & Legutke 1998: 17-20) Ehlers & Legutke (1998) empfehlen daher die professionelle Anbindung an eine Institution und regen an, gerade auch Erfolgserlebnisse zu dokumentieren. c) Subjektive Theorien, Kognitionen von Lehrern (nach Dann 1983, 1994; Groeben et al. 1988; Laucken 1982; Mutzeck 1988; Scheele & Groeben 1988; vgl. auch Krumm & Legutke 2001 zur Lehrerforschung, oben): „In Programmen zur Erforschung subjektiver Lehrertheorien wird davon ausgegangen, daß Lehrer über persönliche Entwicklung und berufliche Sozialisation ein professionelles Wissen aufbauen, das sie in der Lehrpraxis benutzen, um Situationen zu interpretieren, Handlungspläne zu entwerfen, Handlungen auszuführen und zu bewerten. Das Ziel dieser Forschungen besteht darin, Einblick in subjektiv erlebte und gedeutete Alltagswirklichkeit von Lehrern zu gewinnen, um Lehrerhandeln zu verstehen, zu prognostizieren und zu verbessern und den Zusammenhang zwischen Subjektiven Theorien und erfolgreichem Lehrerhandeln aufzudecken. […] Aus Einsichten, wie professionelles Wissen im Verlaufe von Handlungsprozessen aktualisiert wird, lassen sich Begründungskriterien für die Entwicklung von Trainingsverfahren in der Lehrerfortbildung gewinnen. Auf dieser Forschungsbasis entwickelte Trainingsprogramme wurden als erfolgreich bewertet (Dann, 1994; Hofer, 1986; Tennstädt & Dann, 1987).“ (Ehlers & Legutke 1998: 20-21) Im Hinblick auf diesen Ansatz werfen Ehlers & Legutke (1998: 21-22) Fragen auf nach dem „dialoghermeneutischen Wahrheitskriterium“, den Transfers von Expertenwissen zum Alltagsfortbildner, der Erschließung und Miteinbeziehung von Alltagstheorien von Lehrkräften in die Lehrerfortbildung, den Kompetenzen der Lehrerfortbildner, der entsprechenden Beschaffenheit von Lernsituationen und nach weiteren personen- und situationsabhängigen Variablen, die das Handeln bestimmen. Siehe auch unten, Teil II zur Forschungsmethode. d) Berufsbiografisch-narrative Ansätze, narrationstheoretische Konzepte mit Anknüpfung an das Erfahrungslernen und die Forschungen zu Subjektiven Theorien (nach Clandinin & Connelly 1991; Connelly & Clandinin 1990; Altman 1983; vgl. auch Krumm & Legutke 2001 zur Lehrerforschung, oben): <?page no="71"?> 72 1 Lehrperson „Die Ansätze gehen von berufsbiographischen Studien aus, die die bereits zu Beginn der 80er Jahre von Altman (1983) vertretene These bestätigen, daß die schulische Sozialisation der Lehrenden, die sie als Lernende erfahren haben, einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Art und Weise ausübt, wie sie später selbst unterrichten. […] Gefordert wird daher eine Lehrerbildung, die eine systematische biographische Selbstreflexionsarbeit (Dirks, im Druck [1999]) einschließt, damit handlungsleitendes Orientierungswissen, insbesondere der eigenen Schulerinnerungen, ergründet werden kann. Die Selbstreflexionen haben sowohl eine retrospektiv-rekonstruierende Funktion, indem sie sich auf individuelle Lerngeschichten beziehen, als auch eine prospektiv-konstruierende Funktion, weil das Durcharbeiten biographischer Aspekte zugleich Ressourcen für zukünftige Handlungsentwürfe freisetzen kann (Dirks, im Druck [1999]). […] Ein übergeordnetes Ziel des biographisch-narrativen Fortbildungskonzepts ist die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrern durch Stärkung ihres beruflichen Selbstbewußtseins ( empowerment, vgl. Edge, 1994).“ (Ehlers & Legutke 1998: 22-23) Ehlers & Legutke (1998) sehen vor allem folgende Probleme bei diesem Fortbildungskonzept: die Frage nach der Trennung von beruflicher und persönlicher Biografie, die Qualifikationen der Berater, die Überbewertung der Selbstreflexionsarbeit, da sie in das Erfahrungslernen integriert würde, sowie die notwendige Zusammenarbeit mit externen Fachleuten und die Vernetzung mit Veränderungsinitiativen innerhalb der Schule (m.R. Dirks 1999). Sie verweisen auf die Berufsforschung (Hubermann 1989) und eine differenzierende Fortbildungsarbeit mit Berufsanfängern und Lehrkräften in der Mitte ihrer Lehrtätigkeit (siehe auch Legutke 1998: 166). e) Transferleistungen, die Evaluation von Lehrerfortbildungen und die Entwicklung valider Evaluationsmethoden (nach Ehlers 1995a und Schocker-von Ditfurth 1992; vgl. auch Krumm & Legutke 2001 zu den vier neuen Tendenzen in der Lehrerfortbildung, oben) „Fortbildung zielt auf eine Optimierung des Lehrerhandelns und, darüber vermittelt, auf eine Verbesserung der Sprachlernprozesse der Schüler. Evaluation kann derartige Prozesse stützen, indem sie die Wirkung von Fortbildung überprüft und bewertet. Das Einbeziehen der Teilnehmer in den Prozeß der laufenden Evaluation ihres eigenen Lernprozesses wird zu einem fortbildungsdidaktischen Element. Evaluation kann sich auf die Inhalte von Fortbildung beziehen, auf den Prozeß, auf das Lernergebnis oder auf den Transfer von Gelerntem. Hinsichtlich der Wirkung ist zu unterscheiden, wieweit Lehrer ein innovatives Konzept in ihr Handeln übernehmen bzw. dazu bereit sind, und wieweit durch verändertes Lehrerhandeln ein Lernerfolg bei Schülern zu verzeichnen ist.“ (Ehlers & Legutke 1998: 24) <?page no="72"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 73 Ehlers & Legutke (1998; m. R. Schocker-von Ditfurth 1992) werfen u. a. Fragen nach einer Transfertheorie des Erlernten für den Unterricht auf. Für gelingende Transferleistungen sollten ihrer Vorstellung nach Fortbildungen so angelegt sein, dass sie echtes Verstehen ermöglichen, das in sinnvolle Handlungspläne integriert werden kann. Dazu sollten sie auch den schulischen Handlungskontext der Fachlehrer mitberücksichtigen, möglichst in der Schule selbst stattfinden, ganze Teams umfassen und auf deren Kooperation abzielen (siehe auch Oswald 1990 und Wenzel et al. 1990). Im Hinblick auf eine verbesserte Lehrerfortbildung fordern Ehlers & Legutke (1998) u. a. ein „lern- und handlungstheoretisches Fundament für eine Fortbildungstheorie“, Evaluationsstudien für die Wirksamkeit von Fortbildungsmaßnahmen und „Fortbildungscurricula“. Für Letzteres sind das Berufsbild und die dafür erforderlichen Kompetenzen der Lehrkräfte relevant. Hierzu gehört laut KMK (2004; siehe auch KMK et al. 2000) u. a. die Fachkompetenz zum „Lehren und Lernen“ und zur „Förderung zum selbstbestimmten Lernen und Arbeiten“ und damit der Bereich der LA: „ Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen. Ihre Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von Lehrkräften entscheidet sich an der Qualität ihres Unterrichts. […] Lehrerinnen und Lehrer üben ihre Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im Unterricht und bei der Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und Berufswege kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst aus. Dafür sind hohe pädagogisch psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften erforderlich. […] Lehrerinnen und Lehrer unterstützen durch die Gestaltung von Lernsituationen das Lernen von Schülerinnen und Schülern. Sie motivieren Schülerinnen und Schüler und befähigen sie, Zusammenhänge herzustellen und Gelerntes zu nutzen. […] Lehrerinnen und Lehrer fördern die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern zum selbstbestimmten Lernen und Arbeiten. […] Lehrerinnen und Lehrer vermitteln Werte und Normen und unterstützen selbstbestimmtes Urteilen und Handeln von Schülerinnen und Schülern. […] Lehrerinnen und Lehrer diagnostizieren Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern; sie fördern Schülerinnen und Schüler gezielt und beraten Lernende und deren Eltern.“ (KMK 2004: 3, 8-9, 11; siehe auch KMK et al. 2000: 2; Hervorhebungen im Original) Daraus ergeben sich Anforderungen für die Lehrerfortbildung zur LA. Tesch (2010) konkretisiert, dass es hier um ein Umdenken auf Lehrerebene gehe, <?page no="73"?> 74 1 Lehrperson und zwar hinsichtlich der Zielkonzepte (LA), der Lehrkonzepte (gezielte Instruktion und explizite Diagnose) und der Aufgaben- und Gestaltungsebene (mit entsprechender Methodik). „Die gelingende Anbahnung von LA nach Piepho setzt jedoch ein Umdenken auf Lehrerseite voraus, und zwar auf allen drei Ebenen. Auf der Ebene der Zielkonzepte konnte ‚LA‘ kaum dokumentiert werden, auf der Ebene der Lehrkonzepte kollidiert sie mit der dominanten ,Lernkontrolle‘ und den mangelnden Diagnosekonzepten. Auf der Aufgaben- und Gestaltungsebene müsste eine zur Szenariendidaktik passende Methodik ausgebildet werden.“ (Tesch 2010: 320) Es sollten solche Lehr- und Lernhaltungen gefördert werden, „die lernerseitig eine Orientierung an aktivem Selbstlernverhalten und lehrerseitig eine Orientierung an Lernbegleitung gepaart mit expliziter Diagnose und konstruktivistisch inspirierten Förderkonzepten umfassen. Leider können auch Lehr- Standards (vgl. Standards für die Lehrerbildung 2004) keine Garantie für ihre Wirksamkeit liefern“ (Tesch 2010: 373). Insbesondere plädiert er für methodische Schulungen zur Förderung der Zielkompetenzen, einschließlich der Diagnose- und Evaluationsfähigkeit. „Eine Subjektive Theorie, die besagt, dass Professionskompetenz gar nicht erlernbar ist, sondern eine sozusagen angeborene Fähigkeit, also eine Begabung, kann im Einzelfall dazu führen, dass Fortbildungsangebote und Innovationen nicht wahrgenommen werden. Die Kompetenzorientierung oder TBLL etwa könnten als Innovation nicht wahrgenommen (‚Das haben wir doch schon immer gemacht‘), Schulungen dazu abgelehnt werden. Über welche methodische Schulung verfügt die Lehrkraft im Hinblick auf die Förderung bestimmter Zielkompetenzen: Hören und Sprechen, Lesen und Schreiben, interkulturelle und methodische Kompetenzen, soziale Kompetenzen? Welches methodische Wissen besitzt die Lehrkraft im Hinblick auf Diagnose und Evaluation? “ (Tesch 2010: 143) Eine Übersicht zu den Bereichen des Testens und Diagnostizierens und zu den unterschiedlichen lehrergesteuerten bzw. schülergesteuerten Diagnoseinstrumenten (für die Lernausgangs-, Lernprozess- und Lernergebnisdiagnose) findet sich z. B. bei Grünewald (2017a: 280-284) und Blümel-de Vries (2014: 13). Eckhard Klieme stellt in Bezug auf die Bildungsstandards und einen kompetenzorientierten Unterricht im Jahr 2010 in seiner Zwischenbilanz u. a. die Thesen auf, dass die Bildungsstandards in Deutschland zwar „erfolgreich als Leistungserwartungen und Vergleichsmaßstäbe eingeführt worden sind“, aber dass sich neue didaktische Konzepte in der Lehrerbildung und im Unterricht „nur langsam durchsetzen“. Als „Motor der Unterrichtsentwicklung“ sieht er fachdidak- <?page no="74"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 75 tische Innovationen, in denen „die klassische Unterrichtsplanung durch die Reflexion konkreter Unterrichtspraxis ergänzt wird“ (Klieme 2010: 30-31; Hervorhebung, CW). Duxa (2010) weist angesichts des erheblichen Fortbildungsbedarfs in puncto „Aufgabenorientierung“ und „neuer Instrumente der Selbstevaluation“ auf Selbstreflexionsprozesse in der Lehrerbildung hin, durch die auch die nicht kognitiven Dimensionen des Lernens und die spezifischen Phasen der jeweiligen individuellen professionellen Entwicklung berücksichtigt werden können; „z.B. nach der Stabilisierung von Routinen bei Berufsanfängern und das Aufbrechen fester Handlungsmuster bei erfahrenen Lehrenden“ (Duxa 2010: 355). Auch die KMK (2004: 3, 6) sieht die Notwendigkeit einer solchen Innovation. Lehrerfortbildungen sollen die Grundlage legen für eine autonome professionelle Weiterentwicklung, gerade auch im Tandem oder Team und für die qualitative Schulentwicklung. Um einen Prozess des Umdenkens zu initiieren, sollten Lehrerfortbildungen vor allem handlungsorientiert, differenzierend und nachhaltig sein und die Praxis des Fremdsprachenunterrichts zum Ausgangspunkt und zum Ziel nehmen. Hierzu gehört es, fachdidaktisches Wissen „auf der Grundlage der eigenen Unterrichtserfahrungen kritisch (zu) hinterfragen“ und „die Fähigkeit und die Bereitschaft zur kritischen Reflexion des eigenen Unterrichts (zu) fördern“ (Duxa 2010: 355). Fortbildungen erscheinen folglich dann besonders wirksam, wenn sie (Selbst-) Reflexion begünstigen, z. B. durch den Einbezug von Videografien, Fallstudien und den Austausch mit anderen Fortbildungsteilnehmern (siehe z. B. Abel 2018: 161; m. R. u. a. Caspari 2014, Abendroth-Timmer 2017). Auch eine ausreichende Fortbildungsdauer (nachhaltig, über eine einmalige Intervention hinausgehend), sich abwechselnde Phasen von expliziter Thematisierung, Erprobung und Reflexion, ein vielfältiges Methodenangebot, die Erfahrung der Fortbildner sowie die als relevant erlebten Inhalte scheinen zur Wirksamkeit der Fortbildungen beizutragen (siehe z. B. Abel 2018: 160-164, 188). Abel fasst die Gestaltungsprinzipien für eine wirksame Fortbildung zusammen: „Reflexionsmöglichkeiten, Interaktion und kritischer Austausch, Konkrete Lerngelegenheiten, ausreichende Fortbildungsdauer, Inhalte“ (Abel 2018: 164) Bezüglich der Lehrerprofessionalisierung durch die Verbände sieht Meißner durch die Gründung des GMF 2007 einen richtigen Schritt in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Förderung von LA: „An der Qualitätsentwicklung von Fachunterricht haben die Fachverbände nicht unwesentlich Anteil. - Die im GMF zusammengeschlossenen Verbände sind - jeder <?page no="75"?> 76 1 Lehrperson für sich oder in bewährter Zusammenarbeit u. a. mit den Fortbildungsinstituten der Länder - wichtige Träger der Fortbildung. […] Die gute Qualität von auf den Kongressen und Lehrertagen gebotenen Beiträgen ist in einer Vielzahl von Publikationen belegt. […] Wie das Jahr 1972 für die Gründung des FMF steht, so antwortet 2008 mit der Gründung des GMF (2007) und dem ersten - dem Leipziger - Kongress des GMF auf neue Herausforderungen einer durch Europäisierung und Globalisierung gekennzeichneten Zeit.“ (Meißner 2008b: 4-6) Zwischenfazit Aus dem oben Gesagten lässt sich zur „Lehrerfortbildung“, teilweise parallel zur „Lehrerausbildung“, u. a. festhalten: • Die Notwendigkeit eines berufslebenslangen Lernens angesichts des Umfangs der zu vermittelnden Qualifikationen und eines sich ständig verändernden Berufsalltags ist unumstritten (siehe z. B. KMK et al. 2000; Krumm & Legutke 2001; KMK 2004; Wernsing 2008). • Lehrerfortbildung findet als persönliche Tätigkeit oder als veranstaltete Fortbildung statt (Krumm & Legutke 2001). • Bei der Konzeption von Lehrerfortbildungen ist u. a. zu beachten: ∘ Lehrerwissen ist praktisches und persönliches Wissen und steht neben dem wissenschaftlich erzeugten Wissen über Unterricht. Fortbildung hat die Aufgabe einen Dialog über Unterricht zwischen den Vertretern beider Wissensbereiche herzustellen. ∘ Sowohl die Lern- und Lehrbiografie als auch die unterschiedlichen Phasen der beruflichen Entwicklung der einzelnen Lehrenden sind zu berücksichtigen. ∘ Lehrerfortbildung ist nicht nur auf die einzelne Lehrkraft zu betrachten, sondern immer auch auf den (regionalen) Handlungskontext und das mit ihr arbeitende Lehrerteam an ihrer Schule. (Z. B. Oswald 1990; Appel 1995; Freeman & Richards 1996; Ehlers & Legutke 1998; KMK et al. 2000; Krumm & Legutke 2001; Schocker-von Ditfurth 2001; KMK 2004; Duxa 2010; Abel 2018.) • Fortbildungen sollten so angelegt sein, dass sie echtes Verstehen ermöglichen, das in sinnvolle Handlungspläne integriert werden kann. • Damit solche Transferleistungen gelingen, sollte die Lehrerfortbildung ∘ handlungsorientiert sein: die Praxis des Fremdsprachenunterrichts zum Ausgangspunkt und zum Ziel nehmen (siehe z. B. das Erfahrungslernen und die Aktionsforschung), außerdem <?page no="76"?> 1.3 Fortbildung und Praxis 77 ∘ reflexiv: Reflexion über die eigene Berufsbiografie, über die konkrete Unterrichtspraxis oder über die Sprachlehr- und Sprachlernprozesse fördern, fachdidaktisches Wissen auf der Grundlage der eigenen Unterrichtserfahrungen kritisch hinterfragen und die kritische Reflexion des eigenen Unterrichts fördern (siehe z. B. das Erfahrungslernen, die Aktionsforschung, Subjektive Theorien und die berufsbiografisch-narrativen Ansätze), ∘ interagierend, sich kritisch austauschend, forschend: die kooperative Forschung der Lernenden und Lehrenden hinsichtlich ihrer Interpretationen des Unterrichtsgeschehens fördern (siehe z. B. die Aktionsforschung), ∘ differenzierend: individuell vorgehen, methodisch vielseitig, abgestimmt auf den Grad der Berufserfahrung (siehe z. B. das Erfahrungslernen, Subjektive Theorien oder die berufsbiografisch-narrativen Ansätze), gleichzeitig ∘ lokalbzw. regionalspezifisch: mit Ausrichtung auf die Schule und die Fachschaft, als Lernwerkstatt verankert in einem spezifischen Gesamtcurriculum für Fortbildung und damit ∘ evaluierend, mehrmalig, nachhaltig (siehe z. B. die Transferleistungen). Lehrerfortbildung sollte die Grundlage legen für eine autonome professionelle Weiterentwicklung, gerade auch im Tandem oder Team und für die qualitative Schulentwicklung (z. B. Scheele & Groeben 1988; Oswald 1990; Wenzel et al. 1990; Schocker-von Ditfurth 1992; Holliday 1994; Kramsch 1997; Ehlers & Legutke 1998; Krumm & Legutke 2001; KMK 2004; Klieme 2010; Duxa 2010; Caspari 2014; Abendroth-Timmer 2017; Abel 2018). • Ebenso gehört die Förderung des autonomen Lernens zu den erforderlichen Kompetenzen einer Lehrkraft. Methodische Schulungen sollten sich daher den entsprechenden autonomiefördernden Kompetenzen widmen, insbesondere der Aufgabenorientierung, der Lernbegleitung und der Diagnose- und Evaluationsfähigkeit bis hin zur Konzipierung gezielter Förderung der Schüler (KMK et al. 2000; KMK 2004; Tesch 2010; Duxa 2010; Abel 2018). • Zu Wirksamkeit und Evaluation von Lehrerfortbildungen in der dritten Phase der Lehrerbildung gibt es bislang nur wenige Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen, das betrifft auch die zweite Phase der Fremdsprachenlehrerausbildung und die Berufseingangsphase (vgl. z. B. Ehlers & Legutke 1998; Krumm & Legutke 2001; Duxa 2010; Trautmann 2010; Hallet 2010; Abel 2018). <?page no="77"?> 78 1 Lehrperson 1.4 Fazit Biografische Lern- und Lehrerfahrungen, insbesondere die Erfahrungen in der Schulzeit und in der Lehrerausbildung tragen wesentlich zum handlungsleitenden Erfahrungswissen von Lehrkräften bei. Für die Mehrheit der heutigen Französischlehrer reichen die Schulerfahrungen in die siebziger und achtziger und die Ausbildung in die achtziger und neunziger Jahre zurück. Daraus folgt, dass die Mehrheit der heutigen Lehrkräfte einen autonomiefördernden Unterricht kaum aus der eigenen Lernbiografie und, so die Annahme, nur teilweise aus der eigenen Ausbildungsbiografie kennen. Hinzu kommt, dass die Ausbildung von Gymnasiallehrern ohne wesentlichen Anteil der wissenschaftlichen Fachdidaktik erfolgte (siehe Baden-Württemberg) bzw. dieser Anteil „traditionell“, ohne begleitende Praktika, vermittelt wurde. Die Lehrerfortbildung ist bislang eher traditionell über Veranstaltungen ausgerichtet, weitgehend ohne Realisierung der oben beschriebenen Desiderata. Die vorliegende Studie möchte, auch angesichts der noch fehlenden Erkenntnisse zur Lehrerbildung, untersuchen, wie Französischlehrer in Baden-Württemberg die Anforderung nach einer Förderung von LA verstehen, welchen Stellenwert sie dieser Anforderung zumessen und wie sie deren Umsetzung in ihrem Unterricht sehen. Lehrerauffassungen sind fest verankert als Subjektive Theorien. Die eigenen Subjektiven Theorien, die eigenen Grundgedanken und Überzeugungen und das eigene praktische Erfahrungswissen sind handlungsleitend. Daraus folgt, dass die Erhebung Subjektiver Theorien ein geeigneter Ansatz für diese Studie ist. Die Subjektiven Theorien sind, wie oben dargestellt, unter den Aspekten der - Selbsterfahrung (biografische Erfahrungen), - der Situationserfahrung (Unterrichtssituation) und - der Sacherfahrung (fremdsprachendidaktisches Wissen) zu betrachten. Zur Erhebung der Subjektiven Theorien über LA wurde in dieser Studie u. a. ein leitfadengestütztes Interview durchgeführt, das diese Aspekte berücksichtigt. Es gliedert sich in folgende Bereiche: a. Persönliche Daten und eigene Lern- und Lehrbiografie (Selbsterfahrung) b. Lehrkonzepte bzw. methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht (Grundgedanken zur Fremdsprache, zum Fremdsprachenlernen und zum Fremdsprachenunterricht; Situationserfahrung und Sacherfahrung) <?page no="78"?> 1.4 Fazit 79 c. Der Fremdsprachenlerner (Grundgedanken zum Fremdsprachenlernen; Situationserfahrung und Sacherfahrung) d. Der Fremdsprachenlehrer (Grundgedanken zum Fremdsprachenlehren, berufliches Selbstverständnis, Grundgedanken zur Lehrerbildung; Situationserfahrung und Sacherfahrung) e. Perspektiven für das Thema LA (eigene Überzeugungen) Die gewonnenen Erkenntnisse zum professionellen Lehrerwissen sollen wiederum in Bezug gesetzt werden zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Großbegriff LA und zur Lehrerfortbildung. Es sollen daraus Rückschlüsse für die Definition von LA und für die Lehrerfortbildung zur LA gezogen werden. <?page no="80"?> 2.1 Lernerautonomie im europäischen, fremdsprachendidaktischen Diskurs 81 2 Lernerautonomie (LA) Mit Autonomie et apprentissage des langues eröffnete Holec 1979/ 1980 den aktuellen fachdidaktischen Diskurs um LA. LA ist dort „die (potentielle) Fähigkeit des Lernenden, die Verantwortung für seinen Lernprozess zu übernehmen“ (Holec 1980: 2; in Anlehnung an Schwartz 1973). Diese Definition von LA lässt, wie Martinez (2008) betont, durchaus begriffliche Spielräume zu, führt aber auch zu konzeptionellen Widersprüchen und Verengungen: „LA wird meistens mit Lernen in Isolation (ohne Lehrkraft), mit einer neuen Methodologie, einem bestimmten Lernverhalten (das vor allem die Beherrschung einer Reihe von Lernstrategien impliziert) bzw. einem für immer erreichten Zustand assoziiert.“ (Martinez 2008: 15) Bis heute existieren verschiedene Konzeptionen von LA: „Die Bandbreite der Konzeptionen von Lernerautonomie stellt heute für Forschende und Lehrende eine Herausforderung dar, denn um Lernerautonomie zu erforschen (oder ihre Förderung im Fremdsprachenunterricht zu ermöglichen) gilt es zunächst, das eigene Konzept von Lernerautonomie zu explizieren und von anderen abzugrenzen.“ (Schmenk 6 2016: 369) 2.1 Lernerautonomie im europäischen, fremdsprachendidaktischen Diskurs Die heutige fachdidaktische Diskussion um LA geht vor allem von einem aktiven plurilingualen und plurikulturellen Fremdsprachenlerner aus. „In fact, multilinguals - as good language learners - cannot simply be described as monolinguals with some extra specific language knowledge. […], these learners possess a proper competence which allows them to transfer language learning experiences and to learn further foreign languages more quickly and efficiently.“ (Martinez 2017: 120) Die Entwicklung des Diskurses zur LA wurde bzw. wird von einer Reihe von Forschungstraditionen wesentlich beeinflusst: <?page no="81"?> 82 2 Lernerautonomie (LA) a) Lernerorientierung: Das Konzept der LA geht einher mit der ab den 1970er Jahren einsetzenden Umorientierung in der Sprachlehrforschung vom Lerngegenstand und vom Lehren hin zum Lerner und zu seinem Lernprozess (Bausch, Christ, Hüllen & Krumm, Hrsg. 1982; Bausch, Königs & Kogelheide, Hrsg. 1986; Bahr, Bausch, Helbig, Kleppin, Königs & Tönshoff 1996; vgl. auch Wolff 1994a; Martinez 2008: 17-18). Die Entwicklung des Konzeptes der LA ist außerdem verbunden mit dem kommunikativen Ansatz und mit dem Lernziel der kommunikativen Kompetenz, das sich an den Bedürfnissen des Lerners orientiert (vgl. z. B. Raupach 1982; Holtzer 1995). Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden und ihre Rollen wurden neu definiert. Die individuellen Bedürfnisse des Lernenden rückten in den Fokus, ebenso seine Befähigung, den eigenen Lernprozess aktiv zu gestalten (vgl. Martinez 2008: 17-18; Springer 1996). b) Die Forschungstradition des Selbstgesteuerten Lernens beeinflusste die Diskussion um LA wesentlich. Der Begriff LA wurde zu Anfang der 1970er Jahre den Arbeiten eines Forschungsteams des Centre de Recherches et d’Applications Pédagogiques en Langues (CRAPEL) der Université de Nancy entnommen. Die Arbeiten zur Implementierung von LA von Yves Chalon, dem Gründer des CRA- PEL, wurden von Holec ab 1972 fortgesetzt und weiterentwickelt (vgl. Chalon 1970; Holec 2000; Cembalo & Gremmo 1974; Cembalo & Holec 1973). Die Entstehung des Konzeptes LA und die Überlegungen zum selbstgesteuerten Lernen (apprentissage autodirigé), das individuell oder in der Gruppe stattfinden kann („autonomie ne signifie pas solitude“, Holec 1979c: 51), sind ursprünglich eng verbunden mit der Diskussion um die Erwachsenenbildung und die unterschiedlichen Lernbedürfnisse von Erwachsenen (Cembalo & Holec 1973). Die éducation permanente stellt ein innovatives und ideales Ziel in der Erwachsenenbildung dar, in der der erwachsene Lerner autonom und verantwortlich agiert (vgl. z. B. Schwartz 1973). c) Zu diesem Konzept des lebenslangen Lernens gehören auch die durch die neuen Medien verstärkt ermöglichte Individualisierung des Lernens und die Entwicklung von Lernfähigkeit (apprendre à apprendre), die ein verändertes Rollenverständnis von Lehrenden und Lernenden mit sich bringt (vgl. z. B. Janne 1973). Nach Martinez (2008: 22-23) zeichnen sich die Ansätze der Individualisierung dadurch aus, dass sie alle bestrebt sind, „die Lehrmethode an die Bedürfnisse und Interessen der individuellen Lernenden anzupassen“. Individualisierung wird als ein Sonderfall der Differenzierung gesehen (vgl. z. B. Ratenhaus 1989) bzw. Differenzierung als „zentrale Voraussetzung“ für individuelle Förderung (vgl. Nieweler 2017b: 15). Sowohl bei der LA als auch bei der Differenzierung und insbesondere der Individualisierung wird der Lerner als Individuum verstanden. Der Unterschied zur <?page no="82"?> 2.1 Lernerautonomie im europäischen, fremdsprachendidaktischen Diskurs 83 LA liegt nach Martinez darin, „dass die Individualisierung keine Veränderung der Lehrperspektive impliziert.“ (2008: 24). „L’individualisation peut être réalisée dans un cadre parfaitement autoritaire.“ (Trim 1977; zitiert nach Holec 1980: 7). d) Lernstrategien: In den 1970er Jahren begann die Erforschung von Lernstrategien, deren Einsatz man Erfolg beim Fremdsprachenlernen zuschrieb (vgl. Martinez 2008: 25-26; erste Arbeiten von Rubin 1975; Stern 1975; Naiman et al. 1978). Während man in der Strategieforschung Fragen nach der Vermittlung, der Bewusstmachung und der Typologie von Strategien nachgeht, gilt allgemein die Annahme, dass das Training von Lernstrategien die LA fördert (vgl. Martinez 2008; Wenden 1987; Rubin 1987; O’Malley & Chamot 1990; Oxford 1990). Gute Lerner planen und benutzen geeignete Strategien intentional, verfügen also auch über metakognitive Strategien (vgl. z. B. Stern 1983; O’Malley & Chamot 1990). Strategien werden von Hypothesen geleitet und testen diese (siehe z. B. Wolff 1992; Tönshoff 1995; Meißner 2005c, 2007a; Holstein & Oomen-Welke 2006). e) Mehrsprachigkeit: Die Mehrsprachigkeits- oder Interkomprehensionsdidaktik (z. B. Meißner 2005c) steht in einem engen Zusammenhang mit LA. Sie fördert die Einsicht des Lerners in die eigene Sprachverarbeitung und in das eigene Mehrsprachenwachstum (Meißner 2008a). Angesichts der Wechselbeziehung von mentaler Sprachverarbeitung und Sprachlernen hat die Interkomprehensionsdidaktik Unterrichtsverfahren entwickelt, um diese Grenzen im Klassenraum „aufzulösen“. Es geht um Laut-Denk-Protokolle, Erstellung der Hypothesengrammatik und um die Zusammenführung derselben innerhalb der Lerngruppe. Individuelle Entwürfe werden so sichtbar gemacht und in der Klasse diskutiert. Im Mittelpunkt der Interkomprehensionsmethode steht das von Meißner und seinem Team an der Universität zu Gießen entwickelte Modell des Didaktischen Mehrsprachenmonitors, das unter anderem die Entwicklung einer Hypothesen- oder Spontangrammatik beschreibt (siehe unten). In Deutschland findet die Auseinandersetzung mit dem Begriff der LA ab Mitte der 1980er Jahre und zunehmend in den 1990er Jahren statt (vgl. Reinfried 2001: 13). Martinez (2008: 60ff.) verweist unter anderem auf die Arbeiten von Nehm & Vogel (1986), Vogel & Pardey (1986), Rampillon (1988), Boos (1988) und Wolff (1994d). Wolff (1994b) sieht im Konstruktivismus die theoretische Grundlage für das Konzept der LA und weist der LA einen wichtigen und notwendigen Stellenwert in der Fremdsprachendidaktik und ihrer lerntheoretischen Diskussion Ende des 20. Jahrhunderts zu. „Es kann nur das verstanden und gelernt werden, was sich mit bereits vorhandenem Wissen verbinden (assimilieren) läßt. <?page no="83"?> 84 2 Lernerautonomie (LA) Die eingesetzten Konstruktions- und Assimilationsprozesse sind individuell verschieden, deshalb sind auch die Ergebnisse von Lernprozessen nicht identisch. […] Jede Hinzufügung von Wissen führt zur Restrukturierung des vorhandenen Wissens, verändert dieses also auch. Als besonders bedeutsam wird von vielen Konstruktivisten der soziale Kontext angesehen, innerhalb dessen Lernen stattfindet. […], wenn das Ergebnis des Lernens nicht eine objektive Realität, sondern die subjektive Konstruktion von Welt ist, dann verbindet sich Selbstorganisation auch mit Eigenverantwortlichkeit. […] Lernen ist ein vom Lerner eigenständig gesteuerter Konstruktionsprozeß, der auf dem individuellen Lernerwissen aufbaut und daher zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Es ist eingebettet in soziale Kontexte, die Interaktion mit anderen ist von großer Bedeutung. Es ist ein Produkt der Selbstorganisation des Lernenden und kann nur in Eigenverantwortung durchgeführt werden. Lernen kann von außen nur marginal beeinflusst werden.“ (Wolff 1994b: 415 f.; nach Lorenz 1993: 58) 6 „In Anlehnung an die kognitiv orientierte Psycholinguistik und unter besonderer Berücksichtigung des Lernmodells von Rumelhart & Norman (1978) postuliert Wolff (u. a. 1995), dass das Ergebnis eines Lernprozesses von den Strategien abhängt, die der Lernende einsetzt, um diesen Interaktionsprozess durchzuführen bzw. um Wissen aufzunehmen, zu restrukturieren und zu automatisieren. […] LA als lerntheoretische Notwendigkeit verbindet sich mit der Forderung nach der Ablösung des instruktivistischen Paradigmas durch das konstruktivistische im Fremdsprachenunterricht, […]. Dabei weist Wolff […] auf die Notwendigkeit, stärker auf die Lernenden, ihre Lernprozesse und die Förderung der Lernprozesse einzugehen, hin […].“ (Martinez 2008: 63; m. R. Wolff 1997a: 47; siehe auch Vielau 4 2003, der die radikal-konstruktivistische Sicht in Frage stellt und die Notwendigkeit der Hilfe durch die Lehrkraft betont) Der gemäßigte Konstruktivismus geht davon aus, „dass die Interaktion mit Partnern simultan zum individuellen Konstruktionsprozess verläuft […]. Lernen […] ist besonders erfolgreich, wenn der Lernende von kompetenten Sozialpartnern angeleitet und unterstützt wird und an sozialen Prozessen teilnimmt.“ (Martinez 2008: 72; m. R. Königs 2005) 6 Da „individuelles Fremdsprachenlernen stets in einem sozialen Kontext stattfindet“, folgert Martinez, dass „Autonomie immer mit Heteronomie verbunden ist“ (Martinez 2008: 66-67; m. R. Legenhausen 4 2006: 417, Chené 1983, Friedrich & Mandl 1990, Meyer-Drawe 1990, Schmenk 2004). Und m. R. Little und Littlewood beschreibt sie eine kommunikative, eine didaktische und eine personale Komponente der LA (Erwerb von Kommunikationsfertigkeiten und -strategien, Entwicklung von Sprach(lern)bewusstheit und individueller Autonomie), die sich wechselseitig bedingen. <?page no="84"?> 2.1 Lernerautonomie im europäischen, fremdsprachendidaktischen Diskurs 85 „Das dem Konzept der LA zugrunde liegende Fremdsprachenlernverständnis geht dementsprechend von folgenden Prämissen aus: (1) Fremdsprachenlernen ist ein äußerst individueller aber auch interaktiver Prozess, der am vorhandenen Sprachwissen und Sprachlernwissen anknüpft. Deshalb ist die Rolle von Vorwissen von grundlegender Bedeutung. (2) Fremdsprachenlernen ist stark mit bewusstheitsgesteuerten Prozessen verbunden. (3) Fremdsprachenlernen setzt auf Reflexion über Lerngegenstände und Lernvorgänge.“ (Martinez 2008: 72) Im Hinblick auf das Sprachenlernen und einen reflexiven Umgang mit Autonomie und Heteronomie sieht auch Schmenk (2008) im Kern die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz und bezieht Autonomie im Rahmen der Erziehung zur Mitbestimmung und Mündigkeit auf Kollektive. Im Hinblick auf das Ziel der sozialen Autonomie stellt Schmenk (2008) fest: „Mündigkeit […] lässt sich fördern, wenn man versucht, eine möglichst weit reichende soziale bzw. kollektive Autonomie von Lerngruppen zuzulassen und zu fördern. (Dass dieser in vielen Lehr- und Lernkontexten, z. B. in traditionellen schulischen Klassenräumen, Grenzen auferlegt sind, versteht sich und muss beileibe nicht das Ende solcher Versuche sein.) Das wiederum ermöglicht dann auch jeder bzw. jedem Einzelnen eher auszuprobieren und zu lernen, die eigenen Handlungsspiel- und -freiräume besser einzuschätzen und zu nutzen.“ (Schmenk 2008: 341-342; Hervorhebungen im Original) Seither hat sich LA, wie gesagt, zu einem allseits anerkannten fachdidaktischen Großkonzept entwickelt. Es wurde z. B. unter dem Titel „Lernerautonomie und lebenslanges Lernen“ in die Leitgedanken des Bildungsplans Baden-Württemberg 2004 aufgenommen und dort in die Lehrerfortbildung integriert (Bildungsplan Baden-Württemberg 2004). So lautete z. B. der Titel des 4. GMF-Bundeskongresses 2012 an der Universität Duisburg-Essen: „Lernerautonomie im Fremdsprachenunterricht: Kompetenzorientierung, Differenzierung und Handlungsorientierung“ (Eisenmann 2012). Und Martinez & Meißner notieren 2017 (221): „Neben der Mehrsprachigkeit ist SLK auch dem Großkonzept der ‚Lernerautonomie‘ verpflichtet.“ Autonomes Lernen wird zunächst vor allem im Sinne von selbstgesteuertem Lernen definiert. Ausgehend vom universitären Fremdsprachenerwerb im Erwachsenenalter richtet sich der Blick zunehmend auch auf das Lernen in der Schule und damit auf Lerntechniken und Lernstrategien (vgl. Nehm et al. 1988; Boos 1988; Rampillon 1988). „Autonomes Lernen wird sowohl als selbstbestimmtes [Hervorhebung, CW] Lernen (selbstgesteuertes Lernen) als auch als <?page no="85"?> 86 2 Lernerautonomie (LA) eine ‚planhafte zielorientierte mentale Tätigkeit‘ (Vogel, 2 1998: 58) verstanden.“ (Martinez 2008: 61) Die Diskussion um LA konzentriert sich in den folgenden Jahren vor allem auf die Frage nach der Förderung von LA in der Schule. Martinez konstatiert eine unklare Situation im Hinblick auf die Definition des Begriffes LA: „[…] die zahlreichen Arbeiten auf dem Gebiet der LAforschung [haben] nicht zu einer Klärung der Bedeutungsfülle von LA geführt. Im Gegensatz dazu verzeichnet man einen „manque relatif d’analyse de la notion“ […], der mit Sicherheit darauf zurückzuführen ist, dass hinter Autonomie ein vermeintlich selbst erklärendes Konzept steht. […] Die unterschiedlichen Begriffsinterpretationen von LA resultieren aus dem jeweiligen methodischen Ansatz, dem zugrunde liegenden Lernmodell bzw. Sprachlernbegriff und dem Forschungsschwerpunkt der einzelnen Forscher.“ (Martinez 2008: 29; u. a. m. R. Holtzer 1995: 16; Hervorhebungen im Original) Bei Schmenk (2008: 34) findet sich eine ähnliche Einschätzung: „Insofern bleibt als vorläufiges Fazit meiner ersten Sichtung von Autonomiebegriffen innerhalb und außerhalb der Fremdsprachenforschung festzuhalten, dass die heterogenen Verwendungsweisen des Autonomiebegriffs erhebliche konzeptuelle Unklarheiten sichtbar machen.“ Die Überschneidung des Fachbegriffs mit seinem alltagssprachlichen Gebrauch hat die Aufnahme des Terminus durch die Unterrichtspraxis nicht erleichtert (siehe auch Schmenk 6 2016). 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit „Par le terme intercompréhension, on désigne la capacité de comprendre une langue étrangère sur la base d’une autre langue sans l’avoir apprise. En général, les variétés d’une même langue sont intercompréhensibles.“ (Meissner, Meissner, Klein & Stegmann 2004: 20) Die sprachenvergleichende Interkomprehensions- oder Mehrsprachigkeitsdidaktik (Meißner 2005c) ist, wie gesagt, für das Verständnis von LA von grundlegender Bedeutung. Sie nimmt im Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (Candelier et al. 2007) einen zentralen Stellenwert ein und kann im Rahmen der Sprachbildung einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der transferierbaren Kompetenzen Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz leisten (vgl. Schinschke & Caspari 2017). „Die Mehrsprachigkeitsdidaktik befördert, so ließ sich nachweisen, die Einsicht von Lernern in die eigene Sprachverarbeitung und in das eigene (Mehr)Sprachenwachstum. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik kann daher auch als eine ‚ multi-language and <?page no="86"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 87 learning awareness raising strategy‘ (Meißner, 2008[a]) gelten.“ (Martinez 2008: 56; m. R. Morkötter 2005: 68 ff., Meißner 2008a) Die formale Ähnlichkeit zwischen Sprachen (insbesondere einer Sprachfamilie, wie z. B. der romanischen) und auch personale Faktoren (wie Sprachlernerfahrungen) beeinflussen das Lernen und die Verarbeitung neuer Zielsprachen (vgl. Meißner 2010c). Hier setzt die Interkomprehensionsmethode an. Im Mittelpunkt steht das von Meißner und seinem Team an der Universität zu Gießen entwickelte Modell des Didaktischen Mehrsprachenmonitors, das u. a. die Reflexion über Lösungswege, die Entwicklung einer Hypothesen- oder Spontangrammatik und die Hypothesenbildung zu Wortbildungs- und Grammatikregeln beschreibt. Da Transferprozesse bidirektional verarbeitet werden, betrifft der Zuwachs an Wissen auch die bereits erlernten Bestände der Brückensprachen (Meißner 2002b). Die sogenannte Erweiterte Transfertypik (Meißner 2004c) führt die bisherigen Ausführungen zum Transfer (Selinker 1972) fort (language transfer, transfer of training, strategies of second language learning, strategies of second language communication, overgeneralization of target language material). „Diesen Forschungen zufolge neigen deutschsprachige erwachsene Lerner einer zweiten romanischen Sprache stark dazu, ein ihnen bereits bekanntes romanisches Sprachsystem (Lexematik, Morphosyntax, Temporal- und Modalsystem) zum Verstehen der neuen romanischen Sprache heranzuziehen. Sie entwerfen auf seiner Grundlage Hypothesen zur Gestalt und zum Funktionieren der neuen Zielsprache bzw. ihrer Elemente. Sie verifizieren und falsifizieren diese Sprachhypothesen in dem Maße, wie sie neue relevante Informationen über das zielsprachliche System als Transferbasen identifizieren. […] Dabei entstehen pädagogisch verwertbare Rückwirkungsprozesse auf die mental aktivierten Sprachen. […] Hervorzuheben ist daher die Mehrdirektionalität der Transferprozesse. Es sind stets diejenigen Sprachen im Spiel, die ein Lerner intentional oder inzidentell im Moment der verstehenden Begegnung mit neuen Sprachbeständen aktiviert.“ (Martinez 2008: 56-57; Hervorhebung im Original) a) Inferentieller Lernbegriff Das Herstellen von zwischensprachlichen „Querverbindungen“, der interlinguale Transfer und das zwischensprachliche Vergleichen, sind Schlüsselbegriffe des Interkomprehensionsansatzes (Meißner & Senger 2001: 22; auch Nieweler 2001a). Dies inkludiert die Sprachaufmerksamkeit auch für Interferenzrisiken und die Aufmerksamkeit bei den eigenen Sprachlernprozessen (vgl. Meißner 1995b; Morkötter 2005). Die Mehrsprachigkeitsdidaktik geht von einem inferentiellen Lernbegriff aus, dem „die Interaktion von vorhandenen deklarativen und prozeduralen Wissensbeständen mit aufgenommenen Informationen im Spracherwerbsprozess“ zugrunde liegt (Morkötter 2005: 68; m. R. <?page no="87"?> 88 2 Lernerautonomie (LA) Meißner 1998a). Das Monitoring durch den Lerner ist dabei eine grundlegende Strategie der Interkomprehensionsmethode. Der Lerner beobachtet (überwacht), steuert und vertieft damit die Verarbeitung der aufgrund der Interkomprehensionshandlung erhöhten Menge an Sprachdaten und Lernerfahrungen (Meißner 2004c, 6 2016). Der Erwerb mehrerer Sprachen führt zum Aufbau eines Mehrsprachenspeichers (multi-language awareness; Meißner 2004c: 43), zum Aufbau von Spracherwerbskompetenzen, die sprachsystemunabhängig und spracherwerbsförderlich sind (auch Herdina & Jessner 1999: 485). Gute Fremdsprachenlerner verfügen über die Kompetenz, Sprachen zu vergleichen und zu entschlüsseln (Rubin 1975: „good guesser“). Die Mehrsprachigkeitsdidaktik unterscheidet dabei unter anderem zwischen „[…] Transfer innerhalb des mutter-, brücken- oder zielsprachigen Systems, Transfer innerhalb des ausgangssprachigen Systems, Transfer zwischen Ausgangssprache(n) und Zielsprache sowie Transfer von Lernerfahrungen mit und zwischen unterschiedlichen Sprachen.“ (Martinez 2008: 57-58; in Erweiterung der Transfertypik von Selinker 1972) Das von Meißner (1998a, 2004c, 2010c), Caparelli (2003), Morkötter (2005, 2016), Bär (2009b), Reissner (2010) und Strathmann (2011) in mehreren Fallstudien erprobte methodische Modell für transferbasiertes Lernen umfasst vier Phasen: „1.) Perzeption eines ‚unklaren‘ sprachlichen oder verhaltensbezogenen Musters, 2.) Entwurf einer Disambiguierungs- oder Lösungshypothese, 3.) deren Verifikation / Falsifikation / evtl. Modifikation (Plausibilitätsprobe, Disambiguierung, Kontrolle), 4.) Bestätigung oder Re-Initiation des Vorgangs auf der Grundlage einer modifizierten Hypothese.“ (zuletzt Meißner 2015: 73) Das Phasenmodell hat, wie erwähnt, Eingang gefunden in das Konzept des RePA (vgl. Meißner 2012c). 7 Die Transferprozesse und ihre Förderung des Spracherwerbs lassen sich mit Normans (1982) Modell der Informationsverarbeitung nachvollziehen: accretion (Zuwachs), tuning (Einpassung und Veränderung durch Abgleich) und (re)structuring (Bildung neuer stabiler Strukturen) von Sprachdaten. „Mit den mentalen Operationen verbinden sich Kreations-, Reorganisations-, Löschungs- und Abstraktionsprozesse.“ (Meißner 2015: 73) Meißner (2015: 73) betont, dass Transfer im Zusammenhang mit Spracherwerb und seiner Prozesshaftigkeit und Individualität zu sehen ist und dass 7 Die zahlreichen, in den romanischen Ländern entstandenen Arbeiten zur romanischen Interkomprehension und des darauf basierten Lernens bleiben hier ungenannt. <?page no="88"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 89 die Art des Intake (die Verarbeitung eines Inputs) darüber entscheidet, „ob und wie Transferaktivitäten zielgerichtet aufgebaut werden.“ Er (2010d, 2012b; auch Raupach 2010) weist darauf hin, dass „das Interkomprehensionsereignis die Lernersprache in statu nascendi abbildet“ und dass „die Analyse der schülerseitigen Interkomprehensionshandlung selbst als eine Strategie zur Förderung von Sprachlernkompetenz eingesetzt wird. Hier liegt der Schlüssel für die Verbindung von Interkomprehension und sprachlernbewusstheits- und sprachlernkompetenzbildenden Strategien“. Damit ist die bewusste Mehrsprachenverarbeitung „a way to learner autonomy“ (Meißner 2012b). Sowohl die Lernersprache als auch der Intake haben demnach eine besondere Bedeutung für Transfer und ein effizientes Sprachenlernen. Verfahren der Vernetzung von neuen mit bereits vorhandenen Wissensbeständen wird eine besonders positive Wirkung zugeschrieben. Neben dem linguistischen Transfer steht der „didaktische Transfer“. Er bewirkt das Monitoring der Interkomprehensionshandlung zur Förderung des Mehrsprachenerwerbs. Hierzu gehört der Einsatz metakognitiver Strategien, die gezielt die Suchbreite nach Transferbasen erhöhen. Instrumente und Strategien hierzu sind solche, die Lern- und Sprachaufmerksamkeit erzeugen (Lernprotokolle und deren Interpretation im Klassenraum, Lernhandlungsprotokolle, teilnehmende Beobachtung, schriftliche Fixierung der Hypothesengrammatik, die zielsprachlich sein oder sich auf die Systematizität zwischen Sprachen beziehen kann, Scaffolding, Task Based Learning usw.). Hier wird deutlich, dass die Interkomprehensionsmethode parallel zu den Diskursen zu Lernerautonomie, konstruktivistischem Lernen und zu den Konzepten zur language awareness entwickelt wurde. Die diesen Konzepten zugrundeliegenden Einsichten und Verfahren sind keine originären Erfindungen der Fremdsprachendidaktik, sondern korrelieren mit den empirischen Erkenntnissen der Lernpsychologie (Meißner 2015: 74; m. R. Gage & Berliner 1996; auch Meißner 2004c und N. Ellis 2011.) Aufgrund einer Studie zu Sprachverarbeitungsprozessen einer Probandin (mit deutscher Muttersprache und Kenntnissen in Englisch, Französisch und Italienisch) bei der ersten Lektüre eines schwedischen Zeitungstextes sieht Meißner (2015) die Notwendigkeit, die Intake-Optimierung weiter zu erforschen. Dies betrifft die Interkomprehension zwischen unterschiedlichen Ausgangs- und Zielsprachen über die romanische Sprachfamilie hinaus, auch hinsichtlich konkreter Phänomene der mentalen Sprachverarbeitung, der Nutzung von Hilfsmitteln und der sprachlichen Struktur der Ziel- und Brückensprachen. Bei der Entwicklung von Lehrwerken sollten die Erkenntnisse zur Intake-Optimierung stärker berücksichtigt werden (Meißner & Morkötter 2009). Zu den Grenzen der Interkomprehensionsmethode vermerkt Meißner 2008 die Notwendigkeit der Überprüfung: <?page no="89"?> 90 2 Lernerautonomie (LA) „Kritische Bewertung der Interkomprehensionsmethode selbst: Lernkompetenz bedeutet auch Kritikfähigkeit gegenüber Methoden oder Lehrbzw. Lernwegen. Deren Vorteile kommen nur zum Tragen, wenn auch deren Grenzen erkannt werden. Im Fall der Interkomprehension führt dies konkret zur Überprüfung der interkomprehensiv entwickelten Zielsprachenhypothesen mit Hilfe eines angemessenen Wörterbuchs, einer Grammatik oder einer kompetenten Person.“ (Meißner 2008d: 38) Grenzen zeigen sich im Detailverständnis und dort, wo im etymologisch verwandten Wortschatz Gemeinsamkeiten schlecht auszumachen sind oder Nichtgemeinsames besteht. Dies kann zu falschen Deutungen und zu Demotivation führen. Auch erscheinen die Techniken bisweilen weniger effizient und eine Konzentration auf die Einzelsprache vorteilhafter. Zu den Grenzen des Euro- Com-Konzeptes für EuroComGerm notieren Berthele et al. (2011): „Eine Familiendarstellung in Form von zusammenfassenden, synoptischen Sieben ist vermutlich nicht für alle Arten von Beziehungen (Identisches, Ähnliches, Kontrastierendes) und alle Phasen des Annäherungsprozesses gleich sinnvoll und effizient. Während das Sprachfamilienkonzept in der Vermittlung von bestimmten Erschließungstechniken vielleicht noch besser ausgenutzt werden könnte, ist eine hilfreiche und für flüssigeres Lesen unumgängliche Gewöhnung wohl erst im Rahmen einer anschließenden Konzentration auf eine Einzelsprache zu erzielen. […] Die Lautentsprechungen sind [zwar] eine große Hilfe, gewährleisten aber nicht unbedingt Erfolg. Wenn kein Problem wahrgenommen wird, obwohl der Zugriff auf das Wort unbemerkt zu einer falschen Deutung führt, oder wenn der Zugriff nur formbedingt gelingt, werden Lautentsprechungslisten erst gar nicht zu Rate gezogen.“ (Berthele et al. 2011: 490, 493). Auch Behrend (2016), die in ihrer „Studie belegt, dass StudentInnen mit brückensprachlichen Deutsch- und Englischkenntnissen durch den Einsatz der EuroComGerm-Methode der sieben Siebe innerhalb eines Semesters schwedische, norwegische, dänische und niederländische Lesetexte inhaltlich global erschließen können“, 8 weist auf diese Grenzen der Interkomprehensionsmethode hin (50-51; u. a. m. R. Hufeisen & Marx 2007, Berthele et al. 2011: 488 ff.) und vermerkt die Notwendigkeit eines speziellen Trainings: 8 Behrend (2016: 4) kommt in ihrer Studie u. a. zu dem Ergebnis, dass das Deutsche die hilfreichere Brücke ist. Außerdem „spielen die Anzahl an Brückensprachen, deren Sprachniveau und der Grad ihrer typologischen Verwandtschaft zu den Zielsprachen eine Rolle. Darüber hinaus werden die StudentInnen zur Reflexion und Beurteilung des eigenen Lernprozesses angeregt und bekommen einen Einblick in ihre Lernpotenziale, Verstehenspotenziale und Lernstrategien, was zu einer Steigerung der Sprachenbewusstheit sowie der Sprachlernbewusstheit führt.“ <?page no="90"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 91 „Dies zeigt, dass es eines speziellen Trainings bedarf, um Lesetexte interkomprehensionsbasiert erschließen zu lernen (vgl. Hufeisen & Marx 2007[b]: 308); Interkomprehensionskurse werden allerdings nur selten und mit einem geringen Stundenumfang angeboten. Daher ist bislang auch unbeantwortet, wie sich das interkomprehensionsbasierte Lesen auf das sich anschließende Lernen weiterer Fertigkeiten - wie z. B. das Hörverstehen - auswirkt, und welche Kompetenzniveaus in den Zielsprachen erreicht werden können.“ (Behrend 2016: 51; siehe u. a. auch Meißner 2010a, unten) b) Förderung mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind zwei Seiten derselben Medaille (passim: Fäcke & Meißner 2019; darin Fäcke 2019 und Meißner 2019). Die plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz ist sprachenübergreifend zu verstehen und in dem Sinne komplex und gemischt, als ein Sprecher über unterschiedliche Kompetenzen und Kompetenzprofile in mehreren Sprachen verfügt. Sie ist damit kontextabhängig, dynamisch und individuell und bedeutet im Kern, dass Sprachenlernerfahrungen auf andere Sprachen transferiert werden können (siehe Coste et al. 1997; Europarat 2001; Christ 2004; Christ 2006; Martinez 2015a). „Der Einzelne als Sprecher mehrerer Sprachen steht im Mittelpunkt der Überlegungen - nicht die Frage nach der Kenntnis einer bestimmten Anzahl von Sprachen oder nach den vorherrschenden Sprachen in einem gegebenen Territorium. Neben der Aufwertung, die alle Sprachen und Sprecher mehrerer Sprachen erfahren, verbindet sich mit diesem Konzept ein bestimmtes Menschenbild, das für die Förderung der Mehrsprachigkeit von besonderer Relevanz ist: ‚Der Mensch ist potentiell und aktuell mehrsprachig, weil seine Sprache (seine Muttersprache) Elemente vieler Sprachen enthält, die er kennt und nutzt, zumeist ohne sich dessen bewusst zu sein, und im aktuellen Verstande, weil er grundsätzlich mehrere (‚viele‘) Sprachen erwerben/ lernen kann […].‘ (CHRIST 2004: 31) Die Fokussierung auf den Einzelnen als (Mehr-)Sprachenverwender und Lerner eröffnet zugleich eine neue Dimension. Mehrsprachigkeit ist in diesem Sinne die Kompetenz, mit Sprachen und Sprachenlernerfahrungen umzugehen und sie auf das Lernen weiterer Sprachen zu transferieren (CHRIST 2006: 50).“ (Martinez 2015a: 8; Hervorhebung im Original) Im Einklang mit der Definition von Kompetenzen als Fähigkeit zur Problemlösung in bestimmten Bereichen durch die Mobilisierung von Ressourcen (siehe oben) kann Mehrsprachigkeitskompetenz als eine Handlungsfähigkeit verstanden werden, die impliziert, „dass Lernende über Sprachlernkompetenzen (savoir-apprendre) verfügen, die ihnen erlauben, in der Kommunikation flexibel und situationsangemessen ihre Ressourcen und Teilkompetenzen zu mobilisieren“ (Martinez 2015a: 10). <?page no="91"?> 92 2 Lernerautonomie (LA) Die Ressourcen und Teilkompetenzen, die in mehrsprachigen und plurikulturellen Kommunikationssituationen mobilisiert werden (können), werden im Kompetenzmodell des RePA (Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 2009; entstanden in Ergänzung zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen und zu den Sprachenportfolios; siehe Candelier et al. 2009) beschrieben. Der RePA konkretisiert diese mithilfe von Deskriptoren zu savoirs, savoir-faire, savoir-être und savoir-apprendre und kann damit u. a. zur Konstruktion und Bewertung von Aufgaben zur Förderung von mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz unterstützend herangezogen werden (siehe Candelier et al. 2009; Martinez & Schröder-Sura 2012; Meißner 2013; Coste 2013; Martinez 2015a; siehe auch unten: LA und eine sie fördernde Pädagogik unter I, 2.5). Die Mehrsprachigkeitsdidaktik betont die grundlegende Möglichkeit zur Förderung der Inferenzfähigkeit durch die Beschäftigung mit Strategien zur Inferenz. Dies bestätigt Meißner in seiner 2010 vorgelegten Studie bei angehenden Lehrkräften romanischer Sprachen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Interkomprehensionsfähigkeit durch Interkomprehensionsschulung eindeutig optimiert werden kann. Eine auf Interkomprehension beruhende Unterrichtsmethodik greift systematisch auf relevantes Vorwissen der Lernenden zu, entwickelt ihr lernpraktisches Wissen, setzt den interlingualen Identifikationstransfer in Gang und sensibilisiert für Sprachverarbeitungs-, Transfer- und Lernprozesse (vgl. u. a. Bär 2009, Meißner 6 2016). Aufgaben zur Förderung mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz können unterschiedliche Aufgabenformate besitzen und z. B. auf die Förderung rezeptiver, produktiver oder interkultureller Kompetenzen abzielen. „Sie beruhen auf einer systematischen Vernetzung des Sprachwissens und fokussieren auf die Reflexion über Sprache(n) und die Bewusstmachung von Transfer. Sie integrieren neue Medien und wenden sich sowohl an jüngere Schüler/ -innen als auch an junge Erwachsene“ (Meißner 2005a; Martinez 2015a: 11; Hallet 2015; Morkötter 2016). Martinez (2015a: 12) beschreibt Aufgaben zur Förderung der Inferenzfähigkeit wie folgt: Sie weisen Verfahren zur Verknüpfung mit Herkunftssprache(n) und vorgelernten Sprachen und zum sprachvernetzenden Lernen auf, beruhen auf inter- und intralingualem bzw. didaktischem Transfer und interkomprehensiven Verfahren sowie (mehrsprachiger) Sprachmittlung und fördern Sprachreflexion bzw. Sprach(en)- und Sprach(en)lernbewusstheit, metakognitives Wissen, Lernmotivation und Flexibilität, Offenheit und Neugier in Bezug auf Sprachen und Kulturen. Behr (2010) hebt in ihrer Typologie von Übungen zur Förderung sprachenübergreifenden Lernens in der Sekundarstufe I vor allem auf Übungen ab, die induktiv-vergleichende, variable und entdeckende Schülertätigkeiten initiieren: <?page no="92"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 93 „Im Verständnis der vorliegenden Arbeit streben Übungen zur Förderung sprachenübergreifenden Lernens mit Neuner (2003: 23) ‚lernerorientierte, induktiv-vergleichende Spracharbeit und das Reden über Sprache‘ an. Dies ist gebunden an die Organisation von Schülertätigkeiten mit vergleichender Dimension, wie: Ordnen, Unterscheiden, Vergleichen, Identifizieren, Analysieren, Kontrastieren, Analogien bilden, merkmalgestütztes Erraten, Reflektieren.“ (Behr 2010: 109) Für die Übungsmaterialien selbst „sind das Moment der Ähnlichkeit und die simultane Präsenz mehrerer Sprachen“ (Behr 2010: 110) von besonderer Bedeutung. Sie „müssen ausreichend Impulse zur Aktivierung bekannter Schemata bzw. interlingual korrelierender Sinn- und Formeinheiten und der Auslösung eines interlexikalischen, interphonematischen oder intersyntaktischen Wiedererkennungstransfers […] enthalten, zudem lernstrategische Lernprozesse befördern und zur Reflexion auf den Vergleichsprozess und das Vergleichsergebnis anregen.“ (Behr 2010: 109; m. R. Meißner & Burk 2001: 96; siehe z. B. auch Von Kahlden et al. 2015: Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht, Vergleichen - kombinieren - profitieren, Unterrichtsvorschläge für den Fremdsprachenunterricht ab Klasse 8) 9 Behr (2010) betont m. R. Oomen-Welke (1999: 17) die Wirksamkeit schriftlicher Übungen: „[…], da mit der Schrift durch die selbstbestimmte Verweildauer der bewusste Umgang mit der Sprache geübt werden kann. Ferner kann durch optische Anordnung das Vergleichen erleichtert werden und schließlich sind Selbstkontrolle und Ergebnisdarstellung besser möglich angesichts der Fixiertheit der Ausgangsbasis.“ (Behr 2010: 109; vgl. auch Vygotsky 1978: „Zone of proximal development") Die Steuerung erfolgt durch aktivitätsauslösende Instruktionen, die Arbeitsweise kann unterschiedlichste Arbeits- und Sozialformen umfassen und bezüglich der Inhalte der Übungen ist festzuhalten, „dass sich interlinguale Transferbasen in allen Bereichen des Sprachbaus vorfinden lassen und entsprechende Ähnlichkeitsproben möglich sind“ (Behr 2010: 112; m. R. Meißner 1993: 534 und 2000b: 174). „Grundsätzlich bieten sämtliche Bereiche sprachlicher Kompetenz Anknüpfungspunkte für sprachenübergreifendes Lernen: Lexik, Syntax, Morphologie, Phonematik, Graphematik, Pragmatik, funktionales Wissen, soziolinguistisches Wissen, fremdsprachenstrategisches Wissen (vgl. Europarat 2001: 109 ff.).“ (Behr 2010: 112) 9 Der Umgang mit Übungen ist besonders wichtig. Stichwort: fruchtbare vergleichende Gespräche zu den Lernhandlungen. <?page no="93"?> 94 2 Lernerautonomie (LA) Für den Fremdsprachenunterricht listet Reinfried (2017a: 31) folgende Anwendungsbereiche für einen interlingualen und auch interkulturellen Vergleich: Texterschließen („Autosemantisierung“), Wortschatzarbeit, Befassung mit mots de civilisation (m.R. Reinfried 1995), Betrachtung von Lautentsprechungen und morphologischen Entsprechungen, Arbeit an grammatischen Strukturen, Befassung mit literarischen Texten und ihren Übersetzungen (m.R. Nieweler 2001b) oder bei der Befassung mit Sprechakten (m.R. Warga 2004). Besondere Bedeutung messen sie der Förderung von rezeptiver Mehrsprachigkeit und dem Texterschließen zu, da die rezeptiven Kompetenzen gegenüber den produktiven schneller erworben werden. In diesem Zusammenhang siehe auch das grundlegende mehrsprachendidaktische Werk EuroComRom (siehe Klein & Stegmann 1999). Das romanische Sprachmaterial wird über sieben Siebe gefiltert, so dass interlinguale Transferregeln sichtbar werden; ebenso natürlich die sog. „Profilformen“ (die keine Transferbasen stellen): 1. internationaler Wortschatz, 2. panromanischer Wortschatz, 3. Lautentsprechungen, 4. Grafien und Aussprachen, 5. panromanische syntaktische Strukturen, 6. morphosyntaktische Elemente und 7. Präfixe und Suffixe (siehe Klein & Stegmann 1999). Der Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit umfasst auf Grundlage der von der Computerlinguistik gelieferten Daten die sog. Kernwortschätze von Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch einschließlich der sogenannten Interligalexe. Er stellt damit den Lernwortschatz der romanischen Sprachen auf neue Grundlagen (Meißner 2015; 2018a, b). Es ist ein Kennzeichen des interkomprehensiven Ansatzes, dass er von Anfang an mit Texten der Zielsprache arbeitet. Der Ansatz ist daher thematisch offen. Dies sieht auch Hallet (2015). Die Auswahl der Themen orientiert sich an für die Schüler relevanten Themen und an kommunikativen Zielen. In entsprechenden Materialarrangements zeigt sich Mehrsprachigkeit als Multitextualität und ermöglicht die kulturelle Mehrfachperspektivierung eines Themas. Hallet (2015) stellt in diesem Zusammenhang unterschiedliche Arten und Aufgabenmöglichkeiten für sprachvernetzendes Lernen vor: das Konzept-Lernen (am Beispiel „Familie“), kulturhistorisches Lernen (z. B. „Olympia“), generisches Lernen (z. B. „A day in my life“), globales Lernen (z. B. „Migration“) und literarisches Lernen (z. B. „Holocaust Survivor-Erzählungen“) (vgl. auch Meißner 1994a). „Erst die sprachliche, kulturelle und historische Mehrfachperspektivierung ermöglicht die Erfahrung von Differenzen, transkulturellen Ähnlichkeiten, Analogien oder Gemeinsamkeiten sowie historischer Kontinuitäten oder Diskontinuitäten. […] Die Berücksichtigung der nicht-deutschen Muttersprachen einer Lerngruppe im Sprach- und Arbeitsmaterial bietet die Chance, diese normalerweise aus der Schulbildung ausgeschlossenen Sprachen im Lernprozess manifest zu machen und wertzuschätzen, <?page no="94"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 95 ggf. auch dadurch, dass Lernende selbst Texte in ihrer Muttersprache in das Materialarrangement einbringen und diese den anderen Mitgliedern der Lerngruppe durch Mediation zugänglich machen.“ (Hallet 2015: 37) c) Der mehrsprachige Lerner Wie schon von Wandruszka (1979) betont, ist der Mensch bereits in seiner Muttersprache potenziell mehrsprachig. Lernt er mehrere Sprachen, so wirkt sich das auf sein Sprachlernbewusstsein und seine Sprachlernkompetenz aus. „[…] mehrsprachige Personen [verfügen] über eine sogenannte ‚mehrsprachige Aneignungskompetenz‘ […], die ihnen erlaubt, bereits erworbene Sprachenkenntnisse, Sprachlernerfahrungen und -strategien durch Transfer für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzen (vgl. CHRIST 2006: 60; DOYÉ/ MEIßNER 2010).“ (Martinez 2015a: 13) Mit Königs (2004 und 2010) und zuvor Meißner zu „pro- und retroaktivem Wissen“ unterscheidet auch Hallet (2015) aufgrund der Beziehung zwischen lernerseitig vorhandenem sprachlichen Wissen und neuem Input zwischen retrospektiver (auf Wiedererkennung basierend), prospektiver (Förderung von Mehrsprachigkeitskompetenz und Sprachlernbereitschaft), paralleler (z. B. bei gleichzeitig einsetzenden Fremdsprachen) sowie grundsätzlich zwischen synchroner und (bei Bezug zu alten Sprachen und Sprachstufen) diachroner Mehrsprachigkeit (vgl. Hallet 2015: 35; siehe auch Meißner & Reinfried 1998: 9-22, bes. 20 und Meißner 2014: 149-169). Mehrsprachiges Lernen sollte früh einsetzen und möglichst in bilingualen Kontexten. So zeigt Morkötter (2010) in ihrer Untersuchung bei jüngeren Lernern, dass diese bereits in der Lage sind, auf verschiedene Strategien beim „Zwischen-Sprachen-Lernen“ zurückzugreifen, unter anderem auch, über formale Ähnlichkeiten hinaus, den Kontext und ihr Weltwissen in den Lernprozess mit einbeziehen, dass es ihnen aber noch schwer fällt, verschiedene Strategien zu kombinieren. Bär (2009a) weist in seinen Fallstudien zum Interkomprehensionsunterricht zu romanischen Sprachen nach, dass Schüler mit bilingualem Unterricht gegenüber Schülern mit normalem Unterricht über deutliche Vorsprünge in Bezug auf eine mehrsprachige Erschließungskompetenz verfügen. Interkomprehensionsunterricht vermag die Motivation für das Erlernen von Fremdsprachen zu steigern, z. B. durch den Einsatz von authentischen Materialien und den Ansatz, gezielt und selbstwirksam auf Vorwissen zuzugreifen (vgl. Bär 2009a, 2010), und wirkt sich besonders positiv auf das Erschließen, das Hörverstehen, das Lesen und die Fehlerprophylaxe aus, wie Meißner (2010a) in seinen empirischen Untersuchungen unter anderem belegen konnte. „Hörverstehen und prozedurales Mehrsprachenwissen: Eine Analyse der IC-Prozesse [Interkomprehensionsprozesse], welche ja die eingesetzten Brückensprachen identifiziert, bestätigt beim Hörverstehen eindeutig, wie entscheidend das prozedurale <?page no="95"?> 96 2 Lernerautonomie (LA) Wissen für das Gelingen von IC vor allem in den komplementären Teilkompetenzen Hörverstehen (und Sprechen) ist. Dies unterstreicht einmal mehr vorliegende Befunde (Meißner & Burk 2001; Haag & Stern 2002): So machen unsere Daten Lateinkenntnisse nur in einem einzigen Fall bei über 25 Probanden sichtbar - obwohl sie nach Ausweis der Sprachenbiographien mehrfach vorhanden sind; und zwar zum Leseverstehen. Vielfach wird indes das Englische notiert; oft auch nachdem ein Identifikationstransfer auf der Grundlage einer romanischen Brückensprache geleistet worden ist. […] Intake-Optimierung: Diese steht in engem Zusammenhang mit der Konstruktion und Überprüfung der dem Transfer zugrunde gelegten Sprachhypothese oder mit fehlerprophylaktischen Erwägungen. Einiges spricht dafür, dass gerade auch beim Lesen nach dem erfolgten Transfer ein plurilingualer und mehrdirektionaler Rückvergleich mit bekannten Strukturen erfolgt. Dieses Verhalten ist für die Steuerung von Mehrsprachenunterricht hochgradig relevant und sollte methodisch genutzt werden.“ (Meißner 2010a: 215; Hervorhebung im Original) Empirische Studien belegen, dass Interkomprehensionsunterricht die Autonomie der Lerner fördert, indem er Sprachaufmerksamkeit, Sprachlernbewusstheit, Sprachlernkompetenz und Sprachlernroutinen unterstützt und eine „plurireferentielle europäische Identität“ ausbildet (Meißner 6 2016: 237). Neben der durch sogenannte Iso-Messungen feststellbaren objektiven zwischensprachlichen Ähnlichkeiten von Sprachformen weist Meißner (2010a), wie andere vor ihm (vgl. Masperi 2000: 466; Kellerman 1977), auf die sogenannte psychotypische Nähe von Sprachen hin, wonach sich Lerner häufiger der Sprache zum Vergleich bedienen, die ihnen näher an der Zielsprache erscheint. Wichtig für diese Einschätzung der Brückenfunktion einer Sprache sind neben den realen Sprachlernerfahrungen außeninitiierte Einflüsse (Bemerkungen von Lehrpersonen, Eltern, Freunden usw., Subjektive Theorien usw.). d) Mehrsprachigkeit in Unterricht und Schulpolitik Zur optimalen Sprachenfolge im Sinne der Mehrsprachigkeit hebt Meißner die Bedeutung des Französischen als 1. oder 2. Fremdsprache hervor: „Die Eingangsfremdsprache Französisch ist im gymnasialen Bildungsgang unter dem Gesichtspunkt des Mehrsprachigkeitsziels dem Englischen überlegen, schon weil sie Schüler am Ende der Jahrgangsstufe 10 zu operablen Kenntnissen in ‚zwei‘ modernen Fremdsprachen führt und zweitens im Zusammenwirken mit dem Englischen und seiner raschen Progression in zweiter Position breitere linguale und instrumentale Transfergrundlagen für das Erlernen tertiärer Sprachen legt. Das Englische leistet dies als 1. Fremdsprache in weitaus geringerem Umfang. Als besonders gravierend erweist sich die im Sinne der Mehrsprachigkeit ‚ungünstige‘ Sprachenfolge, wenn sich, wie es in Deutschland der Fall ist, nahezu ein Drittel der Gymnasiasten mit der Kenntnis <?page no="96"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 97 nur einer einzigen modernen Fremdsprache zufriedengibt. Der Mangel wiegt dann umso schwerer, wenn das Fehlen einer zweiten modernen Schulfremdsprache mit einem Verlust an Sprachlernkompetenz einhergeht. Bekanntlich lehrt der Lateinunterricht weder das Sprechen noch das Hörende-Verstehen, und ebenso wenig fördert er die sich am Gegenstand unterschiedlicher moderner Zielsprachen entwickelnde Erfahrung im Bereich von Lerntechniken und Erwerbsstrategien. […] Jede lebende romanische Fremdsprache leistet hier mehr.“ (Meißner 1998b: 80; 2003) In ihrer quantitativen Studie bestätigt Beckmann diesen Befund (2016: 354): „Zentrales Ergebnis sind die negativen Auswirkungen der Sprachenfolge E1/ F2 und L2/ FS3.“ Dabei gilt unter den romanischen Sprachen das Französische als besonders geeignete Brückensprache: „[…], enthält es doch eine Reihe von zentralen panromanischen linguistischen Charakteristika, die als Transferbasen für das Erschließen anderer romanischer Sprachen dienen können, und zugleich eine Reihe von nur in der französischen Sprache vorkommenden Charakteristika, die von anderen romanischen Sprachen aus nicht erschlossen werden könnten (vgl. Klein [2004]).“ (Schinschke & Caspari 2017: 7) Siehe in diesem Zusammenhang auch das Projekt Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit unter der Leitung von Meißner. Basierend auf der Computerlexikografie wurde in Gießen eine Datenbank entwickelt, die die Zielsprachen Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch umfasst, und als disambiguierende Sprachen Deutsch und Englisch. Meißner (2018a) beschreibt die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM) hinsichtlich zwischensprachlicher Transparenz und Opazität der Lemmata und ihrer Frequenzränge. Zu den Ergebnissen der Lexikostatistik zählen die Komputationen von sogenannten Transferbasen bzw. Profilformen und deren Graduierung. Sie haben Relevanz für das Unterrichten von romanischen Sprachen, des Englischen und des Deutschen mit Blick auf den lexikalischen Input und die Berücksichtigung von Vorwissen und das Erlebnis von Selbstwirksamkeit bei den Lernern. Meißner (2018a: 97) weist darauf hin, dass „mit der bloßen Kenntnis eines T4- und T3-Anteils [Transparenzstufenanteils] in nur einer einzigen romanischen Sprache bereits 70 bis nahezu 80 Prozent des kernwortschatzlichen Wortschatzes einer weiteren romanischen Sprache erschließbar bzw. Lernern augenscheinlich transparent werden können.“ Weiter führt er aus: „Eine starke Beschleunigung des Ausbaus der interkomprehensiven Lesekompetenz ist vor allem dann in kurzer Zeit realisierbar, wenn schon zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Lernstrecke die opaken Wortschatzanteile vermittelt/ erworben wer- <?page no="97"?> 98 2 Lernerautonomie (LA) den. Dies betrifft nur 5 % bis 7 % der Lemmata der jeweiligen Selektion. Bei ca. 7000 formdivergenten Lemmata pro Zielsprache sind dies 350 bis 500 Lexeme.“ (Meißner 2018a: 97) Mit Blick auf Art und Umfang der Transferbasen des Französischen notiert er: „In der fachdidaktischen Diskussion um die Vorzüglichkeit dieser oder jener romanischen Sprache als optimale Brückensprache für das Erlernen der Schwestersprachen spielte immer wieder die Frage nach Art und Umfang der gelieferten Transferbasen eine Rolle. Sie betrifft den Kernwortschatz in besonderer Weise. […] Wie die KRM- Komputationen belegen, liegen die Transferpotenziale der einzelnen romanischen Sprachen für ihre romanischen Schwestern sehr eng beieinander. Allein das Französische weist eine deutlich höhere Anzahl an Profilwörtern auf als die südlichen Nachbarn. Sein Wortschatz ist daher weniger transparent. […] Ein weiteres Faktum kommt hinzu, und zwar der Lautstand der französischen Erbwörter. Das Französische kennt nicht nur eine stärkere Modifikation im Bereich des Vokalismus […] gegenüber dem Latein und den romanischen Schwestersprachen, französische Wörter sind auch im Vergleich zu ihren romanischen Entsprechungen zumeist ‚kürzer‘ […] Für das romanisch-interkomprehensive Potential des Französischen bedeutet dies - wie man auf den ersten Blick meinen könnte - einen Nachteil. Dieser Eindruck erhärtet sich aber nur solange, wie man das Französische als „lernensunwerte“ Sprache außerhalb der Analyse hält. (Es dürfte allerdings kaum möglich sein, hierfür nachvollziehbare Gründe zu finden.) All diese Argumente sind jenen von Horst G. Klein (2002) hinzuzufügen, der das Französische als optimale Brückensprache für die romanischen Schwesteridiome bezeichnet.“ (Meißner 2018a: 112-113) Vom Europarat (2001) wird die Notwendigkeit eines sprachenübergreifenden (Fremdsprachen-) Unterrichts angemerkt, um die mehrsprachige Kompetenz der Schüler zu fördern: „Aus dieser Perspektive ändert sich das Ziel des Sprachunterrichts ganz grundsätzlich. Man kann es nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der ‚ideale Muttersprachler‘ als höchstes Vorbild betrachtet wird. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem alle sprachlichen Fähigkeiten ihren Platz haben. Dies impliziert natürlich, dass das Sprachenangebot der Bildungseinrichtungen diversifiziert wird und dass die Lernenden die Möglichkeit erhalten, eine mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln.“ (Europarat 2001: 17) Die von der Europäischen Kommission unterstützte internationale Studie „Pour le multilinguisme : Exploiter à l’école la diversité des contextes européens“ (Androulakis et al. 2007: 286-293; die Daten wurden in Deutschland, Belgien, <?page no="98"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 99 Griechenland, Luxemburg und Polen gezogen) generiert folgende Schlussfolgerungen für Unterricht und Schulpolitik: - „Enseigner l’intérêt des langues et des cultures“ (hier kommt dem Unterricht des Englischen als meist 1. Fremdsprache eine besondere Bedeutung für eine Öffnung zu anderen Sprachen hin zu; Schröder (2009) spricht vom Englischunterricht als gateway to other languages; siehe auch die Analyse von Meißner 2018a: 111-112, wonach neben dem Deutschen insbesondere das Englische eine hohe Transparenzrate mit dem romanischen Wortschatz teilt) - „Adapter la méthodologie : Exploiter les compétences déjà acquises et multiplier les interactions“ (systematische Aktivierung der bereits vorhandenen Kompetenzen, einschließlich der Lernstrategien, anfangs mit Schwerpunkt auf den rezeptiven und mündlichen Kompetenzen) - „Adapter le curriculum : Différencier les objectifs et viser des compétences interculturelles“ (ein durchdachtes, mit den anderen Sprachen abgestimmtes, die Sprachlernkompetenz und interkulturelle Kompetenz berücksichtigendes und auf die Kurslänge hin angepasstes Curriculum kann einem Motivationsabfall bei den Schülern entgegenwirken, insbesondere lernförderliche Gemeinsamkeiten betonen und dadurch den Eindruck von Wiederholung vermeiden) - „Intégrer l’intercompréhension aux cours de langue“ (Interkomprehension unterrichten, siehe hierzu auch das Programm InterCompréhension Européenne, ICE, von Castagne) - „Développer et mettre en pratique l’éveil aux langues“ (anhand von Materialien mehrsprachliche und kulturelle Vielfalt spielerisch erleben, im Sinne des Conseil de l’Europe 2005) - „Définir au niveau local une politique du plurilinguisme“ (örtliche Informationspolitik und Initiativen für eine Mehrsprachigkeit, wie z. B. fakultative sprachliche Kursangebote an den Schulen, im Sinne des Cadre européen commun de référence pour les langues und Candelier et al. 2007, Abdeckung von möglichst drei Sprachfamilien) - „Préparer l’apprentissage tout au long de la vie“ (Förderung der LA als Voraussetzung für lebenslanges Lernen) In Anknüpfung an Wandruszka (1979: 313) und Meißner (2004b: 153) formuliert Martinez im Hinblick auf die politische Dimension von LA und Mehrsprachigkeit: <?page no="99"?> 100 2 Lernerautonomie (LA) „Die Verbindung von LA und Mehrsprachigkeit hat deutlich gezeigt, dass LA an der individuellen Mehrsprachigkeit des Lerners anknüpft, welche jedem Individuum inne ist […]. LA verbindet sich somit mit dem Erhalt der sozialen Vielsprachigkeit und trägt zur Mehrsprachigkeit der Europäer bei.“ (Martinez 2008: 309) e) Autonomiefördernde Mehrsprachigkeitsdidaktik Die Mehrsprachigkeitsdidaktik hebt insbesondere auf die metakognitive Eigenaktivität des Lerners und seiner Innensteuerung 10 ab und ist damit autonomiefördernd (Meißner & Morkötter 2009): „In dem Maße, wie der Lernende seine Strategien (siehe dazu Meißner & Burk 2001) festigt und erweitert (auch mit Hilfe der Steuerung der Lehrenden), wächst nicht nur seine metakognitive Kompetenz, sondern auch seine Selbststeuerungskompetenz und Selbstbestimmungsfähigkeit. Somit ist Mehrsprachigkeitsdidaktik autonomisierend. Die Fähigkeit, Kontrolle über lingualen und didaktischen Transfer (durch Monitoring) auszuüben, verbindet Mehrsprachigkeitsdidaktik und LA-Forschung.“ (Martinez 2008: 58-59; unter weiteren Hinweis auf Meißner 2008a sowie Bär et al. 2005 und Böing 2004) „As a method that demands permanent controlling of interlingual pluridirectional as well as learning behavioral activities, the didactics of plurilingualism optimises input processing and can produce a kind of ‘self-generated input enhancement’ (…) Analogically to the findings about ‘monolingual’ foreign language learning processing, it can be said that plurilingual activities generate a plurilingual auto-input.“ (Meißner 2008a: 9; Hervorhebung im Original) „Alle Daten bestätigen den IC-Ansatz als eine mächtige Strategie zur Förderung und Verstetigung der Sprachen- und Lernbewusstheit. […] IC ist, hieran ist nicht zu zweifeln, eine Möglichkeit zur Steigerung von auto-input enhancement, um es in Anlehnung an Sharwood Smith (1993) auszudrücken, und von Selbstwirksamkeit im Umgang mit Sprachen.“ (Meißner 2010a: 215) Als wirksame Strategie, die mentale Verarbeitung von Sprachdaten sichtbar zu machen, stellt Meißner (2010a) das mehrsprachige diagnostische Schreiben vor. Hierunter ist das Schreiben z. B. qua Übersetzung in einer (noch) unbekannten Zielsprache zu verstehen. Ziele sind die Sichtbarmachung der sogenannten Interlanguage und die Lieferung von lernersprachlichen Daten zum späteren Entwurf eines Lernplanes: 10 Solche Lerner, die das Gefühl haben, ihr eigenes Lernen kontrollieren zu können, haben eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. z. B. Bandura 1977; Krapp 1993) und sind laut Dickinson (1995) die erfolgreicheren und motivierteren Lerner. Mit dem Aspekt der Innensteuerung ist auch die Authentizität verbunden, eine weitere Facette der LA. Für van Lier ist eine Handlung dann authentisch, „when it realizes a free choice and is an expression of what a person genuinely feels and believes. An authentic action is intrinsically motivated.“ (1996: 13) <?page no="100"?> 2.2 Lernerautonomie und Mehrsprachigkeit 101 „Die Produktivität zwingt die Lerner mehr noch als das rezeptive IC-Ereignis zur Reflexion ihrer eigenen Suchprozesse und zur explizierbaren Kontrolle der eigenen Hypothesen zu den Brückensprachen, der Zielsprache, dem ‚Zwischen-Sprachen-Bereich‘ und den Lernhandlungen. Weil das Schreiben diese Vorgänge ‚sichtbar‘ macht, bietet es der Lehrseite Möglichkeiten zu einer lerndiagnostisch begründeten, individualisierten Steuerung, welche die Lernersprache in starker Weise berücksichtigt. Dies geht weit über die traditionelle Fehleranalyse und über ihren Zugriff auf die Lernersprache hinaus.“ (Meißner 2010a: 216; zur Wirksamkeit schriftlicher Übungen siehe auch Behr 2010, oben) Doyé (2010) sieht die „Interkomprehension als Katalysator für Autonomie“, da sie die Lernenden sich ihrer Voraussetzungen und Kompetenzen bewusst werden lässt, der Strategieschulung einen zentralen Stellenwert im Unterricht einräumt („stratégies transférentielles“, vgl. Meißner 2002b), das Fällen von Entscheidungen einübt und die Selbstevaluation schult. Siehe hierzu auch das von Tassinari (2010a, b) entwickelte Instrument zur Selbsteinschätzung von LA, das die Reflexion und Bewusstheit über Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Interkomprehension gezielt fördert. 11 Doyé (2010: 132) fasst (m.R. Bär 2009a; Martinez 2008; Morkötter 2008; Meißner & Morkötter 2009; Meißner 2010a) zusammen: „Inzwischen kann als bewiesen gelten, dass die Interkomprehension einen zentralen Beitrag zur Autonomisierung der Fremdsprachenlerner leisten kann.“ Zusammenfassend: Mehrsprachenlernen initiiert das Entwerfen und Verifizieren, Falsifizieren und/ oder Modifizieren von Hypothesen, es bewirkt eine tiefe und breite Informationsverarbeitung von Sprachdaten sowie die Reflexion über die eigenen Lernprozesse und Lösungswege bzw. das Monitoring des eigenen Lernprozesses. Interkomprehensive Verfahren bilden sehr rasch Routinen aus, Sprache anzugehen. Dies bewirkt nachhaltige Lernerfahrungen durch die fortwährende Anwendung von kognitiven Strategien und das Vergleichen sprachlicher Schemata. All das führt zum Aufbau einer multilanguage and learning awareness, zum Bewältigen von Transferleistungen und zur positiven Aktivierung von Vorwissen (vgl. Martinez 2008: 293; m. R. Brown 1978, De Florio Hansen 2003: 26). Damit wird die mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz der Schüler gefördert, die alle ihre sprachlichen Fähigkeiten umfasst und ihre LA stärkt. In der Konstruktion der Mehrsprachigkeit kommt dem Französischen in Deutschland eine besondere, u. a. auch politische, Bedeutung zu (vgl. Meißner 1998: 79). 11 Allerdings fokussiert das dynamische Autonomiemodell Tassinaris, siehe unten, nicht auf Mehrsprachigkeit. <?page no="101"?> 102 2 Lernerautonomie (LA) 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung Im Bedeutungskern von LA liegt das selbstständige, selbstbestimmte, selbstverantwortliche Lernen fremder Sprachen. LA wird gesehen „[…] als die Fähigkeit, die Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu übernehmen.“ (Martinez & Meißner 2017: 221) Ein autonomer Lerner lernt: - selbstständig (zuletzt u. a. Sieberkorb & Caspari 2017), - selbstbestimmt/ selbstgesteuert (zuletzt u. a. Behr 2010; Klieme 2010; Carrington 2015) und - selbstverantwortlich (zuletzt u. a. Martinez 2011, 6 2016; Aguado 6 2016; zur Zielsetzungskompetenz siehe u. a. Beckmann 2016; zum Aspekt der Kontrolle siehe u. a. Meißner 2010a, 2012c). 12 Zur Selbstverantwortung gehört insbesondere der Aspekt der Kontrolle. LA zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, „die Kontrolle über den eigenen Fremdsprachenlernprozess auszuüben“ (Martinez 2008: 66-73; siehe z. B. auch Tassinari 2010a: 265-266). 13 Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Fähigkeit zur Kontrolle und der Ausübung dieser Fähigkeit (Martinez 2008; m. R. Holec) und zwischen unterschiedlichen Formen von Kontrolle: „- Kontrolle über die kognitiven Prozesse, einschließlich Kontrolle über sprachlichen und didaktischen Transfer; - Kontrolle über die Lernorganisation; 12 Dem Begriff der LA liegt nach Wehmer ( 4 2003), der die einschlägigen Positionen des Diskurses zusammenfasst, ein Bild des Lerners zugrunde, das geprägt ist durch dessen Individualität, Selbstständigkeit und Selbstorganisation sowie dessen Eigenverantwortlichkeit und Fähigkeit zur Kooperation: „Der Lerner wird als selbständig handelnde Person wahrgenommen mit persönlichen Interessen, einer Lernbiographie, mit bevorzugtem Lernverhalten […] und individuellen Lernzielen, der an der Gestaltung des Lernprozesses beteiligt wird oder selbst darüber entscheidet.“ (Wehmer 4 2003: 344) 13 Tassinari definiert LA „ […] als Konstrukt von Konstrukten, als komplexe Metafähigkeit des Lerners, in verschiedenen Situationen und Formen die Kontrolle über das eigene Lernen auszuüben. Aus wissensbasierten und handlungsorientierten Kompetenzen, Fertigkeiten und Strategien sowie aus motivationalen und affektiven Einstellungen und Kompetenzen bestehend, wird LA durch bewusste Entscheidungen und Handlungen im sozialen Lernumfeld von verschiedenen Lernern in verschiedene Formen umgesetzt. Wesentliches Merkmal dieser Metafähigkeit ist es, ein Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Aspekte zu realisieren […].“ (Tassinari 2010a: 265-266) <?page no="102"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 103 - Kontrolle über Lernressourcen und Lerninhalte (bzw. Lernaufgaben); - Kontrolle über die eigene Motivation; - Kontrolle über die Lernumgebung.“ (Martinez 2008: 66) 14 Unter dem Aspekt der LA als „Fähigkeit, die Verantwortung bzw. die Kontrolle für das eigene Lernen zu übernehmen“, entwirft Martinez (2008: 73-79; m. R. Benson 1997, Oxford 2003) ein Rahmenmodell, das vier Perspektiven unterscheidet: „- eine philosophische bzw. (kritisch-)politische Perspektive: Fokus auf die strukturellen Machtverhältnisse der Lehr- und Lernsituation und die Notwendigkeit, sich davon zu befreien (Independenz der Lerner); - eine technische (situativ-strukturelle) Perspektive: Fokus auf den Lernkontext bzw. die Situation - ressources matérielles et humaines - und auf die strukturellen Veränderungen der Lehr- und Lernsituation; - eine psychologische (prozessorientierte) Perspektive: Fokus auf die internen (kognitiv-individuellen) Lernprozesse; - eine sozio-interaktive Perspektive: Fokus auf die soziale Interaktion als menschliche Dimension.“ (Martinez 2008: 74) Die philosophische bzw. (kritisch-)politische Perspektive „definiert und misst LA als den Grad bzw. die Fähigkeit der Übernahme der Verantwortung für das eigene Lernen. Diese Formulierung impliziert die Fähigkeit, über Lernziele und Lerninhalte zu bestimmen, Lernmethoden zu entwickeln und den Lernprozess und das Lernergebnis zu evaluieren (Holec 1988a). Der Fokus liegt auf der Unabhängigkeit bzw. der non dépendance (siehe Holec 1988a) des Lerners gegenüber fremdbestimmten Entscheidungen, auf dessen Partizipation an seiner (Sprach-) Bildung sowie dessen Fähigkeit, seinen Lernprozess selbst zu steuern.“ (Martinez 2008: 74-75) Autonomiefördernde Maßnahmen zielen hierbei insbesonde- 14 Benson (2001: 50 ff.) unterscheidet bei der Kontrolle über das Lernen drei Bereiche: „control over learning management“, „control over cognitive processes“ und „control over learning content“. Diese drei Bereiche interagieren miteinander, wobei die Kontrolle über die kognitiven Prozesse für ihn von zentraler Bedeutung ist. Die Kontrolle über die kognitiven Prozesse (control over cognitive processes), denen die Kontrolle der Lernorganisation zugrunde liegt, bezieht sich nach Benson (2001) auf die Bereiche attention, reflection und metacognitive knowledge. Damit sind die metakognitiven sprach- und lernreflexiven Fähigkeiten des autonomen Lerners gemeint sowie seine Sprachaufmerksamkeit, das heißt die notwendige Kontrolle des Inputs (vgl. Martinez 2008: 54; u. a. m. R. McLaughlin & Heredia 1996: 214 f., Morkötter 2005: 45 f.). Die Kontrolle über die Lerninhalte (control over learning content) bezieht sich auf die Lernressourcen und die Lerninhalte. Erst die psychologische Beziehung des Lerners zum Lernprozess und zu den Lerninhalten macht nach Benson (2001: 98; m. R. Little 1991: 4) echte LA aus. <?page no="103"?> 104 2 Lernerautonomie (LA) re auf die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins bei den Lernenden (vgl. Lamb 2000: 123 f.). 15 Die technische (situativ-strukturelle) Perspektive befasst sich mit der Frage, wie der Lernende in der Praxis durch eine entsprechende Gestaltung der Lernumgebung und Materialien seinen Lernprozess im Hinblick auf Lerninhalte, Lernstoff, Zeit, Ort und Ressourcen selbst steuern kann. „Autonomiefördernde Maßnahmen fokussieren auf die Bereitstellung und die Erstellung der Lernumgebung (meist im Sinne eines durch Technologie unterstützten Selbstlernzentrums bzw. rich language learning environment) und der Befähigung des Lerners, hier zu lernen (learner training) .“ (Martinez 2008: 75; m. R. Dickinson 1987) Martinez sieht die Gefahr, dass durch den Ansatz der apprentissage-autodirigé (vgl. Holec 1980) bzw. durch das von Wolff ( 4 2003: 321) definierte „selbst gesteuerte Lernen“ das Konzept der LA zu stark auf einen technizistischen Aspekt reduziert wird. „Diese technizistische Version folgt einer logique de l’enseignement und nicht einer für die LA charakteristischen logique de l’apprentissage: sie bleibt einem instruktivistischen Lehr- und Lernparadigma verpflichtet (s. dazu Meißner & Senger 2001).“ (Martinez 2008: 76) Martinez unterscheidet zwischen dem selbstgesteuerten Lernen in seiner rein technizistischen Form und dem selbstgesteuerten Lernen in seiner konstruktivistischen Ausprägung (u. a. m. R. Holec 1996; Barbot 2000; Albéro 2000), wie es im CRAPEL entwickelt wurde. Hierbei wird berücksichtigt, dass zur Förderung von LA insbesondere auch psychologische bzw. sozio-interaktive Aspekte eine bedeutende Rolle spielen. „L’instance de formation ne fait pas le choix à la place de l’apprenant; elle procède davantage comme conseiller que comme enseignant (M.-J. Gremmo 1995) et accorde autant d’importance à la discipline qu’à la méthode élaborée par l’apprenant en fonction de ses besoins, de ses capacités du moment et de sa situation personnelle (H. Trocmé-Fabre, 1987).“ (Albéro 2000: 263; Hervorhebung im Original) Die psychologisch (prozessorientierte) Perspektive „definiert und misst LA als die psychologische Fähigkeit des Lerners, seinen Lernprozess zu steuern. Der 15 Die Übernahme der Verantwortung für das eigene Lernen kann nach Holec (1994a) eine „autonomie de l’apprenant“ oder eine „apprentissage autodirigé“ bedeuten: einerseits also die potenzielle Fähigkeit des Lerners, Verantwortung für seinen Fremdsprachenlernprozess zu übernehmen, und andererseits die tatsächliche Ausübung dieser Fähigkeit. Geht es um den Lernprozess des autonomen Lerners so spricht Holec von „apprentissage autodirigé“. Das Adjektiv „autonom“ verwendet er nur in Bezug auf den Lerner selbst, der fähig ist, den eigenen Sprachlernprozess zu steuern und zu verantworten (Holec 1980: 4). Die Übernahme der Verantwortung für den eigenen Fremdsprachenlernprozess bezieht sich für ihn auf „Tätigkeiten des äußeren Lernablaufs (Lernzielbestimmung, Lernorganisation, Lernkoordination und Lernevaluation)“, die in traditionellen Lehr- und Lernsituationen in der Verantwortung des Lehrers liegen. (Holec 1980, 1991) <?page no="104"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 105 Fokus liegt auf der Selbstregulierung von Lernstrategien, Einstellungen, Lernstilen und Motivation durch den Lernenden selbst.“ (Martinez 2008: 77; m. R. u. a. Oxford 1990, Ushioda 1996, Wenden 1998, 1999 und Rampillon 2000) Autonomiefördernde Maßnahmen zielen auf die Vermittlung, Aneignung und Bewusstmachung eben dieser Aspekte ab. 16 Der soziale Lernkontext jedes Lernprozesses wird dabei nicht berücksichtigt. Die sozio-interaktive Perspektive „definiert LA als die sozio-psychologische Fähigkeit des Lerners, seinen Lernprozess zu steuern. Der Fokus liegt auf den zwischenmenschlichen Interaktionen, von denen man annimmt, dass sie bei der kognitiven Entwicklung und Aneignung von Fremdsprachen entscheidend sind. […] Autonomiefördernde Maßnahmen fokussieren auf die Rolle des Lehrers bzw. des Lernberaters bei der progressiven Entwicklung der Selbstständigkeit des Lernenden“ (Martinez 2008: 77; m. R. u. a. Gremmo 1995, Little 1996a, Kleppin 2001, Meißner 4 2006b). 17 16 Zur Bewusstmachung der persönlichen Konstrukte über die (Fremd-) Sprache und den Fremdsprachenlernprozess siehe bereits Little 1991, 1999b, 2001. Aber wie erkennt man lehrseitig die Lernprozesse der Schüler? Die Interkomprehensionsdidaktik hat hierzu Wege aufgezeigt und die Interkomprehensionsforschung hat diese Prozesse auf empirischer Basis beschrieben (Lutjeharms 2001, 2010). Little fordert für den schulischen Kontext Aufgaben, die zur Reflexion über die verwendeten Strategien führen (1996a, 1997c). Dabei sieht er das Training von Strategien in Bezug auf die Aufgaben als untergeordnet und dienend an (vgl. Little 1996d: 96).Littles Definition von LA beruht auf einer Wechselbeziehung zwischen dem Anwenden und dem Lernen von Sprache und umfasst die Lerneridentität. „ […], the autonomous learner is the one whose learning gradually enlarges his or her sense of identity; relative to second language learning in particular, the autonomous learner is the one for whom the target language gradually becomes an integral part of what he or she is.“ (Little 1996a: 210) 17 Little (1991) betrachtet LA im Lernkontext Schule. LA hat für ihn eine soziale Dimension, da sie sich ohne Kommunikation und Interaktion nicht entwickeln kann. „Social interaction generates communicative needs and provides the learner with input; and the learner’s effort to meet his communicative needs by using the target language gradually produces learning.“ (Little 1991: 25) „Learning is possible only to the extent that the learner is able to integrate the new information that is being offered with the sum of his experience to date.“ (Little 1991: 13) Die Verknüpfung des neuen mit dem bereits erworbenen Wissen wird nach Little durch die soziale Interaktion stimuliert. Littlewood betont LA als einen Prozess des selbstbestimmten Lernens, eines menschlichen Grundbedürfnisses. LA korreliert mit intrinsischer Motivation (Littlewood 1997; in Anlehnung an Deci & Ryan 1993 und Ryan 1991). Sie steht in Wechselbeziehung zu einem weiteren Grundbedürfnis, der „relatedness“, dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. LA wird gefördert, „wenn die soziale Umgebung das Bestreben des Individuums nach Autonomie, Kompetenz und sozialem Eingebundensein fördert und ermutigt. Diese Wechselbeziehung wird als ‚autonomous interdependence‘ bezeichnet.“ (Martinez 2008: 44; m. R. Ryan 1991: 227) Während Littlewood die soziale Umwelt bei der Förderung von LA hervorhebt, und damit eine affektive Dimension der LA, sieht Legenhausen auch die Notwendigkeit einer kognitiven Dimension, eine „Authentizität der sozialen Interaktion“, die dann ge- <?page no="105"?> 106 2 Lernerautonomie (LA) Das Rahmenmodell unterscheidet zwischen folgenden Dimensionen: „- eine politische, technische und psychologische Dimension; - eine individuelle und soziale Dimension; - eine kognitive und affektive Dimension; - eine produktorientierte und prozessorientierte Dimension.“ (Martinez 2008: 78) LA meint demnach nicht „allein“, sondern das Selbst des Lernenden und seine psychologisch positive Beziehung zum Lerngegenstand und zum Lernprozess (vgl. Martinez 2008: 78-79; m. R. Peytard 1975, Little 1991, 1996a und Holtzer 1995). Das Zusammenspiel dieser vier Dimensionen wird auch in der Definition von LA durch Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) aufgegriffen. Sie definieren sowohl LA als auch die Autonomie der Lehrkraft wie folgt: „The competence to develop as a self-determined, socially responsible and critically aware participant in (and beyond) educational environments, within a vision of education as (inter)personal empowerment and social transformation.“ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 17) Zeitgleich mit Martinez setzt sich Schmenk (2008; m. R. u. a. Foucault 1978; Sennett 1998; Lemke et al. 2000; Freire 2001) in ihrer Studie „LA - Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs“ kritisch mit der Instrumentalisierung des Autonomiebegriffs im neoliberalen Diskurs auseinander: „Dieser flexible, oder vielleicht besser: neo-autonome Mensch lässt sich nicht einfach fremdbestimmt beherrschen, sondern er internalisiert die fremden Vorgaben, macht sie zu den eigenen und ist somit selbst in der Lage, über die eigenen Handlungen und Entscheidungen zu bestimmen. Dass wir es hier mit einer geradezu perfekten Tarnung zu tun haben, die man als Selbstdisziplinierung bezeichnen kann, ist dabei unbestritten […]. [Es ist] unerlässlich, immer auch den Zusammenhang von Macht und Subjektivität im Blick zu halten, um zu erkunden, inwiefern wir es beim autonomen Lernenden mit einem neo-autonomen ökonomisierten Wesen zu tun haben - und inwiefern nicht.“ (Schmenk 2008: 221-223) Sie kommt, auch angesichts „des Phänomens der Verschmelzung von Selbst- und Fremdbestimmung“ und heteronomer Grenzen, zu dem Schluss: „Der Anspruch, mit dem Autonomie zum Bildungsideal, zum politischen Ideal des mündigen Bürgers, zum Ideal des Selbstlernenden erklärt wird, kann […] demaskiert werden als überzogen, ungerechtfertigt und unrealistisch. Es fällt, […], geben ist, wenn Lernprozesse und Verfahren im Unterricht thematisiert werden (Legenhausen 4 2006: 416; in Anlehnung an Breen 1983). <?page no="106"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 107 nicht schwer, Autonomie als nicht in Reinform existent zu entmystifizieren.“ (Schmenk 2008: 241, 226) Tassinari (2010a) 18 betont ebenfalls: „Es gibt keine absolute LA, sondern ein Kontinuum zwischen Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Lerners in Bezug auf einzelne Aspekte des Lernprozesses.“ (Tassinari 2010a: 119) Sie identifiziert vier Spannungsfelder in der Definition von LA: 1. Fähigkeit des Lerners versus die vorhandenen situationellen Bedingungen oder Lernformen, also die Möglichkeiten zur Realisierung, 2. Kompetenzen des Lerners versus seine Persönlichkeitsmerkmale, 3. das Idealbild von LA versus LA als Aneignungsprozess von Kompetenzen und 4. wissenschaftliche Definition von LA und wertbezogene Definition von LA. (vgl. Tassinari 2010a: 266-267) Autonomie wird von Schmenk (2008: 282; m. R. Meyer-Drawe 1993) als potenziell kritische Folie gewertet: „Anstatt als real zu erreichendes Ziel, also als tatsächlich entwickelbare menschliche Eigenschaft zu gelten und popularisiert oder einfach nur behauptet zu werden, gewinnt Autonomie […] die Qualität einer gedachten Größe, die als kritische Folie dienen kann zur Einschätzung und Abschätzung der tatsächlichen Handlungs- und Entscheidungsspielräume des einzelnen Ich.“ „Mündigkeit bzw. Mündigwerden ist als fortwährender Versuch anzusehen, die eigenen Autonomiepotenziale in ihren jeweiligen heteronomen Grenzen zu begreifen, um eigene Handlungs- und Entscheidungsspielräume wie auch die von Anderen abschätzen, verstehen und nutzen zu können.“ (Schmenk 2008: 286-287) Zu den zentralen Bedeutungen von Lernerautonomie gehören: a) Motivation und Resilienz „Die individuelle Wahrnehmung von Autonomie oder Selbstbestimmung, Kompetenz oder Wirksamkeit und sozialer Eingebundenheit oder sozialer Zugehörigkeit wird in der Selbstbestimmungstheorie der psychologischen Grundbedürfnisse (vgl. Deci / Ryan 1993: 228) als Voraussetzung für das Zustandekommen intrinsischer Motivation gesehen. Wenn sich die Lernenden bei der Analyse, Bearbeitung und Evaluation von Aufgaben im Unterricht als kompetent und autonom erleben und sich im Unterricht eingebunden fühlen, kann sich intrinsische Motivation entwickeln und sich positiv auf die Aufgabenbearbeitung und den eigenen Sprachlernprozess auswirken.“ (Wäckerle & Martinez 2017: 275) 18 Tassinari (2010a) ordnet die bis dahin vorliegenden Definitionen zur LA drei Ebenen zu: 1. einer allgemeinen Ebene, 2. einer Ebene der Komponenten von LA und 3. einer Ebene der Entwicklungsstadien von LA. <?page no="107"?> 108 2 Lernerautonomie (LA) LA fördert die Motivation der Lernenden (zuletzt u. a. Martinez 2015a; Martinez & Meißner 2017) und stärkt sie, indem sie Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht (z. B. durch den gezielten Zugriff auf das Vorwissen der Lerner beim Interkomprehensionsunterricht: z. B. Bär 2009a, 2010; siehe z. B. auch Meißner 2010a; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017). 19 Ein wesentlicher und von Seiten der Lehrkraft und der Lernaufgaben zu unterstützender Faktor ist ein positives Selbstkonzept des Lernenden, einschließlich positiver Selbstwirksamkeitserwartungen, mit denen er seine eigene Motivation regulieren und fördern kann. „In this respect, what learners believe about themselves is crucially important to their capacity for self-motivation.“ (Ushioda 1996: 55; zitiert nach Martinez 2008: 291; siehe auch Küster 2013: 87) Die Fähigkeit zur Selbstmotivation umfasst nach Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) attributions (kausale Zuschreibungen), motivational beliefs (Überzeugungen zur Selbstwirksamkeit), intrinsic motivation (insbesondere bei Selbstbestimmtheit) und motivational self-regulation or self-motivation (die affektive Dimension des Sprachenlernens kontrollieren). Zu den subjektiven Wahrnehmungen des Lerners, die Einfluss auf die Regulierung seiner Motivation haben, gehören „[…] Wahrnehmungen bezüglich der Relevanz der Aufgabe aus der Sicht der Lernenden, bezüglich des Gefühls der Kontrollierbarkeit der Aufgabe und des erlebten Kompetenzgefühls eines Lerners.“ (Martinez 2008: 291-292; m. R. Viau 2 1997: 32) Letztendlich sollte der Französischunterricht einem Gesamtkonzept folgen, „das den Schüler bzw. die Schülerin nicht primär als Lerner oder Lernerin, sondern als lernende Persönlichkeit mit individuellen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen betrachtet.“ (Caspari 2013b: 25) b) Einsicht in Sprache/ n und das eigene Lernen (Sprachlernbewusstheit) „Neben der Mehrsprachigkeit ist SLK [Sprachlernkompetenz] auch dem (Groß-) Konzept der „Lernerautonomie“ verpflichtet, […]. Kompetente Lernende verfügen über einen hohen Grad an Sprachlernbewusstheit.“ (Martinez & Meißner 2017: 221, 229) Sprachlernbewusstheit ist eng verknüpft mit Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz (z. B. Meißner 2012b; Martinez 2015a; Schinschke & 19 Siehe bereits Wenden: „In effect, ‛successful’ or ‛expert’ or ‛intelligent’ learners have learned how to learn. They have acquired the learning strategies and the knowledge about learning, and the attitudes that enable them to use these skills and knowledge confidently, flexibly, appropriately and independently of a teacher. Therefore they are autonomous.“ (Wenden 1991: 15) <?page no="108"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 109 Caspari 2017) und wird insbesondere durch Interkomprehensionsunterricht gefördert (z. B. Meißner 2010a, 2012b, 6 2016). Ein kompetenter Sprachenlerner ist selbsttätig und selbstständig (z. B. Sieberkorb & Caspari 2017) sowie selbstorganisiert und setzt bewusst Lerntechniken ein (z. B. Martinez 2008; Gnutzmann 4 2003, 6 2016). Language awareness und language learning awareness: Beim Bemühen um die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Fremdsprachenlerners spielen die Entwicklung der Begriffe language awareness, language learning awareness und Sprachlernkompetenz eine wichtige Rolle. Der Begriff language awareness geht ursprünglich auf Hawkins (1984) zurück. Im vor allem monolingual geprägten anglo-amerikanischen Raum bezog sich das Konzept der language awareness auf Mehrsprachigkeit durch Migrantensprachen. Im Deutschen erfuhr language awareness unter dem Begriff Sprachbewusstheit eine Weiterentwicklung (siehe Meißner 2012d; m. R. u. a. Wolff 1990; Hecht 1994): „Bescheid wissen über Strukturen und Funktionen, Einblicke zu gewinnen in den Wert der Sprache und über ihre Rolle in unserer Gesellschaft und zu erkennen, was L1 und L2 voneinander unterscheidet und was sie gemeinsam haben, geht über den Grammatikunterricht früherer Art hinaus.“ (Hecht 1994: 129) 20 Language awareness im Sinne eines expliziten sprachlichen Wissens steht damit für eine kognitive Neuorientierung im Fremdsprachenunterricht (vgl. Gnutzmann 4 2003; m. R. Bausch, Christ & Krumm 1998). Van Lier (1995) definierte language awareness als Verständnis der menschlichen Sprachfähigkeit, die grundlegend für menschliches Denken, miteinander (soziales) Handeln und Lernen ist. Fairclough hatte (1989) eine politische Dimension in dem Konzept der language awareness aufgezeigt, weil es den Lernenden die sprachlichen Mechanismen von Herrschaft und Kontrolle vermittelt. „Da Sprache immer soziokulturell eingebettet ist, führt erhöhte Sprachbewusstheit auch zu einer sensibleren Gestaltung der Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen. Ebenso hilft sie, soziale und geographische Varietäten einer Sprache zu verstehen sowie Sprache als Herrschaftsinstrument in ihrem manipulativen Charakter zu durchschauen bzw. den Einfluss von Machtverhältnissen auf Inhalt, Wortwahl und Struktur von Texten zu erkennen.“ (Vollmer et al. 2017: 203; u. a. m. R. KMK & BMZ 2 2016) 20 Meißner (2012d: 136) verweist darauf, dass sich Englisch als verbreitete 1. Fremdsprache und im Vergleich zu Deutsch und Französisch als morphosyntaktisch reduziertere Sprache weitgehend lexikalisch unterrichten lässt. Mit Blick auf die Sprachen der Welt sei es „absurd“ zu dem Urteil zu kommen, Deutsch und Französisch als Fremdsprachen seien schwer erlernbar, andere Sprachen leicht. <?page no="109"?> 110 2 Lernerautonomie (LA) Sprachbewusstheit erfährt durch die Begriffe Sprachenbewusstheit bzw. Mehrsprachenbewusstheit eine notwendige Ergänzung (siehe Meißner 2012d: 135). „Heute umfasst Sprachbewusstheit mindestens zwei Aspekte: 1. Sprachbewusstheit = Reflektieren und bewusstes Verfügen über Sprache; 2. Sprachenbewusstheit = Reflektieren und bewusstes Verfügen über ein Wissen, das durch den theoretischen und praktischen Umgang mit Mehrsprachigkeit generiert ist.“ (Vollmer et al. 2017: 202) Caspari & Kleppin definieren language awareness (2008) im Sinne von „Sprachenbewusstheit“ als Voraussetzung, „über die Natur und Funktionen von Sprache bzw. Sprachen und ihre Rolle im menschlichen Leben nachzudenken“ (Tesch 2010: 106; m. R. Caspari & Kleppin 2008: 118). Daneben stellen sie die linguistic awareness, die „Sprachbewusstheit“ als „die Fähigkeit, sprachliche Regelungen bewusst durchschauen und in Regeln fassen zu können und bei der eigenen Sprachproduktion und -rezeption erkennen und ggf. kontrollieren zu können“ (ibid.). Ein wichtiger Aspekt ist, dass das bewusste intra- und interlinguale Vergleichen eine „hoch wirksame Strategie der Fehlerprophylaxe“ darstellt (Meißner 2012d: 135). „Die Teilkompetenz der Sprachbewusstheit richtet sich auf ein (relativ) bewusstes Umgehen mit dem vorliegenden Repertoire einer Sprache, […]. Diese Bewusstmachung kann entweder unter Rückgriff auf vorhandenes (Vor-)Wissen erfolgen oder aber als Ergebnis introspektiver Verfahren (inneres Sprechen, lautes Denken) entstehen. Stets ist das Vergleichen sprachlicher Schemata im Spiel. In der Bewusstmachung dieser Schemata liegt auch ein starker Grund für das transferbasierte Lernen bzw. für die Optimierung von Sprachlernprozessen.“ (Vollmer et al. 2017: 204-205; m. R. Meißner 2004c; Bär 2009b; Morkötter 2016) Bei Sprachenbewusstheit handelt es sich um eine „spezifische Ausformung von language awareness, die in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen entsteht.“ (Vollmer et al. 2017: 206) Mentale Operationen wie Erkennen und Benennen, Vergleichen, Abwägen und Beurteilen/ Einschätzen oder Steuern spielen dabei eine Rolle. „Diese mentalen Funktionen aktivieren immer Wissensressourcen zu den verschiedenen Aspekten von Sprache und Kommunikation: lexikalische, grammatikalische, pragmatische, interpersonale, varietätenbezogene Aspekte sprachlicher Bildung, und sie implizieren immer eine Überprüfung von Sprach-, Sprachen- und Sprachlernhypothesen, differenziert nach Dekodierungs- und Produktionsvorgängen. Ähnliche Unterscheidungen gelten für das Schriftliche wie das Mündliche, hier vor allem im Bereich des dialogischen Sprechens.“ (Vollmer et al. 2017: 206) <?page no="110"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 111 Die KMK führt 2012 in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife zur Sprachbewusstheit aus: „Da Sprache stets soziokulturell geprägt ist, führt Sprachbewusstheit darüber hinaus zu einer sensiblen Gestaltung der sprachlich-diskursiven Beziehungen zu anderen Menschen. Damit leistet die Entwicklung von Sprachbewusstheit einen wichtigen Beitrag zum Aufbau fremdsprachlicher Kompetenz und über diese hinaus zum interkulturellen Lernen sowie zur Persönlichkeitsbildung.“ (KMK 2012: 24; auch Caspari 2013c: 41 und Schröder 2014: 27-48) Damit zielt Sprachbewusstheit nicht nur auf die zu lernende Zielsprache, sondern im Sinne der Mehrsprachigkeit auch auf andere Sprachen und eine „Sprach(en)bewusstheit“ (vgl. Schinschke & Caspari 2017: 8; m. R. Behr 2015). In der Fachliteratur sind die Begrifflichkeiten allerdings nicht eindeutig belegt. Für Rampillon (1997) z. B. gehören zum Konzept der language awareness, auch die sprachlichen Kenntnisse de s Sprachsystems sowie die sprachlichen Fertigkeiten (linguistic awareness), das Wissen über die Funktionsweisen von Sprache, wie z. B. Kommunikationsstrategien und deren Anwendung (communicative awareness) und das Wissen über Lern-, Denk- und Problemlösungsstrategien im Sinne von Sprachlernbewusstheit und die Fertigkeit diese anzuwenden (learning awareness). Auf den Aspekt der „Sprachlernbewusstheit“ von Lernern zielt auch der Begriff der language learning awareness ab. Er bezieht sich nach Nold & Schnaitmann (1997) darauf, wie die Lerner ihren Sprachlernprozess organisieren und Strategien einsetzen, um das Lernen positiv zu beeinflussen (Gnutzmann 4 2003; m. R. Nold & Schnaitmann 1997). Ähnlich definieren Caspari & Kleppin (2008) die Sprachlernbewusstheit als das „,Lernen lernen‘, insbesondere den Erwerb und die Bewusstmachung von Strategien (Sprachlern- und Verarbeitungsstrategien, kommunikative Strategien, soziale Strategien, sprachreflektorische Strategien)“ (Tesch 2010: 106; m. R. Caspari & Kleppin 2008: 118). Unter „Sprachlernkompetenz“ verstehen sie die „Fähigkeit, den eigenen Lernprozess zu planen, zu steuern und seinen Erfolg zu bewerten“ (ibid.). Martinez geht davon aus, „dass autonome Lerner einen hohen Grad an Sprach(lern)bewusstheit - s. g. (multi-)language learning awareness - besitzen, was sie befähigt, den eigenen Lernprozess (metakognitiv) zu steuern […] bzw. Wissen reorganisieren zu können (proaktiver und retroaktiver Transfer bei Meißner).“ (Martinez 2008: 67) Sprach(lern)bewusstheit ist außerdem „immer in Verbindung mit dem Monitoring (bei Meißner als didaktisches Monitoring bezeichnet) zu verstehen und kann als ein dynamischer Prozess verstanden werden.“ (Martinez 2008: 68; m. R. Morkötter 2005: insb. 37 f.) Autonome Lerner besitzen zudem „nicht nur ein Wissen über das Lernen des Lernens, sondern <?page no="111"?> 112 2 Lernerautonomie (LA) ‚das Gespür, dass eine spezifische Lernsituation strategische Aktivitäten erfordert‘.“ (Martinez 2008: 69; mit Zitat von Hasselhorn 1992: 37) Martinez (2008) unterscheidet m. R. Sinclair (1999a, b, 2000; Martinez 2005) drei Bereiche der Sprachlernbewusstheit, deren Entwicklung LA fördern: den Lernenden selbst ( Learner awareness: Who and why? ), den Lerngegenstand (Subject matter awareness: What? ) und den Lernprozess (Learning process awareness: How? ). Der Grad der Sprach(lern)bewusstheit gibt Aufschluss über das Maß an erreichter LA. Sinclair (1999a: 103 ff.) formuliert Fragen, die die Lehrenden an die Lernenden stellen können und deren Beantwortung Aufschluss über den Grad ihrer Sprach(lern)bewusstheit gibt, z.B.: „- How did you go about doing this activity? - Why did you do it in this way? - How well did you do? - What, if any, problems did you have? - Why did you have them? - What did you do about them? Why? “ Diesen Grad an Sprachlernbewusstheit beschreibt sie in drei levels of awareness: Level 1: largely unaware, Level 2: becoming aware (transition stage) und Level 3: largely aware. Auf der Stufe drei gebrauchen die Lernenden selbstsicher und kompetent „anecdotal evidence, introspection (expression of thoughts/ feelings), metaphor, ‘epiphanies’, questions, metalanguage“. Und sie beschreiben alternative Strategien, z.B.: „‘I could have learnt these words by writing them down with translations or by recording them on to a cassette listening, but I decided to use a word-web because I find I can remember the words more easily when I do this.’“ Eine klare Definition und Abgrenzung der Begriffe scheint schwierig (siehe z. B. Tesch 2010: 106, m. R. Caspari & Kleppin 2008 und Caspari 2013a: 22-24). Die Association for Language Awareness definiert 2009 language awareness unter anderem als „explicit knowledge about language, and conscious perception and sensitivity in language learning, language teaching and language use“ (Martinez & Morkötter 2012: 239). Die KMK unterscheidet 2012 in den schon genannten Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife „Sprachbewusstheit“ und „Sprachlernkompetenz“ und führt zur „Sprachlernkompetenz“ aus: „Die Schülerinnen und Schüler können ihre sprachlichen Kompetenzen und ihre vorhandene Mehrsprachigkeit (Muttersprache, ggf. Zweitsprache, Fremdsprachen) selbst- <?page no="112"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 113 ständig und reflektiert erweitern. Dabei nutzen sie zielgerichtet ein breites Repertoire von Strategien und Techniken des reflexiven Sprachenlernens.“ (KMK 2012: 25; siehe auch Caspari 2013c: 40; Schröder 2014: 27-48; Martinez & Meißner 2017: 220 ff.) Martinez & Meißner (2017: 221) definieren Sprachlernkompetenz (SLK) in diesem Sinne (siehe oben) und verweisen u. a. darauf, dass SLK neben der Mehrsprachigkeit dem (Groß-) Konzept der ‚Lernerautonomie‘ verpflichtet ist und dass für die Entwicklung von SLK die RePA-Deskriptoren mit ihrer Konkretisierung der Lernfähigkeit (savoir apprendre) als transversaler Kompetenz eine wichtige Grundlage bilden: „Der RePA stellt eine umfangreiche Deskriptorenliste von Ressourcen zur Verfügung, die die Grundlage für die Entfaltung mehrsprachiger und interkultureller Kompetenz bzw. Sprachlernkompetenz bilden. Sie verstehen sich als Ergänzung zu den Deskriptoren des GeR, die sich in hohem Maße auf die funktional-kommunikativen Kompetenzen beziehen und somit im Bereich der Lernfähigkeit zu kurz greifen. Die Deskriptorenlisten beschreiben Ressourcen bezogen auf (a) Wissen, (b) Fertigkeiten/ Können und (c) personenbezogene Kompetenzen (Haltungen/ Einstellungen), auf die Lernende je nach Situation und Aufgabe zurückgreifen (vgl. Candelier et al. 2009; Meißner 2013). […] Ein Fremdsprachenunterricht, der diese Ressourcen [die der Lernfähigkeit zugrunde liegen] nicht ausbildet oder nur auf Ressourcen im Bereich von savoir (d. h. auf deklaratives Wissen) fokussiert, greift zu kurz und kann keine Sprach(en)lernkompetenz aufbauen und somit nicht auf das lebenslange Lernen vorbereiten.“ (Martinez & Meißner 2017: 221, 223, 224) Sprachbewusstheit und Sprachlernbewusstheit sind somit eng miteinander verknüpft. Schinksche & Caspari (2017: 8-9) erläutern: „Während der Kompetenzbereich ‚Sprachbewusstheit‘ den Fokus auf das sprachliche bzw. sprachenbezogene Wissen und seine Anwendung richtet, geht es im Kompetenzbereich Sprachlernkompetenz um die bewusste Gestaltung des bzw. der eigenen Sprachlernprozesse […]. Für die Entwicklung von Sprachlernkompetenz greifen die Schülerinnen und Schüler auf ‚ihre sprachlichen Kompetenzen und ihre vorhandene Mehrsprachigkeit‘ zurück, durch Sprachlernkompetenz können sie sie ‚selbständig und reflektiert erweitern‘ (KMK 2012: 22). Durch seinen reflexiven Zugriff unterstützt Sprach(en)bewusstheit die Entwicklung von Sprachlernkompetenz, gleichzeitig können die reflexiven Prozesse bei der Erweiterung der Sprachlernkompetenz Sprach(en) bewusstheit fördern.“ (Schinksche & Caspari 2017: 8-9; vgl. auch Behr 2015) 21 21 Vergleiche zu diesen beiden Kompetenzbereichen auch die von der KMK 2004 aufgeführten „methodischen Kompetenzen“ bei den Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss, siehe im Vorwort oben. Vergleiche ebenso den Bildungsplan des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg & des Landesinstituts für Schulent- <?page no="113"?> 114 2 Lernerautonomie (LA) Mit Blick auf die Lehrenden verändert Morkötter (2005) die Perspektive von Lernen zu Lehren: Sie spricht von „Sprachlehrbewusstheit“: „Dies wird ihrerseits die Wahrnehmung von Lernenden beeinflussen, konkret das mögliche Eingehen auf lernerseitige Bedürfnisse, Interessen und Anregungen bei der Planung sprachfokussierenden Unterrichts steuern. Der Begriff der Sprach lehrbewusstheit ist in diesem Zusammenhang weniger zu verstehen als Bewusstheit über bewährte Lehrmethoden und ein starres Festhalten an diesen als vielmehr im Sinne einer methodischen und inhaltlichen Reflexion, Flexibilität sowie Offenheit gegenüber Lernerbedürfnissen und -vorschlägen sowie einer gemeinsamen Aushandlung der Verfahren.“ (Morkötter 2005: 4; Hervorhebung im Original) „Sprachbewusstsein“, ein weiterer Begriff, bezeichnet vor allem das weniger elaborierte, aber erklärbare Wissen über und zu Sprache (vgl. Oomen-Welke 2003; Gnutzmann 4 2003, m. R. Gnutzmann & Köpcke 1988 und Gnutzmann 1992). Das Konzept der language awareness ist im Rahmen des Modellversuches „Wege zur Mehrsprachigkeit“ umgesetzt worden (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1995). 22 Unter emanzipatorischen und spracherzieherischen Aspekten wird nach Gnutzmann ( 4 2003, 6 2016) der Nutzen von language awareness im Allgemeinen als positiv eingeschätzt. In Bezug auf die sprachliche Performanz sind die Auswirkungen von language awareness allerdings unklar. „Deshalb wird die performance domain nicht zu Unrecht als die problematischste der verschiedenen fünf Dimensionen (kognitiv, sozial, affektiv, politisch, performance) von language awareness angesehen, […]. wicklung 2016, der unter den prozessbezogenen Kompetenzen zwischen Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz differenziert, siehe ebenfalls oben. 22 Die didaktischen Implikationen von language awareness sind für Gnutzmann (1997; zitiert nach Gnutzmann 4 2003, 6 2016): - eine stärkere Lernerorientierung (mehrsprachig und multikulturell zusammengesetzte Lerngruppen werden bewusster berücksichtigt, Lernerinteressen erfahren eine intensivere Erforschung und Berücksichtigung, Metakognition und Metakommunikation im Hinblick auf Lernprozesse und Kommunikation im Unterricht nehmen zu) - eine methodische Akzentverschiebung (Kognition und Sprachbetrachtung - entdeckendes Lernen, kontrastives Lernen - werden wichtiger, zwischen sprachlichem Wissen und Sprachperformanz wird ein positiver Zusammenhang gesehen, das Prinzip der Einsprachigkeit erfährt durch die positive Sicht auf die Muttersprache eine Modifikation) - andere sprachlich-inhaltliche Akzente (die Übersetzung wird hinsichtlich ihres sprachreflexiven und sprachvergleichenden Potenzials neu bewertet, der Sprachvergleich - auch Interkulturalität und interkulturelles Lernen - finden eine größere Berücksichtigung, Fehleranalyse und Fehlerreflexion werden legitimiert). <?page no="114"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 115 Es hat sich gezeigt, dass es bisher nur sehr wenige Langzeitstudien gibt, die den Einfluss der Bewusstmachung sprachlicher Erscheinungen, z. B. in Form von consciousness raising- Aufgaben und expliziten, auch schriftlichen Fehlerkorrekturen, zum Gegenstand haben.“ (Gnutzmann 6 2016: 147, 148) 23 Gnutzmann ( 4 2003, 6 2016; m. R. Edelhoff & Weskamp 1999, Martinez 2008) stellt fest, dass in der Forschungsliteratur davon ausgegangen wird, dass die Lernenden ausgesprochen bereit sind, ihre Lernprozesse selbst zu organisieren. Hieraus folgert er, dass bestimmte Maßnahmen der Lehrenden, wie z. B. die Bewusstmachung von Lernstrategien, von den Lernenden positiv aufgenommen werden. Durch sie können die Lernenden dazu befähigt werden, neue Konzepte des Sprachenlernens selbst zu entwickeln, um den autonomen Anteil des Lernens ständig zu vergrößern (siehe auch De Florio-Hansen 1997). 24 , 25 c) Einsicht in und eigene Erfahrungen mit interkulturelle/ r Kommunikation „The ‘Framework for Pluralistic Approaches to Languages and Cultures’ (FREPA) (Candelier, 2012) presents an initial attempt to describe resources within the context of multilingual and multicultural communications settings […]. The ability of multilingual learners to use their own linguistic and cultural preknowledge to acquire further foreign languages […] requires, for example, that one ‘knows that there are similarities and differences between languages’, […] etc. It implies that one has ‘motivation to learn languages’ and/ or ‘a sensibility for (language learning) experiences’ at one’s disposal and that one can identify ‘transfer bases’ and ‘check the validity of the transfer’ and so on (cf. Candelier et al. , 2012; Martinez & Schroeder- Sura, 2012). […] 23 Forschungen von Larsen-Freemann & Long (1991), Spada (1997) und R. Ellis (1997) zeigen, dass explizites fremdsprachliches Wissen den Erwerb impliziten Wissens auf dreifache Weise ermöglichen kann: - das noticing, das Bemerken spezifischer Merkmale des sprachlichen Inputs durch den Lerner, kann durch explizites Wissen unterstützt werden (noticing nach Schmidt 1990), wodurch der intake erhöht werden kann - Rückschlüsse auf die Hypothesen des eigenen impliziten sprachlichen Wissens können vom Lerner gezogen werden, dadurch dass er den eigenen Output mit dem wahrgenommenen Input vergleicht - während oder nach einer sprachlichen Produktion kann explizites Wissen als Monitor operieren (Krashen 1982). 24 Im Rahmen des genannten Modellversuchs zeigten Meißner & Kraus (1997), was nordrhein-westfälische Schulen in diesem Punkt unternahmen. 25 Zur Förderung von Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz siehe insbesondere Caspari & Sprachen - Bilden - Chancen, Freie Universität Berlin (Hrsg. 2017), die basierend auf der Interkomprehensionsdidaktik beispielhaft Lernaufgaben für diese beiden Kompetenzbereiche vorstellen (siehe unten). <?page no="115"?> 116 2 Lernerautonomie (LA) […], the development of learner autonomy can also support the plurilingual and pluricultural competence as defined by the European Council.“ (Martinez 2017: 122, 123, 127) Da Sprache immer soziokulturell geprägt ist, bedingen Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität einander und führt Sprach(en)bewusstheit zu interkultureller Kompetenz (siehe u. a. KMK 2012; Schinschke & Caspari 2017; Vollmer et al. 2017; Fäcke & Meißner 2019). Des Weiteren befördert nach Schmenk (2008: 347-373) die Förderung der interkulturellen Kompetenz die kommunikative Kompetenz und damit die soziale Autonomie. Schmenk (2008) bezieht sich in ihren Ausführungen zum Verständnis der interkulturellen Kompetenz u. a. auf Arbeiten von Schwerdtfeger (1991, 1994), Hu (u. a. 1999a, 1999b) und Krumm ( 4 2003b). Mit Bezug auf Földes (2007) fordert sie ein Kulturverständnis, „das den Einzelnen als auch aktiv Teilhabenden am Kulturkonstruktionsprozess berücksichtigt“ (Schmenk 2008: 363). In Anlehnung an Kramsch (1998) definiert sie Kultur als Teilhabe an einer „Diskursgemeinschaft“: „Damit schließt die Definition von Kultur zugleich die Möglichkeit ein, das Wirken des Einzelnen zu berücksichtigen: Die Teilhabe am gemeinsamen Diskurs lässt die einzelne Person als (auch aktiven) Miterzähler fassbar werden, der gerade nicht einfach von ‚Kultur‘ in einem passivischen Sinne geprägt wird, sondern der selbst beteiligt ist am Erzählen der kollektiven Geschichte und der sich in Bezug setzt zu der in der Diskursgemeinschaft anerkannten ‚Normalität‘. ‚Kultur‘ erscheint in der Formel der Diskursgemeinschaft als eine von vielen Einzelnen in ihrem historischen Verlauf stets gemachte und weitergemachte gemeinsame Geschichte. Mit anderen Worten: Kultur und individuelle Autonomie schließen sich hier nicht prinzipiell aus. Eine solche flexiblere Auffassung von Kultur sowie dem intrikaten Wechselspiel von Autonomie und Heteronomie ermöglicht auch eine flexiblere Herangehensweise an Interkulturalität im weitesten Sinne.“ (Schmenk 2008: 366) Ein Unterricht, der auf einem solchen flexibleren Verständnis von Kultur aufbaut: - sensibilisiert für kulturelle Identitäten, problematisiert „Kulturalisierung als Prägung“ und reflektiert über Selbst- und Fremdbestimmung (vgl. Schmenk 2008: 367-368; m. R. Auernheimer 2007, Hu 2008); - ermöglicht vielfältige Begegnungen mit dem bzw. der Anderen als „einzelnen Personen und deren Sprachen, Sichtweisen, Handlungsmotiven, Gewohnheiten und Hintergründen“ (Schmenk 2008: 369); - fördert Intercultural Speakers, indem er ihnen ermöglicht, gleichsam an einem dritten Ort „sich durch und mit einer neuen Sprache zu äußern, sich selbst <?page no="116"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 117 und die eigenen Spiel-, Ausdrucks- und Darstellungsräume zu erkunden“ (Schmenk 2008: 371; m. R. Kramsch & Whiteside 2007); - berücksichtigt „die persönliche Dimension des Sprachenlernens und des Sprachgebrauchs“, auch im Sinne eines „narrativ-konstruktivistischen Konzepts von Identität und Kultur“ (Schmenk 2008: 83; insbesondere m. R. Hu et al. 1999a, b, Ricœur 1985). „It is in telling our own stories that we give ourselves an identity.“ (Ricœur 1985: 214; zitiert nach Schmenk 2008: 371) d) Einsicht in den eigenen Lernertyp bzw. Bewertung der eigenen individuellen Sprachen- und Sprachlernerfahrungen, Vorlieben und Abneigungen „Dabei bezieht sich die Förderung der Sprachlernbewusstheit [u. a.] auf […] den Lernenden, d. h. seine Einstellungen, aber auch sein persönliches Wissen bezüglich der eigenen Ressourcen […]. SLK fokussiert die Prozessebene des Fremdsprachenlernens. Dies manifestiert sich in der Regel durch den Rückgriff auf adäquate Kommunikations- und Lernstrategien und setzt Reflexivität und Sprachlernbewusstheit voraus.“ (Martinez & Meißner 2017: 229, 230; m. R. KMK 2014: 22) Persönlichkeitsmerkmale, kognitive Stile, Subjektive Theorien und individuelle Sprachlernerfahrungen stehen in Wechselbeziehung zur Wahl und zum Einsatz von Lernerstrategien und beeinflussen die Güte des Lernens (vgl. u. a. Riemer 2009; Schmenk 2009; Martinez 6 2016). Ein autonomer Lerner steuert seinen Lernprozess bewusst und reguliert seine Lernstrategien, Einstellungen, Lernstile und Motivation. (Zur learner awareness, zur psychologischen, prozessorientierten Perspektive siehe z. B. Martinez 2008; zu den Instrumenten zur Erfassung von Lernstilen und Lernertypen wie dem Lernertagebuch, der Videografie etc. siehe z. B. Grotjahn 4 2003b, Abendroth-Timmer 2011, Aguado 6 2016; zum Bewusstseinsgrad und der Veränderbarkeit von Lernstilen siehe z. B. Aguado 6 2016 sowie Nieweler 2017c.) 1. Lernstil: Im Hinblick auf das bevorzugte Lernverhalten des individuellen Lerners, den jeweiligen Lernstil, konstatiert Aguado ( 6 2016), dass bislang keine konsensfähige Definition des Konstrukts Lernstil vorliege (vgl. auch Nieweler 2017c: 145). m. R. Reid (1995) und Grotjahn (2007) fasst Aguado die Diskussion zusammen: „Zusammenfassend kann das Konstrukt Lernstil […] als die bevorzugte, relativ stabile und situations-, inhalts- und aufgabenunspezifische individuelle Präferenz bei der <?page no="117"?> 118 2 Lernerautonomie (LA) Wahrnehmung, der Aufnahme, der Verarbeitung und dem Behalten von neuen Informationen bezeichnet werden.“ (Aguado 6 2016: 262) Lernstile sind nach Grotjahn ( 4 2003b; siehe z. B. auch Ehrman 1996; Aguado 6 2016; Nieweler 2017c) zumeist gekennzeichnet durch ihre: - Bipolarität, z. B. visuell vs. verbal oder extravertiert vs. introvertiert. Die beiden Pole stellen ein Kontinuum dar und charakterisieren wertfrei die Art und Weise der Verarbeitung von Informationen; - selektive Funktion, indem sie die Auswahl der für einen Lerner wichtigen Aspekte von Informationen bezüglich der Weiterverarbeitung filtern; - organisierende Funktion, die sich in der Art der Verknüpfung neuer Informationen mit bereits gespeicherten äußert; - handlungs- und verhaltenssteuernde Funktion, die sich in allgemeinen Verhaltens- und Handlungstendenzen des Lerners zeigt, z. B. auch in seiner Bevorzugung von Strategien und Techniken. So beeinflusst der individuelle Lernstil „[…] den Erwerb und Gebrauch kognitiver, metakognitiver, affektiver und sozialer Lernstrategien“ (Aguado 6 2016: 262). Zum Einfluss von Lernstilen auf den Lernerfolg notiert Aguado 2016 (265) zur Forschungslage, dass „der empirische Beweis eines kausalen Zusammenhangs von Lernstilen und Lernerfolg sowie die Überprüfung der Annahme, dass eine bessere Lehrstil-Lernstil-Passung tatsächlich zu mehr Lernerfolg führt“ noch aussteht. Und Nieweler (2017c: 145) kommt zu dem Ergebnis: „Die empirischen Forschungsergebnisse sind z. T. widersprüchlich und lassen eher einen indirekten Einfluss von Lernstilen auf den Fremdsprachenerfolg vermuten.“ Das oben Gesagte weist zumindest darauf hin, dass sich ein bestimmter Lernstil je nach Lernsituation auf den Erfolg von Fremdsprachenlernen auswirken kann (siehe Grotjahn 4 2003b, unten). Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Bewusstseinsgrad und der Veränderbarkeit von Lernstilen: „[…] können sie sich im Laufe einer Lernbiographie z. B. durch Reifung, Einsicht oder Training ändern? “ (Aguado 6 2016: 262) Nieweler (2017c: 146) sieht hier Schwierigkeiten angesichts der Abhängigkeit der Lernstile von Persönlichkeitsmerkmalen. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Lernstildimensionen. So schreiben Oxford & Anderson (1995) Fremdsprachenlernern mehr als 20 Lernstildimensionen zu: „Sie unterscheiden folgende Aspekte: (1) einen kognitiven Aspekt, wie z. B. die Neigung zu eher analytischer gegenüber globaler Informationsverarbeitung; (2) einen exekutiven Aspekt, wie z. B. die Vorliebe für sequentielles Lernen; (3) eine affektive <?page no="118"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 119 Komponente, wie die Neigung zu impulsivem Verhalten; (4) ein soziales Element, wie z. B. die Vorliebe für kooperative Lernformen; (5) einen physiologischen Aspekt (Bevorzugung bestimmter Wahrnehmungskanäle).“ (Grotjahn 4 2003b: 327). Grotjahn (1998a, 4 2003b: 328) nennt u. a. die Arbeiten von Jonassen & Grabowski (1993), Felder & Henriques (1995), Oxford & Anderson (1995), Reid (1995), Ehrman (1996) und Mißler (1999) (siehe auch Aguado 6 2016: 263-264; Nieweler 2017c: 145-146) und unterscheidet in einer groben Typisierung Idealtypen, die in „Reinkultur“ kaum vorkommen: 1. analytischer vs. globaler Stil, 2. Reflexivität vs. Impulsivität, 3. Ambiguitätstoleranz vs. Ambiguitätsintoleranz, 4. Extraversion vs. Introversion, 5. Tendenz zur Bevorzugung eines speziellen Wahrnehmungskanals, 6. kulturspezifische interindividuelle Differenzen. Anhand der oben aufgeführten Lernstile charakterisiert Grotjahn unterschiedliche Lernertypen, wie den eher analytisch-reflexiv-ambiguitätstoleranten Lerner oder den mehr global-impulsiv-ambiguitätsintoleranten Lerner. Grotjahn ( 4 2003b) rät allerdings dazu, sich bei der Typologisierung von Lernern weniger und voneinander möglichst unabhängiger Dimensionen zu bedienen. Die Fülle an Lernertypen wäre ansonsten nicht nur sehr groß, sondern diese auch konzeptuell und empirisch nicht ausreichend voneinander abgegrenzt. Inwieweit sich das Sprachlernverhalten von Mädchen und Jungen unterscheidet ist eine noch von der empirischen Forschung zu beantwortende Frage. In ihrer internationalen Studie in den Klassen 5 und 9 zu Sprachen und Fremdsprachenunterricht kommen Meißner, Beckmann & Schröder-Sura (2008) zu dem Ergebnis: „Die Regressionsanalysen haben Jungen allgemein als deutlich weniger motivierte Sprachenlerner identifiziert denn Mädchen. Die Fremdsprachendidaktik kennt zwar das augenfällige Phänomen, hat es allerdings bislang im Großen und Ganzen versäumt, kompensatorische Strategien zu entwickeln. Das schülerseitige Phänomen trifft auf eine z.T. überstarke Feminisierung des Lehrkörpers. Dies gilt nicht zuletzt für den Unterricht romanischer Sprachen in Deutschland.“ (Meißner, Beckmann & Schröder-Sura 2008: 162) Instrumente zur Erfassung von Lernstilen und damit auch Lernertypen sind z. B. Lernertagebuch, mündliche oder schriftliche Sprachlernerinnerungen, Fragebögen, Interviews, Lautes Denken, Unterrichtsbeobachtungen oder Lektürenotizen (vgl. Grotjahn 4 2003b: 329; m. R. Mayer Wamos 1994, Reid 1995, TESOL <?page no="119"?> 120 2 Lernerautonomie (LA) Journal 1/ 1996, Ehrman 1996, Grotjahn 1998a, Skehan 1998, Mißler 1999; siehe auch Aguado 6 2016: 264-265). Die Videografie stellt ein weiteres geeignetes Instrument dar, um fremdsprachliches Handeln zu beobachten, zu messen und zu evaluieren (siehe Bohnsack 2009; Aguado, Schramm & Vollmer, Hrsg. 2010; Abendroth-Timmer 2011). 26 Grotjahn ( 4 2003b) empfiehlt für den Einsatz im Unterrichtsalltag die (schriftliche) Befragung. In diesem Zusammenhang nennt er die Lernstilfragebögen von Reid (1995) und Ehrman (1996), den Schnelltest zur Selbstdiagnostik von Eingangskanalpräferenzen von Hantschel & Krieger (1998) und den Fragebogen zur Unterscheidung zwischen einem analytischen, einem kommunikativen und einem flexiblen Lernertyp von Schullian & Bimmel (1999; auf der Basis des Frage- und Selbsterkennungsbogens von Piepho 1998) und die Second Language Tolerance of Ambiguity Scale von Ely (1995). Da nicht grundsätzlich von einer überprüften Validität und Reliabilität des Instrumentes ausgegangen werden kann (vgl. den Fragebogen von Schullian & Bimmel 1999), sollte nach Grotjahn zur Validierung des Befundes die anschließende Beobachtung des Lerners im Unterricht erfolgen (siehe auch Aguado 6 2016: 265 zur Kombination von Selbst- und Fremdbeobachtung). Grotjahn ( 4 2003b) geht davon aus, dass je nach Lernsituation ein bestimmter Lernstil geeigneter ist als ein anderer. Und er folgert daraus, dass die Lehrkraft beim Lerner Bewusstsein für dessen Lernstil und die möglichen Vor- und Nachteile bei bestimmten Lernsituationen und -gegenständen schaffen sollte. Grotjahn empfiehlt zur Erreichung dieses Ziels eine Sensibilisierung der Lerner für eigene, aber auch fremde Lernstile und deren Stärken sowie Schwächen. Der Einsatz von Lernstilfragebögen mit anschließender Diskussion im Unterricht scheint ihm dafür geeignet. Sozialisationsbedingte Lernstile können z. B. durchaus verändert werden. Über das Unterrichtsgespräch hinaus nennt Grotjahn das teilweise und behutsame Konfrontieren mit unverträglichen Lehr- und Lernmethoden (stretching of the comfort zone, Ehrman 1996; siehe auch Aguado 6 2016: 265 zu den beiden Prozessen Matching und Stretching). 26 Grotjahn ( 4 2003b) verweist darauf, dass Psychologen und Erziehungswissenschaftler zur Messung von Lernstilen standardisierte Instrumente entwickelt haben, die aber oft Schulung für den Einsatz voraussetzen und die zum Teil theoretisch umstritten sind (Grotjahn führt hier die Verwendung des Myers-Briggs Type Indicator durch Carrell, Prince & Astika sowie Ehrman 1996 auf und den Einsatz des Learning Style Inventory von D.A. Kolb durch Ehrman sowie Simons 1996). Siehe auch den VARK ® Test, der Lernern helfen soll, ihren geeigneten Lernstil zu finden und zwischen visuellen, auditiven, lesen-/ schreiben-, kinästhetischen und multimodalen (für Lerner mit mehrfachen Präferenzen) Lernstrategien unterscheidet (VARK Learn Limited 2018). <?page no="120"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 121 „Mit Hilfe eines entsprechenden Bewusstseins- und Verhaltenstrainings können Lehrer ihren Schülern helfen, möglichst flexible, der Situation und dem Lerngegenstand angemessene Lernformen und Lernstrategien zu entwickeln.“ (Grotjahn 4 2003b: 330; m. R. Kinsella 1995, Simons 1996) Der Blick auf den Lernenden und seinen individuellen Lernprozess sollte durch Differenzierung und Individualisierung auch im Bereich der Evaluation greifen. Hier zeigen sich jedoch schnell Grenzen, wenn eine standardisierte Leistungsmessung die individuelle Lernleistung nicht berücksichtigt. 27 2. Lernerstrategien und Lerntechniken: Tönshoff ( 4 2003) sieht den besonderen Wert der Forschung zu den Lernerstrategien darin, dass die intellektuelle und emotionale Abhängigkeit des Lerners von Vermittlungsmethoden aufgebrochen wird. Allerdings besteht „in der Literatur […] keine Einheitlichkeit hinsichtlich Definition und Verwendung der Begriffe Lernstrategien, Lerntechniken, Lernerstrategien und Kommunikationsstrategien.“ (Martinez 6 2016: 372) Festgehalten werden kann, dass der Begriff Lernerstrategien als Oberbegriff sowohl Lernstrategien als auch Sprachverwendungsstrategien (Kommunikationsstrategien) umfasst (ibid.). „Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Lernerstrategien ist die Charakterisierung des Fremdsprachenlernens als eines komplexen, vom Lerner aktiv gestalteten Informationsverarbeitungs- und Konstruktionsprozesses. Strategien lassen sich dabei zunächst allgemein als Verfahren bestimmen, mit denen der Lerner den Aufbau, die Speicherung, den Abruf und den Einsatz von Informationen steuert und kontrolliert [Hervorhebung, CW]. Trotz unterschiedlicher theoretischer Einbettung des Konstrukts Lernerstrategie konvergieren die meisten auf das Fremdsprachenlernen bezogenen Definitionen darüber hinaus in den Kriterien der Problemorientiertheit, der Zielgerichtetheit/ Intentionalität und der (potenziellen) Bewusstheit von Strategien.“ (Tönshoff 1992; zitiert nach Tönshoff 4 2003: 331-332) Der Lerner setzt Strategien problem- und zielorientiert ein, um sein Lernen zu planen, zu steuern und zu evaluieren (vgl. Tönshoff 4 2003; m. R. Rampillon & Zimmermann 1997, McDonough 1998; siehe z. B. auch Raabe 2000, Martinez 27 Mit Bezug auf das Berlin-Brandenburger Modell der differenzierenden Organisation von Unterricht auf Grundniveau und Erweiterungsniveau (Brandenburgisches Vorschriftensystem 2013) machen Grünewald, Fäcke & Plikat Vorschläge für binnendifferenzierende Klassenarbeiten in der Praxis, z. B. durch das Angebot von Fundamentum für alle und Additum mit unterschiedlichen Hilfsangeboten für Schüler auf Erweiterungsniveau (2014: 77-120; m. R. Weinert 2011). <?page no="121"?> 122 2 Lernerautonomie (LA) 6 2016). Damit sind Lernerstrategien meist bewusst oder zumindest bewusstseinsfähig. Entsprechend grenzt Grotjahn ( 4 2003b) den Begriff der Lernstrategie zu dem des Lernstils ab. „Mit dem Begriff der Lernstrategie sollen dagegen eher spezifische, zumeist situations- und aufgabenabhängige mentale Lernhandlungen, wie z. B. der gezielte Aufbau einer visuellen Vorstellung beim Vokabellernen, bezeichnet werden“ (Grotjahn 4 2003b: 327). Gleichzeitig bestimmt aber, wie gesagt, der Lernstil, welche Strategien der Lerner wählt (vgl. z. B. Grotjahn 1997, 1998; Mißler 1999; zitiert nach Grotjahn 4 2003b: 327; siehe oben). Fäcke (2010) fasst zusammen: „Strategien lassen sich insgesamt nach dem Grad ihrer Bewusstheit (kognitive Strategien - metakognitive Strategien), nach ihrer Funktion (Lesestrategien, Lernstrategien, Kommunikationsstrategien, Kompensationsstrategien) oder auch nach dem Grad ihrer Abhängigkeit von Lerninhalten strukturieren […] [Hervorhebungen, CW].“ (Fäcke 2010: 58) Martinez (2008: 52, 6 2016: 373) nennt zusätzlich die sozialen und affektiven Strategien. 28 Für die Strategievermittlung hebt Tönshoff ( 4 2003) neben den sozialen Strategien die aus der Pädagogischen Psychologie stammende Unterscheidung nach kognitiven vs. metakognitiven Strategien hervor. „Kognitive Strategien sind danach elementare, die Informationsverarbeitung bzw. Handlungsausführung selbst unmittelbar betreffende Strategien (z. B. Inferenzstrategien beim Hör- oder Leseverstehen). Demgegenüber beziehen sich metakognitive Strategien auf die Planung, Überwachung und Evaluation der Informationsverarbeitung bzw. Handlungsausführung […]. Als besonders fremdsprachenrelevante Strategiengruppen werden vielfach auch die sozialen Strategien abgegrenzt, die die Zusammenarbeit mit anderen (z. B. Mitlernern), das Finden von Lernpartnern und das Einfordern von gezielten Hilfestellungen (z. B. von Muttersprachlern, vom Lehrer) betreffen.“ (Tönshoff 4 2003: 332) Bei nur punktuellem Training von einzelnen Fertigkeiten werden selten Transfers auf neue Lerninhalte geleistet. Tönshoff ( 4 2003) betont, dass für ein erfolgreiches individuelles Selbstlernen neben psychologischen Voraussetzungen wie Lernmotivation und Einstellungen angesichts der Notwendigkeit des Planens, Steuerns und Evaluierens insbesondere die metakognitiven Strategien von zentraler Wichtigkeit sind (siehe z. B. auch Beck et al. 1994; Rampillon 1994; Wolff 1997c; Martinez 2005a, 2008; Fäcke 2010). 28 Ebenfalls Tassinari, die zu den zentralen Strategien für LA ausführt: „Es handelt sich dabei insbesondere um Stütz- und lernregulierende Strategien: metakognitive bzw. selfmanagement- Strategien wie zum Beispiel planen, überwachen, evaluieren, außerdem affektive und soziale Strategien.“ (Tassinari 2010a: 267). <?page no="122"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 123 „In der Fremdsprachendidaktik gelten sie [die metakognitiven Strategien] als eine Kernkomponente eines lernorientierten und autonomiefördernden Unterrichts […]. Lerner werden dadurch selbstständiger, d. h. autonomer, dass sie ihre Fähigkeit (weiter-)entwickeln, die eigenen Lernwege zu erkennen, zu bewerten und effektiver zu gestalten.“ (Martinez 2008: 28) Beispiele: - kognitive Strategien: sprachenvergleichend arbeiten - metakognitive Strategien: das Lernen planen, sich selbst evaluieren - Lesestrategien: den Text markieren, Kommentare hinzufügen - Lernstrategien: aktives Wiederholen, anhand von Stichpunkten systematisch abrufen - Kommunikationsstrategien, darunter Kompensationsstrategien: Rückgriff auf die Muttersprache, Einsatz von Gestik und Mimik, intelligentes Raten - soziale Strategien: Lernpartner finden, andere um gezielte Unterstützung oder Korrektur bitten (z. B. Muttersprachler, Lehrkraft) - affektive Strategien: sich selbst Mut machen - auf Lerninhalte bezogene Strategien: neue und komplexe Inhalte strukturieren (Vgl. z. B. Martinez 6 2016: 373-374.) 29 In einem lernerorientierten Unterricht, der autonomes Lernen und damit die stärkere Selbststeuerung und Eigenverantwortlichkeit der Lerner fördert, ist die Vermittlung von Lernerstrategien eine Kernkomponente. Lernerstrategien werden als Grundlage der Sprachlernkompetenz gesehen. (Vgl. u. a. Tönshoff 4 2003; Martinez 6 2016; m. R. die Bildungsstandards für die Sekundarstufen I und II.) „Dabei besteht heute weitestgehend Einigkeit darüber, dass es nicht darum gehen kann, vermeintlich universell ‚gute‘ Strategien zu vermitteln, sondern dass eine autonomiefördernde Strategievermittlung als Auswahlangebot für die Lerner verstanden werden muss. Es geht darum, dem einzelnen Lerner zu helfen, aus dem präsentierten Strategienspektrum die zum jeweiligen Lerntyp und der Aufgabe passenden Strategien bewusst auszuwählen, praktisch zu erproben und selbst zu evaluieren, damit er 29 Siehe auch Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017: 53-57). Sie unterscheiden kognitive (cognitive strategies), metakognitive (metacognitive/ self-regulatory strategies) und sozio-affektive (socio-affective strategies) Lernstrategien, wobei sie den metakognitiven die größte Bedeutung für das autonome Lernen beimessen; dazu gehören: awareness of own level of understanding of language learning, directed attention, selective attention, activating prior knowledge, regulation of strategies, regulation of action/ self-management, monitoring and evaluating one’s learning process, evaluation of the steps taken in learning, evaluation of the effectiveness of the strategy choice. <?page no="123"?> 124 2 Lernerautonomie (LA) so schrittweise sein Strategienrepertoire erweitern und modifizieren kann.“ (Tönshoff 4 2003: 333) Lerntechniken werden wie Lernerstrategien vom Lerner absichtlich und planvoll beim Lernen einer Fremdsprache eingesetzt, um dieses vorzubereiten, zu steuern und zu evaluieren (vgl. Rampillon 4 2003; m. R. Rampillon 3 1996). Anstelle des Begriffes Lerntechniken werden bisweilen auch die Bezeichnungen Arbeitstechniken, Lerntaktiken oder study skills verwendet. Während Lerntechniken eher eine Einzelmaßnahme beschreiben („Teilhandlungen von Strategien“, Martinez 6 2016: 372), beziehen sich Lernerstrategien auf eine Reihe von Einzelverfahren. „[…], so kann man unter einer Lerntechnik eher eine Einzelmaßnahme verstehen, wie z. B. das Nachschlagen in einem Wörterbuch. Von einer Lernstrategie würde man dann sprechen, wenn verschiedene Einzelverfahren systematisch gebündelt werden. Dies ist meist bei komplexeren Lernvorgängen der Fall, etwa beim selbstständigen Erschließen eines Lesetextes. Hier könnten sich Lernende z. B. diese Abfolge von Lernschritten vornehmen: Überfliegendes Lesen des Textes - Markieren unbekannter Wörter - Nachschlagen im Wörterbuch - Notieren dieser Wörter - intensives Lesen des Textes - Exzerpieren von Notizen.“ (Rampillon 4 2003: 340) Rampillon unterscheidet zwischen direkten und indirekten Lerntechniken ( 4 2003; m. R. Bimmel & Rampillon 2000). Zu den direkten Lerntechniken zählen zum einen Gedächtnisstrategien wie z. B. das Bilden von Wortgruppen, das Erarbeiten semantischer Netze als mindmap oder Wortigel oder das Verwenden von Bildern. Andererseits gehören dazu Strategien wie z. B. das Anfertigen von Notizen, das Markieren von Textstellen oder das Erstellen von Gliederungen. Indirekte Lerntechniken sind Techniken zur Selbstregulierung (z. B. das eigene Sprachlernen planen, steuern und evaluieren), affektive Lerntechniken (z. B. Stress abbauen oder sich Mut machen) und soziale Lerntechniken (z. B. anderen Fragen stellen oder mit anderen gemeinsam lernen). 30 Nach Rampillon ( 4 2003) machen die Schüler bereits in der Grundschule erste Erfahrungen beim Fremdsprachenlernen und erwerben erste Lerntechniken. So beginnen sie, ein Wörterbuch zu benutzen (Menzel & Sandfuchs 1999; zitiert 30 Nach Rampillon ( 4 2003) sind gute Voraussetzungen für das Lernen dann gegeben, wenn sich die Lernenden zum selbstständigen Lernen mit Hilfe von Lerntechniken selbst entschließen. Unter diesen Bedingungen ist ihre Lernbereitschaft gewährleistet, ebenso wie ein planvolles Vorgehen beim Lernen. Sie sind dann in der Lage selbstständig didaktische und methodische Entscheidungen zu treffen, und zwar im Hinblick auf die Auswahl und den Umfang des Lernstoffes, die Verarbeitungstiefe, den Zeitrahmen und den Zeitpunkt ihres Lernens, die Auswahl der ihnen bekannten Lerntechniken, die Selbstkontrolle und die Reflexion über ihr Lernen. <?page no="124"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 125 nach Rampillon 4 2003; siehe auch Müllich 1990 zum Herübersetzen mit dem einsprachigen Wörterbuch und 1998 zur Wörterbuchdidaktik), sie bewältigen individuelle Lernprobleme, sie lernen, dass jeder unterschiedliche Lernprobleme haben kann, dass die innere Bereitschaft das Lernen fördert, dass man mit Fehlern positiv umgehen kann und dass das Lernen Spaß macht, wenn man Erfolg hat. Die Sekundarstufe I sollte auf diesen Erfahrungen aufbauen. „In der Sekundarstufe I geht es darum, die bereits verfügbaren Fertigkeiten zum selbstständigen Lernen weiter zu trainieren und sie gezielt und systematisch zu ergänzen. Spätestens gegen Ende dieser Schulstufe sollten die Jugendlichen ihre Lernkompetenz soweit entwickelt haben, dass sie in der Lage sind, einen großen Teil der Lernarbeit selbstständig zu übernehmen.“ (Rampillon 4 2003: 341) In der Sekundarstufe II sollte die Lernkompetenz erweitert werden durch Lerntechniken, die die Arbeit in der Oberstufe unterstützen und auf das wissenschaftliche Arbeiten vorbereiten, wie z. B. die Analyse und Interpretation von Texten. Eine Liste aller möglichen Lerntechniken ist nach Rampillon ( 4 2003) nicht zu realisieren, da diese von der Kreativität der Lernenden und der Lehrenden abhängig sind. 31 In Bezug auf die im autonomen Klassenzimmer wichtige Unterrichtsform des Projektunterrichts sollten die Lerner nach Legutke ( 4 2003: 261) Projektkompetenzen erwerben. Dazu gehören lernstrategische, soziale, organisatorische, textproduktive, mediale und didaktische Fertigkeiten. Legutke verweist in die- 31 Folgende Lerntechniken erscheinen aber Rampillon für den Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I angesichts der zu erreichenden Lernziele besonders wichtig zu sein: - Die Lernenden sollen fachbezogene Arbeitsmittel, wie z. B. ein zweisprachiges Wörterbuch, eine Grammatik oder das eingeführte Lehrwerk selbstständig benutzen können. - Die Lernenden sollen fachbezogene Arbeitsmittel selbstständig herstellen können, um damit das Gelernte sauber und übersichtlich festzuhalten, es zu systematisieren und zu kontrollieren. Hier sind z. B. zu nennen: Vokabelringbücher, Vokabelkarteien, Grammatikkarteien oder Grammatikhefte, Fehlerstatistiken und sonstige Merkhefte, Lernmobiles oder Lernröllchen sowie der Einsatz digitaler Medien. - Die Lernenden sollen bei der Rezeption und Produktion von Texten instrumentelle Arbeitsverfahren einsetzen können. Bei geschriebenen Texten sollen Visualisierungs- und Gliederungstechniken angewandt werden können. Bei der Rezeption eines geschriebenen oder gehörten Textes ist das Anfertigen von Notizen (note-taking) wichtig, während bei der Erstellung von Texten Strukturierungstechniken und das Anfertigen von vorbereitenden Notizen (note-making) gefordert sind. - Sie sollen ihre Lernprozesse selbstständig initiieren, steuern und kontrollieren können. Dazu gehören nach Rampillon z.B.: Analogien erkennen und herstellen, Texte oder Wörter memorieren, Texte beim Hören oder Lesen selektiv verstehen oder Sprachbedeutung erschließen. - Schließlich sollen die Lernenden ihr eigenes Lernen reflektieren und dabei ihre Lerntechniken variieren oder auch belassen und somit ihre Lernkompetenz weiterentwickeln. <?page no="125"?> 126 2 Lernerautonomie (LA) sem Zusammenhang darauf, dass das komplexe Zusammenspiel der Fertigkeiten beim Fremdsprachenlernen sowie deren Erwerb im Projektunterricht bislang nur im Teilbereich des „Lernen durch Lehren“ untersucht worden ist (m.R. Martin 1996). Auch Martinez ( 6 2016) kommt zu dem Ergebnis, dass noch viele Fragen in der Strategieforschung, z. B. hinsichtlich des individuellen Einsatzes von Lernerstrategien, unbeantwortet sind. Die Ansätze zur Förderung strategischen Verhaltens beruhen auf einem vierbis fünfschrittigen Grundmuster (Ellis & Sinclair 1989; Oxford 1990; O’Malley & Chamot 1990; Chamot & O’Malley 1995; Tönshoff 1997; Bimmel & Rampillon 2000; Tönshoff 4 2003; Martinez 6 2016): „1) Bewusstmachung vorhandener individueller Strategien und Lerngewohnheiten; 2) Präsentation (alternativer) strategischer Verhaltensweisen; 3) Erprobung der thematisierten Strategien anhand von Übungsaufgaben; 4) Evaluation der Erprobungserfahrungen; 5) Transfer der erarbeiteten Strategien auf neue Aufgaben.“ (Martinez 6 2016: 374) Sprachverwendungsstrategien sollten nach Tönshoff ( 4 2003) systematisch vermittelt werden, um Kommunikationssituationen angesichts begrenzter Fremdsprachenkenntnisse zu meistern. Bei der Überbrückung von Wissenslücken sind Kommunikations- und Kompensationsstrategien unumgänglich (vgl. Kasper & Kellermann 1997; zitiert nach Tönshoff 4 2003). Thematische Motivation und eine positive Unterrichtsatmosphäre unterstützen die Strategienvermittlung, so „dass die Lernenden bewusst und begründet die für sie effektivsten Strategien auswählen.“ Komplexe und lebensnahe Aufgaben sowie die Förderung mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz fördern die Entwicklung strategischer Kompetenz bei den Schülern (Martinez 6 2016: 374; u. a. m. R. Nold 2009, Europarat 2001). Zu den Faktoren zur Konstruktion von Aufgaben zur Förderung der Sprachlernkompetenz siehe auch unten. Das Lerntraining und die Vermittlung von Lerntechniken sollte nach Rampillon systematisch und nach einer Progression erfolgen (siehe Rampillon 2000a: Aufgabentypologie mit Berücksichtigung der zunehmenden Selbstständigkeit der Lernenden bei der Handhabung von Lerntechniken). Nach Rampillon ( 4 2003) stehen hierfür vielfältige Materialsammlungen zur Erprobung und Übung zur Verfügung. 32 Trotz dieser guten Materiallage hat die Lehrkraft nach Rampillon ( 4 2003) weiterhin eine dreifache Aufgabe: die Lernkompetenz der 32 Rampillon ( 4 2003) verweist hier auf die Fremdsprachenlehrwerke und auf Beispiele aus den Bereichen Englisch, Deutsch als Fremdsprache und der Erwachsenenbildung, die sich zum großen Teil auf andere Fremdsprachen und Altersstufen übertragen lassen (Rampillon 1985, 2000a-c; Bimmel & Rampillon 2000). <?page no="126"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 127 Lernergruppe festzustellen; das Angebot des Lehrwerks oder des Lernmaterials hinsichtlich des Lerntrainings zu überprüfen; das Lerntraining systematisch zu gestalten, und zwar orientiert an den Bedürfnissen der Lernenden und über einen längeren Zeitraum hinweg. Rampillon empfiehlt hierzu einen Arbeitsplan, der sich auf die Lektionen des Schulbuches bezieht und neu einzuführende und zu wiederholende Lerntechniken auflistet. 33 Rampillon regt die Gestaltung einer Lernecke im Klassenraum an, mit einer gemeinsam entwickelten Lerntippkartei und motivierenden Materialien zum selbstständigen Lernen und Üben. Auf jeden Fall sollten die Lernenden durch offene Unterrichtsformen selbstständiges Lernen trainieren können. Rampillon nennt an dieser Stelle die Arbeit mit dem Wochenplan, das Lernen im Lernzirkel oder an Stationen, die Projektarbeit und die Freiarbeit (siehe auch Martinez 6 2016: 374-375, m. R. Nold 2009, zur Unterstützung des expliziten Strategietrainings durch interagierende motivationale Variablen). e) Beurteilung der eigenen Kompetenzen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Lernziele und Entwurf eines eigenen Lernplans „[Selbst-] Evaluation ist eine unerlässliche Komponente der SLK und dient der Regulierung der Lernprozesse auf allen Kompetenzfeldern des Fremdsprachenunterrichts sowie der Festsetzung neuer Lernziele. […] Die Selbstevaluation kann durch den Einsatz vorgegebener Selbsteinschätzungsskalen (u. a. DIALANG-Skalen-Items zur Selbsteinschätzung; Portfolio für Sprachen) erleichtert werden. […] Das Aufdecken von eigenen Lernbedürfnissen führt dabei zur Planung weiterer Lerninhalte.“ (Martinez & Meißner 2017: 226, 227) Ein autonomer Lerner ist sich seiner Fremdsprachenkenntnisse bewusst, kann sie realistisch beurteilen und sein weiteres Lernen auf dieser Grundlage steuern und optimieren. (Dabei sind die Lernziele des Lehrplans nicht notwendigerweise die eigenen.) Wie oben gesagt, trägt die 33 Nach Rampillon können Lerntechniken grundsätzlich bei Aufgaben im Unterricht selbst, bei Hausaufgaben oder beim Wiederholen und Üben zu Hause, also unterrichtsbegleitend oder unabhängig vom Unterricht, eingesetzt werden. Der Fremdsprachenunterricht sollte die Lernenden auf jeden dieser Fälle vorbereiten. Bei der Vermittlung von Lerntechniken sollten die Schüler über ihre eigenen Lernverfahren befragt werden und einander über diese berichten. Auch sollte nach Rampillon im Unterricht immer wieder über Lerntechniken auf der Metaebene gesprochen werden, um Selbstständigkeit und Sicherheit beim Lernen zu fördern. Merkblätter für die Lernenden und Poster und Wandzeitungen im Klassenzimmer können den Prozess unterstützen. Dabei kann die Reflexion über Lerntechniken zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen, nach einer einzelnen Übung, einer Lektion, einer Projektarbeit oder einem anderen relevanten Lernabschnitt. <?page no="127"?> 128 2 Lernerautonomie (LA) Interkomprehension zur Bewusstmachung von Voraussetzungen und Kompetenzen der Lerner wesentlich bei und schult ihre Fähigkeit zur Selbstevaluation (vgl. u. a. Meißner 2002b, Doyé 2010; zur Selbsteinschätzung von LA siehe Tassinari 2010 a, b). Ein autonomer Lerner kann aufgrund seiner Selbsteinschätzung sein weiteres Lernen individuell und gezielt planen. Hierbei kommt dem Erwerb und der Bewusstmachung von Lern- und Sprachlernhypothesen bzw. von metakognitiven Strategien eine besondere Bedeutung zu (siehe u. a. Meißner 2010a, 2012; Fäcke 2010; Tesch 2010; Martinez 6 2016; vgl. hierzu auch die steuernde Rolle der Lehrkraft, die den Lernweg vorgibt, u. a. Vielau 4 2003, unten). Tassinari (2010a) entwickelte eine Checkliste für Studierende, die der Selbstevaluation von LA und der Bewusstmachung und Reflexion über den eigenen Lernprozess dient und Anregung für die Weiterentwicklung der eigenen Lernfähigkeit gibt. Ihr „dynamisches“, situationsübergreifendes Autonomiemodell ist in seiner Struktur dynamisch, da die Komponenten des Konstrukts LA zueinander in einer dynamischen Beziehung stehen. „Zum anderen ist es funktionell dynamisch, weil es dynamisch verwendet werden kann. […] der Lerner [kann] selbst die Reihenfolge der Komponenten festlegen und somit seinen Zugang zur LA individuell gestalten.“ (Tassinari 2010a: 197). Darüber hinaus ist es situationsübergreifend, da es nicht auf konkrete Lernbzw. Lehrsituationen eingeht, sondern auf Kompetenzen bzw. Handlungen fokussiert, die für das autonome Fremdsprachenlernen von Bedeutung sind. Als Komponenten des Konstrukts LA listet Tassinari (2010a) folgende Kompetenzbzw. Handlungsbereiche auf: „- ‚Wissen strukturieren‘; - ‚sich motivieren, wollen‘; - ‚mit den eigenen Gefühlen umgehen‘; - ‚planen‘; - ‚Materialien und Methoden auswählen‘ (resourcing); - ‚durchführen‘; - ‚überwachen‘ (monitoring); - ‚evaluieren‘; - ‚kooperieren‘; - ‚das eigene Lernen managen‘.“ (Tassinari 2010a: 197-198) <?page no="128"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 129 Bis auf die letzte, übergeordnete Komponente, sind die anderen gleichrangig und stehen alle miteinander in direkter Beziehung. Sie können vom Lerner jedoch individuell gewichtet werden. Gleichzeitig unterscheidet Tassinari drei Dimensionen und ordnet die Komponenten diesen zu: - handlungsorientierte, (chrono-)logische Dimension: planen; Materialien und Methoden auswählen; durchführen; überwachen; evaluieren (lernregulierende Strategien) - kognitive, metakognitive und affektive Dimension: Wissen strukturieren; sich motivieren, wollen; mit den eigenen Gefühlen umgehen (Ausgangspunkt für Handlungen und Entscheidungen) - übergeordnete, organisatorische Dimension: das eigene Lernen managen (Steuerung des Lernprozesses) „Kooperieren“ steht im Zentrum, da es im Lernprozess stets aktiviert werden kann. „Die Dimensionen sowie die einzelnen Komponenten stehen in Interaktion zueinander. Aus dieser Dynamik heraus entsteht LA. LA soll daher als Metafähigkeit verstanden werden, die Dimensionen des Lernprozesses miteinander in Verbindung zu bringen und den eigenen Bedürfnissen sowie der jeweiligen Lernsituation anzupassen.“ (Tassinari 2010a: 199) Tassinari entwickelt 118 Deskriptoren im Hinblick auf die Komponenten bzw. Handlungsbereiche von LA (Beschreibungen einzelner Kompetenzen, Handlungen und Strategien). Diese setzen sich aus 33 Makrodeskriptoren (für einen ersten Überblick über das Deskriptorensystem) und 85 Mikrodeskriptoren (für eine zielgerichtete Reflexion) zusammen. Diese Deskriptoren legen „keine allgemeingültige Progression von LA fest, sondern beschreiben jeweils unterschiedliche, persönliche Istzustände und bieten Ansätze dafür, Lerner auf ihren unterschiedlichen Entwicklungswegen zu begleiten.“ (Tassinari 2010a: 215) Tassinari weist darauf hin, dass bei der Erarbeitung der Deskriptoren ihre Erfahrungen mit Studierenden am Selbstlernzentrum des Sprachenzentrums der Freien Universität Berlin einen gewissen Einfluss gespielt haben (vgl. Tassinari 2010a: 218). Sie führte die Deskriptoren zu einer Checkliste zur LA zusammen („Wie schätze ich mich als autonomer Lerner ein? “) und erprobte diese mit Studierenden und Lehrenden an der Freien Universität Berlin. Zum Kompetenzbereich „Überwachen (monitoring) “ enthält die Checkliste z. B. unter anderem übergreifend die Kompetenz: „Ich kann meine Stärken und Schwächen als Lerner erkennen bzw. darüber nachdenken.“ und auf einer tieferen Ebene den Aspekt: „Ich kann meinen eigenen Lernstil erkennen (z. B. ob ich eher visuell oder auditiv lerne, <?page no="129"?> 130 2 Lernerautonomie (LA) perfektionistisch oder risikofreudig bin) bzw. darüber nachdenken.“ Der Lerner beantwortet jeweils mit: „das kann ich“, „das möchte ich lernen“ oder „nicht wichtig für mich“. (Tassinari 2010a: 326) Tassinari kommt zu dem Ergebnis, „dass es sich bei der Checkliste um ein Instrument zur Bewusstmachung, Selbstreflexion und Anregung für die Weiterentwicklung der eigenen Lernfähigkeit handelt. […] Die Checkliste ist insgesamt für die befragten Studierenden aller Fächer ein übersichtliches Instrument zur Selbsteinschätzung der Kompetenzen der LA. […] Weiterhin bietet die Checkliste den Studierenden und den Lehrenden einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten, Formen, Methoden und Strategien des autonomen Fremdsprachenlernens.“ (Tassinari 2010a: 253, 259) Tassinari weist darauf hin, dass die Checkliste in einen dialogischen Rahmen eingebaut werden sollte, um die Selbsteinschätzung durch eine Fremdeinschätzung zu ergänzen. Außerdem kommt Tassinari zu dem Ergebnis, dass die Checkliste nur in einem Autonomisierungsprozess sinnvoll eingesetzt werden kann, da sie ansonsten irritierend wirken könnte (vgl. Tassinari 2010a: 260-261). Tassinari zeigt u. a. auf, dass die Beschreibung von LA mithilfe der Deskriptoren weitergeführt werden sollte, z. B. im Hinblick auf andere Zielgruppen wie Schüler, und ergänzt werden könnte durch Lerntipps. „Desgleichen könnten sie für Lehrende als Handreichung in der Entwicklung autonomiefördernder Curricula oder für Lerner als Leitfaden zum autonomen Fremdsprachenlernen eingesetzt werden oder auch in einem Lehrwerk Platz finden, um die Reflexion über die eigenen Lernstrategien zu systematisieren und einen Rahmen für Lerntipps zu geben.“ (Tassinari 2010a: 278-279) Mit dem Konzept der Lernerautonomie gehen einher: a) Der autonomiefördernde Fremdsprachenlehrer „Open-minded teachers will be open to change and will have the capacity to be critical of themselves and their work in the classroom and prepared to overcome internal resistance, external constraints and, most important of all, willing to explore the space of possibility in their teaching.“ ( Jiménez Raya 2017: 27) Im autonomen Klassenzimmer fördern Lehrkräfte die Konstruktionsprozesse der einzelnen Lernenden. Die Lehrperson hat dabei vor allem die Rolle eines Beraters und Helfers. Darüber hinaus ist sie Mitgestalter der Aktivitäten, Moderator und Wissensquelle (z. B. Dam 1994; Vielau 4 2003; Kleppin & Spänkuch 2014). Die Lehrkraft entscheidet nach Vielau ( 4 2003, m. R. Vielau 1997) über den äußeren Lehrplan, indem sie den Lernweg vorgibt. Der einzelne Lerner ler- <?page no="130"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 131 ne nach einem inneren Lehrplan, Lernverlauf und Lernerlebnis seien subjektiv und individuell. Das Lehren orientiere sich an den Erfordernissen des Lernens, ohne dass helfende Instruktion von Seiten der Lehrkraft überflüssig wäre. Im Gegenteil, diese ermöglichte erst lernerseitig subjektive Konstruktionsprozesse. Vielau widerspricht damit der radikal-konstruktivistischen Sicht, die fremdgesteuertes Lernen apriorisch in Frage stellt ( 4 2003; mit Blick und im Gegensatz zu Wolff 1994b und Wendt 1996). M.R. Bredella (1998) und Mercer (1995) formuliert er die Notwendigkeit der Hilfe durch die Lehrkraft: „Wenn Instruktion ein bestimmtes Lernergebnis nicht erzwingen kann, so heißt das nicht im Umkehrschluss, dass Instruktion als solche überflüssig ist, dass der Lerner von alleine am besten lernt […] Wenn bei einem komplizierten Lernprozess die Fähigkeit des Lerners zur Selbststeuerung (noch) nicht ausreicht, erfolgversprechende Lerntechniken und -strategien fehlen, so muss ein äußerer Lehrer helfen: Das Schulkind erfindet die Schrift nicht neu (ohne Anregung und Hilfe bleibt es Analphabet), sondern es rekonstruiert subjektiv ihren Gebrauch, sobald es zu diesem Lernschritt bereit ist.“ (Vielau 4 2003: 241) Vielau ( 4 2003) weist der Lehrkraft die vermittelnde Aufgabe zu, die äußere Lernanordnung und die Anforderungen so zu gestalten, dass optimale Voraussetzungen für das subjektive Lernen gegeben sind. 34 Dazu gehören die Prozessorientierung, Lernverlaufsdiagnose (Selbstund/ oder Fremddiagnose), Evaluation der gewählten Lernanordnungen und damit die Frage nach der Unterrichtsqualität, ebenso wie die Schaffung einer vielfältigen Lernumgebung und die positive, partnerschaftliche Bestärkung der Lerner in einem offenen und differenzierten Unterricht, der das Lernen des Lernens ermöglicht. „Eine motivierende, ‚reiche‘ Lernanordnung und geeignete Lernhilfen regen den Lerner an, sein Lernvermögen optimal zu entfalten. Da jeder Lerner anders gelagerte Probleme hat, hätte das Unterrichtskonzept hinreichend offen, differenziert und partnerschaftlich zu sein, um verschiedenartige Lernbewegungen zu ermöglichen und den Lerner zu selbständigen Lernbewegungen zu ermutigen.“ (Vielau 4 2003: 241) Bei der Differenzierung wird grundsätzlich unterschieden zwischen äußerer Differenzierung (bezogen auf die Einteilung in unterschiedliche Lerngruppen) und Binnendifferenzierung (bezogen auf die Lerner als Individuen in einer Lerngruppe). Angesichts heterogener Lerngruppen kommt der Binnendifferenzierung eine wachsende Bedeutung zu. Für das Gelingen eines effektiven differen- 34 Zum Input-, Process- und Output-Scaffolding und zu lernunterstützenden Maßnahmen bei der Unterrichtsplanung, beim Text- und Materialinput sowie bei der Aufgabenstellung siehe z. B. auch Hallet 2011: 122-128. <?page no="131"?> 132 2 Lernerautonomie (LA) zierenden und individualisierenden Unterrichts ist die Diagnose ein wichtiges Steuerungsinstrument. Die Evaluation des differenzierenden Unterrichtens stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. 35 Binnendifferenzierung berücksichtigt die Lernervariablen wie Lerntempo, Lernertyp, Interessen, Leistungsvermögen oder Vorerfahrungen (siehe z. B. Grünewald 2017b: 286; m. R. Grünewald & Kracht 2014). Zu den Möglichkeiten der Binnendifferenzierung in der Unterrichtspraxis, z. B. nach Schwierigkeitsgrad oder Umfang von Lerninhalten, durch unterschiedliche Themen, Textsorten und Medien, Arbeitszeit, Vermittlungsformen und Verfahren im Unterricht, Hilfsmittel, Hausaufgaben etc., siehe z. B. Nieweler (2017b: 16; m. R. Kraus & Nieweler 2014), Lange (2017: 139-141; u. a. m. R. Lange 2016) und Grünewald (2017b: 285-288; u. a. m. R. Grünewald & Kracht 2014). Eine reiche Lernumgebung (rich language learning environment) gibt auch Möglichkeit zu „multisensorischem Lernen“. Falls Lehrkräfte bestimmte Lehrstile ignorieren, so birgt dies das Risiko von Lehr-Lernstil-Konflikten. Deshalb fordert Grotjahn ( 4 2003b) zum einen die lehrseitige Akzeptanz unterschiedlicher Lernstile und zum anderen eine Unterrichtsmethodik, die multisensorisch angelegt ist und unterschiedliche Lernertypen berücksichtigt. Insbesondere Gruppen- und Partnerarbeit verlangen seitens der Lehrkräfte eine breitere Vorbereitung als der Frontalunterricht (Schwerdtfeger 4 2003: 256 ff.). Auch die Durchführung der Gruppenarbeit erfordert hohe Aufmerksamkeit, die Lehrkräfte agieren helfend als Moderatoren und ‚Wissensquellen‘ (Lernberater). In der Projektarbeit sieht Legutke ( 4 2003) die Lehrkraft in einer ähnlichen Rolle. Sie muss Projektkompetenz besitzen, um die Rolle des Projektkoordinators (und des Lernforschers) übernehmen zu können. „Er muss die methodischen, gruppendynamischen sowie lernstrategischen Voraussetzungen für selbstbestimmtes Lernen bereitstellen können. Seine Entscheidungen bezüglich der Aufgaben und Übungen und ihrer Verknüpfungen zu Projektszenarien werden wesentlich von dessen Fähigkeit abhängen, den Lernprozess als Lernforscher zu begleiten und aus der Diagnose des Lernverhaltens Vorschläge zur Lernoptimierung zu entwickeln, sowie flexibel und kompetent auf didaktisch nicht vorplanbare Situationen und sprachliche Handlungsangebote zu reagieren, die durch Begegnung 35 Siehe hierzu die Vorschläge für binnendifferenzierende Klassenarbeiten in der Praxis (z. B. durch das Angebot von Fundamentum für alle und Additum mit unterschiedlichen Hilfsangeboten für Schüler auf Erweiterungsniveau) von Grünewald, Fäcke & Plikat (2014, oben). <?page no="132"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 133 und Recherche in den Lernprozess eingehen […]“ (Legutke 4 2003: 262; m. R. Legutke & Thomas 1997: 286 ff.; zuvor etwa Tönshoff 4 2003: 335) Als Lernberater kommt dem Unterrichtenden immer mehr die Rolle eines kompetenten, partnerschaftlichen Lehrers zu, der den Lerner individuell beim autonomen Lernen unterstützt. Mit Kleppin (2001) lässt sich zusammenfassen: Lernberater unterstützen Lerner beim autonomen Lernen darin, Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übernehmen, indem sie ihre Entscheidungen betrachten (z. B. Lernziele, Lernhandeln, Lernerfahrungen und Lernroutinen), Entscheidungen begründen, einen Handlungsplan entwerfen und umsetzen und schließlich derlei Faktoren auf ihre Lernwirksamkeit hin beurteilen. Derlei Selbstevaluation kann sich auf eine der funktionalen Kompetenzen (Nieweler 2006: 21) Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben beziehen, deren Kompetenzgrad anhand einer Skala bewertet wird, oder auf die Bewältigung einer Aufgabe beschränken. Instrumente der Selbstevaluation sind Portfolio, Lerntagebuch oder Selbsteinschätzungstests. Die Selbstevaluation sollte in regelmäßigen Zeitabständen wiederholt werden (hierzu schon Raasch 1997; dann u. a. Wehmer 4 2003, Weskamp 4 2003, Nieweler 2006). „Es wird angestrebt, dass der Lerner im weiteren Verlauf anhand verbesserter Selbstwahrnehmung und Sachkenntnis sein Lernen zunehmend selbständig effektiv organisiert und seinen Lernprozess selbst steuern kann, so dass beraterische Hilfe immer seltener notwendig ist. […] Das in der Erwachsenenbildung entstandene Konzept der Lernberatung in das schulische Fremdsprachenlernen zu integrieren bedeutet, selbstverantwortliches Lernen zu fördern, die Schüler zu unterstützen, Lernschwierigkeiten zu bewältigen […] sowie ihren Interessen und Lernvorlieben entsprechend ihr Lernen zu gestalten, Zeit und Raum zu schaffen für Gespräche jenseits von Leistungsbeurteilung. […] Die fremdsprachendidaktische Bearbeitung der Lernberatung befindet sich in ihren Anfängen. Sie wird im Kontext der Individualisierung des Lernens voraussichtlich an Bedeutung gewinnen.“ (Wehmer 4 2003: 345; m. R. Keller 1993) 2004 konkretisiert die KMK in den Standards für die Lehrerbildung die Diagnose- und Beratungskompetenzen: 36 36 Siehe zuvor Bachmair (1996): Im Hinblick auf ein Lernberatungsgespräch sollte der Berater vertraut sein mit der Struktur und kommunikativen Funktion von Sprachen; dem (selbstgesteuerten) fremdsprachlichen Lernprozess; den Beratungskonzepten und Gestaltungsmöglichkeiten von Beratungsgesprächen. Nach Kelly (1996), Riley (1997) und Wehmer (2000) sollte der Berater in der Lage sein, einen guten Kontakt im Gespräch herzustellen und zwischen Lehrer- und Beraterrolle zu differenzieren. Als Instrumente der Beratung verweist Wehmer ( 4 2003) auf Diagnosefragebögen und <?page no="133"?> 134 2 Lernerautonomie (LA) „ Lehrerinnen und Lehrer diagnostizieren Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern; sie fördern Schülerinnen und Schüler gezielt und beraten Lernende und deren Eltern. Standards für die theoretischen Ausbildungsabschnitte Die Absolventinnen und Absolventen … • wissen , wie unterschiedliche Lernvoraussetzungen Lehren und Lernen beeinflussen und wie sie im Unterricht berücksichtigt werden. • kennen Formen von Hoch- und Sonderbegabung, Lern- und Arbeitsstörungen. • kennen die Grundlagen der Lernprozessdiagnostik. • kennen Prinzipien und Ansätze der Beratung von Schülerinnen/ Schülern und Eltern. Standards für die praktischen Ausbildungsabschnitte Die Absolventinnen und Absolventen … • erke nnen Entwicklungsstände, Lernpotentiale, Lernhindernisse und Lernfortschritte. • erkennen Lernausgangslagen und setzen spezielle Fördermöglichkeiten ein. • erkennen Begabungen und kennen Möglichkeiten der Begabungsförderung. • stimmen Lernmöglichkeiten und Lernanforderungen aufeinander ab. • setzen unterschiedliche Beratungsformen situationsgerecht ein und unterscheiden Beratungsfunktion und Beurteilungsfunktion. • kooperieren mit Kolleginnen und Kollegen bei der Erarbeitung von Beratung/ Empfehlung. • kooperieren mit anderen Institutionen bei der Entwicklung von Beratungsangeboten. “ ( KMK 2004b: 11) Tesch (2010) betont die Wichtigkeit von Diagnose- und Feedback -Kompetenzen der Lehrer und macht hier Unterstützungsbedarf aus: „Betrachtet die Lehrkraft Fehler in erster Linie als einen Normverstoß oder eher als einen Lernanlass? Welche Lernvorstellung verbindet die Lehrkraft mit der Dimension ‚Korrektheit‘, und in welcher Gewichtung stehen dazu andere Dimensionen (Flüssigkeit, Komplexität)? […] Koppeln sie [die Lehrkräfte] Diagnose mit explizitem Feedback? “ (Tesch 2010: 143-144; m. R. Chaudron 1988; Kleppin 2005, 3 2006; Edmondson 4 2006; Kunter et al. 2008; siehe unten). Selbstlernanleitungen wie sie in Hochschulen bei der Lernberatung zum Einsatz kommen (siehe Küpper & Pardey 1987). Ein weiterer Ansatz der individuellen Lernberatung findet sich nach Wehmer im Lernkontext des Tandemlernens (m.R. Brammerts, Calvert & Kleppin 2001). <?page no="134"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 135 Bereits 1998 verlangt Bailly, dass die Lernberatungskompetenz bei Lehrern durch Fortbildungsangebote entwickelt wird. Gremmo nennt hier die Gesprächsanalyse von Lernberatungsgesprächen (1998). (Siehe auch Kleppin & Spänkuch 2014: 107 mit ihrem Hinweis auf die weiterhin fehlende Ausbildung von Lehrern in Gesprächstechniken.) Weitere nennenswerte Entwicklungen waren das Modul „Lernende beraten und begleiten“ für die Lehrkräfte der Klubschulen der Schweizer Migros-Stiftung (1999) und das 1996 an der Universität Hull gegründete Professional Language Advisers’ Network (PLAN) für Lernberater in Selbstlernzentren (siehe Mozzon-McPherson 1996). Ein neueres Konzept ist das systemisch-konstruktivistische Sprachlern- Coaching (Kleppin & Spänkuch 2014: 94 ff.; u. a. m. R. Spänkuch 2014). Das Coaching läuft in fünf Phasen ab: Themaklärung und Zielformulierung, Ressourcen-Identifikation, Entwicklung und Auswahl von Handlungsmöglichkeiten (Lernwegen), Erprobungsphase und Controlling/ Evaluation. Zu den Kompetenzen und Fähigkeiten des Beraters und des Coachs zählen persönliche Kompetenzen (Fähigkeit zur Dissoziation), fachlich-methodische Kompetenzen (hierzu gehören Techniken wie das Stellen offener Fragen, das aktive Zuhören, das Bilden von Hypothesen oder das systemische Fragen), Feldkompetenzen (z. B. Wissen über Fremdsprachenlernprozesse, Diagnoseinstrumente, Verfahren der Evaluation), soziolinguistische Kompetenzen (Wahl eines angemessenen sprachlichen Codes) und Handlungskompetenz (Kenntnisse über die verschiedenen Formen des Lernsupports, wie etwa Coaching oder direkte Beratung). „Ein Coach muss überzeugt davon sein, dass sein Lerner der beste Experte für sich selbst ist. Er muss es ‚aushalten‘ können, eine - üblicherweise dem Lehrer zugeschriebene - Wissenshoheit abgeben zu können und den Lerner selbst Lösungsansätze und Verhaltensalternativen auffinden zu lassen. Ein Coach kennt nicht nur Konzepte, Vorgehensweisen und Möglichkeiten der Interventionen, er fühlt auch intuitiv und erfahrungsbasiert, welche Reflexionsangebote geeignet sind, wenn eine Situation im Coaching-Prozess plötzlich zu stagnieren droht, der Lerner überfordert zu sein scheint oder aber aus dem anfänglichen Veränderungswunsch Widerstand erwächst. Hier ist mit einem ‚Fingerspitzengefühl‘ mehr gedient, als mit einem einwandfrei (an-) trainierten Technikrepertoire. […] Das Wissen über Konzept und Funktion der Sprachlernberatung und des Sprachlern-Coachings und über die damit verbundenen Kompetenzprofile sollten unserer Meinung nach Auswirkungen auf eine weitere Professionalisierung des Lehrberufs an Schulen und Hochschulen haben.“ (Kleppin & Spänkuch 2014: 105, 107) <?page no="135"?> 136 2 Lernerautonomie (LA) b) Der autonomiefördernde Fremdsprachenunterricht „Individualisierte Lernerautonomie-Begriffe sind generell eher Basis für einen Fremdsprachenunterricht, in dem das individuelle selbst gesteuerte Lernen eine große Rolle spielt. Soziale Lernerautonomie-Begriffe hingegen erfordern methodisch-didaktische Arrangements, die Gruppen- und Projektarbeit in den Vordergrund stellen.“ (Schmenk 6 2016: 370) „Die Qualität zukünftigen Fremdsprachenunterrichts wird auch davon abhängen, inwieweit Lehrkräfte interkomprehensionsdidaktische Verfahren lernwirksam in ihren Unterricht einbeziehen (können).“ (Meißner 6 2016: 238) Ein autonomiefördernder Fremdsprachenunterricht fördert durch den gezielten Einsatz von Sozialformen, Aufgaben und Materialien sowie durch die Reflexion über die Lernprozesse die Autonomie der Schüler. Wie oben gezeigt trägt insbesondere der Interkomprehensionsunterricht zur Sprachaufmerksamkeit, Sprachlernbewusstheit, Sprachlernkompetenz und Sprachlernroutinen der Schüler bei, und die Rolle der Lehrkraft ist dabei vor allem eine unterstützende und beratende. (z. B. Wolff 4 2003; Schmenk 2008; Meißner 6 2016; Rösler 6 2016; Sieberkorb & Caspari 2017) Ein Fremdsprachenunterricht, der LA fördert, ist nach Wolff ( 4 2003) gekennzeichnet durch: „1. Erhöhung der Verantwortung des Einzelnen durch Gruppenarbeit; Klassenzimmer vs. Lernwerkstatt; 2. Verteilung von vom Lernenden selbstgewählten kurz- und langfristigen (projektartigen) Aufgaben; Schwerpunkt auf dem Schriftlichen; 3. Angebot von Produkt- und Prozessmaterialien; 4. Bewertung von Lernprozessen als wichtigste Aufgabe; 5. Lehrer als Mitgestalter von Klassenaktivitäten, Berater der Lernenden, Moderator und Wissensquelle.“ (Martinez 2008: 64) Zu 1.) Die Sozialformen Auch Schwerdtfeger ( 4 2003) verbindet mit Gruppenarbeit und darüber hinaus mit Partnerarbeit eine autonomiefördernde Zielsetzung: „Mit der Gruppen- und Partnerarbeit wird angestrebt, eine positive emotionale Grundstimmung zu schaffen, in der schwächere Schüler sich stärker beteiligen und die Schüler generell nicht allein vom Lehrenden, sondern voneinander lernen, miteinander arbeiten und das Lernen des Lernens intensiv einüben.“ (Schwerdtfeger 4 2003: 255) Eine weitere wichtige Unterrichtsform für das autonome Lernen ist nach Legutke ( 4 2003) der Projektunterricht: „Projektunterricht bezeichnet eine offene und themenzentrierte Unterrichtsform, die ein hohes Maß an Selbstverantwortung und Mitbestimmung der Lernenden erlaubt. Themen- und Problemkon- <?page no="136"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 137 kretisierung sowie Planung der einzelnen Aktionsphasen resultieren aus einem gemeinsamen Aushandlungsprozess, der sowohl Raum für die Entfaltung von Lernerinteressen lässt, als auch für die pädagogisch-fachdidaktisch begründeten Vorschläge des Lehrers.“ (Legutke 4 2003: 259) 37 Schmenk (2008: 327-328) präzisiert im Hinblick auf Gruppen- und Projektarbeit: „Gruppenarbeit fördert, wenn sie gelingt, gerade nicht primär die effiziente, selbstorganisierte und auf den eigenen Lernfortschritt und die individuelle Effizienz bezogene Arbeit des Einzelnen. Im Gegenteil kann man nur dann sinnvollerweise Gruppenarbeiten in Gang setzen und zu einem für alle Beteiligten befriedigenden Arbeitsverlauf und Ergebnis gelangen, wenn man sich einlässt auf den Anderen, auf Vorgaben und Absprachen, auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen der Gruppenmitglieder […]. Hier geht es nicht um die Autonomie des Einzelnen und seine Lernkompetenz oder -effizienz, sondern um die Erfahrung der komplexen und komplizierten Zusammenhänge von Autonomie und Heteronomie, von Selbst- und Mitbestimmung, von Selbstständigkeit in Abhängigkeit. […] [Es geht um] die Förderung von Selbst- und Mitbestimmung, von Demokratiefähigkeit und Selbstständigkeit im Rahmen sozialer Lernprozesse.“ Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Freinet-Pädagogik, die als „emanzipatorische Erziehung zur Demokratiefähigkeit angelegt ist“ und in deren Fokus das Lernkollektiv und der offene Unterricht stehen (Schmenk 2008: 328). Siehe in diesem Zusammenhang auch die Studie von Feick (2016) zur Entwicklung von Gruppenautonomie durch Aushandlung und Mitbestimmung. Dem Frontalunterricht werden in der fachdidaktischen Diskussion gegenteilige Effekte für das autonome Lernen zugeschrieben. „Diese Sozialform ermöglicht nur stark gelenkte, vorkommunikative Übungsformen, die allerdings die Vorstufe zu den freieren bilden. Soweit sprachliche und inhaltliche Impulse allein und vor allem nur von der Lehrkraft ausgehen, werden die Schüler in der Entwicklung von Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit gehemmt. Sie könnten vieles tun, was die Lehrkraft ihnen ‚abnimmt‘: z. B. Wörter disambiguieren, sich über sprachliche Regularitäten informieren bzw. die eigenen Sprachhypothesen klären, authentische Materialien zusammentragen und auswerten, […].“ (Walter 4 2003: 253) 37 Neben der Themenzentrierung gelten für Legutke der gemeinsam entwickelte und im Prozess modifizierbare Projektplan, die Prozessorientierung mit regelmäßigen Reflektionsphasen, die von den Lernern hergestellten Produkte, die Forschungsorientierung mit arbeitsteiliger Vorgehensweise sowie die daher erforderliche Präsentation und Evaluation zu den wichtigen Kennzeichen von Projektarbeit. Für eine erfolgreiche Realisierung von Projektunterricht sollte nach Legutke sowohl bei den Lernern als auch bei den Lehrenden Projektkompetenz gegeben sein. <?page no="137"?> 138 2 Lernerautonomie (LA) „Auf einen Frontalunterricht, der aus Lehrervorträgen oder aus vom Lehrer gesteuerten Unterrichtsgesprächen besteht, kann zwar auch in einem handlungsorientierten Französischunterricht nicht ganz verzichtet werden, aber er sollte nur einen geringen Teil der Unterrichtszeit ausmachen. Stattdessen sollen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit sowie weitere kooperative Lernformen ein größeres Gewicht erhalten.“ (Reinfried 2017b: 75; Hervorhebungen im Original) Dass der Frontalunterricht trotz aller Kritik nicht wesentlich im schulischen Unterricht zurückgedrängt wurde, schreibt Walter schulischen Zwängen wie den großen Klassen und dem Pensendruck zu. Ein modifizierter frontaler Fremdsprachenunterricht, der die Lernenden ernst nimmt, wird aber durchaus auch als eine notwendige Ergänzung anderer Sozialformen gesehen, z. B. in der Vorbereitungsphase oder während der erforderlichen Plenumsphasen von Gruppenarbeit (vgl. Schwerdtfeger 4 2003: 255-256). Siehe aber auch Klieme (2010: 23), der ausführt, dass Klassenführung, Regelklarheit, ein unterstützendes Unterrichtsklima und vor allem Struktur zentrale Aspekte für einen guten Unterricht sind und zum Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbettung und damit zur Selbstbestimmung führen. Sie wirken motivierend und stehen in Wechselbeziehung zu Leistung und konzeptuellem Verständnis. Zu 2.) Die Aufgaben Bei kompetenzorientierten Aufgaben 38 wird zwischen Lern- und Testaufgaben unterschieden. „Als kompetenzorientierte Aufgaben werden häufig solche inhaltlich fokussierten Herausforderungen und Problemstellungen bezeichnet, an denen sich das zielorientierte Handeln von Lernenden sowohl unterrichtlich gut entwickeln als auch überprüfen lässt (vgl. Vollmer 2006a). Es sind Aufgaben, die zum einen Teilkompetenzen, zum anderen die Integration von inhaltlichem Wissen und fachlichem Können fördern bzw. erfassen können einschließlich dem dazu notwendigen Einsatz von Methodenkompetenz(en). Solche Aufgaben sollen zugleich lebenspraktisch ausgerichtet sein und nach Grad ihrer Bewältigung ein Urteil über die im Lernenden vorliegenden Kompetenzstrukturen erlauben. […] 38 Zur Konzeption von Aufgaben zur interkulturellen kommunikativen Kompetenz, Text- und Medienkompetenz, zum Hörverstehen, Hörsehverstehen, Leseverstehen, Schreiben, Sprechen, zur Sprachmittlung, Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz sowie zu den Prinzipien und der Umsetzung von Lernaufgaben im Englisch- und Französischunterricht der Sekundarstufe II siehe passim: Tesch, von Hammerstein, Stanat & Rossa, Hrsg. 2017. <?page no="138"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 139 Bei der Aufgabenentwicklung für Französisch als erste Fremdsprache (Tesch/ Leupold/ Köller 2008) wurde […] zwischen Lern- und Testaufgaben unterschieden. Lernaufgaben zielen auf den Aufbau neuer Kompetenzen, stoßen Aushandlungsprozesse zwischen Lernenden an und sind nicht zwangsläufig hundertprozentig planbar im Hinblick auf die zu erwartenden Ergebnisse. Testaufgaben hingegen - so die Autor/ innen des Bandes - dienen der Überprüfung von Kompetenzen, dies allerdings durchaus mit unterschiedlichen Funktionen (diagnostische Funktion, Rückmeldefunktion, Selektionsfunktion, Bildungsmonitoring). Hingewiesen wird aber auch auf die Verantwortung der Testentwicklung gegenüber der Unterrichtskultur. […] (Caspari, Grotjahn & Kleppin 2008: 87).“ (Caspari, Grünewald et al. 2008: 6) Inhaltsorientierte Lernaufgaben unterscheiden sich demnach von trainingsorientierten Übungen u. a. durch ihre größere Realitätsnähe, ihren stärkeren Handlungsbezug und ihre besondere thematische Relevanz für die Schüler. Sie zielen auf den Aufbau neuer Kompetenzen und auf das individuelle, eigentätige, selbstständige, vernetzende, kooperative und reflexive Lernen ab, weisen eine höhere Komplexität auf (unter Einbezug und Integration von fachlichem Wissen, Teilkompetenzen und unterschiedlichen Materialien und Medien), sind transparent und produktorientiert und folgen einem dreigliedrigen Ablauf: Vorbereitungs-, Durchführungs- und Nachbereitungsphase. Während bei Lernaufgaben Neues erworben wird, findet der Erwerb von Neuem bei Anwendungsaufgaben vor der Aufgabe statt. (Siehe Sieberkorb & Caspari 2017, m. R. Studienseminar Koblenz 2011; auch Reinfried 2017b: 80, m. R. Mertens 2010.) „Im Studienseminar Koblenz (Leisen) (2011: 7) werden Lernaufgaben definiert als ‚eine material gesteuerte Lernumgebung, die den individuellen Lernprozess durch eine Folge von gestuften Aufgabenstellungen mit entsprechenden Lernmaterialien steuert, so dass die Lerner möglichst eigentätig die Problemstellung entdecken, Vorstellungen entwickeln und Lernmaterialien bearbeiten. Dabei erstellen und diskutieren sie ein Lernprodukt, definieren und reflektieren den Lernzugewinn und üben sich im handelnden Umgang mit Wissen. Lernaufgaben zielen auf die selbsttätige und selbstständige Kompetenzentwicklung der Lerner.‘ […] Grundsätzlich können Aufgaben (inhaltsorientiertes Ergebnis) und Übungen (Training spezifischer Aspekte des Wissens und Könnens) unterschieden werden. Weiterhin werden verschiedene Aufgabentypen unterschieden, insb. Anwendungsaufgaben (das Neue wird vor der Bearbeitung dieser Aufgabe erworben und eingeübt) und Lernaufgaben (das Neue wird während der Bearbeitung der Aufgabe erworben und eingeübt). […] Lernaufgaben bestehen aus einer Zusammenstellung von Einzelaufgaben und ggf. Übungen, die thematisch/ inhaltlich und methodisch/ strategisch auf eine zu Beginn <?page no="139"?> 140 2 Lernerautonomie (LA) bekannt gegebene Zielaufgabe (target task) hinführen (kumulatives Lernen).“ (Sieberkorb & Caspari 2017: 7, 9; Hervorhebungen im Original) Im autonomen Klassenzimmer wählen die Lernenden selbst die zu bearbeitenden Aufgaben aus einem größeren Angebot aus (siehe z. B. Dam 1994; Wolff 4 2003). Kleine Aufgaben beziehen sich auf maximal eine Unterrichtsstunde, längerfristige sind Projekte, die mehrere Unterrichtsstunden in Anspruch nehmen. Die Lernenden verpflichten sich, die Projektergebnisse in Form von schriftlichen Produkten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vorzulegen. Dies können z. B. Folien, Poster, Broschüren, kleine Bücher, Audiomaterialien oder Internet- Seiten sein. Die Aufgabenstellungen beziehen sich immer auf das Lernen der Fremdsprache. 39 Zu 3.) Die Materialien Auf Breen (1982; zitiert nach Wolff 4 2003: 325) geht die Unterscheidung nach Inhaltsbzw. Produktmaterialien einerseits und Prozessmaterialien andererseits zurück, die in der Lernwerkstatt des autonomen Klassenzimmers zur Verfügung stehen (eingebracht durch die Lehrkraft oder die Lernenden). Unter Inhalts- oder Produktmaterialien versteht er authentische Materialien, wie z. B. Bücher, Texte oder Filme, die nicht auf das Sprachenlernen bezogen entwickelt wurden (Rohmaterialien). Informationsmaterialien, wie Wörterbücher und Grammatiken gehören ebenso zu den Inhaltsmaterialien. Prozessmaterialien sind Zusammenstellungen prozeduralen Wissens, wie z. B. Lern- und Arbeitstechniken zum Lernen von Wortschatz, Techniken zur Benutzung eines Wörterbuchs oder einer Grammatik oder Strategien zum Lesen, Schreiben oder Hörverstehen. Prozessmaterialien können aber auch Anregungen für Projekte oder Aktivitäten im Klassenzimmer sein. Rösler ( 6 2016) unterscheidet zwischen Lernmaterial und Lehrwerk und sieht Chancen für eine Individualisierung durch die Integration von digitalen Medien in den Lehrwerkverbund. „Während Lernmaterial für eine konkrete Gruppe von Lernenden ausgesucht oder produziert werden kann, können Lehrwerke […] nie genau zu den jeweiligen Lernergruppen und Lernzielen passen. […] 39 „[…]; typische Aufgaben sind das gemeinsame Schreiben von Geschichten zu einem vorher ausgehandelten Thema, Erstellen eines Bilderlottos zum Lernen von Wörtern, Recherchieren einer grammatischen Frage und Schreiben einer kleinen Grammatik, Zusammenstellen von Wortschatz zu einem bestimmten Thema, das gemeinsame Schreiben eines Sketches oder gar eines Theaterstückes, das Anhören einer Kassette und Erstellen eines Berichtes, das Lesen eines Buches und das anschließende Schreiben einer Buchrezension.“ (Wolff 4 2003: 325) <?page no="140"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 141 Zur Zeit der analogen Medien waren die Möglichkeiten der Lehrwerke, auf thematische Interessen der Lernenden einzugehen und Individualisierungsmaßnahmen zu unterstützen, sehr begrenzt. Dies ändert sich mit Aufkommen der digitalen Medien. Die Bereitstellung von Möglichkeiten zur Aktualisierung, Individualisierung und Adaption des Materials und zur Kooperation von Lernenden wird durch sie ebenfalls ein Prinzip der Lehrwerkproduktion, realisierbar z. B. durch Lernsoftware, die sich stärker an individuelle Lernende anpasst, durch ergänzende Materialien oder in Zukunft vielleicht durch ein Lehrwerk on demand, […].“ (Rösler 6 2016: 471, 472) Zu den Prinzipien kompetenzorientierter Ansätze in Lehrwerken siehe z. B. Martinez (2011). Zu diesen Prinzipien gehören die Aufgabe als Organisationsprinzip von Lerneinheiten, ein systematischer Aufbau von Kompetenzen und Strategien sowie die Förderung der Selbstevaluationskompetenz und die Erfahrung der eigenen Kompetenzzuwächse. Martinez zeigt auf, dass hierbei die Umsetzung in der Praxis ein entscheidender und noch zu erforschender Faktor ist. „Das Lehrwerk bzw. Lehrbuch entfaltet sein spracherwerbsförderndes Potenzial in der Zusammenarbeit mit der Lehrkraft und den Lernenden. Das bewusste Wahrnehmen eines Lehrwerks (d. h. die Akzeptanz durch Lernende und die Umsetzung der fachdidaktischen Postulate durch Lehrende) ist ‚immer das Ergebnis einer individuellen Interpretation und unterliegt damit subjektiven Theorien, die entweder den jeweiligen Lehrwerkpostulaten entsprechen, im negativen Fall aber Ignoranz oder gegenläufige Handlungen bewirken‘ (KOENIG 2010: 177 f.). Leider ist bisher die Frage, wie Lehrende und Lernende einen kompetenzbzw. aufgabenorientierten Ansatz interpretieren, d. h. wie ein solcher Ansatz auf die Lernenden wirkt, noch unbeantwortet. […] Wie […] gezeigt, enthalten neuere Lehrwerke innovative Ansätze, deren Umsetzung in die Praxis allerdings systematisch erforscht werden sollte.“ (Martinez 2011: 97, 99) 40 Zu 4.) Die Bewertung von Lernprozessen Für Dam (1994) ist die Bewertung der durchgeführten Lernaktivitäten die wichtigste Aufgabe im lernerautonomen Unterricht. Diese findet in ihrem Unterricht regelmäßig, meist einmal pro Woche oder im Anschluss an bestimmte Aktivitäten, statt. Alle Lerngruppen müssen darlegen, was sie gelernt haben. Dabei werden die Aktivität, die Materialien, die Ergebnisse, soziale Aspekte der Lernsituation und der Evaluationsprozess selbst thematisiert. Auch der einzelne Lerner führt eine Bewertung durch, die in die Gesamtbewertung einfließt. Er führt ein Tagebuch, in dem er seine Lernfortschritte festhält. 40 Zu der Frage, wie sich mehrsprachigkeitsdidaktische Ideen in sprachenübergreifenden Lehrmaterialien umsetzen lassen siehe z. B. Hufeisen (2011). <?page no="141"?> 142 2 Lernerautonomie (LA) Ähnliches verlangt der interkomprehensive Ansatz, dem es um die Bewusstmachung lernersprachlicher Merkmale und der eigenen Lernhandlungen im Bezug zur Lernwirksamkeit geht (siehe z. B. Meißner 2008a, oben). Zu 5.) Die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern Siehe oben. Die oben aufgeführten fünf Kriterien für einen autonomiefördernden Unterricht nach Wolff gehen einher mit dem Konzept der „autonomen Klassen“ von Dam (siehe z. B. 1994, 1995), deren Grundlage der dialogische Aushandlungsprozess zwischen Lehrenden und Lernenden während des Lernprozesses bildet, mit dem Ergebnis eines prozessorientierten Curriculums (Le syllabus). „An die Stelle von Lehrwerken tritt eine straffe Unterrichtsorganisation, als deren Kernelemente zyklisch angeordnete Planungs-, Durchführungs- und Evaluationsphasen gelten. Innerhalb dieser Arbeitszyklen kommt der Evaluation (als einer besonderen Form der Reflexion) eine herausragende Bedeutung zu.“ (Martinez 2008: 64) „What I realized was that greater influence on the part of the learners in planning and conducting teaching-learning activities led to a greater degree of active involvement and better learning in the actual teaching-learning situation. This again influenced the learner’s potential for evaluating the process.“ (Dam 1994: 505) Lernerautonomie und digitale Medien Digitale Medien werden zunehmend (additiv zu den klassischen Medien) beim Fremdsprachenlehren und -lernen eingesetzt. 41 Die gleichzeitige Nutzung unterschiedlicher Medien kann z. B. beim Transmedia Storytelling beobachtet werden, wo gedruckter Romantext mit einem Online Companion oder einer Reading App kombiniert wird und wo sich das Lesen in einem Enhanced E-Book verändert hin zu einem transmedialen und interaktiven Erlebnis. Die Anwendung elektronischer Medien und Lernmittel verändert z.T. auch die sprachlichen Verarbeitungsprozesse, indem sie diese mit 41 Schulen in Deutschland erfahren, langsamer als in etlichen anderen Ländern der Welt, eine schrittweise technische Ausstattung mit Interaktiven Whiteboards, Dokumentenkameras, Beamern, Computern oder Tablets. Sie besitzen nur teilweise eine schnelle und stabile Internetverbindung und ein leistungsstarkes WLAN (passim: Schmid et al. 2017; Bertelsmann Stiftung 2017). Die private Ausstattung mit digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie durch Smartphones oder (Tablet-) PCs ist hingegen in unserer Mediengesellschaft nahezu flächendeckend vorhanden und damit der schulischen Ausstattung deutlich voraus. Für die Lernenden ist die Interaktion in sozialen Netzwerken, die vielfältige Internetnutzung und der Wechsel zwischen Online- und Offline-Angeboten selbstverständlicher Teil ihrer Lebenswirklichkeit. <?page no="142"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 143 neuen Inhalten (Input) füllen. Zu denken ist insbesondere an den Umgang mit Internet-Wörterbüchern, ein- und mehrsprachigen, mit Konkordanzen u. a. m.: „[…] the reading process changes profoundly when reading is combined with other activities: for example viewing and listening. Transmedia storytelling is a comparatively new literary practice that enables readers actively to interact with the narrative text and to investigate on their own. […] In addition to written words, visual and auditory input can also shape the constitution of a literary text. In the next years, it is likely that printed as well as electronic books will use the influence of new media as inspiration and opportunity for further artistic innovation by becoming increasingly interactive and transmedial art forms. By connecting narrative texts with the virtual world via app, computer game or online companion, transmedial formats can enhance the recipients’ interest in the characters, as well as their emotional involvement in the story. Finally, readers will be empowered to decide what kind of stories they prefer, and whether these are best experienced in print or electronic format.“ (Weigel 2018: 85-86) Laut der Bertelsmann-Studie „Die Schulen im digitalen Zeitalter“ (2017) nutzen aber nur 15 % der Lehrkräfte digitale Lernformen vielseitig im Unterricht. (Siehe Schmid et al. 2017; Bertelsmann Stiftung 2017.) Digitale Medien steigern nicht automatisch die Lernmotivation der Schüler, es kommt vielmehr auf die Kombination mit dem Lerngegenstand und dessen didaktisch-methodischer Aufbereitung an (Grünewald 2017c: 159; vgl. auch Grünewald 2006; Hattie 2008). Dennoch eröffnen digitale Medien gerade im Hinblick auf autonomes Lernen zahlreiche Möglichkeiten, z. B. eine erhöhte Motivation durch den leichteren selbstständigen Zugang zu multimedialen authentischen Materialien oder eine bessere Differenzierung durch die Ermöglichung des individuellen Lernens mit Lern-Software oder -Apps (und deren Rückmeldefunktion). Die Praxis eines mediengestützten Lernens und Lehrens und ihre Erforschung stehen jedoch erst am Anfang. „Die digitale Welt verändert das Lernen wie kaum eine gesellschaftliche Entwicklung zuvor. Viele Schulen haben das erkannt, aber noch nicht in ihrem Schulalltag umgesetzt. Lehrer und Schulleiter begrüßen zwar grundsätzlich die neuen Technologien - für ihren pädagogisch sinnvollen Einsatz fehlt es jedoch noch immer an Konzepten, Weiterbildung und Infrastruktur. […] Etwa 70 Prozent der Schulleiter und Lehrer sind davon überzeugt, dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden. Beim pädagogischen Nutzen ist die Skepsis aber noch groß: Nicht einmal jeder vierte Lehrer glaubt, dass digitale Medien dazu beitragen, die Lernergebnisse seiner Schüler zu verbessern. Ganz anders bewerten Schüler selbst ihren digitalen Lernerfolg: 80 Prozent bestätigen, dass sie durch Lernvideos, Internetrecherche oder moderne Präsentationspro- <?page no="143"?> 144 2 Lernerautonomie (LA) gramme aktiver und aufmerksamer seien und wünschen sich einen vielseitigeren Einsatz digitaler Medien. […] Dennoch bauen die meisten Lehrer selbst längst etablierte Medien wie YouTube, Wikis und Power Point nur gelegentlich in ihren Unterricht ein. Noch seltener finden neuere Anwendungen wie Lern-Apps, Lernspiele oder Simulationen den Weg in den Schulalltag: Nicht einmal jeder zehnte Lehrer setzt solche digitalen Medien ein, die kreatives, individuelles oder interaktives Lernen fördern. Und obwohl ihre technische Ausstattung häufig noch schlecht ist, verbieten 62 Prozent der Schulen, private Handys, Tablets und Laptops der Schüler im Unterricht zu verwenden. […] Tatsächlich verwendet […] kaum eine Schule neue Technologien, um besonders förderbedürftige Schüler zu unterstützen - obwohl das möglich wäre. Dabei riskieren die Schulen auch, sich von der Lebenswelt der Schüler zu entkoppeln und den Umgang mit digitalen Medien nicht hinreichend zu vermitteln. Die große Mehrheit der Lehrer (81 Prozent) und Schulleiter (88 Prozent) sieht die Chancen des digitalen Wandels stattdessen hauptsächlich darin, administrative Aufgaben besser bewältigen zu können.“ (Bertelsmann Stiftung 2017) Zum Einsatz digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht liegen bislang kaum repräsentative Studien vor, die belastbare Ergebnisse liefern (vgl. Grünewald 6 2016: 464). Parallel zur Forderung nach einem stärkeren Einbezug digitaler Medien in den Unterricht, wird auf die Rolle der Pädagogen hingewiesen, damit Bildung gelingt, und vor einem zu frühzeitigen Einsatz digitaler Medien gewarnt. Geleitet von der Entwicklungsbiologie formulieren Lembke & Leipner (2015): „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter. […] Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen. Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrung verhindert. Kinder sollten lieber im Matsch spielen als mit Tablets - das ist der beste Weg, um für das digitale Zeitalter fit zu werden. Wenn das Bildungssystem Kinder nicht zu früh mit Digitalität konfrontiert, sind sie ab der Pubertät eher in der Lage, vernünftig damit umzugehen. […] Für junge Erwachsene sind diese Medien ein Gewinn, sobald sie eine wirkliche Medienkompetenz aufbauen. […] Sie ist viel mehr als die Wisch- und Bedienkompetenz vieler Digital Natives, denn die Arbeit am Computer erfordert ein hohes Maß an Konzentrations- und Kritikfähigkeit. […] Um sie sollte sich auch der Bildungsauftrag der Schulen im digitalen Zeitalter drehen.“ (Lembke & Leipner 2015: 7-10) Das 4K-Modell des Lernens beschreibt, auf welche Kernkompetenzen Bildung im digitalen Zeitalter abzielen sollte: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Das Konzept wurde von der US-amerikanischen Organisation Partnership for 21st Century Learning (P21 2007, siehe <?page no="144"?> 2.3 Das Konstrukt der Lernerautonomie und ihre Begriffsbestimmung 145 auch 2017) entwickelt und u. a. durch Schleicher (2013) im deutschsprachigen Raum verbreitet. Im fremdsprachendidaktischen Diskurs wird im Umfeld der digitalen Medien die Förderung einer Medienkompetenz in besonderem Maße betont. Zu den zahlreichen Aspekten, die zur Vermittlung von Medienkompetenz zählen, gehört angesichts der Flut von Informationen im Internet die Fähigkeit, „reflexiv und kritisch mit Medien umgehen [zu] können“ (Grünewald 2017c: 158; siehe hierzu auch Schmenk 2008, unten). Im Sinne eines autonomen Lernens fordert Grünewald (2017c: 158): „Die Vermittlung von Medienkompetenz im Rahmen des Französischunterrichts sollte die Lernenden dazu befähigen, Medien für die Erweiterung ihrer eigenen fremdsprachlichen kommunikativen und interkulturellen kommunikativen Kompetenz zu nutzen.“ Auch lehrplanseitig wird die Förderung der Medienkompetenz im Sinne der LA hervorgehoben, siehe z. B. die Initiative Medienpass NRW, die im Jahr 2011 durch die Landesregierung, die Landesanstalt für Medien NRW (LfM) und die Medienberatung NRW gegründet wurde, um Kindern und Jugendlichen eine breite Medienkompetenz zu vermitteln und Lehrkräfte bei dieser Aufgabe zu unterstützen (LVR Zentrum für Medien und Bildung 2018). Die KMK (2016: 15-18) nennt für die Förderung der Medienkompetenz sechs zu fördernde Kompetenzbereiche: 1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren 2. Kommunizieren und Kooperieren 3. Produzieren und Präsentieren 4. Schützen und sicher Agieren 5. Problemlösen und Handeln 6. Analysieren und Reflektieren 42 Zu den Chancen für das mediengestützte Fremdsprachenlernen und -lehren siehe z. B. Grünewald (2017c). Grundsätzlich gilt für alle Medien das Prinzip des begründeten reflektierten Einsatzes. Zierer (2017) fordert entsprechend eine Medienbildung, die Medienkunde, Mediennutzung, Mediengestaltung und Medienkritik umfasst: „Als zentrales Ziel einer Medienbildung lässt sich definieren, dass sie Menschen befähigen soll, Möglichkeiten von Medien zu erkennen und sie sinnvoll zu nutzen, und 42 Vgl. den Medienkompetenzrahmen NRW (LVR Zentrum für Medien und Bildung 2018), der in der Fassung 2017 folgende Kompetenzbereiche listet: 1. Bedienen und Anwenden; 2. Informieren und Recherchieren; 3. Kommunizieren und Kooperieren; 4. Produzieren und Präsentieren; 5. Analysieren und Reflektieren; 6. Problemlösen und Modellieren. <?page no="145"?> 146 2 Lernerautonomie (LA) gleichzeitig in die Lage versetzen soll, potenzielle Gefahren von Medien wahrzunehmen und zu vermeiden. Hierfür sind neben Kompetenzen auch Haltungen notwendig.“ (ibid.: 31) Digitales Lernen definiert er als „Lernen [, das] auf Erfahrungen beruht, die mithilfe einer Digitalisierung ermöglicht wurden“ (ibid.: 32). Mit steigender Version des Webs (Web 1.0 bis Web 4.0) nehmen der Grad der sozialen und der kognitiven Vernetzung und damit die Möglichkeiten des Austausches und der Kooperation zu. Man spricht in diesem Fall von einem Lernen 4.0, das das höchste Potenzial einer Digitalisierung im Bildungsbereich birgt. Aber auch ein nicht digitales Lernen kann in diesem Sinne ein Lernen 4.0 sein (ibid.: 36). Im Hinblick auf die Befunde der Großstudie von Hattie (2008), der beim Einsatz von digitalen Medien lediglich durchschnittliche Effektstärken verzeichnete, betont Zierer (2017) die Bedeutung von Kompetenz und Haltung der Menschen, die mit den neuen Medien arbeiten. „Infolgedessen sind aus bildungspolitischer Sicht nicht nur Strukturen zu schaffen, sondern auch die Menschen zu stärken, die die Strukturen erst zum Leben erwecken können. […] So zeigt sich, dass gewisse Grundsätze des Lernens von einer Digitalisierung unberührt bleiben. Das Ergebnis, dass für ein nachhaltiges Lernen mindestens sechs bis acht Wiederholungen notwendig sind, sei erneut als Beispiel genannt.“ (ibid.: 56-57) Das SAMR-Modell (Puentedura 2006, 2012; Wilke 2016) versucht eine Orientierung zu geben, indem es vier Ebenen der Digitalisierung im Klassenzimmer (vom Informationsträger bis hin zur Informationsverarbeitung) unterscheidet: - Substitution (Ersetzung: digitaler Ersatz für traditionelle Medien ohne Mehrwert) - Augmentation (Erweiterung: digitaler Ersatz für traditionelle Medien mit funktionaler Verbesserung hinsichtlich Geschwindigkeit und Verfügbarkeit) - Modification (Änderung: Technik ermöglicht digitale Neugestaltungen von Aufgaben) - Redefinition (Neubelegung: Technik ermöglicht Erstellung neuartiger Aufgaben hinsichtlich kommunikativer und inhaltlicher Vernetzung) 43 43 Das „Padagogy Rad V4.1“ (Padagogy Wheel) wurde von Carrington (2015) als Orientierungsrahmen für die Reflexion des Einsatzes neuer Medien im Unterricht entwickelt. Es setzt das SAMR-Modell in Bezug zu Fragen nach dem Lernziel (Anforderungsprofil und Fähigkeiten), nach der Motivation der Schüler durch Förderung ihrer Autonomie, Kompetenz und Selbstbestimmung und zur Bloom’schen Lernzieltaxonomie (Verstehen, Erinnern, Anwenden, Analysieren, Bewerten, Gestalten; siehe Bloom 1976). Erst nach Erreichen dieser Ebene, sollte die Frage nach der Optimierung durch den Einsatz neuer <?page no="146"?> 2.4 Zusammenfassung: Begriffsbestimmung „LA“ 147 Zierer (2017) zieht in Bezug auf das SAMR-Modell die Schlussfolgerung, dass der Einsatz neuer Medien erst ab der dritten Ebene interessanter wird. Hohe Wirksamkeit für das Lernen ist immer dann gegeben, wenn eine Aufgabe eine Herausforderung darstellt und eine intensive und vertrauensvolle menschliche Kooperation benötigt, wie dies z. B. bei erlebnispädagogischen Maßnahmen der Fall ist. Neue Medien sollten hier sinnvoll integriert und genutzt werden: „Je besser es Lehrpersonen gelingt, neue Medien so einzusetzen, dass sie bisherige Aufgaben im Hinblick auf Anforderungsniveau und Kommunikation ändern und neubelegen, desto größer wird der Einfluss auf die Lernleistung von Schülerinnen und Schüler sein. […] Insofern liegt der Mehrwert einer Digitalisierung, genau in diesen Bereich [hoher Grad an kognitiver und sozialer Vernetzung] vordringen zu können. […] Schulische Bildung bleibt im Wesentlichen eine Frage der gelingenden Interaktion zwischen Menschen. Technik ist in diese Interaktion sinnvoll zu integrieren und den Menschen unterzuordnen. Kurzum: Pädagogik vor Technik! “ (Zierer 2017: 63-64, 100) Zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht im Sinne einer Aufgabenorientierung siehe z. B. die Websites von Wössner. Siehe auch Schmenk (2008) unten zur Media Literacy. Schmenk stellt die Medienkompetenz in direkten Bezug zur kommunikativen Kompetenz und zur Autonomiediskussion und spricht von Media Literacy, die im Fremdsprachenunterricht die Kommunikationsbewusstheit und interkulturelle Sensibilisierung ergänzen sollte. Zusammenfassend: Digitale Medien sind nicht per se autonomiefördernd, sondern sie müssen reflektiert zur Unterstützung der LA in den Fremdsprachenlehr- und lernprozess integriert werden. Hierzu gehören lehrerseitig und schülerseitig eine fundierte Medienkompetenz und Medienbildung. 2.4 Zusammenfassung: Begriffsbestimmung „LA“ im Kontext des Fremdsprachenlernens Grundsätzlich kann man mit Wolff ( 4 2003: 322) zusammenfassen, dass LA als allgemeines Erziehungsziel, als didaktisch-methodischer Ansatz, als Fähigkeit, die der Lernende mitbringt, oder als Prozess verstanden werden kann, der vom Medien gestellt werden. Hier sind unterschiedliche Apps den Bloom’schen Kriterien zugeordnet. Auf der SAMR-Ebene wird schließlich die Frage geklärt, wie die neuen Medien bzw. Technologien eingesetzt werden sollen. <?page no="147"?> 148 2 Lernerautonomie (LA) Lerner zu gestalten und von der Lehrkraft zu fördern ist. Die Förderung der LA führt über den schulischen Kontext hinaus zur Fähigkeit des lebenslangen Lernens in einer Gesellschaft, die sich an demokratischen und emanzipatorischen Werten orientiert (vgl. z. B. Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 17-18). Hier kommt der Förderung einer mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz sowie der Medienkompetenz der Schüler eine besondere Bedeutung zu. Mit Blick auf die obige neuere fachdidaktische Diskussion zum Konstrukt „LA“ beim Fremdsprachenlernen kann festgehalten werden: 1. LA ist die komplexe Metafähigkeit des Lerners, die Verantwortung bzw. die Kontrolle für das eigene Fremdsprachenlernen und dessen Ziele und Prozess selbstständig, selbstbestimmt und aktiv zu übernehmen (u. a. Martinez 2008, 2011, 6 2016; Meißner 2010a, 2012c; Behr 2010; Aguado 6 2016; Beckmann 2016; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017; Sieberkorb & Caspari 2017). 2. LA beschreibt die psychologisch positive Beziehung des Lerners zu sich selbst als Lerner, zum Lerngegenstand und zum eigenen Lernprozess. Der Lerner versteht das Fremdsprachenlernen und damit die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz als einen individuellen, aber auch interaktiven Prozess, bei dem er an sein Vorwissen, vorhandenes Sprachwissen und Sprachlernwissen, anknüpft. LA zielt beim Fremdsprachenlernen somit auf einen hohen Grad an Sprach(lern)bewusstheit, Monitoring, Selbstevaluation und Reflexion und erhöht aufgrund von Selbstwirksamkeitserfahrungen die Motivation und Resilienz der Lerner (u. a. Meißner 1995b, 1998a, 2002b, 2004c, 2008a, 2010a, 2012b, 6 2016; Gnutzmann 4 2003, 6 2016; Martinez 2008, 2015; Schmenk 2008; Bär 2009a, 2010; Doyé 2010; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017; Schinschke & Caspari 2017). 3. LA existiert nicht in Reinform, sie ist eine gedachte Größe. Der Lerner bewegt sich mit einzelnen Aspekten seines Fremdsprachenlernens zwischen Unselbstständigkeit und Selbstständigkeit auf diese Zielgröße hin (u. a. Schmenk 2008; Martinez 2008; Tassinari 2010a; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017). 4. Zentrale Komponenten des Konstrukts LA beim Fremdsprachenlernen sind Strategien, Kompetenzen bzw. Handlungsbereiche, a. die lernregulierend wirken (planen, Materialien und Methoden auswählen, durchführen, überwachen, evaluieren); b. die Handlungen und Entscheidungen initiieren (Wissen strukturieren, sich motivieren wollen, mit den eigenen Gefühlen umgehen); c. die den Lernprozess und die eigenen Lernhandlungen steuern (das eigene Lernen managen) und d. die im sozialen Lernumfeld zum Zuge kommen (kooperieren). <?page no="148"?> 2.4 Zusammenfassung: Begriffsbestimmung „LA“ 149 Damit verbunden ist die Einsicht in den eigenen Lernertyp bzw. die Bewertung der eigenen, individuellen Sprachen- und Sprachlernerfahrungen, Vorlieben und Abneigungen (u. a. Grotjahn 4 2003b; Martinez 2008, 6 2016; Schmenk 2008, 2009; Riemer 2009; Tassinari 2010a; Abendroth-Timmer 2011; Aguado 6 2016; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017). 5. Die Komponenten des Konstrukts „LA“ stehen zueinander in einer dynamischen interaktiven Wechselbeziehung. Der Zugang zur LA kann, wie gesagt, darüber hinaus durch den Fremdsprachenlerner individuell gestaltet werden. Ein autonomer Lerner kann aufgrund seiner Beurteilung der eigenen Kompetenzen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Lernziele sein weiteres Lernen individuell und gezielt planen. Hierbei kommt dem Erwerb und der Bewusstmachung von Lern- und Sprachlernhypothesen bzw. von metakognitiven Strategien eine besondere Bedeutung zu. In Bezug auf die sprachbezogenen Ressourcen erklärt dies die Bedeutung des Vergleiches sprachlicher Bestände auch im Sinne des intra- und interlingualen Identifikationstransfers. Hier liegt die Verbindung zwischen LA und Mehrsprachigkeitsdidaktik. LA ist damit die Metafähigkeit des Lerners, die Dimensionen und Komponenten des Lernprozesses miteinander zu verbinden, entsprechend den eigenen Bedürfnissen und der jeweiligen Lernsituation (u. a. Meißner 2002b, 2010a, 2012; Martinez 2008, 6 2016; Tassinari 2010a, b; Doyé 2010; Fäcke 2010; Tesch 2010). 6. LA beim Fremdsprachenlernen kann wie folgt betrachtet und gefördert werden: a. Förderung des kritischen Bewusstseins des Lerners bzw. der Lerngruppe und Erziehung zur Mitbestimmung und Mündigkeit; b. Herstellung einer reichen Lernumgebung; c. Förderung durch Anleitung zum selbstreflexiven Lernen; erfasst werden sollten folgende Domänen: Sprach(en)wissen, Sachwissen, Lernwissen (Motivation, eigener Lernertyp, Lernhandlungen und das Wissen über diese Domänen) sowie die Analyse der eigenen Lernhandlungen; d. Förderung von wissensbasierten und handlungsorientierten Kompetenzen, Fertigkeiten und Strategien, der interkulturellen Kompetenz, der kommunikativen Kompetenzen und damit der kommunikativen Selbstständigkeit und Verantwortung im sozialen Lernumfeld (u. a. Martinez 2008, Rahmenmodell; Schmenk 2008; Tassinari 2010a; Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017; Schinschke & Caspari 2017; Vollmer et al. 2017; Fäcke & Meißner 2019). 7. Interkomprehension, das ist letztlich die Identifikation und das Vergleichen sprachlicher Schemata sowie des Umgangs mit Sprache und Sprachen, trägt grundlegend zur Bewusstmachung von Voraussetzungen und Kompetenzen der Lerner bei und schult ihre Fähigkeit zur Selbstevaluation. Spezielle Checklisten mit Deskriptoren zur LA können darüber hinaus der Bewusst- <?page no="149"?> 150 2 Lernerautonomie (LA) machung und Reflexion über den eigenen Fremdsprachenlernprozess dienen. Sie sind damit ein Instrument zur Evaluation in Bezug auf den Grad erreichter LA und ein Mittel zur Weiterentwicklung der eigenen Autonomisierung (u. a. Meißner 2002b; Martinez 2008; Tassinari 2010a, b; Doyé 2010). Fazit: LA ist die multifaktorielle und auf unterschiedliche Domänen bezogene Kompetenz des Lerners, die Verantwortung bzw. die Kontrolle für das eigene Fremdsprachenlernen und dessen Ziele und Prozesse zunehmend selbstständig, selbstbestimmt und aktiv in seinem Lernumfeld zu übernehmen. LA ist damit eine Orientierungsmarke für die Lehreraus- und -fortbildung. 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik „Si l’autonomie, c’est-à-dire la capacité de prendre en charge son apprentissage, doit certainement constituer un des objectifs de toute institution de formation d’adultes, […], l’autodirection de l’apprentissage doit rester une possibilité offerte et non-imposée aux apprenants, ,a tendency to be encouraged‘ (Trim 1977: 8) et, ajouterons-nous, ,préparée‘. Il ne s’agit donc pas (…) de vouloir à toute force que l’apprenant prenne son apprentissage en charge, ce qu’il importe de développer, c’est la capacité de l’apprenant à opérer cette prise en charge.“ (Holec 1980: 34; Hervorhebung im Original) Es ist eine pédagogie de l’autonomie, die nach Holec dem selbstgesteuerten Lernen, der LA und der Autonomisierung 44 zugrunde liegt (Martinez 2008: 37; m. R. Cembalo & Holec 1973: 6 f.). Hinsichtlich der Autonomisierung beschreibt Martinez (2008: 79 ff.) drei wesentliche Perspektiven: die Perspektive des Lerners, die der Lehrkraft und die der pädagogischen Maßnahmen. Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) betonen dabei den Kontext der pädagogischen Maßnahmen und die Notwendigkeit, in der konkreten Situation fördernde und hemmende Aspekte für die Förderung von LA zu analysieren. 44 Autonomisierung wird als ein Prozess der schrittweisen und individuellen Befähigung zum eigenverantwortlichen Lernen verstanden (siehe Holec 1981a, 2000; Duda 2006: 68): „l’acquisition graduelle et individualisée de la capacité de prendre en charge son apprentissage“ (Holec 1981a: 20). Das Ziel der Autonomisierung besteht darin, dass der Lernende seine Sprachlernkompetenz verbessert und zu seinem eigenen Lehrer wird (vgl. Holec 1981a: 14 f., 20 sowie 1991: 65; siehe auch „Lernen durch Lehren“, Martin 1996). <?page no="150"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 151 a) LA aus der Sicht der Lernenden Für das autonome Sprachenlernen betonen Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) drei Kompetenzbereiche, die bei den Lernenden zu fördern sind: - die Lernkompetenz (learning competence), - die Fähigkeit zur Selbstmotivation (competence to self-motivate) und - die Kritikfähigkeit (competence to think critically). (Siehe Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017; u. a. m. R. Flavell 1979 und 1987, Siegel 1988, Wenden 1991, Weiner 1992, Ushioda 1996, Black & Deci 2000.) Im Bereich der Lernkompetenz sind nach Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) zu fördern: a. das metakognitive Wissen und die Theorien zum Lernen (metacognitive knowledge and beliefs about learning). Dazu gehören das Wissen über sich selbst als Sprachenlernender (person knowledge), das Wissen über die zu lösende Aufgabe (task knowledge) und das Wissen über Sprachlernstrategien (strategy knowledge). b. die Lernstrategien (learning strategies). Siehe oben. c. die positive Haltung zu einem verantwortlichen Lernen (attitudinal competence): „active attitude towards learning, seeking out learning opportunities, willingness to show initiative in language learning activities, tasks and language use, willingness to take on responsibility, willingness to take risks, openness to cooperation, intellectual curiosity, tolerance of ambiguity, confidence in one’s ability to learn“ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 57). Zur Fähigkeit zur Selbstmotivation siehe oben. Die Kritikfähigkeit meint ein kritisches, hinterfragendes, interessiertes, forschendes, faktenorientiertes, evaluierendes, positives und offenes Denken. Ein kritischer Denker ist z. B. „able to admit a lack of understanding or information, regards critical thinking as a lifelong process of (self-)assessment, examines learning problems closely, is critically aware of contexts, especially of variables that effect learning“ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 63) Martinez (2008: 81-83) hebt in Bezug auf die Autonomisierung beim Lerner auf sieben Anwendungsbereiche ab und listet sie zusammen mit den zu erwerbenden Kompetenzen und mit entsprechenden Beispielen von konkretem Lernverhalten. Sie stützt sich dabei auf Albéro (2003) sowie auf weitere Ergebnisse aus der fremdsprachlichen Strategie- und Autonomieforschung einschließlich der Ergebnisse aus der Mehrsprachigkeitsforschung (u. a. Naiman et al. 1978; Tremblay 1986, 1996, 2003; Oxford 1990; O’Malley & Chamot 1990; Wenden <?page no="151"?> 152 2 Lernerautonomie (LA) 1991; Simons 1992; Weskamp 1996b; Zimmermann 1997b; Vogel 2 1998; Crabbe 1999; Mißler 1999; Rampillon 2000, 2003; Meißner, zuletzt 2008). Ziel dieser Auflistung ist es, ebenfalls eine Analysegrundlage zu bilden für Daten, die im institutionellen Lehr- und Lernkontext und mit Bezug auf die LA empirisch erhoben werden. 1. Technologisches Know-how: z. B. Beherrschung der Neuen Technologien (z. B. eine gemeinsame Plattform nutzen können) 2. Informationsbeschaffung: z. B. Fähigkeit zur Informationssuche (z. B. Benutzung von Nachschlagewerken) 3. Methodik: z. B. Planung und Regulierung der eigenen Aktivität (z. B. Herstellen von einem eigenen Lernplan; indirekte Strategien oder Stützstrategien) 4. Soziale Interaktion: z. B. Kooperations- und Teamfähigkeit (z. B. Partnerarbeit; kommunikative oder kompensatorische Strategien) 5. Kognitive Verarbeitung: z. B. Sprachbetrachtung und Reflexion über die Funktion von Sprache (z. B. Sprachen miteinander vergleichen; language awareness, Gedächtnis-, Sprachverarbeitungs- und Sprachgebrauchsstrategien bzw. -techniken) 6. Metakognitive Reflexion: z. B. Bewusstwerdung der eigenen Lernwege (z. B. Selbstevaluation; metakognitive Strategien bzw. Techniken) 7. Psycho-affektive Dimension: z.B. positiver Umgang mit Fehlern (z. B. Fehlerstatistik führen; (sozio-)affektive Strategien bzw. Techniken) Die Förderung dieser Kompetenzen, das Lernen lernen, bedeutet nach Martinez (2008) eine methodologische, technische und psychologische Vorbereitung und den Erwerb von Strategien sowie einer language learning awareness (vgl. oben, Martinez 2008: 84; m. R. u. a. Holec 1980, Sinclair 1999a). Im Hinblick auf die Strategienvermittlung gilt es allerdings nicht, „eine Reihe von vermeintlich universell guten Strategien zu vermitteln, sondern vielmehr metakognitive Reflexion zu fördern, die erst die individuelle Generierung von Strategien erlaubt.“ (Martinez 2008: 84-85; m. R. Beck et al. 1991, Zimmermann 1997a, Chan 2000 und zur Dichotomie „Lernen lehren“ vs. „Lernen lernen“: Legenhausen 1998: 83 f.) 45 45 Nach Wenden (1991) sind für den autonomen Lerner selbst zwei Attitüden charakteristisch, die seine Rolle und seine Fähigkeit im Lernprozess betreffen: die Bereitschaft, die Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu übernehmen, und das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit. Bei den zugrunde liegenden Überzeugungen handelt es sich dabei um eine besondere Form von metakognitivem Wissen.„The beliefs that are central to language learners’ attitudes - their beliefs about their role and capability as learners - are a form of metacognitive knowledge.“ (ibid.: 54) „[M]etacognitive knowledge is a prerequisite to the development of these self-regulatory processes. It is the basis for planning and monitoring. Thus it is essential to the development and enhancement of a learner’s potential for autonomy.“ (Wenden 2001: 63) <?page no="152"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 153 Tesch (2010) hebt m. R. De Florio-Hansen (2008a, b) hervor, dass bei der Förderung der methodischen Kompetenzen insbesondere die Selbstlern- und Selbstevaluationskompetenz der Lerner zu entwickeln sei. Das von Tassinari entwickelte dynamische Autonomiemodell nebst Checklisten kann die Reflexion der Lerner und ihre Selbstevaluation hinsichtlich ihrer eigenen LA unterstützen (siehe oben). „Die Untersuchung zeigt auf, dass Studierende in der Sprachlernberatung am Selbstlernzentrum sowie im Unterricht sich selbst als autonome Lerner anhand der Checklisten einschätzen können und legt den Schluss nahe, dass die befragten Studierenden durch die Selbsteinschätzung an Bewusstheit und Reflexion gewinnen und sich in der Lage sehen, ihren Lernprozess autonomer zu gestalten. Maria Giovanna Tassinari räumt allerdings ein, dass Selbstevaluation ihr autonomieförderndes Potenzial besonders dann entfalte, wenn sie im Rahmen einer prozess- und autonomieorientierten Lern- und Lehrkultur durchgeführt und durch einen pädagogischen Dialog (einen Austausch mit einem Sprachlernberater, einem Lehrer oder auch anderen Mitlernenden) begleitet werde.“ (Martinez & Morkötter 2012: 240; m. R. Tassinari 2010b). Eine Reihe von Untersuchungen zur psychologischen Vorbereitung fokussieren auf handlungsleitende Metakognitionen, Subjektive Theorien, die im Laufe des Fremdsprachenlernprozesses erworben werden. (Siehe hierzu oben sowie Grotjahn 1998b). In ihrer qualitativen Untersuchung bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern romanischer Sprachen zur LA und zum Sprachenlernverständnis (2008) bestätigt Martinez die von Riemer (1997) formulierte Einzelgänger-Hypothese, die besagt, dass der Fremdsprachenerwerb „ein hochgradig individuell ablaufender Prozess [ist], der unterschiedlichen außersprachlichen (affektiven, sozialen und kognitiven) Voraussetzungen unterliegt“ (Königs 2005: 448). Sie kommt in ihren Analysen zu dem Schluss, „[…], dass LA eine besondere Beziehung zwischen dem Lernenden und dem Lerngegenstand sowie dem Lernprozess impliziert, welche sich vor allem durch die drei folgenden Parameter konkretisieren lässt: (1) Autonome Lerner haben einen authentischen und kommunikationsorientierten Bezug zur Fremdsprache, welche sie überwiegend als Kommunikationsmittel konzeptualisieren. (2) Autonome Lerner haben einen selbstbestimmten Bezug zu Sprache(n) und zum Sprachenlernprozess, den sie als ihren eigenen betrachten. (3) Autonome Lerner haben einen reflexiven und didaktisierten Zugang zum Sprachenlernprozess, der auf dem Bilden von multilingualen Sprach- und Lernhypothesen beruht.“ (Martinez 2008: 265-266) <?page no="153"?> 154 2 Lernerautonomie (LA) Damit stehen LA und Kommunikation, Motivation und Mehrsprachigkeit in direkter Verbindung zueinander. b) LA und die Rolle der Lehrkraft Eine Lehrkraft, die die Autonomie ihrer Schüler verfolgt, sollte also deren jeweils individuelle Beziehung zum Lerngegenstand und zum Lernprozess sowie deren soziales Eingebundensein auf vielfältige Weise fördern. Von zentraler Bedeutung ist dabei „[…] eine ermutigende und interaktive Lernumgebung, in der der Lehrende eine unterstützende Rolle spielt, […]“ (Martinez 2008: 292; u. a. m. R. Prenzel 1993: 251, Lehtonen 2000: 74). 46 Dabei erfährt die Rolle des Lehrers vor allem einen Wandel hin zum Helfer, zum Organisator von Lernprozessen und zum Lernberater (siehe oben, vgl. u. a. Dickinson 1987: 122 ff.; Dam 1994; Caspari 2003; Vielau 4 2003; Kleppin & Spänkuch 2014). „Gängig ist in der Fachliteratur zur LA die Unterscheidung zwischen dem Lehrer als facilitator für Gruppenkonstellationen und dem Lehrer als councellor in individuellen Beratungskontexten.“ (Kleppin 2003: 75) Während sich im anglo-amerikanischen Bereich der Begriff teacher autonomy (Lehrerautonomie) inzwischen etabliert hat, ist dies in Deutschland (noch) nicht der Fall (vgl. Martinez 2008: 86-87). Auch stellt sich die Frage, ob man diese Terminologie im Kontext der Autonomisierung des Lerners benötigt, und ob es nicht eher um die Fähigkeit der Lehrkraft geht, die Autonomie des Lerners kompetent zu fördern (vgl. Martinez 2008: 86; m. R. Aoki 2000, Smith 2003b). Die im Rahmen des europäischen Projektes EuroPAL entwickelte Definition von teacher autonomy hat jedoch in der Forschung zu Recht einen gewissen Konsens erlangt und trägt im Kontext der LA sowohl für Lernende wie auch für Lehrende: „The competence to develop as a self-determined, socially responsible and critically aware participant in (and beyond) educational environments, within a vision of education as (inter)personal empowerment and social transformation.“ ( Jiménez Raya et al. 2007: 1 bzw. Vieira 2007: 8) Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017: 68) weisen m. R. Benson (2000) und Little (2004) auf die enge Beziehung zwischen LA und teacher autonomy hin, denn beide zielen auf ein Bildungsideal, das von demokratischen Werten geprägt ist. 46 Holec beschreibt die sich verändernde Rolle des Lehrers: „Son statut ne sera plus fondé sur le pouvoir conféré par l’autorité hiérarchique mais sur la qualité et l’importance de sa relation avec l’apprenant. “ (Holec 1980: 26) Siehe auch Ellis & Sinclair (1989): „Learner training aims to help learners consider the factors that affect their learning and discover the learning strategies that suit them best. […] It focuses their attention on the process of learning so that the emphasis is on how to learn rather than what to learn. “ (ibid.: 2) <?page no="154"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 155 „Furthermore, if we accept that autonomy is a central value to be promoted through education, then it must be central for any individual, including for the teacher who is expected to act as an autonomous professional.“ Die autonome Lehrkraft hat einen reflexiven und kritischen Blick auf für die LA hemmende kontextuelle Faktoren und auch auf ihren eigenen Unterricht. „Therefore, developing professional autonomy (and pedagogy for autonomy) is essentially about shortening the distance between reality and ideals, through opening up possibilities for education in schools to become more rational, just and satisfactory. “ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 69; m. R. Smyth 1997) „Es handelt sich um ein komplexes Phänomen, das Kompetenzen umfasst, die erworben werden müssen, und somit die Frage nach der Lehrerbildung aufwirft. LA verlangt von den Lernenden sowie von den Lehrenden, dass sie sich weniger auf die Ebene der Vermittlung als auf den Lernprozess selbst konzentrieren. Dies kann bedeuten, dass Lehrende ihre Lehr- und Lernkonzeptionen aufarbeiten und unter Umständen in Frage stellen müssen, um die ‚Paradoxa des Lehrens‘ (Larsson 1983) zu überwinden, die in der Regel einen Verzicht auf autonomiefördernde Maßnahmen bedeuten. […] Es scheint wichtig, den Lehrer auf seine Funktion im Hinblick auf LA vorzubereiten.“ (Martinez 2008: 87-88; m. R. Voller 1997, Kleppin 2003) Martinez (2008: 88) konstatiert allerdings auch, dass die Kompetenzen einer autonomiefördernden Lehrkraft noch unzureichend definiert sind. Das Modell von Crabbe (1999: 253 f.) liefert einen ersten Ansatz. Crabbe unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Aspekten, die zu einander in Beziehung stehen: 1. Acquisition factor in which learners can develop self-management 2. Examples of process standards for teachers to reach 3. Associated teacher knowledge or skill Als acquisition factors benennt er fünf Bereiche: 1. Motivation, attitudes and beliefs 2. Goal clarity and commitment 3. Language use and language rehearsal 4. Language awareness and problem-solving about language 5. Language learning awareness and problem-solving about learning Aus ihnen ergeben sich jeweils die von der Lehrkraft beim Lernenden in Gang zu setzenden Prozesse und die entsprechenden Kompetenzen der Lehrkraft, die in direktem Bezug zu den von den Lernenden zu erwerbenden Kompetenzen stehen. <?page no="155"?> 156 2 Lernerautonomie (LA) In Bezug auf die Beraterausbildung an Hochschulen und hinsichtlich der Lehrerausbildung nennt Kleppin (2003: 82 f.) neben kommunikativen Fertigkeiten und Gesprächstechniken eine Reihe von erforderlichen Wissensbereichen, die zu erwerben sind, um der Rolle des Lehrers als Lernberater bzw. Sprachlernberater gerecht werden zu können: „- Erfahrungswissen aus eigenen Lernprozessen oder aus Lernprozessen anderer Lerner; - linguistisches Wissen; - Kenntnisse über Fremdsprachenerwerbsprozesse; - Kenntnisse über die unterschiedlichen Lernsituationen (unterrichtliche und außerunterrichtliche Kontexte, z. B. auch Lernen in Selbstlernzentren, im Tandem, in der natürlichen Kommunikation im Zielland, bei Recherchen im Internet etc.); - Kenntnisse über individuelle Variablen beim Fremdsprachenlernen (z. B. Alter, Geschlecht, Motivation, Sprachlerneignung, Lernstile); - Kenntnisse über LA und selbstgesteuertes Lernen; - Kenntnisse über Lernstrategien; - Kenntnisse über häufig auftretende Lernschwierigkeiten; - fremdsprachendidaktische Kenntnisse, z. B. zu unterschiedlichen Vermittlungsmethoden; - Kenntnisse über interkulturelles Verhalten; - Wissen über Zertifizierungsanforderungen verschiedener Institutionen; - Wissen über Ressourcen zum Lernen der Fremdsprache; - Wissen über die Grenzen fachdidaktischer Forschung und die Grenzen eigenen Wissens z. B. auch auf Grund der Einsicht in Forschungsmethoden.“ Martinez (2008: 91) fasst im Hinblick auf die Lehreraus- und -fortbildung zusammen: „Einem erweiterten Lernkonzept entspricht eine erweiterte Reihe von savoir, savoirfaire und savoir-être des Lehrers und nicht zuletzt ein savoir-apprendre (vgl. auch Leupold 2000), die Gegenstand der Lehrerbildung sein müssen. Dies betrifft sowohl den Bereich der Ausals auch der Fort- und Weiterbildung. In der Fortbildung bietet das Konzept der Handlungsforschung, das auf Beobachtung und Reflexion basiert, innovative und viel versprechende Alternativen zu herkömmlichen Fortbildungskonzepten an (u. a. Hermes 1998).“ Vieira beschreibt in seiner „Pedagogy for Autonomy“ die Wechselbeziehung zwischen LA und Reflexivität der Lehrenden: „…teachers become more reflective as learners become more autonomous and vice-versa.“ (Vieira 1997: 66; m. R. Vieira 1993) Dabei unterscheidet er folgende Teilbereiche, die in gegen- <?page no="156"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 157 seitiger Wechselbeziehung zueinander stehen: subject knowledge, pedagogical knowledge, negotiation, (self-)regulation und critical attitude. Die Förderung des selbstreflexiven Lernens bzw. Lehrens ist somit Ziel einer jeglichen Lernerbzw. Lehrerbildung, die auf Autonomisierung abzielt. Im Mittelpunkt steht der Aufbau von metakognitiven Kompetenzen, zu denen Lern- und Lehrstrategien gehören und ein „flexibles, prozedurales Handlungswissen (= Wissen wie).“ (Ehlers & Legutke 1998: 15; vgl. auch Brown 1984, Flavell 1979) Grundlegend für die Förderung der Sprachlernkompetenz der Schüler ist dabei von Seiten der Lehrkraft ihre diagnostische Kompetenz, von Seiten der Schüler deren selbstdiagnostische Kompetenz: „[…], eine Kompetenz greift immer auf Mikrokompetenzen und/ oder Ressourcen verschiedener Dimensionen, eventuell auch auf verschiedene Domänen zurück. Jene zu Wissen, Können, Einstellungen und Haltungen bestehenden Komponenten zu identifizieren und hinsichtlich der Zielführung angemessen einzuschätzen verlangt […] lehrseitig eine diagnostische, lernseitig selbstdiagnostische Kompetenz - zu der selbstverständlich ein Unterricht, der sich an den Zielen der LA, wie sie das Leben in der Wissensgesellschaft erfordert, befähigen muss (Weißbuch der Europäischen Kommission 1996).“ (Meißner 2012a: 92) Tesch (2010) betont, „dass die Kompetenzerfahrung sowie die Erfahrung von LA stark mit der fachspezifischen Motivation und mit der Erfahrung von Lernerfolg korreliert, was wiederum einen gut strukturierten Unterricht im Sinne von ‚Lernberatung‘ und Monitoring impliziert. Der entscheidende Punkt ist nach Kunter et al., dass Lernberatung und Monitoring nicht als Kontrolle, sondern als informatives Feedback erfahren werden. […] Der vielleicht direkteste lehrseitige Steuerungsfaktor ist jedoch das Feedback- und Repair verhalten der Lehrkraft. […] Sie betreffen den Umgang mit Fehlern bzw. das Verständnis einer Lehrkraft bezüglich Fehler und - vorgeschaltet - die Diagnosekompetenz. Betrachtet die Lehrkraft Fehler in erster Linie als einen Normverstoß oder eher als einen Lernanlass? Welche Lernvorstellung verbindet die Lehrkraft mit der Dimension ,Korrektheit‘, und in welcher Gewichtung stehen dazu andere Dimensionen (Flüssigkeit, Komplexität)? […] Koppeln sie [die Lehrkräfte] Diagnose mit explizitem Feedback ? “ (Tesch 2010: 143- 144; m. R. Kunter et al. 2008, Chaudron 1988, Edmondson 4 2006, Kleppin 2005, 3 2006). c) Pädagogische Maßnahmen zur Förderung von Lernerautonomie Eine Pädagogik, die die Förderung der LA zum Ziel hat, wendet sich bewusst gegen eine „pedagogy of dependence“ (Vieira 1997; vgl. auch Holec 1997). Sie geht über den kommunikativen Ansatz hinaus und ist prozessorientiert, be- <?page no="157"?> 158 2 Lernerautonomie (LA) trachtet also den Prozess des Fremdsprachenlernens sowie die individuelle Förderung der Lernkompetenzen der Lernenden und setzt einen Sprachlernbegriff voraus, der auf dem Konstrukt der Lernersprache basiert (vgl. hierzu u. a. Breen & Candlin 1980; Breen 1983; Dam 1995, 1999; Nunan 1996b; Weskamp 1996a; Reinfried 2001; Meißner 2001a, 2005, 2007a; Legenhausen 4 2006). Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) heben angesichts der Komplexität des Konstrukts LA u. a. grundlegend hervor, dass eine pedagogy for autonomy immer den spezifischen Kontext sensibel und flexibel berücksichtigen und analysieren sollte: „ Pedagogy deals with the particular, the practical, and the possible […] If we accept the validity of the pedagogic parameters of particularity, practicality, and possibility for the development of a pedagogy for autonomy, then we need a framework that is comprehensive, context-sensitive and flexible. […] There cannot be a unified approach to pedagogy for autonomy […] Rather than being constrained by definitions, then, we must remain sensitive and open to individual circumstances and contexts. The contextual nature of autonomy suggests that it can be construed in many different ways, and that we must follow the scent rather than look for the specific, adopting a critical analytical approach in order to understand what is happening (or not) and why. “ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 18-21; Hervorhebungen im Original) Der spezifische Kontext, in dem das Unterrichtsgeschehen stattfindet, kann förderlich oder erschwerend für die Entwicklung einer autonomiefördernden Pädagogik sein. Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017: 36-40) unterscheiden zwischen „social and educational aspects“, „teacher related aspects“ und „learner related aspects“. Im Einzelnen sind zu nennen: vorherrschende Werte (z. B. politischer oder soziokultureller Art), Lehrpläne, gesellschaftliche Erwartungen (z. B. an die Rolle von Schülern und Lehrkräften), institutionelle Aspekte (z. B. Größe der Lerngruppen), Lehrerbildung, Lern- und Lehrbiografie der Lehrkraft, ihre Subjektiven Theorien, ihr soziokultureller und sprachlicher Hintergrund, ihre professionellen Werte, die (Sprach-) Lernerfahrungen der Schüler, ihre Subjektiven Theorien, ihr soziokultureller und sprachlicher Hintergrund sowie ihr Engagement. Fördernde oder hemmende kontextuelle Faktoren können theoretischer, professioneller, praktischer, politischer, wirtschaftlicher oder technologischer Natur sein. Dabei messen Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017: 70) der Sicht der Lehrkraft auf diese lokalen Bedingungen und einer kritischen Reflexion über die Möglichkeit von autonomiefördernden Maßnahmen in ihrer konkreten Arbeitssituation den größten Einfluss zu: „[…] only teachers can decide whether the <?page no="158"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 159 enabling conditions we propose are relevant or not, depending on their own visions of education and working circumstances.“ Grundsätzlich sollten bei dieser kritischen Betrachtung vier Bereiche berücksichtigt werden: „Developing a critical view of (language) education Managing local constraints so as to open up spaces for manoeuvre Centring teaching on learning Interacting with others in the professional community “ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 71). Ein LA fördernder Fremdsprachenunterricht folgt nach Jiménez Raya, Lamb & Vieira (2017) grundsätzlichen Prinzipien für einen guten Fremdsprachenunterricht: „ Create a natural language learning environment Treat language holistically Focus on both implicit and explicit knowledge Focus on both meaning and form Create an acquisition rich classroom Take into consideration the learners’ ‘internal syllabus’ Provide error feedback Promote intercultural competence “ ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 23-24). Darüber hinaus nennen sie zehn pädagogische Prinzipien, die eine LA und Lehrerautonomie befördern: 1. Responsibility, choice, and flexible control (flexible Selbstkontrolle meint die Fähigkeit des Lerners, an unterschiedlichen Punkten im Lernprozess den Grad der Kontrolle zu variieren) 2. Learning to learn and self-regulation (Förderung der learning awareness) 3. Integration and explicitness (Integration von kommunikativer Kompetenz und Sprachlernkompetenz, z. B. bei der Bearbeitung von tasks; explicitness meint Transparenz zum Zwecke der learning awareness und Partizipation; die Lehrkraft wird zum teacher of learning) 4. Autonomy support (Entwicklung intrinsischer Motivation durch Selbstbestimmtheit; Unterscheidung von drei Arten von autonomy support: organizational: z. B. Gruppenmitglieder selbst bestimmen, procedural: z. B. Material für die Projektarbeit selbst auswählen und cognitive: z. B. mehrere Lösungen für ein Problem finden) 5. Engagement and intrinsic motivation (Förderung von Engagement und intrinsischer Motivation als grundlegendes Prinzip einer Förderung von LA) <?page no="159"?> 160 2 Lernerautonomie (LA) 6. Learner differentiation (durch offene Aufgaben, Wahlfreiheit, kooperatives Lernen, forschendes Lernen, experimentelles Lernen, unterschiedliche Geschwindigkeit, Methoden und Hilfen) 7. Action-orientedness (insbesondere durch task-based language teaching) 8. Conversational interaction (Sprechkompetenz fördern in für die Schüler bedeutungsvollen symmetrischen sprachlichen Interaktionen sowohl untereinander als auch mit der Lehrkraft) 9. Reflective enquiry (kritische Reflexion auf Seiten der Schüler, z. B. beim Problemlösen oder hinsichtlich einer effektiven Selbstevaluation, und auf Seiten der Lehrkraft, z. B. teacher-led reflective enquiry through experimentation) 10. Formative assessment, assessment for learning and assessment for autonomy (Diagnose und Evaluation als grundlegendes Prinzip zur gezielten Förderung der obigen Prinzipien, insbesondere Selbst- und Partnerevaluation, Beurteilung der kommunikativen Kompetenzen und der Lernkompetenz, Lernprozessdiagnose) ( Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017: 81 ff.; u. a. m. R. Aviram & Yonah 2004; Wenden 1991; Sinclair 1996; Ryan & Deci 2000; Stefanou et al. 2004; Kohonen et al. 2001; Ellis 2003; Van Lier 1996; Lamb & Little 2016). Diese Prinzipien finden sich zum Teil bereits in den von Vieira (1997: 63) aufgezeigten handlungsleitenden Prinzipien zur Förderung von LA: 1. Integration der Entwicklung der Sprachlernkompetenz in die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz (integration) 2. Transparenz gegenüber dem Lerner im Hinblick auf Voraussetzungen, Ziele und Verfahren des Lehr- und Lernprozesses (transparency) 3. Spezielle Aktivitäten, wie reflexive Lernaufgaben oder selbstgesteuerte Aktivitäten, zur Förderung der Autonomie des Lerners (specialised activities) 4. Aushandlung von Lerninhalten und Lehrer- und Lernerrollen (negotiation) 5. Zusammenarbeit zwischen den Lernenden (collaboration) 6. Entwicklung von LA, Schritt für Schritt (progression) Aufgabenorientierung: Martinez (2008: 94) weist darauf hin, dass diese Prinzipien eng mit der Entwicklung von Aufgaben (tâches) und der Entwicklung von Lehrwerken für den Fremdsprachenerwerb in Zusammenhang zu bringen sind. Bei der Aufgabenorientierung (task-based language learning) werden die Schüler „in Anlehnung an reale Situationen der Sprachverwendung außerhalb des Klassenraums mit kommunikativen, inhaltsorientierten Aufgaben (tasks) konfrontiert […], die sie im Unterricht simulieren und lösen sollen“ (Bechtel & Thaler 2012: 275; siehe z. B. auch Nieweler 2016). Tesch (2010) merkt zur Definition von „Aufgabe“ an, dass deren Abgrenzung zur „Übung“ in der Fachliteratur unein- <?page no="160"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 161 deutig sei. Er verweist dabei auf Hufeisen (2006), De Florio-Hansen (2007) und Leupold (2008). Er definiert eine Aufgabe als „eine eher offene, aushandelbare Lerneinheit zum Aufbau isolierter aber auch integrierter Kompetenzen“. Der Begriff ‚Übung‘ meine „dagegen eine auf die Festigung einer einzelnen Teilkompetenz bezogene Lerneinheit“ (Tesch 2010: 50). (Zur Aufgabenorientierung und zu Lernaufgaben siehe u. a. auch: Ellis 2003; Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2005; Willis 1996; Willis & Willis 2007.) Sprachlernaufgaben sollten nach Narcy (1994) und Meißner (2001a: 31, 2006c) „eine breite und tiefe Verarbeitung in den Schwerpunkten Sprachdaten und Lernen bzw. Selbststeuerung initiieren“. „Diese breite und tiefe Sprachverarbeitung wird vor allem durch die Prozesse der Reflexion über Sprache und Sprachlernprozesse, des Experimentierens mit Sprache, des Monitoring, der negotiation (Aushandlung von Lernzielen usw.) und der Lernsteuerung (Lernmanagement) gefördert (auch Vieira 1993). Die genannten Prozesse werden in Zusammenhang mit unstrukturiertem Input und Authentizität der Lernhandlungen gebracht. Die Notwendigkeit von unstrukturiertem Input ist vor allem in der Lehrwerksforschung diskutiert worden und hat z. B. zur Forderung nach Abschaffung von Lehrwerken geführt (s. z. B. Bleyhl 2000[a]; Wolff 2001). Die Mehrsprachigkeitsforschung hat zuletzt überzeugend gezeigt, dass das Formulieren und das Testen von Lernerhypothesen (Grammatikhypothesen) mit unstrukturiertem Input einhergehen. Letzterer begünstigt auch ‚self-generated-input enhancement‘ sowie die Generierung von Strategien und das Fragen seitens der Lernenden (Bär et al. 2005; Meißner 2008[a]).“ (Martinez 2008: 94-95) Einbezug des RePA: Meißner (2012a: 74-98) zeigt, dass das Kompetenzmodell des RePA (Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen, 2009; entstanden in Ergänzung zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen und zu den Sprachenportfolios; siehe auch Martinez & Schröder-Sura 2012), das die Mobilisierung kommunikativer, interkultureller und (mehr) sprach(en)lernbezogener Kompetenzen beschreibt, zur Konstruktion und Bewertung von kompetenzorientierten Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht unterstützend herangezogen werden kann. Siehe auch die praktische Handreichung von Meißner zu den RePA-Deskriptoren (2013): „Sie macht den schwer fassbaren Begriff der Kompetenzen für Belange des Unterrichts operationalisierbar. Mit den Deskriptoren für die ‚weichen‘ Kompetenzen unterstützt der REPA die in den KMK-Bildungsstandards (nicht nur) für die fortgeführte Fremdsprache für die Allgemeine Hochschulreife (2012) festgeschriebene ‚Sprachlernkompetenz‘ in ihren Bezügen zu interkulturellem Lernen, Mehrsprachigkeit, integrativer Didaktik und zur Nutzung des (sprach)lernrelevanten Vorwissens der Lernenden (Interkomprehension). Die Handreichung ist ein Instrument für die Planung und Analyse <?page no="161"?> 162 2 Lernerautonomie (LA) eines kompetenzorientierten Fremdsprachenbzw. bilingualen Sachfachunterrichts.“ (Meißner 2013: U4) „Für den REPA heißt Kompetenz stets Mobilisierungs- oder Handlungskompetenz. Von vornherein stellt er die für die pädagogische Praxis sehr relevante Frage, wie sich Kompetenzen aufbauen […]. Damit eine Handlungskompetenz entsteht, ist das Zusammenwirken der sie bildenden […] Mikrokompetenzen und Ressourcen erforderlich.“ (Meißner 2012a: 79, 80; m. R. RePA 2009) „Während Kompetenzen komplex und situationsabhängig sind, können Ressourcen bis zu einem gewissen Grad isoliert werden. Sie lassen sich im Hinblick auf den Grad ihrer Beherrschung definieren und vor allem können sie in einem Sprachlehr-/ lernprozess durch den Einsatz angemessener Materialien und Aufgaben im Unterricht aufgebaut werden.“ (Martinez & Schröder-Sura 2012: 71; m. R. De Pietro & Lörincz 2011: 51) Der RePA unterscheidet bei der Beschreibung von Kompetenzen zwischen Ressourcen aus den Bereichen savoir, savoir-être und savoir-faire (Wissen, eigene Persönlichkeit und Können) . „Die Deskriptoren [von Ressourcen] setzen sich aus einem Prädikat in Form einer Verbalphrase oder einer Nominalgruppe (analysieren können, beobachten können, Aufgeschlossenheit, kritische Einstellung …) und einem Objekt zusammen, auf das sich der Inhalt des Prädikats bezieht (sprachliche Elemente, kulturelle Phänomene etc.).“ (Martinez & Schröder-Sura 2012: 71-72; siehe auch Meißner & Morkötter 2014-15) Und er berücksichtigt in seinem Modell „die Multiplizität und die Interdependenz der Kompetenzen bildenden Elemente - Ressourcen und Mikrokompetenzen - sowie den engen Zusammenhang zwischen den Dimensionen von Wissen und Tun.“ (Meißner 2012a: 88) Förderung von Sprachlernkompetenz: Im RePA wird im Unterschied zum GeR die Sprachlernkompetenz als „transversale Kompetenz“ gesehen, die sich auf alle drei Bereiche von savoir, savoir-être und savoir-faire bezieht. „Dieser Aspekt ist insofern von Bedeutung, als damit betont wird, dass die (mehrsprachige) Aneignungskompetenz eine deklarative (a), prozedurale (b) und personenbezogene Komponente (c) umfasst, welche in einer Wechselwirkung stehen. […] ‚Das eigene sprachliche und kulturelle Vorwissen für den Lernprozess nutzen [zu] können‘ setzt voraus, dass man z. B. weiß, dass ‚man beim Lernen auf Ähnlichkeiten zwischen Sprachen zurückgreifen kann‘ und impliziert, dass man ‚eine Sensibilität für (Sprachenlern-)Erfahrungen‘ erworben hat […].“ (Martinez & Schröder-Sura 2012: 73) In Bezug auf die Sprachlernkompetenz betont Meißner (2012a: 81; m. R. Raupach 4 2006, Baumert 1993) als Ressource das Wissen über Lernstrategien und damit verbunden die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Ein kompetentes Sprachlernen ist proaktiv, strategisch, reflexiv, autonom, komparativ und verantwortungsbewusst, „ein dynamisches Zusammenwirken von <?page no="162"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 163 ‚skill and will‘ und damit eine komplexe Leistung der Selbstregulation des Ichs“ (Baumert 1993: 328). Ein Unterricht, der die Sprachlernkompetenz fördert, muss sich daher explizit mit der Ressource „lernbezogenes Wissen“ auseinandersetzen und sie aktivieren. Darüber hinaus sind interkomprehensive Ansätze durch ihre „weit reichenden und langfristig zu bearbeitenden Tasks“ für die Förderung von Selbstlernkompetenz besonders relevant: „Das Zusammenwirken von Metakognition, Domänenspezifik bzw. von Objekt- und Prädikatsbindungen zu Transferkompetenz […] erklärt die Effizienz interkomprehensiv basierter Verfahren.“ (Meißner 2012a: 82) Faktoren zur Konstruktion von Aufgaben zur Förderung der Sprachlernkompetenz: Weiter nennt Meißner (2012a: 83; m. R. Wenden 1998) für die Konstruktion von Aufgaben zur Förderung der Sprachlernkompetenz folgende Faktoren, die sich auch im RePA wiederfinden (ebenso in der Beschreibung einer Task von Ellis 2003): task knowledge (Sensibilität für Aufgaben zum Sprachenlernen), domain knowledge (Domänenwissen über das Sprachenlernen), strategic knowledge (strategisches Wissen in Bezug auf Sprachlernstrategien), metacognitive knowledge (Wissen über das eigene Lernen) und metacognitive strategies (Strategien für das eigene Lernen). Die Lernprozesse erfordern Wiederholung und sollten durch Aufgabenstellungen initiiert werden, die möglichst offen sind und von den Lernenden „eine bewusste Einschätzung der angestrebten Lernhandlung verlangen“ (Meißner 2012a: 84; m. R. die LISREL-Analyse von Nold, Haudeck & Schnaitmann 1997: 41): „Die stärksten Wirkungen gehen von den selbstständig angeeigneten Lernstrategien aus (0.50), gefolgt von den kognitiven Konstrukten der Sprachbewusstheit und des Vorwissens (0.30).“ (Siehe auch Meißner 2011.) Auch Williams & Burden (1997: 164) heben bei der Vermittlung von Strategien hervor, dass der einzelne Lerner deren persönliche Relevanz für sich selbst entdecken und solche, die für ihn besonders förderlich sind, gezielt weiterentwickeln sollte. Martinez verweist zudem darauf, dass Aufgaben, die auf Introspektion abzielen, für die Schaffung bzw. die Entwicklung einer (multi) language (learning) awareness besonders geeignet sind. Hierzu gehören z. B. simultane und retrospektive Laut-Denk-Protokolle, Lerntagebücher, Interviews oder die Thematisierung des Lernenlernens. (Vgl. hierzu Matsumoto 1994, 1996; Aguado 2004; Bär et al. 2005; Meißner 2005a, 2008.) Martinez & Schröder-Sura (2012: 76-77) betonen im Sinne von Feindt (2010) und Barnes (1976) und m. R. Tesch, Leupold & Köller (2008), dass Lehrwerke zur Förderung von Kompetenzen solche Aufgaben enthalten sollten, die „die Entwicklung persönlich relevanten Wissens“ fördern und damit Handlungswissen generieren, das auch genutzt werden kann. Routine- oder Standardaufgaben zur Einführung von savoir würden eher träges Schulwissen generieren. Für die Mobilisierung <?page no="163"?> 164 2 Lernerautonomie (LA) von Ressourcen seien z. B. Reflexionsfragen geeignet, im Sinne von: „Kannst du jetzt sagen, nachdem du die Übung gemacht hast, wie nützlich sie war? Warum? “ oder bei interkulturellen Aufgaben: „Hat die Fremderfahrung eine Rückwirkung auf dich? “ Es gilt, individuelles Lernen erfahrbar und Lösungswege bewusst zu machen. „Mit Rückgriff auf die Forschung zu LA ist anzunehmen, dass sich (Sprachlern-) Kompetenzen in der reflexiven Auseinandersetzung mit der jeweiligen Aufgabe entfalten. Denn jede Form (selbstgesteuerten) Lernens gründet auf der Kontrolle der kognitiven Prozesse (Aufrichten der Aufmerksamkeit, Reflexion, Aufbau metakognitiven Wissens) (Benson 2001). Idealerweise sollten Lernaufgaben demnach so konzipiert sein, dass durch Experimentieren und Reflexion eine Bewusstheit bezogen auf savoir (language awareness), savoir-être (self awareness), savoir-faire (process awareness) und nicht zuletzt auf savoir-faire avec les tâches (task awareness) wächst (vgl. Kohonen 1992).“ (Martinez & Schröder-Sura 2012: 79) Nach Meißner (2012a: 85) verlangt eine offene Aufgabe eine „Langzeitdiagnose“, eine „vielfache Passung des Lernhandlungsentwurfs und des Lernwegs an das übergeordnete Lernziel, welches sich in deutlicher (oft auch zeitlicher) Distanz zur konkreten Aufgabe befinden kann“. Da eine komplexe (offene) Aufgabe immer in mehrere Teilaufgaben zerfällt, muss ein „Lernmonitoring innerhalb einer Aufgabenlösung […] detailliert und wiederholt auf den Lösungsprozess zugreifen. […] Wir sprechen von einer Simultandiagnose.“ (Meißner 2012a: 86) Aufgaben zur Sprachlernkompetenz sind somit ein Instrument zur Lernprozessdiagnose (vgl. Meißner 2012a: 91). Experimentieren und Reflektieren: Entsprechend sollte eine Autonomie fördernde Pädagogik nach Martinez (2008: 95-96) im Sinne des experiential learning nach Kohonen (1992: 29) die Entwicklung des Lerners verfolgen und ihn zu einem kontinuierlichen Experimentieren und Reflektieren anregen (vgl. auch Wenden, siehe oben, sowie Nold et al. 1997 und Sinclair et al. 1999a). „Sprachgebrauch findet einerseits in kommunikativen Aktivitäten, andererseits beim Experimentieren mit der Fremdsprache (Analysieren, Entdecken von strukturellen und funktionalen Aspekten der Sprache, Hypothesenbildung und -testen) statt. […] In diesem Zusammenhang wird auch vom Lerner als einem (empirischen) Forscher gesprochen.“ (Martinez 2008: 96; m. R. u. a. Eck et al. 1994, Wolff 1997b, Weskamp 2001). Martinez verweist hier u. a. auch auf Thomsen et al. (1991) und Dam & Lentz (1998) und die Umsetzung in dänischen Klassenzimmern. „Denn entdeckendes Lernen - zumal in einem Rahmen von Unterrichtssettings, die darauf ausgerichtet sind, individuelle Lerndispositionen erkennen und optimal <?page no="164"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 165 nutzen zu können - bieten die bestmögliche Gewähr dafür, dass die Schülerinnen und Schüler Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können.“ (Küster 2013: 92) Psycholinguistische Passung: Meißner (2012a) betont, dass die Aufgaben zur Förderung der Sprachlernkompetenz nicht nur auf die lingualen Ressourcen, sondern auch auf die Wissensressourcen zum Spracherwerb fokussieren sollten, auf eine psycholinguistische Passung: „In diesem Zusammenhang wurde analog zur pädagogischen Passung der Begriff der psycholinguistischen Passung eingeführt (Meißner 2010[b]). Er meint, dass z. B. eine Höraufgabe lehrseitig so auszuwählen und zu konstruieren ist, dass die Aufgabenstellung wesentliche psycholinguistische Aspekte des Hörverstehens und des Spracherwerbs qua Hörverstehen umfasst und damit auch lernerseitig ein Wissen über entsprechende Aufgaben und ihre Zielführung aufbaut. […] Für die SLK [Sprachlernkompetenz] und ihre Förderung heißt dies, dass die zentralen psycholinguistischen Bedingungen für den Erwerb einer Fremdsprache qua Hörverstehen, Lesen, Sprechen und Schreiben auch im Unterricht den Lernern bekannt gemacht werden müssen. Soll z. B. Hörverstehen zum Spracherwerb führen, muss der Formenbestand aus dem Sprachfluss heraus detailliert identifiziert werden und es darf nicht nur bei inhaltsbezogenen Plausibilitätsvermutungen (bei den bekannten W-Fragen) bleiben. Die bisherige Theorie zur LA hat leider den wichtigen Aspekt der psycholinguistischen Passung weitgehend ausgeblendet (vgl. die umfassende Darstellung der Diskussion bei Martinez 2008: 15-97; auch Meißner 2010[b]).“ (Meißner 2012a: 86-87; siehe auch Meißner 2012d: 141) Vermittlung von metakognitiven Verfahren: Sprachhandlungen sind gleichzeitig immer an einen Inhalt und eine kommunikative Absicht geknüpft. „Kommunikative Situationen stehen in einem konditionierenden Verhältnis zur (erwarteten) Kompetenz oder Kommunikation bzw. zur pragmatischen Kompetenz.“ (Meißner 2012a: 87) Dabei können Kommunikations- und Lernstrategien nicht voneinander getrennt werden. „Autonome Lerner zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine authentische und selbstbestimmte Beziehung zur Fremdsprache aufbauen. Sie sind in der Lage, eine inhaltsbezogene Interaktion bei Bedarf in eine didaktisierte Interaktion zu verwandeln, d. h. eine Erwerbssituation in eine Lernsituation und umgekehrt kontrolliert zu überführen. Will man die LA der Lernenden fördern, so erscheint es wichtig, Interaktion und Kommunikation zu fördern, die zur eigenständigen Generierung von prozeduralem Wissen und Können beitragen können.“ (Martinez 2008: 289; m. R. Tarone 1981) Förderlich hierfür sind eine reiche Lernumgebung und die Vermittlung von metakognitiven Verfahren, die eine tiefere Verarbeitung und eine individuelle Entwicklung <?page no="165"?> 166 2 Lernerautonomie (LA) von Strategien in Gang setzen können. Die neuen Medien erhöhen die Authentisierung des Klassenzimmers und tragen somit zur Qualitätssicherung der Lehrwerke bei. (Vgl. Martinez 2008: 290-291; m. R. Wolff 1999, Zimmermann 1997a, Funk 2004, Legutke & Müller-Hartmann 2000.) Förderlich für die LA sind ferner der Einsatz des Europäischen Sprachenportfolios (Entwicklung von learner awareness, subject matter awareness und learning process awareness sowie Instrument zur Lehrerbildung) und der Mehrsprachenunterricht (Sensibilisierung für Sprachen und das Sprachenlernen, Erhöhung der Lernkompetenz und Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes) (vgl. u. a. Christ 1998; Schärer 2000, 4 2003; Meißner 2005d, 2008). Mit Blick auf die Selbstregulierung der Motivation kommt der Gestaltung von geeigneten lernerorientierten Aufgaben eine wichtige Rolle zu. (Vgl. Martinez 2008: 292; m. R. Crabbe 1993; Eckert & Riemer 2000; Narcy 1994; Meißner 2005a, 2006c, 2006d; Kleppin 2006.) Die Folgerungen für die Praxis des Fremdsprachenunterrichts von Meißner, Beckmann & Schröder-Sura aufgrund ihrer internationalen Studie in den Klassen 5 und 9 (2008) gehen in die gleiche Richtung: Der Unterricht sollte die Schüler auf das lebensbegleitende Lernen vorbereiten und dieses erfordert LA. Er sollte das Thema „Lernen des Lernens von Sprachen“ nachhaltig behandeln, um die Lernkompetenz der Schüler zu fördern, und sie zur Autoevaluation anleiten. Sie empfehlen u. a.: • „Selbsteinschätzung der zielsprachlichen Kompetenz und ihre Fremdevaluation einsetzen, um ein Nachdenken über die eigenen Lernprozesse, die Motivation und den Lernerfolg zu initiieren. […] • Mit dem ESP [Europäischen Sprachenportfolio] arbeiten. […] • Sprachen- und Sprachlernbewusstheit fördern: im Unterricht über Sprachen, über die unterschiedlichen Funktionen von Erst-, Zweit- und Fremdsprachen sowie Mehrsprachigkeit sprechen. • den Lernern einsichtig machen, weshalb sie Fremdsprachenkenntnisse (nicht nur Englischkenntnisse) benötigen. • den Lernern die eigenen Lernprozesse einsichtig machen. […] Es ist offensichtlich, dass Maßnahmen zur Sprachenbewusstheit vonnöten sind, die das negative Bild, welches Schüler von einer Sprache zeichnen, korrigieren.“ (Meißner; Beckmann & Schröder-Sura 2008: 164-165) Auch im Lehrwerk ist nach Meißner, Tesch & Vásquez (2011) die Steuerung zur eigenen Lernkontrolle, das Monitoring, systematisch anzulegen, um Lernkompetenz nachhaltig zu generieren. Außerdem sollte ein Lehrwerk im Sinne der sogenannten Einzelgänger-Hypothese von Riemer (1997) berücksichtigen, dass jeder Lerner seinen eigenen Lernweg und sein eigenes Lerntempo verfolgt. <?page no="166"?> 2.5 LA und eine sie fördernde Pädagogik 167 Das Lernen des Lernens, die Kompetenz zur Selbststeuerung und die Interkomprehensionsdidaktik sollten daher im Lehrwerk ihre Berücksichtigung finden: „Den Lehrkräften zu helfen, die neuen Herausforderungen zu bestehen, wird mehr denn je zuvor eine Aufgabe der Entwickler von Lehrmaterialien sein. Kompetenzorientierte Lehrwerke des Fremdsprachenunterrichts gehen daher über die enge Bindung an das Sprachcurriculum hinaus und fördern neben dem Erwerb der Zielsprache auch das Lernen des Lernens von Sprachen bzw. die Kompetenz der Selbststeuerung. Dies geht nicht ohne die Berücksichtigung des lernrelevanten Vorwissens. Hier weist die Interkomprehensionsdidaktik den Weg.“ (Meißner, Tesch & Vásquez 2011: 119) Letztendlich muss die Entwicklung von einer pedagogy of dependence hin zu einer pedagogy of autonomy als eine allmähliche Veränderung von „attitudes, knowledge and abilities on the part of both teachers and learners“ gesehen werden (Vieira 1999: 150). Zentral ist dabei zum einen die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen bezogen auf seine individuellen Lernprozesse. Dazu gehört die „Vermittlung von Kenntnissen zu den mentalen Verarbeitungsmustern von Sprache bzw. fremder Sprachen. Diese den Lernenden im Unterricht zu zeigen, bedeutet keine Überforderung, sondern ist notwendiger Bestandteil der Selbstdiagnosekompetenz innerhalb von SLK [Sprachlernkompetenz]. Das eigene Lernen verantworten können, wie es der Vater des Autonomiekonzepts, Henri Holec (1979), formulierte, ist Lernenden solange nicht wirklich möglich, wie ihnen die Einsicht in die eigenen Lernprozesse und in die Angemessenheit (Passung) der Steuerung verwehrt bleibt“ (Meißner 2012a: 94). Ein Unterricht, der einer sozialen Autonomiekonzeption folgt (siehe oben), fördert nach Schmenk (2008) die kommunikative Kompetenz und damit die Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung der einzelnen Mitglieder, die als Teil eines sozialen, fortwährend im Werden befindlichen Ganzen gesehen werden. Er fördert Lernkollektive, indem er z. B. Gruppenarbeit erprobt und zum Nachdenken darüber anregt. Er setzt sich eine Communicative Awareness (Kommunikationsbewusstheit) zum Ziel, indem er die Lernenden z. B. in aufgaben- und projektorientierten Arbeitsphasen für Kommunikationsprozesse und Konsensbildungen sensibilisiert. Und er regt die Lernenden zum kritischen Umgang mit Sprache im Sinne einer Critical Language Awareness (einer kritischen Sprachbewusstheit) an. (Vgl. Schmenk 2008: 342-347; u. a. m. R. Bolitho et al. 2003.) Zur Förderung der kommunikativen Kompetenz durch interkulturelle Kompetenz siehe oben. <?page no="167"?> 168 2 Lernerautonomie (LA) Weiter stellt Schmenk die Medienkompetenz in direkten Bezug zur kommunikativen Kompetenz und zur Autonomiediskussion. Mit Volkmer (1995) spricht sie von Media Literacy, die im Fremdsprachenunterricht die Kommunikationsbewusstheit und interkulturelle Sensibilisierung ergänzen sollte: „Es geht nicht um die vermeintliche Autonomie des Mediennutzers, sondern um das Eingebundensein von Personen in eine multimediale, vielfach vernetzte, vielsprachige Welt. Ebenso wenig geht es um die Befreiung des autonomen Individuums von medialen Einflüssen. Übergreifende Bildungsziele müssen darauf zielen, dass die individuelle Person sich in ihrer komplexen Welt zurechtfindet und sich mit ihr kreativ, kritisch, denkend und handelnd auseinandersetzt. Das schließt die Kenntnis der eigenen Grenzen ebenso ein wie die Neugier und den Spaß am Versuch von Grenzüberschreitungen; […]. Es gilt, Sprache als immer auch durch ihr jeweiliges Trägermedium geprägt zu interpretieren.“ (Schmenk 2008: 399-400) Eine eher sprachlich-kommunikativ ausgerichtete Definition von kommunikativer Kompetenz (basierend auf Klieme et al. 2003; siehe oben), ergänzt Schmenk (2008) durch Faktoren wie Kommunikationsbewusstheit (im Sinne von kritischem, reflektierendem Nachdenken über Kommunikation), kritische Sprachbewusstheit, die Fähigkeit zur Teilnahme am Dialog, aber auch durch den Aspekt des Kreativen und Spielerischen. „Das Moment des Spielerischen kann gerade in der Begegnung mit neuen Sprachen genuine Autonomiepotenziale freilegen und fördern. […] Das Prinzip des kreativen Sprachgebrauchs ist es, das es uns ermöglicht, individuelle Autonomieerfahrungen zu machen.“ (Schmenk 2008: 405-406; m. R. Brumfit 2001) „Je mehr der Lerner hier in der Lage ist, selbst die Verantwortung für sein Lernen zu übernehmen und die z. B. aus dem Unterricht und/ oder der Umgebung erfolgenden Impulse im Sinne des selbstdefinierten Lernziels aufzunehmen, desto höher ist der Grad an erreichter Autonomie. Autonomie bedeutet hierbei sehr wohl die begründete Teilhabe am Unterrichts- und Lerngeschehen, nicht aber die Außerkraftsetzung institutioneller Rahmenbedingungen. Auch die Autonomie gilt heute als weithin akzeptiertes lernpsychologisches Konstrukt, wie sich ebenfalls an Lehrmaterialien, dem Referenzrahmen oder Bildungsstandards […] ablesen lässt; über die methodischen Wege, die zu einem Maximum an Autonomie führen, herrscht noch eine gewisse Unsicherheit, wenngleich die stärkere Berücksichtigung von Aufgaben gegenüber eng gefassten Übungen […] diesbezüglich den Weg weist.“ (Königs 2010a: 326-327; m. R. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, Hrsg. 2005) <?page no="168"?> 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens 169 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens Aus dem oben Gesagten folgt, dass im Hinblick auf den Autonomisierungsprozess drei wesentliche Perspektiven, nämlich die des Lerners, die der Lehrkraft und die der pädagogischen Maßnahmen in einem bestimmten Unterrichtskontext unterschieden werden können (vgl. Martinez 2008 und Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017). Für die zentrale Fragestellung dieser Arbeit, wie eine Lehrkraft durch ihren Unterricht LA fördern kann, lässt sich festhalten, dass ein solcher Unterricht grundsätzlich einer prozessorientierten und motivierenden Sprachenlern- und -lehrkultur folgt und die Lerner sowohl methodologisch als auch technisch und psychologisch zum autonomen Fremdsprachenlernen hinführt. Gleichzeitig ist der spezifische Kontext, in dem Unterricht stattfindet, sensibel zu analysieren und flexibel zu berücksichtigen (vgl. auch im Folgenden u. a. Vieira 1997; Crabbe 1999; Kleppin 2003; Martinez 2008; Schmenk 2008; Tassinari 2010; Tesch 2010; Meißner 2012a und Jiménez Raya, Lamb & Vieira 2017). Ein autonomiefördernder Unterricht ist durch grundlegende handlungsleitende Prinzipien für einen guten Fremdsprachenunterricht gekennzeichnet, vor allem durch: • Authentizität • Förderung intrinsischer Motivation • Kommunikation (Integration von kommunikativer Kompetenz und Sprachlernkompetenz, Mobilisierung der Kompetenzen) • Förderung mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz • Transparenz (im Hinblick auf den Lehr- und Lernprozess und die Lernziele) • spezielle, die Selbstständigkeit fördernde Aktivitäten (die methodisch, technisch und psychologisch das selbstbestimmte Lernen des Lernens unterstützen) • Handlungsorientierung • Binnendifferenzierung und Individualisierung • Mitbestimmung, Aushandeln von Lerninhalten und -zielen sowie von Lehrer- und Lernerrollen, Selbstbestimmtheit • kooperative Zusammenarbeit zwischen den Lernenden • Prozessorientierung • Sprachlernbewusstheit, Selbstregulation • Engagement, Reflexivität und Kritikfähigkeit Ein autonomiefördernder Fremdsprachenlehrer entwickelt bei seinen Schülern vor allem: <?page no="169"?> 170 2 Lernerautonomie (LA) • eine individuelle, selbstbestimmte und aktive Beziehung zum Lerngegenstand • Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz • insbesondere die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess aktiv zu reflektieren, flexibel zu kontrollieren und zu evaluieren und selbstverantwortlich zu organisieren sowie sich Lernziele zu setzen • die kommunikativen Kompetenzen, darunter auch die interkulturelle Kompetenz und die Medienkompetenz (auch im Sinne einer Medienbildung) • ein positives Selbstkonzept, positive Selbstwirksamkeitserwartungen und die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren • Kooperations- und Teamfähigkeit • Partizipation, soziale Verantwortung und Kritikfähigkeit Die Förderung zur LA kann er auf vielfältige Weise verfolgen, besonders durch: • die Vermittlung von Lernerstrategien und Lerntechniken für das Fremdsprachenlernen unter Berücksichtigung der individuellen Relevanz für den Lerner • die Entwicklung einer (critical) language awareness und einer umfassenden language learning awareness, im Sinne eines Aufbaus einer multi-language and learning awareness • komplexe kommunikative Sprachlernaufgaben, die, psycholinguistisch angepasst, kontinuierlich lernbezogenes Wissen aktivieren und aufbauen, die auf Experimentieren, auf metakognitive Reflexion und auf Introspektion abzielen, und die damit die Selbstevaluationskompetenz, die Lernprozessdiagnose und die Fähigkeit zur Selbstorganisation entwickeln und die fremdsprachliche Selbstlernkompetenz fördern • ein Aufgabenangebot, das für den Lerner als relevant, kontrollierbar und kompetenzfördernd erlebt wird • eine reiche, entdeckendes Lernen und die Kreativität fördernde interaktive Lernumgebung und letztendlich • kompetenzorientierte Lehrwerke, in denen neben dem Erlernen der Zielsprache im Sinne der Interkomprehensionsdidaktik das Lernen des Lernens von Sprachen und das Monitoring systematisch angelegt sind Eine autonomiefördernde Lehrkraft verfügt über die Kompetenzen und verfolgt das Ziel, den Unterricht im obigen Sinne zu gestalten, insbesondere • verfügt sie über umfassendes inhaltliches und methodisches Wissen, um (mehr)sprachliche und plurikulturelle Inhalte lehren zu können (siehe RePA) • hat sie relevantes Wissen und Kompetenzen in Bezug auf das Fremdsprachenlernen und -lehren und die LA erworben, vor allem diagnostische Kompetenzen und Kompetenzen im Hinblick auf ein förderndes Feedback- und Repair verhalten <?page no="170"?> 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens 171 • sieht sie sich selbst in der Rolle des Helfers, Organisators von Lernprozessen und Lernberaters • ist sie prozessorientiert und (selbst)reflexiv • interagiert sie mit ihrem professionellen Umfeld • analysiert sie die Bedingungen, unter denen ihr Unterricht stattfindet, und findet kontext- und situationsangemessene Wege für die Förderung von LA Eine Lehreraus- und Lehrerfortbildung, die auf einen Unterricht abzielt, der LA fördert, muss also auf die oben aufgeführten Lehrerkompetenzen und -haltungen hin ausgerichtet sein. <?page no="172"?> 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens 173 Teil II Forschungskonzept und Forschungsmethode <?page no="174"?> 2.6 Fazit: Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens 175 1 Studien und Stimmen aus der Praxis Die Subjektiven Theorien, die Bleyhl 2005 („Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterrichts oder: Weshalb ein Paradigmenwechsel, eine Umkehr, im Fremdsprachenunterricht erfolgen muss“) bei Lehrenden zum Sprach(en) lernen ermittelte (und widerlegte), konnte Tesch (2010) in seiner Untersuchung zu Ziel- und Lehrkonzepten im Französischunterricht ebenfalls nachweisen: „- Lernen erfolgt primär über Imitation. - Lernen ist als ein Input-Output -Geschehen zu verstehen. - Der Stoff soll linear, Schritt für Schritt, vom Einfachen zum Schwierigen, gelernt werden. - Der Königsweg zum ,Können‘ geht über das ,Wissen‘. Deshalb wird bei Lernschwierigkeiten meist mit Bewusstmachung reagiert. - Dieser Logik zu Folge muss eine grammatische Progression eingehalten werden. - Als Unterstützung wird in der Regel die Schrift herangezogen. - Getragen wird das methodische Vorgehen vom Glauben an die Steuerbarkeit des Sprachenlernens.“ (Tesch 2010: 341; m. R. Bleyhl 2005: 48) Tesch betrachtete 2010 den Umgang mit kompetenzorientierten Lernaufgaben im Französischunterricht. Dazu beobachtete er in einer Fallstudie die soziale Praxis in drei Gymnasialklassen in den Jahrgangsstufen 9 bzw. 10 in insgesamt 29 Unterrichtssequenzen. Darüber hinaus bezog er in seine Untersuchung eine Fachgruppensitzung an einer der beiden involvierten Schulen mit ein. Die drei Lehrkräfte waren zum Zeitpunkt der Untersuchung noch relativ jung (dreißig bis Mitte dreißig). Er kommt zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Lehrkräfte zu Lernkontrolle und implizitem (anstatt explizitem) Feedback neigen und kaum autonomiefördernde Lehr- und Aufgabenkonzepte verfolgen. Die Ziel- und Aufgabenkonzepte variieren je nach Lehrperson: „Der Abgleich von Bleyhls Erkenntnissen mit den beobachteten Unterrichtspraxen sowie den in einer Fachbesprechung manifest gewordenen Rahmenorientierungen bestätigt einerseits die von Caspari ermittelte Heterogenität, andererseits aber auch einige Konstanten. Als konstant in allen drei beobachteten Klassen kann die Orientierung an Lernkontrolle bezeichnet werden sowie die Orientierung an implizitem statt explizitem Feedback. Lediglich eine Lehrkraft gab des Öfteren ein explizites Feedback, aber an willkürlich ausgewählten Stellen des Unterrichts […]. Dies validiert insgesamt die auch von Caspari untersuchte Funktionsbestimmung als Vermittler und nicht die <?page no="175"?> 176 1 Studien und Stimmen aus der Praxis als Lernberater sowie die Bleyhlschen Subjektiven Theorien 2 und 7. Autonomiefördernde Lehr- und Aufgabenkonzepte lassen sich mit Ausnahme der gezielt und zwingend vorgesehenen Schnittstellen […] kaum beobachten. Unterschiedlich dagegen sind die Zielkonzepte und die Aufgabenkonzepte ausgeprägt. Während sich bei einer Lehrkraft ein starkes Interesse am Zielkonzept ,Fach und Sprache‘ mit gleichzeitiger Neigung zu lehrerseitiger Instruktion nachweisen lässt, findet sich dieses Zielkonzept in den anderen Klassen nur in latenter Form bzw. gar nicht. […] Die Lehrkraft in Klasse 9 a scheint sich stärker am reibungslosen Ablauf der Stunde zu orientieren (vgl. Dann et al. 1999: 291: ‚Mein Unterricht muss perfekt sein! Ich muss mich bei Gruppenarbeit und Auswertung raushalten! Es müssen Ergebnisse da sein. Es darf nichts passieren, was ich nicht im Griff habe! ‘) als die beiden anderen - Dann et al. zu Folge (ibid.) sogar geschlechtstypisch. In einer anderen Klasse tritt in starker Weise die Orientierung der Lehrkraft am Selbstverständnis des Animateurs bzw. an Selbstinszenierung auf.“ (Tesch 2010: 341-342) Tesch (2010) konnte jedoch sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrkräfte den Wunsch nach Innovation im Französischunterricht hinsichtlich der Materialien und Methoden feststellen. „Die Frage bleibt, wie lange es dauert, bis sich eine Bewusstseinsveränderung bei Lehrkräften, eine Veränderung auch ihrer Subjektiven Theorien, spürbar auf die Handlungspraxis auswirkt. […] Um die zweifellos vorhandenen positiven Potenziale des TBLL (realitätsnahe Aufgabenstellungen, stärkerer Handlungsbezug, Integration von Fertigkeiten, etc.) dennoch in gewissem Umfang zur Wirkung zu bringen, bedarf es sicherlich einer sehr weit reichenden methodischen Schulung der Lehrkräfte. Der Glaube an die selbststeuernde Wirkung des Input-Materials stößt an enge Grenzen, jedenfalls unter den schulischen Lernbedingungen von 9. und 10. Klassen im Fach Französisch.“ (Tesch 2010: 345; m. R. Ellis 2003) Die Förderung von LA hängt nach Tesch (2010) auch von einer Reihe von Außenfaktoren ab: „Außenfaktoren betreffen z. B. die landesspezifischen Curricula, das schulinterne Curriculum, das ‚heimliche‘ Curriculum Lehrwerk, aber auch die Klassengrößen, die Klassenzusammensetzung und die zeitlichen Vorgaben für die Umsetzung einer Lernsequenz wie etwa die Platzierung der Unterrichtsstunden zum Beispiel ungünstig nach einer Klassenarbeit oder in einer Randstunde. Welche Praxis hat sich bei den Lehrkräften und Schülern in einem bestimmten Bundesland auf Grund der zentralen Vorgaben (z. B. Testkultur auf Grund zentraler Bildungsabschlüsse) etabliert? “ (Tesch 2010: 146) Darüber hinaus zeigt seine Studie, dass insbesondere die persönlichen Lehrkonzepte der Lehrenden eine zentrale Rolle spielen in Bezug auf das Gelin- <?page no="176"?> 1 Studien und Stimmen aus der Praxis 177 gen eines autonomiefördernden und kompetenzorientierten Unterrichts. Tesch (2010) führt hierzu aus: „Lehrkonzepte können als zentrale Instanz für die Förderung der LA betrachtet werden. Lernerseitig finden sie ihr Pendant in den Lernhandlungs- und Lernwirksamkeitskonzepten. Lehrkonzepte können bezüglich der Förderung von LA nach der Seite der Zielkonzepte an eine entsprechende allgemeinpädagogische und fachübergreifende Orientierung […] und nach der Seite der Aufgaben- und Gestaltungskonzepte insbesondere an eine entsprechende Orientierung im Sinne von Partizipation anschließen […]. Lehrkonzepte bilden auf Grund des engen Bezugs der Kompetenzorientierung zur Förderung von LA (vgl. Vollmer, 2006[b]) ein Kernkapitel meiner Studie.“ (Tesch 2010: 279) Tesch unterscheidet bei der Darstellung von Lehrkonzepten zwischen: 1. Lernbegleitung und Lernkontrolle, 2. Diagnose und Feedback, 3. Instruktion und Konstruktion. Aus seinen Beobachtungen im Umgang mit kompetenzorientierten Aufgaben im Unterricht schlussfolgert er, dass kompetenzorientierte, autonomiefördernde Aufgaben nur dann ihre volle Wirkung entfalten können, wenn die Lehrenden sich der Implikationen und der Wirkungen dieser drei Bereiche bewusst sind und die Komponente des sprachlichen Erfolgserlebens ebenso eine Rolle spielt. Er kommt zu dem Schluss: „[…], dass potenziell autonomiefördernde Unterrichtsverfahren wie task based language learning and teaching oder die Szenariendidaktik die Schnittstellen für die notwendige Instruktion und für die gewünschte Konstruktion in Trainingskonzepten für Lehrkräfte berücksichtigen müssen. Das Aufgabenmaterial kann seine Wirkung erst dann entfalten, wenn die Lehrkräfte die Wirkungsweise instruktivistischer und konstruktivistischer Lehrorientierungen, ihre Möglichkeiten als Lernbegleiter statt vornehmlich als Lernkontrolleur und die Funktion expliziter Diagnose kennen und kreativ nutzen können […]. Die Diagnose bildet sozusagen die Schnittstelle zwischen Lernbegleitung und Lernkontrolle; Lernbegleitung ohne Diagnose würde die Zielgerichtetheit der Lernaktivitäten in Frage stellen, die Explizitheit der Diagnose (Kriterien und Durchführung) kann LA stützen und wertende Kontrolle einschränken. Eine konstruktivistische Lehr- Lernorientierung braucht die Diagnose der Lernstände und Instruktion als Input für die Aufgabenbearbeitung. In der sozialen Interaktion der Lehr-Lerngemeinschaft können Lehrer, Mitschüler und Aufgabenmaterial als Instruktionsvermittler fungieren. Die vergleichende Fallanalyse zeigt, dass Lehrer und Mitschüler durch scaffolding die Konstruktion von Bedeutung unterstützen können, selbst wenn lehrseitig tendenziell eine Orientierung an Lernkontrolle gegenüber Lernbegleitung überwiegt. Die Fallana- <?page no="177"?> 178 1 Studien und Stimmen aus der Praxis lyse zeigt aber auch, dass LA nicht das Ergebnis eines rein technischen Funktionierens bestimmter Lehr-Lernmechanismen und nicht losgelöst von sprachlichem Erfolgserleben ist.“ (Tesch 2010: 285-286) Der optimalen und ermutigenden Lernbegleitung kommt eine besondere Bedeutung zu: „Die Studie zeigt relativ klar, wie lernbegleitende Phasen Motivation bei der Aufgabenbearbeitung fördern können bzw. wie ausschließliche Lernkontrolle Motivation blockiert. Dasselbe gilt für den Wechsel von Instruktion und Konstruktion sowie die Ermutigung an die Adresse der Lerner, Risiken einzugehen. Es bedarf dazu eines lernbegleitenden und fehlertoleranten Lehrkonzepts.“ (Tesch 2010: 319) Ebenso bedarf es lehrerseitig einer guten Diagnose- und Feedbackkompetenz, um LA wirksam zu fördern; das Aufgabenmaterial alleine betrachtet ist kein ausreichender Garant dafür, zumal wenn es nicht optimal auf die Lerngruppe zugeschnitten ist und angepasst wird: „Als Fazit im Hinblick auf die einzelkompetenzbezogene Förderung im beobachteten Unterricht lässt sich festhalten, dass der Umgang mit Diagnoseaufgaben methodisch nicht vertraut und ihr didaktischer Sinn noch unbekannt war. Dies betrifft geschlossene Diagnoseformate (Hör- und Leseverstehen) ebenso wie offene und selbstevaluative Diagnoseformate (Sprechen, interkulturelle und methodische Kompetenzen). Prozessorientierte Kompetenzförderung konnte weder bezogen auf das Hör- und Lesetraining (Übungen vor, während und nach dem Hören/ Lesen), noch bezogen auf Schreiben (entwerfen und überarbeiten) und Sprechen (Bereitstellung und Übung sprachlicher Mittel, Nutzung von Aufnahmegeräten, Selbst monitoring) beobachtet werden. Beim zielsprachlichen Sprechen bzw. mündlicher Interaktion wirken sich Lernhandlungs- und Selbstwirksamkeitskonzepte sowie interaktionsbezogene Lehrkonzepte naturgemäß noch stärker aus als bei den anderen sprachlichen Kompetenzen, die teilweise auch ein stilles Arbeiten erlauben. Sprechfertigkeiten bzw. Sprechblockaden hängen eng mit entsprechenden Rahmenkongruenzen bzw. Rahmeninkongruenzen zusammen, ein kontrollierendes Lehrkonzept - gepaart mit einem fehlerzentrierten Diagnose- und Feedback verhalten - erzeugt keine sprechfördernde Atmosphäre. Dies konnte in meiner Studie klar nachgewiesen werden. Insgesamt verhielten sich die Lehrkräfte so, dass sie auf die Selbstwirksamkeit des Aufgabenmaterials vertrauten, also a priori annahmen, dass die Aufgabensequenz sozusagen nur in die Klasse hineingegeben werden müsste, um dann selbstläufig erfolgreiches kompetenzorientiertes Lernen auszulösen. Zwei Lehrkräfte verwiesen zwar auf nicht näher spezifizierte negative Erfahrungen mit einer anderen Rahmenaufgabe des IQB, nutzten diese Erfahrung jedoch nicht zu einer eigenständigen Anpassung des Aufgabenmaterials von pir@tes du net […]. <?page no="178"?> Dies entspricht sowohl den Aussagen in der beobachteten Fachkonferenz […], wie auch der Praxis des Umgangs mit Lehrwerken. Auch die Arbeitsbelastung der meisten Lehrkräfte mit vollem Deputat ist zu berücksichtigen. Zeitraubendes Umarbeiten vorgefertigter Aufgaben ist daher unüblich, und die partizipative Umarbeitung von Aufgaben im Unterricht scheint noch ein Desiderat der Lehrerbildung zu sein.“ (Tesch 2010: 327) Lehrerseitige Diagnose und Feedback sollten weniger auf die Frage von Erfolg oder Misserfolg abzielen, sondern vor allem auf die Förderung zum schülerseitigen Monitoring und auf die Selbstdiagnose, z. B. durch den Einsatz von Instrumenten wie Checklisten und Kontrollbögen für die Selbst- und Partnerkontrolle verbunden mit der Entwicklung von Strategien zur Bewältigung spezifischer Probleme. (Vgl. hierzu Tesch & Strathmann 2014: 9-41.) Eng verbunden mit dem Aspekt der handlungsleitenden Lehrkonzepte zum Sprachenlehren ist die Frage nach den lehrerseitigen (und lernerseitigen) Subjektiven Theorien in Bezug auf das Lehren und Lernen von Sprachen und deren Bewusstmachung: „Wie relevant die Erforschung subjektiver Theorien für die Entwicklung von LA ist, wurde im 2. Kapitel dargestellt. Die Bewusstmachung subjektiver Theorien ist dabei ein unerlässlicher Bestandteil der Autonomisierung. Kallenbach (1996) hat die Didaktisierung der Forschungsmethode subjektiver Theorien sowie Wege zur Integration des FST in den Fremdsprachenunterricht aufgezeigt. Diese Didaktisierung basiert auf der Erkenntnis, dass die Integration der Forschungsmethode in den Fremdsprachenunterricht zu einer spracherwerbsfördernden Selbstreflexion beiträgt. Damit verbindet sich die Erforschung subjektiver Theorien mit Ansätzen zur LA-Förderung.“ (Martinez 2008: 298; m. R. Kallenbach 1996: 232 und in Bezug auf jüngere Lerner Morkötter 2005: 308 ff.) Daneben wurde die Relevanz von Sprachlern- und Sprachenlehrbiografien im Hinblick auf die Subjektiven Theorien zum Sprachenlernen aufgezeigt: „Diese ersten Zusammenhänge verweisen darauf, wie aufschlussreich die Erforschung der Sprach(lern)biographien von angehenden Lehrern für die Rekonstruktion des Sprachlernverständnisses der jeweiligen Person sein kann. Der sprachbiographische Ansatz ist demnach von großer Bedeutung für die Spracherwerbsforschung, wie auch interessante Erkenntnisse im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik zeigen (vgl. z. B. Franceschini 2002; Molinié 2006).“ (Martinez 2008: 298) Tesch (2010) kommt zu dem Ergebnis, dass sich Unterricht insbesondere dann weiter entwickeln kann, wenn er zum Forschungsgegenstand wird: 1 Studien und Stimmen aus der Praxis 179 <?page no="179"?> 180 1 Studien und Stimmen aus der Praxis „Die Veränderung sozialer Praxis ist ein langfristiger und tiefgreifender Prozess, der an tradierten Verhaltensweisen und am professionellen Selbstverständnis der Lehrkräfte, aber auch an nicht selten spiegelbildlich gelagerten Subjektiven Theorien der Lerner ansetzt. Veränderung durch Erforschung des eigenen Unterrichts scheint mir ein geeigneter Weg zu sein.“ (Tesch 2010: 348) Fazit: Für die zentrale Fragestellung dieser Arbeit, wie eine Lehrkraft durch ihren Unterricht LA fördern kann, lässt sich aufgrund der oben genannten Studien weiter festhalten, dass • die speziellen äußeren Rahmenbedingungen, unter denen der Unterricht stattfindet, bei der Sicht auf die Umsetzung in der Praxis zu berücksichtigen sind und • lehrerseitig Lern- und Lehrbiografie, Subjektive Theorien in Bezug auf das Sprachenlernen und die LA sowie weitere grundlegende handlungsleitende Lehrkonzepte und deren Bewusstmachung und Reflexion eine zentrale Rolle für die Unterrichtspraxis spielen. <?page no="180"?> 2 Folgerungen für das leitfadengestützte Interview meiner Studie Die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Fachdidaktik zur LA legen ebenso wie die Diskussion zum Faktor Lehrperson nahe, dass die Ermittlung von Subjektiven Theorien ein geeignetes Forschungskonzept für LA ist, und dafür wie sie von Lehrerinnen und Lehrern des Französischen verstanden, gewertet und umgesetzt wird. Zur Erhebung der Subjektiven Theorien über LA verwendete ich, wie oben bereits dargelegt, u. a. das leitfadengestützte Interview als Forschungsmethode (siehe hierzu auch unten). Die sich aus den Erkenntnissen zum Faktor Lehrperson entwickelte Grobgliederung des Interviews (siehe oben) wird durch die Analyse zum Gegenstand LA bestätigt und kann ausdifferenziert werden. Es ergeben sich Leitfragen zu folgenden Punkten: 1. Persönliche Daten und eigene Lern- und Lehrbiografie der Lehrenden (Selbsterfahrung): unter besonderer Berücksichtigung des Mehrsprachenlernens und des Rollenverständnisses als Lehrkraft, auch im Lehrerkollegium 2. Lehrkonzepte bzw. methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im eigenen Unterricht (Situationserfahrung und Sacherfahrung): a. allgemein: - persönliche Grundgedanken zur Fremdsprache, zum Fremdsprachenlernen (z. B. Lernprozess und language learning awareness) und zum Fremdsprachenunterricht sowie eigene zentrale Lehrkonzepte (auch zum besseren Verständnis und zur Einordnung der folgenden Einzelantworten in den Gesamtkontext) - Verständnis von LA und deren Rolle und Sicht auf die Umsetzung im eigenen Unterricht b. konkret auf den eigenen Unterricht bezogen, Einsatz von bzw. Umgang mit: - Sozialformen (z. B. Gruppen- und Projektarbeit) - Aufgaben (insbesondere zur Förderung von LA) - Materialien (z. B. Beteiligung der Schüler an der Auswahl) - Französisch-Lehrwerk (und dessen Förderung von LA) - Medien (und deren Rolle im Unterricht) <?page no="181"?> 182 2 Folgerungen für das leitfadengestützte Interview meiner Studie - Diagnose und Förderung (unter Berücksichtigung von Selbstkontrolle und Selbstevaluation) - Schüleraustausch (und Herbeiführung von Begegnungssituationen) 3. Der Fremdsprachenlerner (Situationserfahrung und Sacherfahrung): - Grundgedanken zum Französischlernen - Lernertypen und Lernstile - Lernerstrategien und Lerntechniken 4. Der Fremdsprachenlehrer (Situationserfahrung und Sacherfahrung): - Grundgedanken zum Fremdsprachenlehren - berufliches Selbstverständnis, Verständnis der eigenen Lehrerrolle (auch Realisierung von Binnendifferenzierung, Schülerlernberatung, Rolle im Kollegium und gegenüber den Eltern) - Grundgedanken zur Lehrerbildung (Lehreraus- und -fortbildung) und zum Erwerb von Schlüsselqualifikationen zur Förderung von LA - Kooperationen (in der Schule und darüber hinaus) 5. Perspektiven für das Thema LA (eigene Überzeugungen): persönliche Einschätzung zu den Perspektiven von LA im Unterricht (einschließlich Berücksichtigung von äußeren Rahmenbedingungen) Siehe das leitfadengestützte Interview im Anhang, Kap. II. Aufgeführt sind dort die Fragenbereiche a) bis e) und, diesen zugeordnet, Beispiele für mögliche Fragen. Alle Interviewpartner wurden zu allen 5 oben genannten Bereichen befragt; Fragen, bzw. Impulse, die bei allen Interviews gestellt bzw. gegeben wurden, sind unterstrichen. Darüber hinaus versuchte ich jedoch die Erhebungssituation möglichst offen zu gestalten, um die Praktiker als Experten besser zu Wort kommen zu lassen. Vgl. hierzu z. B. De Florio-Hansen (1998: 7): „Man müßte prüfen, ob größere Offenheit bei der Erhebungssituation nicht bessere Einblicke in Denkinhalte und -strukturen der Betroffenen gestattet.“ Die vollständige Fragenliste diente vor allem dazu, mich als Forscherin auf die Interviewsituation vorzubereiten. <?page no="182"?> 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept in der Sprachlehr- und Sprachlernforschung Insbesondere bei der Erforschung mentaler Prozesse gelten Daten, die aufgrund von qualitativen introspektiven Verfahren gewonnen werden, als unerlässlich. Henrici & Riemer skizzieren die Diskussion der methodologischen Voraussetzungen der empirischen Forschung im Bereich der Zweitsprachenerwerbsforschung wie folgt (2003; m. R. Faerch & Kasper 1987; Tarone, Gass & Cohen 1994; Nunan 1996a; Grotjahn 4 2003a): „- Wann sind neben quantitativ orientierten, Hypothesen testenden Forschungen auch qualitativ orientierte, Hypothesen generierende (und umgekehrt) zulässig und erforderlich? - Sind statt Querschnittsstudien nicht eher Längsschnittuntersuchungen im Stande, den dynamischen Charakter des Zweitsprachenerwerbs zu erfassen? - Welche Daten sind erforderlich? Damit verbunden sind Fragen nach den Vor- und Nachteilen unter kontrollierten Bedingungen erhobener Daten im Vergleich zu natürlichen Daten und Fragen nach der Aussagekraft und Validität elizitierter Daten […] Zunehmend Konsens findet eine Herangehensweise an empirische Untersuchungen in der Zweitsprachenerwerbsforschung, die quer zu den genannten Problembereichen forschungsmethodologische Entscheidungen begründet in Abhängigkeit zum gewählten Erkenntnisinteresse und Untersuchungsgegenstand trifft. Wie bereits die im Vorangegangenen genannten aktuellen Forschungsentwicklungen widerspiegeln, stellen mentale Prozesse einen zentralen Untersuchungsgegenstand dar, der hinsichtlich seiner Operationalisierbarkeit kontrovers diskutiert wird. Daten, die mit Hilfe introspektiver Verfahren gewonnen werden, spielen zunehmend eine wichtige Rolle in empirischen Untersuchungen.“ (Henrici & Riemer 2003: 41; Hervorhebung im Original) Innerhalb der qualitativen Sprachlehr- und Sprachlernforschung gilt die Erforschung Subjektiver Theorien als geeignetes Konzept, Reflexionen über das Sprachenlernen und -lehren zu erforschen (siehe Scheele & Groeben 1998, unten). „Eine subjektive Theorie setzt Erfahrungen und Kenntnisse in einem definierten Bereich voraus. […] Wissen, und zwar Alltagswissen, soll hier als Wissenskonstrukt verstanden werden, das sowohl auf den/ die einzelne/ n als Individuum wie auch als <?page no="183"?> 184 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept Mitglied einer Gemeinschaft verweist, innerhalb derer dieses Wissen ‚brauchbar‘ sein muß.“ (Kallenbach 1996: 18) 47 Subjektive Theorien können bisweilen inkohärent und widersprüchlich sein, „solange sie ihre Argumentations- und subjektive Erklärungsfunktion erfüllen. Ursache-Wirkungsmechanismen werden auch ohne überzeugende Beweise zugeschrieben“. Subjektive Theorien sind relativ stabil und enthalten affektive Bewertungen und grundlegende Einstellungen (vgl. Kallenbach 1996: 35; m. R. Furnham 1988; siehe auch Morkötter 2005: 25-26 hinsichtlich des individuellen Zusammenspiels kognitiver, affektiver und konativer Aspekte von Einstellungen in Bezug auf einen konkreten Gegenstand). Damit stehen sie im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien, sind aber gleichzeitig flexibler, ökonomischer und praxistauglicher als diese (vgl. Kallenbach 1996: 35; m. R. Thommen 1985). Sie zeigen jedoch auch Gemeinsamkeiten: „Sie sind aber unter strukturellen und funktionalen Gesichtspunkten vergleichbar. Sowohl subjektive als auch wissenschaftliche Theorien dienen dazu zu verstehen, wie etwas ist, zu erklären, warum es so ist, und vorherzusagen, wie etwas sein wird.“ (Kallenbach 1996: 35) 48 47 Kallenbach (1996) unterscheidet zur Charakterisierung subjektiven Wissens die Kategorien: Integration (allgemein/ spezifisch), Überzeugungsintensität (unsicher/ gewiss), Bewusstheit (mehr oder weniger bewusst), affektive Bewertung (mehr oder weniger stark emotional besetzt) und im Hinblick auf das Alltagswissen als Grundlage Subjektiver Theorien: reflektiert/ unreflektiert. Und Subjektive Theorien zeichnen sich durch ihre Subjektivität und ihren Theoriestatus aus. „Als Arbeitsdefinition ist es ausreichend, ‚Theorie‘ über die drei Aspekte Inhalt, Struktur und Funktion zu kennzeichnen. Das heißt, sie benennt die konstitutiven Elemente eines Sachverhalts (Inhalt), zeigt auf, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen, indem sie Argumentationslinien und Begründungszusammenhänge herstellt (Struktur), und sie erklärt, ordnet und prognostiziert (Funktion).“ (Kallenbach 1996: 34) 48 Der Mensch wird als Wissenschaftler verstanden, sein individuelles Wissen entsteht, wie wissenschaftliche Theorien, durch Schaffung, Prüfung und Anwendung von Theorien (vgl. Groeben et al. 1988: 17; m. R. Kelly 1955; vgl. auch Kallenbach 1996: 38). Diese stehen in einer Wechselbeziehung zum bewussten Handeln des Menschen und seiner Reflexion: „Dabei wird diese Reflexivität als zentrales Merkmal des bewußten, geplanten, willkürlichen Handelns angesetzt - im Gegensatz zum unwillkürlichen, a-reflexiven, von der Umwelt kontrollierten Verhalten (so schon Groeben/ Scheele 1977).“ (Scheele & Groeben 1998: 13; Hervorhebungen im Original) „In Form ‚relativ überdauernde[r] mentale[r] Strukturen“ (: 18) liegt Subjektiven Theorien ein Wissensrepertoire zugrunde, das Orientierungen, Erklärungen und Schlußfolgerungen ermöglicht.“ (Kallenbach 1996: 38; m. R. Groeben et al. 1988) Erst in der kommunikativen Situation mit einem Gesprächspartner entsteht nach Kallenbach (1996) aus subjektivem (implizitem) Wissen durch die Explizierung eine Subjektive Theorie (siehe unten). <?page no="184"?> 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept 185 Subjektive Theorien sind komplexe Konstrukte, basierend auf der individuellen Erfahrung und dem subjektiven Wissen. Sie sind explizit und stellen Wissen retrospektiv und in Zusammenhängen dar; sie strukturieren und bewerten es. Durch die Verbalisierung erfahren sie eine Bewusstmachung und Veränderung, und auch eine erhöhte Wirksamkeit und verhaltensbzw. handlungsleitende Funktion (vgl. Kallenbach 1996: 36, 49-50; Grotjahn 1998b: 34-35). Morkötter (2005: 26-27) betrachtet die bereits „vor Beginn der Datenerhebungsphase vorhandenen Kognitionen der Befragten als Theorie“ und geht von einer Subjektiven Theorie einer Person zu einem bestimmten Gegenstand aus (im Gegensatz zu Grotjahn 1998b, der unter dem Aspekt des methodischen Zugangs die Möglichkeit von verschiedenen Subjektiven Theorien bei einer Person und einem Gegenstand sieht). Siehe hierzu auch meine Befunde unten, nach denen die Impulse beim Interview und auch das Legen des Strukturbildes bei den Interviewten Reflexion und Bewusstmachung über das Fremdsprachenlernen und das eigene Fremdsprachenlehren zum Teil erst anregten, auch in Bezug auf den Umgang mit LA. Dieser Prozess wurde als erhellend und bereichernd bewertet. 49 Gleichzeitig zeigen die Strukturbilder für jeden Forschungspartner eine in sich stimmige große Subjektive Theorie zur LA, die sich im Laufe der Zeit punktuell verändern kann (siehe hierzu die Evaluationen der Forschungspartner, unten). Die methodologischen Grundlagen zur Erforschung von Subjektiven Theorien gehen auf das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) von Groeben & Scheele im Jahr 1977 zurück. Scheele & Groeben verweisen auf drei Gegenstandsbereiche in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht, die sich für diesen Forschungsansatz eignen: Reflexionen über die Sprache, über das Lernen und über das Lehren (siehe Scheele & Groeben 1998 und zur Darstellung von „Komplexität und Unterschiedlichkeit subjektiver Vorstellungen“ durch das FST Caspari 2016: 74). Für die Erhebung von Subjektiven Theorien sehen Groeben & Scheele (1977) einen zweiphasigen Forschungsprozess vor: Auf ein kaum strukturiertes Interview und eine anschließende „kommunikative Validierung“ (anhand eines „Dialog-Konsens“ mit den Interviewten) folgt in einer zweiten Phase die „explanative Validierung“ aufgrund einer systematischen Handlungsbeobachtung. Eine Handlungsvalidierung wird im Kontext von Subjektiven Theorien allerdings als problematisch eingestuft, da diese gerade nicht in einem Handlungskontext erhoben werden, sondern in einem Forschungskontext, der auf 49 Zu demselben Ergebnis kommt Martinez in Bezug auf die von ihr untersuchten Lehramtsstudierenden (2008: 298-299). <?page no="185"?> die Innenperspektive der Interviewten abzielt, die außerdem durch die Verbalisierung in der Erhebungssituation Veränderungen durchläuft (vgl. Kallenbach 1996: 40-41; u. a. m. R. Bergold & Breuer 1987, Terhart 1981, Flick 1989). Kallenbach erforschte 1996 die Subjektiven Theorien von Schülerinnen und Schülern zum Fremdsprachenlernen (Spanisch ab Klasse 11 als dritte oder vierte Fremdsprache). 50 Dabei kommt der Lehrkraft eine zentrale Rolle zu, bis zum Abitur, „und zwar sowohl aufgrund seiner/ ihrer Persönlichkeit als auch in der Ausübung der Rolle, was auch gerade die Notengebung einschließt“ (ibid.: 179; vgl. auch Tesch 2010: 344-345). „Alle diese Subjektiven Theorien von Schülerinnen und Schülern sind systemimmanent, sie werden vom System tradiert und gefördert. Somit müsste eine Kultur der gezielten Förderung von Kompetenzen sicherlich die Erwartungen und die Lerntraditionen der Schüler im Ansatz mit berücksichtigen und vergleichend mit den Schülern zusammen reflektieren. Einstellungen bewusst zu machen, könnte ein wichtiges Element einer Förderung von Kompetenzen sein; Gesamtsystemfaktoren wie Subjektive Theorien der Eltern, Subjektive Theorien der Lehrer, Notengebung und Selektionsmechanismen, Sprachenfolge, Organisationsstrukturen usw. sind mit einzubeziehen.“ (Tesch 2010: 344; m. R. Kallenbach 1996) Kallenbach (1996) stellt bei den Interviews jeweils ein relativ konstantes zugrundeliegendes Prinzip, einen Grundgedanken, fest, mit dem die Mehrzahl der thematisierten Punkte in einen inneren Zusammenhang gebracht werden können und der sich an zentraler Stelle im Interview und dem anschließend erstellten Strukturbild wiederfindet. Außerdem konstatiert sie, dass die Schüler, um sich verständlich zu machen, Bilder und Metaphern gebrauchen, denen Konzeptualisierungen zugrunde liegen. 50 In ihrer Studie führte sie Interviews mit siebzehn Oberstufenschülern, anhand derer sie Aspekte identifizieren konnte, die im Hinblick auf das Fremdsprachenlernen von Bedeutung sind, unter anderem: - die individuelle Sprachlerngeschichte und das Sprachwahlverhalten, - individuelle Beurteilungen von Fremdsprachen, - Ziele und Erwartungen an das Lernen einer Fremdsprache (im Vordergrund steht die mündliche Kommunikation, und damit Hörverstehen und Sprechen), - Erwartungen an die Vermittlung, auch unter dem Blickwinkel, dass Sprache Ausdruck einer Kultur ist, - die Bedingungen des Fremdsprachenlernens, - der Fremdsprachenlernprozess, - Lernen (tradierte Lerntechniken und tradierter Lernbegriff) und Sprachgefühl (perfektionistisches Verständnis), - L3-Spezifika und - Mehrsprachigkeit (Kallenbach 1996: 163-228). 186 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept <?page no="186"?> Die Rolle des Forschers als Mittler verlangt Transparenz und Reflexion: „Ein solcher Wirklichkeitsbereich erschließt sich dabei immer nur mittelbar - vermittelt durch die Person des Forschers/ der Forscherin. Was an der Oberfläche als Ergebnis erscheint, ist immer nur eine mögliche Sicht auf die Dinge, eine Gestalt, die ihnen jemand gegeben hat. Der Ansatz der subjektiven Theorien macht diese Perspektivierung, die durch rückblickendes Erzählen, Zuhören, Verstehen, Interpretieren, ‚Festhalten‘ entsteht, besonders sinnfällig. Die Forderung nach Transparenz und nach Reflexion der eigenen Rolle im Forschungsprozeß wird damit unhintergehbar.“ (ibid.: 263) Siehe hierzu z. B. auch Martinez (2008; m. R. Legewie 1987, Steinke 1999, 2000, Aguado 2000, Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2001), die neben der Selbstreflexivität des Forschers bezüglich seiner eigenen (relevanten) Biografie insbesondere die intersubjektive Nachvollziehbarkeit herausstellt und hier die Dokumentation unterstreicht, mit Einbezug der relevanten Probleme und Entscheidungen: „Die Herstellung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit durch Dokumentation ist die Hauptstrategie und bezieht sich auf alle Schritte des Forschungsprojekts: die Dokumentation des Vorverständnisses des Forschers, der Erhebungsmethoden und des Erhebungskontextes, der Transkriptionsregeln, der Daten, der Auswertungsmethoden, der Informationsquellen; die Dokumentation von Entscheidungen und Problemen und nicht zuletzt der Kriterien, denen die Arbeit genügen soll.“ (Martinez 2008: 139) Im Hinblick auf Subjektive Theorien hebt Kallenbach (1996) neben ihrem didaktischen Potenzial deren Theoriestatus und deren forschungsmethodologische Relevanz hervor. „Subjektive Theorien sind folglich nicht mit Praxis gleichzusetzen, sondern abstrahieren gerade von ihr und reflektieren sie. […] Indem dem/ der einzelnen Schüler/ in ein größtmöglicher Raum zur Entfaltung der eigenen Sicht gewährt wird, ist die Möglichkeit der Komplementierung des Gegenstandes Fremdsprachenlernen durch die Binnensicht gegeben. […] Subjektive Theorien stellen somit einen Ansatz dar, der als theoretisches Konstrukt und in seiner forschungsmethodischen Umsetzung der Multiperspektivität des Fremdsprachenlernens Rechnung tragen kann.“ (ibid.: 262-264) Das Forschungskonzept Subjektive Theorien wird als ebenso relevant im Bereich der Lehrerforschung eingestuft. Legutke (1998) und Tesch (2010) äußern sich wie folgt hierzu: „Research on the English teacher should involve the perspectives and reflections of teachers themselves, bringing to the fore the meanings they give to their own work 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept 187 <?page no="187"?> and how these meanings can be reflected upon for professional growth. […] In what ways are various beliefs formed at different stages of teaching experience, for example, by preservice teachers, newly-appointed teachers and long-term teachers? “ (Legutke 1998: 166) „Es spricht einiges dafür, dass solche subjektiven Sprachlerntheorien einen zentralen Steuerungsfaktor unterrichtlichen (Sprach-)Handelns darstellen. Sich Subjektiver Theorien bewusst zu werden, dürfte eine Voraussetzung für Veränderungen auf der Lehr(er)ebene sein. Subjektive Theorien stehen in engem Zusammenhang mit dem methodischen Wissen der Lehrkraft. Sie könnten dafür mit verantwortlich sein, dass bestimmtes Methodenwissen aus der Ausbildung rasch wieder versinkt und sich andere Elemente dominant durchsetzen. Ein Beispiel dafür ist die Subjektive Theorie, die besagt, dass der Lehrer ein Wissensmonopol besitzt und seine Rolle vor allem darin besteht, dieses Wissen zu vermitteln. In diesem Fall besteht seitens der Lehrkraft vielleicht die Neigung, LA als Zielkonzept und die Methoden zu ihrer Förderung auszublenden, Sprachzeit im Unterricht zu monopolisieren oder Schüler-Schüler-Interaktionen zu minimieren.“ (Tesch 2010: 142) Siehe in diesem Zusammenhang z. B. die qualitativen Untersuchungen von: - Schocker-v. Ditfurth (2001) bei angehenden Englischlehrern an Haupt- oder Realschulen in Baden-Württemberg zum forschenden Lernen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung (siehe oben) - Caspari (2003) bei Fremdsprachenlehrern an Gymnasien und Gesamtschulen in Mittelhessen zu ihrem beruflichen Selbstverständnis (siehe oben) - Morkötter (2005) bei Fremdsprachenlernern und -lehrern an Gymnasien in Niedersachsen zur Language Awareness und Mehrsprachigkeit - Martinez (2008) bei zukünftigen Lehrkräften romanischer Sprachen an verschiedenen Schularten in Hessen zu LA und Sprachenlernverständnis Es kann festgehalten werden, dass die Erforschung von Subjektiven Theorien ein angemessenes Konzept darstellt, um sich den Forschungszielen dieser Arbeit zu nähern, der Erhebung von Subjektiven Lehrertheorien zum Großbegriff LA im Französischunterricht. Ein geeignetes und gegenstandsangemessenes Erhebungsinstrument für Subjektive Theorien ist u. a. das freie, teilstrukturierte Interview. Ein wesentlicher Kernaspekt des Interviews ist das dialoghermeneutische Wahrheitskriterium, das eine Partnerschaftlichkeit zwischen Forscher und Interviewtem und eine permanent rückversichernde Konsensbildung hinsichtlich der Interpretation des Gesagten voraussetzt. 188 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept <?page no="188"?> „Da Subjektive Theorien zum Teil nur implizit gegeben sind, stehen im Mittelpunkt der Forschung methodische Fragen, wie Zugang gewonnen werden kann zu kognitiven Inhalten und unter welchen Bedingungen sie zugänglich sind. Handlungsleitende Kognitionen lassen sich z. B. durch Analyse der Art und Weise, wie Aufgaben bewältigt werden, ermitteln. Dafür geeignete Erhebungsinstrumente sind das freie/ teilstrukturierte Interview, der Fragebogen, das biographische Erzählen, die Konsens- Lege-Technik (Mutzeck, 1988; Scheele & Groeben, 1988), Selbstaussagen und Unterrichtsbeobachtungen (Dann et al., 1987). Fraglich ist, wieweit kognitive Strukturen, die z. B. aus erinnerten Reflexionen von Unterrichtssituationen rekonstruiert wurden, erstens realitätsangemessen sind, zweitens fremdes/ eigenes Verhalten erklären und drittens auch tatsächlich das Handeln von Lehrern leiten. Um der Gefahr von Verzerrungen in den Rekonstruktionen von Alltagstheorien vorzubeugen und sie immer erneut auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen, wird das dialoghermeneutische Wahrheitskriterium zu einem Kernbestand der Forschungsstrategie (Scheele & Groeben, 1988). Partnerschaftlichkeit zwischen Wissenschaftler und Lehrpraktiker, wie die im Dialog immer wieder sich rückversichernde Konsensbildung über Interpretationen von Selbstäußerungen und kognitive Inhalte, sind grundlegend für diesen Forschungsansatz (vgl. vor allem Bailey & Nunan, 1996 mit mehreren Studien aus dem Bereich Englisch als Fremd- und Zweitsprache).“ (Ehlers & Legutke 1998: 20-21) Weitere grundlegende Gütekriterien des Interviews sind seine Offenheit und eine zugewandte, verstehende, fragend-entwickelnde Dynamik, die es dem Interviewten ermöglicht, seine Gedanken zu entfalten und zu strukturieren. „Dabei ist Verstehen nur im Dialog möglich, indem beide Seiten ihre jeweilige Position als prozeßhaft und dem/ der anderen zugewandt begreifen. “ (Kallenbach 1996: 53-54) 51 Während das Individuum als „konkreter Einzelfall“ und als „Kenner“ des zu erforschenden Lebensbereiches im Zentrum steht, muss ergänzend „die Subjektivität des Forschers bzw. der Forscherin miteinbezogen werden, die als Kommunikationspartner/ innen an den Sinnbildungsprozessen, die sie erforschen wollen, mit ihrem alltäglichen und theoretischen Vorverständnis und Vorwissen 51 „Ein geschlossenes Fragebogenverfahren […], das nach dem Grad der Zustimmung zu bestimmten Items fragt, ist deshalb für die Erhebung subjektiver Theorien nicht denkbar, weil gar nicht sicher ist, ob die in den Fragen enthaltenen Aspekte im Denken der/ des einzelnen angelegt sind. […] Subjektive Theorien stehen als mehr oder weniger bewußtes Wissen hinter dem (Sprach-)Handeln. Sie sind prinzipiell aktualisierbar, lassen sich jedoch nicht als systematisch strukturierte Theorie ‚abrufen‘. Vielmehr entwickeln sie sich Schritt für Schritt im Gespräch und können deshalb nur mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden erhoben werden, deren Verfahren auf Interpretations- und Verstehensprozessen beruhen.“ (Kallenbach 1996: 49-50) 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept 189 <?page no="189"?> immer auch beteiligt sind.“ Dem Forscher muss es dabei gelingen, durch das Gespräch einen vertrauensvollen Zugang zu seinen kooperierenden Interviewpartnern zu gewinnen (Kallenbach 1996: 54-55; u. a. m. R. Nadig 1986; siehe hierzu auch unten) und den Prozesscharakter ihrer Aussagen zu erhalten, möglichst unter Berücksichtigung eines konkreten Situationsbezugs. „Das methodische Vorgehen muss sicher stellen, dass die Interpretationen der Handelnden möglichst durch die Deutungen der Forscher/ in ‚ungebrochen‘ erfasst werden und dass der Situationsbezug ihrer Aussagen und Handlungen in der Analyse berücksichtigt werden kann: ihr Prozesscharakter muss erhalten bleiben. Das spricht für Verfahren, die auf einer intensiven und möglichst unstrukturierten Kommunikation zwischen Forscher/ in und Handelnden in ‚natürlichen‘ Situationen beruhen, also beispielsweise die teilnehmende Beobachtung, unstrukturierte Interviews oder Gruppendiskussionen.“ (Schocker-v. Ditfurth 2001: 161) Bei der Erforschung der Innensicht gilt es auch zu berücksichtigen, dass Lehrkräfte im Kontext zahlreicher Normen unterrichten (siehe z. B. Königs 1983, oben, oder Appel 2001: 190 zum „Spannungsfeld zwischen Determiniertheit durch Strukturen und Spielräumen bei deren Gestaltung“). Caspari (2003) führt hierzu aus: „[…] ein fundamentales Problem bei der Erkundung der Innensicht von Lehrer/ innen […] besteht in der permanenten Spannung zwischen einem möglichst unvoreingenommenen Verstehen der Innensicht der Untersuchungspartner/ innen sowie ihrer Interpretation angesichts kodifizierter Normen, wie sie z. B. in den Lehrplänen oder den Ausbildungsverordnungen festgelegt sind, und angesichts der Normen, die in der pädagogischen und fachdidaktischen Diskussion aktuell sind und sich z. B. in Modellen, Unterrichtsmaterialien oder Kompetenzprofilen von Lehrer/ innen niederschlagen.“ (Caspari 2003: 67) Im Kern der Erhebung Subjektiver Theorien steht die Explizierung der Interviewten und damit die Erhebung verbaler Daten. Die Interviewsituation muss so angelegt sein, dass die Interviewten in der Lage sind, ihre Gedanken zu einem bestimmten interessierenden Bereich in der Retrospektive zu äußern. Das Verfahren des Interviews weist dadurch Parallelen zu Alltagsverfahren auf, denn die im Interview geäußerten Gedanken „sind prozeßhaft generierte Ausschnitte der Konstruktion und Reproduktion von sozialer Realität“ (Lamnek 1989: 62; zitiert nach Kallenbach 1996: 56; Hervorhebung im Original). Schocker-v. Ditfurth (2001: 162-163) verweist hier m. R. Bromme (1992) und Cohen (1994) auf die Problematik der (begrifflich eindeutigen) Explizierbarkeit unbewussten oder verdichteten Wissens und der parallelen Existenz verschiedener Wissensformen. „Explizites fachdidaktisches Wissen, beispielsweise, 190 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept <?page no="190"?> ist durchaus im Rahmen von Klausuren abrufbar. Dennoch muss es zu keiner Zeit, auch nicht zu Beginn der Lehrtätigkeit, als explizites Handlungswissen eine Rolle spielen.“ (Schocker-v. Ditfurth 2001: 163) Die Interviewsituation und die gestellten Fragen haben einen erheblichen Einfluss auf die entstehenden Daten. Kallenbach (1996: 57-65; siehe z. B. auch Scheele & Groeben 1988, Groeben et al. 1988) beschreibt das Interview anhand von sechs Aspekten: 1. Die Normalität des Interviews als Kommunikationstyp (das Interview als vertrautes Alltagsphänomen mit vordefinierten Rollen) 2. Interaktionsbedingungen im Interview (günstige äußere Bedingungen, wie z. B. eine vertraute Umgebung, und insbesondere eine vertrauensvolle, gleichberechtigte Kommunikationssituation, geprägt von Respekt und Interesse und angelegt auf einen Konsens, insbesondere auf das Fremdverstehen seitens des Forschers) 3. Verstehensvoraussetzungen im Interview (Beachten des gegenseitigen Verstehens, um den Fokus auf den interessierenden Sachbereich legen zu können) 4. Die Rolle des Befragten in der Interviewsituation (entweder als Person in ihren vielfältigen Lebensbezügen oder als Experte in einer bestimmten Funktion; die Rolle des Interviewers als sensibler und verantwortungsbewusster Zuhörer) 5. Reaktivität im Interview (Veränderungen durch das Gespräch gegenüber der Ausgangssituation, sowohl aufgrund der verabredeten Auskunftssituation als auch durch die Themenvorgabe und die gestellten Fragen; die zuvor eher implizite Subjektive Theorie wird u. a. expliziter) 6. Verbalisierung (Fähigkeit und vor allem Bereitschaft der Gesprächspartner zu reden) Die durch das Interview erhobenen Daten müssen in eine schriftliche Form überführt werden, um analysiert und interpretiert werden zu können. Bei der schriftlichen Fixierung von Audiomitschnitten können Elemente der Kommunikation, wie z. B. Sprechgeschwindigkeit oder Lautstärke, verloren gehen, bei der Überführung von Videomitschnitten u. a. Aspekte wie Gestik oder Mimik (vgl. Kallenbach 1996: 68; Prokopowicz 2017: 111-131, u. a. zur computergestützten Transkription und Datenauswertung). Außerdem ist zu beachten, dass bei einem interpretativ-verstehenden Verfahren zur Erhebung Subjektiver Theorien im Sinne des Gültigkeitskriteriums eine Validierung zur Absicherung des Verstehens erfolgen sollte. Kallen- 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept 191 <?page no="191"?> bach (1996) betont im Hinblick auf die Erhebung von Subjektiven Theorien die Relevanz einer kommunikativen Validierung (Rekonstruktionsadäquanz). Sie bewertet, im Gegensatz zu Groeben et al. (1988, auch Groeben & Scheele 1977), eine Handlungsvalidierung (Realitätsadäquanz) in diesem Zusammenhang als problematisch (siehe oben). Auch Schocker-v. Ditfurth (2001: 164) merkt kritisch an, dass die „objektive Überprüfung der Praxisrelevanz handlungsleitender Theorien […] eine externe objektive Instanz voraussetzen [würde], von der man nicht ausgehen kann“. Die komplexe Lehr-/ Lernsituation im Fremdsprachenklassenzimmer sei von zu vielen Faktoren bestimmt und würde durch die verschiedenen Teilnehmer unterschiedlich gedeutet. Angesichts der Problematik einer Handlungsvalidierung sieht Caspari (2003: 74-75) diese im Zusammenhang mit der Erhebung von Subjektiven Theorien nur dann als zielführend an, wenn damit Weiterentwicklungsmöglichkeiten, z. B. im Rahmen von Aus- und Fortbildung, gegeben sind, allerdings nur mit Einwilligung der Interviewten. Ein Validierungsgespräch hat nach Kallenbach (1996) nicht nur eine verstehensabsichernde Funktion, sondern bewirkt durch die Tatsache eines zweiten Gespräches, dass der Kommunikationsprozess fortschreitet, so dass sich neben Parallelen zum ersten Gespräch auch Veränderungen ergeben können. Ein Verfahren zur kommunikativen Validierung ist die Struktur-Lege-Technik (SLT; siehe Scheele & Groeben 1988 sowie Kallenbach 1996; m. R. Bonato 1990). Während im Interview Wissen expliziert wird, wird bei der SLT dieses strukturiert. Legetechniken zeichnen sich durch die Aspekte der Fokussierung (Kernbegriffe und ihre strukturelle Beziehung zueinander), Visualisierung (Überblick über die Begriffe und ihre strukturelle Anordnung, die kommentierend verändert und optimiert werden kann) und Simultaneität (Aufhebung der Linearität zugunsten einer komplexeren Möglichkeit der Darstellung: gleichzeitige Beziehungen der Begriffe zueinander und ihre Wertigkeiten) aus. Die SLT stellt damit für meine Studie ein geeignetes Verfahren dar, um die Ausführungen der Interviewten zur LA aus dem ersten Gespräch (Leitfaden- Interview) zu strukturieren und tiefer zu durchdringen, und zwar hinsichtlich der Konsistenz der im ersten Gespräch erhobenen Daten; der Sicht auf den eigenen Unterricht, verknüpft mit den jeweils zentralen Grundgedanken; den Stellenwert, den LA für sie einnimmt; ihrer Definition von LA; ihrem Versuch, LA im Französischunterricht umzusetzen und einer möglichen Unterstützung der Lehrkräfte bei der Aufgabe, LA und SLK zu befördern. Die zweiten Gespräche mit den Interviewten wurden daher anhand der SLT geführt, siehe im Detail unten. Die Heidelberger SLT nach Scheele & Groeben (1988) sieht folgende Schrittigkeit vor: 192 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept <?page no="192"?> - Information an die Interviewten zur SLT nach dem Interview - Analyse des Interviews hinsichtlich zentraler Begriffe durch den Forscher, Erstellung von Begriffs- und Relationskärtchen und Legen und Dokumentieren eines ersten Strukturbildes durch den Forscher (sein Verständnis des Interviews, muss zur zweiten Sitzung vorliegen) - Konsensbildung über die Begriffe zwischen Forscher und Interviewten im zweiten Gespräch - Legen eines zweiten Strukturbildes durch die Interviewten - Vergleich der beiden Strukturbilder und Konsens, manifestiert durch ein abschließendes gemeinsames drittes Strukturbild Neben den Begriffskärtchen werden Relationskärtchen verwendet, die den Begriff selbst bestimmen (Definition, Unterkategorie, Und-Beziehung, Oder-Beziehung, Manifestation, Indikator, Absicht, Voraussetzung) und Abhängigkeiten zwischen den Begriffen unterscheiden (z. B. positive oder negative Abhängigkeit oder Wechselwirkung). In Bezug auf die Zielgruppe Schüler reduziert Kallenbach (1996) die Komplexität des Verfahrens: - das erste Strukturbild wurde nur als Vorbereitung der Forscherin erstellt und im zweiten Gespräch nicht mit hinzugezogen - Reduktion bei den Relationskärtchen und Möglichkeit, selbst Relationen zu beschreiben Zur verwendeten SLT (siehe auch unten) merkt Kallenbach (1996) an: „Das Verfahren erwies sich außerdem ‚forschungspraktisch‘ als schwierig, da es nicht möglich war, in dem möglichst kurz zu haltenden zeitlichen Abstand zwischen Interview und Erstellung des Strukturbildes die umfangreichen Interviews zu transkribieren und eingehend zu interpretieren. Die Bestimmung der zentralen Konzepte, wie sie für die Struktur-Lege-Technik notwendig ist, stellt zwar bereits einen weitgehenden Interpretationsschritt dar; die ausführlichen Interpretationen […] konnte ich jedoch erst vornehmen, nachdem die Phase der Datenerhebung abgeschlossen war und ich ein geeignetes Auswertungsverfahren gefunden hatte. Insofern konnte der Anspruch der kommunikativen Validierung nur bedingt realisiert werden. Den Zweck, zu dem dieses Verfahren eingesetzt wurde […], konnte es jedoch erfüllen: Es eröffnete die Möglichkeit zu einer weiteren Begegnung, in der das Thema Fremdsprachenlernen noch einmal mit anderen Gesprächsimpulsen besprochen werden konnte.“ (ibid.: 228). Schocker-v. Ditfurth (2001) hebt grundsätzlich den Vorteil einer zweiten Explizierung hervor: „Bloße Lippenbekenntnisse sind durch das Forschungsprinzip 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept 193 <?page no="193"?> der wiederholten Explizierung so gut wie ausgeschlossen.“ (Schocker-v. Ditfurth 2001: 186) Zu einem methodenangemessenen Gütekriterium qualitativer Forschung zählt zusätzlich das Verfahren der Triangulation, der Betrachtung eines Forschungsgegenstands aus mehreren Perspektiven. Dabei werden für die Theoriekonstruktion verschiedene Methoden, Forscher, Untersuchungsgruppen, Settings oder theoretische Perspektiven kombiniert (vgl. z. B. Flick 1995). Dem Verfahren liegt der Gedanke zugrunde, „durch den Einsatz mehrerer Bezugspunkte möglichst genaue Ergebnisse zu erzielen“ und diese vor allem zu vertiefen und multiperspektivisch zu erweitern (Knorr & Schramm 2016: 90). Das Verfahren eignet sich daher besonders für komplexe Zusammenhänge, wie sie in Lehr- und Lernbereichen gegeben sind. Knorr & Schramm (2016) unterscheiden nach Denzin (1970; siehe auch Denzin 3 1989 und z. B. Grotjahn 4 2003a) vier Typen der Triangulation: • Datentriangulation (Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen bei Verwendung derselben Methode zur Untersuchung desselben Phänomens, hierbei können der Zeitpunkt, die Personen oder der Ort variieren) • Methodentriangulation (methodeninterne Triangulation: within-method, Triangulation verschiedener Methoden: between-methods oder Kombination qualitativer und quantitativer Methoden: mixed methods) • ForscherInnentriangulation (Triangulation von Ergebnissen unterschiedlicher Forscher, die das gleiche Phänomen untersucht und interpretiert haben; vgl. Kuckartz 2014) • Theorientriangulation (Anwendung verschiedener theoretischer Perspektiven und unterschiedlicher Hypothesen in Bezug auf Daten) „Allen Triangulationsarten liegt der Gedanke einer Integration im Gegensatz zu einer reinen Akkumulation zugrunde. […] Als notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer triangulierenden Studie wird immer wieder die angemessene Auswahl an Methoden und deren sinnvolle Kombination gefordert, um ein eklektisches Nebeneinander diverser Verfahren ohne direkten Mehrwert zu vermeiden.“ (Knorr & Schramm 2016: 95) Die vorliegende Studie kombiniert Daten- und Methodentriangulation, siehe II, 4.3. Zusätzlich zum Design von FST wurden Verfahren zu Fallstudien verwendet. Siehe dazu den folgenden Punkt 4. 194 3 Subjektive Theorien als Forschungskonzept <?page no="194"?> 4.1 Die Interviewpartner 195 4 Design der vorliegenden Untersuchung 4.1 Die Interviewpartner 52 Zur Vorbereitung dieser Studie führte ich eine Reihe von unstrukturierten Erkundungsgesprächen zur LA mit insgesamt etwa dreißig verschiedenen Lehrkräften in mehreren Bundesländern, siehe unten. Die Subjektiven Theorien dieser Studie wurden dann auf der Grundlage von qualitativen Experteninterviews mit sieben Französischlehrern an unterschiedlichen Gymnasien in Baden-Württemberg erhoben. Ihre Ausbildung fand vorwiegend in Baden-Württemberg statt, in einem Fall in Nordrhein-Westfalen und in einem anderen Fall in Italien. Die Gespräche mit ihnen bezogen sich schwerpunktmäßig auf deren Unterricht in der Sekundarstufe I. Die Tatsache, dass sich meine Studie auf Baden-Württemberg begrenzt, war der zeitlichen Komponente in Bezug auf mich selbst als Forscherin geschuldet. Die Pilotgespräche in anderen Bundesländern zuvor hatten keinen Hinweis darauf gegeben, dass die Sicht auf die LA regional unterschiedlich ausfällt. (Siehe zum Punkt der regionalen Eingrenzung von Interviewpartnern z. B. auch Caspari 2003: 98.) Zum Umfang der ausgewerteten Interviews siehe z. B. Schockerv. Ditfurth (2001: 189), die auf den sehr zeitaufwendigen Auswertungsprozess verweist. Die Menge der Daten sei bei einer größeren Anzahl von interviewten Personen nicht mehr zu bewältigen. So basieren z. B. die viel beachteten Arbeiten von Woods (1996) auf einem Sample von acht, die von Freeman (1993) auf vier Personen. (Siehe hierzu auch Riemer 2016: 156.) Für meine Studie erfolgte die Auswahl der Interviewpartner weitgehend nach dem Zufalls- und Freiwilligkeitsprinzip. Mir persönlich bekannte Lehrkräfte bat ich, mir aus ihrem Kollegium Gesprächspartner für eine wissenschaftliche Arbeit über LA zu finden. Dabei stellte ich heraus, dass die Studie nicht mit meiner beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang stehe und dass die Gesprächspartner mit mir dieses Thema aus ihrer ganz normalen Unterrichtspraxis heraus erörtern sollten und sich deshalb nicht eigens vorbereiten müssten. Letzteres war mir insofern wichtig, als ich mir dadurch nicht nur eine größere Bereitschaft für das Interview erhoffte, sondern auch weil es mein Ziel war, LA und die Sicht auf ihre Umsetzung in der Praxis zu erkunden. 52 Die Namen der Interviewpartner sind verändert, um ihre Anonymität zu wahren. <?page no="195"?> 196 4 Design der vorliegenden Untersuchung Das Einschalten von Kontaktvermittlern war nicht nur zeitökonomisch, sondern auch türöffnend, sowohl im Hinblick auf die schulische Genehmigung zur Durchführung der Studie und eine echte Bereitschaft der Forschungspartner, sich auf die zeitliche Belastung des Prozesses einzulassen, als auch hinsichtlich eines notwendigen Grundvertrauens in mich als ihnen unbekannte Forscherin. Die Kontaktvermittler erwiesen sich damit als echte „Türöffner“. (Zu den Hürden durch „gatekeepers“ und den Überlegungen zur Machbarkeit und Zugänglichkeit bei der Auswahl der Stichprobe siehe auch Grum & Legutke 2016 und Flick 4 2011.) Dieses Verfahren hatte außerdem den Vorteil, dass ich als Interviewerin die Auswahl wenig beeinflussen konnte. Allerdings bat ich meine Kontaktpersonen im Sinne der Datentriangulation darum, mir Französischlehrer beiderlei Geschlechts zu finden, die Unterschiede hinsichtlich folgender Parameter aufwiesen: Alter, Praxiserfahrung, Fächerkombination, Unterrichtsschwerpunkt, verwendetes Lehrwerk und berufliche Funktion(en). Damit sollte eine möglichst große Spannbreite der Lehrerschaft abgedeckt werden. Alle Lehrkräfte kamen aus Baden-Württemberg, was mir bei der Durchführung der Gespräche zeitlich entgegen kam. Gleichzeitig achtete ich aber darauf, dass die Lehrkräfte an Schulen unterschiedlicher Standorte unterrichteten, von der Kleinstadt bis zur Großstadt und mit ländlichem bis zum großstädtischem Einzugsgebiet. Damit sollte gewährleistet sein, dass innerhalb der Gruppe der Gymnasiallehrer der Sekundarstufe I ganz verschiedene Perspektiven auf das Thema der LA zum Tragen kommen konnten (die Parameter dieser Kriterienmatrix entstanden u. a. bei der Befassung mit dem Faktor Lehrperson in der Fremdsprachenforschung; Stichprobe mit maximaler Variation, siehe oben; siehe auch Grum & Legutke 2016: 84-85). Bei der Darstellung der Einzelfälle in Teil III konzentriere ich mich auf die Hauptaltersgruppe zwischen 36 und 53 Jahren. Bei der Darstellung der Einzelfälle wählte ich die Fächerkombinationen als Ordnungskriterium, da sich daraus spezifische Blickwinkel auf das Thema des autonomen Sprachenlernens ergeben können: MHL unterrichtet ausschließlich Französisch als Fremdsprache, dazu die Muttersprache Deutsch. Auch TW unterrichtet als Fremdsprache nur Französisch, daneben Mathematik. SR hingegen unterrichtet drei Fremdsprachen (Französisch, Spanisch, Englisch) und ist damit nicht nur eine reine Fremdsprachenlehrerin, sondern kann auch Vergleiche zu einer anderen romanischen Sprache herstellen. AK und CP schließlich weisen mit Französisch und Englisch eine „klassische“ Fächerkombination auf, wobei CP aus dem Blickwinkel einer italienischen Muttersprachlerin berichtet. (Siehe auch Grum & Legutke 2016: 85 zur Frage einer maximalen Variation und von „typisch markierten Fällen“.) Die beiden Kurzdarstellungen, die folgen, stellen hinsichtlich Alter und Unterrichtserfahrung die beiden Eckpunkte in Bezug auf die Spannbreite der inter- <?page no="196"?> 4.1 Die Interviewpartner 197 viewten Lehrkräfte dar. Hier stehen mit GCB die vierjährigen Erfahrungen eines 33 Jahre alten Lehrers denen von VE gegenüber, einer 53 Jahre alten Lehrerin mit 29 Jahren Berufserfahrung. VE unterrichtet von allen interviewten Lehrkräften die breiteste Spanne an Fächern (Französisch, Spanisch, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Ethik) und ist als Einzige in der Lehrerfortbildung aktiv. Sie wuchs in Deutschland zweisprachig, mit Deutsch und Französisch, auf. Der Umstand, dass ich fast alle Interviewpartner (bis auf eine Partnerin: VE) im Vorfeld nicht kannte und auch keinerlei Abhängigkeitsverhältnis bestand, erwies sich sowohl in den Gesprächen als auch bei der Auswertung als zuträglich. Bei den Gesprächen war die Gefahr weniger groß, dass meine Partner um meinetwegen bestimmte Standpunkte vertraten oder bestimmte Selbstdarstellungsstrategien einsetzten, um einen guten Eindruck zu vermitteln (vgl. z. B. Schocker-v. Ditfurth 2001: 165 oder Riemer 2016: 155). Gleichwohl ist anzunehmen, dass sie sich tendenziell positiver über das Thema ‚LA‘ äußerten (Warum hätte ich ansonsten das Thema gewählt, wenn es nicht wichtig wäre und mir nicht wichtig wäre? ) und dass sie aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit in einem Verlag eher auf das Gebiet der Unterrichtsmaterialien zu sprechen kamen (endlich einmal die Möglichkeit, ein direktes Feedback hinsichtlich der Lehrwerke zu geben). Mir wiederum fiel die Auswertung leichter, da ich die Personen neutraler betrachten konnte und persönliche Aspekte keine Rolle spielten. (Zum Aspekt der „Unbefangenheit des Forschers“ siehe Burwitz-Melzer 2001: 147; m. R. Flick 2 1996. Zur Gefahr einer „asymmetrischen Kommunikation“ siehe z. B. Caspari 2003: 73.) Der Erstkontakt mit den mir zunächst unbekannten Interviewpartnern erfolgte dann telefonisch. Ich hatte mich bewusst entschieden, dass Thema von Anfang an, also bereits durch die Kontaktpersonen, zu nennen, erstens weil es unter Gesprächspartnern üblich ist, das Thema einer Besprechung zu kennen, und zweitens weil es den Gesprächspartnern die Möglichkeit geben sollte, ihre Gedanken im Voraus auf ein komplexes Konzept hin zu ordnen. (Vgl. auch Kallenbach 1996: 83.) Damit sich die Forschungspartner wohl fühlten, bat ich sie, Ort und Zeit des Interviews selbst zu wählen. Meistens wurde ein Besprechungsraum der Schule gewählt und ein Termin mit beliebig langem Zeitfenster nach hinten. Die Interviews fanden in einer durchweg freundlichen Atmosphäre statt (siehe im Einzelnen unten bei den Einzelfalldarstellungen) und ich hatte den Eindruck, dass die Forschungspartner sich bemühten, nach bestem Wissen und Gewissen ehrlich und ausführlich zu antworten. Nicht ganz auszuschließen war der Effekt, dass sich eher solche Personen zum Gespräch bereit erklärten, die dem Thema positiv und offen gegenüber standen. Deshalb war es mir wichtig, zu Beginn nachzufragen, warum sich die Personen zum Gespräch bereit erklärt hatten. Überwiegend wurde mir spon- <?page no="197"?> 198 4 Design der vorliegenden Untersuchung tan als Antwort gegeben, dass man aus Kollegialität gegenüber der suchenden Kontaktperson zugesagt habe. Bisweilen wurde auch allgemeines Interesse und auch Interesse am Thema selbst bekundet. Von zwei Lehrerinnen, die einem Interviewgesuch gegenüber ablehnend reagierten, berichtete die kontaktierende Lehrerin: „Meine älteren Kolleginnen habe ich gefragt. Interessanterweise haben beide mit demselben Argument abgelehnt, dass es sie nicht interessiere, weil es Zeit bedeuten würde, die sie nicht dafür hergeben möchten.“ 4.2 Die Datenerhebung Fragebogen zu persönlichen Daten Allen Interviewpartnern ging etwa eine Woche vor dem Interview ein Fragebogen zu ihren persönlichen Daten zu, den sie ausgefüllt zum Gespräch mitbringen sollten. In den Fällen, in denen die Interviewpartner aus unterschiedlichen Gründen diese Vorarbeit nicht erbracht hatten, füllten sie den Fragebogen am Anfang des Interviews kurz aus. Siehe hierzu im Anhang, Kap. I. Es ist davon auszugehen, dass das eigene Fremdsprachenlernen als Erfolg erlebt wurde. Welche Gründe gibt es für den Erfolg: z. B. Noten, Auslandserfahrungen? Spielt in diesem Zusammenhang die LA eine Rolle? Der Fragebogen zu persönlichen Daten bereitete auf die Fragen zur Lernbiografie im Interview vor. Ihre ausführliche Beantwortung sollte Harvey-Effekte vermeiden. Leitfadengestütztes Interview Das Interview selbst war halbstrukturiert und leitfadengestützt (vgl. Bock 1991, Kallenbach 1996). Es orientierte sich an groben, möglichst offenen Leitfragen, im Sinne von Impulsen, die den Interviewten Raum geben sollten, ihre Gedanken beim Erzählen frei zu entfalten und mir als Interviewerin die Flexibilität gewähren sollten, auf die individuellen Ausführungen der Interviewten, z. B. durch Nachfragen, forschend einzugehen. (Vgl. zur Planung und Durchführung des Leitfadeninterviews auch Riemer 2016: 163 f.; zu den Prinzipien der „Offenheit und Flexibilität“ für explorativ-interpretatives Forschen siehe z. B. Caspari, Helbig & Schmelter 4 2003: 500.) Im Anhang befindet sich in Kap. II eine Auflistung möglicher Fragen, die ich vorab erstellt hatte. Vor der Erstellung des Fragebogens hatte ich eine Reihe von Pilotgesprächen geführt, siehe Teil II, 4.4. Mir war es im Interview wichtig, die relevanten Themenbereiche und insbesondere virulente fachdidaktische Forschungsfragen zur LA impulsgebend anzusprechen, auch im Sinne einer Vergleichbarkeit zwischen den Interviewpartnern. Danach ließ ich die einzelnen Interviewpartner ihre persönlichen, für sie relevanten Schwerpunkte zu den einzelnen Themenbereichen möglichst <?page no="198"?> 4.2 Die Datenerhebung 199 breit und tief herausarbeiten, auch mit narrativen Passagen bezogen auf konkrete Erlebnisse, ganz wie sie ihre Praxis erlebten und erinnerten. Die von mir im Vorfeld erstellten, zahlreichen zusätzlichen Detailfragen dienten mir selbst als persönliche Orientierung und wurden, je nachdem wie sich das Gespräch entwickelte, gestellt oder auch nicht. Das Aufgreifen der persönlichen Daten am Anfang des Gespräches diente meiner eigenen Orientierung, aber auch um einen freundlichen und persönlichen Einstieg in das Gespräch zu finden. Außerdem erwartete ich, dass durch die Reflexion über das eigene Lernen und Lehren ein fließender Einstieg in das spezifische Thema der LA gefunden werden konnte. Insbesondere nahm ich an, dass die eigenen Lernerfahrungen mit Autonomie Auswirkungen auf die entsprechenden Erfahrungen beim Lehren hatten. Das Interview wurde mit dem Einverständnis der Forschungspartner mit einem Audiogerät aufgenommen. Als sehr hilfreich erwies sich bei der Durchführung die Auswahl eines kleinen, handlichen und effektiven Aufnahmegerätes. Es trug dazu bei, schnell eine weitgehend lockere Gesprächsatmosphäre herzustellen. Die Interviews dauerten im Schnitt etwa anderthalb Stunden und verliefen, auch wenn ganz unterschiedliche Perspektiven zum Zuge kamen, allesamt in einer freundlichen und konstruktiven Atmosphäre. Direkt nach den Interviews hielt ich persönliche Eindrücke zu interviewter Person und Interviewsituation in kurzen Stichworten fest, um zu einem späteren Analysezeitpunkt die Gesamtsituation besser visualisieren zu können. Diese Notizen wurden in die Fallanalyse zum Teil mit einbezogen. (Vgl. zum „Postskript“ auch Caspari 2003: 104 f.; m. R. Friebertshäuser 1997.) Begriffskärtchen Am Ende des Interviews sollten sich die Gesprächspartner zu einer Reihe von Begriffen zum Thema LA äußern (methodeninterne Triangulation). Dazu wurden ihnen in ungeordneter Reihenfolge folgende Begriffe auf Begriffskärtchen präsentiert: language awareness - Lernprozess / language learning awareness - Querverbindungen zwischen den Sprachen - Lernertypen - Lerntechniken und Lernerstrategien - Förderung der sprachlichen Performanz/ der Kompetenzen - Selbstkontrolle - Selbstevaluation - Öffnung vs. Steuerung - Projektunterricht - Hausarbeiten - Lehrerrolle - Lehrerteam - Lehrerausbildung - Qualitätsstandards - ? Dadurch dass aufgrund der Kartenabfrage am Ende des Interviews alle mir wichtigen Punkte auf jeden Fall abgearbeitet wurden, konnte ich jeden Bereich ansprechen und dann von dem jeweiligen Gesprächspartner selbst entwickeln lassen, ohne zu sehr in bestimmte Richtungen zu lenken. Die Karten hatten <?page no="199"?> 200 4 Design der vorliegenden Untersuchung auch den Vorteil, dass einige Interviewpartner, wie z. B. TW, sich am Schluss bemühten, zu den einzelnen Punkten eine Zusammenfassung zu formulieren. Sie stellten einen minimalen Input dar und konnten auch verworfen werden. Zweites Gespräch mit Struktur-Lege-Technik Vorab: In der Studie wurde die SLT angesichts der Komplexität der Subjektiven Theorien zu LA und der Professionalität der Interviewten im Vergleich zu Kallenbach (1996, siehe oben) weiter modifiziert: - In Vorbereitung auf das zweite Gespräch konzentrierte ich mich ganz auf die Erstellung einer lückenlosen Auswahl an Begriffskärtchen zu dem von den Interviewten Geäußerten und verzichtete auf ein erstes fixiertes Strukturbild, das mir aufgrund der Komplexität der Subjektiven Theorien zur LA als wenig hilfreich erschien, da es die Komplexität des zweiten Gespräches vor allem erhöhen würde und zudem Beeinflussungsgefahren birgt; durch das mehrmalige Anhören der jeweiligen Interviews entstand allerdings ein sehr genaues mentales Bild, mit dem ich in das zweite Gespräch ging und das mir half, punktuell Nachfragen zu stellen. - Kompletter Verzicht auf vorgefertigte Relationskärtchen, stattdessen Raum für genuine Explizierung der Relationen durch die Interviewten selbst, dadurch Öffnung des zweiten Gespräches und Fokussierung auf die Perspektive der Interviewten; durch den Verzicht auf Relationskärtchen konnte auch die hohe Abstraktionsanforderung an die Forschungspartner angesichts zweier unterschiedlicher Arten von Kärtchen reduziert werden (vgl. die Schwierigkeiten in der Studie von Morkötter (2005), in diesem Zusammenhang). - Zusätzliche kommunikative Validierung sowohl der Darstellung des ersten als auch des zweiten Gespräches anhand einer Manuskriptdurchsicht durch die Interviewten selbst, und zwar nach einer größeren zeitlichen Distanz, auch im Sinne einer Langzeitstudie. „Further, certain research designs can mitigate the role of time in gathering second-order data. Longitudinally designed studies that gather data repeatedly over an extended period can help to build an ongoing, and thus potentially more coherent, second-order picture. Thus time can serve as an important way to triangulate data.“ (Freeman & Richards, Hrsg. 1996: 370) Das zweite Gespräch auf Basis der SLT diente dazu, Hinweise auf die Kohärenz der im ersten Gespräch erhobenen Daten zu gewinnen und sowohl Akzentuierungen als auch zusätzliche Erkenntnisse hinsichtlich der interviewten Französischlehrer und ihrer Subjektiven Theorien zur LA zu erhalten. Im Einzelnen: Alle Interviewpartner wurden am Ende des ersten Gespräches anhand eines Informationsblattes und anhand eines fachfremden Beispiels <?page no="200"?> 4.2 Die Datenerhebung 201 (Thema „Werbung“) mit der Struktur-Lege-Technik bekannt gemacht (in Anlehnung an Kallenbach 1996). Im zweiten Gespräch legten die Partner mit Hilfe von kleinen Begriffskarten, die von mir vorbereitet worden waren (aus Zeitgründen, aber auch um sicherzustellen, dass die Daten aus dem ersten Gespräch von mir korrekt ermittelt und von den Gesprächspartnern erneut betrachtet und bewertet werden konnten), ein Strukturbild zu ihrem Französischunterricht und dem Stellenwert, den die LA für sie darin einnimmt (siehe im Anhang, Kap. III, siehe auch unten zur Triangulation verschiedener Methoden). Dazu hatte ich im Vorfeld nach mehrmaligem Abhören des Interviews Begriffe auf Kärtchen geschrieben, die mir in Bezug auf den jeweiligen Partner und seinen Unterricht wichtig erschienen. Die mehrmaligen Durchgänge durch das Datenmaterial verhalfen mir zu einem vertieften Verständnis des Gesagten (siehe oben; auch Caspari 2003: 52). Den Begriff „LA“ gab ich bei jedem Partner mit dazu. Diese Kärtchen konnten nun von ihm benutzt, umformuliert oder weggelegt werden oder auch ganz neue formuliert werden. Bisweilen fragten die Partner auch nach, was sie denn mit einem bestimmten Begriff gemeint hätten. Nach einer kurzen Erklärung meinerseits konnten sie sich wieder erinnern und in den meisten Fällen nahmen sie das Kärtchen dann in ihr Bild auf. VE hatte in diesem Zusammenhang besonders viele Nachfragen und meinte im Anschluss an ihre Fragen und meine Kurzerklärungen: „Stimmt alles.“ Und dann, nachdem sie ein Begriffskärtchen zu meiner Begriffsauswahl hinzugefügt hatte: „Ansonsten find’ ich mich da tatsächlich schon wieder.“ (VE, SL, 4/ ’08) Solche Nachfragen wurden in jedem Fall dokumentiert, um sie bei der nachfolgenden Analyse auf ihre Stimmigkeit und Wichtigkeit im Kontext der anderen Aussagen bewerten zu können. Auch das zweite Gespräch, bei dem das Strukturbild erstellt wurde, wurde mit Audiogerät aufgenommen. 53 Alle Gesprächspartner erklärten mir ihr Bild, wenn sie es gelegt hatten, und erläuterten z. B. die gewählte Grundstruktur, was ihnen wichtig ist und wie sie die Begriffe zueinander in Relation sehen. Informationen zum Strukturbild, die lediglich aufgrund der Audio-Aufnahmen gegeben wurden, habe ich im Bild selbst hinzugefügt und entsprechend gekennzeichnet. Dieses zweite Gespräch stellte sich als nützlich und erhellend heraus, da es mir als Interviewerin die Möglichkeit bot, an Stellen nachzufragen, die beim ersten Interview nicht klar herausgearbeitet worden waren (siehe oben). Die Interviewsituation erfordert von beiden Partnern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, die im Verlauf durchaus auf beiden Seiten variieren konnte. Hier konnten solche 53 MAXQDA (www.maxqda.de), ein Programm zur Analyse von qualitativen Daten, kann die spätere Analyse organisatorisch unterstützen, aber nicht die eigentliche Analysearbeit ersetzen, wie Prokopowicz (2017: 112; m. R. Friese 2006: 463) anmerkt. <?page no="201"?> 202 4 Design der vorliegenden Untersuchung Effekte aufgefangen werden. Außerdem lieferte das zweite Gespräch Hinweise auf die Konsistenz der im ersten Gespräch erhobenen Daten. Insbesondere konnten die Interviewpartner nun das Gespräch autonom und ohne jegliche Vorgaben und Einschränkungen strukturieren und im Monolog solche Punkte herausarbeiten, die ihnen selbst besonders wichtig waren. Damit konnte der Effekt der etwas stärkeren Vorstrukturierung des vorausgegangenen Leitfadeninterviews (vgl. hierzu Riemer 2016: 163) abgefangen werden. Durch den Monolog wurden weitere introspektive Daten geliefert. Die Strukturbilder zeigen somit den Französischunterricht des jeweiligen Interviewpartners aus seiner ganz persönlichen Sicht und den Stellenwert, den die LA für ihn darin einnimmt. Aufschlussreich bei der Betrachtung und Analyse der Strukturbilder ist, welche Grundstruktur vom Interviewpartner für das Bild gewählt wurde und wo er darin wiederum den Begriff „LA“ verortet. (Den Begriff „LA“ hatte ich, wie oben erwähnt, als Einzigen bei jedem Interviewpartner in die zu legende Kärtchensammlung selbst eingegeben.) Hilfreich für die Analyse waren z. B. auch die folgenden Fragen: a. Wurden die Kärtchen akzeptiert? b. Wurden sie ergänzt oder verändert? c. Wurden einzelne Kärtchen, die sich aus dem ersten Interview ergeben hatten, nun verworfen? d. Wurden neue Kärtchen hinzugefügt? Welche? e. Welche Kärtchen liegen an exponierter Stelle (oft ganz oben und zentral)? f. Wo wurde das Kärtchen „LA“ platziert? g. Wurde das Bild mit zusätzlichen Hinweisen versehen (z. B. mit Erläuterungen, Ausrufezeichen und Beziehungshinweisen)? h. Wurde das Bild betitelt? Wie? Somit ergab sich also eine Übersicht darüber, wie die Partner ihren eigenen Unterricht sehen, welche Grundgedanken ihnen wichtig sind und welchen Stellenwert die LA darin einnimmt. Dieses wurde ihnen bisweilen auch erst durch das Legen des Strukturbildes selbst klar. Siehe dazu auch unten bei den einzelnen Falldarstellungen, z. B. bei VE. Fazit: In meiner Studie lieferten die zweiten Gespräche, die sich aufgrund der SLT entfalteten, Hinweise auf die Kohärenz der im ersten Gespräch erhobenen Daten, wertvolle Akzentuierungen und zusätzliche Erkenntnisse hinsichtlich der interviewten Französischlehrer und ihrer Subjektiven Theorien zur LA. (Siehe auch die Ausführungen unten in Teil III zu den Einzelfallstudien.) <?page no="202"?> 4.2 Die Datenerhebung 203 Ich als Interviewerin Die Phase der Interviews erstreckte sich über einen Zeitraum von etwa einem Jahr. Während ich als Interviewerin bei den ersten Interviews noch sehr vorsichtig war, mich selbst sehr stark zurücknahm, um keinesfalls eigene Überlegungen zum Thema einfließen zu lassen, erkannte ich im Laufe der Zeit die Notwendigkeit, anhand von einfachen Beispielen ein Thema zu erläutern, um sicherzustellen, dass mich meine Partner auch wirklich verstanden. Allerdings sind auch das Nichtverstehen ebenso wie das Nichterwähnen (Nulldaten, vgl. Morkötter 2005, Prokopowicz 2017) relevante Daten. Im Interview mit AK (Erläuterungen zum Begriff „Lerntechniken“) oder im Interview mit SR wird das Nichtverstehen explizit von den Gesprächspartnern thematisiert (siehe unten). Zur methodologischen Validierung siehe II, 4.3. MHL kommt immer wieder auf die Materialien zu sprechen. Die Frage liegt nahe, ob dies mit meinem Beruf als Entwicklerin von Lehr- und Lernmaterialien zusammenhängt. MHL kannte mich vor unserem ersten Gespräch noch nicht. Sie wusste, dass ich in einem Verlagshaus arbeite, diese Tatsache wurde aber zwischen uns nicht weiter thematisiert. Ich versuchte eine Atmosphäre herzustellen, in der es ganz und gar um ihre eigenen Praxiserfahrungen ging. Trotzdem kam sie im Gespräch auch immer wieder auf den Aspekt der Materialien zu sprechen. Da andere Interviewpartner den Aspekt der Materialien in unterschiedlichem Maße thematisierten, bis hin zu SR, die vorgefertigte Materialien sehr kritisch betrachtet, kann davon ausgegangen werden, dass die Frage der Materialien für MHL eine ureigene und echte war. Es ist eher davon auszugehen, dass ich als ausgebildete Französisch- und Englischlehrerin als „Mitglied der Sprachgemeinschaft“ auf Augenhöhe wahrgenommen worden bin und einen relativ authentischen und verstehenden Zugang realisieren konnte. (Vgl. hierzu z. B. auch Schocker-v. Ditfurth 2001: 179 f.; zum Begriff „Strukturparallelität des Denkens“: Caspari 2016, m. R. Scheele & Groeben 1998; zum Prinzip der „Kommunikativität“ beim explorativ-interpretativen Forschen: Caspari, Helbig & Schmelter 4 2003.) In die Gespräche selbst ging ich mit theoretischem fachdidaktischem Wissen zur LA und mit bestimmten Erwartungen in Bezug auf die Sicht der Praktiker: Zu Beginn der Studie und auch in deren Verlauf befasste ich mich eingehend mit dem fremdsprachendidaktischen Diskurs zur LA, zusätzlich führte ich Pilotgespräche, die zu hypothetischen Annahmen führten, die ich mir im Vorfeld notierte (entsprechend dem Prinzip der „Reflexivität“ für explorativ-interpretatives Forschen; siehe z. B. auch Caspari, Helbig & Schmelter 4 2003). Darüber hinaus schulten diese Gespräche mich in meiner Rolle als Interviewerin. Ich versuchte, die Gespräche, in denen ja die Interviewten die Expertenrolle innehatten, in einer natürlichen Atmosphäre zu entwickeln. Es galt, eine „Mi- <?page no="203"?> 204 4 Design der vorliegenden Untersuchung schung aus Empathie und Distanz“ und aus „Spontaneität und bewusster Rücknahme“ zu realisieren (Caspari 2003: 101 f.; m. R. Hopf 1978). Bei Rückfragen am Ende eines Gespräches wurde mir in der Tat eine fortwährend neutrale und freundliche Haltung bescheinigt (siehe z. B. das Feedback von GCB, unten). Es waren eher die Impulse bzw. Fragen selbst, die bisweilen manche Interviewpartner im Zusammenhang mit dem Konzept der LA erstaunten. Siehe z. B. die Bemerkungen von AK, unten. In diesem Sinne war das Interview auch ein Produkt einer „sozialen Situation“, denn ohne meine Impulse zur LA hätten sich die Forschungspartner nie so ausführlich zur LA geäußert. (Vgl. die Pilotgespräche unten; siehe z. B. auch Caspari 2003: 101.) 4.3 Triangulation In der Studie kommen verschiedene Typen der Triangulation zum Tragen: 1. Im Sinne einer Datentriangulation wurden sieben Französischlehrer an Gymnasien in Baden-Württemberg ausgewählt, und zwar mit unterschiedlichen persönlichen Merkmalen und dadurch mit möglicherweise verschiedenen Blickwinkeln auf das Konstrukt der LA. Es wurde auf folgende zu variierende Parameter geachtet: Geschlecht, Alter, Praxiserfahrung, Fächerkombinationen, Unterrichtsschwerpunkte, verwendete Lehrwerke, berufliche Funktionen, Standort der Schule. Damit sollte innerhalb der definierten Gruppe eine möglichst große Spannbreite der Lehrerschaft abgedeckt werden (Stichprobe mit maximaler Variation, siehe oben), die sich aufgrund derselben Methoden zum selben Gegenstand äußern - soweit dies in einer qualitativen Studie möglich ist. 2. Die leitfadengestützten Interviews wurden am Ende im Sinne einer methodeninternen Triangulation mit einer Kärtchenabfrage kombiniert (Begriffe zum Thema LA in ungeordneter Reihenfolge, siehe oben). Dies ermöglichte den Interviewten ihre Äußerungen zur LA erklärend zu wiederholen, sie zusammenzufassend auf den Punkt zu bringen oder zu ergänzen. Dabei war durch die Konzentration auf die Begriffskärtchen die Interaktion mit der Forscherin zurückgenommen. 3. Nach dem Interview erfolgte in relativ kurzem zeitlichem Abstand eine zweite Datenerhebung, indem im Sinne einer Triangulation verschiedener Methoden die SLT-Methode angewandt wurde mit anschließendem erklärendem Monolog durch die Interviewten. Dies diente der Akzentuierung, Präzisierung, Vertiefung und Erweiterung des ersten Gespräches durch die Interviewten. Bei der anschließenden Aus- <?page no="204"?> 4.4 Exkurs: Der Ausgangspunkt: Pilotgespräche 205 wertung durch die Forscherin konnten die Daten des ersten Gespräches mit denen des zweiten direkt zueinander in Beziehung gesetzt werden. 4. Die abschließende Evaluation der Falldarstellungen durch die jeweiligen Gesprächspartner selbst sicherte im Sinne einer validierungsstrategischen Triangulation die Richtigkeit der durch die Forscherin erstellten Darstellung. Auch erlaubte diese Phase, noch einmal Nachfragen zu stellen, die sich bei der Niederschrift ergeben hatten. Damit diente sie zusätzlich der Vertiefung und Erweiterung der Erkenntnisse. 5. Dadurch dass die Evaluation erst nach einem größeren Zeitraum erfolgte - Triangulation durch Variation des Zeitpunktes -, zeigte sie, ob die im Interview gemachten Äußerungen für die Interviewpartner im Sinne einer Subjektiven Theorie von dauerhafter Aussagekraft waren. 6. Im Anschluss an die Einzelfallbetrachtungen wurden für die Zusammenschau die Befunde der Einzelfälle detailliert und in tabellarischer Form vergleichend zusammengestellt und im Sinne einer Datentriangulation direkt zueinander in Beziehung gesetzt. 4.4 Exkurs: Der Ausgangspunkt: Pilotgespräche Vor der eigentlichen Interviewphase führte ich eine Reihe von unstrukturierten Erkundungsgesprächen zur LA mit insgesamt etwa dreißig verschiedenen Lehrkräften. Die Auswahl der Gesprächspartner erfolgte zufällig, das heißt, immer dann, wenn sich eine Gelegenheit zu einem Gespräch bei unterschiedlichen Anlässen ergab. Zum größten Teil handelte es sich um Französischlehrer am Gymnasium in unterschiedlichen Bundesländern. Hieraus sollten Erkenntnisse über die Art der Untersuchungsfragen der eigentlichen Interviewphase gewonnen werden, d. h., ob diese eher theoriegeleitet oder weitgehend personen- und erfahrungszentriert erfolgen sollten. Hier eine Auswahl aus den geführten Pilotgesprächen: • Frau Schmidt 54 Frau Schmidt begrüßt auf Nachfrage das Prinzip der LA im Französischunterricht. Sie habe sich bisher aber wenig konkrete Gedanken darüber gemacht. Sie unterrichte engagiert und führe die Schüler durchaus dazu, selbstständig am Stück zu sprechen und zu schreiben. Die Schüler lernten Vokabeln, indem sie jedes Wort in einem passenden Satz aufschreiben und anschließend lernen würden. Dadurch gelangten sie sehr bald in die Lage, zusammenhängend 54 Alle Namen wurden verändert, um Anonymität zu wahren. <?page no="205"?> 206 4 Design der vorliegenden Untersuchung zu kommunizieren. Frau Schmidt beklagt, dass ein Nachfolgelehrer zur Zeit ihre frühere Klasse weniger motiviert und fordernd unterrichten würde und die Schüler nun weniger arbeiten würden und daher weniger Fortschritte machten. • Herr Krause Herr Krause sprudelt über bei dem Thema „LA im Französischunterricht“. Er habe eine Klippert-Ausbildung gemacht und seine Schule werbe explizit mit dem Klippert-Programm. In jedem Jahr würden fächerübergreifende Projekttage veranstaltet. Im Klassenbuch gebe es eine Liste mit zu vermittelnden Prinzipien, die von jedem Fachlehrer ausgefüllt werden könne. Nicht alle beteiligten sich, aber die meisten Französischlehrer machten aktiv mit. Selbstständiges Arbeiten finge bei der Einzelarbeit an und führe über Partnerarbeit zur Gruppenarbeit. Lern- und Arbeitstechniken sollten immer wieder wiederholt werden und in einer Progression stehen, also aufeinander aufbauen. Neben der Fachkompetenz solle auch die soziale Kompetenz gefördert werden. • Frau Müller Frau Müller kann mit dem Begriff der LA im Französischunterricht nicht viel anfangen. Sie habe ihren eigenen Stil und reflektiere eher wenig über die Sicht der Lernenden. Von den Simulations globales sei sie überzeugt. Und bei Texten sei ihr wichtig, dass sie Sprechanlässe für die eigene Situation der Schüler böten. Mehr fiele ihr zu dem Thema nicht ein. • Frau Ortner Frau Ortner ist eine langjährige, sehr erfahrene Grundschullehrerin und unterrichtet insbesondere die Fächer Deutsch, Mathematik, Kunst und Sport in den Klassen 3 und 4. Daneben engagiert sie sich sehr in einer Theater- Arbeitsgemeinschaft. Die Förderung der LA sei ihr von Anfang an ein großes Anliegen. Ihr sei es wichtig, dass die Schüler ein breites Spektrum an Medien (einschließlich Computer) kennenlernen würden, lernen würden, nachzufragen und nachzuschlagen. Sie arbeite mit ihren Schülern gerne an Stationen und binnendifferenzierend. In Deutsch würde sie zu einem Text immer mehrere unterschiedliche Arbeitsblätter anbieten (dabei sei ein Mindestmaß von ihrer Seite aus klar formuliert) und für die, die mehr lernen wollten, hätte sie immer ein Angebot bereit. Das Lernen von Selbstkontrolle (Schüler suchen ihre eigenen Fehler, sie kontrolliert) und die Diagnose (Auflistung von Problemfeldern und Empfehlungen) gehörten ebenso zu ihrem Unterricht. Sie berichtet, dass sie bei ihrem Direktor, der auch Direktor der Hauptschule vor Ort sei, seit geraumer Zeit negativ auffalle, da aus ihren Klassen zu viele Schüler nach der 4. Klasse auf das Gymnasium wechseln würden. <?page no="206"?> 4.4 Exkurs: Der Ausgangspunkt: Pilotgespräche 207 In Bezug auf das Fach Englisch erlebe sie, dass Gymnasiallehrer meist nicht nach den in der Grundschule erworbenen Lernkompetenzen fragten, sondern nur nach den erworbenen sprachlichen Fertigkeiten. Oft würden sie daraufhin Wünsche an die Grundschule formulieren, insbesondere in Bezug auf ein intensiveres Schreiben. Mit dem Lehrplan oder den Lehrwerken für die Grundschule würden sie sich im Allgemeinen nicht befassen. Im Fokus stünde die Stofffülle und ein „Lernen ohne Ende“ sowie unter Zeitdruck nach der Grundschule das Versäumte „schnell nachlernen“ und dann angesichts G8 „schnell weiterlernen“. Zusammenfassend: Während also die Spannbreite der Reaktionen recht groß war, ließen sich doch allgemeine Tendenzen herauskristallisieren: • Im Allgemeinen wurde das Thema der LA positiv aufgenommen und mit selbstständigem Lernen und selbstständigem Kommunizieren definiert, wobei auf den Sprachbegriff und das sprachliche Kommunizieren nicht weiter differenzierend eingegangen wurde. • Mit dem Begriff der LA wurde immer wieder der Bereich der Selbstkontrolle, insbesondere im Bereich der Grammatik, und bisweilen den der Lerntechniken in Zusammenhang gebracht. Uneins war man sich, ob den Schülern die Lösungen zu Selbstkontroll-Aufgaben direkt in Selbstverantwortung dazu gegeben werden sollten. Allgemein sah man darin eine gute Vorbereitung auf Klassenarbeiten. Nicht erwähnt wurde, ob die Klassenarbeiten das Thema der LA aufnehmen, indem mit Wörterbüchern, Medien oder Hilfen zur Grammatiküberprüfung gearbeitet werden kann. • LA wurde auch mit Individualisierung, individuellem Üben und Wiederholen sowie der Förderung von besseren Schülern in Zusammenhang gebracht - und den entsprechenden Materialien. Problematischerweise begrüßte man es, wenn man den Lernenden Arbeitsblätter anbieten konnte, die vertiefend üben und wiederholen wollten oder „schneller mit der Bearbeitung von Aufgaben fertig waren“. • Auffallend war aber auch, dass die meisten Lehrkräfte ohne gezielte Nachfragen nicht sehr viel mehr zum Konzept der LA sagen konnten. Oft hatten sie sich seit dem Referendariat mit der fachdidaktischen Diskussion nur punktuell auseinandergesetzt und auch das Konzept der LA wohl wahrgenommen, sich aber nie strukturiert damit befasst. <?page no="207"?> 208 4 Design der vorliegenden Untersuchung Aus diesem Grund verzichtete ich im Vorfeld der Interviews auf die Entwicklung eines groben Leitfadens zur Struktur-Lege-Technik. Stattdessen entwarf ich auf der Grundlage der rezipierten Literatur zur LA einen groben Leitfaden für das Interview, in dem die unterschiedlichen Bereiche der Unterrichtspraxis systematisch angesprochen und erörtert werden konnten. Dies betraf die Frage, ob und wie die Autonomie der Lerner jeweils gefördert wurde/ wird. Weitere Folgerungen: - Angesichts des übermächtigen Steuerungsbegriffs LA kann eine Lehrkraft diesen zunächst schwerlich in Frage stellen. - In „großen Systemen“ ergibt sich die Notwendigkeit einer kontrollierten Fortbildung und Auditierung von schulischer Innovation. An dieser Stelle setzt die Studie an. 4.5 Die Aufbereitung und Auswertung der Interviews Daten im Überblick: Für die Auswertung der Interviews wurden folgende Daten herangezogen : - von den Interviewten ausgefüllte Fragebögen zu persönlichen Daten - von den Interviewten gelegte Strukturbilder - durch die Forscherin transkribiertes Audiomaterial der ersten und zweiten Gespräche - handschriftliche Protokoll-Notizen und Postskripte der Forscherin - schriftliche Antworten der Interviewten auf zusätzliche Fragen, die sich bei der Transkription ergeben hatten - schriftliche Evaluation der Einzelfalldarstellungen durch die Interviewten Zusätzliche Dokumente: selbst erstelltes Unterrichtsmaterial (im Fall von MHL). 1. Phase 2. Phase 3. Phase Interview Gespräch mit SLT Transkription und Evaluation Fragebögen Strukturbilder Transkription des Audiomaterials in MS Word <?page no="208"?> 4.5 Die Aufbereitung und Auswertung der Interviews 209 Audiomaterial von Interview und Kärtchenabfrage Audiomaterial vom Gespräch mit SLT schriftliche Antworten auf Nachfragen handschriftliche Protokoll- Notizen und Postskript handschriftliche Protokoll- Notizen und Postskript schriftliche Evaluation der Einzelfalldarstellungen eigenes Unterrichtsmaterial (von MHL) Tab. 1: Daten und ihre Verortung Daten, ihre Aufbereitung und Quellenangaben: Bei der Transkription der Audiomaterialien wurden im Sinne einer „zielführenden Genauigkeit“ (Schramm 2016: 218 f.) folgende nonverbale Faktoren berücksichtigt bzw. Konventionen benutzt: • nonverbale Äußerungen: in runden Klammern und kursiv, z.B.: (lacht) • Betonungen: unterstrichen, z.B.: ist das Zentralste • Erläuterungen der Forscherin: in eckigen Klammern, z.B.: die [Kinder] nicht zu verlieren • Auslassungen der Forscherin: drei Punkte in eckigen Klammern: […] • undeutliche Stelle: Fragezeichen in eckigen Klammern: [? ] Alle Namen wurden geändert, um Anonymität zu gewährleisten. Quellenangaben: Aus den Audiomaterialien und den persönlichen Evaluationen wird zum Teil umfassend zitiert, und zwar unter Hinweis auf die Person (Pseudonym), die Art der Quelle und den Zeitpunkt. Dabei steht - „I“ für das Interview (erstes Gespräch), - „SL“ für das Gespräch mit Strukturbild-Legung (zweites Gespräch) und - „E“ für die nachträgliche persönliche Evaluation durch den Interviewpartner in Bezug auf die niedergeschriebene Einzelfalldarstellung. „MHL, I, 6/ ’07“ steht somit für: Monika Hellweg-Lenz (Pseudonym), Interview (erstes Gespräch), im Juni 2007. „MHL, SL, 7/ ’07“ bedeutet: Monika Hellweg-Lenz (Pseudonym), Gespräch mit Strukturbild-Legung (zweites Gespräch), im Juli 2007. „MHL, E, 9/ ’08“ heißt: Monika Hellweg-Lenz (Pseudonym), persönliche Evaluation, im September 2008. <?page no="209"?> 210 4 Design der vorliegenden Untersuchung Einzelfalldarstellungen: Zu den Einzelfalldarstellungen wurden die Transkriptionen des Audiomaterials nebst den Daten aus der 1. und 2. Phase (siehe oben) herangezogen. Es gilt bei der Rekonstruktion von Subjektiven Theorien zu analysieren, was und wie etwas thematisiert wird und wie es zu verstehen ist, d. h., welche Grundgedanken bzw. Deutungsmuster, welche strukturierenden Prinzipien den Äußerungen zugrunde liegen (z. B. Caspari 2003; Kallenbach 1996; Wiedemann 1985). Voraussetzung dafür ist nach Davis (1995) eine glaubwürdige und eine an Details und Zitaten reiche Darstellung der Forschungsdaten. „Zentrales Gütekriterium einer validen qualitativen Studie ist demnach deren Glaubwürdigkeit (Mishler 1990), die sich für Außenstehende in der Art der Datenerhebung, der Transparenz des Auswertungsprozesses sowie der Präsentation der Ergebnisse zeigt. […] Die Datenpräsentation in Form von Fallanalysen ist dazu geeignet, den kontextuellen Reichtum der Einzelbeobachtung zu erhalten. Gleichzeitig erlaubt es die fallübergreifende zusammenfassende Darstellung […] zu überindividuellen Erkenntnissen zu gelangen, […].“ (Schocker-v. Ditfurth 2001: 197; Hervorhebung im Original) Bei den Einzelfalldarstellungen handelt sich daher zunächst um, von bestimmten Impulsen ausgehende, detaillierte, deskriptive, mit sehr ausführlichen Zitaten versehene, weitgehend chronologische Darstellungen von Interview und zweitem Gespräch mit Struktur-Lege-Technik. Aussagen, die ausgehend von einem Impuls zu einem anderen früheren Impuls zurückführten, wurden dem früheren zugeordnet. (Zum zunächst deskriptiven und dann analytischen Verfahren siehe z. B. Heinze 1987 und Kallenbach 1996; zum Kriterium der Transparenz der Datenerhebung siehe z. B. Schocker-v. Ditfurth 2001; zur Darstellung von Vielschichtigkeit und Vielperspektivität in Fallstudien siehe Caspari 2016.) Die durch die Impulse gegliederte, sehr ausführliche und nicht wertende Darstellung erwies sich auch als zuträglich für die anschließende Evaluierung durch die Forschungspartner, denn sie konnten sich so ganz der sachlich korrekten Darstellung ihrer Aussagen widmen. (Zur Gefahr, bei kommunikativer Validierung negative Gefühle bei den Forschungspartnern auszulösen, siehe Viebrock 2007.) Die anschließenden Evaluationen durch die Gesprächspartner ermöglichten es mir außerdem, präzisierende Fragen zu stellen, die sich bei der Transkription ergeben hatten. Siehe auch das Fazit von Kallenbach 1996, oben, zur SLT mit dem Hinweis, dass zwischen den beiden ersten Gesprächen im Normalfall nur eine kurze Zeitspanne liegt, so dass die Transkription erst im Nachhinein erfolgen kann. Die zusätzlichen Antworten und Informationen sowie die Evaluationen der Gesprächspartner wurden von mir berücksichtigt und den Einzelfalldarstellungen hinzugefügt. <?page no="210"?> 4.5 Die Aufbereitung und Auswertung der Interviews 211 Die abschließende Evaluation der Einzelfalldarstellungen durch die Interviewten selbst war nicht nur eine validierende Maßnahme, sondern ist auch im Zusammenhang einer verantwortungsbewussten Forschungsethik zu sehen: „Im Hinblick auf das forscherseitige Nehmen ist beispielsweise zu reflektieren, dass es angesichts der von den Forschungspartnern investierten Zeit und Mühe nicht gerechtfertigt erscheint, Daten zu erheben, die anschließend nicht ausgewertet werden. Auch wird immer häufiger thematisiert, dass die Forschungspartner (und nicht wie bisher zumeist der Forschende) als Eigentümer der Daten zu konzeptualisieren seien und ihnen damit das Recht der Auswahl von Daten für Analyseprozesse zukomme.“ (Legutke & Schramm 2016: 109) So bat mich z. B. AK, bei Zitaten ihren schwäbischen Akzent ins Hochdeutsche zu übertragen, siehe unten. Auf dieser verschriftlichen Basis der validierten Einzelfalldarstellungen konnten die Grundgedanken eines jeden Interviewten zum Konzept der LA individuell herausgearbeitet werden. Der Grundgedanke bzw. das Deutungsmuster gibt der Subjektiven Theorie Kohärenz und hat je nach Stärke der argumentativen Einbettung in das Gefüge der geäußerten Gedanken eine unterschiedliche Reichweite. Neben der Schilderung persönlicher Erfahrungen, der eigenständigen Entwicklung eines Gedankens, der häufigen Wiederholung eines bestimmten Themas oder verwendeter Begriffe sind (meist unbewusst gebrauchte) Metaphern Indikatoren für Grundgedanken bzw. Deutungsmuster (vgl. Caspari 2003; Kallenbach 1996; Flick 1995; Wiedemann 1986). Diese wurden bei der individuellen Analyse mit und neben Verfahren der Sequenzanalyse (detaillierte chronologische Analyse des Textes in kleinen Textabschnitten) systematisch herangezogen, ebenso die Strukturbilder. (Zum Verfahren der Sequenzanalyse siehe z. B. Caspari 2003: 109-113; m. R. Südmersen 1983, Bovet 1993). Anders als bei Kallenbach (1996: 99) spielten die Strukturbilder bei der Auswertung eine wichtige Rolle, da sie eine eigenständige, zusammenfassende, monologische Ausführung zum Konzept LA auslösten und damit zentrale Aussagen und introspektive Daten lieferten. Vergleichende Zusammenschau: Im Anschluss an die Einzelfallbetrachtungen wurden für die fallübergreifende Zusammenschau die Befunde der Einzelfälle detailliert und in tabellarischer Form vergleichend zusammengestellt, und zwar anhand der übergeordneten Kategorien, an denen sich die Impulse in den Interviews orientierten. Um die Belastbarkeit und Trennschärfe der Kategorien und eine korrekte Zuordnung sicherzustellen, erfolgten qualitätssichernd mehrere Durchgänge durch jede <?page no="211"?> 212 4 Design der vorliegenden Untersuchung Einzelfalldarstellung (zur Notwendigkeit von Korrekturschleifen siehe Burwitz- Melzer & Steininger 2016 und Kuckartz 2012). Im Sinne einer Datentriangulation wurden dann die direkt zueinander in Beziehung gesetzten Daten ausgewertet (tabellarische Übersichten bezüglich der grundlegenden Gedanken der Interviewpartner über Verständnis, Stellenwert und ihre Sicht auf die Umsetzung von LA im eigenen Unterricht und hinsichtlich ihrer Sicht auf die LA und auf weitere spezielle Aspekte ihres eigenen Unterrichts). Rückgriffe der Interviewten auf frühere Impulse oder über den Impuls hinausgehende Ausführungen wurden bei den entsprechenden übergeordneten Kategorien verortet. Die vergleichende Zusammenschau und ihre Ergebnisse eignen sich zum Vergleich mit Ergebnissen aus anderen relevanten Studien, um daraus wiederum allgemeingültigere Schlussfolgerungen ziehen zu können. Da das aus der Praxis zu betrachtende Konstrukt der LA sowohl einen komplexen als auch in der wissenschaftlichen Forschung fundiert analysierten Bereich darstellt, wählte ich somit eine qualitative Inhaltsanalyse mit deduktivem Ansatz. Im nachfolgenden Schritt erfolgte im Hinblick auf die Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens ein Vergleich zwischen der fallübergreifenden Zusammenschau und den Ergebnissen aus der fachdidaktischen Forschung. Die Suche in MS Word wurde unterstützend herangezogen. Die Zusammenschau soll einerseits Rückschlüsse in Bezug auf die Definition des Konstruktes LA ermöglichen und andererseits Anhaltspunkte für eine optimierte Lehreraus- und -fortbildung aufzeigen. <?page no="212"?> 4.5 Die Aufbereitung und Auswertung der Interviews 213 Teil III Einzelfalldarstellungen <?page no="214"?> 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ 1.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie MHL ist zum Zeitpunkt des Interviews (2007) 50 Jahre alt und Lehrerin für Französisch und Deutsch. Von 1983 bis 1984 absolvierte sie ihr Referendariat und arbeitete anschließend bis 1987 aufgrund eines Lehrerstellenmangels vertretungsweise in verschiedenen Nebenlehrerstellen. Es folgte die Geburt von drei Kindern und eine Elternzeit bis 1999, während der sie an der Volkshochschule Französisch unterrichtete. Seit 2001 arbeitet sie an ihrem jetzigen Gymnasium, das ein sprachlich-naturwissenschaftliches Profil hat und in einer Mittelstadt liegt. Ihre Unterrichtserfahrungen in Französisch beziehen sich auf die 2. Fremdsprache (Klassen 6 bis 11), wobei sie zum Zeitpunkt des Interviews eine 6. und eine 10. Klasse unterrichtet. An ihrem Gymnasium ist sie für die Organisation des Schüleraustausches mit der Partnerstadt in Frankreich verantwortlich. MHL kann sich an ihre beiden Französischlehrer und deren Unterricht Mitte der 70er Jahre noch gut erinnern. Ihre erste Lehrerin, eine Französin und „ganz strenge Lehrerin“ (MHL, I, 6/ ’07), legte größten Wert auf die Aussprache und ließ immer wieder nachsprechen. Danach wurde MHL bis zum Abitur von einem „alten deutschen Lehrer“ (MHL, I, 6/ ’07) unterrichtet, der sich fortwährend zum Ziel setzte, mit seiner Klasse eine ganze Stunde nur Französisch zu reden, dies aber nie durchhielt. Der Französischunterricht war bis zum Abitur geprägt von Diktaten und Übersetzungen ins Deutsche, die Übersetzung von Sachtexten nahm zum Abitur hin deutlich zu. Die einzige Lektüre, an die sie sich noch erinnern kann, ist der Petit Prince . Da es sich um einen spät beginnenden Einstieg ab Klasse 9 handelte und die Schüler Latein als erste Fremdsprache gelernt hatten, konnte der Unterricht, so MHL, als „grammatikalischer Intensivkurs“ durchgezogen werden. „MHL: Ich hab’ mit Latein begonnen und von daher konnte man das Französische noch ganz anders grammatikalisch aufziehen, als es heute wahrscheinlich der Fall ist. […] Man hatte eigentlich in zweieinhalb Jahren hatte man die Grammatik durch.“ (MHL, I, 6/ ’07) Während ihr der Anfängerunterricht noch ganz gut gefiel, empfand sie das Fach später als langweilig. Mit 17 machte sie dann einen vierwöchigen Cours d’été an der Université de Lyon, wodurch nicht nur ihre Noten, sondern auch die Mo- <?page no="215"?> 216 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ tivation für das Fach entscheidend gesteigert wurden. Sie studierte schließlich Französisch, weil sie Frankreich als das Ferienland überhaupt kennengelernt hatte („Rucksackreisen nach Südfrankreich“, „Weinernte“) und die französischen Chansons liebte. In Bezug auf ihre Motivation für Französisch meint sie: „Also, es war sicher nicht der Schulunterricht.“ (MHL, I, 6/ ’07) Ihren Lernprozess hinsichtlich des Französischen sieht MHL als „kontinuierlich“ an. Sie lerne weiter durch die Organisation des Schüleraustausches, die Lektüre der Revue de la Presse (aus Zeitgründen schaffe sie nur das eine Heft pro Monat und keine weiteren französischen Zeitungen oder Zeitschriften) oder erstmals durch eine internationale fachdidaktische Fortbildung für Lehrkräfte in Frankreich in den anstehenden Sommerferien. Ursprünglich hatte MHL keineswegs vor, Lehrerin zu werden. Zusätzlich zu Französisch und Deutsch wollte sie Pädagogik studieren, erhielt dafür aber keinen Studienplatz. Sie studierte dann ausschließlich Französisch und Deutsch (1976-1982, einschließlich zweier Studiensemester in Frankreich 1978/ 79) und legte am Ende anstatt eines Magisterabschlusses doch das Staatsexamen ab, da sie sich dadurch mehr berufliche Perspektiven erhoffte. Ihr Referendariat begann sie Anfang 1983. Der Start in den Lehrerberuf entwickelte sich letztendlich anders als erwartet. „MHL: Wobei das Staatsexamen ja für unsere Generation auch in den Sand gesetzt war. Also, ich hab’ dann auch keine Stelle bekommen nach dem Referendariat. Ich hab’ also, 84 war ich mit dem Referendariat fertig, und dann hab’ ich so Vertretungen gemacht an Schulen, Nebenlehrertätigkeiten, und nach vier Jahren hab’ ich den Beruf an den Nagel gehängt und hab’ Kinder bekommen. Also, ich war nicht verbeamtet damals. CW: Und dann sind Sie wann wieder zurückgekommen? MHL: ’99. Und da zwischendrin hab’ ich an der Volkshochschule Französisch unterrichtet. CW: War das schwierig, so lange ausgesetzt zu haben? MHL: Ähm, nein, ähm, nein. Ich, ich hab’ das vielleicht sogar gebraucht. Also, für mich persönlich war es so, dass ich nach dieser langen Pause sehr viel erfolgreicher und glücklicher an der Schule war als vorher. Wahrscheinlich die eigenen Kinder machen da was aus und einfach Lebenserfahrung. Und auch, und natürlich auch, ähm, ’en anderen Status an der Schule als …, als …, es hieß ja Nebenlehrerin, was ich damals gemacht hab’ also nach …, in diesem Jahr, ’84 bis ’87 ungefähr. Ja, ich war da Nebenlehrerin und das war’ immer nur einige Monate. Also, bis …, einmal war’s ’en knappes Schuljahr. Aber irgendwo rein und mit elf Stunden und dann wieder eine andere Schule, das fand ich ausgesprochen schwierig.“ (MHL, I, 6/ ’07) An dieser Stelle zeigt sich, dass MHL der Status als hauptamtliche und verbeamtete Lehrerin in ihrer Lehrerbiografie sehr wichtig war und ist. Ihre Rolle <?page no="216"?> 1.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie 217 und Aufgabe als Lehrerin sieht sie zunächst in der Vermittlung von Fachwissen, dann in der Vorbildfunktion und nicht zuletzt in dem zentralen Bemühen, die Kinder nicht zu verlieren. „CW: Was denken Sie denn, was ist das Wichtige an der Rolle Lehrer? Was, was kommt Ihnen da so als Erstes in den Sinn, die Rolle des Lehrers? MHL: Ja, also die Vermittlung von Fachwissen, Fremdsprachen in diesem Fall natürlich. Also das, würd’ ich sagen, steht schon an erster Stelle, zumindest was zeitliche Verteilung anbetrifft. Und dann würd’ ich sagen Vorbildfunktion, ähm, Vermittlung von Regeln und Werten (lacht). Schwierige Frage, ja. Und wenn ich jetzt da näher hingeh’, würd’ ich sagen, für mich ist es schon sehr wichtig, also, ich arbeite dran eigentlich, äh, zu sehen, dass man nicht die Kinder verliert, auch nicht im Gymnasium. CW: Nicht die Kinder für Französisch verliert oder insgesamt? MHL: Insgesamt für die Schule. Aber Französisch spielt ja in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Also, wenn die Kinder die Schule verlassen müssen, ähm, hat das Fach Französisch sehr oft Anteil dran. Mathematik und Französisch, die beiden Fächer sind’s oft.“ (MHL, I, 6/ ’07) Sie sieht es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, dafür zu sorgen, dass ihre Schüler Vokabeln lernen, eine grundlegende Voraussetzung für deren schriftliche Leistungen, die über die Schulkarriere entscheiden. Neben dem Elterngespräch ist das Üben mit dem (schulintern erstellten) Vokabeltrainer für MHL der beste Weg, um ihre Schüler dahin zu bringen. Er motiviere die meisten ihrer Schüler und gewährleiste eine korrekte Kontrolle. „CW: Was tun sie da, um die [Kinder] nicht zu verlieren? MHL: Ähm, also, ich hab’ jetzt zum Beispiel ’ne 6. Klasse. Ähm, und ich versuch’ zum Beispiel, ähm, wenn ich merke, dass die ihre Wörter nicht lernen, und das ist eigentlich das Zentralste, ist das Zentralste. Also, ich ruf ’ die Eltern an, ähm, schildere ihnen die Situation und die Bedeutung, also einfach für das ganze weitere Schulleben, eigentlich für die Schulkarriere, ähm, des Wörterlernens. Und ich hab’ auch einen privaten Vokabeltrainer auch hier an der Schule installiert. […] CW: Aha, und da arbeiten die Schüler selbstständig mit? MHL: Ähm, ja. […], aber eigentlich hat man immer zu wenig Zeit, sonst würd’ ich noch mehr Stunden, Übungsstunden, damit machen in der Schule. Und ich bestell’ auch die Schüler zum Arrest, und da müssen sie auch damit arbeiten. CW: Was bedeutet das, wenn sie die zum Arrest bestellen? MHL: Ja, zum Beispiel sag’ ich, wer im Wörtertest ’ne 5 schreibt, muss kommen und Vokabeltrainer üben. Ähm, eine Stunde lang. Und zum Teil muss ich das selber beaufsichtigen, wobei wir auch Zeiten haben, wo die am Computer sind in der Mittagspause. Und es gibt einen Lehrer, der hier Runde dreht, und einfach die Schüler, also in <?page no="217"?> 218 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ der Mittagspause einfach guckt, dass Ordnung ist hier im Schulhaus. Der guckt nach den Schülern dann. Dann müssen sie sich bei ihm melden, am Anfang und am Ende. CW: Und wie machen, wie erfahren die Kinder das, dass sie …? MHL: Ich finde, dass … Es gibt natürlich ganz verschiedene Lerntypen. Also, jetzt hab’ ich zum Beispiel, ein Mädchen hat mir gesagt: ‚Ich mag das gar nicht, den Vokabeltrainer, und ich möchte lieber die Wörter fünf Mal abschreiben.‘ Und dann hab’ ich das erlaubt. Ähm, aber ich hab’ zum Beispiel da vier Jungs, die sind …, also, drei davon sind sehr gefährdet. Einer wird von den Eltern eigentlich so gut wie nicht, ähm, betreut. Die haben ein Restaurant, die können sich nicht um ihn kümmern, die haben einfach keine Zeit. Ähm, und einer, einer der ist so hyperaktiv und wahnsinnig schlampig, was die Hausaufgaben betrifft. Und dann noch mal so ’n ähnlicher Fall. Und, und diese Jungs, die gehen ganz befriedigt raus, wenn sie den Vokabeltrainer probiert haben. Also, die sind wirklich, die, die haben dann das Gefühl, jetzt hab’ ich’s gelernt.“ (MHL, I, 6/ ’07) Der Austausch mit Kollegen in anderen Fächern findet am ehesten im Fach Deutsch statt, kaum im Fach Englisch. Von den Kollegen im Fach Deutsch erwartet sie, dass diese Grammatik wie Dativ und Akkusativ, die Satzteile, die Wortarten oder die Zeiten mit den Schülern erarbeiten. Häufig stellt sie fest, dass diese Kenntnisse aber bei den meisten Schülern nicht vorhanden sind. In diesen Fällen führt sie selbst zuerst die deutsche und dann die französische Grammatik ein. Zusammenfassend: MHL erfuhr als Französischlernerin einen Unterricht, der geprägt war von Grammatik, Übersetzungen, Diktaten und Nachsprechen; während der gesamten Dauer einer Schulstunde gelang die reine Kommunikation auf Französisch nie. Ihre Motivation für das Französische basiert nicht auf dem erfahrenen Unterricht als Schülerin, sondern auf den Erlebnissen während ihrer Frankreichaufenthalte. Diese nutzt sie weiterhin für ihren eigenen Lernprozess, den sie als nicht abgeschlossen ansieht. Sie selbst versteht sich als Lehrerin in einer Vorbildfunktion (vgl. Lambert und Gardener, oben) und als Vermittlerin von Fachwissen. In ihrem Bemühen, die Kinder leistungsmäßig nicht zu verlieren, achtet sie konsequent darauf, dass diese gründlich Vokabeln lernen. Von ihren Deutschkollegen erwartet sie die Vermittlung von Grammatikkenntnissen, muss sie aber oft selbst mit ihren Schülern erarbeiten. <?page no="218"?> 1.2 Analyse des Interviews 219 1.2 Analyse des Interviews MHL war aus Kollegialität ihrer Kollegin gegenüber, die ich um einige Gesprächskontakte gebeten hatte, zum Interview mit mir bereit. Schon beim telefonischen Erstkontakt (wir waren uns beide gegenseitig nicht bekannt) zeigte sie sich sehr freundlich; beide nachfolgenden Gespräche verliefen in einer konstruktiven und offenen Atmosphäre, in der sie sich bemüht zeigte, zu den von mir angesprochenen Punkten Auskunft zu geben. Das erste Interview fand im Juni 2007 im Anschluss an ihren Unterricht an ihrer Schule statt und dauerte circa 1,5 Stunden. Das 2. Gespräch erfolgte nach gut zwei Wochen (nachdem ich die Aufnahme des Interviews ausgewertet hatte) ebenfalls an ihrer Schule und sollte sich ursprünglich auf die Validierung des von mir Verstandenen anhand der Struktur-Lege-Technik konzentrieren. Da allerdings Teile des Interviews zu den Lernertypen und Lernerstrategien sowie zum Fremdsprachenlehrer und zur Perspektive der LA aufgrund einer Akku-Schwäche bei meinem Aufnahmegerät nicht aufgenommen worden waren, nutzte ich die Möglichkeit, ebendiese Fragen im ersten Teil des zweiten Gespräches noch einmal zu stellen und aufzunehmen. MHL war gerne bereit, ein zweites Mal zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Zitate aus diesem 2. Teil des Interviews werden mit „I, 2. Teil“ gekennzeichnet. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von MHL a) LA Auf meine Frage nach ihrer Definition von „LA“ antwortet MHL mit einer Beschreibung, wie LA in der Praxis des Anfangsunterrichts in der Klasse 6 beginnt, und zwar „mit ganz kleinen Schritten“. Dazu gehören das gemeinsame Nachsprechen im Chor, die Partnerarbeit mit dem Buch, die Arbeit mit dem Cahier und das Stationenlernen mit Lösungsblättern, insbesondere als Vorbereitung auf eine Klassenarbeit. „MHL: Ja, also, das beginnt mit ganz, ganz kleinen Schritten, dass zum Beispiel, also, eine Übung im Buch einfach zuerst zu zweit ausprobiert wird und vielleicht nachher noch mal im Plenum besprochen wird. Also, das ist vielleicht die kleinste … Oder dass ich, ähm, einen Text vorlese und alle müssen ihn nachsprechen im Chor. Ich mach’ das immer, weil da hab’ ich zwar nicht die Kontrolle, ich hör’ da nicht, ob sie’s richtig sagen, aber zumindest weiß ich, jeder Schüler hat den Text einmal laut gelesen. Also, deshalb mach’ ich das. Auch wenn es so altmodisch ist. Und man kann’s auch den Schülern erklären, also, das ist vermittelbar als Methode. Ähm, ja, dann, äh, etwas größere Sache, äh, man kann sie ja … Also die Cahiers, das Cahier d’activités ist <?page no="219"?> 220 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ ja eigentlich so konzipiert, dass die Schüler selbstständig damit arbeiten. Ähm, das ist dann schriftlich selbstständig. Ja, ähm, und ich mache auch zum Beispiel vor den Klassenarbeiten immer eine Übungsstunde, wo ich den Schülern so Stationen, Lernstationen, gebe und die Lösungen gedruckt ihnen dann zur Verfügung stelle, wo sie sich selber kontrollieren müssen. CW: Machen Sie das vor Klassenarbeiten speziell oder auch zwischendurch? MHL: Ja, meistens hab’ ich nur Zeit vor Klassenarbeiten. Das ist eine Zeitfrage, sonst wär’ das auch zwischendurch sinnvoll. Vielleicht manchmal, ab und zu, aber eher nicht.“ (MHL, I, 6/ ’07) MHL unterscheidet zwischen mündlicher und schriftlicher Selbstständigkeit und der selbstständigen Kontrolle. Eine Methode wie das gemeinsame Nachsprechen wird von ihr als altmodisch, aber brauchbar auf dem Weg zur LA eingestuft, vor allem wenn der Sinn den Schülern vermittelbar ist. Auch der Zeitaspekt spielt eine wichtige Rolle, denn für das Stationenlernen findet sich nur vor Klassenarbeiten Zeit. Der Bereich der Metakognition wird von MHL nicht erwähnt, ebenso wenig geht sie auf die Konstruktion der Arbeitsblätter für das Stationenlernen ein. Aufgrund meiner weiteren Fragen zum Wörtertest und zu den Lerntechniken zum Wörterlernen (siehe unten) sandte MHL mir die dazu entsprechenden Arbeitsblätter zu (Wörtertests, „Vokabeln lernen - aber wie? “, „Arbeiten mit der Lernkartei“), ergänzend noch ein Arbeitsblatt zur Vorbereitung auf eine Klassenarbeit. Der Aspekt der Förderung von LA ist für MHL anderen Aspekten, wie dem des gesteuerten Unterrichts, nebengeordnet. „MHL: Also, ich denk’, ein guter Unterricht muss eine Mischung aus sehr gesteuertem und selbstständigem Unterricht sein. Und zu welchen Teilen da gemischt wird, das hängt auch sehr von der Klasse ab. Also, ich frag’ ja die Schüler dann auch immer ab [Hervorhebung, CW]: ‚Profitiert ihr von dieser Methode? ‘ Und so. Ich hab’ zum Beispiel in der 9. Klasse eine Schülerin gehabt, die hat immer gesagt: ‚Mir gefällt das nicht. Ich will gern, dass Sie das an der Tafel machen und mit uns besprechen.‘ Ja, es war aber in dieser Klasse, die einzige, die anderen haben das gut gefunden. Und man muss auch vorsichtig sein. Ich hab’ zum Beispiel in der 6., also jetzt bei den Kleinen, ähm, gemerkt, dass eine Schülerin was falsch aufgeschrieben hatte bei diesen Stationen. Und als ich ihr die Lösung gegeben hab’, hat sie nichts verbessert. Und dann sagte ich, ähm, also, ich hab’ das erst nachher … Dann hatt’ ich die Lösung wieder abgegeben, und nachher hab’ ich in das Heft geguckt und sag’: ‚Das ist doch falsch.‘ ‚Nein‘, sagt sie, ‚das ist richtig. Das steht so in der Lösung.‘ Und sie hat es nicht gesehen. CW: Aha. <?page no="220"?> 1.2 Analyse des Interviews 221 MHL: Ja, das Vorurteil, wie das sein muss, war so groß, dass sie das nicht gesehen hat, dass das anders da steht. Also, deshalb sag’ ich, man muss vorsichtig sein und vor allem am Anfang schon auch noch sehr viel begleiten die Kinder.“ (MHL, I, 6/ ’07) Wie stark LA ausgeprägt ist, hängt zum einen von den Rückmeldungen einer Klasse ab. Hier versichert sich MHL durch Rückfragen bei den Schülern, ob diese eine „Methode“ als sinnvoll erleben. MHL erwähnt nicht, ob sie nach Gründen oder sprachlichen Beispielen fragt, warum bzw. wo die Schüler von selbstständigen Arbeitsphasen profitiert haben oder nicht. Konflikte können dann entstehen, wenn die Antworten der Schüler „nicht homogen ausfallen“. Zum anderen betrachtet MHL den Anfängerunterricht gesondert. Hier erlebt sie, gerade wenn die Schüler noch nicht in der Lage sind, sich selbst zu kontrollieren, die Notwendigkeit, diese noch viel zu begleiten. In Bezug auf den Anfängerunterricht in der 6. Klasse ist es ihr vor allem sehr wichtig, dass viel gesprochen wird. Sie bildet dabei am liebsten kleine Gruppen, möglichst Zweiergruppen, damit die „Aussprache“ besser kontrolliert werden kann. Hier arbeitet sie auch gerne mit Materialien wie der Handpuppe, Realien, Bildern und Filzmaterialien, die im Gegensatz zu den Folien beweglich sind und mit denen sich immer wieder neue Sprechanlässe herstellen lassen. Sie lässt die Schüler mit diesen Materialien handeln, spielen und dazu sprechen, denn durch Sprachhandlungen ist der Behaltenseffekt ihrer Meinung nach bei den Schülern am höchsten. Das selbstständige Sprechen ist aber auf dieser Stufe noch sehr begrenzt und erschöpft sich meist in dem Umgang mit fertigen Satzbaumustern. Während sie in der 6. Klasse noch neue Texte wortschatzmäßig an der Tafel vorentlastet, lässt sie in der 8. und 9. Klasse neue Texte zunehmend von den Schülern selbst erarbeiten. Sie gibt den Schülern dazu Aufgaben wie: Worterklärungen finden, den Text gliedern, einen Fragenkatalog beantworten oder den Text nach einem Schema entschlüsseln und die Arbeitsergebnisse präsentieren. „MHL: Ja, also, was die, was das Texterschließen betrifft, äh, würd’ ich auf jeden Fall sagen, äh, die Autonomie nimmt einfach zu mit, äh, mit den Jahren, ähm, wo man Französisch lernt.“ (MHL, I, 6/ ’07) Language awareness spielt für sie lediglich im Hinblick auf die deutsche Grammatik und ihre Beherrschung durch die Schüler eine Rolle. Sie greift damit auf die ihr aus ihrer eigenen Schulzeit bekannte Grammatik-Übersetzungs-Methode zurück. Gleichzeitig betont sie aber, dass sie hiermit nur einen Teil der Schüler erreichen kann. Schwache Schüler lässt sie Sätze auswendig lernen, da diese nicht in der Lage seien, aufgrund von Regeln Sätze selbstständig zu konstru- <?page no="221"?> 222 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ ieren. Damit verzichtet sie auf die für die LA so wichtigen Aspekte der Transparenz, Förderung von Sprachlernkompetenz und Reflexion. „MHL: Ja, also, ich hab’ ja schon vorher das mit dem Dativ und Akkusativ gesagt. Ähm, also, ich hab’ jedenfalls immer diese Phase, in der es bewusst gemacht wird und die Schüler das ins Grammatikheft reinschreiben und dann auch auf Deutsch erklärt wird: ‚Was ist das grammatikalisch? ‘ Und, ähm, das ist aber …, da kommt man nicht an alle Schüler heran damit. Manche ja, also, und manche nicht. Und die, an die man nicht heran kommt, mit denen muss man einfach Sätze auswendig lernen. Ähm, also, ich hab’ deshalb, das kann ich Ihnen mal zeigen. Sie haben ja in dem gelben Buch, in dem gelben Teil, der vocabulaire, stehen Sätze drin und ich übersetze diese Sätze für meine Schüler auf Deutsch. Und die kriegen das immer und ich verlange es auch. Das müssen sie können beim Wörtertest oder bei der Arbeit. Und ich glaube, das ist für die schwachen Schüler ’ne gute Methode, weil das Problem bei diesen Sätzen, die sind bei den Schülern extrem unbeliebt. Und ich glaube, das Problem ist das, dass sie gar nicht wissen, auf welche Art sollen sie das lernen. […] Und ich glaube, wenn man in der 6. Klasse anfängt, ähm, ist es noch, noch mehr so, ähm, dass sie die Wörter nicht selbst zusammen bauen können zu Sätzen. Manche können es auch ganz gut und können die Regeln anwenden, aber eben nicht alle, ja.“ (MHL, I, 6/ ’07) In dem Bereich des freien Sprechens und Schreibens erlebt MHL die größten Schwierigkeiten, ihre Schüler zur Autonomie zu führen. Hier sieht sie am längsten die Notwendigkeit der Kontrolle durch die Lehrkraft. Durch die Bildung von kleinen Konversationsgruppen versucht sie, ihre Schüler auf den Weg zu bringen. „MHL: Also, Sie meinen, also Ausdrucksfähigkeit, ähm, ja, ähm. Das ist schwierig. Da, da find’ ich, das ist vielleicht der Bereich, in dem ich’s am schwierigsten finde, tatsächlich die, die Schüler selbst machen zu lassen. Bei Grammatikübungen, können sie selbstständig machen, man kann das kontrollieren. Vokabeln lernen können sie selbstständig. Ähm, Texte, also Texte lesen, das reine Lesen, da können sie sich gegenseitig kontrollieren. Das ist natürlich nicht perfekt, aber das geht auch. Aber tatsächlich, sagen wir mal Text, also Sätze zu formulieren, die, die sie vielleicht so noch nicht gekannt haben, da glaub’ ich, braucht man am längsten die Kontrolle des Lehrers. Das, äh, man könnte sie zum Beispiel in Partnerarbeit nach Satzmustern arbeiten lassen, das geht auf jeden Fall. Aber je freier das wird, desto schwieriger wird es. Ähm, ich mach’ es übrigens so, ähm, eigentlich als, als Festigung einer Lektion, das hab’ ich jetzt neu gemacht in dieser 6. Klasse und die ist auch bisher nicht zu groß, das sind nur zwanzig Schüler. Ähm, ich lasse also die Klasse, hm, im Cahier arbeiten und nehm’ mir fünf Schüler heraus, mit denen ich mich unterhalte. Ja, und über die Lektion oder manchmal übt man dann auch négation oder probiert ’nen kleinen <?page no="222"?> 1.2 Analyse des Interviews 223 Transfer, also: ‚Was hast du für Hobbys? ‘ Kommt ja dann zum Beispiel, also so was, einfach das conversation, ähm, das mach’ ich dann in noch ’ner kleineren Gruppe, die ich einfach ’rausgreife und die anderen Schüler werden so lang’ beschäftigt.“ (MHL, I, 6/ ’07) MHL steckt sich eher kleine Ziele auf dem Weg zur LA. Im Kern steht für sie das selbstständige Formulieren auf Französisch, und sei es nur die Bildung eines einzigen Satzes. Sie formuliert das so: „MHL: Man muss ja überlegen: Was heißt das eigentlich ‚begreifen‘? Ich kann ja nicht ein französisches Wort in die Hand nehmen. Äh, es heißt eigentlich, denk’ ich, dieses Wort in Sätze einbauen und verwenden. Ja, das, das versuch’ ich schon. Äh, das versuch’ ich schon. Ähm, ich geb’ Ihnen ein kleines Beispiel. Ähm, wir haben heute einen Text gelesen über …, einen historischen Text über eine Schule im Elsass. Und dann haben wir das Vokabular ‚Schule‘, mussten die Schüler ’rausfinden …, das haben wir an die Tafel geschrieben. Und dann hab’ ich gesagt: ‚So jetzt formuliert jeder Schüler einen Satz über diese Schule.‘ Das ist mein, also, das ist ein Ansatzpunkt, wo ich wirklich sage: ‚Jetzt muss jeder Schüler einen Satz formulieren.‘ Und sei es: Dans la salle de classe il y a un tableau. Wenigstens hat dann der Schüler einen französischen Satz an diesem Tag gesagt. Ähm, weil er an vielen Tagen gar keinen sagt, auch nicht, wenn er Französischunterricht hat. […] Aber ist natürlich sehr gesteuert, also, das ist schon sehr gesteuert. Aber die …, es ist insofern autonom, als er formulieren kann, und zwar nicht nach einem Muster, das ihm gegeben wird, sondern er hat nur eine Wörterliste und muss diese Wörter verwenden.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) Die Unterrichtserfahrungen von MHL beziehen sich nur auf Französisch als 2. Fremdsprache. Sie vermutet, dass man bei Französisch als 3. Fremdsprache die Schüler selbstständiger arbeiten lassen könne. Französisch als 1. Fremdsprache würde sie nicht sehr viel anders unterrichten als Französisch als 2. Fremdsprache. Sie begründet dies damit, dass die 2. Fremdsprache mit der Klasse 6 oder gar mit der Klasse 5 nun früher beginne und die Schüler nicht mehr auf so viel Erfahrung in der 1. Fremdsprache am Gymnasium zurückgreifen könnten. Auf den Aspekt der Deutschkenntnisse geht sie an dieser Stelle nicht ein. <?page no="223"?> 224 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Zusammenfassend: LA in Französisch bedeutet für MHL das selbstständige Anwenden der Sprache, sei es mündlich oder schriftlich. Das „Verstehen der Grammatik“ ist für sie dabei eine wichtige Voraussetzung. Bei Schwierigkeiten mit der Grammatik lässt sie Sätze auswendig lernen. Der Weg zur LA erfolgt in kleinen Schritten und ist oftmals durch sie als Lehrerin gesteuert und begleitet, insbesondere im Anfängerunterricht und solange die Schüler nicht in der Lage sind, sich selbstständig zu kontrollieren. Auf dem Weg zur LA werden von ihr folgende Verfahren eingesetzt: Nachsprechen im Chor, Partnerarbeit mit dem Buch, Arbeit mit dem Cahier, Stationenlernen (mit Lösungsblättern), Handeln und Sprechen (am Anfang mit fertigen Satzbaumustern), selbstständige Erarbeitung von Texten und Bildung von kleinen Konversationsgruppen. Die zur Verfügung stehende Zeit kann Auswirkungen auf den tatsächlichen Einsatz dieser Verfahren haben. LA ist für MHL kein zentrales Ziel; sie hat eher die Performanz ihrer Schüler im Blick, die sie so lange wie nötig auch kontrolliert. Das Konzept der LA lässt sich nur sehr punktuell im Unterrichtskonzept von MHL wiederfinden, wenn sie z. B. Phasen der Partnerarbeit, Stationenlernen oder Konversationsgruppen erwähnt, ansonsten herrscht die Kontrolle durch sie als Lehrerin vor. Auf die Aspekte „Sprachlernen“ und „Lernprozess“ geht sie im Zusammenhang mit LA nicht weiter ein. Lernen bedeutet für sie das Speichern im Langzeitgedächtnis und das erfolgt für sie vor allem durch Sprachhandlungen - dadurch, dass man die Schüler viel zum Sprechen bringt. b) Sozialformen MHL versucht eine Mischung aus möglichst allen Sozialformen zu realisieren. Sie erwähnt hierbei: Frontalunterricht (mit Tafelanschrieb), Partnerarbeit, Gruppenarbeit, szenisches Spiel und insbesondere bei den Älteren auch Einzelarbeit in Form von schriftlicher Stillarbeit. Da sie nur noch in Doppelstunden unterrichte, wechsele sie zwischen verschiedenen Sozialformen pro Unterrichtseinheit, allerdings herrsche der Frontalunterricht vor. Sie begründet dies damit, dass sie als Lehrerin die Kompetenz für Französisch besitze. Sprachliche Kompetenz sei wohl eine der Grundkompetenzen eines jeden Fremdsprachenlehrers, auf die weiteren Kompetenzen einer autonomiefördernden Lehrkraft, wie z. B. die Förderung der Sprachlernkompetenz der Schüler, geht MHL allerdings nicht ein. „MHL: Ja, weil ich eben Französisch kann. Und eine Sprache lernt man, indem man sie spricht und hört. Und da bin ich eben die kompetente Frau dafür. Ja.“ (MHL, I, 6/ ’07) <?page no="224"?> 1.2 Analyse des Interviews 225 Als zweitwichtigste Sozialform nennt sie die Partnerarbeit, noch vor der schriftlichen Stillarbeit. Stationenlernen wird punktuell, insbesondere als Vorbereitung auf eine Klassenarbeit, eingesetzt. Diese Sozialformen können wohl förderlich für die Entwicklung von LA sein, finden hier aber nicht in einem selbstbestimmten und reflektierten Rahmen statt, sondern werden unter Anleitung durch MHL ausgeübt. Die Gruppenarbeit sieht sie bis Ende der Mittelstufe und auch noch in der Klasse 11 als zum Teil problematisch an, da sie es nicht erreiche, dass die Schüler miteinander Französisch sprechen würden. Die Aufgabenstellungen werden von ihr selbst vorgegeben. Eher leichte Aufgabenstellungen seien hierbei motivierend für die Schüler, z. B. wenn lediglich französisch-deutsche Wortgleichungen für neue Wörter verlangt würden. Psycholinguistisch wird diese Sozialform durch MHL nicht bewertet. Manchmal bildet sie leistungshomogene Gruppen und hofft, damit schwächere Schüler aus der Reserve zu locken. „MHL: Dann sitzen die [schwächeren Schüler] dabei und tun nichts. Und das ist also eine Möglichkeit, dass man eigentlich mal eine Gruppe mit schwachen Schülern macht, wo nur die drin sitzen. Dann muss einer von denen die Führung übernehmen. Ja, und das geht eigentlich auch, das klappt auch.“ (MHL, I, 6/ ’07) Am Ende der Gruppenarbeit präsentieren die Schüler ihre Ergebnisse. In diese Präsentation greift MHL regelmäßig ein, indem sie Zusatzfragen stellt oder die auf Folie vorgestellten Texte in Hinblick auf Genauigkeit oder Fehler korrigiert beziehungsweise von der Klasse korrigieren lässt. Beim Präsentieren durch eine Gruppe ist ihr besonders wichtig, dass die Schüler der anderen Gruppen den Vortrag verstehen und ihm folgen können. „MHL: Man muss das auch machen, denn sonst hat die, also wenn …, zumindest wenn man arbeitsteilige Gruppen macht, dann muss man sehr viel nacharbeiten, sonst kommt nichts an bei den anderen Schülern. Also, ich hab’ jetzt zum Beispiel eine Lektüre gemacht, Le sac de billes, und hab’ dann, ähm, verschiedene Kapitel mit Arbeitsaufträgen an die Schüler vergeben, zum Beispiel Worterklärungen auf Französisch, résumé, ähm, und, und dann gibt’s da so kleine Fragen, also, diese zu beantworten. Und wenn ich das so laufen lass’, wie die Gruppe das präsentiert, dann hat kein anderer Schüler was davon verstanden.“ (MHL, I, 6/ ’07) Die einzige Sozialform, auf die sie fast ganz verzichtet, ist der Projektunterricht. Gegen Ende des Schuljahres lässt sie bisweilen eine Lektion aus dem Schülerbuch in verschiedene Theaterszenen umsetzen. Ansonsten fehlt für Projekte meist die Zeit. <?page no="225"?> 226 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ c) Aufgaben Aufgaben zur Förderung der LA sind für MHL insbesondere solche, bei denen die Schüler selbstständig einen Text erschließen. Somit gehören Arbeitsaufträge im Rahmen von Gruppenarbeit für sie in diese Kategorie. Hausaufgaben haben für sie einen besonders hohen Stellenwert, auch vor dem Hintergrund des Doppelstundenprinzips. „CW: Und welchen Stellenwert haben die Hausaufgaben für Sie? MHL: Ähm, also, die Hausaufgaben, Wörter lernen, einen riesigen, riesigen, weil das einfach das A und O ist. Das zumindest am Anfang. Später wird’s etwas weniger, ähm. Ja, was jetzt die, die Übungen im Cahier und so weiter betrifft, ähm, sind die auch wichtig. Vor allem ist es jetzt so, wir haben eben Doppelstunden. Ich seh’ meine 6. Klasse nur zweimal in der Woche. Und sie müssen einfach zwischendrin sich auch mit Französisch befassen. Außerdem kriegt man den Stoff nicht unter im Schuljahr ohne Hausaufgaben. Also, auch diese Grammatikübungen sind wichtig. CW: Und das tun die Schüler dann auch, sich zwischendrin selbstständig befassen damit? MHL: Ja, also, die machen ihre Hausaufgaben in der Regel, ja. Aber ich glaube auch nicht … Wir sind jetzt immer wieder dabei, über Wochenpläne nachzudenken. Und, äh, ich glaube nicht, dass die Schüler sich das verteilen. Sie machen’s halt am Nachmittag, am letzten Nachmittag vor der nächsten Französischstunde. CW: Hm. MHL: Leider, ja. Selbst auch bei meinen eigenen Kindern. Man kann sie nicht dazu bringen, dass sie da schon ein bisschen vorher anfangen.“ (MHL, I, 6/ ’07) Hausaufgaben bestehen für MHL insbesondere im Lernen von neuen Wörtern, im Üben von Grammatik und in der Arbeit mit dem Cahier. Sie helfen den Stoff des Schuljahres bewältigen zu können. Angesichts des Doppelstundenprinzips sollten die Schüler sich den Stoff im Laufe der Woche selbstständig einteilen, was aber bislang nicht gelingt. MHL spricht daher mit den Schülern Wochenpläne an, ist aber skeptisch, ob diese ihnen bei der Verteilung der eigenen Arbeit wirklich helfen werden. d) Materialien Materialien, die das autonome Lernen der Schüler fördern, sind für MHL das Cahier oder Materialien zum Stationenlernen. Allerdings geht sie nicht weiter darauf ein, wie diese Materialien, die von den Schülern zumeist einzeln bearbeitet werden, die Autonomie konkret fördern. Sie benutzt auch Materialien zur Wortschatzeinführung im Anfängerunterricht in von ihr selbst angeleiteten intensiv arbeitenden Kleingruppen. Dazu nimmt sie etwa fünf Schüler zur Seite und lässt diese mit den neuen Wörtern selbstständig formulieren. <?page no="226"?> 1.2 Analyse des Interviews 227 „MHL: Oder auch diese Materialien, die ich benutz’ im Anfängerunterricht, um die Wörter einzuführen. Ähm, wenn ich dann so ’ne Gruppe von fünf Schülern herausgreife, mit denen ich besonders intensiv arbeite, dann arbeiten die damit. Aber das ist eigentlich nicht selbstständig. Das ist schon einfach sehr angeleitet. Sie müssen selbstständig formulieren, ja. Ähm, ich weiß nicht, wie weit Ihr Selbstständigkeitsbegriff geht, aber es ist eben dann eine Kleingruppe mit Lehrer, sechs Schüler oder so.“ (MHL, I, 6/ ’07) Die Formulierung „ich weiß nicht, wie weit Ihr Selbstständigkeitsbegriff geht“ könnte ein Hinweis darauf sein, dass MHL an dieser Stelle versucht, ihre Ausführungen nach meinen vermuteten Erwartungen auszurichten. MHL betont, dass sie hier die Schüler noch selbst anleitet. Ansonsten benutzt sie keine besonderen Materialien. „MHL: Und dann mach’ ich halt auch immer, also zum Beispiel bei der Texteinführung, eine Phase ist immer, dass die Schüler sich zu zweit den Text vorlesen. Da braucht man ja keine besonderen Materialien.“ (MHL, I, 6/ ’07) e) Das Französischlehrwerk In Bezug auf ihr aktuelles Französischlehrwerk sieht MHL die Autonomie der Schüler im Vergleich zu früheren Lehrwerken zunehmend gefördert. „CW: Und wie sehen Sie das Lehrwerk, das Sie benutzen, oder Lehrwerke, wenn’s denn mehrere wären? Ähm, bietet das Ansatzpunkte, um die Autonomie der Lerner zu fördern? MHL: Ja, das ist ja schon zunehmend drin. […] Klar, also das, das sind zum Teil sehr nützliche Übungen. […] Ich finde, das, das hat eigentlich schon das richtige Niveau. Manchmal hab’ ich sogar die eine oder andere Übung erwartet, wo es noch ein bisschen drüber hinaus geht, zum Beispiel bei dem objet indirect und direct. “ (MHL, I, 6/ ’07) Es ist ihr sehr wichtig, dass die Schwierigkeit der Übungen angemessen ist, dass durchaus leichte Übungen zu Anfang vorkommen und weitere schwierigere Übungen darauf aufbauen. Das bedeutet eine Reihenfolge von Übungen, die sich an der sprachlichen Progression ausrichtet und nicht unbedingt an den Interessen der Lerner. „CW: Hab’ ich das richtig verstanden, dass für Sie ein angemessener Schwierigkeitsgrad wichtig ist, damit die Schüler Stück für Stück selbstständiger werden? MHL: Ja, natürlich. Ja klar. Wenn’s zu schwierig ist, können sie’s nicht. Und zu leicht, na ja, also, es sollte halt aufbauen. Es sollte ganz leicht beginnen. Es darf ruhig ganz leicht beginnen, dass man nur fer…, also fertige Bestandteile zusammensetzt. Damit kann es beginnen. Aber dann muss es auch noch aufbauen darauf. Ja, und dann würd’ ich auch sagen, ähm, also dass Selbstständigkeit ist für mich nicht das oberste Prinzip. <?page no="227"?> 228 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Sondern das oberste Prinzip ist eigentlich, dass die Schüler die Sprache anwenden lernen. Also, es sollte dann vielleicht eine Übung geben, in der sie wirklich dieses alles zusammenbauen müssen. Sie müssen sehen, wo kommt also das à hin, was also kommt zuerst im Satz und was danach. Und das müssen sie selber zusammenbauen. Und das ist dann wahrscheinlich keine Übung mehr, die sie selbstständig machen können. Da braucht man dann Kontrolle.“ (MHL, I, 6/ ’07) Besonders wichtig sind ihr Übungen, in denen die Schüler lernen, die Sprache anzuwenden und diese selbst zusammen zu bauen. Dabei sieht sie aber die Notwendigkeit der Kontrolle durch die Lehrkraft. Diese Phase der Anwendung mit Begleitung durch die Lehrkraft ist für MHL das bedeutsamste Prinzip ihres Unterrichts, die Förderung der LA ist dagegen zweitrangig. Schwierig sei es für die Schüler, Wortschatzlücken aus den Jahren zuvor (selbstständig) abzuarbeiten, da sie meist die alten Bücher nicht mehr besäßen (siehe auch unten). Hier greift MHL dann zu Kopien und Wiederholungstests. Von Lehrerhilfen des Lehrwerks lässt sie sich in Bezug auf die selbstständige Texterarbeitung inspirieren. f) Medien Während MHL von Folien wenig überzeugt ist, setzt sie in ihrem Unterricht in Klasse 6 eher auf Haptisches und auf Audiomaterialien. Bei den Audiomaterialien schätzt sie rhythmische Übungen und Lieder. Wenn sich dahinter ein grammatisches Phänomen, wie ein Konjugationsschema, verbirgt, begrüßt sie dies sehr und lässt es gerne von den Schülern auswendig lernen. Für MHL ein erster Schritt in Richtung Autonomie. g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation Bei dem Stichwort „Selbstkontrolle“ nennt MHL spontan die Kontrolle in Partnerarbeit. MHL lässt die Schüler sich gegenseitig kontrollieren, indem sie z. B. einander Texte vorlesen oder Übungen, auch Ausspracheübungen, zu zweit machen. Bisweilen gibt MHL bei diesen allgemeinen Kontrollaufgaben konkrete Hinweise, auf welche Punkte, z. B. Aussprache der Verbendungen, besonders geachtet werden soll. Den Vorteil bei der Kontrolle durch den Partner sieht sie darin, dass alle Schüler beteiligt seien und Disziplin im Klassenraum herrsche. Die Selbstkontrolle des einzelnen Schülers sieht MHL bei der Arbeit mit dem Computer am besten gewährleistet. MHL selbst regt die Kontrolle an, indem sie einzelne Schüler dazu auffordert, bestimmte Dinge noch einmal anzuschauen. Sie selbst kontrolliert dabei, ob die Kontrolle durch den Schüler erfolgreich ist, indem sie auf verbleibende Fehler hin korrigiert. Insgesamt beklagt sie, dass die Schüler sich zu wenig und nicht gründlich genug kontrollieren. <?page no="228"?> 1.2 Analyse des Interviews 229 „MHL: Außerdem was man halt sowieso macht, wenn ich jetzt zu einem Mädchen sag’: ‚Guck noch mal genau drauf, es stimmt so nicht. Du hast es übersehen.‘, dann ist es eigentlich ja ein Schritt in diese Richtung. CW: Ohne genau zu sagen, wo jetzt, wo sie schauen soll, sondern nur: Schau noch mal drauf, da ist noch was. MHL: Ja. Aber da würd’ ich dann schon dabei bleiben und sehn, ob sie’s auch entdeckt. ’S ist ja klar. (Lachen) […] CW: Und beim Vokabellernen? MHL: Na ja, wenn wir, wenn ein Kind diesen Vokabeltrainer macht, dann ist die Kontrolle perfekt zum Beispiel. Und ja klar, ähm, also, da fällt mir was ein. Ich sag’ den Kindern, auch wenn sie’s nicht mit dem Computer lernen, man kann natürlich auch ohne Computer lernen, aber dann muss man alle Wörter zudecken, aufschreiben und kontrollieren. Und äh, ja das, das seh’ ich oft, dass zwar, selbst wenn es gemacht, das a) nicht, oft nicht so oft gemacht wird, wie es sein sollte, b) dass die Schüler schlampig sind beim Sich-selber-Kontrollieren. Also sie, sie gehen da, ob der Akzent jetzt so oder so rum ist und dieses ‚e‘ und da die Konsonanten, also da wird geschlampert.“ (MHL, I, 6/ ’07) Die gegenseitige Evaluation der Schüler betrachtet MHL aufgrund der Konkurrenzsituation kritisch. Selbstevaluation spielt keine Rolle für sie, da die Lehrkraft ja letztendlich die Noten macht. „CW: Spielt bei Ihnen Selbstevaluation eine Rolle? MHL: [Pause] Eigentlich nicht. Da glaub’ ich, das ist auch etwas schwierig, weil die Schüler natürlich immer auch in Konkurrenz sind. Ähm, also wenn …, ich mach’ schon auch relativ viel Spielerisches. Ähm, die linke Gruppe und die rechte Gruppe […]. Und da gibt es dann e’n Gewinner, das …, oder eine Gruppe, die gewinnt. Und die evaluiert sich natürlich selber als Sieger (lacht). Aber ich, ich fördere das nicht so sehr, weil das einfach, ähm, beziehungsweise ich lobe natürlich die Schüler oder weise sie auf Fehler hin, und so weiter. Das ist ja irgendwie auch … Also Evaluation wird natürlich ständig gemacht im Unterricht. Aber ich, ähm, ich würde eher nicht die Schüler auffordern, die Leistungen von anderen Schülern zu beurteilen. Das find’ ich etwas problematisch. CW: Und die eigenen Leistungen beziehungsweise das eigene Lernen zu evaluieren? MHL: Hm, da fällt mir nicht so viel ein, weil … Es steht ja auch in der Regel immer ’ne Note drunter. Das, der Lehrer macht das eigentlich immer, immer sehr schnell selber. Nein, das spielt, glaub’ ich, wenig Rolle bei mir.“ (MHL, I, 6/ ’07) Prozessorientierung hat für MHL keine Bedeutung. h) Schüleraustausch Der Schüleraustausch läuft an der Schule von MHL sehr gut und erfreut sich einer großen Nachfrage. MHL macht auch gerne Werbung dafür. Beim Schüler- <?page no="229"?> 230 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ austausch schätzt MHL, dass die Schüler gezwungen sind, sich in der Gastfamilie in der Fremdsprache zu verständigen, obwohl das immer wieder unterlaufen wird, wenn die Schüler auf das Englische ausweichen. Bei gemeinsamen Ausflügen hat sie die Erfahrung gemacht, dass die Schüler ganz schnell wieder die Gesellschaft der eigenen Muttersprachler suchen. Deshalb würde sie Treffen zwischen den französischen und deutschen Schülern auf keinen Fall an einem dritten Ort stattfinden lassen, sondern immer die Unterbringung in Familien vor Ort bevorzugen. Punktuell wirke der Austausch nach, wenn sich Brieffreundschaften entwickeln oder einzelne Schüler eine Zeit lang miteinander chatten. Da sich diese Bereiche der Kontrolle durch die Lehrkraft entziehen, zweifelt MHL an, dass die Schüler auch kontinuierlich diese Kommunikation fortsetzen. Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner MHL versucht ihren Schülern zu vermitteln, dass Französisch eine wichtige Sprache ist. Zu diesem Zweck erzählt sie ihnen von Frankreich, von ihren eigenen Erlebnissen dort - gerne auch kleine Anekdoten -, von der Schule in Frankreich, von Frankreich als Urlaubsland - und sie versucht immer wieder ihre Schüler für den Austausch zu gewinnen. Bei den älteren Schülern spricht sie Frankreich als Nachbarland und als wirtschaftlich bedeutenden Partner für Deutschland an. MHL fragt ihre Schüler nicht, warum sie Französisch lernen, stellt aber Hypothesen über deren Wahl an. „MHL: Ja, hm, also, es gibt viele, die des halt nur deshalb lernen, weil sie einfach ’ne zweite Sprache lernen müssen. Und, ähm, bei uns müssen sie sich zwischen Latein und Französisch zunächst entscheiden. Es gibt schon viele, die sagen, ich möchte einfach ’ne lebendige Sprache lernen und Begegnungen haben und das ist wichtig für mich. Ähm, manche tun’s natürlich auch, weil sie Latein nicht lernen wollen. Ähm, und dann, äh, später ist es bei uns an der Schule leider so, dass wir … Wir haben jetzt Spanisch. Und Spanisch ist eine, eine übermächtige Konkurrenz für das Französische. Wir haben jetzt keinen Französischkurs in 12 und zwei Spanischkurse in 12. CW: Warum lernen Schüler Spanisch? MHL: Äh, die Sprache gilt als leichter. Das ist auch richtig, was die Orthografie betrifft, zumindest zu Beginn. Eigentlich nein, die Orthografie ist einfach leichter. Ah, dann lernen sie das als dritte Fremdsprache. Und es ist ihnen schon einiges vertraut. Sie lernen’s leichter. Äh, sie sind oft so über die ganz schwierige Pubertätsphase hinweg, wenn sie beginnen, so dass sie keine Lücken aufbauen, wie in Französisch sich doch oft ergeben. Und Lateinamerika lockt ungeheuer. […] Spanisch ist einfach attraktiver. Ich …, das hat auch mal ein Vater zu mir gesagt: ‚Französisch ist doch außer Mode. Warum sollte man das noch lernen? ‘ Und das find’ ich so absurd, weil es … Es <?page no="230"?> 1.2 Analyse des Interviews 231 ist ein, ein Volk von 50 Millionen. Es ist unser größter Nachbar. So was kann nicht außer Mode geraten. Aber das gibt’s, diese Denke gibt’s.“ (MHL, I, 6/ ’07) MHL geht davon aus, dass die meisten Schüler Französisch gezwungenermaßen und aus Mangel an anderen echten Alternativen lernen. Ihr scheint, es sei den Schülern wichtig, dass Französisch eine lebendige Sprache sei und Chancen für Begegnungen biete. Allerdings entwickele sich Spanisch zu einer großen und attraktiven Konkurrenz, da es in Bezug auf die Orthografie als leichter gelte und sich als dritte Fremdsprache obendrein leichter lernen ließe. Zudem locke die lateinamerikanische Kultur. Laut MHL „bauen dagegen die Schüler im Französischen in der Pubertät oft Lücken auf “. Sie versucht diese Lücken auf zweierlei Wegen zu schließen. Sie analysiert deren Klassenarbeiten genau, verteilt Arbeitsblätter an einzelne Schüler und lässt diese ihre Fehler mit dazugehörenden Regeln verbessern. Manchmal wiederholt sie auch über längere Zeiträume hinweg Wortschatz der Jahre zuvor, indem sie alle zwei Wochen einen Vokabeltest ansetzt, und zwar jeweils zu bestimmten Lektionen aus den Anfangsbänden des Lehrwerks. „CW: Sie sprachen eben Französischlücken an. Ähm, versuchen Sie, äh, wenn Sie sehen, ein Schüler hat Französischlücken so mittendrin aufgebaut, ähm, versuchen Sie ihm zu helfen, diese Französisch…, also diese Lücken dann auch selbstständig vielleicht zu füllen, falls er das möchte? MHL: Ihm zu helfen, die Lücken selbstständig (gedehnt) zu füllen - also dieses Wort ‚selbstständig‘ da drin, äh, ist … Ah, ich mache übrigens Folgendes […], was ich mir einfach ganz selber, äh, entwickelt hab’. Äh, ich schau’ mir die Arbeiten sehr genau an, die Klassenarbeiten. Und, äh, oft verlang’ ich für die Verbesserung, äh, also bestimmte …, zum Beispiel: ‚Konjugiere die Verben sowieso‘, wo ich seh’, das hat nicht gestimmt, ja. Oder manchmal geb’ ich den Schülern auch Arbeitsblätter, wenn ich einfach seh’, ähm, die können, die können Sätze nicht verneinen oder sie können das passé composé nicht oder so und dass es elementare Dinge sind, die da nicht … Dann kriegen die individuell ein Arbeitsblatt, das sie mit der Verbesserung abgeben müssen. Und ich verlange immer, äh, dass sie drei Grammatikregeln aufschreiben von, also ausgehend von Fehlern, die sie in der Klassenarbeit gemacht haben. Das verlang’ ich von allen Schülern, also drei Fehler müssen sie mit Regel verbessern, damit sie sich bestimmte Dinge bewusst machen. Ähm, also, was ich da in diesem Zusammenhang auch kenn’ ist, ähm, eine Statistik, die die Schüler sozusagen anlegen sollen und wo sie schreiben, ähm: ‚Ich hab’ so und so viele Fehler gemacht in der Zeitenbildung und so und so viele Fehler beim Artikel.‘ Und so weiter. Aber ich hab’ gemerkt, dass es nicht funktioniert. […] Das würde ja heißen, ich muss die Verbesserung kontrollieren und dann noch mal gucken, stimmt das eigentlich, was er da geschrieben hat. Also, es funktioniert nicht. <?page no="231"?> 232 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Aber die Sache mit den drei Grammatikregeln funktioniert. […] Äh, ja und dann hab’ ich einmal, also wie ich hier an die Schule gekommen bin, hab’ ich eine sehr, sehr schwache 9. Klasse übernommen, die war wirklich sehr schwach. Und bei dieser Klasse hab’ ich, äh, in der 10. Klasse einen Wiederholungskurs gemacht über die Vokabeln der ersten zwei Jahre. Da hab’ ich alle vierzehn Tage einen Wörtertest geschrieben, immer über zwei Lektionen. Die hab’ ich sogar kopiert den Schülern. Die haben ja normalerweise die alten Bücher nicht mehr im Haus. Das find’ ich blöd. Ähm, also, ich hab’ ihnen Kopien gemacht und hab’, hab’ es einfach abgefragt.“ (MHL, I, 6/ ’07) Alle diese Aktivitäten werden von MHL als Lehrerin initiiert. Wichtig ist ihr dabei, dass die Arbeiten tatsächlich erledigt werden (können) und bei den Schülern eine Bewusstmachung für die eigenen Fehler stattfindet. Keine Bedeutung hat die Frage, ob die Schüler diese Arbeiten aus eigenem Antrieb und selbstständig erledigen. Die Aufarbeitung von Lücken anhand von Fehlerprotokollen, die die Schüler führen, funktioniert laut MHL nicht. Als Grund dafür nennt sie die aus Zeitgründen fehlende Kontrolle durch die Lehrkraft. a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? MHL unterscheidet grundsätzlich zwischen Schülern mit verschiedenem Lerntempo, Schülern, die unterschiedlich sorgfältig lernen, und Schülern, die in der Lage sind oder nicht, Sätze selbstständig zu konstruieren. Sie beschreibt spontan drei Lernertypen: erstens solche, die mündlich stark sind und gut imitativ lernen; zweitens diejenigen, die über das Schriftliche lernen und Sätze nach Regeln zusammenbauen können; und drittens die Gruppe der Begabten, aber Flüchtigen. Siehe hierzu auch den Vergleich mit der fachdidaktischen Literatur, unten. „CW: Beobachten Sie bei Ihren Schülern unterschiedliche Lernertypen und Lernstile? MHL: Hm. Ja. Ähm. Natürlich. Es gibt zum Beispiel Kinder, die sehr imitativ lernen, einfach vom Nachsprechen her und die sich das auch gut merken können. Und andere, die alles schriftlich …, das einfach sehen müssen. Ähm, dann gibt’s Kinder, die haben also mündlich sehr viel mehr Stärken, weil sie … Also, das sind mehr die imitativen Kinder, die, die einfach die Satzbaumuster sich merken können, vielleicht ohne sie zu durchschauen, aber einfach sich merken, ähm, und sie reproduzieren können. Und andere, die tatsächlich Strukturen durchschauen und Sätze zusammensetzen nach Regeln. Ähm, ja es gibt natürlich sehr verschiedene Lerntempi, also ob, ob ein Kind sich …, wie, wie lange es jetzt Wörter lernen muss, wie lange es braucht, um die Wörter zu können. Ähm, es gibt sehr begabte und dafür, ähm, flüchtige, also Kinder, die sich einfach keine Lust haben, sich mit diesen Akzenten und so weiter sich im Französischen auseinanderzusetzen und dann trotz guter Sprachbegabung eigentlich Probleme kriegen, weil es einfach diese vielen stummen Endungen gibt, ähm. Ja, also, so gibt’s sehr viel verschiedene Typen.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) <?page no="232"?> 1.2 Analyse des Interviews 233 MHL glaubt, dass es tendenziell, aber nicht prinzipiell, Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt und dass Mädchen bisweilen, aber nicht immer, fleißiger sind. Fehlt der Fleiß, so fordert sie ihn von ihren Schülern ein, mit einem guten Ergebnis, so meint sie. (Vergleiche hierzu auch oben: „die haben dann das Gefühl, jetzt hab’ ich’s gelernt“.) „MHL: Also, ich hab’ jetzt in meiner 6. Klasse extrem sprachbegabte und faule Jungen (lacht) . Da, da ist es wirklich sehr auffällig. Und ich bestell’ die auch zu extra Stunden, dass sie ihre Wörter lernen. CW: Heißt das, wenn sie etwas tun, dann hat das auch ein gutes Resultat? MHL: Ja, so ist es.“ (MHL, I, 2.Teil, 7/ ’07) In Bezug auf das Französischlernen stößt das rein imitative Lernen nach ihrer Meinung an Grenzen. Die Schüler brauchen ein Bewusstsein für Strukturen und müssen Regeln verstehen und anwenden können. Wenn die Schüler beim Anwenden einer Regel Schwierigkeiten haben, dann lässt MHL intensiv üben. LA fängt dann für sie dort an, wo die Schüler in Partnerarbeit und in gegenseitiger Kontrolle an einem Phänomen arbeiten. „CW: Gibt es irgendeinen Lernstil, von dem Sie denken, dass er besonders positiv für das Französischlernen ist? MHL: Hm, also, ich glaube …, ich fang’ mal mit dem Negativen an. Das rein imitative Lernen stößt im Französischen an Grenzen, glaub’ ich. Also man, man muss doch ’en bisschen was durchschauen, also zum Beispiel ein, ein Subjekt von einem Akkusativobjekt unterscheiden können, wenn zum Beispiel der Relativsatz kommt, spätestens dann und qui und que unterschieden werden muss. Dann, äh, also, das kann man eigentlich nicht mehr imitativ machen. Da …, da braucht man dann ein Bewusstsein von Strukturen (denkt nach) . Oder beim, ähm, pronom objet, ähm, heißt es jetzt lui oder le und, ähm, me le, und das, also, auch wenn’s nur eins ist. Da glaub’ ich auch, dass …, dass es rein imitativ eigentlich nicht funktioniert, auch die Stellung nicht. CW: Hm. MHL: Da muss man eine Regel verstehen und anwenden können. CW: Und das können die Schüler, eine Regel verstehen und anwenden? MHL: In der Regel (lacht) . Ja, also, ich, ich übe das auch sehr viel, dass man einfach das reinkriegt dieses pronom objet vor dem Verb. Ähm, das is’…, das is’ ein Schritt, den manche Schüler lange, lange, lange nicht machen. Und ich hab’ deshalb das letzte Mal in der 9. Klasse Kärtchen gemacht, wo die Schüler ’ne ganze Stunde mit diesen Kärtchen geübt haben und mussten immer diese Sätze zusammensetzen in der richtigen Stellung und dann mit négation und dann auch mit, ähm, Modalverben. Ähm, wo kommt jetzt das pronom objet hin? Im passé composé wird das avoir und être und bei den Modalverben vor den Infinitiv … Und mit solchen Sätzen haben wir geübt zwei <?page no="233"?> 234 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Stunden lang. Das, also, was jetzt LA anbetrifft, war’s da auch so, die Schüler haben das zu zweit gemacht eigentlich. Manchmal hab’ ich Resultate überprüft. Aber eigentlich ist es eine, ähm, wirklich eine sehr intensive Arbeit in Kleingruppen, wo sie selbst sich gegenseitig kontrollieren müssen.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) Besondere Verfahren, die dazu dienen könnten, herauszufinden, wie sich eine Lerngruppe zusammensetzt, benutzt MHL nicht. Anhand von Wörtertests und einer genauen Analyse der Klassenarbeiten meint sie, herausfinden zu können, wie sorgfältig die Schüler lernen und ob sie Schwierigkeiten haben, Sätze selbstständig zu konstruieren. „CW: Haben Sie irgendwelche Verfahren oder Techniken, wie Sie herausfinden, welcher Lerntyp welcher Schüler ist? MHL: Also, in so ’ner kleinen bis mittleren Gruppe find’ ich’s nicht notwendig, dass man das formalisiert. Ich merk’ es einfach beim Unterrichten. Ich merk’ es eigentlich sehr schnell. An den Wörtertests sieht man sehr schnell, welche Schüler ordentlich, also sorgfältig lernen und die nicht …, also zu Hause lernen und welche nicht. Ähm, oder welche, ähm, man sieht an den Arbeiten auch ziemlich schnell, ähm, wer eigentlich sehr große Probleme hat, Sätze zu bauen, ähm, obwohl er vielleicht fleißig ist. Also ich, ich schau’ mir die Arbeiten genau an, in der Regel die Klassenarbeiten. Und daraus kann ich das, so was entnehmen.“ (MHL, I, 2.Teil, 7/ ’07) b) Lernerstrategien und Lerntechniken MHL kann nicht sagen, ob die Schüler miteinander darüber sprechen, wie sie lernen, zumindest thematisiert sie dies nicht in ihrem Unterricht. Sie hält aber gewisse Lerntechniken für wichtig und versucht, diese den Schülern zu vermitteln. MHL kann auch keine Auskunft darüber geben, welche Lerntechniken die Schüler bereits aus Englisch mitbringen. Sie beklagt aber, dass die Kinder grundsätzlich zu wenige Grammatikkenntnisse in Englisch oder Deutsch vermittelt bekämen und dass sie selbst oft zuerst deutsche Grammatik, z. B. direktes und indirektes Objekt, mit den Schülern erarbeiten müsse. Das Bewusstsein für Grammatik, Strukturen und Regeln, ist für sie ein wichtiges Element, um eine für sie zentrale Kompetenz, die richtige französische Schreibung, zu fördern. Diese Orientierung an der Grammatik entspricht auch ihrem eigenen Lerntyp. Sie musste aber im Laufe ihrer unterrichtlichen Tätigkeit lernen, dass diese Art zu lernen nicht jedem Lerntyp entgegen kommt. Deshalb arbeite sie jetzt vielfach auch mit Übersetzungen, um somit intuitiv lernenden Schülern Satzbaumuster zu liefern, die sie auswendig lernen können. <?page no="234"?> 1.2 Analyse des Interviews 235 „CW: Gibt es Lerntechniken oder Lernstrategien, die in Ihrem Unterricht wichtig sind, die Sie auf jeden Fall vermitteln möchten den Schülern? MHL: Hm. Ja, natürlich. Ähm. Also, ich, ich glaub’ in Französisch ist das, ähm, die richtige Schreibung, die, die Endungen zu schreiben und so weiter. Das ist einfach ein Knackpunkt. Den möcht’ ich natürlich vermitteln. Ich, aber, äh, also, ich bin eigentlich von, von Haus aus, von mir aus ein Mensch, der an Strukturen denkt, und musste lernen im Lauf meiner Lehrerlaufbahn, dass einfach manche Kinder ganz anders lernen. Und, ähm, ich versuch’ jetzt auch, diese Kinder zu bedienen, zum Beispiel indem wir die Sätze, die hinten im Vokabular stehen, die verlang’ ich …, die Schüler müssen diese Sätze übersetzen können. Und ich mach’ ihnen auch ein Blatt, äh, ich geb’ ihnen immer ein Blatt, wo die deutschen Übersetzungen der Sätze da sind. Und ich verlang’ in den Wörtertests genau diese Übersetzungen. Damit denk’ ich, bedien’ ich die Schüler, die eigentlich vielleicht nicht so viel nach Regeln lernen, sondern mehr nach Satzbaumustern und intuitiv, ähm, denk’ ich, dass sie über diese Schiene lernen.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) Lerntechniken zum „Wörterlernen“, wie z. B. „in kleinen Portionen lernen“, vermittelt sie ihren Schülern regelmäßig, wobei ihr wichtig ist, dass die Schüler die Techniken nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch tatsächlich anwenden, um die Wörter letztendlich aus dem Gedächtnis schreiben zu können. Bei der Beurteilung der Umsetzung von Lerntechniken zum Vokabellernen geht MHL ergebnisorientiert vor, indem sie anhand der Wörtertests die Schüler ermittelt, die nicht ausreichend gelernt haben. Diese verpflichtet sie zum Nachlernen am Vokabeltrainer. „MHL: Ja, ich erklär’ ihnen, ich hab’ auch ein Blatt dazu, das ich zeig’ oder ich zeig’ ihnen eine Folie, dass man immer … Also, da wird zum Beispiel ‚Verfahren‘ erklärt. Ich hab’ das Wörterverzeichnis vor mir, ich lerne immer fünf Wörter auf einmal, dann die nächsten fünf, dann die nächsten fünf. Und, ähm, wenn ich durch bin, muss ich noch mal wiederholen. Äh, und, und am Schluss muss ich die Wörter schreiben. Also, darauf leg’ ich sehr großen Wert: ‚Ihr müsst euch selbst kontrollieren, indem ihr die französischen Wörter abdeckt und sie alle schreibt.‘ Das finde ich persönlich viel, viel wichtiger als dieses Abschreiben am Anfang, was ja fast alle Lehrer verlangen. Ähm, und am Schluss, muss man sie aus dem Gedächtnis eben schreiben. Und, ähm, ich hab’ ja diesen Vokabeltrainer auch den Schülern zur Verfügung gestellt, wo, wo das eigentlich auf perfekte Weise kontrolliert wird, ob sie es schreiben können oder nicht. CW: Und besprechen Sie das mit den Schülern mündlich oder haben Sie vielleicht so ’n Blatt, das Sie austeilen mit Tipps? MHL: Ja, das hab’ ich schon beides gemacht. Ich mach’ eigentlich beides. Wobei ich finde, die Blätter sind nicht so wichtig. Die Schüler müssen das machen. […] und ich würd’ es so beschreiben beim Wörterlernen: Ich geh’ vom Ergebnis aus. Äh, ich seh’ <?page no="235"?> 236 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ also, die Schüler haben so und solche Ergebnisse in den Wörtertests. Und, äh, ich kümmere mich um diejenigen, die eben unter 4 sind, ähm, indem ich ihnen ja zum Beispiel Strafarbeiten gebe. Ich geb’ auch Strafarbeiten. Oder ich …, oder, was jetzt seit ich den Vokabeltrainer hab’, mach’ ich’s anders, ich bestelle sie einfach. Sie müssen Vokabeltrainer dann arbeiten, bis sie eben dort durch sind durch dieses Programm.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) In Bezug auf Lernerstrategien gibt MHL keine Auskunft. Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers Während MHL sehr bemüht ist, die schlechteren Schüler nicht zu verlieren, indem sie sie zu zusätzlichen Arbeiten verpflichtet, spricht sie die guten Schüler bei schwierigen Fragen im Unterricht gezielt an und lobt sie immer wieder. Auch denkt sie, dass bessere Schüler insbesondere bei Spielen im Unterricht gefördert werden können. Zur Binnendifferenzierung fehlt ihr nicht nur die Zeit, sie sieht sie auch kritisch aufgrund ihrer Rolle als sprachliches Vorbild, das von möglichst allen verstanden werden sollte. „MHL: Ja, also, ich finde im Französischunterricht ist es nicht so leicht wie zum Beispiel im Deutschunterricht, also weil ich nämlich … Ich bin ja das Vorbild, das spricht. Und so wie ich spreche, müssen die Schüler mich verstehen. Wenn das Niveau zu niedrig ist, dann ist es eigentlich für die Guten, äh, etwas verschenkte Zeit. Und wenn das Niveau zu hoch ist, versteh’n mich einige Schüler nicht. Und ich kann nur …, ich kann eben nur sprechen auf so und so einem Niveau, vielleicht manchmal ein bisschen abwechseln. Ich versuche dann eine ganz einfache Frage an die schwachen Schüler zu stellen zum Beispiel oder auch mal eine kompliziertere Frage, eine schwierigere, für einen besseren Schüler. Ja. Und ich lobe aber die guten Schüler auch viel.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) MHL sieht sich insgesamt in der Rolle als Vermittlerin von Fachwissen und als Lernberaterin. Die Aspekte des Motivierens und insbesondere des Kontrollierens tauchen in der Beschreibung ihrer Rolle wiederholt auf. Siehe auch oben zur Lehrbiografie. b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung Zu der Ausbildung von MHL siehe oben. In ihrer jetzigen Situation als Französischlehrerin konzentriere sich der Austausch mit anderen Französischlehrern auf die eigene Schule. MHL sagt, sie kooperiere mit den meisten ihrer Französischkollegen, indem sie mit ihnen in der Pause oder nach der Schule Gespräche führe, einen gemeinsamen Ordner <?page no="236"?> 1.2 Analyse des Interviews 237 pflege, in den z. B. die Klassenarbeiten oder Materialien zum Stationenlernen abgelegt würden, um als Übungsmaterial für nachfolgende Klassen verwendet werden zu können. Auch halte sie gemeinsam mit ihren Kollegen den selbst entwickelten elektronischen Vokabeltrainer für die Schüler aktuell. Daneben versuche das Kollegium, die Brieffreundschaften der Schüler mit der Partnerschule in Frankreich aufzubauen und aufrecht zu erhalten, was allerdings an zeitliche und organisatorische Grenzen stoße. „MHL: Ach, wir tauschen uns ziemlich viel aus, ja, an anderen Schulen weniger. Also, dann haben wir halt diese Partnerschaft […], wo die Briefe …, Brieffreundschaften versuchen wir, äh, aufzubauen und zum Teil auch zu pflegen. Aber das geht schon fast über das hinaus. Also, wenn man versucht zu überwachen, dass die Schüler auch schreiben, das find’ ich, hm, das ist fast nicht zu leisten.“ (MHL, I, 6/ ’07) Die Lehrerausbildung sollte nach MHL fokussieren auf: 1. die Betrachtung des Französischen als Mittel zur Kommunikation („es dient dazu, Dinge mitzuteilen, zu verstehen“, MHL, I, 6/ ’07) und 2. die Vermittlung möglichst vieler Methoden, unter denen der Lehrende aussuchen kann. „MHL: Es ist ja auch so, äh, also ein Referendar sollte möglichst viele Methoden kennenlernen, äh, so dass er sich dann selber auch aussuchen kann, was ihm liegt. Es liegt einfach nicht jedem jedes gleich. Und es geht auch nicht mit jeder Klasse jedes gleich. Also zum Beispiel Stationenlernen, damit hab’ ich sehr gute Erfahrungen bei den Älteren, Neunern, Zehnern, gemacht. Bei den Kleinen, bei den Sechsern, geht das manchmal nicht, weil sie zu undiszipliniert sind. Aber das …, man muss es auch ausprobieren. Es gibt ja ganz verschiedene sechste Klassen. Also deshalb find’ ich Methodenvielfalt total wichtig, weil da hat, da hat dann der Lehrer einfach einen Fundus, aus dem er schöpfen kann.“ (MHL, I, 6/ ’07) MHL hat noch die Arbeit mit Filzmaterialien ihres Mentors im Referendariat in lebhafter Erinnerung. Lehrerfortbildungen steht MHL grundsätzlich positiv gegenüber, wenn der Fortbildner erfahren und reich an Ideen ist; das Thema, über das er referiert, ist zweitrangig für sie. Als sie nach ihrer langen Pause wieder unterrichtete, empfand sie, dass sich in der Methodik zwischenzeitlich viel Neues entwickelt hatte. „MHL: Ich bin ja …, da muss ich eigentlich dazu sagen, dass ich vor zwanzig Jahren, nein vor fünfundzwanzig, das Referendariat gemacht habe und dann lang ausgesetzt hab’. Und als ich wieder in die Schule kam, fand ich schon, dass, dass es sehr viel neue Methoden gibt, sehr positiv. Also, ich hab’ sehr, sehr viel anders gemacht. Und eine Fortbildung, die mich da sehr beeinflusst hat, war […] über Lektüre. Wie kann man Lektüre lebendig machen? Also nicht so: ‚Wir lesen jetzt diesen Abschnitt, dann <?page no="237"?> 238 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ stellt der Lehrer Fragen dazu, und dann lesen wir den nächsten Abschnitt.‘, sondern sie [die Fortbildnerin] hatte sehr, sehr viele Ideen, wie man kreativ umgeht, wie man, wie man auch kleinschrittig, ähm, Schüleraufgaben gibt. Das fängt an bei bestimmte Wörter aus bestimmten Wortfeldern unterstreichen, […]. Oder ich geb’ den Schülern nur den Anfang- und den Endsatz einer Lektüre, bevor sie sie kennen und lass’, lasse sie raten, was, lasse sie einen kleinen Text schreiben: ‚Was passiert hier? ‘ Oder ich setze eine Szene in ein ganz kleines, kleine Theaterspielszene um und lasse die Schüler das spielen, ja, ähm, ich lasse die … Ich mache ’ne Charakteristik von Personen, wo jeder Schüler einfach Stichwörter aufschreibt und wir kleben sie dann an die Tafel. Also sehr, sehr viele Methoden waren das, die eben wegführen von dem, diesem ganz lehrerzentrierten: ‚Ich stelle Fragen. - Die Schüler antworten.‘ Ja, das hat mich beeinflusst. Das ist auch im Grunde gleich im Deutschunterricht wie im Französischunterricht. Da gehen wir ähnliche Wege.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) MHL beschreibt hier, wie sie aufgrund einer Lehrerfortbildung zu stärker schülerorientierten Methoden geführt wurde. Auch spricht sie mögliche Synergien zwischen der deutschen und der französischen Fachdidaktik an. Spezielle Fortbildungen zu den Bereichen Lernen oder LA hat sie bislang noch nicht gemacht. Hierzu hat sie eigene Hypothesen entwickelt (siehe oben). Zu den Perspektiven für das Thema LA MHL glaubt, dass mit zunehmender Evaluation der Schulen und angesichts der zukünftigen Vergleichsarbeiten in Französisch die Lehrkräfte ängstlich und mit mehr Kontrolle reagieren werden, was der LA abträglich sein könnte. „MHL: Das, also, damit haben wir ja nicht so sehr viel Erfahrungen. Aber es könnte sein, dass …, dass eigentlich jeder Lehrer eher das macht, wo er sich sicher fühlt, wenn er weiß, er wird evaluiert. Das heißt, er wird …, er wird vielleicht eher weniger experimentierfreudig sein und dann wär’s ’ne schlechte Wirkung.“ (MHL, I, 6/ ’07) Im ersten Teil des zweiten Gesprächs führt sie diesen Punkt folgendermaßen aus: „MHL: Ja, also, ich bin da skeptisch. Ich glaub’, das hab’ ich das letzte Mal auch schon gesagt. CW: Ja. MHL: Weil ich glaube, dass mehr Kontrolle mehr, ähm, eigentlich die Lehrer eher ängstlicher macht, dass sie denken, wir müssen mehr kontrollieren, wir müssen mehr, äh, ja mehr das Niveau eigentlich auf den gleichen Stand bringen und so weiter. Und das, denke ich, wird sich eher negativ auf LA auswirken.“ (MHL, I, 2. Teil, 7/ ’07) <?page no="238"?> 1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung 239 1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Französisch lernen in der Schule“ Das zweite Gespräch dauerte fünfzig Minuten und gliederte sich, wie oben erwähnt, in zwei Teile. Im ersten Teil, von dreißig Minuten, wiederholte ich Fragen, die beim ersten Gespräch vom Audiogerät nicht ausreichend aufgezeichnet worden waren. Im zweiten Teil legte MHL die von mir vorbereiteten Begriffskärtchen in zwanzig Minuten zu einem Bild zusammen. MHL war am Ende des ersten Termins anhand eines Informationsblattes und eines Beispiels zum Thema Werbung mit den Grundsätzen der Struktur-Lege-Technik bekannt gemacht worden (siehe oben zur Durchführung). Da ich während des ersten Gespräches bemerkt hatte, dass die Aufnahmen nicht mehr ausreichend erfolgten, protokollierte ich beim Zuhören in Stichworten und im Anschluss an das Gespräch vervollständigte ich das Gesagte anhand meiner Erinnerung. Dieses Vorgehen erlaubte es mir, auch solche Begriffskärtchen vorzubereiten, die sich auf das nicht Aufgezeichnete bezogen. Während des ersten Teils des zweiten Gespräches wurden noch einige wenige Begriffskärtchen von mir hinzugefügt, so dass MHL letztendlich ein aus meiner Sicht kompletter Satz von Kärtchen für das Legen des Strukturbildes zur Verfügung stand. Dennoch ergänzte sie selbst Kärtchen, während sie das Strukturbild legte: „schriftliche Leistung entscheidet über Schulkarriere“, „Theaterszenen“, „Gruppenarbeit“, der Lehrer als „Motivierer“ und „Kontrolleur“, bei Frontalunterricht erläuternd: „zum Beispiel Grammatik, Tafelbild“, bei faule Jungen ergänzend: „und Mädchen“ und fügte außerdem die Oberbegriffe „verschiedene Lerntypen“ und „Rolle des Lehrers“ hinzu. Dies waren alles Begriffe, die in der Tat auch aus dem Interview hätten abstrahiert werden können, aber von mir nicht ausgewählt worden waren, weil sie entweder so nicht wörtlich formuliert worden waren (schriftliche Leistung entscheidet über Schulkarriere, Motivierer, Kontrolleur) oder weil sie im Interview von MHL abgeschwächt zur Sprache kamen (Gruppenarbeit, Theaterszenen, faule Mädchen). MHL begann damit, die Kärtchen alle der Reihe nach durchzusehen. Sie wählte zuerst das für sie Wichtigste aus und legte es ganz nach oben: „Französisch als Kommunikationsmittel“. Als ebenso wichtiges Pendant dazu schrieb und platzierte sie: „schriftliche Leistung entscheidet über Schulkarriere“. Und als Nächstes erläuterte sie, dass sie versuche, die Kinder alle mitzunehmen, sie nicht zu verlieren. <?page no="239"?> 240 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Anschließend suchte sie wichtige Begriffe zum Thema Motivation: Methodenvielfalt, bewegliche Elemente, Stationenlernen, Austausch und LA. „MHL: Man könnte fast ‚LA‘ zum Teil auch dazu setzen, weil eigentlich … Also, das gehört ja zu, zu ‚Methodenvielfalt‘, zu ‚Methodenvielfalt‘ gehört die LA, auch die Partnerarbeit, äh, ja, das Texte selbst erschließen.“ (MHL, SL, 7/ ’07) Die Chronologie am Anfang zeigt, was MHL wirklich wichtig ist: Es ist das Spannungsfeld zwischen Kommunikation und Motivation einerseits und schriftlicher Leistung und die Vermeidung des leistungsmäßigen Verlustes der Kinder auf der anderen Seite. LA ist für sie ein motivierender Aspekt der Methodenvielfalt. Ein Aspekt in einer Reihe von anderen, der damit keinen herausgehobenen Stellenwert in ihrem Unterricht spielt. Stärker als im Interview betont MHL nun die Rolle von Theaterprojekten. Sie erwähnt, dass sie diese in kleinerer Form doch durchaus auch am Ende einer Lektion mit den Kindern realisiere und nicht nur zum Ende des Schuljahres. „MHL: Also, bei den Kleinen hab’ ich auch am Ende der Lektion öfters, also öfters als am Ende des Jahres … Man muss es auch nicht so hoch hängen. Man kann das auch mal in dreißig Minuten machen. […] Ja, aber ich mach’ das auch wirklich auf, auf mal ganz … Also bei den Anfängern verlang’ ich dann, dass sie die Texte auswendig lernen, weil ich das sowieso gut finde, wenn sie das tun. Und das ist ’ne Mordsmotivation, wenn sie da spielen. Und dann werden eben die Rollen verteilt.“ (MHL, SL, 7/ ’07) Zu dieser Präzisierung gelangt sie, weil sie sich in der Zwischenzeit offenbar darüber klar geworden ist, dass Projekte auch Kleinprojekte sein können. Und sie hebt diesen Aspekt hervor, weil sie sich gedanklich in der Kategorie ‚Motivation‘ bewegt, die beim Interview von mir nicht explizit abgefragt worden war. Eine weitere Präzisierung erfolgt beim Begriff ‚Frontalunterricht‘, den sie der Methodenvielfalt zuordnet und vor allem mit Grammatikarbeit verbindet. „MHL: Ähm, ich würde sagen, der Frontalunterricht ist auch eine Methode. Das gehört eigentlich auch zur Methodenvielfalt, äh, zum Beispiel beim Grammatikerklären. Das mach’ ich einfach fast immer frontal. Wobei ich schon die Schüler frage. Meistens kriegen sie alles selber raus. Aber es geht über mich natürlich. Ich mach’ auch ein Tafelbild, das ich mir vorher überlegt hab’. Ähm, also, ich schreib’ mal dazu ‚Grammatik‘, ‚zum Beispiel Grammatik‘ und ‚Tafelbild‘. Das ist schon sehr stark gesteuert dann.“ (MHL, SL, 7/ ’07) MHL ordnet dann den Rest der Kärtchen zu den bereits gelegten. „Viel sprechen“ wird von ihr ganz oben und neben „schriftliche Leistung entscheidet über Schulkarriere“ platziert, aber nicht weiter kommentiert. Mit dem Begriff der Öffnung kann sie zunächst nicht viel anfangen und fragt nach. Als ich erkläre, <?page no="240"?> dass sie das in Bezug auf die Gruppenarbeit erwähnt hatte, wo sie öffnet, aber vor allem auch steuert, stimmt sie zu und legt das Gewicht auf die Steuerung und die Erwartung der Kinder: „CW: Äh, das war, als wir über die Gruppenarbeit gesprochen haben. Und ich fragte Sie, äh, wie das mit der Öffnung und der Steuerung geht. Und Sie meinten, beides braucht man, äh, öffnen, aber auch viel steuern. […] Also, Sie öffnen natürlich den Unterricht bei der Gruppenarbeit, aber auf der anderen Seite schauen Sie dann auch sehr genau, was ist gearbeitet worden … MHL: Ja. CW: … und Sie steuern nach. MHL: Ja. CW: So hab’ ich’s verstanden. MHL: Ja, das ist auch richtig. Und das wollen auch die Schüler. Sie wollen eigentlich ihre Ergebnisse. Sie wollen wissen, ob die Ergebnisse richtig sind.“ (MHL, SL, 7/ ’07) Vergeblich sucht sie dann nach dem Begriff ‚Gruppenarbeit‘ und fügt ihn letztendlich selbst hinzu, weil sie Gruppenarbeit durchaus in der 9. und 10. Klasse einsetze. Sie widmet sich dann den unterschiedlichen Lerntypen und bestätigt das, was sie auch im Interview sagte: „MHL: Also, manche Kinder lernen eben über die Grammatik, und ähm, manche lernen’s auswendig. Ähm, manche können das, Sprache sich selber, die Sprache zusammen bauen. Manche können’s, manche können’s nicht. Manche haben Bewusstsein für Strukturen.“ (MHL, SL, 7/ ’07) Wie im Interview hebt sie auch nun auf die Unterscheidung zwischen Anfängerunterricht und Unterricht in der 9. und 10. Klasse ab. Während sie bei den Kleinen noch viel begleiten muss, um sie nicht zu verlieren und sich nur in ganz kleinen Schritten in Richtung LA bewegt, möchte sie in der 9. und 10. Klasse nur noch Französisch sprechen. Ganz zum Schluss widmet sie sich der Rolle des Lehrers und fügt nach einiger Überlegung ‚Motivierer‘ und ‚Kontrolleur‘ hinzu, eine Beschreibung, die konsequent zu dem oben beschriebenen Spannungsfeld ihres Unterrichts zwischen Kommunikation und Motivation einerseits und dem Achten auf die schriftliche Leistung und darauf, dass die Kinder nicht verloren gehen, passt. Am Ende ist MHL mit ihrem Strukturbild zufrieden und betitelt es auf Nachfrage mit: Französisch lernen in der Schule. 1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung 241 <?page no="241"?> 242 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ Zusammenfassend: Das zweite Gespräch ermöglichte es mir, noch einmal Fragen zu stellen, die in diesem Fall aus technischen Gründen nicht aufgenommen worden waren. Darüber hinaus diente es der Validierung meines Verständnisses im Hinblick auf das erste Interview. Meiner Interviewpartnerin bot sich die Chance, das Thema noch einmal aus einem persönlicheren und stärker gereiften Blickwinkel zu betrachten: Dieses Mal wurde die Strukturierung des Gespräches durch sie vorgegeben und nicht durch mich. Dadurch konnte sie eigene Gewichtungen vornehmen und eigene Aspekte, wie z. B. den der Motivation, einbringen. Sie konnte dabei dem Thema ‚LA‘ einen genaueren Stellenwert innerhalb ihres Unterrichts zumessen. Das Gespräch wurde darüber hinaus von MHL zur Ergänzung, Präzisierung und Schlussfolgerung genutzt. 1.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit „Mehr Selbstständigkeit und effektive Kontrolle sind zwei Seiten derselben Medaille.“ MHL evaluiert ihre Einzelfalldarstellung recht zügig und gewissenhaft. Seit dem Interview ist inzwischen mehr als ein Jahr vergangen. Ihre Evaluation gliedert sich in folgende Bereiche: • Detailkorrekturen zu ihren Zitaten • Beantwortung meiner zusätzlichen Fragen • Unterrichtsmaterialien, die sie im Unterricht einsetzt: Zwei Vokabeltests (Klasse 6 und Klasse 11), drei Arbeitsblätter mit Lerntipps (Vokabeln lernen - aber wie? , Arbeiten mit der Lernkartei, Corrigé du troisième contrôle - Einige Lerntipps für die nächste Klassenarbeit) • zwei Ergänzungen zum Interview • abschließende Bewertung meiner Niederschrift a) Präzisierungen: Detailkorrekturen, Beantwortung zusätzlicher Fragen, Unterrichtsmaterialien Detailkorrekturen wurden an zwei Stellen in die Zitate oben eingearbeitet. Ebenso wurden die zusätzlichen Auskünfte zu den unveränderlichen persönlichen Daten direkt in die obige Darstellung aufgenommen. Folgende Antworten ergaben sich zu den übrigen Fragen (siehe die vollständige Liste der zusätzlichen Fragen im Anhang): • Wie würden Sie den Begriff „Sprache“ definieren? <?page no="242"?> 1.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 243 „Sprache macht den Menschen zum Menschen. Sie ist Bedingung und Ausdruck unserer geistigen Fähigkeiten. Wichtigste Säule der zwischenmenschlichen Beziehungen.“ (MHL, E, 9/ ’08) • Wie würden Sie den Begriff „Sprachlernen“ definieren? „Muttersprache: Entdeckung des eigenen Ichs, der Mitmenschen, der Welt. Fremdsprache: Erwerb neuer Kommunikationsmöglichkeiten, Kennenlernen einer neuen Kultur.“ (MHL, E, 9/ ’08) • Wie würden Sie den Begriff „LA“ definieren? „Schüler lernen selbstständig: Zunächst können sie unter verschiedenen Strategien der Wissensaneignung auswählen, finden zunehmend Methoden, ihre eigenen Leistungen zu kontrollieren (auch die ihrer Mitschüler). Später wählen Schüler auch zunehmend eigene Inhalte aus, setzen eigene Schwerpunkte (z. B. in Referaten, Präsentationen: GFS [GFS, gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen]).“ (MHL, E, 9/ ’08) • Wie würden Sie den Begriff „Wörterlernen“ definieren? „Einprägen fremden Vokabulars: zunächst mündlich im Unterricht durch möglichst viele Wiederholungen/ Nachsprechen … Zu Hause durch bewusstes Memorieren in kleineren Portionen. Bei weit Fortgeschrittenen ist Wörterlernen durch Hören/ Lesen von Fremdsprachentexten möglich. Ich schreibe Schülern nicht vor, wie sie ihre Wörter bzw. grammatischen Strukturen lernen sollen, kontrolliere allerdings das Ergebnis (Wörtertests). Ich kontrolliere (verlange) keine handschriftlichen Vokabellisten im Heft, sondern zeige den Schülern verschiedene Methoden zum Wörterlernen (abdecken, laut sprechen, Kärtchenmethode, Vokabeltrainer am PC, auswendig schreiben). Das mache ich schon bei den Anfängern so: Ergebniskontrolle! “ (MHL, E, 9/ ’08) Aufgrund meiner Fragen zum Wörtertest und zu den Lerntechniken zum Wörterlernen schickte MHL mir die entsprechenden Arbeitsblätter zu, ergänzend noch ein Arbeitsblatt zur Vorbereitung auf eine Klassenarbeit (siehe oben). b) Ergänzungen Bei der Durchsicht meiner Niederschrift fällt MHL auf, dass ihr in Bezug auf die LA zwei wichtige Aspekte während des Interviews „ein wenig aus den Augen geraten seien“. Erstens habe sie sich im Interview fast ausschließlich auf die Anfangsphase des Französischlernens bezogen. Natürlich nehme die LA mit den Lernjahren zu (eigenverantwortliche Texterschließung, kreatives Schreiben, szenische Darstellung, Auswahl von Inhalten), insbesondere wenn die Lehrbuchphase abgeschlossen sei. <?page no="243"?> 244 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ „Ich habe schwerpunktmäßig bis beinahe ausschließlich über den Anfangsunterricht gesprochen, das fällt mir jetzt beim Nachlesen auf. Natürlich nimmt die LA mit den Lernjahren zu, was z. B. Texterschließung, kreatives Schreiben, auch die Darstellung kleiner Szenen auf Französisch betrifft (z. B. habe ich jetzt im vierten Lernjahr mit einer Art kommentierter Modenschau begonnen - selbstständig von den Schülern - z.T. zu Hause vorbereitet). Ein großer Schritt ist es dann, wenn die Lehrbuchphase zu Ende ist, da dann auch Inhalte zunehmend von den Schüler/ innen selbst ausgesucht werden. Bei der Einführung neuer Texte wird spätestens ab dem 3. Lernjahr die klassische Methode - Lehrer erklärt unbekannte Wörter vorher, dann Vorspielen des Textes und Lesen mit Verständnisfragen - zur Ausnahme. Es wird ersetzt durch eigenverantwortliches Erschließen der Texte durch die Schüler/ innen in verschiedenen Formen.“ (MHL, E, 9/ ’08) Zweitens möchte sie sehr deutlich auf die Interdependenz von „mehr Selbstständigkeit“ und „effektiver Kontrolle“ hinweisen. Damit stellt sie das Konzept der LA und ihren eigenen wesentlichen Grundgedanken im Hinblick auf den Französischunterricht in einen direkten Bezug. Sie bedient sich hierbei eines Beispiels aus der kommunalen Verwaltung (sie war elf Jahre lang Gemeinderätin). Früher seien finanzielle Mittel auf ein Jahr zugeteilt worden und verfallen, wenn sie in dem Jahr nicht aufgebraucht worden seien. Um dieses zu verhindern, sei regelmäßig das „Dezemberfieber“ ausgebrochen, auch für weniger sinnvolle Anschaffungen. Heute könne in vielen Gemeinden eine Behörde oder eine Schule nicht verbrauchte Mittel ins nächste Jahr übertragen und so Gelder für größere Anschaffungen ansparen. Damit würde aber eine transparentere Berichtspflicht einhergehen. So würde sie auch beim Vokabellernen verfahren. Sie überlasse es den Schülern, wie sie die Wörter lernen, würde aber regelmäßige Vokabeltests mit „Intervention bei Kindern, die mangelhaft gearbeitet haben,“ durchführen. „Dieser erweiterten Selbstständigkeit steht auf der andern Seite die Berichtspflicht entgegen, durch die dann der Verwaltung gegenüber transparent gemacht werden muss, wie die Mittel verbraucht wurden. Mehr Selbstständigkeit und effektive Kontrolle sind so zwei Seiten derselben Medaille. Nach diesem Prinzip möchte ich auch das Wörterlernen verstanden wissen: Ich erkläre/ biete verschiedene Methoden an (die beiliegende Kopie ist eine Möglichkeit aus der Zeit, in der der elektronische Vokabeltrainer noch nicht zur Verfügung stand, die Kärtchenmethode ist eine zweite Möglichkeit). Ich überlasse den Schülern, wie sie die Wörter lernen, verlange auch nicht das übliche Abschreiben des gesamten Vokabulars (eine ineffektive Methode, wenn ich meine eigenen Kinder betrachte; bei dieser extrem unbeliebten Hausaufgabe wird grundsätzlich laute Begleitmusik aufgedreht). <?page no="244"?> 1.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 245 Die andere Seite: regelmäßige Vokabeltests, die möglichst alles Vokabular abdecken - mit Intervention bei Kindern, die mangelhaft gearbeitet haben.“ (MHL, E, 9/ ’08; Hervorhebungen, MHL) c) Abschließende Bewertung MHL bestätigt ihre Falldarstellung nach mehr als einem Jahr und äußert am Schluss: „Bis auf die zwei kleinen handschriftlichen Korrekturen […] bin ich sonst mit dem Text vollkommen einverstanden.“ (MHL, E, 9/ ’08) Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Beschreibung ihrer Gedanken über Verständnis, Stellenwert und Umsetzung des Konzeptes der LA in ihrer eigenen Praxis im Sinne einer Subjektiven Theorie um dauerhafte Einstellungen und Gedankenkonstrukte handelt. Fazit zur Einzelfalldarstellung von MHL: LA - „Die Medaille“ Interview, zweites Gespräch (mit Legung eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich MHL und ihres Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und ihrer Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: Sprache ist für MHL die wichtigste Säule der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie macht den Menschen zum Menschen und ist Bedingung und Ausdruck seiner geistigen Fähigkeiten. Während der Mensch durch die Muttersprache das eigene Ich, die Mitmenschen und die Welt entdeckt, bedeutet das Erlernen einer Fremdsprache für sie den Erwerb neuer Kommunikationsmöglichkeiten und das Kennenlernen einer neuen Kultur. Das Lernen selbst ist für sie die Speicherung im Langzeitgedächtnis, das vor allem durch das Sprechen erfolgt. Über den Lernprozess an sich bzw. den Aufbau von Sprachlernkompetenz hat sie sich bisher keine weitergehenden Gedanken gemacht. LA im Fremdsprachenunterricht bedeutet für MHL, dass Schüler eine Fremdsprache „selbstständig lernen“, also neue Kommunikationsmöglichkeiten und eine neue Kultur selbstständig erwerben bzw. kennenlernen. Dazu sollen sie verschiedene „Strategien der Wissensaneignung“ kennenlernen und gemäß ihrem eigenen Lerntyp selbst auswählen. Sie finden sukzessiv „Methoden, ihre eigenen Leistungen zu kontrollieren (auch die ihrer Mitschüler)“. Später wählen die Schüler auch zunehmend eigene Inhalte aus <?page no="245"?> und setzen eigene Schwerpunkte. Die Hinführung zur LA erfolgt für MHL „in ganz kleinen Schritten“. Sie sieht diese als einen individuellen Prozess an, der allerdings in ihrem Unterricht nicht reflektiert bzw. thematisiert wird. Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist das Bemühen, „die Kinder nicht zu verlieren“. Sie versucht dies durch effektive Kontrolle, insbesondere des Wortschatzlernens und der schriftlichen Leistungen, zu erreichen. Die schriftlichen Leistungen entscheiden für sie über die Schulkarriere und verlangen ihrer Meinung nach eine hohe Genauigkeit. Daneben bemüht sie sich im Unterricht, viel mit ihren Schülern zu sprechen. Das Sprechen fördere die LA. Die Förderung von LA ist dabei ein Aspekt unter vielen anderen. LA nimmt in ihrem Unterricht einen positiven Stellenwert ein, da sie die Schüler motiviere. Einen hohen Motivationsgehalt schreibt sie aber vor allen Dingen einer reichen Methodenvielfalt zu, ein wichtiger Grundsatz ihres Unterrichts. Ihr Blick auf die LA erfolgt schließlich in Abstimmung mit ihrem Grundgedanken zum Französischunterricht. Sie gebraucht dazu das Bild einer Medaille mit zwei Seiten: „Mehr Selbstständigkeit und effektive Kontrolle sind so zwei Seiten derselben Medaille.“ Entsprechend sieht sie sich selbst in der Rolle eines „Motivierers“ und „Kontrolleurs“. 246 1 Monika Hellweg-Lenz (MHL): „Zur LA in ganz kleinen Schritten“ <?page no="246"?> 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, aber laufen tut bitte alleine, weil ich trag’ euch nicht.“ 2.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie Die Gespräche mit TW fanden Ende 2007 statt. TW war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt und konnte auf eine Unterrichtserfahrung von fünf Jahren zurückblicken. Seit 2002 unterrichtet er die Fächer Französisch und Mathematik in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Sein Gymnasium ist neusprachlich orientiert, mit Schwerpunkt Französisch. Seine Unterrichtserfahrungen in Französisch beziehen sich auf Französisch als 1. Fremdsprache ab der Klasse 5, auf Französisch als 2. Fremdsprache ab der Klasse 6 und ab der Klasse 7 und auf Französisch als 3. Fremdsprache (im neunjährigen Gymnasium) ab der Klasse 9 und ab der Klasse 11. Zur Zeit der Gespräche war Französisch sein Unterrichtsschwerpunkt, und zwar unterrichtete er Französisch als 1. Fremdsprache in den Klassen 6, 7 und 8 und Französisch als 2. Fremdsprache in der Klasse 10. An seiner Schule ist TW zudem Verkehrsbeauftragter und leitet einen Mathematikzirkel. TW hat sehr positive Erinnerungen an die Zeit (achtziger Jahre), als er anfing, Französisch zu lernen. Seine Englischlehrerin, zu der er kein gutes Verhältnis hatte, riet ihm zunächst davon ab, Französisch als weitere Fremdsprache zu lernen. Er wollte ihr dann zum einen beweisen, dass er sehr wohl dazu in der Lage sei, diese „fürchterlich schwere Sprache“ zu meistern, zum anderen war für ihn die Tatsache außerordentlich wichtig, dass es einen Austausch mit Paris geben würde. Dieser Austauschkontakt hält bis heute und ermöglichte ihm das leichte Erlernen der Sprache. „TW: Weil ich hab’, ähm, komischerweise, obwohl Französisch eigentlich schwieriger ist, nie Probleme gehabt. CW: Ja. Schwieriger als was? TW: Als Englisch. Ich mein’, also, ich bin …, in der 5. Klasse hab’ ich mit Englisch begonnen. Und dann in der 7. kam Französisch. Und irgendwie hatte Französisch schon von vorneherein für mich diesen Anspruch einer fürchterlich schweren Sprache. Dann hat mir meine Englischlehrerin damals noch gesagt, äh, ich soll’s doch auch besser <?page no="247"?> 248 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ lassen, weil Latein wär’ wohl eher was für mich. Und, äh, da fühlte ich mich dann so ’n bisschen nach dem Motto, so, dir zeig’ ich’s, weil wir konnten uns nicht so gut. CW: Aha. TW: Und, äh, daraufhin hab’ ich dann Französisch gewählt. Der ausschlaggebende Punkt war, dass ich wusste, äh, also der Punkt, warum ich’s gewählt habe seinerzeit als Schüler, war, weil ich wusste, wir fahren nach Frankreich, wir haben ’nen Austausch mit Paris. Und da wollte ich hin. Und deswegen habe ich die Sprache gewählt, und na ja, ist dann e’n bisschen mehr draus geworden, weil der Austausch hat sich jahrelang gehalten. Heutzutage ist immer noch Kontakt. Und das war dann halt der Grund, warum mir Französisch immer sehr leicht fiel. […] Also, ich hab’ nie wirklich klassisch pauken, natürlich irgendwann schon. Aber während der Schulzeit durch die Frankreichaufenthalte und durch das Interesse kam das von alleine.“ (TW, I, 11/ ’07) TW fällt der Rückblick auf seinen Französischunterricht als Schüler nicht leicht, da er diese Zeit heute aus der Perspektive des Lehrers betrachte. Während er als Schüler seinen Unterricht und sein Lehrwerk seinerzeit als positiv empfand, sieht er heute beides eher kritisch. Seine damalige Lehrerin, eine „ältere Kollegin“, empfand er als „eher streng“. Sie unterrichtete seiner Meinung nach „mehr zielorientierter“ und ohne Freiarbeitsphasen. Eine Beurteilung möchte er aber aus heutiger Sicht nicht dazu abgeben, weil diese Art des Unterrichts damals so üblich gewesen sei. „TW: Als Schüler ist schwierig. Ich guck’ ja jetzt von zwei Seiten. CW: Ja. TW: Also, ich weiß, dass mein Französischunterricht im Vergleich zu dem heutigen Unterricht, wie man ihn macht, ziemlich schlecht war. Jetzt ist ‚schlecht‘ natürlich so vor sich hin. Ich möcht’ das nicht beurteilen. Es war halt damals so. Aber das Buch war ’ne Katastrophe. Also das, ich hab’ das ja noch zu Hause. […] Und da, als Schüler empfand ich das nicht schlimm. Als Schüler hat mir das gefallen. Ich bin auch gern in den Unterricht gegangen. CW: Ja. TW: Von der Art her, wenn ich zurück …, ist das lange her, wenn ich zurück blick’. Ich weiß, wir hatten eine etwas ältere Kollegin damals, die war relativ streng. So Freiarbeit und so ’was gab’s da gar nicht. Aber es war halt mehr so zielorientiert.“ (TW, I, 11/ ’07) Die englische Sprache lag ihm bereits als Schüler weniger, so dass er seine Erfahrungen als Englischlerner kaum auf das Erlernen der französischen Sprache übertrug. Hingegen konnte er seine Lernerfahrungen des Französischen bei dem Erlernen des Lateinischen, seiner 3. Fremdsprache, anwenden. <?page no="248"?> 2.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie 249 Bei seiner Berufswahl spielten dann die fachlichen und pädagogischen Aspekte gleichermaßen eine Rolle. Sein Referendariat absolvierte er in Nordrhein- Westfalen, kommentiert diese Phase aber nicht weiter: „Ich lasse da jetzt einfach mal den Kommentar aus.“ Als Lehrer möchte er, vor dem Hintergrund seiner eigenen Lernerfahrungen, seine Schüler vor „falschem Lernen“ bewahren. Ihm ist es deshalb wichtig, ihnen „den richtigen Weg zu zeigen“, Spaß zu vermitteln, eine gewisse Weltanschauung mit auf den Weg zu geben, ihnen zu helfen, Zusammenhänge herzustellen, und ihnen Lerntechniken nahe zu bringen. „TW: Also natürlich Mathe, Französisch waren so meine Fächer. Sind die Fächer, die ich gut konnte, die ich dann natürlich auch studiert hab’. Weil, ich mein’, ich wusste schon in der 8. Klasse, dass ich Lehrer werden wollte. Das war schon immer irgendwie vorgezeichnet. Na gut, danach war’s glaub’ ich noch Architekt. Aber dann irgendwann kam ganz schnell der Lehrer. Und von daher, äh, es war immer beides. Es war immer beides. CW: Ja. Darf ich fragen, was Ihnen am Lehrersein, äh, was Sie da so fasziniert? TW: (denkt nach) Ich möchte’s genau auf den Punkt bringen. Deswegen überleg’ ich. Äh, die Möglichkeit zu haben, Schülern, das hört sich jetzt blöd an, aber, den, den richtigen Weg zu zeigen. Sie davor zu bewahren, vor genau die gleichen Wände zu laufen, vor die ich gelaufen bin. Und das mach’ ich jetzt in, in meinen beiden Fächern. Weil alles geht nicht, und da hab’ ich jetzt halt das ’rausgesucht. Also, ich möchte, dass die Schüler Spaß haben. Und ich denk’, ich kann als Lehrer ’was dazu tun, dass die Spaß haben. Ich möcht’ nicht, dass sie Angst vor Schule haben. Es gibt so, so ’n ganzes Paket, was ich ’rüberbringen möchte. Weil ich hab’ gelernt, dass …, wie’s läuft im Leben und das würd’ ich gern’ weitergeben. Ja, doch, ich glaub’, so is’ es. CW: Und vor welche, vor welchen Wänden möchten Sie Ihre Schüler zum Beispiel bewahren? TW: Zum Beispiel, das sind dann mehr so technische Dinge, zum Beispiel, dass sie der Meinung sind, von morgens bis abends, und das mit Sicherheit auch tun, Vokabeln zu lernen, aber trotzdem nichts wissen. Mit anderen Worten falsches, falschem Lernen vorbeugen. Lerntechniken mit auf den Weg geben, Weltanschauung auch mit auf den Weg geben, äh, äh, Zusammenhänge vermitteln, äh, ja, so ’was. Dass, dass man nicht blind durch die Welt geht. Nicht, dass man zum Beispiel, wenn man …, keine Ahnung, fällt mir jetzt in, in, in Französisch, immer auf die Sprache … Wenn ich, wenn ich ein Wort habe wie Portemonnaie. Zum Beispiel, dass ich da mal sage: ‚Ja Leute, hallo, Portemonnaie sagt ihr doch jeden Tag. Wo kommt denn das her? ‘ Ne, und dass die auch, ähm … Ja, ich versuche Zusammenhänge herzustellen, insofern als dass es den Schülern noch leichter fällt, äh, äh, ich sag’ mal, unbekannte Texte schneller zu erfassen, indem sie auch mal e’n bisschen die Wortbedeutung differenzieren. Und das mal jetzt …, wenn ich jetzt Französisch nehme: apprendre (klopft auf den Tisch), <?page no="249"?> comprendre (klopft auf den Tisch), äh, und so weiter. Diese ganzen …, prendre alleine, dass das wirklich nur diese kleinen Dinger da sind, die das unterscheiden. Auf diese Art und Weise. Das hat mir früher keiner gesagt. CW: Hm. Und wie haben Sie das dann gelernt, wenn’s Ihnen keiner gesagt hat? TW: Von alleine. CW: Von alleine. TW: Irgendwann, ich mein’, wenn man genug Sprachen hat mit Latein und wenn man dann vielleicht das Interesse auch hat. - Also, ich bin in der Beziehung, nicht nur in der Beziehung, ich bin generell ein Autodidakt. - Also, ja.“ (TW, I, 11/ ’07) TW ist es ein Anliegen, dass die Schüler keine Angst vor der Schule haben und Interesse am Fach entwickeln. Er möchte ihnen „die Liebe zum Land und zur Sprache vermitteln“ und dadurch ihr Lernen initiieren. Damit greift er bewusst auf seine eigenen Erfahrungen als Französischlerner zurück. „TW: Das heißt, den Schülern die Sprache beizubringen, die Grammatik beizubringen, ohne dass sie merken, dass sie eigentlich ’was lernen. So dieses, äh, über Interesse, weil ich mach’ sehr viel landeskundliche Sachen. Ich hab’ auch überhaupt kein Problem damit, wenn jetzt grade ein spannendes Thema, und ich merke, die Schüler wollen ’was wissen, mein Thema abzubrechen, was ich gerade mache, und an deren Stelle weiterzumachen. […] Mir ist es wichtig, dass so ein Gesamteindruck entsteht, wobei gleichzeitig das, die Wichtigkeit des Französischen mit drin ist. […] Ich möcht’s denen ehrlich gesagt, genau so beibringen, wie ich’s gelernt hab’, mehr will ich nicht über den Unterricht nach dem Motto ‚Ich muss jetzt lernen, weil ich Französischschüler bin.‘, sondern ich muss, ich lern’ das, weil ich das wissen möchte, weil mir das Spaß macht, weil ich das Land toll finde, weil ich das Drumherum toll finde. So, so war’s ja bei mir.“ (TW, I, 11/ ’07) Mit seinen Kollegen, insbesondere den Französischkollegen, ist TW ständig im Gespräch, man ist hilfsbereit, selbst erstellte Materialien werden auch unaufgefordert ausgetauscht. „TW: Also, ich sitz’ so ’n bisschen in der Französischcombo. […] Von daher ist …, wir, wir reden viel miteinander. Wir helfen uns auch viel. Es werden Materialien ausgetauscht, es …, ja, also, auch teilweise unaufgefordert. Das dann …, die Leute sagen: ‚Du guck mal hier, hab’ ich gemacht.‘ Und so läuft das.“ (TW, I, 11/ ’07) 250 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="250"?> 2.2 Analyse des Interviews 251 Zusammenfassend: Als Schüler erlebte TW einen Französischunterricht, der geprägt war von zielorientierter Strenge und geschlossenen Phasen. Im Kern seiner Motivation, Französisch zu lernen, stand und steht noch heute der Austauschkontakt. Dadurch wurde sein Interesse geweckt, sich als „Autodidakt“ mit Französisch zu beschäftigen und sich sprachliche Zusammenhänge selbst und mit Hindernissen zu erarbeiten. Seine Schüler möchte er als Lehrer von vorneherein vor „falschem Lernen“ bewahren, indem er ihnen seine eigenen Lernerfahrungen weitergibt. Er möchte bei ihnen Interesse wecken, Zusammenhänge aufzeigen und eine Weltanschauung vermitteln, so dass sie aus der Begeisterung für das Land heraus Französisch lernen. Diese Begeisterung teilt er auch mit seinen Französischkollegen, mit denen er einen regen Austausch führt. 2.2 Analyse des Interviews Der Kontakt mit TW war mir über eine Kollegin von ihm, die ich kannte, vermittelt worden; das heißt, TW und ich kannten uns im Vorfeld nicht. Bereits beim ersten Telefonkontakt war er offen, freundlich und zeigte sich flexibel. Er hatte sich zu dem Interview bereit erklärt, weil er von seiner Kollegin gefragt worden war und keinen Grund sah, abzulehnen. Vielleicht hätte er irgendwann einmal ein „ähnliches Problem“ und dann würde er sich auch wünschen, dass ihm jemand helfen würde. Das Interview fand im November 2007 an TWs Schule statt und dauerte ca. 1,5 Stunden. Da das Gespräch im Medienraum stattfand, kam es immer wieder zu kleinen Störungen. Diese hatten allerdings keine negativen Auswirkungen auf den Verlauf des Gespräches, da TW auskunftsbereit war und sich sehr um Präzision bemühte. Das Gespräch stand unter keinerlei Zeitdruck, alle Punkte konnten in Ruhe erörtert werden. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von TW a) LA TW versteht unter LA, dass Schüler in der Lage sind, Probleme selbstständig zu lösen. Die Lehrkraft sollte ihre Schüler zuvor dazu in die Lage versetzt haben, z. B. durch Informationsblätter, die die Schüler bei Problemen hinzuziehen können. Spontan fallen ihm da zunächst eher Beispiele aus der Mathematik als aus Französisch ein. Und er unterstreicht den Kontrast zum Unterricht, wie er ihn selbst als Schüler erlebte, als er den Lernstoff nur passiv aufnahm. <?page no="251"?> „TW: Also, ich versteh’ unter LA, dass Schüler in der Lage sind, sich selbstständig gewisse Problemchen zu beseitigen. Das heißt nicht, dass sie von vorneherein in der Lage sind, mit ’nem Buch sich alles anzueignen. Aber dass man, ich sag’ mal, vielleicht nicht jede Kleinigkeit im Unterricht besprechen muss, sondern dass vielleicht Probleme bei einigen auftauchen, bei anderen nicht. Und bei denen, wo sie auftauchen, nehm’ ich jetzt in der Mathematik neue Einheiten oder sonst was, muss vom Lehrer vorher die Möglichkeit gegeben werden, äh, dass man die Probleme selbst lösen kann. Sei es über Informationsblätter oder sonst ’was. Also ja, das verstehe ich …, also, die Schüler sollten in der Lage sein, sich Probleme selbstständig zu erarbeiten, gerne mit Hilfe, aber in erster Linie sollen sie mal …, also das Gegenteil wäre dieses, wie’s zu meiner Zeit war, dass man sich hinsetzte: ‚Bediene mich! ‘, und quasi rein passiv nur aufnimmt, und so nicht.“ (TW, I, 11/ ’07) TW sagt, dass LA in seinem Unterricht eine große Rolle spiele. Seine Schüler sollten sich Fragen nach Möglichkeit selbstständig beantworten. Vor allem versuche er, insbesondere im Mathematikunterricht, LA über Projektarbeit in Gruppen zu realisieren. TW verzichtet dabei bewusst auf die Arbeit mit dem Lehrwerk und stellt seinen Schülern lebensnahe übergeordnete Problemfragen im Sinne eines aufgabenorientierten Unterrichts. Die Erfahrung, ein Problem in einer Gruppe gemeinsam gelöst zu haben, einschließlich den Lösungsweg selbstständig gefunden zu haben, nähme den Schülern die Angst vor vermeintlichen Schwierigkeiten im Fach und gäbe ihnen die Fähigkeit, auch einmal quer zu denken. Sich selbst sieht TW dabei als Wissensquelle im Hintergrund, die von den Schülern gezielt befragt werden kann. Zur Unterstützung des Gesagten klopft er bei seinen Ausführungen immer wieder auf den Tisch. „CW: Und das spielt in Ihrem Unterricht dann auch ’ne Rolle, LA? TW: Das spielt ’ne große Rolle. Ja. Ich versuch’s zumindestens. Also … CW: Ja. Was würden Sie so sagen, wie Sie das versuchen? TW: Wie versuche ich das? Äh (denkt nach), indem ich, äh, gewisse … Also jetzt, wir haben ja zum Beispiel in der Mathematik gerade Einheiten machen. […] Wir haben die Einheiten besprochen, die Einheit Deka besprochen, dass das eine Vorsilbe für Verzehnfachung ist. Also, wenn ich jetzt …, das Problem stellt sich folgendermaßen: Die Schüler kennen ihre Einheiten. Sie wissen, da kommt Millimeter, Zentimeter, Dezimeter, Meter (klopft nach jeder Einheit auf den Tisch) . So, und dann kommt erst mal 10 Meter, 100 Meter, Kilometer. Wieso heißt das nicht irgendwie (klopft drei Mal auf den Tisch) ? Das heißt es doch bei Zentimeter und Millimeter auch, ne. Und diese Sache, die stell’ ich dann in Form einer Tabelle dar, geh’ aber nicht explizit drauf ein, dass an dieser Stelle ’was [der Name Dekameter] fehlt. […] Der [Name] steht auf einem anderen Blatt. CW: Ja. 252 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="252"?> 2.2 Analyse des Interviews 253 TW: Wo genau sämtliche Einheiten untereinander sind. Und dann kommen Aufgaben, und da steht dann mit einem Mal ein Dekameter. Und dann müssen se gucken. Was heißt denn das dann? ‚Hab’ ich noch nie gesehen‘, werden hunderte Schüler fragen. […] ‚Ja, was machen wir jetzt? ‘ - ‚Könnt ihr das vielleicht irgendwo rauskriegen? ‘ Und dann kommt mit Sicherheit einer: ‚Wir haben doch hier den Einheitszettel. Guck mal, da steht es.‘ Und dann (klopft auf den Tisch) , dann läuft’s. CW: Aha. TW: So, also so. Das ist jetzt e’n Beispiel, was jetzt grade gelaufen ist. Aber das mach’ ich eigentlich immer anders. Das ist …, je nachdem wie, wie … Ich möchte die fordern. Genauso halt’ ich es für viel sinnvoller, grade jetzt wieder in der Mathematik, nicht den Schülern zu sagen: ‚Guten Tag. Heute lernen wir Binomische Formeln. Das geht so und so und so. Jetzt macht das mal brav nach.‘ Sondern, äh: ‚Wie funktioniert ’ne Satellitenschüssel? So, das heißt, wir sind jetzt in der Mathematik. Es geht drum Tangenten an Funktionen zu bestimmen. […] Das ist das große Ziel, da fangen wir mal klein an.‘ Und das, das ist e’n ganzes Konzept mit ’ner …, das sind mehrere …, worauf ich hinaus will, ist Projektarbeit. Nicht? Wir kommen zu Projekten und diese Projekte sind als Problem gestellt. Und die Schüler sollen sich den Weg erst mal selber suchen. […] ‚Überlegt mal. Macht das in Gruppen, macht das untereinander. Ich bin gerne bereit, Fragen zu stellen, ich zeig’ euch aber nicht den Weg.‘ Und das hat sich als …, das mach’ ich jetzt seit …, ja eigentlich schon immer so. Äh, und das hat sich in der Mathematik als ganz hervorragend herausgestellt. Also, da hab’ ich wirklich bemerkt, dass die auch durch die komplett vom Buch abgehobene Unterrichtsmethode, die damit überhaupt nichts …, das sind vollkommen andere Projekte. […] Ich hab’s jetzt drei Mal gemacht und alle drei Male waren meine Schüler nachher fit wie ’was. Weil die in der Lage waren, auch mal quer zu denken. Und die auch keine Angst hatten vor ’nem, vor ’nem Buchstaben mehr in der Gleichung. […], die hatten e’n Problem und die mussten damit fertig werden. Und das gemeinsam. Und die Information, die sie brauchen, die kriegten sie von mir. Allerdings mussten sie danach fragen.“ (TW, I, 11/ ’07) Für TW funktioniert der Französischunterricht anders und kleinschrittiger als der Mathematikunterricht. Einfache grammatische Phänomene benennt er den Schülern und lässt diese dann üben. Andere Phänomene lässt er erarbeiten, indem er die Schüler Parallelen zu anderen Sprachen ziehen lässt. Auf dem Weg zur LA ist es ihm im Französischunterricht wichtig, dass die Schüler die Sprache sprechen, daher unterbricht er sie, so sagt er, beim Sprechen nie. Er führe die Schüler früh an das Arbeiten mit dem Wörterbuch heran, damit sie sich bald unbekannte Texte auch selbstständig erarbeiten können. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Lerntechniken, die im Lehrwerk angeregt werden, und sein Ziel, dass seine Schüler eine gewisse Nichtverstehenstoleranz entwickeln, um einen Text schnell zu erfassen. <?page no="253"?> „CW: Und das funktioniert im Französischunterricht genauso? TW: Im Französischunterricht ist es etwas anders. Da geht das ja nicht so. Das …, äh, äh, äh, wenn es, wenn es darum geht, Grammatik zu vermitteln - ist es teilweise so ’ne Sache. Also, wenn es ganz einfache grammatische Phänomene sind, dann nenne ich die. Und dann wird geübt. Und dann, weil im Französischen ist Sprechen wichtig, die Liebe, also das …, ich sag’ mal das Benutzen der Sprache und wie wir’s dann machen. Ich würd’ auch nie sofort Fehler korrigieren, ne, sondern erst mal reden lassen und am Ende und: ‚Da war vielleicht ’was. Kann mir mal einer helfen? Was habt ihr gehört? ‘ So auf die Tour. Aber nie unterbrechen. Äh, ich lass’ Schüler relativ früh mit dem Wörterbuch arbeiten nach dem Motto: ‚Heute schaut ihr euch den Text mal selber an.‘ Und dass ich viele …, also wie gesagt, im Französischen muss das viel kleinschrittiger sein. Das kann man nicht, in Mathe ist das anders. Aber da …, dass ich denen wirklich, äh, na, wie soll ich das sagen, die, äh, Texte einerseits selbstständig erarbeiten, andererseits was ich vorhin sagte mit den Präfix und Suffix, dass man Parallelen zieht zu anderen Sprachen. Halt eben diese Techniken, die auch im Buch stehen. Nicht? Dass man …, und dass …, das üb’ ich sehr häufig mit denen. Und hoff’ im Endeffekt, dabei ’rauszukommen, dass sie in der Lage sind, Texte, auch unbekannter Art, gerade unbekannter Art, relativ schnell zu erarbeiten, wenn sie nicht jedes dritte Wort nachgucken.“ (TW, I, 11/ ’07) Im Kern seines Unterrichts steht für TW die mündliche Sprachproduktion, das angstfreie Sprechen, dass Schüler überhaupt sprechen, ohne Angst vor Fehlern und mit Spaß. Er präzisiert das auf meine Frage nach wichtigen grundlegenden Prinzipien und Verfahren in seinem Unterricht wie folgt: „TW: Also, dass die Sprache im Vordergrund steht, aber ganz eindeutig. Dass es mir weniger wert ist, weniger wichtig ist, dass die Schüler ein perfektes, gestochen scharfes Französisch mit sämtlichen es und s und überhaupt, auch im Kopf, wenn sie reden, hinkriegen. Das ist weniger wichtig, als dass ’ne Verständlichkeit erreicht werden soll. Die sollen in der Lage sein …, die sollen erst mal die Angst verlieren. Die sollen natürlich korrekt sprechen. Ist ganz klar. Aber das ist nicht das Hauptziel. Hauptziel ist, dass sie überhaupt sprechen. Und das Ganze ohne Angst, sondern mit Spaß. Und wenn dann mal e’n Fehler kommt, na ja, Gott. Ne, im Schriftlichen gut, da sieht es natürlich anders aus, aber was …, um was es geht: Sprachproduktion ist wichtig.“ (TW, I, 11/ ’07) TW sieht hier einen direkten Zusammenhang mit dem autonomen Lernen. Meine Frage, ob das selbstverantwortliche Lernen eine Auswirkung auf die Kompetenz Sprechen hat, bejaht er mit dem Hinweis, dass es für Schüler wichtig sei, eine Präsentationsaufgabe mit mehr ‚Zeit für sich‘ zu bearbeiten und vorzubereiten, um dann angstfrei und sicher ihr Ergebnis vortragen zu können. Zu wenig Zeit blockiere die Schüler, zumal sie dann Angst vor Fehlern hätten. Er betont an dieser Stelle, dass das Präsentieren generell eine wichtige Schlüsselqualifikation sei. 254 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="254"?> 2.2 Analyse des Interviews 255 „TW: Weil die Schüler sicherer sind mit dem …, weil sie haben das ja län… Also wenn die das selbstständig machen und nicht in diesem Pingpongspiel, haben sie ja mehr Zeit. Wie jetzt zum Beispiel bei …, also, ich hab’ jetzt ganz konkret bei diesen Rhône- Alpes- Geschichten bei schwachen Schülern sehr gute Sprachproduktion, äh, wirklich erzielt, äh, weil die hatten jetzt ihr Ding. Da konnten sie jetzt dran ’rumkruschteln zu Hause in aller Ruhe, das genau gucken, ob hier oder auch im Computerraum. Und dann konnten sie es vortragen. Und das war, das war, das war e’n freieres Sprechen. Also, die durften nicht ablesen, weil sie hatten Kärtchen … CW: Mehr Zeit. TW: Ja. CW: Mehr Zeit, äh, im Unterricht, zu Hause, bei der Bearbeitung einer Aufgabe …? TW: (atmet laut) Vielleicht sollte ich es umformulieren: mehr Zeit für sich. […] Ja, weil ich, wenn ich doch als Lehrer, diesen wirklich zentrierten Unterricht fahre … CW: Ja. TW: … dann hat der Schüler die ihm zugewiesene Zeit zur Überlegung. Ich stell’ ’ne Frage, dann warte ich dreißig Sekunden, und wenn bis dahin die Antwort nicht kam, ist der nächste dran. Diese dreißig Sekunden sind relativ kurz, das könnte Schüler in meinen Augen blockieren. So jetzt: ‚Oh Gott, oh Gott! ‘ Gerade die Kleinen. Wenn die aber ’ne Aufgabe kriegen und [ich] sag’: ‚So, am Ende der Stunde, Leute, müsst ihr das präsentieren. Wenn ihr Probleme habt, kommt ihr. Aber erst mal seht ihr zu, wie ihr fertig werdet.‘, dann machen die ihr Ding, fragen: ‚Geh’ ich in die richtige Richtung? Mach’ ich das so? ‘ Dann sag’ ich ja oder nein und: ‚Guck mal besser dahin oder guck mal besser dahin.‘ Und wenn’s dann ans Vorstellen geht, dann haben die ihr Ding schon fertig. Dann haben die ’ne dreiviertel Stunde oder zwanzig Minuten drüber nachgedacht, sitzt schön im Kopf, und dann ist das auch nicht mehr so schlimm, wenn die da mal was drüber erzählen müssen und wenn die das ’rausbringen müssen. Und achten dann mehr auf den Inhalt als auf die Fehler. - […] Und dann mit ‚Zeit‘ mein’ ich, sie hatten halt mehr Zeit sich auf dieses, ich sag’ mal, Präsentieren vorzubereiten. […] Es gibt doch so Schüler, die sagen einen Satz, merken, da ist ein Fehler drin: ‚Oh Gott, jetzt hab’ ich e’n Fehler gemacht.‘, und so dieses. Die reden einfach weiter. Die machen tausend Fehler, aber reden weiter. […] Jedes Konzept geht in diese Richtung und dass, dass man …, überhaupt diese ganze GFS [gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen] und so weiter. Das ist doch alles, das sind doch alles Präsentationsfähigkeiten, Schlüsselqualifikationen. Das müssen die lernen, da fangen die sehr früh mit an.“ (TW, I, 11/ ’07) TW sagt, er ziehe gerne Vergleiche zwischen dem Französischen einerseits und dem Deutschen oder weiteren Sprachen andererseits, wenn es sich anbietet. Er finde Querverbindungen zwischen den Sprachen „sehr, sehr wichtig“. Die Schüler würden sich dabei mit ihrem persönlichen Wissen sehr gerne einbringen. Er meint, dass er so die Französischkenntnisse seiner Schüler auf eine breitere <?page no="255"?> Wissensbasis stelle, was dann eventuell den rezeptiven Fertigkeiten zuträglich sein könnte. Ob sich dieses Wissen über Sprachen auch auf die produktiven Fertigkeiten seiner Schüler auswirkt, vermag er nicht zu beurteilen. „TW: Mit dem Deutschen, auch mit dem Lateinischen. Ist doch vollkommen egal, ob sie das können oder nicht. Aber wenn mich jetzt einer fragt, äh: ‚Warum sind die Wochentage im Französischen so, wie sie sind? ‘, äh, dann sag’ ich: ‚Das sind die Planeten. Nich’, und da ist lundi ist, ist der Mond.’ ‚Ja wieso denn? Der Mond, der heißt doch Mond .‘ Ja, solche Sachen. Oder generell, äh, äh. Was haben wir neulich gemacht? Haben wir ’ne, äh, Sprichwörter verglichen, im, äh, Englischen und im Französischen und dem Deutschen. Wir haben einen Muttersprachler drin. […] CW: Und machen Ihre Schüler da mit, wenn Sie so den Sprachvergleich […] anregen? TW: Sehr sogar. Die wollen dann immer auch noch ’was dazu tun. Dann wissen se, was weiß ich, aus dem Spanischen ’was oder aus dem Kroatischen oder aus dem Polnischen kam neulich sogar, dass die dann …: ‚Ach, da heißt das dann so und so.‘ Und dann …, doch, doch, da machen die mit. CW: Und glauben Sie, […] dass die Art von Phase, dann wiederum eine Auswirkung hat auf den sprachlichen Output, also die Möglichkeit, dann auch zu produzieren? TW: Das weiß ich nicht, ob sich das jetzt speziell darauf auswirkt. Ich halte das einfach generell wichtig. Jetzt gar nicht mal im Hinblick auf Sprachproduktion, sondern das geht mehr so in die Richtung, äh, Zusammenhänge sehen, über ’n Tellerrand gucken, dass ich solche Vergleiche mache. […] Ich weiß nicht, ob es jetzt direkt in Sprachproduktion auf quasi … Ich glaub’ eher, dass das e’n anderes … CW: Und rezeptive Fähigkeiten? TW: Das schon eher. Weil man durch Vergleiche dann ja doch weitaus, äh, ’ne größere Basis hat.“ (TW, I, 11/ ’07) Bei den Vergleichen zwischen den Sprachen thematisiere er gerne die Mentalität der Menschen, die eine bestimmte Sprache sprechen. Nur so könne man eine Sprache erst richtig verstehen. Die Termini language awareness, Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit oder Sprachlernkompetenz sagen TW jedoch nichts. „TW: Wichtig dabei auch ist gar nicht mal …, ist auch, dass hinter jeder Sprache ’ne gewisse Mentalität steckt, die sich in der Sprache äußert, find’ ich. Das heißt, äh, eine Sprache ist nur so wie die Menschen, die sie sprechen. Und wenn ich jetzt ’ne Sprache vermittle, dann muss ich auch so ’n bisschen Geisteshaltung der Menschen dort vermitteln. Weil sonst versteh’ ich die Sprache nicht und andersrum sowieso nicht. Das heißt, wenn ich mir ’ner Sprache bewusst sein will, hier dem Französischen jetzt, dann muss ich auch die Franzosen kennen. Und wenn ich die Franzosen kennen will, dann muss ich e’n bisschen mehr von der Geschichte kennen. Dann muss ich wissen, was die Franzosen von den Deutschen unterschieden hat und auch noch unterscheidet, 256 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="256"?> 2.2 Analyse des Interviews 257 was den Deutschen wichtig ist, was den Franzosen wichtig ist, wo die Klischees sind. Ich find’, das gehört alles mit rein. Das kriegt man in einem Schüler sowieso nicht unter, aber man hat ja Zeit. Aber das halt’ ich für sehr wichtig.“ (TW, I, 11/ ’07) Zwischen den Klassen mit Französisch als 1., 2. und 3. Fremdsprache sieht TW Niveauunterschiede. Schüler mit Französisch als 1. Fremdsprache erlebt er als „sprachfreudiger“, weil die Schüler, so meint er, bereits mehr Kenntnisse besäßen. Allerdings seien sie weniger leistungsfähig als die Schüler mit Französisch als 2. Fremdsprache. Die Klassen mit Französisch als 2. Fremdsprache hat er als ganz unterschiedlich erfahren. „Es gibt Klassen, die sind ganz phantastisch, und es gibt welche, die können nix.“ (TW, I, 11/ ’07) Im Grunde hängt seiner Meinung nach aber das Leistungsniveau letztendlich von der Zusammensetzung der Klasse selbst ab und nicht davon, ob Französisch als 1. oder 2. Fremdsprache gelernt wird. „TW: Das liegt, das liegt an der Klasse selber. Weil ich hab’s auch schon anders rum gehabt. CW: Aha. TW: Da gibt’s Klassen, die haben einfach keine Lust. Da ist …, irgendwas geht da quer. Ich kann auch nicht sagen, warum oder was da quer geht. Es gibt Klassen, die sind wie Butter. Und dann gibt’s die Klasse in ’ner anderen Zusammensetzung, und es geht nur schief. Also das, das ist das. Deswegen ich kann das so jetzt gar nicht, so jetzt sagen, F1 schlechter als F2 oder so. Also, das ist immer unterschiedlich, jedenfalls bei mir.“ (TW, I, 11/ ’07) Zusammenfassend: LA bedeutet für TW, dass die Lernenden in der Lage sind, lebensnahe Probleme selbstständig in einem Team zu lösen. Bei Fragen sollten sich die Schüler die fehlenden Informationen gezielt beschaffen können, entweder aus entsprechenden Materialien oder durch Fragen an die Lehrkraft. Während er dieses Prinzip insbesondere im Mathematikunterricht verfolgt, geht er im Französischunterricht kleinschrittiger vor. Hier steht die angstfreie mündliche Sprachproduktion für ihn im Mittelpunkt. Zu diesem Zweck gibt er den Schülern gerne Zeit, sich auf Präsentationsaufgaben vorzubereiten. Das selbstständige Erarbeiten eines Textes mit Hilfe des Wörterbuches ist ein weiteres Ziel. Hierbei können seiner Meinung nach auch entsprechende Lerntechniken, die vergleichende Beschäftigung mit anderen Sprachen und interkulturelle Kompetenzen hilfreich sein. Die Entwicklung von Nichtverstehenstoleranz, das angstfreie Kommunizieren und das Erkennen von größeren (sprachlichen) Zusammenhängen ist ihm ein besonderes Anliegen. Bei der Einführung einfacher grammatischer Phänomene steuert er hingegen bewusst. Letztendlich hängt für TW die Art des Unterrichts entscheidend von der Zusammensetzung der Lerngruppe ab. <?page no="257"?> b) Sozialformen TW befürwortet bei den Sozialformen eine gute Mischung. Die Grammatikeinführung hält er gerne mit frontalen Phasen und auf Deutsch ab, um auch die schwächeren Schüler zu erreichen. Ansonsten ist ihm das gemeinsame Arbeiten sehr wichtig. Er erwähnt insbesondere die Partner- und die Gruppenarbeit. Sein Unterricht orientiere sich in erster Linie an Problemen, die von den Schülern selbst zu lösen seien. Hierzu gibt er z. B. Arbeitsblätter in den Unterricht ein mit gezielten Aufgaben, die in einer bestimmten Zeit zu bearbeiten sind. Er versuche, sich in den Phasen der Aufgabenbearbeitung, der Präsentation und der Besprechung der Präsentation weitgehend zurückzuhalten, damit die Schüler miteinander und selbstständig zu den Ergebnissen kämen. Nur in den Fällen, wo Fehler von niemandem bemerkt würden, interveniere er. „TW: Ich sag’ mal ’ne gute Mischung, das, das ist, glaub’ ich, äh, das Wichtige dabei. Aber das jetzt speziell halt’ ich für nicht so - kommt drauf an, was man macht. Also ’ne allgemeine, generelle Weisheit für die ultimative Methode hätt’ ich jetzt nicht. Hat, glaub’ ich, keiner. CW: Und wenn Sie das so quantifizieren würden, was herrscht in Ihrem Unterricht für ’ne Sozialform denn vor? TW: Viel Gruppenarbeit, viel aber auch viel, äh, gemeinsames Arbeiten. Das, das gar nicht mal so … Wir haben halt immer irgendein Problem. […] Wenn wir jetzt keine Grammatik machen, also ’ne Grammatikstunde, muss ich einfach sagen, aus ’em Alltag her, äh, das ist zwar alles schön, wenn man da recht schöne Zauberstunden abfackelt, aber, äh, das mach’ ich auch teilweise, aber in erster Linie, äh, bei Grammatik bin ich dann doch …, da findet der Unterricht auch auf Deutsch statt. Da mögen jetzt Kollegen der Meinung sein, dass das falsch ist. Ich halte das einfach für besser, weil’s auch schwache Schüler gibt. […] CW: Das wär’ dann da Frontalunterricht. TW: Das wär’ teilweise. Zumindestens frontale Phasen, wenn es darum geht, den, den reinen Stoff zu vermitteln, ganz klar frontal. Und dann kommen natürlich ’ne Arbeitsphase zur Übung, meistens in Partner- und Gruppenarbeit. Das stell’ ich denen dann frei, weil die wissen eh, mit wem sie am besten können. […] Am Anfang ist das immer e’n bisschen schwierig. Dann los’ ich die Gruppen aus. Nachher wissen die genau, wer zusammen passt. Und das …, da hab’ ich mich bisher drauf verlassen, das passt auch. Weil es keiner …, weil die …, die heben …, die ziehen sich dann auch gegenseitig durch. Dieses typische ‚Ich lehn’ mich zurück, lass’ dich arbeiten.‘ - In der Gruppe passiert da nichts. CW: Ja … TW: Weil dann kriegen sie von dem anderen einen drüber nach dem Motto: ‚Los, tu’ auch was! ‘ 258 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="258"?> 2.2 Analyse des Interviews 259 CW: Äh, wie bringen Sie die Schüler dahin, dass das so funktioniert dann das Miteinander? TW: Indem ich mich zurückziehe. Sie wissen ja, dass se ’was erreichen müssen. Am Ende muss da ’was stehen. Wenn jetzt von mir nichts kommt, wo sollen se’s dann herholen? Dann gucken se entweder ins Buch oder beraten sich. CW: Ja. TW: Und es kommt immer ’was bei raus. […] CW: Und dann danach, also wenn die erarbeitet haben? TW: Dann kommt die Präsentation. CW: Ja. TW: Oder da wird zusammengetragen. Es ist auch unterschiedlich. Manchmal ist es wirklich ’ne Aufgabe im Buch. Sehr häufig sind’s Arbeitsblätter. Nicht, dann gibt’s das, das Arbeitsblatt, an sich schon didaktisch so ’n bisschen ausgefuchst. Ist ja klar, äh, dass, dass ich irgendwo hin will. Ne, und das merken die dann anhand der Aufgabenstellung (klopft auf den Tisch) der Arbeiten, der, der…, anhand der Stellung der Aufgaben auf dem Arbeitsblatt. Und wenn die dann zu zweit sind, dann kommt das nach und nach. Dann steht am Ende: ‚Präsentiert eure Ergebnisse.‘ Da steht auch immer ’ne klare Zeitangabe dabei. […] CW: Hm. Hm. Und dann wird es in, in der Klassengemeinschaft besprochen, die Präsentation? TW: Ja. CW: Und äh, das sind dann die Schüler, äh, erst mal die Schüler selbst, die sich evaluieren? Und dann die Mitschüler? Oder wie muss ich mir das vorstellen? TW: Die hören sich das ja an, was dann kommt. Und dann kommt natürlich auch eine Frage: ‚Wie? Das ist ja falsch.‘ oder: ‚Nö! ‘ oder: ‚Das erklär’ mir noch mal.‘ So auf die Tour. Und ich sitz’ dann in solchen Phasen eigentlich …, meistens steh’ ich am Fenster, so was, und lass’ das laufen und dirigiere vielleicht so ’n bisschen mit, äh. Was auch schön ist, ist hier, wenn’s denn wirklich falsch ist und keiner merkt ’was, dann hab’ ich hier so ’n … Wo ist er denn (sucht, dann Quieken) ? So ’n kleinen Quietschi. Und dann wissen die an …: ‚Oh, oh, da war ’was.‘ Und dann wird überlegt: ‚Was könnte denn falsch sein? ‘ Dann raten se erst e’n bisschen um den Brei, dann kommen zwei falsche Antworten, dann gehen schon die Finger hoch, ne. Und dann, äh, gucken se meistens mich an, am Anfang, na dann ja nicht mehr… und sag’: ‚Na bitte, da …‘ Die berichtigen das dann. Und so.“ (TW, I, 11/ ’07) Immer wieder führe er auch Projekte durch, insbesondere im Mathematikunterricht, aber auch im Französischunterricht. In der 5. beziehungsweise 6. Klasse lässt er in erster Linie Rollenspiele, wie einkaufen gehen, erarbeiten und mit Kostümen aufführen, in der 10. Klasse z. B. einen Touristikführer erstellen. TW hebt hervor, dass der Projektunterricht den Schülern einen Sinnzusammenhang vermittle. <?page no="259"?> „TW: Projektunterricht ist mein absolutes Ding, äh. Mein kompletter Mathematikunterricht ist projektorientiert, in jeder Beziehung. Ist viel wichtiger, viel sinnvoller als dieses Kleckerhafte. Man kriegt e’n groben Zusammenhang. Man hat, man weiß, worum, warum man was macht. Grade in der Mathematik wichtig. Französisch genau so, äh, ja. […] So Rollenspiele in erster Linie. Dann kamen se mit, mit Kostümen und allem. Jedenfalls solche Sachen bei den Kleinen. Bei den Großen da haben wir jetzt ’en Touristikführer erstellt zum Beispiel. Da lass’ ich sie auch alleine. Ich sag’: ‚Leute, wir haben das Thema Rhône-Alpes . Ich habe euch hier zwanzig Themen zum Vorschlag gemacht. Was euch gefällt, nehmt ihr, was euch nicht gefällt, schmeißt ihr raus. Habt ihr ’ne eigene Idee, bitte, aber die hätt’ ich vorher gerne besprochen mit euch. Und dann erstellt einen Touristikführer.‘ Und das ist dann in Form von Plakaten geschehen. Und zusätzlich zu dem hatte jeder so ein Handout dann noch abzuliefern, mit, äh, Vokabeln und so weiter. Ne, so ’was in dem Stil. Das wird dann nachher gebündelt.“ (TW, I, 11/ ’07) Am Ende des Interviews präzisiert TW anhand des Begriffskärtchens „Öffnung versus Steuerung“, dass er bei einem ihm wichtigen Thema prinzipiell mehr steuere, um sicher zu sein, dass es bei den Schülern richtig ankäme. „TW: Ja, es kommt drauf an, was man macht. Bei ’ner, bei ’nem wichtigen Thema steuere ich mehr als bei ’nem unwichtigen Thema, weil es … Die Gefahr ist mir zu groß, dass es schief geht. Denn ich sag’: ‚Wenn der Karren einmal im Dreck ist, bis man den wieder raus hat, da, da zieh’ ich von vorneherein lieber.‘ “ (TW, I, 11/ ’07) c) Aufgaben Im Unterricht lässt TW gerne die Schüler in Gruppen Arbeitsblätter selbstständig bearbeiten, die Aufgaben beinhalten, die zu einem von ihm intendierten Ziel hinführen (siehe auch oben). Hier interveniere er nur, wenn sich bei den Schülern Fragen ergäben, die diese nicht alleine lösen könnten. Bisweilen hält er auch „reine Arbeitsstunden“ ab, in denen die Schüler Aufgaben aus dem Cahier bearbeiten und sich bei Schwierigkeiten Hilfe von Mitschülern oder ihrem Lehrer holen könnten. Hausaufgaben sind für ihn je nach Unterrichtsphase wichtig, aber nicht generell, nicht wenn z. B. das Stundenziel erreicht wurde. Hausaufgaben erwähnt er z. B. bei neuer Grammatik, die „eingeschliffen“ werden sollte. Die Schüler weist er dann auf die Wichtigkeit der Bearbeitung zu Hause hin. „CW: Welchen Stellenwert hat denn die Hausarbeit für Sie? TW: Unterschiedlich. Es gibt Phasen, da ist es sehr wichtig. Das wissen meine Schüler auch. Das sag’ ich dann auch ganz deutlich, ne, nach dem Motto: ‚Leute, jetzt ist es wichtig.‘ Und, also, ich bin kein Mensch, der jede Stunde um’s Verrecken, einfach nur weil ich es muss, ’ne Hausaufgabe aufgibt. Das tu’ ich nicht. Wenn’s ’ne Stunde war, wo die Schüler gut mitgearbeitet haben, wo das Stundenziel erreicht wurde, wo, wenn’s jetzt um Textvermittlung geht, die also wirklich in der Lage waren, diese 260 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="260"?> 2.2 Analyse des Interviews 261 Textpassage am Ende der Stunde wiederzugeben, ist gut. Die haben so viel zu tun, nachmittags und so weiter, da muss ich nicht noch, äh, solche … Aber wenn’s dann e’n grammatisches Phänomen erarbeitet, das muss jetzt noch mal so ’n bisschen eingeschliffen werden, dann gibt’s auch Hausaufgaben. Ich mach’ auch gerne, äh, wirklich reine Arbeitsstunden. Das heißt, man geht rein: ‚So Leute, jetzt heute wird gemacht im Cahier, Aufgaben 1 bis 5. (Klopft auf den Tisch.) ’Ne Stunde habt ihr Zeit. Wer Fragen hat, meldet sich.‘ Und dann sitzen die in Gruppen und arbeiten. Machen ihre Dinger und sehen, aha, das kann ich noch nicht. Dann fragen se meistens erst nebenan. Aber irgendwann geht dann noch mal die Hand hoch. Und dann geh’ ich hin. Wenn ich merke, das können alle nicht, dann wird die Phase abgebrochen und sage: ‚So okay, Leute, stoppt mal eben.‘ Ne, gemeinsam und weiter.“ (TW, I, 11/ ’07) d) Materialien TW nennt von sich aus keine Materialien, die seiner Meinung nach für die LA besonders förderlich seien. e) Das Französischlehrwerk Im Hinblick auf die Frage, wie ein Französischlehrwerk die Autonomie der Schüler unterstützen kann, kommt TW auf Aspekte zu sprechen, die nicht nur der Förderung der Autonomie der Schüler zuträglich sind, sondern die es auch ihm als Lehrer ermöglichen, autonom mit dem Lehrwerk umzugehen. Zu Letzterem gehöre der Aufbau des Schülerbuches. Das Buch und insbesondere die Lektionen sollten klar gegliedert sein. Jede Lektion sollte aufgrund eines reichhaltigen Zusatzangebotes die Möglichkeit geben, auch Teile wegzulassen. Solche Teile könnten dann gezielt nur den Schülern angeboten werden, die ein bestimmtes Pensum noch nicht beherrschten. Sehr schön fände er auch wiederkehrende grammatische Zusammenfassungen. Hier könnte er Schülern „recht schnell“ das Nachschlagen bei einem Problem empfehlen. Eine klare Abfolge von Text und von unterschiedlichen Übungen, die auch in einer anderen Reihenfolge bearbeitet werden könnten, würde den Unterricht zu einer „sehr spannenden Sache“ machen. Hinsichtlich der Schüler erwähnt er mit Blick auf die LA, dass diese kleine Hilfen an Ort und Stelle vorfinden sollten. Querverweise innerhalb des Buches, insbesondere zu den grammatischen Zusammenfassungen, aber auch ganz konkret zum Cahier, könnten sie außerdem nutzen, um sich bei Problemen selbstständig Hilfe an einer anderen Stelle zu holen. Als unterstützend sehe er auch eine optische, das heißt farbliche, Gestaltung grammatikalischer Phänomene im Buch und Querverweise zum Englischen im Vokabular. Insbesondere im Cahier könnten in direktem Anschluss an jede Lektion farblich markierte Seiten zur Selbstkontrolle mit Lösungen die selbstständige Vorbereitung auf Klassenarbeiten unterstützen. <?page no="261"?> „TW: Am Ende jeder Lektion und äh, farbig abgegrenzt, dass die genau wissen, ne, das ist so, das […] mach’ ich kurz vor der Arbeit.“ (TW, I, 11/ ’07) f) Medien Medien, die die LA unterstützen, sind für TW zunächst einmal Audio-CDs, auf denen die Texte von Muttersprachlern gesprochen werden. Wichtiger ist für ihn aber der Lehrer selbst, der die Schüler dadurch, dass er frei zu ihnen spricht, daran gewöhnt, auch zu verstehen, wenn Unbekanntes im Gesprochenen vorkommt. „TW: Wenn ich Französisch rede, überleg’ ich mir nicht jedes Wort: Hatten die jetzt schon ein Plusquamperfekt, hatten die jetzt schon ein imparfait, kennen die ein gérondif? Sie verstehen mich doch trotzdem. Die filtern sich das raus, was se hören müssen oder was se verstehen wollen und sollen. Von daher, wenn ich frei Französisch rede, […] verstehen die genau so viel und gewisse Dinge mehrmals sage, mit Gesten untermalen und vielleicht mal e’n Bildchen mache oder so oder, oder sonst irgendwie sich pantomimisch da e’n bisschen unterstützen. Aber prinzipiell äh, äh find’ ich, ist das auch schon e’n sehr wichtiger Punkt, dass man, dass die Schüler quasi viel mehr, eigentlich viel mehr verstehen als ihnen bewusst ist. Das kommt dann auch irgendwann später wieder zurück, wenn ich … Genau, jetzt haben se das passé composé gemacht. Seit der ersten Stunde frage ich: ‚ Compris? ‘ Und jetzt hatten wir genau das. Da sagt doch, vor ein paar Tagen sagt e’n Schüler: ‚Das kennen wir doch schon. Das sagen Sie doch immer.‘ Das ist jetzt nichts Besonderes, aber das sind so Kleinigkeiten.“ (TW, I, 11/ ’07) Schülersoftware setzt er in seinem Unterricht bei den jüngeren Schülern nicht ein. Er empfiehlt sie aber für das Üben zu Hause, weil er glaubt, dass den Schülern die kleinen Übungen Spaß machen. Bei den älteren Schülern nutzt er das Internet zur landeskundlichen Recherche und im Hinblick auf aktuelle Texte. Den jüngeren Schülern zeigt er landeskundliche Filme, wie z. B. zu den Schlössern der Loire, aber lediglich als Belohnung, „wenn sie sich mal was verdient haben“. Diese Medienarten spielen für ihn keine besondere Rolle, wenn es um die Förderung der LA geht. g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation TW legt Wert darauf, dass die Schüler keine Angst vor Fehlern haben und deshalb, so sagt er, unterbricht er sie auch beim Sprechen nie, wenn sie Fehler machen (siehe oben). Er übt mit den Schülern, sich untereinander zu kontrollieren. Bei einer Präsentation lässt er gerne die Mitschüler im Nachhinein Fehler korrigieren (siehe auch oben). 262 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="262"?> 2.2 Analyse des Interviews 263 „TW: Und dann kann man am Ende mal sagen: ‚So Leute, das war ja jetzt so ’n bisschen … Was war dann da wohl so? ‘ Dann geh’n auch meistens die Finger schon hoch von den andern: ‚Da war ’was. Da hab’ ich ’was gehört.‘ Weil die Schüler wissen, sie sollen, wenn jemand vorträgt, natürlich mitschreiben, wenn irgendwas falsch ist, wenn [man] das nachher noch korrigieren kann. Das machen sie auch.“ (TW, I, 11/ ’07) TW sagt, Selbstkontrolle und Selbstevaluation seien ihm sehr wichtig. Das selbstständige Kontrollieren funktioniere aber nur dann, wenn auch Lösungen vorhanden seien. Prinzipiell sei es wichtig, mit den Schülern den Aufbau des Buches zu besprechen, damit sie wissen, wo sie Antworten auf ihre Fragen finden können. „TW: Den Schülern muss klar sein, wo sie Antworten auf ihre Fragen finden. Und das sehen se, wenn man das Buch sehr gut mit denen bespricht, Aufbau des Buches. Dann wissen se genau, aha, da steht es. Das denk’ ich, ist so ’ne Art, die passt.“ (TW, I, 11/ ’07) Obwohl das Bild des Weges zentral in seinen Vorstellungen verankert ist, spielt der Begriff der Prozessorientierung in diesem Zusammenhang für TW keine Rolle und zum Begriffskärtchen „Lernprozess“ kann er nichts sagen: „TW: Lernprozess: Tja. Nun ich hoff’, dass er am End’ eintrete. Ah, weiß ich nichts zu, zu sagen.“ (TW, I, 11/ ’07) Mit fachdidaktischer Begrifflichkeit hat sich TW, der sich selbst als „Autodidakt“ bezeichnet (siehe oben zur persönlichen Lern- und Lehrbiografie), bisher weniger auseinandergesetzt. Siehe dazu auch seine Bemerkung zum Begriff „Lerntechniken“ unten. h) Schüleraustausch TW führt mit der Klasse 7 und mit der Kursstufe einen regelmäßigen Austausch mit einer Schule in Frankreich durch. In Bezug auf die Förderung der LA vertieft er diesen Aspekt aber nicht weiter, obwohl er ja in seiner eigenen Lernbiografie eine wichtige Rolle spielte. Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner TW spricht die Bedeutung des Französischlernens mit den jüngeren Schülern eher nicht an. Da funktioniere vieles über die attraktive Landeskunde. „TW: Den Kleinen ist …, Französisch ist toll, das ist e’n tolles Land, und da sind die Franzosen, sind alle ganz nett, und das ist wunderschön, so halt. […] Aber sonst versuch’ ich’s eher über Landeskunde und über Schönheit, als jetzt über politische oder sprachliche Bedeutung bei den Kleinen.“ (TW, I, 11/ ’07) <?page no="263"?> Bei den größeren Schülern thematisiere er die Bedeutung des Französischen für das eigene berufliche Fortkommen. Die politische und sprachliche Bedeutung werde insbesondere im Rahmen des Lehrgangs beim Thema Frankophonie behandelt. „TW: Aber die Bedeutung des Französischen im Hinblick auf Europa oder so, das sag’ ich auch mal, nach dem Motto: ‚Leute, Englisch kann jeder, nich’. Wenn ihr nachher die Nase vorne haben wollt, dann nehmt Französisch, und am besten noch Italienisch und Spanisch drauf.‘ […] Die Sprachen sind’s halt, ne, die, die einen nachher […] auch weiter bringen. Bei den Großen dann auch gerne mal Thema Europa, generell Rolle des Französischen in der Welt. Also, ganze Frankophonie kommt ja nachher in der …, in der …, Band 4 ist es, glaub’ ich.“ (TW, I, 11/ ’07) a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? TW sagt, er beobachte ganz unterschiedliche Lernertypen. Er unterscheidet dabei vor allem den Anstoß für das Lernen und das Ausmaß des Lernens. Er nennt Schüler, die meist auf Druck des Elternhauses jede Einzelheit auswendig lernen und sich auch mit unwichtigen Dingen intensiv beschäftigen. Dem gegenüber stehen für ihn solche Lerner, die ständig Druck von Lehrerseite bräuchten, um überhaupt zu lernen, und solche, die grundsätzlich nur aufgrund von Leistungsdruck phasenweise lernten. „TW: Das geht von der einen, vom einen Extrem jetzt ins andere. Da gibt’s die ganz Harten, die wirklich jedes i-Tüpfelchen auswendig lernen und meistens auch von zu Hause viel Druck kriegen. Und dann auch von vorneherein, die fangen einen schon im, vom Lehrerzimmer ab, weil se, äh, sagen wollen, dass, ach, was weiß ich, dass se bei der Hausaufgabe eine Zeile verrutscht sind oder solche Sachen, so vollkommen unwichtige Sachen. Und dann geht das natürlich fließend runter bis zu denen, äh, die also grundsätzlich jeden Tag, äh, e’n bisschen Feuer unterm Hintern brauchen, damit was passiert, und also absolute Saisonarbeiter.“ (TW, I, 11/ ’07) TW kann keinen Lernertyp oder Lernstil benennen, der dem Französischlernen besonders zuträglich wäre. Dabei betrachtet er Parameter wie „es genauer nehmen“, „freier sein in seiner Art“, „das tun, was der Lehrer sagt, aber auch nach rechts und links schauen“. TW setzt keine bestimmten Techniken ein, um herauszufinden, wie eine Lerngruppe von ihren Lernertypen her zusammengesetzt ist. Er sagt, er erkenne dies „beim täglichen Arbeiten nebenher“, insbesondere in stillen Arbeitsphasen durch Beobachtung oder anhand der Fragen, die ihm gestellt werden. „TW: Lernertypen: Gibt’s unterschiedliche. Jedem muss man anders begegnen. Schwierig kann es sein, den Richtigen oder Typen zu erkennen. Dass man ihm nicht die falsche Medizin verabreicht. 264 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="264"?> 2.2 Analyse des Interviews 265 CW: Haben Sie da, wenn ich fragen darf, äh, bestimmte Techniken oder Phasen, wo Sie versuchen, ‘raus zu finden, wie Ihre Schüler so ticken beim Lernen? TW: Hmm. Wenn ich jetzt sagen würde, ich habe jetzt meine Phase im Unterricht, wo ich jetzt versuche, das ‘raus zu finden, dann sag’ ich nein. Ich krieg’ das anders ‘raus, und zwar nebenher. Und ich kann jetzt auch nicht sagen: ‚Heute lern’ ich jetzt bei Schüler A.‘ Sondern das sind Momente, wo ich mir denke: ‚Aha, das kommt aber von alleine, dass ….‘ Ich arbeite ja mit meinen Schülern täglich. Die sind …, die, das sind ja eben … CW: Das Kennenlernen, praktisch … TW: In dem, immer in den Momenten, wo ich nicht zentriert unterrichte, das sind die, die Arbeitsphasen, die Übungsphasen, die, äh, teilweise auch, äh, ja, was weiß ich, ich möcht’ jetzt nicht sagen Laberphasen, aber ruhigere Phasen, ne, wo ich dann merke, indem ich mit, mit den Schülern … Ich mein’, wenn die da arbeiten, steh’ ich ja daneben und seh’s. Und solche Sachen. Das …, oder wenn dann Fragen an mich gestellt werden und so weiter.“ (TW, I, 11/ ’07) b) Lernerstrategien und Lerntechniken TW hat persönlich keinen Kontakt zu den Grundschullehrern und befragt deshalb seine Schüler selbst, welche Französischkenntnisse und welche Lerntechniken sie aus der Grundschule mitbringen. Seiner Erfahrung nach brächten die Schüler kaum Kenntnisse mit, insbesondere im Hinblick auf die Grammatik. Diese möchte er auch auf jeden Fall noch einmal selbst vermitteln, dann aber auch in Absprache mit den Deutsch- und besonders Englischlehrern, um auf die entsprechenden Vorkenntnisse der Schüler aus diesen Sprachen zurückgreifen zu können. „TW: Grundschule - Französisch [Kontakte] weiß ich nicht, weil meine Schüler jetzt aus der Grundschule, F1er auch, die haben ein paar Brocken, die können e’n paar Vokabeln, die haben mal Spielchen gemacht. Aber sobald’s irgendwie grammatisch wird, äh, ist ganz schnell Schluss. Also, deswegen …, das, das machen die auch nicht - in der Grundschule […]. Ich krieg das mit den Schülern ’raus. Ich finde sowieso, gerade grammatische Sachen, ich möcht’ es lieber noch mal machen. Die Zeit …, also weil das so wichtig ist … CW: Die Begriffe meinen Sie? TW: Natürlich. Gerade grammatische Begriffe. Wenn die schon hören ‚Personalpronomen‘ …, das ist schon viel zu viel für die Kleinen. Das ist ein ganz fürchterliches Wort und: ‚Oh Gott, oh Gott, was der wieder will! ‘ Also machen wir …, ich hab’…, ich mach’ die komplette Grammatik noch mal. Aber das dann hier in Absprache mit den Deutschlehrern, beziehungsweise auch mit den Englischlehrern. CW: Bei F2 dann auch besonders wahrscheinlich? <?page no="265"?> TW: Ganz genau. Ne, bei F1 mehr mit den Deutschlehrern und F2 dann eigentlich so generell. Weil es ist auch schön, weil viele grammatische Phänomene im Englischen und im Französischen kommen gleichzeitig. Ne, so in der 9. Klasse jetzt bei G8 das gérondif und das gerund. Die kommen gleich, zur gleichen Zeit. Und das ist schön, wenn man sich dann absprechen kann und sagen: ‚Ja, Leute, das kennt ihr doch. Das ist doch im Französischen genauso. Ist doch nur ’ne andere Form.‘“ (TW, I, 11/ ’07) In Bezug auf sinnvolle Lerntechniken hat TW genaue Vorstellungen. Eine für ihn äußerst wichtige und effektive Lerntechnik ist das Vokabellernen mit Karteikarten, weil die Schüler sich die Vokabeln dann nicht aufgrund ihrer Reihenfolge, sondern mit ihrer Bedeutung einprägten und darüber hinaus Vokabeln untereinander vernetzen könnten. Die Technik sei nicht immer beliebt, da sie Zeit und Arbeit bedeute. Die seien aber gut investiert, weil man sich die Vokabeln schnell und effizient und mit längerer Behaltensleistung einpräge. Man werfe Karteikarten zudem nicht so schnell weg wie Vokabelhefte, und schließlich habe er selbst auch Vokabeln genauso gelernt. „TW: Ich bestehe auf Karteikarten im Französischunterricht, das ist ganz klar. Äh, die können gerne e’n Vokabelheft führen, ist mir eins. Aber die Karteikarten führen se auch. Und, äh, das hat meiner Meinung nach e’n großen Vorteil, äh, was das Lernen angeht. […] Ich habe auch Schüler, wo ich weiß, dass sie viel lernen und es trotzdem nich’ hinkriegen. […], man merkt ja, wie die reagieren. Weil ich frag’ jede Stunde Vokabeln ab. Also immer die ersten zwei, drei Minuten müssen alle aufstehen und dann wer hat, setzt sich. Und da sind Leute, die bleiben immer stehen. Und dann werden se eingenordet. Und neulich war es wirklich so, der sagte: ‚Mensch, ich hab’ aber gelernt.‘ Und fing an zu weinen. Und das ist e’n Zeichen, dann hat er wirklich gelernt. Und das tat mir dann …, und haben uns auch unterhalten und ja, ja, er lernt, äh. Ich sag’: ‚Ja warum lernst du denn nicht mit deinen Karteikarten? ‘ Nö, das, die, das findet er doof, er lernt lieber im Buch selber. Ich sag’: ‚Warum schreibst du se nicht? […] Haste’s mal probiert? ‘ Is’ jetzt e’n paar Wochen her. Ja, äh, ich sag’: ‚Warum lass’ ich euch denn überhaupt auf Karteikarten schreiben? ‘ Ich sag’: ‚Warum? ‘ Wüsste er doch nicht. In Klammern: Was weiß ich, was ich mir da denke. Ich sag’: ‚Ja, haste mal ’ne Idee, warum ich das will? ‘ - ‚Ja, wäh, keine Ahnung.‘ Ich sag’: ‚Was passiert denn, wenn du, wenn du Karteikarten lernst, mit Karteikarten lernst? ‘ - ‚Ja‘, sagt er, ‚da hab’ ich ganz viel in der Hand und da kann ich die immer einzeln abfragen.‘ Und ich sag’: ‚Ach’, ich sag’, ‚was fehlt dabei? ‘ Da hab’ ich ihn Vokabeln abgefragt und hab’ wirklich folgendes Experiment gemacht, […] (blättert im Buch) , hab’ dann mal gefragt so, diese, diese und dann die übernächste. CW: Aha. TW: Und was kam? Die nächste! Ne, also schön von oben runter. Die wissen ganz genau, welches Wort als Nächstes kommt. Aber die wissen nicht, was es heißt. Und 266 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="266"?> 2.2 Analyse des Interviews 267 das hatten wir dann. Das hat ungefähr zehn Minuten gedauert, nich’. Das war nach dem Unterricht. Das hat er kapiert. Den Eindruck hatt’ ich. Und jetzt läuft’s auch besser. Das war jetzt ein Beispiel. CW: Er arbeitet jetzt mit Karteikarten? TW: Er arbeitet mit Karteikarten. Er hat verstanden, dass er mit Karteikarten die Worte Englisch-Französisch, Deutsch-Französisch vernetzt, dass er die Möglichkeit hat, noch Querverweise zu bilden. Wenn ich jetzt das Verb prendre habe, kann ich auf die Rückseite bei, äh, noch in Klammern pris schreiben. Nicht, dass es Möglichkeiten gibt, das viel, viel besser, äh, zu vernetzen untereinander, als wenn man das einfach nur stumpf, äh, äh, untereinander weg liest und dabei womöglich in der Mitte die ganzen Formulierungshilfen komplett überliest. CW: Glauben Sie, dass alle Schüler besser mit Karteikarten Vokabeln lernen können? TW: Ich denke schon. Ja. Ich denke, wenn se’s nicht … Also diejenigen, die ganz stark gegen Karteikarten meckern, sind auch immer die, die schreibfaul sind und nix tun wollen. Das einzige Argument, es ist denen zu viel Arbeit. Und da kommen andere mit zu teuer, das wär’ ja super. ‚Kauft ihr euch e’n paar Dinger und schneidet die klein. Das geht doch auch.‘ Nee, also das Argument dagegen is’, was von Schülern und auch von Eltern kommt, ist Arbeit und Zeit. Und das, find’ ich, stimmt nicht. Das find’ ich auch von mir persönlich, weil ich hab’s genauso gemacht. Ja. […] Das ist zwar vielleicht mehr Arbeit, aber dafür ist der Effekt auch e’n besserer. Und Karteikarten schmeißt man nicht so schnell weg wie Vokabelhefte. […] CW: Wenn Sie’s jetzt auf den Punkt bringen würden: Wo sehen Sie die Hauptwirksamkeit, wenn man so lernt? Was, was … TW: Schnelle, effiziente Einprägung von Vokabeln, vor allen Dingen weitaus tiefer, weil die, die sind ja Deutsch-Französisch (klopft auf den Tisch) vernetzt und nicht irgendwie reihenfolgemäßig oder (hustet) oder sonst wie. Die bleiben vor allen Dingen auch länger haften. Man kann, äh, Querbrücken (trommelt auf den Tisch) noch bilden. Das ist alles insgesamt dichter in meinen Augen, wenn man das so macht.“ (TW, I, 11/ ’07) Darüber hinaus ist das strukturierte Lernen ausgesprochen wichtig für TW. Dazu gehören für ihn die sachbezogene Konzentration, das kontinuierliche tägliche Lernen in kleinen Phasen und die Wiederholung. Dadurch dass er jede Stunde Vokabeln abfragt, würde er seine Schüler zumindest dazu anhalten, für jede Französischstunde, also kontinuierlich, Vokabeln zu lernen. „CW: Gibt es bestimmte Lerntechniken oder Lernstrategien, die Ihnen wichtig sind zu vermitteln? TW: Karteikarten, ganz klar. CW: Ja. TW: Strukturiertes Lernen. Äh, mit anderen Worten nicht einfach mal irgendwie so ins Blaue, sondern sagen: ‚Okay, heute beschäftige ich mich mit unverbundenen <?page no="267"?> Personalpronomen.‘ Und nicht noch passé composé und alles Mögliche dabei. ‚Heute mach’ ich das. Da mach’ ich dann drei Übungen zu. Wenn ich das kann, is’ schön, kann ich Fernsehen gucken oder sonst ’was machen. Am nächsten Tag ’was anderes. Und dann irgendwann wieder von vorne.‘ Wichtig dabei: Kontinuität. Also nicht einmal hinsetzen, fünf Stunden arbeiten und dann zwei Wochen nix, sondern jeden Tag fünf Minuten. Und das vermittel’ ich denen auch. Zumindestens sehr deutlich sag’ ich denen das, dass das die sichere Sache ist durch die Art und Weise, wie ich sie zum Vokabellernen kriege. Ich meine, die müssen ja wirklich jede Stunde ran. Hab’ ich zumindestens ’ne Kontinuität insofern schon mal drin, als dass se sich jetzt vor jeder Französischstunde die Vokabeln noch mal angucken. Das ist ja auch schon mal ’was. Ne, und ja und wie gesagt: Kontinuität, strukturiertes Lernen. Karteikarten halt’ ich für sehr wichtig aus eben genannten Gründen wegen der Vernetzung.“ (TW, I, 11/ ’07) Weiter nennt TW einen „freundlichen Arbeitsplatz“ und „die ganzen Methodensachen“, die an speziellen Methodentagen an seiner Schule vermittelt würden. Für ihn persönlich ist es wichtig, den Horizont seiner Schüler auf eine breitere Basis zu stellen, indem er sie dazu auffordere, Hintergrundwissen zu recherchieren und zu präsentieren (siehe auch oben). „TW: Und dass ich halt versuch’, denen so e’n bisschen den Horizont zu öffnen. Dass man nicht nur so starr an dem klebt, was man gerade macht, sondern versucht, mal auch mal etwas weiter zu gehen. Wir haben jetzt hier ’ne Geschichte über Nantes. […] Da wird erwähnt das Edikt von Nantes. […] Sag’ ich doch auch bei den Kleinen: ‚Leute, macht euch doch mal schlau. Was ist denn das Edikt von Nantes? Möchte uns das jemand vorstellen hier? ‘ Und dann kommt meistens einer, der sagt: ‚Darf ich? Muss das auf Französisch sein? ‘ Ich sag’: ‚Ja, natürlich nicht.‘ Solche Sachen dauern fünfzehn Minuten, gehen dann auf Deutsch. […] Die freuen sich, dass sie das machen dürfen. Die lernen, ’was zu präsentieren und nebenbei noch e’n bisschen von dem, was da, was da passiert ist. Ich mein, gerade so das Edikt von Nantes, das …, ich halt’ das für wichtig. Gerade historische Dinge, nich’, da geh’ ich auch gerne mal drauf ein, so ’n bisschen so. Also, ob das ’ne Lerntechnik is’, weiß ich nich’. […] Das ist ’ne Unter …, ’ne Art und Weise, wie ich meinen Stoff vermittle. CW: Dass man sich breit orientiert. TW: Ja, weil es geht nicht drum, hier nur Französisch zu lernen. CW: Ja. Gut. TW: Man sollte wissen, dass das Edikt von Nantes […], warum hängt da so ’ne Plakette? Jetzt so ’n Schüler, der soll ja in seinen Gedanken gerade auch da in Nantes sein. […] Und Jules Verne. Wer ist Jules Verne? Fragen Sie mal heute in der Fünften. Den kennen zwei Mann, wenn überhaupt. Nich’, und dass …, solche Sachen, dass man da noch mal: ‚Ja, Leute, das ist der Erfinder von Science fiction. Ohne den gäb’s nix.‘“ (TW, I, 11/ ’07) 268 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="268"?> 2.2 Analyse des Interviews 269 Schließlich kommt er in Zusammenhang mit den Lerntechniken noch einmal auf die genauen Kenntnisse des Schülerbuches zu sprechen. Diese seien Voraussetzung für das selbstständige Arbeiten und das „Selber-Probleme-lösen- Können“ (siehe auch oben). „TW: Ja, wie gesagt, selbstständiges Arbeiten halt’ ich für wichtig. Die sollen in der Lage sein, mit diesem Buch klar zu kommen. Die sollen selber Probleme lösen können. Wenn’s gar nicht klappt, bin ich ja noch da. Aber bevor se zu mir gehen, sollte der Weg erst mal hierhin sein. […] Un’ nicht von vorneherein, bevor ich mich irgendwie bewege, frag’ ich den Lehrer.“ (TW, I, 11/ ’07) Zusammenfassend: Hinsichtlich des Grammatiklernens fördert TW den Vergleich mit dem Deutschen und Englischen. Dabei spricht er sich mit seinen Kollegen am Gymnasium ab, zu den Kollegen an der Grundschule hat er keinen Kontakt. Von seinen Schülern fordert er das Vokabellernen mit Karteikarten ein, da er diese Lerntechnik für schnell und effizient hält. Als wichtige Lernstrategie benennt TW das strukturierte Lernen. Darunter versteht er das kontinuierliche tägliche Lernen oder Wiederholen von einzelnen Pensen in kleinen Phasen. TW führt seine Schüler teilweise dahin, indem er sie zu Anfang jeder Stunde Vokabeln abfragt. Prinzipiell hält er seine Schüler dazu an, sich in ihrem Buch selbstständig orientieren zu können und Hintergrundwissen zu Texten zu recherchieren. Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers TW sagt, dass ihm Binnendifferenzierung prinzipiell wichtig sei, die Umsetzung aber von der Zusammensetzung der Lerngruppe abhänge. Während er im Mathematikunterricht den guten Schülern zusätzliche Übungen gäbe, würde er im Französischunterricht die guten Schüler bei Gruppenarbeit gerne auf unterschiedliche Gruppen verteilen und diesen dann z. B. die Aufgabe geben, das Präsentieren mit den Mitschülern einzuüben. Auch würde er, wenn gute Schüler früher fertig wären als ihre Mitschüler, diese dazu auffordern, in die Lehrerrolle zu schlüpfen und den anderen behilflich zu sein. „CW: Wie wichtig ist Ihnen in Ihrem Unterricht Binnendifferenzierung? TW: Hängt vom Kurs ab. Sonst sehr. Also, das bringt ja sonst nichts. Das … CW: Wie praktizieren Sie das? TW: Ich hab’ meistens noch Aufgaben in der Tasche. Also, wenn’s, wenn’s, gerade jetzt in, in Mathe ist es teilweise sehr häufig, weil jetzt zwei unterschiedliche Klassenstufen <?page no="269"?> zusammen kommen. Da sind einige fertig und andere haben gerade mal die Aufgabe kapiert. Und dann hab’ ich natürlich …: ‚Ja, dann mach’ das noch. Ist doch genau das Gleiche, nur ’ne Aufgabe mehr.‘ Im Französischen insofern, als dass man bei der Gruppeneinteilung, wenn se jetzt nicht frei ist, mal die Guten so ’n bisschen in jede Gruppe verteilt und dann auch mit unterschiedlichen Aufgaben betraut. Is’ ja nicht immer, dass alle …, bei ’ner Präsentation können ja nicht immer alle reden. Nich’, und dann wäre derjenige, halt derjenige, der jetzt mal nicht redet, sondern der das mit den anderen einübt. So auf die Art. Und Binnendifferenzierung gerne auch von Schülern selber getragen dann. Weil die Guten, warum sollen die sich langweilen? Die können sich doch einbringen. Passiert auch häufig, dass die Cracks schon fertig sind. Dann sag’ ich: ‚Dann geh’ mal rum. Mach’s Gleiche wie ich, spiel’ Lehrer.‘ Und am Anfang waren se dann immer so ’n bisschen: he, he, he. Aber mittlerweile, mittlerweile ist das auch überhaupt nicht mehr, auch für den Guten, gar nicht mehr arrogant so: ‚Ja, das musst du anders machen.‘ […] Es klappt gut. Zumindestens bei den beiden Klassen, wo ich’s zurzeit intensiv mache. […] Man kann ja auch nicht alles mit jedem Kurs machen. Da hat man wieder solche Chaoten da drin, die sowieso jede Möglichkeit suchen, wo man sich auch noch umdreht. Wenn man dann, wenn man dann irgendwie groß frei lässt, dann is’ vorbei.“ (TW, I, 11/ ’07) Als Lehrer sieht sich TW in der Rolle des Helfers und Lernberaters. Bei Problemen, z. B. wenn ein Schüler ‚falsch lernt‘, führt er nach dem Unterricht Gespräche mit den jeweiligen Schülern, um ihnen zu helfen. Nur in Ausnahmefällen spricht er mit den Eltern, da diese seine Hinweise auf Lernschwierigkeiten oft nicht richtig einordnen könnten. „TW: Ja, wenn jetzt ich merke, dass Probleme da sind, aus, aus welchen Gründen auch immer. Ich hatte jetzt neulich einen Schüler, der war ein Jahr in Amerika. Und was hat er da gemacht? Alles, nur kein Mathe. Weil er’s nicht brauchte. Kam jetzt hierher und ist natürlich hö…, höllisch eingebrochen. Ist ja klar, der konnte …, dem fehlt ein ganzes Jahr Mathematik. Und gerade in dieser Phase geht’s ziemlich ab. Ja, wir hatten, was weiß ich, drei, vier Nachmittage hier gesessen. Ja und dann hab’ ich mir den geschnappt und gesagt: ‚Komm’, heute Nachmittag haste mal nichts vor.‘ Und dann haben wir hier Mathe gemacht. Und das, das ist dann schon meine Aufgabe. […] CW: Sprechen Sie dann mit den Schülern oder bei den Kleineren auch mal mit den Eltern manchmal? TW: Also, bis ich zu den Eltern gehe, dauert das ’was. Also, da hab’ ich gemerkt, dass, äh, ganz krasse Fälle. Ich weiß nach ’nem Elternabend, das war übrigens nicht auf dieser Schule, äh, wo ich mal so ’n bisschen Luft gemacht hab’, äh, kam der Junge am nächsten Morgen in die Schule, da hab’ ich aber genau gemerkt, was am vorigen Abend gewesen ist. Und der hat ordentlich Prügel gekriegt. Das möchte ich nicht. Schule und diese Geschichte mit Sanktion. Also, sanktionieren tue, tue ich. Wenn mei- 270 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="270"?> 2.2 Analyse des Interviews 271 ne Schüler Mist bauen, dann kriegen se einen ’rüber in Form einer Strafarbeit, nicht in Form von Noten. Aber dann ist die Sache aber auch bezahlt. […] In erster Linie, äh, sprech’ ich mit den Schülern selber. Eltern können das schnell falsch verstehen. Wenn ich sage, der Junge lernt falsch, dann ist es die Schuld des Jungen und der ist böse und das muss man ändern. Und das …, meine Güte, was soll er denn machen, wenn er nicht weiß, wie es geht? Und deswegen erst mal mit dem Schüler. Wenn’s dann immer noch nicht klappt, dann kann man immer noch.“ (TW, I, 11/ ’07) Die wichtigste Fähigkeit, die eine Lehrkraft nach TW haben sollte, um ihre Schüler im Hinblick auf das Lernen zu fördern, sei Empathie, sei zu erkennen, wenn ein Schüler Probleme habe. Und gerade diese Fähigkeit sei schwierig zu erlernen, und er wisse nicht, wie diese in der Ausbildung vermittelt werden könne. Die Lehrkraft müsse insbesondere Schulängste erkennen und dann im Unterricht richtig reagieren sowie bei fehlender Selbstständigkeit auch Gespräche mit dem Schüler nach dem Unterricht führen. Letzteres setze außerdem voraus, dass die Lehrkraft bereit sei, nicht nur „Dienst nach Vorschrift“ zu machen. „CW: Was denken Sie denn, welche Schlüsselqualifikationen ein Lehrer erwerben sollte, um die Lernprozesse der Schüler zu unterstützen? TW: Boa, wow! CW: Das ist ’ne komplexe Frage, ja. (TW lacht.) Also praktisch: Was ist wichtig in der Lehrerausbildung, damit hinterher der Unterricht so läuft, dass der Schüler gut lernen kann? Was muss ein Lehrer können oder was muss er lernen? TW: Empathie. Und das ist grad’ das Schwierigste dabei. CW: Empathie. TW: Ja. Die Kinder, die Kinder, die sagen nix. Also, die Kleinen grade. […] Die kommen hier an, die haben alle Angst […], die wollen das Gymnasium schaffen. […] Das muss e’n Lehrer merken, dass wenn e’n Schüler vor ihm steht und nur noch stammelt und nur noch stammelt, dass der einfach nervös ist, dass wenn …, dass der dann sagt: ‚Setz’ dich.‘ Und fünf Minuten oder zehn Minuten später kommt er noch mal dran. Aber nicht dieses …, ich kann ihn ja auch versauern lassen oder: ‚Jetzt komm doch mal an die Tafel.‘ oder: ‚ Ich mach’ dich jetzt richtig platt.‘ Und das …, grade dieses, weil …, es ist ja immer so ’n Punkt als Lehrer: ‚Hat …, versucht der mich jetzt über ’n Tisch zu ziehen, der Schüler, oder hat der wirklich e’n Problem? ‘ Und das sollte man erkennen. Aber ich weiß nicht, wie die Ausbildung das vermitteln soll. Das ist …, das kann man oder das kann man nicht, glaub’ ich. Weiß ich nicht. Also, ich weiß nicht, wie man das lernen kann. Vielleicht durch Beispiele, und trotzdem ist jedes Kind anders. Was sollte der Lehrer noch machen? Er sollte zumindestens nicht nur Dienst nach Vorschrift machen, weil dann wird’s schwierig, äh, jedem zu he… oder zumindestens grade was solche, solche, solche Autonomiesachen angeht, die … Du meine Güte, wenn e’n Kind von zu Hause alles vorgedoktert kriegt, von morgens bis abends <?page no="271"?> pausenlos e’n Butterbrot schmiert, wie soll der selbstständig arbeiten? Das, das kann ich nicht voraussetzen. Also muss ich das mit ihm machen, und das kann teilweise länger dauern. Das mach’ ich dann mit Privatgesprächen.“ (TW, I, 11/ ’07) Am Schluss des Interviews fasst TW noch einmal zusammen und unterstreicht dabei einerseits die Rolle des Wegweisenden und andererseits die des Motivierenden: „TW: Also, zum Thema Lehrerrolle, äh: zurückhaltend, Weg weisend, unterstützend, aber nicht tragend. […] Ja, ich denke, das Wichtigste hab’ ich gesagt, dass es mir auf Sprachproduktion ankommt. Auf, na ja, wie soll ich das sagen: Die sollen Spaß haben, die sollen das genau so toll finden wie ich. Das … und die brauchen auch nichts toll finden, was ich nicht toll finde. So, also, das …, ich mein’: Gut, gewisse Dinge muss ich vermitteln, ob ich will oder nicht. Die find’ ich dann halt toll (lacht). Ich mein’ das, wie man das so schön macht, ne, und, aber ich find ’s wichtig, dass so ’n bisschen Feuer rüberkommt bei denen, dass man da nicht vorne sitzt und sagt: ‚So, jetzt haben wir hier die Loireschlösser. Viel Stein.‘ So, sondern so mit: ‚Überlegt mal da und da. Hier da: Dornröschenschloss. Un’ überhaupt. Kennt ihr doch alle.‘ Und so auf die Tour. […] Und dann finden die das toll. Natürlich auch irgendwelche Räuberpistolen […]: ‚Ja, da is’ e’n Verlies drin.‘ - ‚Oh! ‘ So, das (klopft auf den Tisch) bleibt hängen.“ (TW, I, 11/ ’07) b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung In Bezug auf Kooperationen sagt TW, er arbeite mit seinen Deutsch- und Englischkollegen insbesondere bei der Grammatikerarbeitung zusammen. Siehe zu den Kooperationen auch oben. „TW: Lehrerteam: sehr wichtig. Äh, Zusammenarbeit ist sehr wichtig. Nich’ nur, nich’ nur, um die Arbeit dem Lehrer leichter zu machen, sondern weil’s dem Schüler auch sehr viel bringt. Wenn man grade im Bereich, haben wir ja gerade besprochen, Grammatik und so weiter, das gleichzeitig macht, sich vor allen Dingen auch mal abspricht, nicht, dass nicht der eine von Äpfeln redet und der andere von Birnen.“ (TW, I, 11/ ’07) TW kann sich nicht vorstellen, wie die für ihn wichtigste Fähigkeit einer Lehrkraft, die ihre Schüler zur Autonomie führen möchte, nämlich Empathie für ihre Schüler zu empfinden, in der Lehrerausbildung vermittelt werden könne. Auch die zweite von ihm genannte Fähigkeit, sich über den „Dienst nach Vorschrift“ hinaus Zeit für Privatgespräche mit einzelnen Schülern zu nehmen, gehört für ihn grundsätzlich zur Persönlichkeit einer solchen Lehrkraft (siehe oben). Prinzipiell findet er jedoch Lehrerfortbildungen sinnvoll, allerdings kann er in Bezug auf die Förderung von LA keine Aspekte im Besonderen benennen, über die er sich gerne fortbilden würde. 272 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="272"?> 2.2 Analyse des Interviews 273 „TW: Also, prinzipiell find’ ich, sind Fortbildungen ’ne verdammt gute Sache. Und ich hab’ …, eigentlich bisher nur bei einer Fortbildung, wo ich sagen muss: ‚Okay, das hätt’ ich mir jetzt schenken können.‘, … aber immer wirklich ’was gelernt. Also, das war sinnvoll. Äh, selbstverständlich wenn es eine Möglichkeit gibt, mein Zutun zur LA der Schüler zu verbessern, ja, gerne. Ich könnte aber jetzt nicht konkret sagen, was mir fehlt. Aber sollte es da ’was geben, von dem ich nichts weiß, her damit, immer gerne.“ (TW, I, 11/ ’07) Am Schluss des Interviews unterstreicht er, dass er im Prinzip ein Autodidakt sei und jegliche Theorie an der Praxistauglichkeit messen würde. „TW: Ich sag’ ja, ich bin ein sehr großer Autodidakt. CW: Ja. TW: Man kann mir viel erzählen, das mach’ ich dann auch gerne mal. Aber wenn ich der Meinung bin, dass das nichts bringt und nicht funktioniert, dann lass’ ich das sein.“ (TW, I, 11/ ’07) Zu den Perspektiven für das Thema LA Angesichts der Vergleichsarbeiten sieht TW eher eine Chance auf mehr Selbstständigkeit der Schüler, die lernen müssten, unabhängig von der Lehrkraft und selbstverantwortlich auf bestimmte Niveaus hin zu arbeiten. Allerdings könnten ein zu hoher Druck und das Gefühl der Überforderung negative Auswirkungen auf die Lernleistung haben. Wichtig sei es, dass die Lehrkraft den Weg weise, den die Schüler selbstständig zu gehen hätten und dass es die Lehrkraft verstehe, insbesondere den resignierenden Schülern entsprechende Erfolgserlebnisse zu vermitteln. 55 „TW: Zentralarbeiten, äh, die sind nun mal da. Und ich denke, mal spätestens nach der ersten Vergleichsarbeit haben die Schüler geblickt, dass es nicht der Lehrer ist, und sondern, dass das Niveau von oben kommt. Das heißt, es gilt nicht, dem Lehrer ’was zu beweisen. […] Und der Lehrer sollte dann nicht mehr derjenige sein, der mit den Schülern oder der die Schüler durch ’n Hindernisparcours mit der dicken Peitsche scheucht, sondern der sagt: ‚So, Leute, wir alle wollen da ’rüber. Ich helf ’ euch, gerne, aber laufen müsst ihr alleine.‘ Und das ist auch so ’n Spruch, den ich sehr häufig sage: ‚Ich sag’ euch, wo der Weg ist, aber laufen tut bitte alleine; weil ich trag’ euch nicht.‘ Und das ist …, das vermittelt das auch ziemlich gut. Und die, äh, die Schüler, wenn 55 Zum Zeitpunkt des Interviews wurden die Vergleichsarbeiten in Baden-Württemberg noch bei der Notengebung mit herangezogen. Das hatte sich bei der Validierung der Einzelfalldarstellung durch TW zwischenzeitlich dahingehend geändert, dass die Vergleichsarbeiten nur zu Beginn eines Schuljahres und ausschließlich zu diagnostischen Zwecken der Lernstandserhebung durch die Lehrkräfte durchzuführen sind. <?page no="273"?> se genau wissen: ‚Moment, letztlich kommt’s auf mich an. Ich kann mich nicht bei der Vergleichsarbeit rausreden und sagen: ‚Mein, mein Lehrer hat mir das nicht beigebracht.‘ Das ist der Vergleichsarbeit ziemlich egal. Und dann sag’ ich: ‚Und eurem Chef später auch. Ne, ihr könnt ja … oder geht doch mal an die Uni … und sagt: ‚Hier das hat mir mein Professor nicht beigebracht.‘ Dann sagt der, dann sagt der Chef: ‚Dann seh’n Se mal selber zu …‘ Und dieser Gedanke, dass man letztlich für sich selber verantwortlich ist, find’ ich, hilft unheimlich bei ’ner Entwicklung, wie gesagt, wenn auch zwangsläufigen Entwicklung, ’ner gewissen, äh, LA. Die müssen bei mir irgendwas machen. CW: Also sind diese Aspekte eher förderlich für LA, in Zukunft. TW: Sowohl als auch. Das is’, das is’ es ja immer, das is’ ja das Schwierige. Das kann man ja nie so sagen. Ich bin mir sicher, dass es manche Leute total, äh, äh, wirklich anspornt … und sagt: ‚Okay, zack, da (klatscht) müssen wir ’rüber. Jetzt (klatscht) bilden wir Arbeitsgruppen. Jetzt machen wir …, jetzt machen wir Treffen dreimal die Woche.‘ Und so weiter und so weiter. Und dann gibt es andere, die aufgrund dessen resignieren. Wo nämlich …, genau die, wo das Maß der Anforderung e’n Quäntchen zu hoch ist, dass se sagen: ‚Oh, das kann ich ja eh nicht.‘ Und da passiert gar nichts mehr. Das hab’ ich auch schon gehabt. Und das, das, un’ dann, da wird’s dann schwierig. ‚Ja‘, sag’ ich, ‚Mensch, du schaffst das doch. Nur komm, wir machen mal.‘ Und dann brauchen die unheimlich viele Erfolgserlebnisse bis die wieder e’n Schritt weiter gehen. Also, das, das dauert. Aber das geht auch. […] Das merk’ ich oft, dass wenn Schüler sich überfordert fühlen, dass se dann dicht machen. Das könnte das bewirken. CW: Okay. TW: Obwohl, ich bin da ganz deutlich für. Also, das find’ ich sehr gut, Vergleichsarbeiten.“ (TW, I, 11/ ’07) 2.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Schüler und Lehrer“ Das zweite Gespräch fand knapp drei Wochen nach dem Interview statt und dauerte etwa fünfzig Minuten. TW legte zunächst zwei Strukturbilder, eines die Schüler und eines die Lehrkräfte betreffend, und erläuterte dann das Gelegte. Prinzipiell sind die ihm wichtigsten Aspekte ganz oben angeordnet. Siehe auch die beiden Strukturbilder „Schüler“ und „Lehrer“ im Anhang. Das Strukturbild „Schüler“ zeigt, dass diese für TW im Unterricht vor allem durch gemeinsames Arbeiten an einem Problem schrittweise zur LA gelangen sollen. Dabei ist ihm insbesondere die sinnvolle Problemstellung im Sinne einer Aufgabenorientierung wichtig. Den Begriff der LA ordnet er mit höchster Priorität und zentral im Gesamtbild unter dem Aspekt „Weg“ des Schülers ein, wobei 274 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="274"?> 2.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 275 er die besondere Wichtigkeit von Kontinuität beim Lernen betont. Als Lernziel auf dem Weg zur LA hebt er hervor, dass die Schüler ihre Angst verlieren und während des kontinuierlichen Lernens zu einem strukturierten Lernen gelangen sollten. Im Strukturbild „Lehrer“ erhalten die persönlichen Eigenschaften der Lehrkraft einen zentralen Stellenwert. Die Lehrkraft sollte laut TW zur Förderung der LA den Schülern den richtigen Weg zeigen und sie vor „falschem Lernen“ bewahren. Dabei ist es für TW bedeutsam, dass die Lehrkraft Empathie für ihre Schüler empfindet. Der Unterricht ist für TW geprägt von einer Lehrkraft, die sich in ihrer Rolle zurückhaltend, wegweisend und unterstützend versteht und eine gute Mischung von Sozialformen wählt. Der Lehrende ist dabei präsent, aber nicht dominant. Übergeordnete Unterrichtsprinzipien sind für TW, dass die Lehrkraft den Schülern „den Weg zeigen“, auch „die Tür öffnen“, sie aber „selbst laufen lassen“ sollte. Weiter hebt TW hervor, dass „inner- und außersprachliche“ Zusammenhänge“ den Schülern vermittelt werden sollten. In seinen Strukturbildern bestätigt TW weitestgehend die von ihm im Interview gemachten Aussagen. Die Begriffskärtchen „Querverweise im Lehrwerk hilfreich“ und „Vergleichsarbeiten: für sich selbst verantwortlich sein vs. Überforderung“ legt er allerdings beiseite. Nun präzisiert er zu den Querverweisen im Lehrwerk: „Ist schön, wenn’s da ist, und wenn’s nicht da ist, dann muss es halt gehen.“ Und in Bezug auf die Vergleichsarbeiten erklärt er: „Hier geht es ja darum, dass es auch blockieren kann. Das ist so, ne. Ich muss wissen, dass das so ist. Und äh (Pause), ich, ich find’, das schlägt komplett raus. […] In dem Zusammenhang [LA] find’ ich es nicht wichtig, nein. Weil das ist so, wie es ist. Da kann man nicht jemand in den Kopf gucken.“ (TW, SL, 11/ ’07) Mit seinen Strukturbildern zeigt sich TW am Ende recht zufrieden: „Also prinzipiell, denk’ ich mal, äh, bin ich da jetzt ganz so mit einverstanden. Gefällt mir ganz gut.“ (TW, SL, 11/ ’07) Das Aufzeigen von Beziehungen zwischen den Begriffen durch Pfeile findet er im Großen und Ganzen nicht notwendig, da die Strukturbilder ja schon gegliedert seien. 2.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit TW wurde im Sinne einer kommunikativen Validierung gebeten, die Einzelfalldarstellung seiner Person durch mich zu evaluieren und noch einzelne weitere Fragen zu beantworten. (Siehe im Anhang, IV.) Seine Validierung ging auf dem Postweg verloren, woraufhin er bereitwillig eine erneute Antwort per Mail <?page no="275"?> versprach. Trotz mehrfacher Nachfragen meinerseits ist diese aber, offenbar aus Zeitgründen („da ich zurzeit eine Wohnung kaufe und viel Ämterrennerei habe“) und obwohl es ihm spürbar unangenehm war („Oh Gott, was ist mir das jetzt peinlich! ! ! “), nicht mehr erfolgt. Die ausnahmslos bestätigenden Rückmeldungen der anderen Interviewpartner in Bezug auf ihre eigene Darstellung durch mich lassen die Schlussfolgerung zu, dass auch im Falle von TW von der Richtigkeit der Einzelfalldarstellung auszugehen ist. Fazit zur Einzelfalldarstellung von TW: LA - „Der Weg“ Interview und zweites Gespräch (mit Legung der beiden Strukturbilder) lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich TW und seines Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und seiner Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: LA bedeutet für ihn, dass die Schüler lernen, ihre Probleme selbst zu lösen und dabei ihren Weg selbst gehen. LA hat für ihn einen hohen und zentralen Stellenwert in seinem Unterricht. Dazu müssen die Lernenden zunächst ihre Angst verlieren, Nichtverstehenstoleranz entwickeln (durch zielsprachliche Audiomaterialien und eine frei sprechende Lehrkraft), insbesondere auch lernen, angstfrei zu sprechen. In diesem Zusammenhang gebraucht er wiederholt das Bild des Weges: Auf dem Weg der LA arbeiten die Schüler gemeinsam an einem Problem, kontinuierlich, strukturiert, selbstständig in der Gemeinschaft bei Projekt-, Gruppen- oder Partnerarbeit. Selbstkontrolle (mit bereitgestellten Lösungen), Selbstevaluation und die Kontrolle der Schüler untereinander unterstützen dabei diesen Prozess, ebenso Lerntechniken wie das Arbeiten mit Karteikarten oder dem Wörterbuch. Auch die guten Kenntnisse des Schülerbuchaufbaus sind förderlich auf dem Weg zur LA. Eine klare Strukturierung des Lehrwerkes mit Übungen zum Text, die in beliebiger Reihenfolge bearbeitet werden können, mit einer grammatischen Zusammenfassung zum Nachschlagen, mit einem Angebot zu Lerntechniken, zur Selbstkontrolle und zur Vorbereitung auf Klassenarbeiten sowie ein reichhaltiges Zusatzangebot fördern die Autonomie der Schüler, aber auch der Lehrkraft. Der Grundgedanke, der seinem Französischunterricht zugrunde liegt, harmoniert mit seinen Gedanken zur Förderung von LA und ist ebenso vom Bild des Weges geprägt: Weg zeigen, Tür öffnen, selbst laufen lassen. Dabei ist es ihm ein zentrales Anliegen, die Liebe zum Land und zur Sprache, Interesse und 276 2 Thomas Weber (TW): „Ich sag’ euch, wo der Weg ist, …“ <?page no="276"?> 2.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 277 Spaß zu vermitteln. Dies versucht er, über die Vermittlung von Zusammenhängen, inner- und außersprachlicher, insbesondere auch geschichtlicher Natur zu erreichen, ebenso durch Vergleiche mit anderen Sprachen, Letzteres insbesondere bei der Grammatikerarbeitung. Die Sprachproduktion steht für ihn im Vordergrund. Entsprechend betrachtet er die Lehrerrolle: Er möchte als Lehrer den Schülern den richtigen Weg zeigen, sie vor falschem Lernen bewahren - präsent, aber nicht dominant, zurückhaltend, wegweisend, unterstützend sein; steuernd nur bei wichtigen Themen. Er möchte seine Schülern fordern, ihnen dabei aber eigene Zeit für eine Aufgabe geben. Und, wenn nötig, nimmt er sich Zeit für Einzelgespräche. Um dieser Rolle gerecht zu werden, brauche eine Lehrkraft vor allen Dingen Empathie. <?page no="278"?> 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, dass die Schüler wirklich auf den Lehrer zukämen.“ 3.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie SR, Gymnasiallehrerin für Französisch, Spanisch und Englisch, war zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt. Sie unterrichtet an einem naturwissenschaftlich/ sprachlich orientierten Gymnasium in einer Mittelstadt mit ländlichem Einzugsbereich. Zum Zeitpunkt des Interviews ist ihr Schwerpunkt Spanisch in der Oberstufe. Daneben unterrichtet sie Französisch als 2. Fremdsprache in der Klassenstufe 7, also im zweiten Lernjahr. Mit Französisch als dritter Fremdsprache ab der Klasse 9 habe sie nur wenig Erfahrung sammeln können. Französisch sei zurzeit nicht ihr Schwerpunkt. An ihrem Gymnasium ist sie Fachsprecherin für Spanisch. SR lernte Französisch als dritte Fremdsprache. Latein war ihre erste und Englisch ihre zweite Fremdsprache. Es sei ihr nie schwer gefallen, Französisch zu lernen. Sie habe auch nie Hausaufgaben gemacht. Und daher sei sie wahrscheinlich gar nicht so geeignet, Französischlehrerin zu sein, da ihr das Verständnis für die Schwierigkeiten der Schüler fehle. Sie kann keine eindeutigen Gründe dafür angeben, warum ihr das Französischlernen so leicht gefallen sei. Sie nennt ihre Verwandten in Frankreich, allerdings sei ihre Tante dort nicht sehr ermutigend gewesen. Eindeutiger scheint sich jedoch der persönlich sehr bereichernde Austausch mit einer französischen Familie positiv auf ihren Lernerfolg ausgewirkt zu haben. „SR: Also, ich hatte Französisch als dritte Fremdsprache. Latein als erste und dann Englisch und dann Französisch als dritte Fremdsprache. Und es fiel mir superleicht. Ich habe auch Verwandte in Frankreich. Und ich hatte eigentlich nie …, ich habe nie Hausaufgaben gemacht, keine. Meine Lehrer haben das toleriert. Und ja, von daher denke ich, dass ich als Französischlehrerin, gar nicht, äh, als Sprachlehrerin, gar nicht so geeignet bin, weil, wenn es einem selber so leicht fällt, dann hat man …, dann fehlt einem oft das Verständnis irgendwie für andere. CW: Wissen Sie, warum es Ihnen so leicht gefallen ist? SR: Kann ich … Also, ich denke, ich denke, dass es schon auch persönliche Gründe hat. Aber Spanisch ist mir dann später genau so leicht gefallen und da gab es weniger persönliche Gründe. Also ich, ich hatte halt sehr gute Beziehungen zu einem …, zu <?page no="279"?> 280 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ einer Familie in Frankreich, wo ich beim Austausch war. Und da habe ich mich sehr, einfach sehr wohl gefühlt. Und ich denke, dass es schon auch mitspielt. Wenn man mich vorher mal zu so einer Tante gesteckt hat, die dann immer so gesagt hat: ‚Du wirst es nie lernen, dein Großvater konnte auch schon nicht Sprachen lernen.‘ Also, es ist alles sehr wenig eindeutig, glaube ich.“ (SR, I, 7/ ’07) Beim Spanischlernen hätten ihr dann die Kenntnisse des Französischen geholfen, indem sie an französische Wörter spanische Endungen angehängt habe. „SR: Ja, ich habe einfach am Anfang nur spanische Endungen an die französischen Wörter gehängt, und dann hat das funktioniert oder auch nicht (lacht) .“ (SR, I, 7/ ’07) Ob ihr seinerzeit ihre Kenntnisse des Lateinischen und Englischen beim Französischlernen geholfen haben, vermag sie aus heutiger Sicht nicht mehr zu sagen. Als Lehrerin würde sie heute den Vergleich zwischen dem Englischen und Französischen bei ihren Schülern anregen. Sie ist sich aber nicht sicher, ob sie diese damit erreichen würde. „SR: Ich fürchte, ich fürchte, dass Schüler das eben gerade nicht tun. Also, ich arbeite da ständig damit. Ich sage immer, ich lasse manchmal ins Englische, ins Französische übersetzen, hin und her. […] Also, ich sage, es braucht ganz viel Übung, ganz viel Erziehung in der Richtung. Und es ist doch vielleicht nicht zufrieden. Ich habe immer …, die haben da alles in Schubladen.“ (SR, I, 7/ ’07) Französisch zu studieren war für SR eine „Herzensangelegenheit“. Das Studium des Englischen war vielmehr eine Notlösung, für die sie sich heute nicht mehr entscheiden würde, eher für eine weitere romanische Sprache. Der Lehrerberuf hat sich für sie aus finanziellen Gründen angeboten. So hat sie sehr früh mit dem Unterrichten an einer Volkshochschule begonnen und noch vor ihrem Staatsexamen und ohne weitere Vorbereitung mit dem Unterrichten an einem Gymnasium. „CW: Und Sie haben sich dann für ein Französischstudium entschieden. Aus welchem Grund? SR: Ach, das war so eine Herzensangelegenheit, glaube ich. Und Englisch, das war so mehr so der Notnagel, weil ich mir überlegt habe, wenn ich jetzt so auf Lehramt allein abhebe, dann bin ich nicht so offen, nachher wirklich in die Schule zu gehen, obwohl ich es eigentlich wollte. Aber ich habe einfach gedacht: ‚Mache ich gleich Sprachen.‘ Und ich rate es aber niemandem. Ich sage heute: ‚Also, Englisch und Französisch zu studieren, das ist, ist Blödsinn, der absolute Blödsinn, finde ich inzwischen.‘ CW: Warum? SR: Ja, weil es sich einfach beißt. Weil man …, ich denke, die meisten Leute haben entweder eine Vorliebe für germanische oder für romanische … Also wenn, dann würde <?page no="280"?> 3.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie 281 ich halt Latein-Französisch, Französisch-Spanisch. Aber selbst das, äh, ist einfach zu viel an Arbeit, finde ich, inzwischen. CW: Wie wichtig war es Ihnen dann, äh, damit auch Lehrer zu werden? SR: Ich wollte schon, also sehr schnell Lehrerin werden. Ich habe …, meine Eltern hatten kein Geld. Und dann habe ich von Anfang an an der Volkshochschule Unterricht gegeben. Und das immer sehr wenig vorbereitet, irgendwie so. Und ich habe dann auch, als ich kurz vor dem Staatsexamen war, da habe ich, das lief dann über die Volkshochschule, da habe ich eine zehnte Klasse unterrichtet in der Schule, wo ich selber Schülerin war. Und das war eine schwierige Klasse. Und ich hatte keine Ahnung, wie man Klassenarbeiten korrigiert. Und ich wurde einfach so: ‚Machen Sie da gerade mal.‘ Und, und dann ging das eigentlich ganz gut. Und das hat mich dann auch so bestärkt, denke ich. CW: Ja. SR: Also, ich denke, damals hatte man einfach … Da waren die Leute unverschrocken. Es war Lehrermangel. Man hat einfach geguckt, wie man es machen [konnte].“ (SR, I, 7/ ’07) 1981 begann sie mit der Ausübung ihres Lehrerberufes. Von 1983 bis 1995 war sie dann wegen der Geburt und Erziehung ihrer drei Kinder beurlaubt. Aushilfsweise unterrichtete sie auch in der Waldorfschule. Aus dieser Zeit habe sie viel Rhythmisches mitgebracht. Als Lehrerin sieht sie sich heute in der Rolle eines „Lernermöglichers“. Allerdings glaubt sie, dass ihr Einfluss auf das Lernen der Schüler begrenzt sei. Es seien weniger methodische Aspekte als vielmehr die Persönlichkeit einer Lehrkraft, die Auswirkungen auf das Lernen der Schüler hätte. (Siehe unten.) Zusammenfassend: SR hatte selbst nie Schwierigkeiten, Französisch zu lernen, und ist sich daher nicht sicher, ob sie sich ausreichend in die Probleme von Schülern hineinversetzen kann. Französisch diente ihr dann als Brückensprache beim Erlernen des Spanischen. Sie unterrichtete bereits sehr früh und ohne weitere Vorbereitung. Pädagogisch geprägt wurde sie durch ihre kurze Zeit an der Waldorfschule. Sie ist der festen Überzeugung, dass vor allem die authentische Persönlichkeit der Lehrkraft Einfluss auf das Lernen der Schüler habe, selbst dieser Einfluss sei aber begrenzt. <?page no="281"?> 3.2 Analyse des Interviews Das Interview mit SR fand im Juli 2007 statt. Wir kannten uns zuvor nicht. SR hatte sich aus zweierlei Gründen zum Gespräch mit mir bereit erklärt. Zum einen aus Kollegialität gegenüber der Lehrerin, die ich um die Vermittlung von Gesprächskontakten gebeten hatte, und zum anderen aus beruflicher Neugierde. Das Interview verlief kooperativ und freundlich. Das Datenblatt mit den persönlichen Daten füllte SR unmittelbar zu Beginn des Interviews kurz aus, da sie möglichst wenige Blätter ansammeln wolle und lieber alles direkt erledige. Sie erklärte, dass sie jeden Tag Stapel von Papieren zu bearbeiten habe. In ihrem bevorstehenden Urlaub könne sie sich allerdings nur bedingt erholen, da sie bereits eine ganze Menge geplant habe, zunächst Besuch von Freunden aus Frankreich, dann Urlaub in Burgund und anschließend noch vier Wochen Urlaub in Chile. Sie wirkte gestresst, aber hilfsbereit. Da das Interview zwischen zwei anderen Terminen von SR stattfand, war die Dauer auf maximal eine Stunde beschränkt. Aus diesem Grund gab ich weitgehend lediglich Impulse. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von SR a) LA SR kommt beim Begriff „LA“ auf ihr eigenes Erlernen der spanischen Sprache zu sprechen. Sie hatte sich seinerzeit relativ selbstständig Spanisch angeeignet, wobei sie keinen Lehrer fragen konnte. Als Nachteil empfand sie, dass sie bisweilen viel Zeit für den Lernprozess investieren musste. Auf der anderen Seite ist ihr das Gelernte sehr tief bewusst geworden. Für SR bedeutet LA, dass der Lerner selbst weiß, was er zu tun hat, um eine Sprache zu lernen, und dass er sich insbesondere selbstständig Hilfe bei der Lehrkraft holt, wenn er diese benötigt. Für sie beschreibt das Konzept der LA einen Idealfall, den sie in ihrem eigenen Unterricht noch nicht realisieren konnte. „CW: Was verstehen Sie persönlich unter ‚LA‘? SR: Ja, das wäre ja der Idealfall. Das wäre der absolute Idealfall. Der Schüler wüsste: ‚Was fehlt mir? Was muss ich tun? ‘ Der Schüler würde, würde sich klar machen, wo seine Schwächen sind, und würde dann einfach dem Lehrer sagen: ‚Ich brauche da noch etwas.‘ Und der andere würde sagen: ‚Mir fehlt das noch. Ich habe es nicht allein heraus bekommen. Könnten Sie mir da eine Hilfestellung geben? ‘ So fände ich das genial. Also auch gerade aus meiner eigenen Erfahrung, äh, mit Spanisch. Ich habe es, äh, mit dem Radio gelernt, eigentlich. Und ich hatte dann Probleme mit manchen Sachen. Und ich hatte keinen, den ich fragen konnte, weil ich damals überhaupt nie- 282 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="282"?> 3.2 Analyse des Interviews 283 mand kannte, der Spanisch konnte. Und es hat mir unheimlich, mich Zeit gekostet, manche Sachen wirklich klar zu kriegen. Also, ich habe …, ich weiß, ich habe nach der Bedeutung eines Wortes gesucht und ich …, es umgangssprachlich immer verwendet. Und ich habe es nach fünf Jahren oder so, hatte ich dann klar, wann ich das verwenden muss. Hätte ich da einen Lehrer gehabt, hätte ich sagen können: ‚Wann verwendet man das? ‘ Hätte man gesagt: ‚Da.‘ Und dann wäre es fertig gewesen. Bloß weiß ich nicht, ob es mir jetzt so tief klar wäre, wie jetzt, nachdem ich selber gesucht habe. Also, da denke ich, wenn man das hinkriegen würde, dass die Schüler wirklich auf den Lehrer zukämen, das wäre es dann. Aber das habe ich in dem Sinn noch nicht geschafft.“ (SR, I, 7/ ’07) SR sagt, sie versuche jedoch, ihren Unterricht in Richtung LA zu gestalten. Sie beschreibt ihren Unterricht als relativ offen und frei und deshalb nicht für solche Schüler geeignet, die z. B. gerne Lückentexte ausfüllten. Ein freier Unterricht bedeute für sie, dass sie viel mit ihren Schülern spreche und einsprachig bleibe, auch wenn es um Grammatik ginge. Diese versuche sie über kleine Texte zu vermitteln und sie benutze dabei viel Gestik, damit die Schüler selbstständig grammatikalische Sachverhalte erschließen könnten. Auch lasse sie ihre Schüler oft Geschichten selbstständig verfassen. LA sehe sie durch diesen Ansatz allerdings noch nicht in reiner Lehre verwirklicht, da sie als Lehrerin doch noch sehr stark durch ihre Vorgaben lenke. „CW: Spielt das [LA] eine Rolle in Ihrem Unterricht? Versuchen Sie, darauf hin zu arbeiten? SR: Also, ich denke, ich mache. Mein Unterricht ist nicht für jeden geeignet, denke ich. Aber ich glaube, da geht es wie den meisten Kollegen. Also, ich mache einen sehr freien Unterricht. Also, ich will sehr viel reden und ich mache Grammatik von Anfang an einsprachig und anhand von, von Beispielen einfach. Ja, so ein Beispiel, ich habe jetzt diese Siebener und die sind ziemlich schlecht, […]. Und da habe ich jetzt halt gestern so eine Geschichte geschrieben, schnell mit …, da ging es um das unbetonte Personalpronomen. Ich hatte schnell einen Dialog zwischen Lehrer und Schülern, und was weiß ich, geschrieben. Äh, der Lehrer fragt: ‚Qui a fait les devoirs? ‘ Und dann, dann sagt einer: ‚Moi.‘ Und dann fragt er: ‚Was? ‚Toi? ‘ Und so weiter, kommt das dann alles halt so vor. Und gut, moi und toi kennen sie sowieso schon. Sie kennen nicht eux und elles . Aber dadurch erschließt sich die Bedeutung sofort, wenn man dann das mit Gestik macht. Man kann natürlich sagen, das ist viel Aufwand für eine einfache Sache. Aber ja, das ist so eher mein Ansatz, dass die Schüler selber es irgendwie klar kriegen. Aber LA ist das auch nicht. Da störe ich sie ja auch mit meinem Text oder mit der Sache, die ich da jetzt produziere. CW: Sie sagten eben, Ihr Unterricht ist vielleicht nicht für alle. SR: Ja. <?page no="283"?> CW: Für welche Arten von oder Typen von Schülern, denken Sie, ist es gut und für welche ist es vielleicht weniger gut? SR: Na ja, ich zwinge mich ja dann schon, diese Lückentexte da zu machen, wo man dann immer einsetzen muss imparfait und passé composé, und ich finde es unsäglich. Also, ich lasse die Schüler immer Geschichten schreiben. Ich sage: ‚Es ist doch irre zu überlegen, was hat sich der gedacht? Was hat sich der Autor gedacht, als er diese Geschichte geschrieben hat? Wollte er jetzt hier eine Handlung mit ausdrücken oder wollte er seine Gefühle oder wollte er was? Deshalb schreiben wir es doch gleich selber, dann wissen wir, was wir ausdrücken wollen.‘ Und da habe ich halt immer so mein, mein, mein Courts-Mahler, den ich dann vorlese und anfange auf Deutsch: ‚Und der Mond schien.‘ Und so weiter. ‚Und, äh, da brach aus dem Gebüsch ein Hirsch.‘ Oder was auch immer. Und dann lasse ich sie selber schreiben. Und dann tippen wir das, und dann lesen wir es vor. Und es hat …, das ist sehr erfolgreich. Aber Schüler, die halt lieber nach Schema F etwas ausfüllen, die kommen da nicht so, denke ich, auf ihre Kosten. Aber es ist halt so, jeder hat halt so seine Sachen, die er halt so macht (lacht). “ (SR, I, 7/ ’07) Bei der Frage nach weiteren grundlegenden Prinzipien und Verfahren tut sich SR zunächst etwas schwer, neben der Einsprachigkeit und dem für sie damit einhergehenden frühen Aussprachetraining weitere Verfahren zu nennen. Sie habe keine didaktischen Theorien parat, über die sie sprechen könne. Sie „beschäftige sich halt mit Theorie überhaupt gar nicht“. Auch mit dem Begriff „Lernprozess“ kann sie nichts Konkretes verbinden. „SR: Ich bin einfach nicht so durch mit diesen ganzen Fachbegriffen, weil ich jetzt halt schon ewig nicht im Seminar war und so (lacht) . […] Weil Sie so sagen: ‚Welche, welche Prinzipien haben Sie? ‘ Und da habe ich jetzt nicht im Hinterkopf, die fünf Prinzipien gibt es und die zwei davon finde ich wichtig. CW: Hm. SR: Deshalb habe ich gebeten, dass Sie mir so ein paar Tipps geben.“ (SR, I, 7/ ’07) Auf meine Impulse (Wie führen Sie besonders gerne neuen Wortschatz oder neue Grammatik ein? Welche Rolle spielt in Ihrem Unterricht language awareness im Sinne von Sprachbewusstsein und Sprachbewusstheit? ) sagt sie, im Anfangsunterricht sei ihr die Arbeit mit mitgebrachten Objekten, Bildern und Tafelzeichnungen wichtig. Einer ihrer Hauptprinzipien sei, dass „der Unterricht aus der Klasse komme“. Deshalb ziehe sie mit der Klasse erarbeitete Tafelzeichnungen den vorgefertigten Folien vor und lasse sie die Schüler lieber Sätze selbst konstruieren, als sie mit Arbeitsblättern zu beschäftigen. Wichtig sei es jedoch immer, dass man als Lehrkraft hinter dem stehe, was man tue. Auch eine 284 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="284"?> 3.2 Analyse des Interviews 285 Phase der Bewusstmachung, die sich an eine Imitationsphase anschließe, sei ihr grundsätzlich wichtig, allerdings führt sie dieses nicht weiter aus. „SR: Was ich, was ich häufig mache, äh, also jetzt gerade bei Siebenern, weil ich gerade nichts anderes habe, äh, sind Bilder, also entweder so, so Kärtchen, ich lasse die am Anfang auch selber welche malen mit den Personen, die im, im Buch vorkommen, äh, und dann natürlich Tafelzeichnungen. Ich kann überhaupt nicht zeichnen und das macht die Sache gut. Da müssen die raten, und das funktioniert immer. Ich lasse auch viele Objekte mitbringen bei Anfängern. Natürlich ist es bei den Kleinen, das ist in der Sechs, Sieben. Und dann, dann geht es ja dann nicht mehr. Äh, Folie und so etwas, finde ich, ist nicht ganz so gut wie Tafelzeichnung. Ich finde, das ist einfach vorfabriziert. Also, eines meiner, ja meiner ganz großen Prinzipien ist, dass der Unterricht aus der Klasse kommen muss. Also, ich habe nie Grammatikblätter mit Beispielsätzen, die ich zu Hause gemacht habe. Das gibt es bei mir nicht. Es gibt nur selber gemachte Sätze. Und die sind …, häufig beziehen sich die dann auf die aktuelle Situation gerade in der Klasse. Also da muss man halt superspontan sein, dass man das dann, dass das dann funktioniert. Und die Schüler machen die dann selber meist. Also nicht immer, jetzt aber im Großen und Ganzen. Also, ich kann vielleicht so sagen, ich habe jetzt einen jungen Kollegen in Spanisch. Und dessen Unterricht ist wirklich …, ist das totale Gegenteil von meinem. Der hat also ganz viele Arbeitsblätter, und jetzt gerade was Grammatik angeht. Und die Schüler füllen die dann aus. Und ich könnte, ich könnte damit überhaupt nicht glücklich werden. Aber ich glaube, der hat auch gute Ergebnisse. Der steht halt da hinter genauso wie ich hinter meinem. […] Also, ich denke, man braucht so zwei Phasen, also die eine, wo es nur um Imitieren geht für die Schüler, die einfach nur imitieren. Und dann muss man schon, denke ich, auch klar machen, was passiert da eigentlich.“ (SR, I, 7/ ’07) Am Ende des Interviews ergänzt sie noch ein weiteres, ihr wichtiges Prinzip: Sie versuche, Schüler aus der „Fehlerangstfalle“ zu befreien, indem sie diese die auf Zetteln geschriebenen Äußerungen von anderen Schülern vorlesen lasse. Siehe hierzu auch unten. Zusammenfassend: LA bedeutet für SR, dass die Schüler selbstständig lernen und wissen, was sie zum Lernen brauchen und sich mit Fragen selbstständig an die Lehrkraft wenden. Dies sei ein Idealfall, den sie selbst in ihrem Unterricht nicht erreiche. Weitere ihr wichtige Prinzipien seien die Einsprachigkeit, das Verlieren der Fehlerangst und dass der Unterricht von den Schülern selbst käme und nicht durch vorgefertigte Übungsblätter bestimmt sei. Dazu gehörten die Erschließung neuer grammatikalischer Sachverhalte durch die Schüler selbst und das Verfassen von eigenen Beispielsätzen und Geschichten. <?page no="285"?> b) Sozialformen SR sagt, es herrsche keine bestimmte Sozialform in ihrem Unterricht vor. Zum einen wähle sie die Sozialformen aufgrund der Zusammensetzung der Schüler in einer Klasse aus, zum anderen mache sie die Wahl auch davon abhängig, ob es sich um Anfangsunterricht handele oder um Unterricht auf fortgeschrittenem Niveau. Bei einer besonders unruhigen Klasse bevorzuge sie ruhigere Lernarrangements, bei denen die Schüler „auf den Stühlen säßen“. Rituale zu Beginn einer Stunde seien hier und bei den Jüngeren besonders wichtig, damit die Schüler „beim Arbeiten beisammen seien“. Gruppenarbeit würde sie nur mit Fortgeschrittenen praktizieren, weil ansonsten nicht gewährleistet werden könne, dass die Schüler sich in der Fremdsprache unterhielten. Ansonsten würde sie unterschiedliche Sozialformen einsetzen und nennt dabei unter anderem das gemeinsame Singen, Ballwerfen im Kreis oder, mit Einschränkungen, weil nicht immer die ganze Klasse beteiligt ist, Theater spielen. „CW: Gibt es in Ihrem Unterricht bestimmte Sozialformen, von denen Sie sagen, die herrschen vor? SR: Das kann ich nicht sagen, dass es vorherrscht. Also, ich muss sagen, bei dieser siebten Klasse da bin ich mit verschiedenen Sachen baden gegangen. Wirklich baden gegangen. Ich habe da einen Schüler, der super gestört ist. Und dann noch drei andere hyperaktive. Also, ich habe dieses Vokabelspiel gemacht. […] Das finde ich faszinierend. Das mache ich immer wieder. Mit dieser Klasse habe ich das probiert. Mit allen anderen kein Problem, mit Neunern in Spanisch kein Problem. Mit dieser Klasse ging das schlicht nicht. Also, ich habe …, ich mache das ja nicht im Klassenzimmer, weil da kein Platz ist. Bin nicht raus gegangen, das war mir zu gefährlich mit denen. Habe …, wir haben so einen Raum unten, der rundum abgeschlossen ist. Aber die sind herumgerast wie angebrannt, haben die Blätter in der Gegend herum geschmissen. Und da habe ich gedacht: ‚Nein, mit der Klasse nicht.‘ Die sitzen jetzt ziemlich auf den Stühlen, leider, leider Gottes. Ich habe…, bin jemand, der viel im Kreis macht mit Ballwerfen und so. Und die sitzen auf den Stühlen, weil es einfach sein muss. Also, ich komme rein, Sie werden lachen, immer noch, Ende der siebten Klasse, ich habe sie seit der sechsten. Ich sage: ‚Bonjour, chers élèves.‘ Die sagen: ‚ Bonjour, Mme […].‘ Und dann …, also aufstehen tun sie nicht. Aber dieses Ding, das hilft uns wirklich, die Sache im Rahmen zu halten. Ich habe kein Disziplinproblem, was andere haben. Also, ich komme mir da sehr seltsam vor, das so zu machen, weil ich es mit keiner anderen Klasse mache (lacht) . Und immer noch bis zum Ende der siebten Klasse funktioniert es. […] Ich habe auch an der Waldorfschule aushilfsweise unterrichtet und habe da so manches an Rhythmischem mitgenommen. Also, dass man zum Beispiel reingeht in die Klasse, bei Kleinen vor allem, und gleich einen Spruch spricht, da brauche ich nicht um Ruhe bitten und überhaupt nichts. Komme rein, spreche den Spruch, und die 286 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="286"?> 3.2 Analyse des Interviews 287 Klasse ist beisammen da beim Arbeiten oder Liedersingen oder solche Sachen. Also, das habe ich sicher aus dem, aus dem Waldorf Geschäft. Und auch, ja zum Beispiel, ja Theater, diese kleinen Theaterszenen und solche Sachen. Wobei ich das auch nicht, für mich nicht immer so befriedigend finde, dieses Theaterspielen. Da fehlt mir noch so das gewisse Etwas, dass ich jetzt die übrige Klasse dann auch bei der Stange habe. Das ist dann auch nicht immer so ganz gut. CW: Wie wichtig sind Ihnen Gruppenarbeit oder Projektarbeit? SR: Mache ich. Mache ich sehr viel, aber nicht, nicht bei Sprachanfängern. Da, da kriege ich es nicht hin, dass die in der Fremdsprache kommunizieren. […] 2004 war mein letztes Französischabitur. Und da natürlich mit der Oberstufe geht es ohne Gruppenarbeit eigentlich nicht mehr. Aber ebenso in der Spracherwerbsphase halte ich das für nicht, nicht durchführbar, dass die in Französisch wirklich kommunizieren. Und das wollte man ja eigentlich.“ (SR, I, 7/ ’07) Auf den Bereich der Projektarbeit kommt sie später beim Impuls „Lernerstrategien“ zu sprechen (siehe unten). Bei der punktuellen Arbeit in Freiarbeitsphasen und in Projekten habe sie in Bezug auf Konzentration, Arbeitseinsatz und Selbstkontrolle keine besonderen Lernerfolge in den unteren Klassen feststellen können. Projektarbeit müsse stufenübergreifend angelegt und von Anfang an eingeübt werden. „SR: Also, mir fällt jetzt gerade ein, wir haben auch hier in der Schule einen Versuch gemacht mit Freiarbeit, eben gerade um die Leute, die halt nicht so sich so am Konzentrieren beteiligen oder die nicht so arbeiten wollen, da zu kriegen. Das war in Englisch damals. […] Ich kann jetzt mir natürlich kein Urteil überhaupt über Freiarbeit erlauben, weil das jetzt natürlich nur punktuell war. Nur, glaube ich, fünfte und sechste Klasse, äh, ich denke, wenn man das wirklich in breitem Stil alles mit Projekten machen würde, wäre es etwas anderes. Aber da war das, äh, nicht sehr erfolgreich. Das heißt, das Ergebnis war das Gleiche. Die erfolgreichen Lerner waren auch da erfolgreich und die anderen waren auch da nicht erfolgreich. Also, die anderen haben auch da versucht, das halt nicht zu machen, äh, ihre, ihre Aufgabe nicht zu kontrollieren. Äh, und da habe ich gedacht: ‚Ne, das, das, das nützt nichts in Fünf und Sechs das nur zu machen. Man muss das entweder wirklich stufenübergreifend machen und von Anfang an einüben oder man muss das bleiben lassen.‘ Weil, also, anders glaube ich nicht, dass es geht.“ (SR, I, 7/ ’07) Setze man Projektarbeit zudem noch entsprechend dem Lernfortschritt ein, so würde ihrer Erfahrung nach gelten: „Je offener, umso ertragreicher.“ <?page no="287"?> Zusammenfassend: SR macht die Wahl der Sozialformen vor allem von der Zusammensetzung und dem Alter der Lerngruppe abhängig. Freiarbeit, Gruppenarbeit oder Projektarbeit setzt sie nur in den höheren Klassen ein, weil nur dort auf Französisch kommuniziert werden könne. Außerdem gestalte sich die Selbstkontrolle in den unteren Klassen schwierig. Projektarbeit erfordere zudem eine systematische Einübung und einen reflektierten Einsatz, nur dann könne sie ertragreich sein. c) Aufgaben SR lässt ihre Schüler immer wieder Texte selbstständig verfassen und denkt, dass solche Aufgaben deren Autonomie fördern. Zunächst gebe sie den Anfang einer Geschichte als Input und ließe dann die Schüler Vermutungen hinsichtlich der weiteren Handlung anstellen. Diese Phase laufe auf Deutsch. Nachdem sie ihren Schülern gruppenspezifisch das notwendige Vokabular geliefert habe, lasse sie diese ihre Geschichten aufschreiben. Die Schüler seien begeistert bei der Sache und wissbegierig im Hinblick auf das Vokabular, das sie benötigten. Sie nähme dabei gerne in Kauf, dass ihre Schüler dabei individuell unterschiedliches Vokabular lernten. „CW: Gibt es bestimmte Aufgaben, die Sie einsetzen, um die LA zu fördern? SR: Zu sehr theoretisch. Ein bisschen praktischer formulieren … (lacht) CW: Aufgaben, wo Sie meinen, dass die Schüler damit ihre …, Schritt für Schritt ihre Selbstständigkeit weiter verbessern. SR: Ja, es geht am ehesten mit, mit Textproduktion. Also in der Textproduktion …, das mache ich ganz früh schon. In der neunten Klasse produzieren die einen …, also jetzt in Spanisch. Auch die Siebener, die haben viele Gedichte geschrieben. […] Und ich habe das eingeführt mit den Bärenspuren, an der Tafel andere Spuren gezeichnet, die Bärenspuren und dann l’ours, und dann habe ich gesagt: ‚Dann sind die im Wald.‘ Und dann habe ich die Vermutungen anstellen lassen, was da jetzt passiert, auf Deutsch. Und dann haben die tolle Geschichten entwickelt, Wahnsinn. Und dann habe ich ihnen Vokabular ein bisschen gegeben, habe die die Geschichten aufschreiben lassen. […] Ja, also, da, da habe ich sie immer vollständig. Und da wollen sie ja auch Vokabular wissen. Und das gebe ich den einzelnen Gruppen halt dann. Also, ich, ich denke, die müssen …, ich kann nicht davon ausgehen, dass die alle das Gleiche lernen. Das geht nicht. Genauso wenig, wie wir davon ausgehen können, dass sie die Vokabeln alle können, die wir lernen, die wir aufgegeben haben und abgeprüft werden.“ (SR, I, 7/ ’07) SR erzählt auch, dass sie einmal ihren Schülern für sechs Wochen keine Hausaufgaben mehr gegeben hätte. Mit diesem Experiment sei sie auf Widerstand bei ihren Kollegen, bei der Schulleitung und auch bei den Schülern selbst ge- 288 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="288"?> 3.2 Analyse des Interviews 289 stoßen. Es hätte sich dann aber gezeigt, dass die Schüler in Eigenverantwortung tendenziell mehr gelernt hätten, als wenn sie in dieser Zeit aufgrund konkreter Hausaufgaben gearbeitet hätten. „SR: Ich hatte einmal große Schwierigkeiten. Da habe ich die Hausaufgaben abgeschafft. Da habe ich zu Schülern gesagt, äh, das war 9. Klasse Spanisch, ich sagte: ‚Ich habe keine Lust, jeden Tag herumzulaufen und zu gucken, hat es jeder abgeschrieben von jemand und dann die Striche zu machen. Ich habe keine Lust. Ich glaube einfach nicht, dass das euch irgendwas mehr oder weniger bringt.‘ Und ich habe große Probleme im Kollegium bekommen, mit der Schulleitung. Ich hatte es auf sechs Wochen … Ich muss sagen, die Schüler wollten es auch nicht. Ich musste schwere Überzeugungsarbeit leisten, dass man das mal versuchen sollte. Und habe gesagt: ‚Gut, wir haben jetzt eine Arbeit geschrieben und mein Vorschlag: Wir machen keine Hausaufgaben mehr. Und nach sechs Wochen gebe ich euch einen Fragebogen und dann gucken wir mal, wie es euch ging.‘ - ‚Ja, das geht nicht. Dann lernen wir gar nichts mehr.‘ Und: ‚Können Sie nicht machen! ‘ Und Ergebnis war, der Durchschnitt war der Gleiche in der nächsten Arbeit wie der vorher. Äh, die Schüler hatten also fast übereinstimmend gesagt, sie hätten eher mehr getan als weniger. Sie hätten selbstständig sich halt drum gekümmert, dass sie nachholen. Und ich hatte nicht das Gefühl, wir wären irgendwie ins Hintertreffen oder so gekommen. Gut, wenn ich das heute noch mal machen würde, dann wollte …, würde ich es wahrscheinlich mit Kollegen, denen vorher mitteilen, dass ich das jetzt mache. Aber ich würde mich nicht abhalten lassen (lacht) .“ (SR, I, 7/ ’07) Am liebsten würde SR individuelle Hausaufgaben aufgeben, aber da müsse sie auch individuelle Arbeitsblätter für die Selbstkontrolle haben. Das sei zeitlich und organisatorisch nicht zu schaffen. Hier suche sie noch nach einer guten Lösung. (Siehe auch unten.) Zusammenfassend: SR fördert die Autonomie der Schüler, indem sie diese selbstständig Geschichten schreiben lässt. Mit Hausaufgaben in Eigenverantwortung machte sie bei den Schülern gute Erfahrungen. Im Hinblick auf individuelle Hausaufgaben sucht sie noch nach einer praktikablen Lösung. d) Materialien SR setzt gerne solche Materialien im Unterricht ein, die die Schüler zur Sprachproduktion anregen. Sie sagt, hier arbeite sie häufig mit Bildern, die die entsprechenden Impulse lieferten und die Gefühle ansprächen, insbesondere in der Oberstufe. Ob sie damit die Autonomie ihrer Schüler fördere, vermag sie nicht zu beurteilen. Wichtig sei ihr, dass sie ihre Fragen so formuliere, dass sich die <?page no="289"?> Schüler angesprochen fühlten. Dazu müsse sie sich bisweilen von eigenen Vorstellungen lösen und sich auf die Denkweise ihrer Schüler einstellen. „SR: Ob es die LA fördert, weiß ich nicht, aber ich, ich arbeite gern mit Bildern. […], die ich von daheim mitbringe aus irgendwelchen Spielen und lasse da Situationen fantasieren einfach. Und da ist ja auch so, dass dann jede Gruppe etwas anderes hat. […] Und die sind unheimlich begeistert, wenn sie irgendein Bild kriegen und sollen jetzt überlegen, was ist da drauf überhaupt, was kann man für Rückschlüsse ziehen auf die Handlung, jetzt also bei fortgeschrittenen Lernern [in der Oberstufe]. Also, da kriege ich unheimlich Mitarbeit. Und ich denke, man muss die Gefühle ansprechen. […] Und da denke ich immer wieder, wir sind zu …, wir kleben zu sehr an unseren Vorstellungen, die wir vorher uns vielleicht machen, was rauskommen könnte. […] Ich habe meine Frage besser gestellt. Ich habe, ich hatte nur gesagt: ‚Was sind eure Empfindungen? ‘ Und das war denen dann zu hoch gestochen. Und als nichts kam, habe ich gesagt: ‚An was habt ihr gedacht? ‘ Empfindungen und Denken. Denken liegt ihnen näher. Und dann, ich habe die halbe Tafel vollgeschrieben.“ (SR, I, 7/ ’07) e) Das Französischlehrwerk SR geht relativ autonom mit ihrem Lehrwerk um. Sie denkt, dass Lehrwerke stärker auf die Interessenlage der Jungen Rücksicht nehmen sollten. Diese würden im Anfangsunterricht „tolle Unsinnsgeschichten“ lieben, die aber nicht in Lehrwerken vorkämen. Insgesamt wünscht sie sich spannendere Geschichten. f) Medien Auf die Rolle der Medien in Bezug auf die LA geht SR nicht ein. g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation SR tut sich mit der Selbstkontrolle der Schüler schwer. Sie sagt, dies sei im Prinzip eine wichtige Sache, aber sie hätte noch keine Lösung gefunden, wie sie dies bewerkstelligen könne. Am liebsten würde sie individuelle Hausaufgaben aufgeben, aber das sei zeitlich und organisatorisch nicht zu schaffen. Da müsse sie auch individuelle Arbeitsblätter haben, die nicht unbedingt von den Unterstufenschülern entsprechend bearbeitet würden. Selbstkontrolle bei der Aussprache scheint ihr gar nicht möglich zu sein. In der Oberstufe beobachte sie, dass die Schüler sich immer noch auf die Kontrolle durch die Lehrkraft verlassen wollten. Seien sie aber gezwungen, in Eigenverantwortung zu lernen, so würde das gut funktionieren. (Siehe auch oben.) „CW: Wie wichtig sind Ihnen Selbstkontrolle und Selbstevaluation? SR: Äh, das halte ich für ziemlich schwierig, aber ich fände es natürlich wünschenswert (lacht). Also, äh, diese Oberstufenschüler, die mit denen ich halt jetzt die letzten Jahre viel mehr gearbeitet habe, die haften sehr stark an diesem Lehrer-Schüler-Mo- 290 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="290"?> 3.2 Analyse des Interviews 291 dell, wo der Lehrer Vokabeln aufgibt und sie nachher abfragt und dann gibt es eine Note. Und ich, ph, mache das nicht in der Oberstufe, ich mache keine Vokabelarbeiten. Ich sage: ‚Es ist Ihre Aufgabe zu gucken: Was brauche ich, um mit dem Gespräch mithalten zu können? ‘ Ich mache immer wieder dann so, ich gebe einen Text und sage: ‚Nächstes Mal werde ich einfach mal so ein paar Rückübersetzungssachen bringen, einfach um zu sehen, ob Sie ungefähr die und die Gedanken ausdrücken können.‘ Und das fordern sie auch sehr. Das sehen sie, das wollen sie haben. Aber ich bin nicht jemand, der Vokabellisten verteilt. Das tue ich überhaupt nicht. Das ist vielleicht nachlässig, aber ich fahre sehr gut damit. Ich habe also immer gute Schnitte, also keinen, keinen Grund zur Klage. Wahrscheinlich reißen sie sich wahrscheinlich doch am Riemen, wenn sie wissen, sie kriegen es nicht. Aber ich bin mir sehr bewusst, dass ich da wahrscheinlich gegen alle möglichen momentanen Sachen, die man am Seminar lernt, total verstoße (lacht). Aber ich glaube, Ihre Frage war, wie ich die Lerner …, wie ich Selbstkontrolle, ob ich das irgendwie fördere. Ich glaube, dass ich das in der Unterstufe überhaupt nicht fördere, in keinster Weise. Obwohl ich es natürlich für wünschenswert hielte. Und was ich wirklich ganz arg schwer finde, und da rede ich auch mit Kollegen darüber, wünschenswert wäre, wäre individuelle Hausaufgaben. Das wäre ja das Nonplusultra. Wobei ich, äh, vier Stunden habe und in diesen vier Stunden ein Pensum, das immer größer wird. Und ich bräuchte ja, wenn ich im Idealfall jedes Mal die gemeinsame Hausaufgabe kontrollieren würde, was ich auch nicht mache, wäre ich allein damit bei dreißig Schülern schon zehn Minuten, um da durchzulaufen. Und wenn ich jetzt noch verschiedene Hausaufgaben hätte, dann müsste ich Lösungsblätter geben. […], wo ich nicht glaube, dass die Unterstufenschüler das dann überhaupt noch vergleichen würden. Also da habe ich das Ei des Kolumbus nicht entdeckt. Da wäre ich dankbar, wenn Sie da, wenn Sie dann Ihre Arbeit haben, wenn da vorkommt, wie die Leute das machen, da wäre ich interessiert (lacht). […] Ich lasse zum Beispiel lesen und, und sage: ‚In dem Moment, wo das Allerkleinste falsch ist, dürfen die anderen Stopp schreien.‘ Das natürlich, aber das ist ja nicht Selbstkontrolle, das ist Fremdkontrolle. Selbstkontrolle bei der Aussprache wird schwierig sein, denke ich. Ich weiß nicht, äh, und ansonsten fällt mir dazu schlicht nichts ein.“ (SR, I, 7/ ’07) Zur Frage der Selbstkontrolle erhofft sich SR Anregungen aus der Fachdidaktik. h) Schüleraustausch Dieser Aspekt wird von SR im Interview nicht thematisiert. <?page no="291"?> Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner SR sagt, Jungen lernten anders als Mädchen und seien ihr als Lerner sympathischer. Während Jungen dann aufmerksam würden, wenn sie sich für eine Sache interessierten, lernten Mädchen oftmals einfach auswendig, auch wenn sie weniger interessiert seien. Oft seien die Jungen benachteiligt aufgrund von Themen, die eher der Interessenlage der Mädchen entsprächen, und aufgrund ihres Bewegungsdrangs, dem im engen Klassenraum nicht Rechnung getragen werden könne. Die „Sprachenlastigkeit in der Schule“ käme dem Lernverhalten und der früheren Entwicklung der Mädchen entgegen. Insgesamt hätte sie Zweifel an der Koedukation. „SR: Jungen sind, sind, äh, mir in vielem sympathischer, also gerade was das Lernen angeht, obwohl die Ergebnisse ja tendenziell immer schlechter sind. Aber sie sind mir sympathischer, weil sie genau dann aufmerksam sind, wenn sie es fesselt von der Sache her. Und Mädchen, die zwingen sich, alles einfach gleichermaßen auswendig zu lernen, also jetzt tendenziell, natürlich gibt es Ausnahmen. […] Es war wieder mit diesem Bären da. Ha, die Jungen, die waren dabei, die tollen Sachen sich zu überlegen. […] Aber Jungen wollen nicht so etwas immer mit Liebe und die sind in der siebten Klasse nicht bereit. […] Die sind einfach nicht so weit, finde ich. Ja, aber das ist auch eines der großen Probleme. Ich denke, unsere, unsere Sprachenlastigkeit in der Schule, die kommt halt Mädchen entgegen. Und Jungen ganz oft einfach nicht. Und die leiden, die leiden in Französisch von A bis Z. CW: Was kann man tun, damit Jungen im Französischunterricht nicht leiden? SR: Ja, weiß ich nicht. Also, ich kann halt versuchen, die Themen entsprechend, äh, zu gestalten. Ich kann versuchen, ihren Bewegungsdrang irgendwie einzubeziehen. Aber wie gesagt, in der Klasse jetzt gerade mache ich es nicht mehr. Und ja, es geht auch darum, jetzt nicht jede Äußerung, die Jungen jetzt, ohne sich zu melden, bringen, jetzt gleich zu sanktionieren. Also, da denke ich, eine gewisse Freiheit ist gut. Aber auch da bin ich mir sehr, äh, im Zweifel. Also, ich denke, Koedukation hat, hat tatsächlich Schwächen, also da, das muss man sehen.“ (SR, I, 7/ ’07) a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? SR nennt bei der Frage nach Lernertypen den „kinästhetischen Lernertyp“, der zum Lernen die Bewegung brauche. Sie selbst würde das gerne öfter unterstützen, scheitert aber an den Gegebenheiten der Klassenräume, die wenig Platz böten. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang auch die Methode der Suggestopädie und das Chorsprechen. Sie lasse gerne im Chor sprechen, um die Lerner überhaupt zum Sprechen zu bringen. „CW: Haben Sie in Ihren Unterrichtsbeobachtungen so unterschiedliche Lernertypen festgemacht? 292 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="292"?> 3.2 Analyse des Interviews 293 SR: Ja. Ja, also, ich weiß nicht. Ich habe sogar solche, die laufen müssen zum Lernen. Diese, wie nennt man die? Kinästhetische Typen, oder was weiß ich. Äh, ich hatte auch eine Zeit, man hat ja so Phasen als Lehrer, ich hatte auch eine Zeit, da habe ich, äh, wie heißt das noch, ha, ich habe es vergessen […], wo sehr viel mit Bewegung gemacht wird. Man läuft im Kreis. Sagen Sie mir doch …, Suggestopädie, Suggestopädie, habe ich eine Zeitlang viel gemacht. Aber es hatte dann auch wieder so seine Grenzen, und das habe ich dann auch wieder gelassen. Vielleicht sollte ich es mal wieder machen, einfach deshalb, weil man, immer wenn man wieder seine …, eine neue Sache bringt, einfach wieder anders dabei ist. Natürlich finde ich es eindrucksvoll, im Kreis zu laufen und dabei, äh, Deklinationen, lateinische Deklinationen, zu sprechen und so. Das finde ich gut und ich glaube da auch dran, hundertprozentig. Aber es, es scheitert, Sie glauben nicht an was für Sachen es manchmal scheitert. Wir haben Klassenzimmer, da haben sie jetzt neue Tische drin, und ich weiß nicht warum, riesige Tische, die sind viel größer als die vorher waren und viel schwerer. Das heißt, ich kann nicht mehr wie früher einfach sagen: ‚Wir rücken die Tische an die Seite, und wir laufen jetzt einmal.‘, sondern ich muss dann woanders hingehen. Wenn es dann gerade regnet, dann kann ich nicht ins Freie gehen und dann ist es herum, denn, denn die Zimmer sind belegt. […] Ja, ich, was ich halt mache, ich lasse Chor sprechen, ganz im Gegensatz zu jeder, zu jeder Lehre, die man gerade so aktuell findet. Äh, ich hatte auch einmal einen Schulleiter da dabei, der war entsetzt, und er hat behauptet, ich würde nicht hören, ob das richtig ist. Das stimmt nicht. Man hört bei dreißig Schülern, ob es stimmt oder nicht. Ich habe ihm dann gesagt, wenn Sie mir Zehnergruppen geben, dann brauche ich das nicht mehr zu machen (lacht). Aber ich kriege die Leute nicht ans Sprechen, wenn ich nicht wenigstens das mache. Also, das ist sicher übrig aus, aus anderen Zeiten und bewährt sich.“ (SR, I, 7/ ’07) Prinzipiell berücksichtige sie, dass jeder Lerner anders lerne, sei es in Bezug auf den Vergleich mit anderen Sprachen („Bei den Querverbindungen, da muss ich auch akzeptieren, dass manche das einfach nicht brauchen.“) oder bei der Art und Weise, Vokabeln zu lernen (siehe auch den folgenden Punkt). b) Lernerstrategien und Lerntechniken Auf die Frage nach Lernerstrategien und Lerntechniken, die sie für wichtig erachte, kommt SR zunächst auf Unterrichtsformen und die Organisation des Unterrichts zu sprechen. Während sie bei der punktuellen Arbeit in Freiarbeitsphasen und in Projekten in Bezug auf Konzentration, Arbeitseinsatz und Selbstkontrolle in den unteren Klassen keine besonderen Lernerfolge habe feststellen können (siehe oben), hält sie die entspanntere Arbeit in Doppelstunden für arbeitsförderlich. <?page no="293"?> „SR: Wir haben auch hier in der Schule […] gerade einen Konflikt. Wir haben, äh, über das Doppel…, Doppelstundenmodell nachgedacht. […] Und ich bin da sehr dafür. Ich habe da sehr gute Erfahrungen mit allen Klassen, kleinen, großen, egal. Einfach weil es Stress aus dem Ganzen heraus nimmt. Und, äh, es sind auch einige Sprachlehrer dafür, aber viele Sprachlehrer sind dagegen, weil sie sagen, da können wir dann weniger Hausaufgaben geben. Und wir, die wir dafür sind, wir sagen gerade das Gegenteil: ‚Da können wir endlich die Arbeitsformen machen, die wir schon immer wollten.‘ Das heißt, wenn ich denke fünfundvierzig Minuten: Erst habe ich meinen rhythmischen Teil, ich komme vielleicht schon drei Minuten zu spät, weil mich jemand etwas gefragt hat, und da habe ich meinen rhythmischen Teil. Bis ich dann an irgendeine Erklärung oder irgendeine Aufgabe komme, ist es für das Umsetzen zu spät. Dann gebe ich es als Hausaufgabe und kontrolliere es stumpfsinnig am nächsten Tag und es geht nicht. Also, da wäre ich sehr dafür. Und wir können es jetzt so machen, dass wir die 3. und 4. uns wünschen geblockt zu kriegen, soweit es geht. Aber wir haben weiterhin nur die 1., 2. Am […]-Gymnasium unten da haben sie, da haben sie durchweg geblockt und es gibt kein Problem. Also, es liegt auch am Kollegium, ob so etwas durchgeht oder nicht.“ (SR, I, 7/ ’07) Konkrete Lernerstrategien oder Lerntechniken benennt sie zunächst jedoch nicht. Bei der Frage, ob sie sich als Lernberaterin sieht, erläutert sie dann, dass sie im Anfangsunterricht den Schülern verschiedene Möglichkeiten des Vokabellernens, wie z. B. das Lernen mit Karteikarten, vorstelle und dabei auch auf die Vorerfahrungen des Englischlernens eingehe. Dabei berücksichtige sie, dass jeder Lerner anders lerne, auch wenn dies dann dazu führe, dass eine Kontrolle weniger möglich sei. „SR: Zum Beispiel ‚Wie lerne ich Vokabeln? ‘ wäre ein Punkt. Da habe ich …, mache ich eigentlich immer, wenn ich, wenn ich jetzt kleinere Schüler habe, dass ich ihnen verschiedene Möglichkeiten, Vokabeln zu lernen, vorstelle, auch mit Karteikarten, äh, ihnen sage, es ist sehr gut, das zu schreiben auch, einfach verschiedene Modelle. Ich frage auch: ‚Wie macht ihr es? Wie habt ihr es in Englisch gemacht? ‘ Weil das haben sie ja vorher dann auch schon ein Jahr gehabt. Und, äh, ich denke, da muss man die Verschiedenartigkeit zulassen. Ich kann nicht von einem Überfliegerschüler erwarten, dass er mir ein Vokabelheft zeigt, äh, wo er das alles nur schreibt. Und, äh, ich denke, da muss man den Schülern klar machen, jeder ist einfach ein anderer Lerntyp. Und ich habe welche, die können mit Karteikarten halt einfach nicht arbeiten und andere, die können das. Und das, denke ich, muss ich akzeptieren. Wobei natürlich die Gefahr ist, dass die Kontrolle halt auch, äh, sehr schwierig wird. Und ich denke, wir müssen damit leben, dass wir nicht alles in der Hand haben. Wir haben es einfach nicht in der Hand. Und da bin ich hundertprozentig überzeugt.“ (SR, I, 7/ ’07) 294 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="294"?> 3.2 Analyse des Interviews 295 Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers Als Lehrerin sieht sich SR heute in der Rolle eines „Lernermöglichers“. Allerdings glaubt sie nicht, dass bestimmte Methoden einen Einfluss auf die Motivation der Schüler hätten. Diese kämen immer wieder mit Lernblockaden aus ihren Familien. Und es seien weniger methodische Aspekte als vielmehr die Persönlichkeit einer Lehrkraft, die Auswirkungen auf das Lernen der Schüler hätten. Eine Lehrkraft sollte offen und ehrlich sein, Humor haben und ihren Schülern Vertrauen entgegenbringen. Sie müsse vor allen Dingen als Person von den Schülern akzeptiert werden, damit diese zum Lernen motiviert seien. „CW: In welcher Rolle sehen Sie sich als Lehrer? SR: (überlegt) Ist eine schwierige Frage. Also, ich würde eher so sagen, so ein Lernermöglicher oder so etwas, obwohl ich da auch sehr meine Zweifel habe. […] Ich denke, wir sind doch eher dabei, die Schüler abzuhalten vom Lernen, auf verschiedene Arten. Also, da mache ich mir keine Illusionen. Also, ich glaube nicht zum Beispiel, dass ich Schüler motivieren kann. Das Wort ‚motivieren‘, das halte ich für sehr schwierig. Also, ich glaube, ich kann, ich kann Angebote machen. Ich kann abwechslungsreich versuchen, so abwechslungsreich wie möglich, so dass jeder Lerntyp irgendwie mal gefragt ist. Aber ich kann es nicht machen, dass der Schüler lernt. Und da bin ich hundertprozentig sicher. Weil ich erlebe immer mehr wie, wie Schüler so mit Blockaden kommen. Also Blockaden, die aus der Familiengeschichte stammen oder natürlich kann es auch mal persönliche Antipathien geben. Das will ich ja nicht in Abrede stellen. Aber ja, auch wenn ich an meine eigenen Kinder denke. Man kann …, man muss einfach Vertrauen haben zu den Kindern. […] Ich glaube einfach nicht, dass ich sagen kann, wenn ich die Methode, die Methode, die ist es. Und da sind die, oh da sind die begeistert und da lernen die. Das glaube ich nicht. Also, ich glaube, wenn ich heute mit, mit Interlinearübersetzung käme […], hätte ich wahrscheinlich den gleichen Erfolg oder Nichterfolg wie mit, was weiß ich, was hatten wir denn jetzt gerade, äh, ach äh, Gruppenpuzzle oder diese ganzen Spielereien. Also, ich mache das alles, also nicht, dass Sie das falsch verstehen. Ich probiere das alles, aber immer wieder denke ich, ob es denn wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Also ich, ich zweifle daran, dass Methoden so der Weisheit letzter Schluss sind. CW: Haben Sie versucht herauszufinden, was es sein könnte, wenn es nicht die Methoden sind, warum manchmal Schüler motiviert sind und manchmal nicht? SR: Persönlichkeit. Also, ich denke, Umgang mit den Schülern, also offen sein, geradlinig sein, nicht irgendwas vertuschen, äh, Humor haben, alle diese Sachen. Das zählt. Und wenn ich, wenn ich, die Schüler mich akzeptieren als Person, dann, dann kann ich, sage ich mal, machen, was ich will. Also gut, ich fühle mich dann vielleicht nicht gut, wenn ich Interlinearübersetzung mache, aber … (lacht). “ (SR, I, 7/ ’07) <?page no="295"?> Ob sie sich als Lernberaterin sieht, vermag sie zunächst nicht zu sagen, führt dann aber aus, dass sie den Schülern verschiedene Möglichkeiten des Vokabellernens vorstelle (siehe oben). b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung SR kooperiert am ehesten mit einer Deutschkollegin, die, genau wie sie, offen für „Experimente“ sei. Sie habe einmal die Hausaufgaben für sechs Wochen abgeschafft und musste feststellen, dass sie damit auf Widerstand im Kollegium getroffen sei. Aus heutiger Sicht würde sie dieses Experiment wieder machen, aber vorher ihre Kollegen besser informieren (siehe auch oben). „CW: Sprechen Sie mit Kollegen über Ihre Unterrichtserfahrungen? SR: Ja, ja. Ja, ja. Doch. CW: Mit den anderen Französischlehrern oder auch mit anderen … SR: Nein, mit einer Deutschkollegin, die auch so Experimente macht. Und ja, ich hatte einmal große Schwierigkeiten. Da habe ich die Hausaufgaben abgeschafft. […] Und ich habe große Probleme im Kollegium bekommen, mit der Schulleitung. Ich hatte es auf sechs Wochen … Ich muss sagen, die Schüler wollten es auch nicht. Ich musste schwere Überzeugungsarbeit leisten, dass man das mal versuchen sollte. […] Gut, wenn ich das heute noch mal machen würde, dann wollte …, würde ich es wahrscheinlich mit Kollegen, denen vorher mitteilen, dass ich das jetzt mache. Aber ich würde mich nicht abhalten lassen (lacht) .“ (SR, I, 7/ ’07) Später bei der Kartenabfrage kommt sie beim Impuls „Team“ darauf zu sprechen, dass sie sich mehr Teamarbeit mit ihren Kollegen wünsche. Leider sei es oft noch nicht einmal möglich, im Kollegium Arbeitsblätter auszutauschen. Für die Referendare wünscht sich SR (die sich vor einiger Zeit auf eine Seminarlehrerstelle beworben habe), dass diese mehr Unterrichtserfahrung bekämen und dabei persönlich reiften. Sie müssten lernen, sowohl die Schüler als auch sich selbst besser zu verstehen; einerseits um souveräner mit unvermeidlichen Schwierigkeiten beim Unterrichten umgehen zu können und andererseits um sich bewusst zu werden, welche Art von Unterricht zu ihnen selbst passe. „SR: Was ich mir wirklich wünschen würde, wäre, dass die mal selbst Erfahrung kriegen würden, und zwar im größeren Stil. Also, es ist einfach schlimm. Wenn man manchmal Referendare erlebt, die einfach mit sich selber so im Unreinen sind. Die so in Panik kommen, wenn, wenn eine Stunde nicht klappt. Und ich sage immer: ‚Mensch, mach dir doch keinen Kopf. Die machen das doch nicht gegen dich. Die sind …, die pubertieren und die sind einfach, die sind einfach, die probieren dich aus. Das ist nicht, dass die dich nicht mögen, dass du unfähig bist oder sonst etwas.‘ Also da, da mangelt es massiv, finde ich. Ich denke, wenn jemand in sich ruht, wenn jemand weiß, heute will ich mit denen singen, dann singe ich mit der zehnten Klasse auch. Und da 296 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="296"?> 3.2 Analyse des Interviews 297 bin ich wirklich hundertprozentig überzeugt. Gut, also hundertprozentig nicht. Es gibt sicher so Klassen, wo man dann schon abspüren muss: ‚Kann ich das jetzt oder sollte ich das jetzt? ‘ […] Ich fände es wichtig, dass sie, dass sie wissen, was bin ich für ein Typ. Ich selber, was habe ich gerne, wie finde ich es wichtig. Natürlich immer nur im Rahmen zu sehen, was verschiedene Schüler brauchen können und dazu zu stehen. Und nicht sich von einem Mentor sagen zu lassen: ‚Du musst das und das und das machen.‘ Also, das glaube ich. Natürlich kann ich sagen: ,Ich habe viele Mentoren. Von jedem picke ich mir etwas, was für mich, was für mich passt.‘ Aber ich kann nicht eins zu eins einen Kollegen kopieren, der sicher einen tollen Unterricht macht, und ich kann das für mich …, ich kann das nicht machen.“ (SR, I, 7/ ’07) Bei der Kartenabfrage unterstreicht sie, dass ihr bei der Lehrerausbildung die Förderung der Persönlichkeit, die Ermutigung zur Spontaneität, die Supervision wichtig seien. SR sagt, sie hätte durchaus Bedarf an Fortbildungen, wäre aber oft enttäuscht worden, da diese nichts Neues vermittelt hätten. Eine Fortbildung habe sie als positiv erlebt, und zwar hätte diese Körpereinsatz und rhythmisches Sprechen thematisiert. Auch im Hinblick auf LA sei sie sehr interessiert, allerdings nur, wenn die Fortbildung wirklich gute Ideen liefern würde. „SR: Ich hätte Bedarf an Fortbildungen. Aber ich gehe auf Fortbildungen: Solche alten Hüte! Das ist, das ist nichts Neues. Ich war jetzt bei einer Französischfortbildung […]. Der, der hat es theatermäßig aufgebaut. Und das war richtig klasse. Aber das war ein Lichtblick unter vielen. Und er hat eben auch den Körper einbezogen, was ich halt auch gut finde, und hat rhythmisches Sprechen einbezogen und hat persönlichen Ausdruck einbezogen. Also, die Sachen, das würde ich schätzen. CW: Und Fortbildungen in Richtung auf LA? Wäre das für Sie interessant? SR: Das fände ich, das fände ich gut, gesetzt den Fall jemand hätte da die genialen Ideen. Ja, das fände ich gut.“ (SR, I, 7/ ’07). Zusammenfassend: Für SR steht die Persönlichkeitsbildung der Lehrkraft im Mittelpunkt. So wie ein Lerner entsprechend seinem Lerntyp arbeiten solle, so müsse eine Lehrkraft entsprechend ihrer Persönlichkeit zu ihrem eigenen Unterrichtsstil finden. Gegenüber der Teamarbeit im Kollegium oder Lehrerfortbildungen zeigt sie sich aufgeschlossen, wurde aber bereits häufiger enttäuscht. <?page no="297"?> Zu den Perspektiven für das Thema LA In Bezug auf das Thema „Qualitätsstandards“ äußert sich SR sehr kritisch („Qualitätsstandards, da kriege ich, da kriege ich einen Vogel bei dem.“ „Ich glaube nicht, dass uns das irgendwo hinbringt. Glaube ich einfach nicht.“). Auf mögliche Implikationen für die LA geht sie allerdings nicht ein. Im zweiten Gespräch erläutert sie, dass ihr Mann schlechte Erfahrungen mit Vergleichsarbeiten in Deutsch gemacht habe, und zwar im Hinblick auf die „vorgegebene Art zu bewerten“. Halbsätze der Schüler hätten nicht in die Bewertung einfließen dürfen. („Das kann man vergessen. Das ist Arbeitsbeschaffung.“) 3.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Bedingungen für gutes Lernen“ Das zweite Gespräch mit SR fand nach zweieinhalb Wochen an ihrer Schule statt und dauerte lediglich 17 Minuten. Sehr schnell hatte sie ihr Strukturbild gelegt und erläuterte im Anschluss einige Aspekte. In die Mitte legt sie die „Bedingungen für gutes Lernen“ und kommt zunächst auf die Punkte zu sprechen, die sie noch nicht im Griff habe. Dazu gehöre die Förderung der LA („Das habe ich nicht im Griff mit der LA, aber es wäre natürlich schön.“), die Förderung von Selbstkontrolle und individuelle Hausaufgaben. Dann hebt sie noch einmal einen für sie wichtigen Punkt hervor, nämlich das eigene Schreiben von Sätzen und von spannenden, nicht an grammatischen Pensen orientierten Geschichten. Sie sei da geprägt von der Waldorf-Pädagogik, Eigenes würde einfach besser behalten: „SR: Also, was ich halt, wenn ich das noch mal sagen kann, ich denke einfach, dass, dass Schüler mit Sachen, die sie selber erstellt haben, seien das jetzt Beispielsätze oder eigene Geschichten, dass, das wissen ja die Psychologen, dass das einfach haftet. Deshalb will ich dann auch, wenn die eine Geschichte geschrieben haben, die korrigiere ich alle und gebe sie zurück und sage: ‚Schreibt sie noch einmal schön ab und hängt sie euch über das Bett oder so.‘ Also, weil ich einfach denke, Eigenes ist einfach anders.“ (SR, SL, 7/ ’07) Das zweite Gespräch konnte ich auch dazu nutzen, Nachfragen zu stellen, z. B. in Bezug auf die Fehlerangst und wie sie den Schülern diese nehmen möchte. SR sagt, sie unterscheide zwischen Phasen, in denen sie auf die Fehler achte, das sei z. B. bei Grammatikarbeit der Fall, und solchen Phasen, in denen es auf das Gelingen der Kommunikation ankäme, z. B. in Diskussionsphasen. In 298 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="298"?> 3.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung 299 diesen Phasen würde sie Fehler nur korrigieren, wenn sie das Verstehen behindern würden. Und sie mache die Vorgehensweise gegenüber ihren Schülern deutlich. („Wenn wir diskutieren über etwas, ja, dann dürft ihr Fehler machen, solange wie ich es halt verstehe. Wenn ich es nicht verstehe, muss ich nachfragen. Da müsst ihr es halt anders formulieren.“) Auch würde sie gerne Schüler auf einen Impuls hin eigene Sätze auf Zettel schreiben lassen, die dann von anderen Schülern vorgelesen würden. Somit könne man die Angst entscheidend nehmen. Letztendlich fühle sie sich selbst aufgrund von Interferenzen mit dem Spanischen auch nicht fehlerfrei („Ich mache ja auch Fehler.“) und ermutige ihre Schüler auch, sie selbst zu korrigieren („Da müsst ihr mir schon sagen, wenn ich, wenn ich da etwas falsch mache.“). Auf meine Nachfrage, ob sie mit ihren Schülern den Lernprozess reflektiere, sagt sie, das würde sie tun und sie bestätigt auch, dass sie language awareness positiv gegenüber stehe, geht aber auf beides auch diesmal zunächst nicht weiter ein. Bei den Lerntechniken sagt sie, habe sie Probleme, da sie noch nach Techniken suche, die innere Lernblockaden lösen könnten. („Es wäre so schön, wenn es so Techniken gäbe. Aber ich glaube, ich vertraue da nicht drauf.“) Letztendlich ist sie der Meinung, dass bei all diesen Fragen im Kernpunkt das intakte Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler stehe. „SR: Also Lernprozess reflektieren: ‚Was machen wir eigentlich dabei? ‘ Äh, und der Lehrer hat natürlich, wenn die Klasse nicht mit dem Lehrer kann, finde ich, dann kann er die tollsten Techniken bringen. Ja also, ich erlebe halt, dass ich …, dass es bei uns Lehrer gibt, die, die, äh … Also, es gibt eine Kollegin, die redet sehr grün. Aber die lebt nicht danach und das wird ihr sehr, sehr angekreidet. Ich nehme an, dass sie sehr kompetent unterrichtet. Aber es wird ihr irre angekreidet. Also, ich denke, man muss gucken, dass man nicht …, dass wirklich die Handlungen mit den, mit den Äußerungen halt übereinstimmen. Selbst bei so Sachen, die jetzt nicht in erster Linie so, so wichtig sind eigentlich für den Lernprozess.“ (SR, SL, 7/ ’07) Auf SRs Bitte hin hatte ich ihr eine Publikation zur LA mitgebracht (Bimmel & Rampillon 2000, LA und Lernstrategien, siehe Literaturverzeichnis). Beim Durchsehen des Inhaltsverzeichnisses erwähnt sie die Wiederholung. Wichtig sei beim Lernen auch die regelmäßige Wiederholung, aber dafür würde ihr oft die Zeit fehlen, insbesondere wenn das Lehrbuch nicht in einem Jahr geschafft worden sei. Sie würde sich deshalb nur auf die Wiederholung des Verbsystems beschränken. Ansonsten bestätigt sie im zweiten Gespräch ihre im ersten Gespräch gemachten Äußerungen. Die Lehrerpersönlichkeit und das Arbeiten im Lehrerteam seien wichtig, Vergleichsarbeiten unsinnig und Hausaufgaben und Selbstkontrolle bisweilen schwierig. In Bezug auf die Freiarbeit präzisiert sie noch einmal: <?page no="299"?> „SR: …, dass meine Erfahrung zur Freiarbeit halt die war, dass die organisierten Schüler das wirklich tun und die anderen nicht mal merken, wenn sie etwas falsch geschrieben haben oder so.“ (SR, SL, 7/ ’07) 3.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit Die Validierung der Einzelfallstudie wurde knapp zwei Jahre später bei SR angefragt. Ihre Rückmeldung dazu erfolgte zehn Monate später, nachdem also insgesamt fast drei Jahre vergangen waren. Sie bestätigt darin die Darstellung und schreibt: „Ich glaube nicht, dass sich meine Ansicht im Wesentlichen geändert hat.“ Sie möchte allerdings nicht Schwäbisch zitiert werden. Dem Wunsch habe ich entsprochen und entsprechende Stellen ins Hochdeutsche übertragen. Aus Zeitgründen geht sie nicht mehr auf meine Nachfragen ein. Fazit zur Einzelfalldarstellung von SR: LA - „Das Ei des Kolumbus“ Interview, zweites Gespräch (mit Legung eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich SR und ihres Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und ihrer Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: Da SR das Sprachenlernen immer sehr leicht gefallen ist, sozusagen zugefallen ist, hat sie sich mit dem Begriff des Sprachenlernens und dem Begriff des Lernprozesses bisher wenig auseinandergesetzt. Sie sei als Französischlehrerin und Sprachlehrerin gar nicht so geeignet, „weil, wenn es einem selber so leicht fällt, dann fehlt einem oft das Verständnis irgendwie für andere.“ Außerdem „beschäftigt sie sich mit Theorie überhaupt gar nicht“. LA ist für sie der Idealfall: Der Lernende weiß, was er beim Fremdsprachenlernen tun muss und was ihm fehlt. Er ist sich über seine Schwächen im Klaren und holt von sich aus Hilfe bei der Lehrkraft, wenn er alleine nicht zurechtkommt. Die Hinführung zur LA erfolgt für sie z. B. über Selbstkontrolle oder individuelle Hausaufgaben. In Bezug auf Letzteres gebraucht sie das Bild des Ei des Kolumbus, das sie noch nicht entdeckt hätte. Für beide Anforderungen fehlen ihr konkrete Lösungen für die Umsetzung in der Praxis. Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist, dass der Unterricht aus der Klasse kommen sollte. Sie lässt deshalb die Schüler 300 3 Sylvia Rösner (SR): „LA - Das wäre ja der Idealfall, …“ <?page no="300"?> 3.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 301 Geschichten schreiben, lässt sie selber Sätze und Beispiele bilden und arbeitet mit ihnen viel an der Tafel. Daneben sind ihr in ihrem Unterricht Bildimpulse, Einsprachigkeit, häufiges Sprechen und das Lernen mit Bewegung ein Anliegen. Zum guten Lernen gehört für sie auch, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sind: mehr Zeit durch Doppelstunden, Motivation durch geeignete Themen, der Abbau von Fehlerangst und die Berücksichtigung, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich lernen. Den Lernprozess reflektiere sie mit ihren Schülern und stehe einer language awareness positiv gegenüber. Für Wiederholung des Gelernten fehle ihr allerdings oft die Zeit. LA harmoniert mit ihren Grundgedanken zum Französischunterricht, stellt aber für sie einen Idealfall dar, den sie selbst in ihrem Unterricht im oben beschriebenen Sinne noch nie erreicht habe. Entsprechend sieht sie den Lehrenden in der Rolle eines Lernermöglichers und Lernanbieters. Eine in sich ruhende Lehrerpersönlichkeit nimmt für sie die zentrale Stelle bei den Bedingungen für gutes Lernen ein. Die Lehrkraft sollte hinter ihren Methoden stehen, den Schülern mit Offenheit, Geradlinigkeit und Humor begegnen und im Lehrerteam kooperieren. Es seien nicht die Methoden, die zum Lernen motivieren, sondern der Umgang zwischen Lehrkraft und Schüler. Dieses Verhältnis sollte intakt sein. Trotzdem ist sie überzeugt: „Ich kann es nicht machen, dass der Schüler lernt.“ <?page no="302"?> 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde, über die man gerne drüber möchte.“ 4.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie Zum Zeitpunkt des Interviews ist AK 43 Jahre alt und unterrichtet Französisch und Englisch. Unterrichtserfahrungen sammelte sie zunächst an der Volkshochschule; seit 1994 unterrichtet sie am Gymnasium und seit 2000 an ihrer aktuellen Schule. Dieses Gymnasium hat ein sprachlich-musisch-soziales Profil und liegt in einer Großstadt mit städtischem Einzugsbereich. AK unterrichtet mit Schwerpunkt Französisch und hat Erfahrungen mit Französisch als 1. Fremdsprache ab Klasse 5, als 2. Fremdsprache ab den Klassen 5, 6 und 7 und als 3. Fremdsprache ab der Klasse 9. Zum Zeitpunkt des Gespräches unterrichtet sie Französisch in den Klassen 5, 6, 8 und 10. An ihrer Schule kümmert sie sich aktiv um den Schüleraustausch und ist Beauftragte für Chancengleichheit. AK erinnert sich gerne an ihre Schulzeit und daran, wie sie Französisch lernte. Sie habe drei unterschiedliche Lehrkräfte erlebt, die jeweils nach anderen Schwerpunkten unterrichteten, „haptisch, strukturiert und auditiv“, und davon habe sie profitiert. „AK: Ich kann mich noch erinnern, dass wir mit, äh, Stofftieren und richtigem fr… Obst angefangen haben. Das fand ich toll. Immer. Das hat mir, mir so imponiert. Wir hatten ’ne Lehrerin, die ist mit so ’nem Einkaufswagen gekommen und der war immer voll mit irgendwelchen Sachen. Da hat sie ’was raus gehoben und da mussten wir ’was sagen. Qu’est-ce que c’est? (lacht) […] Also, der nächste Lehrer war sehr strukturiert. War e’n Mathelehrer, und das hat mir unheimlich geholfen, dass …, diese Sprache logisch zu verstehen. […] Das kann ich heut’ noch weitergeben. Und der übernächste Lehrer war dann einer, der unheimlich auf ’s Hörverstehen ging. Also, ich hab’ praktisch das Haptische gehabt, das Strukturierte und danach dieses Audi… Audio… Ähm, wie sagt man denn da? Ja, dieses… CW: Auditive. AK: Auditive, ja genau. Und, äh, das war toll. Der, der hat mich total fasziniert. […] Der hat gesagt: ‚Ich bin jeden Freitag bis um zwei unterwegs. Ich geb’ deswegen euch net auf. Aber ich mach’ mit euch jeden Samstag ein Chanson. Und es war so toll.“ (AK, I, 4/ ’08) Englisch habe sie aufgrund anderer Lehrerpersönlichkeiten weniger spielerisch gelernt und negativ in Erinnerung. Sie habe auch keine Querverbindungen zum Französischen gezogen. <?page no="303"?> 304 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ „AK: Englisch war an, ganz stark an die Lehrperson geknüpft, damals in siebte Klasse, Beginn 2. Fremdsprache. Und, äh, die Lehrpersonen, also in meinem Fall, lagen mir nicht. Und damit …, also, es war nicht spielerisch. […] Die [Lehrerin] kam so e’n bissle so mit diesem British English, so e’ bissle arrogant ’rüber. Das war … (überlegt) CW: Distanziert? AK: Ja. Die hat sich auch so gekleidet mit diesen Schottenkaros und so. Und das war einfach net mein Ding. Und der Nächste, der war einfach verlottert. Und: ‚When I was in America …‘ Und das ging dann die ganze Zeit so mit Geschichten erzählen. Und unstrukturiert, kein guter Unterricht. Also, das war … Ich hab’ Englisch nicht als positiv erlebt.“ (AK, I, 4/ ’08) Ursprünglich wollte sie nur Romanistik studieren, und zwar „aus Liebe zur Sprache und zum Land“. „Städtepartnerschaft und mehrwöchige Austausche zum Kennenlernen des Landes“ waren wichtige Erlebnisse in Frankreich für sie gewesen. Englisch habe sie dann lediglich „aus Verzweiflung“ studiert, da sie ein zweites Fach benötigte. Zunächst hatte sie notgedrungen zusätzlich Deutsch gewählt, aber da wurde ihr „zu viel gefaselt“. Dann entschied sie sich für Englisch als eine weitere Fremdsprache. „Das war der größte Fehler meines Lebens. Da hätt’ ich lieber Sport studieren sollen (lacht) .“ Ihre Berufschancen hätten sich zwar durch diese Wahl gesteigert, auch sei sie 1996 bis 1998 als Lehrerin an einer High School in Texas gewesen, trotzdem sei Französisch immer ihr bevorzugtes Fach geblieben. Zur französischen Kultur und zu den Leuten in Frankreich würde sie eine stärkere Nähe empfinden: „Ich liebe Englisch nicht so wie Französisch.“ Studium und Referendariat absolvierte sie in Baden-Württemberg. Mentoren und Fachleiter empfindet sie im Rückblick als „zu alt“. Die „wahre Ausbildung ist erst in den Jahren danach über Fortbildungen erfolgt“. Die Motivation, Französischlehrerin zu werden, lag in der Sprache selbst und ihrer Begabung dafür begründet und in ihrer Liebe zu Frankreich. Der pädagogische Aspekt sei erst im Nachhinein mit der ersten Unterrichtspraxis als Fremdsprachenassistentin in Paris wichtiger geworden. „AK: Die erste Wahl war wegen dem Fach. Ich hab’s einfach geliebt. Ich bin wohl sprachlich begabter als naturwissenschaftlich gesehen. Und erst mit Abschluss des Grundstudiums und einer Fremdsprachenassistent…, -assistenz in Paris hab’ ich mich selber geprüft: Kann ich das überhaupt? Das war für mich der Prüfpunkt. Und dann hab’ ich gemerkt: Ja, ich kann das. […] Weil ich keine Probleme hatte, vor diesen zwanzig Schülern des Lycée […] zu stehen, die mit einer Arroganz und viel Geld im Geldbeutel daher kamen. Und ich, die arme Deutsche mit Birkenstock und langem Pulli, äh, denen trotzdem ’was erzählen konnte und mit denen arbeiten konnte und ich gemerkt hab’, das kommt auch gut an. <?page no="304"?> 4.2 Analyse des Interviews 305 CW: Aha. AK: Also diese Art, wie ich’s rüber geb’, ist okay. Vielleicht war ich denen auch einfach nur jung genug, damit’s interessant war damals.“ (AK, I, 4/ ’08) Inzwischen sieht sich AK als Lehrerin in einer vielseitigen Rolle. Diese umfasst die Aspekte der Moderatorin, der Ratgeberin und der „helfenden Hand“ sowie des „Wegweisers“ und des „Leithammels“; kurz als jemand, der die Schüler auf das Leben vorbereitet. „AK: Mittlerweile bin ich e’n, ähm, also, das, was man ja immer sagt, e’n Moderator, immer wieder. Das kann man net in jeder Stunde sein. Also man, man bereitet ’was vor und, und begleitet die Schüler dann auf diesen, an diesen Stationen mehr oder minder. Ähm, das is’ net immer der Fall. Ich bin immer noch in vielen Stunden e’n Ratgeber und auch die, der Leithammel, der sie dahin führt, damit man einfach die Stunde nützt. Ja, und ähm, ich seh’ mich bei, mit meinen Fächern wirklich auch als jemand, der die auf ’s Leben vorbereitet. Also, man kommt ohne Fremdsprachen heutzutage nicht mehr weiter. […] Und ich also weiß selber aus eigener Erfahrung, dass man ins Ausland muss. Man muss bereit sein, man weiß nie, was kommt. Und ich seh’ mich als Trittbrett dazu, also als erster Schritt, und den Schülern die Möglichkeit geben, den ersten Schritt zu tun. Der zweite fällt dann nemmer so schwer. Also, ich seh’ mich auch als, ähm, ja als helfende Hand für Austausche, Kataloge, Sprachreisen und so ’was. CW: Hm. AK: Vielleicht so bissle e’n Wegweiser.“ (AK, I, 4/ ’08) Zusammenfassend: AK erlebte ihren eigenen Französischunterricht als methodisch vielseitig und positiv. Ihre Berufswahl lag ursprünglich in ihrer Motivation und Begabung für das Fach Französisch begründet, erst später wurden die pädagogischen Aspekte wichtiger. Sie fühlt sich als Lehrerin durch ihre Schüler bestätigt. Ihre Rolle nimmt sie vielseitig wahr; vor allem möchte sie ihre Schüler auf das Leben vorbereiten. 4.2 Analyse des Interviews Die Gespräche mit AK finden an ihrer Schule statt. Sie hatte aus Kollegialität gegenüber der Kontaktlehrerin dem Interview zugestimmt, zeigt sich bei der ersten Kontaktaufnahme unkompliziert und stellt keine weiteren Fragen an mich. Zu Beginn des Interviews erkundigt sie sich dann aber doch näher nach dem Grund für das Gespräch und dem Rahmen, in dem es stattfindet. Sie zeigt <?page no="305"?> sich im anschließenden Interview sehr kooperativ und freundlich und antwortet ausführlich auf meine Impulse. Das erste Gespräch dauert knapp zwei Stunden und das zweite, das nach zwei Wochen stattfindet, gut eine Stunde. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von AK a) LA Auf meine Frage, was sie persönlich unter LA verstehe, antwortet AK, dass sie zunächst zwei Bereiche unterscheide, nämlich den des Unterrichts und den häuslichen Bereich. Man könne auch noch als dritten Bereich, den der Sprachaufenthalte betrachten. LA bedeute für sie, dass in dem jeweiligen Bereich der Lerner in gewissem Maße selbstständig arbeite. „AK: Zwei Bereiche. Im Unterricht selber, dass man den Schülern die Möglichkeit gibt, selbstständig das zu erarbeiten. Ähm, indem, dass man dementsprechende Materialien mitbringt oder herstellt oder zur Verfügung stellt. Und der andere Bereich ist der häusliche, dass se selbstständig arbeiten. Ob se das jetzt nu’ mal in Form der Hausaufgabe machen oder in Form mit Computer, Softwareprogrammen oder spielerisch. Man könnte natürlich so weit gehen, dass man LA auch noch auf Sprachaufenthalte ausweitet und sagt: ‚Okay, da sind se ja ganz selbstständig.‘ Ne gewisse Selbstständigkeit ist das für mich.“ (AK, I, 4/ ’08) In bestimmter Hinsicht sei ihr die Förderung der LA sehr wichtig. So würde sie von Beginn an ihren Schülern das Lernen des Lernens, z. B. das Vokabellernen, vermitteln. Dazu gehöre auch, dass die Schüler die Sinnhaftigkeit des Lernens verstünden. LA sei kein ständiges Unterrichtsziel, sondern käme in bestimmten Phasen zum Tragen. Es sei viel Arbeit, die Materialien für lernerautonome Phasen vorzubereiten, in der Durchführung seien diese Phasen aber für sie als Lehrkraft entspannend. „CW: Und ist das für Sie etwas, das wichtig ist für Ihren Unterricht, die Förderung der LA? AK: Ja. In gewisser Hinsicht: ja, sehr wichtig. Also (räuspert sich), zum einen muss ich ganz zu Beginn schon sicherstellen, dass meine Schüler selbstständig lernen, wie man lernt. Also dass, dass wir sicher gehen: Unter Vokabellernen verstehen alle das Gleiche, so. Dass se verstehen, warum se das machen müssen, warum es in ’ner Sprache wichtig ist und ’ne Sprache geht net ohne des. Man kann se net so weit treiben. Die müssen’s einfach selber diese paar tausend Wörter auch lernen oder Verben lernen. Das kann man net in der Schule alles leisten. Das ist wichtig. Und zweitens macht’s einfach auch für mich den Alltag leichter. Es ist unglaublich schwer in der Vorbereitung, des. Also als ständiges Lernziel kann ich’s net angeben. Aber es is’, äh, ein immer 306 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="306"?> 4.2 Analyse des Interviews 307 wiederkehrendes wichtiges Element im Unterrichten, dass man einfach für sich mal ’ne Pause schafft und man hat jetzt die Materialien bereit gestellt und jetzt sind die Schüler dran und erklären zum Beispiel auch mal mir ’was. Ja. Das ist entspannend.“ (AK, I, 4/ ’08) AK nennt im Bereich der Materialien solche für das Stationenlernen oder Tandembögen. Durch die Bereitstellung von Lösungen könnten die Schüler selbstständig arbeiten und es müsse nicht alles über die Lehrkraft erfolgen. Allerdings bedeute dies für die Lehrkraft eine Vielfalt an Materialien („schwere Tasche“) und eine aufwändige Organisation („ständiges Einräumen und Strukturieren“). Sie vermutet, dass dies manchen vom Einsatz abschrecke. Siehe auch unten. Alles in allem sieht AK LA als eine Herausforderung an. „AK: Es ist wie so ’ne Hürde, über die man gerne drüber möchte. Aber es ist halt doch immer wieder wie so ’ne Hürde da, ne. CW: Ja. AK: Also, das ist so diese … Der Gedanke, der mir dabei kommt ist: Ich bin vor zehn Jahren, zwölf Jahren ausgebildet worden und das ist einfach die neue Entwicklung, auf die man mit aufspringen sollte. Und ich bemüh’ mich, bemüh’ mich und bemüh’ mich, da irgendwas zu machen. Aber es ist halt ’ne Entwicklung, das ist ein Prozess. Und das ist wie so ’ne Hürde, die man so langsam aber sicher nehmen kann. CW: Hm. AK: Net immer, net überall, aber immer wieder.“ (AK, I, 4/ ’08) Die Förderung der Selbstständigkeit würde helfen, dass sich die Schüler schneller locker und selbstbewusst in echten Kommunikationssituationen verhielten. Außerdem steigere Autonomie die Motivation für das Lernen. „AK: Wenn die selbstständig gewohnt sind, zu arbeiten, zu erarbeiten und zu sprechen, sich zu kontrollieren, Dinge zu tun, glaub’ ich, dass, dass der, die Hürde weniger groß ist. Ich glaube, dass, dass es, wenn’s dann um diese Erprobung im muttersprachlichen oder im, im fremdsprachlichen Raum geht, ähm, die Hürde nicht mehr so groß ist. Dass die einfach lockerer sind, wenn se lernen, äh, dass da net immer so ’ne Autoritätsperson mit ‚Nein, das war aber falsch.‘ drüber steht, sondern dass die einfach eher zum Sprechen kommen und eher auch bereit sind, gegenseitig sich auf ’was hinzuweisen. - Also, ich glaube, dass dann das höchste Lernziel, das wir als Sprachlehrer haben, schneller verwirklicht wird, eher verwirklicht wird, und dass auch die, hm, ja … Ich glaub’ auch, dass die Lust an der, am Lernen erhöht wird dadurch. Also, wenn ich, wenn ich einfach merke, ich kann mir, ich kann mir selber ’was erarbeiten, ich, ich hab’ das geblickt, ich kann die Regel und so weiter, darf man ja auch mal auf Deutsch oder so machen, ähm, dass das für die Schüler sehr befriedigend ist. Also net immer derjenige, der schon alles weiß, sondern die blicken das ja selber, un’ die blicken das <?page no="307"?> schon in Klasse 5 und 6, wie was geht. Und wenn man dann diese Prinzipien immer wiederholt und immer so die gleichen, auch visuellen Elemente da verwendet, dann kann man, glaub’ ich, da ’ne ziemliche, ein ziemliches Selbstbewusstsein auch schon rauskriegen. - Ja.“ (AK, I, 4/ ’08) Weitere für sie wichtige Unterrichtsprinzipien seien Disziplin und das Sprechen des Französischen, auch miteinander im geschützten Raum ohne Lehrkraft. Die Schüler sollen dadurch die Angst vor Fehlern verlieren und lernen, einander zuzuhören. Die Korrektur solle durch die Schüler selbst oder untereinander, im Sinne von Sich-gegenseitig-Helfen, erfolgen. Außerdem achte sie darauf, dass sich die Schüler in ihrem Unterricht bewegen, unter anderem auch, um ihre Nervosität abzubauen. Sie selbst nehme sich im Hinblick auf diese Ziele gerne zurück. „AK: Didaktisches Prinzip. Ich kann’s vielleicht jetzt nicht auf das richtige Wort bringen. Mir ist wichtig, dass es in meinem Unterricht also ’ne Voraussetzung gibt, auf der gehört und gesprochen werden kann und Feedback gegeben werden kann. Das bedeutet für mich, äh, ich möchte, dass meine Schüler diszipliniert sind im Unterricht. Ich lasse nicht zu, dass da e’n Tohuwabohu entsteht (räuspert sich) , es sei denn, sie sind in Kleingruppen (räuspert sich). Denn ich bin Sprachlehrerin und damit hab’ ich einfach ja e’n andere Voraussetzung wie, wie e’n Deutschlehrer oder so. Das ist mir ganz wichtig. Dann ist mir zusätzlich wichtig, dass die ganz viel zum Sprechen kommen und dass ich, ja, den Teil net hab’. Und, ähm, das wurde auch schon bemerkt, dass die Schüler wirklich reden können. Und mir ist auch ganz wichtig, dass man denen dazu verhilft, auch untereinander zu sprechen, ohne dies …, also im geschützten Raum. Dass net immer diese, diese Angst vorm Fehlermachen da ist. Und mir ist auch mittlerweile sehr, sehr wichtig, dass ich zwar wichtige Fehler anhalte und dass die Schüler sich oder andere Schüler korrigieren. Also ab ’nem bestimmten Zeitpunkt möcht’ ich’s einfach nimmer selber machen. Das ist mir auch wichtig, dass da einfach das Zuhören dann da ist und das Aufeinander-sich-Beziehen und helfen, weiterhelfen. […] Was mir auch ganz wichtig ist und immer wichtiger wird, je jünger meine Schüler sind, ähm, ist der bewegte Unterricht. Also, da brauch’ i’, ähm, also, ich geh’ nimmer durch und ich teil’ auch keine Blätter mehr aus. Das machen alles die Schüler. Die holen sich des. Das weiß ich, dass das ganz arg hilft, dass die einfach ihre Nervosität los kriegen oder ihre Energie abreagieren können.“ (AK, I, 4/ ’08) Auf geschichtliche Zusammenhänge und interkulturelle Aspekte würde sie zudem gerne eingehen: „Mit 1066 geht’s dann los und so. Dieses Interkulturelle, das ist mir wichtig.“ 308 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="308"?> 4.2 Analyse des Interviews 309 Zusammenfassend: LA bedeutet für AK Selbstständigkeit der Schüler im Unterricht, zu Hause und bei Aufenthalten im Ausland. LA motiviere die Schüler, mache sie selbstbewusst und bereite sie besonders gut auf echte Kommunikationssituationen vor. Die Förderung der LA, wie das Lernen des Lernens, sei ihr sehr wichtig, sie würde sie aber nur phasenweise verfolgen, da das Vorbereiten entsprechender Materialien viel Zeit in Anspruch nehme. Darüber hinaus achte sie auf Aspekte wie Disziplin, das Sprechen im geschützten Raum, die Bewegung beim Lernen und das Aufzeigen interkultureller Zusammenhänge. b) Sozialformen Auf die Frage, welche Sozialformen sie in ihrem Unterricht bevorzuge, nennt AK spontan die Arbeit in Dreiergruppen, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Besetzung sehr effektiv und kreativ sei. (Zur Gruppenarbeit siehe auch unten: Die Rolle des Fremdsprachenlehrers.) Partnerarbeit würde sie ebenfalls einsetzen, diese sei für die Lehrkraft ‚unheimlich entspannend‘. Auch auf frontale Phasen würde sie in jeder Stunde zurückgreifen, jedoch seien diese für die Lehrkraft relativ anstrengend. „AK: Ich lass’ sehr gerne in Dreiergruppen arbeiten. CW: Warum gerade drei? AK: Zwei ist immer das Gleiche. Das sind meistens zwei Schüler, ungefähr auf ’em gleichen Niveau, die nebeneinander sitzen. Das macht man oft, schnell mal zu kontrollieren, um, um sich Ideen zu geben, un’ da is’ au’ net viel Bewegung im Raum. Bei drei hat man immer noch die Gelegenheit, jemand aus ’ner anderen, ähm, Leistungsgruppe mit dazu zu tun und dann noch, noch was rein zu tun. Und diese Arbeit, also Dreiergruppe, arbeitet einfach immer am effektivsten. Da ist man …, Vierer sind schon manchmal zu viel. Ja. […] Kreative Sachen funktionieren ganz, ganz toll in ’ner Dreiergruppe. […] Aber natürlich stehen wir vorne. Und natürlich gibt’s immer wieder Phasen. Das ist eigentlich in jeder Stunde ’ne Phase, wo das so ist. Aber es ist halt immer das Anstrengendste.“ (AK, I, 4/ ’08) Projektunterricht „hasse“ sie hingegen, weil Ergebnis und Zeitaufwand nicht miteinander im Verhältnis stünden. „CW: Und Projektunterricht? AK: Das hasse ich. CW: Warum? AK: Weil ich die Erfahrung mache, dass Schüler sich wahnsinnig unterschätzen. Nein, die überschätzen sich und unterfordern sich. Was bedeutet, ich plane und stell’ mich <?page no="309"?> hin und versuche, tolle Aufgabenstellungen zu machen und Überprüfungen und rückzumelden: ‚Kommt das hin, kriegt ihr’s hin? ‘ und so weiter. Und was kommt nachher dabei raus? Entschuldigung, da kann jeder kurz mal in Wikipedia rein gucken und dann haben wir das schneller. Und dafür also möcht’ ich mein’ Zeit net hergeben. Projekte im Sinne von ’ner Austauschfahrt vorbereiten oder so, solche Sachen sind okay. Aber auch da macht man immer wieder die Erfahrung, dass einfach zu wenig kommt nachher. Und Projekte brauchen sehr viel Zeit, weil halt auch die Schüler andere Dinge miteinander bequatschen müssen. Und oftmals hab’…, ich hab’ in manchen Jahrgangsstufen nicht das Gefühl, ich hätte diese Zeit.“ (AK, I, 4/ ’08) Je nach Lernstoff würde sie den Unterricht eher steuern oder öffnen. Gerne bediene sie sich der Lernzirkel. Sie würden einen gewissen Vorbereitungsaufwand bedeuten, seien in der Durchführung aber angenehm für die Lehrkraft und würden eine besondere Behaltensleistung bei den Schülern bewirken. AK beschreibt ihren Unterricht als eher offen, insbesondere bei Erklärungs-, Übungs- und Umsetzungsphasen, wobei die Übungsphasen einer Überprüfung bedürften. Steuern würde sie insbesondere, um zu einem bestimmten Punkt hin zu kommen, danach öffne sie. Die umgekehrte Reihenfolge, also zunächst den Unterricht öffnen und dann steuern, würde nur in der Oberstufe gut funktionieren. „AK: Also, bei der Grammatik zum Beispiel kommt’s auf ’s Thema drauf an. Also, es gibt Grammatiken, gerund im Englischen, mach’ ich e’n Lernzirkel, hab’ ich meine Ruh’ und lass’ mir das nachher von denen zeigen. Da öffne ich von Anfang an. Un’ mach’ da auch, un’ bin auch echt bereit, diese Zeit auf…, also aufzuwenden, dass sie es einmal richtig machen und dann sitzt das in der Regel auch. Man muss es noch mal wiederholen, aber es sitzt einfach anders, als ob man’s mal so kurz wo in ’nem Minitextchen anspricht und dann kommt nachher noch mal ’was. Ja, also, es gibt Themen, wo ich von vorneherein öffne. Es gibt Themen, wo ich hinführe, frontal steuere. Da möcht’ ich hin, so: ‚Und jetzt seid ihr dran. Er…, findet raus woran oder wie oder wie sich das erklärt. Ja, woran liegt das? ‘ Die Erklärungsphasen geb’ ich oft frei für die Schüler. Und, äh, die Übungsphasen geb’ ich auch sehr oft frei. Je nachdem, wenn ich halt so Tandembögen habe oder über…, überprüfbare Übungen habe. Äh, also, ich komm’ immer mehr davon weg, Übungen nach vorne zu machen, so wie wir das früher gemacht haben. Bei uns hat man wirklich ein a) bis h). CW: Klassen… AK: Ja. A), da warst du dran mit a), dann kommt der nächste mit b) und das wird dann in der Klasse immer gesagt. Davon komm’ ich immer mehr weg. Ich lasse oftmals zu zweit Übungen machen und dann nachher noch e’mal eine, also lass’ es ganz frei. Und, und überprüf ’s dann nachher noch e’mal oder frag’ dann einfach nur: ‚Wo gab’s Streitereien? ‘ oder so. Äh, Übungsphasen kann man aber net immer ganz frei geben. Da muss schon noch dieses Feedback da sein. Äh, in, in der Umsetzung geh’ ich oftmals 310 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="310"?> 4.2 Analyse des Interviews 311 ganz weg. Also, das ist total, total frei in der Regel. Da mach’ ich …, da, da lass’ ich dann den Schülern …, also, da geb’ ich nur noch an, was sie machen sollen oder wo sie hinkommen sollen. Wie sie das machen, geh’ ich dann durch und helf ’ den einzelnen Gruppen, aber da steuer’ ich nimmer viel. Und das läuft ganz, ganz toll. Ähm, ja und je nachdem, wie ich an ’was ran geh’, also so, wenn’s jetzt mal um so Geschichten geht, dann steuere ich gern auf einen bestimmten Punkt zu und ab dem Moment ist frei. Anders rum anzufangen, frei und dann irgendwann zu steuern, geht meistens net so gut. Es sei denn, man ist in der Oberstufe. Und da kann man auch anders anfangen. Da kann man dann recherchieren lassen. […] Aber man muss irgendwann mal eingreifen, sonst kommt man ja nirgends wo hin.“ (AK, I, 4/ ’08) Bisweilen beteilige sie auch die Schüler an der Wahl der Lerninhalte, insbesondere wenn es um die Auswahl einer Unité mobile oder einer Lektüre gehe. „Also bei Literatur, ja; da dürfen sie oftmals wählen.“ Grenzen seien durch die Klassensatzausstattungen an der Schule gesetzt („Man kann als Fachschaft nicht unbeschränkt Materialien anschaffen.“) und durch den hohen Zeitdruck beim G8 oder die Schwierigkeiten während der Pubertät. Auch gäbe es Zwänge wie die Vorgaben des Grammatikstoffes im Lehrplan: „Da gibt’s e’n Bildungsplan; da gibt’s net viel Freiheit! “ Zusammenfassend: AK setzt unterschiedliche Sozialformen, wie die Arbeit in Dreiergruppen, die Partnerarbeit, die Arbeit in Lernzirkeln oder, bei frontalen Phasen, die Arbeit im Klassenverband, ein. Ihren Unterricht beschreibt sie als eher offen, insbesondere in Erklärungs-, Übungs- und Umsetzungsphasen. Steuern würde sie vor allem, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen. Projektarbeit lehnt sie ab, weil sie unverhältnismäßig zeitintensiv sei. c) Aufgaben AK sagt, Hausaufgaben seien ihr sehr wichtig und sie seien ein regelmäßiger Bestandteil ihres Unterrichts, sowohl in der Vorbereitung als auch in der Nachbereitung. „AK: Die Hausaufgaben, ja, die werden vorbereitet. Also, die sind meistens die Übungen zu dem, was man im Unterricht eventuell, je nachdem wie selbstständig, gemacht hat oder mal ’ne Vertiefung oder, äh … Und sie werden nachbereitet im Sinne von … Also, Vokabeln werden abgefragt und, äh, sie werden besprochen. Oftmals leg’ ich die Lösung auf und sag’: ‚Wo ist’s unklar? ‘ Dass es schneller geht. Also, ja, die [Hausaufgaben] sind wichtig.“ (AK, I, 4/ ’08) Siehe hierzu auch unten: Das Französischlehrwerk. <?page no="311"?> d) Materialien AK nennt im Bereich der Materialien zur Förderung der LA solche für das Stationenlernen oder Tandembögen. Durch die Bereitstellung von Lösungen könnten die Schüler selbstständig arbeiten und nicht alles müsse lehrerzentriert ablaufen. Allerdings bedeute dies für die Lehrkraft eine Vielfalt an Materialien und eine aufwändige Organisation. Sie vermutet, dass dies manchen vom Einsatz abschrecke. „AK: Früher hab’ ich gelernt in meiner Ausbildung, man arbeitet induktiv. Aus einem Text heraus nimmt man die Beispiele, lässt die zusammentragen, hoffentlich sind da genügend Beispiele, dass alle Sachen drin sind, und die Schüler, äh, und dann erkennt man die Regel, schreibt das auf, Strukturübung und so weiter. Und, ähm, ja so war das, der Lehrer an der Tafel und so weiter. Und heutzutage, äh (räuspert sich) , gibt’s sogar welche, die sagen, man kann auch das Grammatikheft hinlegen, Stationen aufbauen und den Schülern sagen: ‚Guckt euch das an, ’ne. So ist es. Und dann geht ihr an die nächste Station.‘ Wo dann vielleicht das umgesetzt wird. Oder dass man sich einfach überlegt: In welcher Situation brauchen die das und wie kann ich denen das so vermitteln, dass ich net derjenige bin, über den das alles geht? Und es ist schon e’n Schritt weiter noch mehr sich zu überlegen, äh, wie krieg’ ich das hin, also dass net alles über mich geht. Dass sie das selbstständig, zum Beispiel anhand von Tandembögen, die muss man dann ja erst mal haben, und dann können die selbstständig sich kontrollieren zu zweit. Da muss ich als Lehrer net dazwischen sein. Aber das ist halt Vorbereitung. - Das ist auch ’ne organisatorische Sache. Also, ph, man hat auch einen sehr schweren, sehr schwere Tasche dann immer, weil man Materialien dabei hat. Und die muss man abends wieder oder mittags wieder einräumen. Also, man hat unglaublichen Fundus. Das ist das Schwere. Und deswegen machen das viele auch net. Weil dazu braucht man e’n ständigen Überblick, ständig wieder einräumen, e’n ständiges Strukturieren, da gehört das hin. Das war schon einfacher, als die Lehrer nur noch mit dem Lehrbuch in die St…, nur mit dem Lehrbuch in den Unterricht sind.“ (AK, I, 4/ ’08) e) Das Französischlehrwerk Auf die Frage, ob es Elemente im Lehrwerk gäbe, die die LA fördern, verweist AK auf Aufgabenstellungen in den neueren Lehrwerken („Ja, mittlerweile schon. Die neuen schon.“), bei denen die Schüler aufgefordert würden, sich die Grammatik selber zu erarbeiten. Hilfreich sei es, wenn die Regeln an Ort und Stelle stünden oder ganze Paradigmen aufgelistet und farbig markiert seien. Außerdem würden Wiederholungsübungen mit Lösungen das selbstständige Arbeiten fördern. „AK: Dann ist in manchen Lehrbüchern auch diese Révision , auch im Englischen ja, also, so Wiederholungssach…, -teile drin, wo dann die Lösungen selber hinten drin 312 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="312"?> 4.2 Analyse des Interviews 313 sind. Und das ist klasse. Da brauch’ ich nur noch sagen: ‚Hier: eins, zwei, drei.‘ Und ich brauch’ mit denen das gar nimmer besprechen. Und ich frag’ einfach nur: ‚Gab’s, gibt’s Fragen? Versteht ihr irgendwas net? ‘ Aber das verstehen sie dann meistens, warum sie’s falsch haben.“ (AK, I, 4/ ’08) Solche selbst zu kontrollierenden Übungen integriere sie in den Unterricht, sie nutze sie auch für die Hausaufgaben, bei einer langen Lektion zum Auffrischen, vor einer Klassenarbeit zur Wiederholung und wenn ein Schüler krank gewesen sei. Freiarbeitsmaterialien passend zu den Lektionen des Lehrwerks (also mit bekanntem Vokabular), mit denen man Stationen aufbauen könne, begrüße sie auch sehr. Punktuell wünsche sie sich in Sprachlehrwerken mehr Tandembögen und information gap activities , auch im Hinblick auf die Oberstufe. f) Medien AK empfiehlt den Schülern, sich Cahiers mit Software anzuschaffen und die Software zu Hause einzusetzen. Sie glaubt, dass insbesondere Jungen gerne mit Software arbeiten, habe sich aber bisher noch keine Rückmeldungen zu der Arbeit mit der Software von den Schülern eingeholt. Von den Eltern höre sie manchmal, dass die Schüler in der Mittelstufe „da etwas machen“. Darüber hinaus könne sie aber aus Zeitgründen keine bestimmte Software empfehlen: „Ich kann mich net in allem auskennen.“ Auch im Unterricht selbst müsse sie aus Zeitgründen auf den Einsatz von Software oder einer DVD verzichten. g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation AK sagt, sie lasse die Schüler ihre Hausaufgaben oftmals selbst kontrollieren, und zwar anhand von Lösungen auf Folien, die sie im Unterricht auflege. In der Oberstufe sei ihr die Arbeit im Hinblick auf die Fehler besonders wichtig, hier lasse sie die Schüler ihre Fehler kategorisieren und gewichten. Diese Arbeit hätte sie bereits mit einer Klasse 8 erfolgreich begonnen, jedoch würde das angefangene Heft im nächsten Jahr bei einer anderen Lehrkraft nicht weitergeführt. Man benötige eine übergreifende Vereinbarung in der Schule, um hier Nachhaltigkeit gewährleisten zu können. „AK: Das müsst’ eigentlich auf ‘ner Vereinbarung in der Schule basieren. Das nützt nix, wenn ich des mit einer Klasse mal mache. Und das lief ganz gut, weil die dann wirklich wussten: ‚Das kann ich, aber in dem Bereich muss ich mich für die nächste Klassenarbeit mehr vorbereiten.‘ Das lief ganz, ganz toll. Und da haben die mir auch zurückgemeldet, dass se wirklich merken, dass das hilft.“ (AK, I, 4/ ’08) Ansonsten sei es eher schwierig, die Schüler an die Arbeit mit ihren eigenen Fehlern heran zu führen. Sie würde anhand von Tests und Klassenarbeiten sehr <?page no="313"?> wohl merken, wenn einzelne Schüler Schwierigkeiten mit der Konjugation der Verben oder den indirekten Objektpronomen hätten und diese dann dazu auffordern, den jeweiligen Bereich zu vertiefen. „Und dann sag’ ich: ‚Schreibt es neu. Und diese angestrichenen Dinger möcht’ ich konjugiert haben.‘“ Aber die Problematik bestünde darin, dass die Arbeit mit den eigenen Fehlern doch sehr individuell sei. Hier fehle ihr einfach für eine spezielle Vertiefung die Zeit. Das müssten ihre Schüler selbst leisten. „AK: Es ist mir einfach auch net möglich, weil das so individuell ist. Also, ich kann mich auch net noch länger hinsetzen für die Korrekturen. Ich hab’ ja auch noch Unterricht zu machen. Natürlich könnt’… Also, was ich ganz super fand, war neulich bei meinem Sohn, da kam ’ne Arbeit zurück und dann kam e’n ganzes Blatt, wo seine, wo er sich noch verbessern könnte, ausdruckmäßig, sprachlich. Und dann hatte die [Lehrerin] doch ‘ne halbe Seite lang seine Fehler abgeschrieben und hat ihm die mit dem Computer verbessert. Und da muss …, find’ des klasse, ja. Mein Sohn braucht nix mehr zu tun. Es ist verbessert. Er kann’s lesen, ich kann’s lesen. Ob’s dann drin besser wird, ist die Frage. Ich hätte die Zeit net, wenn ich ’nen vollen Kurs hab’ mit 22, 23 Schülern und e’n vollen Lehrauftrag, setz’ ich mich doch net hin und schreib’ von 22 Schülern jeweils 35 Fehler ab. Na, da bin ich doch net bescheuert, ähä, und mach’ mir noch Zusatzarbeit. Wobei des natürlich schon toll ist. Das müssen die [Schüler] dann schon selber leisten un’ sich selber das einteilen. Nee, also für mich selber, das hat so seine Grenzen.“ (AK, I, 4/ ’08) Auch seien im Lehrwerk Bereiche zur Selbstevaluation integriert. Gut fände sie dabei, wenn die Schüler im Anfangsunterricht im Schülerbuch auf Deutsch nachlesen könnten, was sie bereits alles beherrschen würden. „Das find’ ich ganz gut, dass se da des auch wissen: Das kann ich schon.“ Im Unterricht würde sie auch darauf hinweisen, wenn Vokabeln eines bestimmten Wortfeldes bereits bekannt wären, das es nun „wie in einer Spirale“ zu erweitern gälte. Hier sollten dann die Schüler sich selbst prüfen, welche Vokabeln sie noch kennen würden. „Abfragebögen“ im Cahier würde sie hingegen im Unterricht nicht einsetzen, mit Feedback-Bögen fühle sie sich „verloren“. Sie wisse auch nicht, wie und wann sie diese einsetzen solle angesichts von Unterrichtskürzungen und der Forderung nach mehr Kreativität und mehr Zeit für das Sprechen. Dies ließe ihr kaum Raum für solche Dinge. „AK: Was soll man noch alles machen? Das is’ mir ein bisschen zu viel manchmal.“ (AK, I, 4/ ’08) 314 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="314"?> 4.2 Analyse des Interviews 315 Zusammenfassend: AK steht der Bewusstmachung bereits bekannter Lerninhalte oder den durch das Lehrwerk bereit gestellten Möglichkeiten zur Selbstevaluation positiv gegenüber. Selbstkontrolle und Selbstevaluation finden im Unterricht von AK ansatzweise bei der selbstständigen Kontrolle der Hausaufgaben oder bei der Arbeit mit den eigenen Fehlern statt. Allerdings würde Letzteres nicht unbedingt durch ihre Kollegen im nächsten Jahr weitergeführt; hier sei eine schulübergreifende Regelung notwendig. Für eine individuelle Betreuung der Arbeit mit den eigenen Fehlern oder einen Einsatz von Feedback-Bögen fehle ihr aber die Zeit. Zur Selbstkontrolle siehe auch oben: Das Französischlehrwerk. h) Schüleraustausch AK sagt, sie nehme als eine der jüngeren Lehrerinnen im Kollegium regelmäßig am strapaziösen dreiwöchigen Schüleraustausch mit La Réunion teil („Langstreckenflug und die Sonne und die Tropen“). Darüber hinaus engagiere sie sich für das Programm Brigitte Sauzay, damit die Schüler „selber nach Frankreich gehen“. Letztendlich glaubt sie, dass die Schüler mit Erfolg solche Aktivitäten absolvieren. „AK: Ich weiß auch, dass das sehr motivierend ist für die Schüler. Also, man merkt dann auch wirklich, wie sich bei manchen Schülern was tut plötzlich. […] Also, ich hatte auch schon ’ne Schülerin, die e’n Vierteljahr ging und super gesprochen hat danach. […] Halt’ ich für wichtig im Sprachenbereich.“ (AK, I, 4/ ’08) Mit Frankreich gäbe es leider aufgrund der wenigen Möglichkeiten keinen Schüleraustausch mehr. Da müsse die Schule schon sehr engagiert sein und das sei meist bei solchen Schulen der Fall, die Französisch als 1. Fremdsprache anböten. Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner AK sagt, sie thematisiere die Bedeutung des Französischlernens bei ihren jüngeren Schülern nicht. Diese würde sie eher nach ihrer eigenen Motivation fragen, Französisch zu lernen oder nach eventuellen Frankreichaufenthalten. Bei den Schülern der oberen Mittelstufe versuche sie hin und wieder, lebensnahe Situationen zu schaffen oder die geschichtlichen und sprachlichen Zusammenhänge aufzuzeigen. „AK: Also, indem dass ich versuch’, rea…, ja, das is’ zwar in dem Moment net realistisch, aber so denen doch net ganz fremde Situationen zu schaffen und dass se durch den Französischunterricht ja lernen könnten, wie man sich da durchschlägt. Dass man <?page no="315"?> da auch ’was üben kann, was man vielleicht im Deutschen auch braucht: Wie reiß’ ich ’ne Frau auf ? Oder: Wie geh’ ich an das heran? Wie, wie fang’ ich e’n Telefonat an? […] Aber auch dass es mit vielen Sachen zur Allgemeinbildung gehört, ne, dass man immer wieder drauf hinweist: ‚Wir haben hier auch noch Reste von dem.‘ Also, wie die Sprachen ineinander rein spielen. Ja. Und natürlich auch inwieweit das geschichtlich miteinander zusammenhängt. Also im Bereich deutsch-französische Freundschaft und, ähm, dass da natürlich Französischunterricht ’ne ganz andere Bedeutung hat. Das in dem Rahmen ganz stark, ja. Warum lernen wir eigentlich Französisch? CW: Thematisieren Sie das bei den Sechstklässlern schon? AK: Nein. CW: Wann in etwa? AK: Also bei den Sechstklässlern frag’ ich eher: ‚Warum habt ihr euch für Französisch entschieden? ‘ Oder dann: ‚War schon jemand in Paris oder da oder dort? ‘ und so. Und: ‚Habt ihr ’was gebraucht von euren Sachen? ‘ Aber, äh, nee. Also deutsch-französische Sachen eher - spätere Mittelstufe.“ (AK, I, 4/ ’08) Grundsätzlich glaubt sie, dass Jungen und Mädchen in ihrem Lernverhalten unterschiedlich sind. Die Mädchen seien allgemein sorgfältiger als Jungen und würden in der Pubertät meist nur in einem einzigen Fach nachlässiger werden, während Jungen oftmals in der Pubertät insgesamt beim Lernen nachließen. Während der Bewegungsdrang bei Jungen stärker ausgeprägt sei, würden Mädchen eher auf Bewegung und Rhythmus ansprechen. „AK: Es gibt sehr viel mehr Mädchen, die sorgfältig lernen. Irgendwie scheinen mir die Mütter mehr am Tisch zu sitzen bei den Mädchen. Oder die Mädchen schauen sich das Sorgfältige von den Müttern mehr ab. (kurze Pause) Es gibt auch sehr viel mehr Mädchen, die zwei, drei Jahre wahnsinnig sorgfältig arbeiten und dann total aufhören damit in einem Fach oder so. Und ich merk’ bei Jungs dann eher so, dass es bei allen Fächern dann so ist, wenn se aufhören zu arbeiten in Klasse 9, 10. Dann oftmals in allen Fächern, dann tun die gar nix mehr. (kurze Pause) Bei Jungs fängt also dieses …, es gibt sehr viel weniger Jungs, die sorgfältig arbeiten. Und es fällt richtig auf, wenn da mal einer dabei ist, der wirklich drauf achtet, dass alles stimmt und auch das Datum dabei steht, das Heft ordentlich ist. Also, die Jungs sind eher so, so die schlampigeren. Das tritt bei Mädchen sehr viel später erst ein, dass sie schlampig werden, so egal wie’s Heft aussieht, so. Da merkt man schon e’n großen Unterschied. Jungs brauchen auch viel mehr Bewegung. Mädels scheinen sich irgendwie …, die bewegen sich auch gern, äh, eher dann so im Rhythmus, was Jungs weniger gern machen. Aber Jungs brauchen Bewegung. Also, die finden das toll, wenn man auf ’n Tisch rauf springt und wieder runter und auf ’n Stuhl und unter ’n Stuhl durchkriecht und so. Das sind deren Sachen. Und Mädels fangen da schon eher an mal des (schnipst mit den Fingern) , un’ also beim Rap sind die dann dabei, so ne.“ (AK, I, 4/ ’08) 316 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="316"?> 4.2 Analyse des Interviews 317 a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? Auf die Frage nach den Lernertypen nennt AK spontan drei deutlich unterschiedliche Arten von Lernern, die sie in ihrem Unterricht beobachte: den introvertierten, regelmäßig lernenden, schriftlich guten Schüler; den kommunikativen, sprech- und bewegungsfreudigen Typ und den Lerner, der musikalisch und auditiv sehr begabt sei, aber weniger gut schreiben könne. Schließlich gäbe es noch die Lerner, die man nicht so leicht einordnen könne. Die seien weniger zu begeistern, keine „ausgeprägten Sprachtypen“ und eher naturwissenschaftlich orientiert. In der Pubertät würden noch andere Aspekte hinzukommen, die die Zuordnung erschwerten. „AK: Also, es gibt den einen, der im Unterricht net viel sagt, der aber regelmäßig lernt, net mit viel Begeisterung, aber weil er halt sorgfältig ist, dran bleibt. Der schreibt dann immer im Unterricht, äh, in der Klassenarbeit gute Noten und hat regelmäßig bessere Noten als Unterrichtsnoten, also als mündliche Noten. Das ist so der eine. Das is’ net der kommunikative Typ. Das ist auch net der, der gerne ’was spielt, der gerne aus sich raus geht. Das ist so der introvertierte Schülertyp. Dann gibt’s den anderen, der unheimlich kommunikativ ist, aufgeschlossen, offen, sportlich, ph, Bewegung haben möchte. Und den packt’s irgendwann mal, vor allem wenn man früh genug anfangen kann. Der möchte gern sprechen, der möcht’…, ja der ist vielleicht net so sorgfältig, aber der, der will sprechen. Der will sich bewegen und der ist beim Spielen immer ganz arg schnell dabei. Der findet es toll, wenn er irgendwo sich hinfliegen lassen kann und dann: ‚Aïe! ‘ sagen muss oder irgendwas. Ähm, der Typ. Dann gibt’s ja diese, diese Typen, die unheimlich auf, auf Musik an…, anspringen. Das beobachte ich auch immer wieder, dass so wie Musik kommt, irgendwas, was man so im Rhythmus machen kann oder einfach auch normale Musik, wenn ich, was weiß ich, Ilona oder irgendwas mitbring’, da sind die dabei. Und da hören die, da hören die Sachen raus, die also net alle raushören. Da sind die unheimlich begabt. Das sind vielleicht net diejenigen, die nachher so toll schreiben können, die könnten also net super schreiben. Aber das merkt man schon, das sind unterschiedliche Typen. Und ja, wo’s schwer fällt ist, wenn’s dann in die Pubertät geht, die einzu…, weil dann kommt immer noch ’was anderes hinzu. Die kann man in der Sekundarstufe I eher unterscheiden diese Typen. Ganz früh. Und dann sind natürlich auch immer wieder mal diejenigen drin, die wo man sagt: ‚Hm, ja die sind sehr nachdenklich und gleichzeitig, äh, nachlässig auch beim Sprechen.‘ Also wo, wo die man net so richtig einordnen kann. Die spielen auch net mit voller Begeisterung. Die, die machen auch net mit voller Begeisterung mit. Die sin’ auch net unaufmerksam. Aber irgendwie kann man die keinem so richtig zuordnen. <?page no="317"?> Die sind so …, ja, da erfährt man dann halt irgendwann mal lan…, dass vielleicht dann doch, dass e’n Fach wie Bio oder, oder meinetwegen auch Mathe, das Lieblingsfach ist. Also, sind net so ausgeprägte Sprachtypen, wo man so ganz klare Zuordnungen machen könnte.“ (AK, I, 4/ ’08) AK denkt, dass der kommunikativ-auditive und gleichzeitig sorgfältige Lerner beim Aneignen einer Fremdsprache im Vorteil sei. Auf jeden Fall wäre das sorgfältige Lernen eine gute Ausgangsbasis für das Fremdsprachenlernen, auch wenn der Lerner introvertiert wäre. „AK: Es ist der kommunikative Typ, der gerne hört, also auch gerne hört, gerne Musik hört und gleichzeitig ein sehr sorgfältiger, aufgeräumter Mensch ist. Also, ich find’ schon, dass sich die kommunikativ veranlagten Menschen leichter tun beim Sprachenlernen als introvertierte. CW: Hm. AK: Und was ich generell auch merke, wenn’s kein kommunikativer Typ ist, dann ist es oftmals jemand, der, äh, es gibt ja auch Jungs, die wirklich sorgfältig arbeiten, die dran bleiben und alles ernst nehmen. Die tun sich irgendwann mal …, die tun sich zwar am Anfang schwer, aber irgendwann mal tun die sich leicht, weil sie einfach verstehen durch den, die Basis, die sie sich erarbeitet haben.“ (AK, I, 4/ ’08) b) Lernerstrategien und Lerntechniken Auf meine Frage, welche Lerntechniken und Lernerstrategien ihr wichtig seien zu vermitteln, bittet AK mich zunächst, ein Beispiel zu nennen. Als solches erwähne ich das Vokabellernen mit dem Vokabelkasten. AK sagt daraufhin, ihr sei das visuelle Strukturieren eines Textes, das die Schüler in die Lage versetze, den Text zu verstehen und über ihn referieren zu können, sehr wichtig. Weiter erwähnt sie Markierungstechniken (z. B. zur Unterscheidung von „männlich/ weiblich“ oder das Markieren von Arbeitsanweisungen). Das Vokabellernen mit dem Vokabelkasten sei hilfreich, aber bereits in der Grundschule eingeführt und sie würde es inzwischen nicht weiter vertiefen. Beim Vokabellernen sei ihr wichtig, dass die Schüler ihr Vokabelheft geordnet führten und wüssten, dass sie die Vokabeln auch „im Laufen“, also außerhalb des Schreibtisches, lernen könnten. Da die Einsicht der Schüler in die Sinnhaftigkeit der Techniken bisweilen fehle, müsse sie Anreize schaffen, damit Techniken, wie das farbige Markieren von Arbeitsanweisungen, angewendet würden. „AK: Dass man visuell strukturiert arbeiten kann, das ist mir ganz wichtig. Und den Part hab’ ich auch im Methodentag übernommen, dass man sich selber da einordnen kann und sagt: ‚Ich kann alles, was ich lese, höre oder sonst wie, in ’ne visuelle Information umdeuten und kann des dadurch schneller begreifen und weit…, wiedergeben. 318 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="318"?> 4.2 Analyse des Interviews 319 Es hilft allen, wenn ich ’ne visuelle Unterlage hab’ dazu.‘ Das ist mir wichtig. Und dazu grad’ im Französischen biet…, bietet sich’s ja an mit ‚männlich/ weiblich‘. […] Vokabelkasten hab’ ich vermittelt, ich musste dann sogar die Vokabelkästen besorgen und mittlerweile mach’ ich so ’n Kruscht nicht mehr. Also, das wird jetzt mittlerweile an der Grundschule schon vermittelt. Die Schüler haben oftmals e’n Vokabelkasten und ich, ich verlang’ im ersten Jahr einmal ein dreispaltiges, ähm, Vokabelheft, wo se des rein schreiben müssen. Ich lass’ die auch einmal eine Zeit lang bei mir im Unterricht des abschreiben und geh’ mal durch und sag’: ‚Hey, Schönschrift (klopft auf den Tisch) ! Hey, (klopft auf den Tisch) Zeile frei lassen! ‘ So ’was und zeig’ denen dann, wie man die Papiere umknickt, damit man das schön lernen kann und auch wieder drauf schreiben kann. Ähm, des sind als Sprachlehrerin schon die wichtigeren Dinge. Was mir auch ganz wichtig ist, ist das Arbeiten mit Farben. Also das find’ ich immer sehr, sehr schade, dass so tolle Texte im Buch drin sind und dann kann man die net markieren. Also, ich …, hm, schon öfters überlegt, ob man manche Texte net einfach kopiert und dann so noch mal austeilt und dann sollen se damit arbeiten. Das is’ mir ganz wichtig. Also, meine Schüler brauchen immer e’n Stabilo, e’n dünnen, zweifarbigen, also zwei farbige Stabilos, un’ sie brauchen immer e’n Leuchtstift. Un’ mir is’ auch ganz wichtig, dass se die Arbeitsanweisungen markieren in ’ner Arbeit zum Beispiel. Das machen se, wenn se e’n Punkt dafür kriegen und wenn se ihn nimmer kriegen, dann lassen sie’s wieder sein, weil se net kap…, weil se einfach net hören wollen. Se kapieren es vielleicht einfach noch net, dass man denen damit helfen möchte. CW: Hm. AK: Das sind für mich ganz wichtige Dinge. Und was ich auch immer wieder versuch’ zu vermitteln, ist, dass man Vokabeln zum Beispiel auch …, die muss man net am Schreibtisch lernen, dass man damit in ’n Wald gehen kann, auch mit dem Hund spazieren gehen kann oder sonst ’was. Ähm, ja, ich glaub’, das wär’ so mir das Wichtigste, so schnell fällt mir da jetzt nix mehr ein.“ (AK, I, 4/ ’08) AK ist überzeugt, dass sich die Anwendung der von ihr genannten Lerntechniken positiv auf die Motivation und die Lernleistung der Schüler auswirke, wenn diese sie annähmen. Sie sei auch offen dafür, wenn sich Schüler ihre eigenen Lerntechniken aussuchten, die bei ihnen persönlich wirkten. „AK: Also, wenn er das annimmt, dann, äh, fällt’s ihm leichter. Das weiß ich. Es ist leichter im Laufen, Vokabeln zu lernen für manche Typen, als immer nachmittags stundenlang am Schreibtisch zu sitzen. […] Und wenn’s einem leichter fällt, macht’s einem mehr Spaß. Ich denk’ auch, dass, dass, dass sich dann die Leistung automatisch verbessert, wenn er’s annimmt. Natürlich kann sich jeder sein Ding selber suchen und muss net meinen Vorschlag annehmen. Das is’ ja auch mein Vorschlag, der bei mir gewirkt hat.“ (AK, I, 4/ ’08) <?page no="319"?> Meistens würde sie eine Klasse zwei Jahre lang unterrichten und nach etwa einem halben Jahr „ein Gespür dafür bekommen“, aus welchen Lernertypen sie sich zusammensetze. Gezielte Analysen dazu im Vorfeld würde sie keine machen („Also, so richtige Untersuchungen sind des net.“). Sie würde aber versuchen, einen möglichst abwechslungsreichen Unterricht zu bieten („Also, ich versuche, in meinem Unterricht alles Mögliche abzudecken.“), außerdem gäbe es Methodentage an der Schule. Zusammenfassend: AK hält bestimmte Lern- und Arbeitstechniken, wie das Lernen mit Bewegung oder Markierungstechniken, für sinnvoll, da sie Motivation und Leistung der Lernenden steigern würden. Sie schaffe Anreize für deren Anwendung und wäre auch offen dafür, dass Schüler ihre persönlichen Techniken finden. Sie mache keine spezifischen Analysen in Bezug auf die Lernertypen-Zusammensetzung einer Klasse; das würde sie im Laufe der Zeit automatisch erfahren und gleichzeitig versuchen, einen abwechslungsreichen Unterricht zu bieten. Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers AK sieht sich in der Rolle eines Lernbegleiters und Moderators. Sie gebraucht dabei das Bild eines Reisebegleiters, der das Ziel und die Stationen bestimmt, aber nicht immer alleinige Wissensquelle sein müsse. Sie sei Lernhelfer und Lernförderer und erwarte von ihren Schülern eine aktive und schließlich selbstständige Rolle auf dieser „interaktiven Reise“. „CW: Wo sehen Sie Ihre Rolle als Lehrer? AK: So ’ne Lernbegleitung mittlerweile. Also … (denkt nach) CW: Wie äußert sich das im Unterricht? AK: (denkt nach) CW: Oder auch außerhalb des Unterrichts? AK: Also, wie so ’n Bild. Also, für mich is’ es manchmal wie so ’ne Reisebegleitung, ja. Ich, ich weiß mehr über das Ziel, wo’s hingeht. Ich weiß net alles drüber. Es gibt Schüler, die haben vielleicht länger in Amerika gelebt als ich. Die wissen vielleicht mehr da drüber. Aber dafür weiß ich vielleicht breiter gestreut ’was und so weiter. Also, ich bin so, ja, die Begleitung irgendwo hin und, ähm, hab’ mir aber überlegt, welche Stationen wir machen. Ja, so in der Art. Also, ich hab’ die Reise zusammengestellt und hoffe, dass aus dieser Reise, äh, die…, ganz viele Erfahrungen mitkommen, die positiv sind. CW: Hm. 320 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="320"?> 4.2 Analyse des Interviews 321 AK: Also, ich möchte nicht überall e’n Vortrag halten zu, zu dem, sondern ich möchte, dass die … Es ist wie so ’ne …, wie so ’n Spiel, dass die da auch Aufgaben haben, die se sich selber erarbeiten müssen. Also, ich würd’ die Reise so eher interaktiv bezeichnen, dass die ’was tun müssen. CW: Hm. AK: So sehe ich meine Rolle, die müssen ’was tun. Ich will von denen ’was, ich forder’ von denen ’was. Ich förder’ sie aber auch in irgendeiner Form also. Ja, wenn ich spür’, dass …, die würden das gern in Richtung Süden reisen, dann, dann versucht man schon das mit einzubauen. Aber …, ja. Also, als Moderator, als Begleitung, nicht mehr als alleiniger, äh, alleinig Wissender oder so, sondern ich weiß schon mehr. Ich bin, ich bin die Hilfestellung und die dürfen mich auch zu Rate ziehen. Aber ich helf ’ denen natürlich auch, selber, ähm, Wörterbücher benützen zu können, also indem dass ich einfach mal ’ne Woche lang mir da Übungen such’ und Ideen such’ und kreative Sachen such’, wie man ’n Wörterbuch verwendet und verwenden kann, wie’s interessant ist und denen … Danach wissen die einfach, wie das geht und können das selber, also so.“ (AK, I, 4/ ’08) AK sagt, sie gehe bei der Gestaltung ihres Unterrichts kaum binnendifferenzierend vor. Bei Partnerarbeit würde sie zwar den Schülern zur eigenen Wahl stellen, welche Rollen sie übernehmen möchten, die des Fragenden oder des Antwortenden, ansonsten wisse sie aber, „dass sie in diesem Bereich mehr tun könne.“ Von Referendaren könne sie da etwas lernen, da diese stärker auf die Binnendifferenzierung achten würden. So würden sie bei Gruppenarbeit unterschiedlich schwierige Aufgaben zur Auswahl stellen und damit homogene Lerngruppen schaffen, während sie selbst eher auf die unterschiedliche Zusammensetzung der einzelnen Gruppen achten würde, die im allgemeinen alle die gleichen Aufgaben zu bewältigen hätten. AK empfindet in diesem Bereich ein eigenes Defizit. „AK: Ja das [die Binnendifferenzierung] sollte wichtiger sein, als es im Moment mir ist. Ich hab’ das gemerkt, Referendare machen das ganz, ganz stark. Ähm, es ist mir noch net wichtig genug. Ich weiß, es is’ eines, eines der Themen, das ich für mich noch ausarbeiten muss. Also, da fühl’ ich mich noch e’ bissle verloren, wie ich des mache. Ich hab’ schon immer bei Gruppenarbeit zum Beispiel, äh, versucht, irgendwie ’ne Aufgabenstellung zu finden für die Besseren. Das heißt, eventuell ’ne Zusatzaufgabenstellung oder sonst was. Aber des jetzt konkret von vorneherein drauf auszurichten, dass, ähm, schwächere, mittlere, stärkere Schüler da von vorneherein sich selber wieder finden können, das fällt mir schwer. Also, da hab’ i’ auch keine Anleitung dazu. Da guck’ ich mir halt bei Referendaren so ’n bissle ab, wie die des machen, und, und versuch’ des umzusetzen. CW: Können Sie da mal ein Beispiel nennen, was Sie bei Referendaren beobachtet haben, wo Sie gedacht haben, ja das könnt’ ich selbst auch mal umsetzen? <?page no="321"?> AK: Ähm, also zum Beispiel ’ne, ’ne Grupp…, Gruppenarbeit, wo alle die gleiche Frage bearbeiten. […] Ich hätte […] alle die gleiche Frage beantworten lassen und dann hätte man vielleicht die nächste Frage beantworten lassen. Und die haben dann von vorneherein die Fragen einfacher gestellt, haben schon Hilfestellungen, Hilfe ran getan und haben an Stelle von vier verschiedenen Schritten vier verschiedene Stationen gemacht un’ haben von vorneherein gesagt: ‚Wer sich gut fühlt, geht dahin.‘ Und so. Und das war mir neu. […] Ja, ich hab’ schon immer Leute zusammengestellt, Gruppen zusammengestellt, mir Gedanken gemacht, da muss vielleicht noch e’n Guter mit hinzu, dass es da auch funktioniert, da muss vielleicht noch e’n Schlechter weggenommen werden oder so. Aber dass man konkret Schlechte unter Schlechten arbeiten lässt oder, sagen wir mal, schwächere Schüler, und so zu sagen, mit schwächeren arbeiten lässt mit ’ner etwas leichter gestellten Frage und weniger von denen erwartet, weil man mehr Hilfsmittel gibt, das fand’ ich interessanter. CW: Das war dann Gruppenarbeit wieder? AK: Das war Gruppenarbeit, aber, äh, eine Station halt für die Schwächeren. Und dann eine mit ’ner echt happigen Frage, wo dann von vorneherein nur die Stärkeren hingehen sollten. Das fand’ i’ interessant. Leuchtete mir auch ein, aber find’ ich schwierig, das immer so umzusetzen. […] Da könnt’ ich für mich noch mehr tun, das weiß ich.“ (AK, I, 4/ ’08) Zusammenfassend: AK versteht sich in der helfenden und fördernden Rolle eines Lernbegleiters und Moderators. Allerdings falle es ihr schwer, binnendifferenzierend vorzugehen. b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung In Bezug auf die Lehrerausbildung nennt AK die Vermittlung von methodischem Wissen, das notwendig sei, damit die Lehrkraft wiederum den Schülern „eine Art von Technik vermitteln“ könne, die an selbstständiges Lernen heranführe. Darüber hinaus hält sie bestimmte Einstellungen, Fähigkeiten und Eigenschaften der Lehrkraft für unabdingbar. Dazu gehören für sie die Begeisterung für die Fremdsprache, auf die sich die Lehrkraft spezialisieren können sollte, die besondere Kompetenz in der Fremdsprache und die Bereitschaft und Motivation, sich weiterzubilden. „CW: Und wenn Sie jetzt, äh, sich die Lehrerausbildung betrachten, was denken Sie, ist wichtig für jemand, der Lehrer werden möchte? Was sollte der lernen, um fähig zu sein, die Kinder hinterher zu selbstständigem Lernen zu führen? Was muss der können? AK: (denkt nach) Hm, also es muss ’ne bestimmte Begeisterung da sein für das Fach. […] Ich halt’ überhaupt nichts davon, dass Lehrer drei bis vier Fächer unterrichten 322 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="322"?> 4.2 Analyse des Interviews 323 müssen. Das kann einfach net der Fall sein. Macht’s auch unglaublich schwierig mit Fortbildungen und Konzentration. Das macht’s nur …, das is’ nur e’n ökonomischer Gesichtspunkt, der aber die Begeisterung raus nimmt aus der ganzen Sache. Also, ich glaube, dass sich jemand einfach auch spezialisieren können muss und dass, dass die Begeisterung dann da ist, dass derjenige dann auch dementsprechend mitreißen kann und das vermitteln kann. Ähm, damit die Schüler selbstständig lernen, muss man e’n bestimmtes methodisches Wissen auch haben. Also, davon bin ich überzeugt, dass das da sein muss. Und, äh, ja, ich weiß net, ob man das …, ob man Einfühlungsvermögen braucht. Also, ich …, damit die Schüler nachher selbstständig arbeiten, also dass die zum Beispiel auch in der Lage sind, sich die nächste Fremdsprache alleine zu erarbeiten, dass, weil sie wissen, wie das geht. […] Also, in meinem Fachbereich muss man natürlich auch, äh, sprachlich begabt sein. Man kann gar net ohne des Lehrer werden. Also, hm, man muss diese Kompetenz haben, selber sprechen und schreiben zu können. Das muss man zum Beispiel als, als Kunstlehrer muss man ja net unbedingt der beste Künstler sein. Das is’ ’was ganz anderes. Also, als Kunstlehrer muss man die Technik vermitteln und, und des seh’ ich schon auch so. Ich muss denen schon auch ’ne Art von Technik vermitteln und dazu muss ich methodisches Wissen haben: Wie mach’ ich des? Also, dass ich tolle Sprachler hervorbringe, ähm, brauch’ ich natürlich auch Unterstützung. Man …, also gewisse …, einfach auch e’n Wissen: ‚Wo krieg’ ich das her? ‘ Also, ja, man braucht, man brauch’ schon e’n gewissen Fundus auch an, an … (denkt nach) . Also, um es mal so zu sagen: Man braucht ‘ne Bereitschaft, sich Dinge anz…, anzuschaffen, in denen man nachschlagen kann. Also, es steht net immer alles im Internet […], dass ich meinen Schülern, äh, sagen kann: ‚Da findest du e’n Praktikum im Ausland.‘ Oder, ähm: ‚An den und den musst du dich wenden, wenn es da e’n Problem gibt.’ […] Man braucht viel Motivation, sich da auch selber immer wieder selber weiterzubilden. Und auch ’was rein zu stecken. Also so, ’ne (Pause) , ja.“ (AK, I, 4/ ’08) Sie selbst gehe regelmäßig zu Fortbildungen. Seinerzeit hätte sie sich gut ausgebildet gefühlt. Das sei inzwischen anders, insbesondere im Bereich der elektronischen Medien fühle sie sich den jüngeren Kollegen unterlegen. In diesem Bereich hätte sich ihre Generation das Wissen selbst aneignen müssen. Angesichts des ständigen Zeitmangels und der Beschäftigung mit „halblebigen Reformen“ wünsche sie sich Fortbildungen, die eine sehr pragmatische Ausrichtung hätten, durchaus auch die Präsentation eines Software-Produktes zum Lehrwerk und wie es in der Praxis eingesetzt werden könne. „AK: Ich dachte, dass, dass ich sehr gut ausgebildet worden wäre, weil ich den Hut gezogen hab’ vor meinen Ausbildern. Die waren wirklich top, ne. Die haben so viel Wissen drauf gehabt, so viel gewusst un’ so viele Ideen. Und strukturiert war das alles. <?page no="323"?> Und also, die haben zu jedem Thema haben die da ’was sagen können. Ich dacht’, ich wär’ super ausgebildet gewesen. Und, ähm, jetzt ist eigentlich so alles ins Schleudern gekommen die letzten Jahre […] durch die ganzen Reformen, die so halblebig da sin’. CW: Welche haben Sie als besonders gravierend empfunden? AK: Ha, diese, diese, ähm, zum Beispiel Überlegungen mit den Stunden. Wie viel Stunden eine Schule einem Fach in einem bestimmten Schuljahr gibt. Ha, da ist man manchmal total verloren. Jetzt stellen wir wieder e’n Antrag, dass in Klasse 7, nee, in Klasse 5, keine fünf Stunden Englisch gegeben werden, sondern nur vier und dafür in Klasse 6 nicht drei, sondern vier. Ah, das is’ fürchterlich. Und, ähm, da immer auf alle Züge aufzuspringen find’ ich eigentlich fast e’n Unding. Das geht net. Un’ ich glaube, dass ich noch zu ’ner Generation gehör’, die sich die Medien selber erarbeitet hat, aber da net sonderlich gut ausgebildet ist. Un’ da fühle ich mich den jungen Leuten sehr unterlegen. Un’ also, ich hab’ e’n Horror davor, dass irgendwann mal die PowerPoint-Einführung der Vokabeln kommt […] und, ähm, keine Tafeln mehr gibt. Und da denk’ ich, da bin i’ dann verloren. Das möcht’ ich einfach net machen müssen, weil i’ einfach auch merk’, wie das einen …, das macht einen kaputt diese viele Schreibtischarbeit un’ am Computer sitzen. Aber da wär’ meine Fortbildungsbereitschaft noch sehr hoch. […] Un’ zwar net gleich so mit […], dass man im virtuellen Klassenzimmer unterrichtet. Is’ ja alles Quatsch. Laut Spitzer au’ schon längst wieder ver…, ver…, veraltet. Ja, aber in der Richtung noch ’was zu tun. Einfach mal auch diese ganze Software, die angeboten wird […]. Die tu’ ich mir gar net an. Ich hab’ die Zeit gar net. Und da geh’ ich lieber mal e’n ganzen Samstag wo hin und lass’ mir das zeigen, was ich damit machen kann, als dass ich dann nachher das, was ich auch schon gemacht hab’, mir das ’kauft hab’ […] und hab’s nie angewendet. Also da, dieses Praktische, dieses Pragmatische, das fehlt mir immer.“ (AK, I, 4/ ’08) Auch fachdidaktische Fortbildungen könne sie sich vorstellen. Insgesamt wünsche sie sich einen viel stärkeren Kontakt zu den Studienseminaren. Manchmal wisse sie gar nicht, was von den Referendaren, die sie betreue, verlangt würde; z. B. könne sie mit einem „situativen Aufbau von Vokabelarbeiten“ nichts anfangen: „Das hab’ ich nie so, so hab’ ich das nie gelernt. […] Das sind so Entwicklungen, von denen wir nichts mitkriegen.“ (AK, I, 4/ ’08) Sie könne sich daher mindestens einen Fortbildungstag, einen Seminartag, pro Fach und Jahr vorstellen, an dem sie „auf dem Laufenden gehalten würde“. Dieser sollte in der Arbeitszeit angeboten werden - sie arbeite schon genügend in ihrer Freizeit - und im Sinne einer „foreign language conference“ stattfinden, wie sie es in Texas kennengelernt habe: „Also, da würde ich uns allen Lehrern wünschen, dass viel mehr Kontakt zum Seminar ist. Dass die uns einfach auch auf dem Laufenden halten, was im Moment angesagt ist.“ (AK, I, 4/ ’08) Als Themen wünsche sie sich: 324 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="324"?> 4.2 Analyse des Interviews 325 - „einen guten Stundenaufbau“ („Man kann mittlerweile Lesetexte und Grammatik zusammenbringen. Das, da hätte man früher mir den Kopf abgeschlagen dafür.“) - „das gemeinsame Korrigieren“ („Was streich’ ich eigentlich in Klasse 6 an, was streich’ ich in Klasse 10 an? […] Wie streich’ ich’s an? Is’ es e’n Grammatikfehler, is’ es e’n Rechtschreibfehler? “) - „die Gestaltung einer Klassenarbeit“ (um die Anforderungen miteinander vergleichen zu können) - „einen Flohmarkt für gelungene Unterrichtseinheiten“ (mit Tipps für bestimmte Lehrbuchlektionen) - „neue Methoden“ - „elektronische Medien“ und daneben auch - „die Filmanalyse“ (die vollkommen neu für sie sei und sie daher verunsichere) „AK: Es gibt tolles Material dazu [zur Filmanalyse]. Aber ich hab’s selber nie gemacht. Also unterricht’ ich’s ungern. Ich mach’s einfach net. […] Da fühl’ ich mich so unsicher […]. Das sind Dinge, die müsste man uns eigentlich mal beibringen […], dass ich einfach auch mal ’was verbinden kann mit diesen Begrifflichkeiten. […] Ich weiß aber einfach net, was das is’. Da bin ich net ausgebildet worden. Das ist eins dieser Bildungsstandards, hingeschmissenen Sachen, die man nebenbei sich erarbeiten sollte. […] Da gibt’s in den Bildungsstandards bestimmt noch einiges, was, was man da machen könnte, wo man aufgreifen könnte, weil das einfach nie vermittelt wurde.“ (AK, I, 4/ ’08) In Bezug auf die LA würde AK gerne einmal einen Überblick bekommen, in welchen Bereichen sie diese bei ihren Schülern fördern könne. Sie benötige Ideen, insbesondere solche, die ohne viel Zeitverlust umgesetzt werden könnten. Dabei haben ihr offenbar meine bis dahin gestellten Fragen bereits erste Anhaltspunkte gegeben, in welche Richtung sie ihre Bemühungen ausbauen könnte (häusliches Lernen ihrer Schüler). „AK: Hm, also, so mal e’n Überblick zu bekommen, in welchen Bereichen könnte man LA fördern. Des fänd’ ich gut, dass man einfach sieht: Aha, da. Das weiß man ja, was man selber macht. Ich weiß ja, in welchen …, ja. Aber das Ideenkriegen. CW: Okay. AK: Äh, das is’ ja das, das is’ ja auch eins dieser neuen Dinge, ne. Also, ich, wie gesagt, meine Ausbildung liegt zwölf Jahre zurück. Äh, das schnappt man nur durch Fortbildungen auf. Und da denk’ ich, könnte man schon noch … Vielleicht gibt’s einfach Bereiche, wo ich’s gar net förder’. Vielleicht müsst’ ich mal, was weiß ich, die Schüler mit ’nem Lied arbeiten lassen zu Hause. Und das wär’ echt optimal, dass die das für sich erarbeiten irgendwie. Vielleicht gibt’s ja da so, so, so kleine Tricks, Ecken, die ich <?page no="325"?> noch nie ausprobiert habe. Wo könnte man das machen? So Ideen geben. Das fänd’ ich toll. Hm, die Unterrichts…, im Unterricht selber, wann ich das da anwende, das weiß ich ja, wie gesagt. Oder LA zum Beispiel, ja grad so, so wie Sie’s vorher gesagt haben, so Ideen, dass man einfach das mal untersucht: Was machst du zu Hause? Wie machst du … wie lernst du zu Hause? Und so. Dass man da einfach mal e’n Austausch hat, e’n Forum, wo Leute, die das praktizieren, weitergeben, wie sie’s praktizieren, wie sie’s einbauen, ohne dass das jetzt stundenlang einen in Anspruch nimmt. Wenn man dreißig Schüler hat, ist das schon ’ne Anstr…, also, da sagt einer einmal ’was un’ dann sind …, ist ’ne Dreiviertelstunde ’rum.“ (AK, I, 4/ ’08) AK sagt, ihr fehlen an ihrer Schule die aufgeschlossenen jüngeren Kollegen. Sie kooperiere noch immer mit früheren Referendaren. Mit diesen tausche sie Materialien aus, was Arbeitsersparnis mit sich bringe und Spaß mache. Mit einer Reihe ihrer älteren Französischkollegen an ihrer Schule könne sie jedoch nicht so gut zusammenarbeiten. Ab Ende Vierzig, Anfang Fünfzig seien viele, nicht alle, wahrscheinlich ausgebrannt, scheuten wegen fehlender Fortbildung und deshalb aus Unsicherheit die Kooperation und würden höchstens noch Referendare annehmen. „AK: Es gibt immer noch Kollegen, die einfach früher ’was gelernt haben und das beibehalten. […] Das [Austauschen von Materialien] geht halt net mit Älteren, die machen des net. Die haben natürlich auch Angst, dass auffliegt, dass se halt …, ja. Das sind keine schlechten Lehrer dadurch, überhaupt net. Das soll keine Wertung sein. Sondern die fühlen sich einfach dem Heutigen nimmer so gewachsen und möchten das dann auch net weitergeben. […] Also, dann denken die: ‚Ja, wie viel Jahre sind’s noch? ‘ Vielleicht sind die auch schon ausgebrannt. Man weiß es ja auch net. Manche …, ja. Wenn se voll gearbeitet haben, kann das ja schon durchaus vorkommen. […] Grad weil die Fortbildung ja auch net verpflichtend war, dass, dass sich da viele nicht mehr so motiviert fühlen und dann schon gar nix mehr machen in der Richtung. Und dann zieht man den Schuh halt vollends durch bis zum Schluss.“ (AK, I, 4/ ’08) Mit den Englischkollegen verständige sie sich nur über die Beratung zur 2. Fremdsprache, mit den Grundschullehrerinnen tausche sie sich aus Zeitgründen gar nicht aus. „AK: Wenn man seine Klassen ernst nimmt, die Unterrichtsvorbereitung ernst nimmt und dann Korrekturfächer hat, hat ja net jeder Sport und Bildende Kunst, dann ist man ausgelastet mit fünfundzwanzig Stunden. Und des, Halbtag …, also auch noch …, e’n Teilzeitjob is’ es für mich hier net. Ich arbeite voll und möcht’ das auch. Un’ dann geht nimmer viel. Man, man, man macht’s dann, wenn’s notwendig ist. Aber, also, das sind alles so utopische Vorstellungen. Und da gab’s auch schon Fortbildungen, dass man dann die anschreibt, ’was se alles gemacht hätten und das notfalls aus fünf Schulen 326 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="326"?> 4.2 Analyse des Interviews 327 da zusammenträgt und so. Entschuldigung. Das is’ net möglich. Also, da könnt’ ich dann ’ne Woche in den Sommerferien opfern.“ (AK, I, 4/ ’08) Zusammenfassend: AK denkt, dass eine gute Lehrkraft bestimmte persönliche Einstellungen, Fähigkeiten und Eigenschaften besitzen sollte, darunter insbesondere auch die Bereitschaft, sich permanent fortzubilden. Sie wünscht sich einen Fortbildungstag pro Jahr, der ihr einen regelmäßigen Kontakt zu den Studienseminaren gewährt. Die Fortbildungen sollten pragmatisch ausgerichtet sein und Themen behandeln wie: „ein guter Stundenaufbau“, „die Gestaltung und das Korrigieren einer Klassenarbeit“, „die Filmanalyse“ oder „der Umgang mit elektronischen Medien“. Zur LA bräuchte sie einen Überblick über die Bereiche, in denen sie die Schüler fördern könne. Sie wünsche sich darüber hinaus eine stärkere Kooperation mit ihren Kollegen. Das scheitere aber bisweilen an der mangelnden Bereitschaft bei älteren Kollegen oder an der fehlenden Zeit. Zu den Perspektiven für das Thema LA Angesichts von Qualitätsstandards und Vergleichsarbeiten sieht AK die Förderung von LA eher gefährdet. Sie befürchtet, dass solche Arbeiten dahingehend missbraucht werden könnten, dass sie zum Vergleich zwischen den Schulen und Lehrkräften herangezogen würden. Der Unterricht würde sich dann ganz auf die erfolgreiche Bewältigung dieser Arbeiten konzentrieren, auf Kosten der Autonomie der Schüler. Diese Erfahrung hätte sie so bereits in Texas gemacht, wo nur noch die Ergebnisse der Arbeiten zählten. „AK: Zu dem Thema sag’ ich nur: In Texas gab’s das auch. Und da hat man dann im Unterricht speziell vorbereitet auf diese Arbeit, und zwar speziell auf diese Themen. Ähm, ich glaube, dass hinter diesen Vergleichsarbeiten, Diagnosearbeiten und so ganz andere Sachen stehen. Da steckt drin, wie man Schulen miteinander vergleicht, wie man Lehrer miteinander vergleicht (atmet durch) . Ich glaube nicht, dass die zum Vorteil der Schüler sind, dass die LA da größer wird dadurch. […] Und also, ich glaube, dass diese Dinge missbraucht werden können. Der Grundgedanke ist gut und es könnte alles so passieren, dass es autonom vorbereitet wird und so weiter und so fort. Ähm, das wird nicht so sein, dass es nur zu dem verwendet wird. […] Und wenn ich jetzt einfach so miteinander verglichen werde, äh, und ich weiß, ich bin in einem nicht sehr privilegierten Gebiet oder in einer Schule, die sprachlich jetzt in meinem Bereich net viel fördert, dann versuch’ ich das vorher zu stützen, damit ich nachher net auf Platz hundert lande von hundert. Das ist doch klar. Haben sie in Texas ganz deutlich gemacht. Da wurd’s irgendwann mal auch missbraucht. Da hat man dann e’n ranking … <?page no="327"?> CW: Wie, wie kann sich denn der Unterricht da dadurch ändern? Was denken Sie? AK: Ha, das gibt halt spezielle Prüfungsvorbereitung. CW: Hm. AK: Man guckt sich an, wie solche Standard… oder so Aufgaben auf…, aussehen könnten und dann, ähm, geht man halt net weiter im Stoff, sondern man legt dies, diese Plateau-Phase ein und dann wiederholt man. Man macht möglichst prüfungsnahe Aufgaben, dass die Schüler sich da wohl fühlen. Und das macht man möglichst lang, möglichst oft, möglichst … Ja. Ich mein’, das is’ ja nicht schlecht, so ’was, aber, äh, also, ich kenn’ das von Texas, das wurde wirklich ad, ad, ad absurdum geführt. […] Da zählen wirklich nachher nur noch die Ergebnisse. Jetzt fängt das ja alles erst an hier in Deutschland. In Texas zählen nur noch die Ergebnisse. Und das wird veröffentlicht. […] Die Lehrer werden da net, es wird da net gesagt, das is’ e’n schlechter Lehrer. Das wissen die Schulleitungen ja selber, was sie für e’n Klientel haben. Aber ich mein’, die Schule legt schon Wert drauf, net ganz hinten zu landen. CW: Hm. AK: Da hängt mittlerweile viel von ab, also, auch Geld un’ so.“ (AK, I, 4/ ’08) 56 AKs Fazit zum Thema LA Am Schluss des Interviews äußert AK ihr Erstaunen, in welcher Breite „LA“ angesprochen worden sei. Eigentlich hätte man sich schon lange mit vielen Aspekten beschäftigt, die zur LA gehörten. Durch unser Gespräch sei ihr das aber erst bewusst geworden, auch dass z. B. der Bereich der Hausaufgaben dazu gehöre. LA „spielt überall mit rein“. „AK: Es waren viele andere Fragen noch dazu. Das fand ich jetzt, äh, ich bin eigentlich fast erstaunt. LA ist ja ganz weit ausgedehnt worden. Ja. CW: Ja, ja. AK: Also, es is’ ja e’n Begriff, der so erst ins Zentrum tritt. Und wenn man jetzt …, wenn ich jetzt drüber nachdenke, sind ja ganz viele Bereiche angesprochen worden, wo schon ganz lang auch dieses so weitergegeben wird. […] Im Nachhinein sag’ ich, das ist wohl so e’n Bereich, der überall ’ne Schnittmenge aufweist. CW: Hm. AK: Und für mich war das erst mal so, ja, wie wenn so ’n neues Kapitel, ne. Auch damals als das aufkam mit dem Begriff und so. Aber es spielt überall mit rein. Es gibt 56 Inzwischen werden die Vergleichsarbeiten in Baden-Württemberg zu Beginn eines Schuljahres geschrieben, um den anfänglichen Leistungsstand der Schüler zu diagnostizieren. Diese Arbeiten dürfen nicht mehr zur Benotung herangezogen werden, siehe auch oben. 328 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="328"?> 4.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Weg“ 329 überall … Also, dass Sie das Thema Hausaufgaben da mit rein nehmen. Das ist mir erst heut’ Mittag aufgefallen, dass es natürlich auch e’n autonomer Bereich ist, wo die … CW: Ja. AK: … Schüler praktisch selbstständig ’was sich erarbeiten und ich ja nur eventuell angeb’, was gemacht werden muss, wie sie’s an…, wie sie’s machen müssen, erklär’ ich manchmal auch noch. Aber wo’s vielleicht auch noch den Bereich gibt, wo sie ganz so selbstständig arbeiten und wiederholen und so. Das war mir jetzt gar net so klar. Ja, wie weit es reinspielt in alles.“ (AK, I, 4/ ’08) 4.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Weg“ AK schaut zunächst alle Kärtchen durch und möchte dann wissen, was das zu legende Bild darstellen solle, eher ihre Einstellung zur LA vor dem Gespräch oder wie sich ihr Blickwinkel im Gespräch und danach verändert habe. Als ich ihr antworte, dass das Bild ihren tatsächlichen Unterricht und den Stellenwert, den LA darin für sie einnimmt, widerspiegeln solle, meint sie: „Dann muss das Thema LA auch nicht in die Mitte.“ Sie wendet sich beim Legen kaum an mich, nur als sie den „visuellen Lernertyp“ nachträgt und dann noch einmal, als sie nachfragt, was bei der „Fehlerkategorisierung“ gemeint sei. Nach einer halben Stunde ist ihr Strukturbild fertig und sie erläutert es mir („Jetzt denk’ ich laut.“) in einem zwanzigminütigen freien Vortrag über ihren Unterricht und den Stellenwert der LA darin. Die linke Seite des Strukturbildes stelle ihre „Entwicklung als Lehrerin“ dar. Die Praxis habe ihr gezeigt, dass sie als Lehrerin über Einfühlungsvermögen verfügen und sich als Lernbegleiterin verstehen müsse. Darüber hinaus erfahre sie in der Praxis die Notwendigkeit von Fortbildungen. Angesichts vieler Reformen in schneller Folge und trotz der knappen Zeit müsse sie sich in Bereichen wie Vergleichsarbeiten, der Filmanalyse oder der elektronischen Medien weiterbilden, denn da hätten sich Lücken aufgetan. AK schätzt die Förderung der LA als einen „aktuellen Zugang“ für den Unterricht ein, der seine „Berechtigung“ habe, da den Schülern das Lernen auf diese Weise mehr Lust bereite und leichter falle und ihr Selbstbewusstsein dadurch gestärkt würde. Auch käme die Berücksichtigung der verschiedenen Lernertypen stärker zum Tragen. „Mittlerweile weiß ich ja auch, dass LA ganz toll ist, weil ich hab’ ja, äh, ich hab’ mich intensiv damit beschäftigt, was es für verschiedene Lernertypen gibt. Also, das mach’ ich schon seit ’em Referendariat. Das braucht alles ’ne Weile bis sich das setzt, ne. <?page no="329"?> […] Und diese Typen, hab’ ich gelernt, muss ich bedienen, in irgendeiner Form. Die müssen alle angesprochen werden. […] LA ist dann sinnvoll und macht dann …, ist es dann ’ne gute Sache, wenn die Schüler mehr Lust am Lernen haben. […] Das stärkt natürlich auch das Selbstbewusstsein, wenn man mehr Lust am Lernen kriegt. […] Es fällt einem dann leichter.“ (AK, SL, 4/ ’08) In ihrem eigenen Unterricht würde sie in Bezug auf die Förderung der LA zu Sozialformen wie der Partnerarbeit oder der Arbeit in Dreiergruppen greifen. Auch beim Stationenlernen und der Arbeit mit dem Wörterbuch würde sie die Schüler selbstständig arbeiten lassen: „Da helfe ich nicht.“ Allerdings fiele ihr beim Stationenlernen noch die Binnendifferenzierung schwer. Insgesamt findet sie aber die Methodenvielfalt in ihrem Unterricht in Ordnung, auch im Hinblick auf die einzelnen Lernertypen. Als ich sie speziell nach dem introvertierten Lernertyp frage, ergänzt sie, dass sie diese Schüler gerne das Leseverständnis anhand eines Vokabelgerüstes abfrage. In Bezug auf die LA komme der „Rolle des Lehrers“ eine besondere Bedeutung zu. Sie sieht ihn sowohl als Wegweiser als auch als Moderator. Als Wegweiser würde sie den Schülern die Richtung vorgeben, wobei das oberste Lernziel sei, ins Ausland gehen zu können. Um dort selbstständig agieren zu können, müsse sie den Schülern die nötige Sprachkompetenz vermitteln. Und auf dem Weg da hin müsse sie sich als Lehrerin immer wieder fragen, an welchen Stellen im Unterricht es Sinn mache, die Schüler selbstständig arbeiten zu lassen. Allerdings spüre sie hier noch eigene Defizite. „AK: Ich bin e’n Wegweiser und deswegen muss ich mich bei allem, was ich mache, mehr … oder erst mal damit auseinandersetzen: Macht …, wie vermittel’ ich’s? Und macht es da Sinn, dass die Schüler das alleine machen? Also, das ist meine zentrale Frage beim Unterrichtsvorbereiten und beim Übernehmen von Unterrichtsstunden, auch aus Büchern oder so. Ist das e’n Thema, wo sich’s anbietet, dass es die Schüler selber machen oder mach’ ich das frontal? Das ist eigentlich im Großen und Ganzen … Es sollte eigentlich die zentrale Frage sein. Es ist offensichtlich bei mir noch net ganz die zentrale Frage. Aber ich denk’, da kommt man hin mit der Zeit.“ (AK, SL, 4/ ’08) Die zentrale Frage der Lehrkraft sollte sogar generell sein: „Gibt’s Möglichkeiten, dass die Schüler das selber machen? “ Hier sei sie dann in der Rolle einer Moderatorin. In dieser Rolle bereite sie den Unterricht vor, damit die Schüler dort selbstständig arbeiten könnten. Diese Rolle des Moderators sei zentral für die Förderung der LA. „AK: Gut, dann gibt’s ja auch noch den Begriff ‚der Lehrer als Moderator’. Das heißt e’n Lehrer, der, äh, nur noch moderiert, das vorbereitet und dann aber da sitzt und die anderen reden lässt und versucht, dass es organ…, dass das, äh, Ganze sich …, dass 330 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="330"?> 4.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Weg“ 331 es funktioniert und seine Ordnung hat, dass es diszipliniert ist. Und das ist eigentlich das, was die Rolle des Lehrers beim, bei der LA is’, also bei diesem Thema an sich, dass man das vorbereitet, dass man strukturiert und, äh, dass man nachher, äh, sich zurücklehnen kann und die anderen arbeiten.“ (AK, SL, 4/ ’08) Letztendlich sei dieser Zugang aber von der zur Verfügung stehenden Zeit abhängig. „Ich glaub’, zentral is’ eigentlich hier der Zeitaspekt.“ Und hier hätte das Lehrerteam eine sehr wichtige Funktion, da es bei der Vorbereitung der Materialien zum selbstständigen Arbeiten helfen könne und somit zur Zeitersparnis beitragen könne. Es sei sehr zeitintensiv, Materialien vorzubereiten. Fehle die Zeit, dann würde sie auf bereits vorhandene Materialien zurückgreifen und den Frontalunterricht vorziehen, um zum Lernziel zu gelangen. „Eines der zentralen Punkte bei der LA, dass der Lehrer das strukturiert wie der Moderator und vorbereitet, ist die Zeit, die man dazu braucht, und wenn man die net hat, […] wenn’s ’ne Hürde ist für den Lehrer, dann bleibt man natürlich beim Frontalunterricht und vermittelt die Zusammenhänge selber. […] Bei Zeitmangel geh’ ich auf Frontalunterricht über.“ (AK, SL, 4/ ’08) Eine weitere Möglichkeit der Zeitersparnis sieht sie neben der Arbeit im Lehrerteam in der Kürzung von Klassenarbeiten („Ich korrigier’ mich noch zu Tode.“). Dort sollte sie mehr Mut zur Lücke haben und nicht immer alles abprüfen, meint sie. Sie sei zu perfektionistisch und wolle immer die verschiedenen Lernertypen in einer Klassenarbeit bedienen. Anstatt langer Klassenarbeiten sollte sie vielleicht öfter kürzere Vokabelarbeiten und Tests anbieten. Zudem würde man zu oft das Lehrwerk wechseln. Die Materialien, die man sich dafür zu Hause am Computer erarbeitet hätte (bereits das Abschreiben in den Computer sei sehr zeitaufwändig), „könne sie dann alle wegwerfen“. Sie wolle aber auch in Zukunft nicht auf das Erstellen (und zeitaufwändige Kopieren) solcher Materialien verzichten: Materialien im Hinblick auf mehr Methodenvielfalt und Phasenwechsel für Doppelstunden, „Kreatives, wo net viel Zeit braucht“, Materialien, mit denen sie Bewegung in den Unterricht bis zur Klasse 9 und 10 hinein bringe. Viel Zeit würde außerdem die Arbeit in der Oberstufe kosten. Da müsse sie viel selbst vorbereiten und die Teamarbeit mit anderen Lehrkräften würde dort nicht funktionieren: „Da möchte sich keiner reingucken lassen.“ AK betont, dass ihre Ausführungen für Französisch gelten würden, nicht für Englisch. In Bezug auf das Englische sei sie sich nicht so sicher, da es anfangs leichter und mit der Zeit schwieriger für die Schüler werde („Je besser man sprechen will.“), genau umgekehrt wie das Französische („Nach drei bis vier Jahren sind die Strukturen immer dieselben.“). <?page no="331"?> Mit ihrem fertigen Strukturbild ist AK zufrieden: „Das ist jetzt schon deutlich. Das ist jetzt schon ich.“ Es würde in seinem Aufbau ihren Weg als Lehrerin zeigen: ihre Anfänge, ihre Wünsche und Probleme, ihr erworbenes Wissen, ihre Praxis und die Grundlage ihres Unterrichts, d. h. die disziplinierte Unterrichtsatmosphäre. Diese sei generell wichtig für einen gelungenen Sprachunterricht: „Sie strahlt auf alles aus.“ Letztendlich solle durch die Vermittlung aktueller Fachdidaktik in der Lehrerfortbildung ein ständiger Kreislauf für die Praxis in Gang kommen, das wünsche sie sich. Auch reflektiert AK noch einmal die Veränderung der eigenen Einstellung zum Thema LA, die sich durch das Interview bei ihr ergeben hätte. Sie hätte z. B. zuvor nie über die Unterschiede im Lernen zwischen Mädchen und Jungen nachgedacht. Ihr sei auch nicht bewusst gewesen, in wie viele Bereiche das Thema überhaupt mit hineinspiele, z. B. bei den Hausaufgaben oder bei der Arbeit mit Software zu Hause. Letztendlich sei es aber wohl eine Frage der Begrifflichkeit, ein neuer Begriff für längst erworbene Erkenntnisse. „AK: Ich hab’ ja jetzt erfahren, dass für mich LA ja sehr eingeschränkt nur gegolten hat. Und im Prinzip spielt es in viel mehr Bereiche rein, als ich mir das vorher vorgestellt hab’. […] Also, das Wort ‚LA‘ is’ ja Überbegriff. Und den verwend’ ich sicherlich nicht so oft, wie er jetzt verwendet wurde. Also ‚Eigenständigkeit‘, ‚Selbstständigkeit‘, ähm, ‚im geschützten Raum‘: solche Dinge hab’ ich viel öfters verwendet als das Wort ‚LA‘. Das selber war mir jetzt so gar kein am Herzen liegender Begriff. Manchmal hab’ ich so’s Gefühl (lacht) , das is’ so die neue Entwicklung, immer e’n neuen Begriff und Altes neu verpackt.“ (AK, SL, 4/ ’08) 4.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit „Durch Zeitprobleme und äußerst schwierige Mittelstufenklassen habe ich wieder Frontalunterricht machen müssen.“ AK versprach eine Validierung ihrer Einzelfalldarstellung, sagte sie dann aber zunächst knapp zwei Jahre nach ihrem Interview aufgrund von größeren Zeitproblemen wieder ab: „Ich komme dieses Schuljahr zu gar nichts, korrigiere mich zu Tode.“ Und sie sagt, dass sie in die Darstellung an sich vollstes Vertrauen habe: „Habe vollstes Vertrauen, dass alles richtig ist.“ Einige Monate später, gut zwei Jahre nach dem Interview, findet sie dann doch die Zeit für eine Evaluation. Übergreifend bittet sie mich, die schwäbischen Ausdrücke „ma“ und „mer“ in ihren Äußerungen ins Hochdeutsche zu ändern. Dieser Bitte bin ich in den obigen 332 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="332"?> 4.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 333 Zitaten nachgekommen. Auch wurden ihre zusätzlichen Auskünfte zu den unveränderlichen persönlichen Daten direkt in die obige Darstellung aufgenommen. Folgende Antworten erhielt ich auf meine Fragen nach Begriffsbestimmungen (siehe die vollständige Liste der zusätzlichen Fragen im Anhang): • Wie würden Sie den Begriff „Sprache“ definieren? „Kulturgut einer Gruppe mit zeitgeschichtlichem Einschlag mit dem Ziel, sich mitzuteilen.“ (AK, E, 7/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „Sprachlernen“ definieren? „Bereitschaft, sich auf eine neue Struktur und neue Kultur einzulassen.“ (AK, E, 7/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „LA“ definieren? „Selbstständig Dinge erarbeiten, vertiefen und üben, eigenständig und motiviert Dinge angehen.“ (AK, E, 7/ ’10) Auf meine Frage nach der veränderten Funktion der Vergleichsarbeiten in Baden-Württemberg (die nun ausdrücklich der Diagnose zu Anfang eines Schuljahres dienen sollen, siehe oben) und nach eventuellen Auswirkungen daraus auf die Förderung von LA antwortet sie negativ und schreibt: „Ich sehe keinen Zusammenhang, da bei Vergleichsarbeiten nur willkürlich abgeprüft/ diagnostiziert wird, nicht umfassend, somit ‚beschränkte‘ Diagnose für Lehrer, welcher nur in einem Bereich bzw. wenigen Teilbereichen Aussagen treffen kann. Somit ist auch der Lehrer beauftragt, die Lücken zu schließen. (Idealistische Idee)“ (AK, E, 7/ ’10) Alles in allem bestätigt sie ihre Einzelfalldarstellung durch mich: „Mit dem Inhalt der Aussagen gehe ich immer noch konform.“ Ergänzend zu den vor zwei Jahren gemachten Äußerungen zu ihrem Umgang mit LA in ihrem Unterricht schreibt sie aber auch, dass sie in der Zwischenzeit aufgrund von größerer Zeitnot und schwierigen Mittelstufenklassen die Förderung von LA stärker einschränken musste: „Durch 1. Private, äußerst schwierige Umstände musste ich einen anderen Umgang mit der Zeit lernen, die mir zur Vorbereitung zur Verfügung stand. Somit sind Dinge, wie z. B. Lernzirkel, Stationenlernen, die viel Vorbereitung benötigen, rausgeflogen, weil es mir schlichtweg nicht möglich war, bis zur eigenen Erschöpfung zu gehen. (Zeitproblem) 2. Durch äußerst schwierige Mittelstufenklassen, welche durch extreme Disziplinlosigkeit und wenig/ kaum Leistungsbereitschaft auffallen, habe ich wieder Frontalunterricht machen müssen, um überhaupt was an die wenigen interessierten Kinder weitergeben zu können. (für 1 Schuljahr) Offene Formen sowie Kleingruppenarbeit <?page no="333"?> waren mit dieser Gruppe nicht drin. LA beschränkte sich hier auf das Versprechen der leistungsschwachen Schüler, selber die von mir angedeuteten Schwachstellen zu schließen. Zusätzlich habe ich den Schülern Internetadressen gegeben, wo sie sich informieren können und üben und Rückmeldung bekommen können. Hausaufgaben wurden in der Regel nur von 25 % der Gruppe gemacht, 25 % haben abgeschrieben und 50 % keine dabei. Es war das erste Mal, dass ich auf eine Gruppe getroffen bin, die sich selbst blockiert.“ (AK, E, 7/ ’10) Fazit zur Einzelfalldarstellung von AK: LA - „Die Hürde“ Interview, zweites Gespräch (mit Legung eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich AK und ihres Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und ihrer Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: LA bedeutet für AK Selbstständigkeit. Der Lerner lernt motiviert und selbstständig, und zwar im Unterricht, zu Hause und bei Sprachaufenthalten im Ausland. Dabei ist er bereit, sich auf eine neue Sprache und Kultur einzulassen und sich darin mitzuteilen. Die Hinführung zur LA erfolgt für AK insbesondere über entsprechende Materialien und Aufgaben, die eine Selbstkontrolle ermöglichen (z. B. Tandembögen oder Materialien zum Stationenlernen mit Lösungen), sowie über elektronische Medien, mit denen AK sich aber bislang wenig beschäftigt hat. Neuere Lehrwerke würden die LA durch Aufgaben zur selbstständigen Erarbeitung von Grammatik, Wiederholungsübungen mit Lösungen, Stationenlernen und Selbstevaluation unterstützen. AK sagt, sie fördere die LA ihrer Schüler über das Verstehen und Lernen des Lernens, z. B. im Hinblick auf das Vokabellernen (Führen eines dreispaltigen Vokabelheftes), die Arbeit mit dem Wörterbuch oder die individuelle Arbeit an Fehlern. Auf Lerntechniken, wie das Lernen mit Bewegung oder das Markieren, lege sie Wert, Letzteres auch bei den Methodentagen an der Schule. Auch individuelle Techniken fördere sie. Ihren Unterricht gestalte sie methodisch vielseitig, um den verschiedenen Lernertypen gerecht zu werden, und sie greife zu dezentralen Sozialformen, wie der Arbeit zu zweit oder zu dritt. Die Binnendifferenzierung bereite ihr noch Schwierigkeiten. Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist die Schaffung einer disziplinierten und angstfreien Unterrichtsatmosphäre, ohne die ein Sprachunterricht nicht funktionieren könne. Daneben sei ihr wichtig, dass die Schüler viel sprechen (im geschützten Raum, einander zuhörend und 334 4 Anja Kesch (AK): „LA - Es ist wie eine Hürde …“ <?page no="334"?> 4.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 335 einander helfend) und sich viel bewegen (um Nervosität abzubauen). Den Schüleraustausch an ihrer Schule gestalte sie engagiert mit. AK sagt, LA sei ein wichtiges Konzept, das die Motivation für das Lernen steigere und somit das Lernen erleichtere. Außerdem verhalten sich ihrer Meinung nach selbstständige Schüler schneller locker und selbstbewusst in echten Kommunikationssituationen. LA komme daher immer wieder in ihrem Unterricht zum Tragen, aber nicht ständig. Die Vorbereitung und Organisation von entsprechenden Materialien für lernerautonome Phasen bedeute viel Zeitaufwand für sie, den sie sich nicht immer leisten könne. In leistungsunwilligen Lerngruppen gestalte sich die Förderung von LA schwierig. Deshalb empfindet AK die Förderung von LA als eine Herausforderung und gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild der zu bewältigenden „Hürde“. Ihr Blick auf die LA steht in Einklang mit ihren grundsätzlichen Unterrichtsprinzipien. Entsprechend sieht sie sich selbst in der Rolle eines Lernbegleiters und Moderators, der mit Einfühlungsvermögen agieren sollte. Sie gebraucht in diesem Zusammenhang Bilder wie die des „Wegweisers“ und „Reisebegleiters“ oder auch der „helfenden Hand“ und des „Trittbrettes“. Sie selbst sieht sich auf dem Weg zu einem Unterricht, in dem die LA zunehmend gefördert wird, auch durch die zentrale Frage: „Gibt es Möglichkeiten, dass die Schüler das selber machen? “ In diesem Zusammenhang würden das zu bearbeitende Thema und die Sprachkompetenz der Schüler eine Rolle spielen. Ziel sei das selbstständige Agieren im Ausland und dazu müsse die Lehrkraft die nötige Sprachkompetenz vermitteln. Bedingung für eine stärkere Förderung der LA sei mehr zur Verfügung stehende Zeit, die z. B. durch eine bessere Kooperation im Lehrerteam erreicht werden könne. Auch möchte sie durch Fortbildungen weitere Anregungen erhalten, in welchen Bereichen sie LA noch stärker fördern könne. Allgemein solle eine Lehrkraft immer die Bereitschaft haben, sich weiterzubilden. Eine Fortbildung zur LA solle die Faktoren, die sich als hinderlich für die Förderung von LA erweisen, aufgreifen, insbesondere Zeitmangel bei der Unterrichtsvorbereitung und Umgang mit leistungsunwilligen Lerngruppen. Entsprechende lehrwerksbegleitende Materialien wären neben einer verstärkten Teamarbeit unter den Lehrerkollegen eine Hilfe. <?page no="336"?> 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ CP sagt, sie habe sich zu dem Interview bereit erklärt, weil sie von einer Kollegin gefragt worden sei. Sie habe nichts gegen ein Interview und hätte sich ansonsten keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Dem Thema LA stehe sie grundsätzlich positiv gegenüber. 5.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie CP ist Italienerin. Zum Zeitpunkt der Gespräche, im Jahr 2007, ist sie vierzig Jahre alt und blickt auf insgesamt acht Jahre Unterrichtserfahrung zurück. Sie unterrichtet die Fächer Französisch und Englisch in einer Kleinstadt in Baden- Württemberg an einem Gymnasium mit neusprachlich geprägtem Schwerpunkt. Dort konnte sie Erfahrungen mit Französisch als 1. Fremdsprache (ab Klasse 5) und 2. Fremdsprache (ab Klasse 7) sammeln. Französisch als 3. Fremdsprache hat sie lediglich im Referendariat erlebt, die 2. Fremdsprache ab der Klasse 6 kennt sie nur im Fach Englisch. Unterrichtsschwerpunkte kann sie keine benennen, allerdings unterrichte sie immer Englisch in der Oberstufe. Zum Zeitpunkt des Interviews unterrichtet sie Französisch als 1. Fremdsprache in einer Klasse 8 (4. Lernjahr) und einer Klasse 9 (5. Lernjahr). CPs Muttersprache ist Italienisch. Mit drei Jahren kommt sie nach Frankreich und erlernt dort innerhalb von drei Jahren sehr schnell Französisch. Damit sei Französisch, zumindest vom Gefühl her, ihre zweite Muttersprache. Zurück in Italien erlebt sie Französisch als Fremdsprache am Gymnasium, daneben lernt sie Latein und Griechisch. Ihre erste lebende Fremdsprache sei Englisch, das sie mit zwanzig Jahren an der Universität beginnt. Den Anfang hat sie als schwierig in Erinnerung. Sie habe aber Englisch „bewusster“ gelernt und die Analogie zum Französischen gesehen. In Bezug auf ihre Gymnasialzeit in Italien erinnert sie sich daran, dass zu viel in der Muttersprache Italienisch über die zu erlernende Sprache Französisch gesprochen worden sei, Grammatik isoliert vermittelt wurde und dass ein gewisser Drill dem Lernen eine Struktur gab. „CP: Woran ich mich erinnern kann in, im Französischen, also diese, äh, Fremdsprachenunterricht war das, das, was überhaupt nicht gut war, dass die, die Lehrer <?page no="337"?> 338 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ einfach über die Sprache geredet haben und nicht in der Sprache. Schon mal das ist e’n Paradox, also schon immer und selbst an der Uni ist es e’n Paradox.“ (CP, I, 1/ ’08) Und in Bezug auf den Drill führt sie aus, dass sie ihn persönlich gar nicht so negativ erlebt habe: „CP: Zumindest verschafft es Klarheit. Aber alleine, es hat seine Grenzen, natürlich, ja. Nur ein paar Übungen sind vielleicht nicht verkehrt. Weil ich bin sowieso gegen entweder schwarz oder weiß Visionen. Ein bisschen von allem.“ (CP, I, 1/ ’08) CP meint, dass ihre Lernbiografie sehr wahrscheinlich nicht typisch verlaufen sei. Erst als sie älter war, habe sie Querverbindungen zu anderen Sprachen hergestellt. Lehrerin sei sie geworden, weil sie Freude daran habe, etwas zu vermitteln. „Weil mir das Erklären gefällt. […] Dieser Aspekt ist für mich das Interessanteste, das Vermitteln.“ Nur der Aspekt der Fremdsprachen selbst sei dabei noch wichtiger für sie gewesen. „Französisch, wie andere europäische Sprachen, hat mich interessiert. Ich bin in Frankreich in der Schule gewesen.“ Ihr Studium (Englisch, Französisch und Italienisch) absolvierte sie in der Lombardei; und beendete es 1992. Dort machte sie auch ihr Referendariat: „Das Referendariat zeigte mir eine Dichotomie zwischen Praxis und Theorie.“ Jetzt als Lehrerin arbeite sie gerne alleine, höre sich aber die Meinungen der Kollegen an. 5.2 Analyse des Interviews CP antwortet bereitwillig, bisweilen nach kurzer Überlegung, auf alle Fragen. Die Gespräche verlaufen ruhig und kooperativ. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von CP a) LA Auf die Frage nach ihrem persönlichen Verständnis von LA fragt sie zuerst zurück, ob die Frage auf die Schüler bezogen sei oder „überhaupt“, im Allgemeinen. Sie führt dann aus, dass LA für sie Unabhängigkeit und Freiheit bedeute. Die Selbsttätigkeit motiviere die Schüler. Diese müssten aber darauf vorbereitet werden, und zwar durch Anregung zum selbstständigen Denken und durch ein Methodentraining, das sich auf das Lernen von Vokabeln und Strukturen und die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens beziehe. Dieses Wissen und diese Fähigkeiten müsse sie ihren Schülern zuvor vermitteln. <?page no="338"?> 5.2 Analyse des Interviews 339 „CP: Eine so genannte Unabhängigkeit, ja. Unabhängigkeit, so ’ne Freiheit, Unabhängigkeit. Aber auch ein, ein Wissen, ein Wissen, vor, vor dem Prozess muss erworben werden, bevor man überhaupt anfängt. Ja. Also, ich denke, man, man muss eben sich im Klaren sein. Also, wenn man frei sein möchte oder unabhängig, muss man auch wissen, wie, wie es zu laufen hat danach, wenn man im Endeffekt in dem, in dem Zustand lebt und im Allgemeinen. Und, und so auch in der Schule, also fürs Lernen. Hm, und ja, also … CW: Spielt es in Ihrem Unterricht eine Rolle? Und wenn ja, welche? CP: Ich denk’ schon, ja. Also, ich versuche zuerst, die selber denken zu lassen, warum die Sachen so sind und nicht anders. Damit der Schüler von vorneherein, ähm, versteht, dass er auch selber irgendwas erarbeiten kann. Und das wissen wir auch alle. Mit der Praxis sieht man auch, dass der Schüler letztendlich auch interessierter wirkt und wird, wenn, wenn er selber Sachen macht. Ähm, zweitens muss man ihm eben die, das Mittel auch beibringen, wie man alleine … Und warum müsste man Strategie erwerben? Welche und warum soll es so funktionieren und nicht anders? Und warum überhaupt? Also, das mach’ ich in der Regel, das so genannte Methodentraining. Immer wieder für Vokabellernen, äh, Strukturenlernen, so ’n bisschen alles. Also, was ziemlich wichtig ist, denk’ ich mal, wenn man lernt, fast, fast die hal…, die halbe Miete, denk’ ich mal […]: Wie man liest. Mancher Schüler weiß nicht, dass es verschiedene Arten von Lesen existieren. Wie man liest. Wie man Vokabeln lernt, durch eine also Analogie. Man muss sie kata…, äh, kopieren, äh, erklären, was ein Wortfeld ist, was ein lexikalisches Feld ist, was, äh, diese, diese Sachen. […] Oder für eine Fertigkeit auch Lesen, wie man liest, auch extensives Lesen sein soll, äh, oder, oder kursorisch oder wie auch immer oder scanning lesen. Und ja, das muss man beibringen und auch Schreiben, creative writing, sagen wir mal so jetzt im Englischen (lacht) , muss man auch beibringen.“ (CP, I, 1/ ’08) Darüber hinaus sei ihr in ihrem Unterricht wichtig, dass die Schüler keine Angst hätten, Fehler zu machen, dass ihnen in dem Zusammenhang genügend Zeit gegeben werde, dass sie ihre Ideen und Meinungen sagen könnten, dass sie nicht ausgelacht würden, dass ihnen Mut gemacht würde, auch bei schlechteren Noten, und dass sie, insbesondere im Oberstufenunterricht, die Zusammenhänge verstehen würden. „CW: Gibt’s noch andere wichtige Konzepte so allgemein, wo Sie sagen: ‚Das ist wichtig in meinem Französischunterricht.‘? CP: Ja, dass sie sich einfach trauen, Fehler zu machen. […] Also in dieser Schule, ich war ja in einer anderen Schule vorher, diese Schule finde ich und fühle ich so die Schüler eher freier diesbezüglich. […] Wo ich vorher war, immer noch in Deutschland, war’s eher so ’n bisschen problematisch für manche Klasse, oft sich zu äußern überhaupt. Das bremst natürlich, ja. <?page no="339"?> 340 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ CW: Wie schaffen Sie es, dass die Schüler weniger Angst haben, Fehler zu machen? CP: Ich sag’s ihnen. Sie dürfen ruhig, äh, Fehler machen, un’, un’ das ist kein Problem. CW: Ja. CP: Ohne geht’s gar nicht. Und es ist nicht am Anfang das Problem, ob sie Fehler machen. Also, Fehler kann man machen. Absolut. Ja und danach muss man e’n bisschen verfeinern et cetera, ein bisschen. Hm, die Angst, ja, haben sie schon, ja. Und auch viel, genügend Zeit geben. Manchmal tendieren wir, wir wissen schon die Antwort, wir tendieren so ein bisschen dazu, nicht genug geduldig zu sein. Mit, mit der Zeit muss man das lernen und wieder bewusster machen, ja. CW: Gibt es weitere so Grundprinzipien, die für Sie persönlich wichtig sind? CP: […] Ja, dass, dass sie auch ihre eigene Idee bringen, je nachdem was man macht natürlich. Ähm, oft frag’ ich auch, ob sie, ob sie mir eine Rückmeldung geben können. Natürlich in einem Alter kann man nicht, also das, das wär’ unrealistisch, das wär’ relativ, wär’ idealistisch zu denken, immer krieg’ ich eine Rückmeldung. Aber ich frage nach, ich bohre nach, aber immer wieder versuch’ ich, das zu tun, ja weil anders rum funktioniert’s nicht. […] Und ich frage sie, wo sie unsicher sind, falls wir eine ZK schreiben sollen oder ein Abitur oder sonst wie. Ich hör’, […] was sie zu sagen haben. Natürlich muss man auch schauen, mit welchen Klassen, mit welchen Personen. Es kann auch andersrum, äh, eine totale Zeitverlust sein, aber nicht unbedingt. Es gibt auch, die nehmen die Sache gar nicht ernst. […] Andere Prinzipien. Ja, gut, jetzt psychologisch, eher psychologischer Natur […], dass im Endeffekt nicht ausgelacht wird, solche Sachen. […] Ja überhaupt, also, ich würde nie zum Schüler sagen: ‚Du kannst es nicht. […] Du bist dumm.‘ Oder so. […] Das gibt’s aber, hab’ ich gehört. Ja, eher Mut geben. […] Wenn der Schüler eine Note bekommen hat, auch ein bisschen relativieren. Mein Gott, es ist eine Note. Hm, andere Sache […], die ich für sehr wichtig halte […], ich versuche ein Schema rüberzu…, eine klare Struktur zu verschaffen, was man macht und warum und ja, auch im Detail. Ja, dass es wirklich so klar ist, einfach… e’n roten Faden, ja … In jeder Sache also e’n roten Faden.“ (CP, I, 1/ ’08) Auf meine Frage, ob ihr language awareness wichtig sei, versichert sie sich bei mir hinsichtlich der Definition des Begriffes. Ja, sie würde, auch aus ihrer eigenen Lernbiografie heraus, Vergleiche zwischen Englisch und Französisch herstellen, allerdings abhängig vom Fortschritt der Schüler. Sie erläutert diesen Aspekt jedoch zunächst nicht näher: „ Ich mach’, weil es für mich immer das tägliche Brot gewesen ist … Ja, ich mach’ auch so Vergleiche, Vergleiche zwischen Englisch und Französisch, je nachdem was die Schüler können.“ Bei der Kärtchenabfrage erläutert sie später, dass sie die Schüler immer wieder Entsprechungen in der anderen Sprache suchen lasse und oft erstaunt sei: „Da kommen sie auf so Sachen, wo ich gar nicht gedacht hätte.“ Sowohl der Förderung der <?page no="340"?> 5.2 Analyse des Interviews 341 LA als auch der Förderung von language awareness schreibt sie einen positiven Effekt auf das Lernen und die sprachliche Performanz der Schüler zu, da diese dadurch Informationen klarer verarbeiten könnten. „CP: Ja, absolut. […] Ja, sie, sie haben eine Struktur im Kopf, eine … Dann lernen sie schneller und klarer. Das ist einfach klarer, bleibt, bleibt hängen in der Regel. Ja, sie, sie können eher, ähm, die, die Informationen besser, besser, ähm, sagen wir mal so, rausholen, rausholen.“ (CP, I, 1/ ’08) Zusammenfassend: LA bedeutet für CP eine Selbstständigkeit der Schüler beim Lernen, die sie motiviere, auf die sie aber vorbereitet werden müssten. Zu dieser Vorbereitung gehörten die Hinführung zum selbstständigen Denken und ein Methodentraining, insbesondere beim Lesen und Schreiben. Wichtig sei ihr auch eine angstfreie, Mut machende, respektvolle Lernatmosphäre, in der die Schüler Zeit hätten, sich frei zu äußern und Zusammenhänge zu verstehen. Sowohl LA als auch language awareness würden den Schülern beim Lernen helfen, Informationen zu verarbeiten. b) Sozialformen CP sagt, dass sie in ihrem Unterricht alle Sozialformen einsetze („Ich benutze ein bisschen von allem.“) und dass die Partnerarbeit quantitativ vorherrsche („Eher Partnerarbeit, ja.“). Auch die Arbeit mit „Gruppen, wenn sie kleiner sind“, schätze sie. Die Gruppenarbeit mit mehr als drei Personen pro Gruppe hält sie hingegen für problematisch, da die Schüler sich bisweilen schwer damit täten, mit anderen zusammenarbeiten zu müssen. Sie bevorzugt homogene Gruppen, sieht jedoch das Thema Gruppenarbeit als Modethema an, das „überbewertet“ werde, insbesondere wenn man zu einem bestimmten Resultat kommen wolle. Außerdem würde die Gruppenarbeit eventuelle Schwierigkeiten beim Lernen nicht lösen. „CP: Mit diesen Gruppenarbeit muss man sich wirklich überlegen, wie man die Gruppen strukturiert. Es ist ganz, ganz schwierig oft. Oft, nicht immer, aber es ist gar nicht so einfach, wie, wie die Leute propagieren: ‚Jetzt machen wir ’ne tolle Gruppenarbeit.‘ CW: Was ist da dran manchmal schwierig? CP: Na ja, muss man die Individuen sehen. […] Sie sind Personen, insofern auch nicht Erwachsene ganz. Insofern sie müssen sich schon mal ertragen einigermaßen, damit sie zusammenarbeiten. Dann also a) wenn ich X Personen zusammenbringen will, will, wollen die X Personen nicht. Na also, dann kann ich das Ganze vergessen. Äh, wenn ich die Schlechten zusammenbringen würde, dann ist schon mal gut. Ab und zu sollen sich unter sich irgendwelche Gedanken machen. Aber es besteht auch <?page no="341"?> 342 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ das Risiko, dass absolut gar nichts gemacht wird. Ja, also, es ist gar nicht so einfach, wenn man zum Resultat kommen wird, tatsächlich, es geht darum. Und ich, ich bin e’n bisschen so sauer irgendwie auf die Mode jetzt. […] Manche Sachen werden so leicht vergessen, nach dem Motto: ‚Jetzt machen wir es so.‘ Und die Schwierigkeiten im Endeffekt, die existieren weiterhin.“ (CP, I, 1/ ’08) Sie glaubt, dass sie zu viel frontal unterrichte („Frontal mach’ ich auch wieder noch zu viel.“), aber es käme auch auf die Klasse und das Alter der Schüler an. Insbesondere im ersten Lernjahr müsse sie die Schüler mehr zum Sprechen bringen. Hier sei sie auf entsprechendes Material angewiesen, dass sie sich verstärkt in den Lehrwerken wünschen würde, in denen die Texte oft zu lang seien. Ideal wären mehrere kurze Darbietungsphasen, auf die längere Sprechphasen der Schüler folgen würden. Als Lehrkraft hätte man keine Zeit, sich solche Materialien selbst zu erarbeiten: „Das Dilemma hab’ ich noch nicht gelöst.“ Siehe hierzu auch unten. c) Aufgaben CP sagt, Hausaufgaben seien wichtig für sie. Bei schwierigeren, nicht leicht zu verstehenden Aufgaben würde sie helfen und diese im Unterricht vorher besprechen. Eine Nachbereitung im Unterricht würde immer stattfinden. Bei Referaten würde sie die Schüler auch an der Auswahl der Themen und Inhalte beteiligen, weniger bei der Arbeit mit dem Lehrwerk: „Mit dem Buch kann man nicht viel wählen, aber ansonst‘, ansonsten schon für Referate oder so, ja, Recherche oder wir machen guide touristique .“ Sie nennt hier als Beispiel einen Galeriebesuch, auf den sich die Schüler einzeln oder in Kleingruppen im Internet selbstständig vorbereiten mussten. Ziel war die Präsentation von Bildern. Für die Recherche gab sie ihnen Termini vor und erteilte Tipps: „Ich hab’ eine Struktur gegeben, wie sie das machen in der Schule im Internetraum. Dann haben sie recherchiert.“ Sie hätte schon versucht, die Schüler emotional zu beteiligen, indem sie sie z. B. nach ihrer Herangehensweise gefragt hätte. Noch nicht gelöst hätte sie das Problem der Selbstkontrolle anhand von vorliegenden Lösungsschlüsseln. Hier würden die Schüler die Lösungen oft einfach nur abschreiben. Siehe auch unten. d) Materialien Den Einsatz von Materialien, mit denen die Schüler relativ selbstständig arbeiten könnten, hätte sie insbesondere an privaten Fremdsprachenschulen in England erlebt, wo das Material entsprechende Hinweise zum selbstständigen Lernen enthalten hätte. Die Lerngruppen seien allerdings recht klein gewesen (zehn erwachsene Schüler). Solche Materialien würde sie sich im Rahmen der <?page no="342"?> 5.2 Analyse des Interviews 343 Lehrwerke für Französisch in Deutschland auch wünschen, insbesondere im ersten Lernjahr. Siehe hierzu auch oben zu den Sozialformen und unten zum Französischlehrwerk. e) Das Französischlehrwerk CP würde gerne weniger frontal unterrichten und die Schüler stärker zum Sprechen aktivieren, insbesondere im ersten Lernjahr, das sich manchmal „zäh“ gestalte. Die Lehrbuchtexte seien oft zu lang. Ideal wären mehrere kurze Darbietungsphasen, auf die längere Sprechphasen der Schüler folgen würden. Hier seien die Lehrkräfte, bereits aus Zeitgründen, sehr auf die Lehrwerke angewiesen, die diese Anforderung allgemein stärker berücksichtigen sollten. (Siehe hierzu auch oben.) „CP: Ich meine, die verlangen alle von uns, uns, dass wir einigermaßen verschwinden, aber dann muss man auch das richtige Material zur Verfügung geben. […] Die Lehrwerke sind, ähm, zum Teil so, äh, strukturiert, dass man dem Schüler die Möglichkeit gibt, alleine oder dem Lehrer auch die Möglichkeit gibt, äh, die Schüler alleine arbeiten zu lassen, aber auch nicht genug. CW: Wie müssten die anders sein, dass… CP: Viel mehr, ja, Aufgaben, wo der Schüler weniger Texte erst, erst mal. […] Vielleicht Vokabeln geben, auch weniger Texte. […] Wenn Sie fünfundzwanzig Stunden pro Woche unterrichten, können Sie nicht vom Lehrer verlangen, er muss sich jedes Mal die Hälfte alleine überlegen, ja, und irgendwelche Aufgaben zusammenstellen. Das können wir natürlich machen. Aber warum nicht so in den Büchern schon? […] Diskussionen, Struktur, die, die Arbeitsblätter, also Arbeitsanweisungen. Zum Beispiel, äh, ’ne Aufgabe, ’ne…: ‚Diskutiert über das Thema XY, dann macht so und so.‘ oder verschiedene Sachen. […] Die Texte sind einfach zu lang. […] Ja, die sprechen zu wenig. Wir haben riesige Texte. Ich meine, die machen schon Sinn. Nur wir, wir müssen ökonomisch auch arbeiten. Das ist das Problem. Die Texte sind nicht unsinnig. Aber das Problem ist, dass ich im Endeffekt fünfundvierzig Minuten habe und dreißig Personen da sitzen. Ja, also. Wenn ich sie aktivieren möchte, muss, müsste ich eigentlich, ähm, ’ne andere, ’ne andere Arbeit vor mir haben. Mehr, die mehr zum Sprechen bringen. Immer, schon von, von vorneherein, denk’ ich mal. […] Vielleicht mehrere Darbietungen, ja, mehr also kürzere Darbietungen, aber dafür mehrere. Aber so eine kürzere Darbietung, und dann da, dafür eine längere, einen längeren Einsatz sprachlich vom Schüler. Die sprechen zu wenig, finde ich. Wobei, jetzt rede ich von den ersten Jahren.“ (CP, I, 1/ ’08) In Bezug auf die Förderung von LA im Lehrwerk erwähnt sie, dass die Vermittlung von Strategien zu „apprendre, comprendre, écouter“ durchaus erfolgen <?page no="343"?> 344 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ würde. Für die Analyse von Schülern hinsichtlich ihres Lerntyps fehlten ihr noch Materialien (siehe unten). f) Medien CP denkt, dass es Medien, wie z. B. Software, gibt, die die Autonomie der Schüler fördern können. Sie fragt sich aber, ob diese die Medien immer sinnvoll nutzen. Die Autonomie im Umgang mit diesen Medien müsse erst einmal von der Lehrkraft vermittelt und von den Schülern erlernt werden. Damit dies geschehe, müsse bereits im Unterricht selbst eine Kultur wachsen, in der mit diesen Medien immer wieder gearbeitet würde. Auf der anderen Seite fehle aber oft die Zeit für den regelmäßigen Einsatz solcher Medien, dazu hätte man höchstens sporadisch Zeit. In ihrem eigenen Unterricht fehle eine solche Kultur noch gänzlich. „CP: Die Frage ist, ob der Schüler das wirklich so intensiv benutzt. Oder die Frage ist, die Autonomie sollte im Endeffekt sich durchsetzen im Unterricht, damit sie es kapieren. Das ist im Endeffekt auch wieder e’n Paradox. Paradox ist es im Endeffekt. Ich glaube, der Lehrer hat immer noch eine Funktion (lacht) . Wenn immer mehr, äh, Autonomie verlangt wird, und selbst diese Autonomie muss man wie, wie ich sagte vorhin, irgendwie auch beibringen. Und ich würde eher dieses Material auch, äh, mehr anwenden und nicht nur für die Schüler lassen. Eher im Unterricht. Und das ist anders rum. […] Der Lehrer muss, muss auch das machen ein bisschen im Unterricht immer mehr. Damit sie auch, damit man eine Kultur verschafft: Okay, das mach’ ich jetzt automatisch daheim. […] Oft fehlt die Zeit. […] Wir haben nicht so ’ne richtige Kultur. Ich hab’s nicht. CW: Und Ihr Vorschlag wäre, die Medien wie Software phasenweise im Unterricht selbst einzuführen, damit eine Kultur wächst auch für nachmittags? CP: Ja, ja. Könnte man. Warum nicht? Wieso sollte ich ein, ein Lehrbuch, ich, ein volles Lehrbuch haben, ich könnte auch ein zum Beispiel die Hälfte haben und die andere Hälfte wäre nicht ein Lehrbuch, sondern eine Diskette mit irgendwas, das schon mal so ’n Standardprogramm. Wobei das kann man natürlich machen, aber das ist gar nicht so einfach im Alltag. Denn man hat nicht eine Klasse oder zwei oder zwölf Stunden und eine … Gibt’s einfach nicht die Zeit, ich muss korrigieren, machen, rechts und links […]. Das kann man machen, aber sporadisch.“ (CP, I, 1/ ’08) g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation Bei der Kärtchenabfrage am Ende des Interviews kommt CP erstmals auf die Selbstkontrolle und die Selbstevaluation zu sprechen. Hätten die Schüler Schlüssel zum Kontrollieren in ihrem Lehrwerk, so würden sie diese sehr oft einfach abschreiben. Die Schlüssel an sich fände sie gut, aber sie wisse nicht, wie sie damit umgehen solle. Jeder müsse zudem erst dazu angeleitet werden und lernen, sich selbst zu kontrollieren; das sei das Wichtigste. Den Schülern würden <?page no="344"?> 5.2 Analyse des Interviews 345 nämlich die eigenen Fehler oft nicht auffallen. Sie lenke deshalb die Aufmerksamkeit auf die Details, lasse die Schüler kontrastierend und mit Farben arbeiten und versuche, sie zur Langsamkeit zu erziehen. Erst nach der Selbstkontrolle sollte die Kontrolle durch den Partner erfolgen, dem eventuell Zusätzliches auffalle. Die Selbstevaluation gelinge nur manchmal, insbesondere dann, wenn sie außerhalb der Notengebung stattfände. „CP: Ich bin auch in ’nem Dilemma, was ich da mache. Äh, oft seh’ ich immer wieder Schüler im Endeffekt abschreiben, was da in den Schlüsseln steht. Und ich mein’, ich kann gut sagen: ‚Du schädigst nur dich selber.‘ und er macht’s trotzdem. […] Man muss sie auch vorbereiten, aber es ist ein bisschen schwierig. Vielleicht die Großen würden erst denken und dann sich die Sachen angucken. Ja, da muss man sie auch einarbeiten, also einarbeiten und erklären warum und so. […] Oft besprechen sie auch selber untereinander, also ab und zu besprechen sie auch die Sache untereinander. […] Man muss sie anleiten, natürlich. Hm. Ja, oft sehen sie gar nicht, was sie falsch gemacht haben. Das ist auch ein zweites Problem. Nicht nur das Dilemma, ob die Schlüssel überhaupt da sind, ob sie überhaupt den Fehler sehen. Also, die sehen wirklich gar nicht viel. Was ich überhaupt nicht gut finde, ist auch diese Mode, dass die Hefte werden getauscht. […] Ich versteh’ das nicht. Wenn ich zum Beispiel ein Diktat geschrieben habe als Schülerin, danach muss ich im Endeffekt … Ich lebe mein Leben. […] Der Punkt ist das nicht, dass der andere das besser sehen sollte, sondern ich. Also, das find’ ich nicht so, nicht so gelungen die ganze Idee. CW: Was kann man da machen, dass ein Schüler lernt, sich selbst zu kontrollieren? CP: Ja, was kann man da machen? Ich denke wirklich eine ganze wichtige Sache ist, dass, dass sie … Die muss man zu Langsamkeit erziehen, mal nicht zu schnell. Ja, eine positive Langsamkeit sollten … Das ist echt so, die machen einfach viel zu schnell, alles zu schnell. […] Zwei Minuten mehr, aber dafür richtig. […] Was ich mache, dass für sie auch sehr oft auf Detail lenke. Zum Beispiel Schreiben. Mit der Zeit weiß man schon, wo wer hier irgendwas falsch machen. So wie die Kleinen, sie schreiben does mit a oder was weiß ich. Und dann von vorne. Oder wenn es zum Beispiel, wenn, wenn ’ne Sache so fast so wie im Deutschen geschrieben wird, zur Kontrastierung mit, äh, zum Beispiel mit Farben arbeiten und sagen: ‚Ja, guckt hier: Im, im Englischen gibt’s einen, ein äh, ein c nicht im Englischen.‘ […] Also dass, dass sie auch sehen. Dass sie lernen von An…, von vorneherein möglichst die Details zu, zu entdecken. […] Ich finde die Sache mit den Partnern gar nicht so toll. Wenn ich kontrolliert habe, aber ich, hinterher kann ich es immer noch machen. Aber an erster Stelle mu…, bin ich da verantwortlich für mein Zeug. […] Wenn manchmal sag’: ‚Okay, ihr habt korrigiert, jetzt aber könnt ihr tauschen, tauschen, weil der, der Partner wird bestimmt <?page no="345"?> 346 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ was anderes sehen.‘ Also damit ihnen bewusst wird, dass doch nicht so, äh, ist wie sie gemeint haben. […] Selbstevaluation ist mit den Schülern ein bisschen schwierig. […] Manchmal geht es, manchmal …, je nachdem. […] Je nachdem was, was sie da für Sorgen haben. Wenn sie wirklich, ähm, wenn sie, wenn’s keine Note im Vordergrund steht, dann, dann sind se frei und korrekter, denk’ ich mal.“ (CP, I, 1/ ’08) h) Schüleraustausch Mit ihren Schülern nimmt CP an dem Schüleraustausch mit Partnerschulen in Frankreich und auf La Réunion teil. Sie denkt, dass die Schüler davon profitieren („Ich denke schon … Ich hab’s auch gesehen.“). Aber auch da müsse man die Schüler „auf die Freiheit vorbereiten“, z. B. ohne Wörterbuch oder ohne die Anwesenheit der Lehrkraft, die Fremdsprache zu verstehen. Jüngere noch nicht vom Schulsystem so stark geprägte Schüler würden allgemein leichter und schneller in solchen Situationen lernen. „CP: Auch da, sie sind keine Erwachsenen, muss man auch die Schüler vorher vorbereiten und sagen: ‚Ihr habt auch zwei Augen und lernt so viele Wörter. Das geht, ohne dass irgendwie auch ein, ein Wörterbuch notwendig wäre. Wenn ich eine Apotheke sehe, dann ist es eine pharmacie , ob ich das Wörterbuch habe oder nicht.‘ Das muss man ihnen auch beibringen. Es ist unglaublich, man muss ihnen die, die Freiheit beibringen. Ja, ist doch Wahnsinn. Wenn ich merken würde, der Lehrer ist nicht da […]: ‚Also, ich lerne gar nichts.‘ Von vorneherein. Manche funktionieren so: ‚Ich hab’ kein Buch, ich verstehe es nicht, Ende.‘ ‚Ja, ihr habt Intuitionen‘, denk’ ich mir manchmal. ‚Ja also. Habt ihr doch Intuition, Intelligenz, ihr habt zwei Augen, zwei Ohren, ’ne Nase, könnt auch ’was lernen.‘ Und dann tun sie, aber man muss sie selbst da irgendwie vorbereiten. Und andersrum die anderen, die noch nicht getrimmt worden sind, die lernen eher schneller und sind freier. Es gibt kleine Schüler, ja, die wurden noch nicht geprägt von dem ganzen System. Und die anderen haben, haben sich dran gewöhnt. […] Und dann kommt wieder die Phase, wo sie erwachsen werden langsam und dann wieder auch wieder bewusster arbeiten. Also, ich finde, es ist ein bisschen so. Nicht für alle.“ (CP, I, 1/ ’08) Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner CP fällt es nicht leicht, mit ihren Schülern über die Bedeutung des Französischlernens zu sprechen, insbesondere wenn es um die 2. Fremdsprache gehe. Die Schüler mit Französisch als 1. Fremdsprache seien per se interessiert. Wenn es aber um die 2. Fremdsprache gehe, würden die Schüler sehr pragmatisch dahingehend argumentieren, dass sie Französisch später nie benötigen würden, weder im Urlaub noch im Berufsleben, sie kämen überall sehr gut mit Deutsch <?page no="346"?> 5.2 Analyse des Interviews 347 oder Englisch zurecht. Und da hätten sie nicht ganz Unrecht. „Die Schüler haben Argumente und ich habe nicht viele Argumente dagegen … Natürlich erzähl’ ich irgendwas. Aber es ist nicht einfach. Die Schüler sind nicht dumm … Ich sage alles Mögliche.“ Auf einen entsprechenden Impuls meinerseits hin sagt sie, dass sie auch mit Französisch als Brückensprache nicht argumentieren könne. Da würde man Spanisch den Vorzug geben. Die meisten Schüler möchten für das Lernen gute Gründe haben. Letztendlich versuche sie, die Schüler für das Land, die Kultur, die Küche zu interessieren, das sei der beste Weg. „CP: Die Schüler haben Argumente und ich habe nicht viele Argumente dagegen. […] Die Schüler sagen: ‚Was soll ich mir, mir, also mei, also meinen Kopf kaputt machen, jahrelang, wenn ich sowieso Französisch nie brauchen werde? Wenn ich in Urlaub bin in Frankreich, entweder rede ich Deutsch oder red’ ich gar nicht, zeig’ irgendwas im Wörterbuch oder ich rede Englisch. […]‘ Also, sie kommen im Endeffekt zurecht die Leute. ‚So, wenn, äh, bin in Europa, ich spreche Englisch, komm’ ich überall zurecht. In Belgien sprech’ ich Deutsch, in der Schweiz‘, dann fangen sie an, ‚sprech’ ich Deutsch, in Österreich genau so, in Frankreich, ja, da komm’ ich zurecht, und dann rechts und links, die Holländer sprechen Deutsch.‘ Also die komm‘, die kommen zurecht. ‚In Amerika reden sie Englisch, in Kanada genauso.‘ Also was, was hab’ ich für Argumente? Ich versuche natürlich so, das Ganze so nicht so pragmatisch zu lehren. Die sind einfach pragmatisch, ne, viel pragmatischer als die anderen. Ja und, ph, mit meinen Argumenten am Ende, weil wenn ich sage: ‚Ja, per se.‘, ist nicht mehr überzeugend. Per se lernen ist nicht überzeugend. Ja, warum? In den Firmen ist genauso. Dies ist eine, eine, ja, ja es gibt bestimmt Firma, wo es verlangt wird, dass, dass die Leute Französisch sprechen. Aber sie sind, sie sind die Ausnahmen, wenigstens in Deutschland […]. Die Schüler sind nicht dumm. […] Wenn die Franzosen mit Partnern zu tun haben, dann reden sie nicht immer im Französischen. […] Ich sage alles Mögliche. […] Ich habe das ganze Repertoire. […] Wenn sie F1 sind, da sind sie schon dabei. […] Sie sitzen da deswegen, weil sie die fran‘, die Sprache mögen oder sie haben Leute daheim, also die irgendwie ’ne Verbindung dazu haben oder die, die würden gerne selber Französisch machen, haben sie nicht gekonnt am Anfang. Aber das Problem sind die mit F2, die, äh, im Endeffekt keinen Sinn darin sehen. Das ist das Problem. Gibt’s auch Klassen, natürlich gibt’s auch viele zum Glück, die es per se auch lernen. Das Problem ist wie, wie kann man das auch den anderen ’rüber bringen? Das ist nicht einfach. Das ist nicht einfach, weil der Schüler sieht alles pragmatisch. […] Dann sagen sie, Spanisch ist viel einfacher. Ich hab’ alles durch. […] Und ich kann in Brasil reden, in Spanien, rechts und links, et cetera, et cetera, in den Vereinigten Staaten. Da bin ich mit meinen Argumenten am Ende. […] Ich probier’ immer wieder. Ja, von, ja von Kultur her, ich versuche eher, sie für die, für das Land zu interessieren, weil’s ein schönes Land ist. Die Kultur, Urlaub et cetera. Essen, auch problematisch für die <?page no="347"?> 348 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ Schüler, ja, die sehen das so. ‚Da ist schön, da geh’ ich hin‘, ne. Oder ja: ‚Das schmeckt.‘ Oder: ‚Die Leute sind nett, da geh’ ich hin.‘ Die sehen nur so.“ (CP, I, 1/ ’08) CP denkt darüber hinaus, dass viele Schüler durch das Schulsystem mit der Zeit derart geprägt werden, dass sie phasenweise nur mit Buch oder Lehrkraft lernen können, siehe oben. Solchen Schülern müsse man „die Freiheit beibringen“, sie auf Situationen ohne Buch und ohne Lehrkraft vorbereiten, sie lehren ihre Sinne und ihre Intuition zu gebrauchen, um im fremdsprachlichen Raum zu verstehen. a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? CP betrachtet hier Strukturiertheit und Wahrnehmungskanäle; sie unterscheidet zwischen Lernern, die strukturiert und weniger strukturiert arbeiten, weiter zwischen Lernern, die über das Sehen, über das Hören oder über das Tun lernen. Da die meisten Lerner über das Sehen lernen würden, benutze sie im Unterricht oft Bilder. Generell meint sie, dass ansonsten jeder „für sich“ lerne. Bei der Frage, ob es einen bestimmten Lernertyp gebe, der besonders leicht Französisch lerne, fragt sie zunächst nach und lässt sich die Frage erläutern. Schließlich meint sie, sie wisse es nicht, glaube aber, dass es dem Lerner helfe, wenn er Strukturen zur Hilfe nähme. Theoretisch wisse sie, dass es von Vorteil sei, wenn jeder Lerner wüsste, welcher Lerntyp er ist, diese Analyse fehle aber in ihrem Unterricht. Hier würde es helfen, entsprechende Materialien zur Verfügung zu haben. „CP: Es gibt Leute, die überhaupt kein Schema haben. Haben sie nicht. Und die Resultate sind auch dementsprechend schlecht […] oder die müssen sich viel mehr Mühe geben. […] Ja, und dann gibt’s wie immer Leute, die können sich besser merken, was sie hören, was sie sehen. In der Regel, wenn sie was sehen, sind, sind die meisten Menschen sind darüber, dadurch viel, viel mehr an…, ansprechbar, gibt es so, über das Sehen. Ich versuche viele Sachen zu, zu zeigen auch, äh, mit viel Bilder zu arbeiten. Zum Beispiel haben wir eine so, eine vor-, äh, im Englischen auch oft, wenn es eine pre-reading, preirgendwas activity über irgendwelche Bilder funktioniert, katalysiert irgendwie die Aufmerksamkeit. Wie sie lernen? Ja, natürlich, jeder für sich. Manche können sich die Vokabeln natürlich schnell merken über die Augen, über das Sehen. Manche müssen hören, manche müssen tun, klar. Aber die meisten, ich denke, die meisten, hab’ ich gemerkt, funktionieren über das Sehen. Hm, grob gesagt. CW: Ja. CP: Sehen und tun selber, logischerweise. Hören funktioniert weniger. CW: Und gibt’s e’n bestimmten Lernertyp, der sich besonders leicht tut beim Französischlernen? CP: Das weiß ich nicht. […] Ich würde nicht sagen, dass derjenige, der das Ohr, also Ohr für die Klänge hat, besser ist für den an-, kann besser aus…, also aussprechen, aber nicht unbedingt, ist nicht unbedingt besser in dem ganzen Repertoire, also. <?page no="348"?> 5.2 Analyse des Interviews 349 CW: Okay. Ja. Arbeiten Sie daraufhin, dass die Schüler erkennen, welcher Lerntyp sie selbst sind? CP: Äh, das wenig, das fehlt ein bisschen, das ist wahr. Hm, hm, ich finde, gut, kann man machen wie immer. Es fehlt auch da e’n bisschen eine … Also, wir sind da, wir sind schon bewusst, aber nur im Kopf, also, wir tun’s nicht so. Ja. Ich, ich finde, es wäre, es wär’ sinnvoll richtig auch so, solche Materialien zu haben: So, das haben wir irgendwann mal schon gemacht. Ich habe schon gemacht mit den Schülern dann. Es ist irgendwie, was para funktioniert und nicht so richtig. Aber es wär’ im Endeffekt wichtiger. Ja, es ist wichtig, denk’ ich, aber ich mach’s nicht. Das mach’ ich nicht, nein.“ (CP, I, 1/ ’08) b) Lernerstrategien und Lerntechniken In Bezug auf die Lerntechniken, die die Schüler aus der Grundschule mitbringen, meint CP, dass die Schüler im Englischen „nicht viel wüssten“ und dass „nicht viele Strukturen vorhanden seien“. Einzelne Lehrkräfte, die in der fünften Klasse unterrichten, würden sich mit den Lehrkräften aus der Grundschule treffen, aber sie selbst hätte da noch keine Erfahrungen gesammelt, da sie oft erst ab der sechsten Klasse unterrichte. Wenn die Schüler dann Französisch als 2. Fremdsprache lernen, würden sie schon Parallelen zum Englischlernen ziehen („In der Regel ja, tendieren sie schon ein bisschen dazu.“), insbesondere wenn die Lehrkraft dies mit ihnen im Unterricht behandle. Alle Lerntechniken seien wichtig, insbesondere solche, die dem Vokabellernen dienen und hier besonders die Strukturierung des Wortschatzes. Letzteres sollte nur zum Teil vom Lernenden geleistet werden, denn sowohl die Lehrenden als auch die Schüler hätten wenig Zeit. Man solle ihnen deshalb durchaus „ein bisschen Hilfestellung geben“. Auch sei ihr die Nichtverstehenstoleranz beim Lesen wichtig. „Nicht immer braucht man perfekt zu sein.“ Sie glaubt, dass die Lerntechniken generell ein effektiveres Lernen ermöglichen. „CP: Ja die [Lerntechniken] sind alle wichtig. Ich denke vor allem im Endeffekt, wie man die Vokabeln lernt. […] Also, ich finde diese Liste am Ende von des Buches, also wüsste auch nicht besser. Aber ich finde, die müssen entweder Vokabeln, Geschichte X, Liste X am Ende des Buches … Ein Wort kommt nach dem anderen vor. Gut. Ich würde mal die Liste vielleicht noch so lassen, damit der Schüler, der die Geschichte noch liest, weiß: ‚Ach, das heißt so.‘ Damit er die Wörter noch mal finden kann. Aber irgendwie auch diese gleiche Wörter anders strukturieren lassen. Entweder sagen wir mal dem Schüler natürlich: ‚Mach’s selber daheim.‘, könnte man machen, und sagen […]: ‚Nimm die Wörter, die zum Thema, zum Feld mit da zu tun haben, ja. Tu sie zusammen in einem mind-map .‘ oder irgendwas. Und so kann man es auch machen. Aber das ist immer das Problem der Zeit. Ich komme wieder in die Schule und bevor ich gesehen hab’, ja, alle, alle dreißig Hefte am Anfang durchgeguckt habe jedes Mal, das <?page no="349"?> 350 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ kostet mich auch e’n Haufen Zeit. Das hab’ ich echt probiert. Nun wär’ es vielleicht auch nicht, also wär’ nicht verkehrt, wenn von vorneherein eine Paraliste gäbe oder eine, eine, neben dran, neben diese Liste vielleicht, wo es sich ergibt, und wo es möglich ist, ähm, so dass, dass die Wörter noch mal gesammelt sind […]. Da kommen x Wörter vor, aber dass vielleicht neben dran noch ein mindmap oder irgendwas ist mit den ganzen Wörtern über dieses Thema, ja, mit seiner Mitte drum herum, die ganzen Wörter oder irgendwas. CW: Sollte man das denen vorgeben, den Schülern, oder sollten die sich das selbst machen? CP: Ich denke, die sollen beides machen. Weil selbst ist richtig, weil dann verstehen sie, warum. Aber, äh, das ist der Punkt: Wir vergessen Dinge oder Dinge, die die Bücher schein’ vergessen. Ich weiß nicht, vergessen sie, dass, dass die Zeit, die wir haben, die Bedingungen sind ganz anders. Das ist kein Privatunterricht. Ich kann nicht jedes Mal sagen: ‚Du Schüler XY, mach’s selber.‘ Das ist Utopie. Also, es ist Utopie pur. Kann man machen, aber der Schüler macht das aber nicht. CW: Aha. Das heißt … CP: … Mischung, ’ne Mischung. […] Wortfamilien zum Beispiel oder irgendwas. […] Die Liste find’ ich schon okay, […]. Aber es ist Utopie pur zu sagen …, weil wir haben nicht nur Vokabeln zu lernen, Utopie pur zu sagen jedes Mal: ‚Ihr strukturiert die Vokabeln selber.‘ Der Schüler ist genauso wie ein Lehrer. Der hat auch vier, fünf Sachen am Hals und jeden Tag. Ich kann natürlich sagen, […] er macht’s drei Wochen lang. […] Dann ist’s vorbei. Dann sagen sie: ‚Nee, ich mach’ so rum, ich kann’s trotzdem.‘ Und wenn er’s kann, dann … Also ich, ich kann auch nicht anhören davon. Verstehen Sie? Und wenn’s ein bisschen Hilfestellung gegeben, ja, wäre, wär‘ es auch nicht verkehrt. Ich finde, das ist ein bisschen utopisch, alles vom Schüler zu verlangen. Ein Mischmasch. Ab und zu sag’ ich auch dem Schüler, er macht’s selber, er soll mal diese Wörter raussuchen, schreiben, strukturieren et cetera. Aber das funktioniert nicht immer. Also … CW: Aber an sich sind die Lerntechniken und Lernstrategien wichtig für Sie? CP: Ja. CW: Und, äh, welche, so zusammenfassend, welche Wirkung schreiben Sie denen dann zu, wenn Sie die vermitteln an die Schüler? CP: Effektiv ist die halbe Miete. Ich denk’ schon. CW: Effektives Lernen? CP: Ja, also, ja. Man kommt zum Resultat. CW: Ja. CP: Ja. Weil, wenn ich die Vokabeln so durcheinander lerne oder auch … das, das ist typisch und b) ist das Lesen auf die Bücher. Die müssen immer jedes Wort verstehen. Ja, und dann muss man auch ihnen beibringen, es ist auch nicht wichtig, wenn man alles versteht. ‚Weil, wenn ihr in England seid oder in Frankreich, ja, ist schon mal gut.‘ <?page no="350"?> 5.2 Analyse des Interviews 351 Also, erst mal schon mal ihnen zu verstehen geben, dass ihre eigene Ansprüche ein bisschen runter gehen müssen und nicht jedes Mal muss man ja alles perfekt durch…, also machen und meistern. Es ist auch egal. Hauptsache ich versteh’ die Überschrift, äh, was weiß ich. Wenn ich im Ausland bin, paar Sachen, die in ’nem Artikel enthalten sind. […] Nicht immer braucht man perfekt zu sein oder alles durchpauken oder … Ja. Ja, das bisschen, es ist gar nicht so einfach.“ (CP, I, 1/ ’08) Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers CP sieht den Lehrenden als Vermittler und Helfer, der sich von der klassischen Lehrerrolle lösen sollte und versuchen sollte, den Schüler zu verstehen. Binnendifferenzierung sei ihr wichtig; so würde sie zu einem Lernziel unterschiedliche Aufgaben anbieten, unter denen die Schüler aussuchen könnten. Auch regelmäßige Einzelgespräche hält sie für sehr sinnvoll. Meistens würde sie aus Zeitgründen jedoch eher nur mit solchen Schülern sprechen, die Probleme hätten. Hier versuche sie, mit dem Schüler über seine persönlichen Ziele in Bezug auf das Ende des Schuljahres zu sprechen und darüber, wie er diese erreichen könne. Oft sei es hilfreich, dem Schüler einen konkreten zeitlichen Plan zu vermitteln, der ihm helfe, die Ziele zu erreichen. Auch mit den Eltern spreche sie eher dann, wenn es Probleme gäbe. In solchen Gesprächen erfahre sie mehr über den Schüler im Allgemeinen, z. B. ob er in anderen Fächern gut sei. Sie habe gelernt, ihre Ansprüche zu relativieren. Wenn z. B. ein Schüler ein guter Mathematiker sei und Schwierigkeiten in Französisch hätte, so „erwarte sie von ihm schon mal etwas weniger“. „CP: Was ich denke, sollte man mit jedem Schüler ein work in progress machen können. Äh, sin’ das gleiche, aber dreihundert Schüler oder hundertfünfzig, geht es nicht. Aber das wär’ was. Das wäre absolut richtig. Das wäre … Man sollte eigentlich, hab’ ich mich schon mal überlegt, ob man immer wieder einmal alle zwei Monate wenigstens, wenn man nicht die Leute holen würde eine Stunde […] und sagen: ‚Das machst du falsch.‘ oder da, da helfen und sagen: ‚Das machst du so rum. Es sollte anders funktionieren.‘ Weil auch selbst da zu verlangen, dass der Schüler überall guckt und selbst…, selbstständiger wird, kann man verlangen, aber auch alleine kann man ihn nicht lassen, ne. Also wenigstens in der Schule. Also die Zeit ist ein Problem. CW: Ja. Wie wichtig ist Ihnen Binnendifferenzierung im Unterricht? CP: Ja, auch sehr wichtig. Das ist auch utopisch. CW: Wie realisieren Sie das? CP: Ich? CW: Ja. <?page no="351"?> 352 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ CP: Ich gebe verschiedene, verschiedene Aufgaben, mehr, schwieriger. Die sollen sich … CW: Während des Unterrichts? CP: Ja, die sollen sich was aussuchen, wenn es geht. Immer natürlich die Struktur alle, für alle gleich und dann, wo es sich eignet, was einfacher, was Schwierigeres, was auch in der Oberstufe, Artikel, schwierigere Sachen, weniger schwieriger. […] Muss man ihnen ein bisschen mehr Freiheit geben. Hm, ja. Und dann es gibt immer welche, die sagen: ‚Ich möchte noch des und des machen.‘ […] CW: Sprechen Sie auch mit den Eltern oder Kollegen über die Schüler? CP: Ja. Ja. Manchmal will ich einfach nur verstehen, ob der Schüler … Natürlich spricht man eher, wenn, wenn es Probleme mit ihm gibt. Ich will verstehen, ob der Schüler das Fach nicht versteht, nicht mag oder, oder vielleicht, und vielleicht hat er seine Stärke woanders. Dann relativier’ ich das Ganze, weil ich sag: ‚Okay.‘ Ich meine, ich war auch kein Mathetyp, mir hat’s nicht gefallen. Dann toleriere ich, irgendwie auch, dass es so ein bisschen läuft. Und wenn’s e’n bisschen überall schlecht läuft, das ist eine andere Sache, ne. Also, ich hab’ gelernt, e’n bisschen zu relativieren auch, die Ansprüche. Und für einen, der vielleicht Mathe mag, also Mathematik oder in solchen, ähm, Fächer begabt ist, dann erwart’ ich schon mal ein bisschen weniger. Wo ich weiß, er kann in diesem Fach nicht so viel wie woanders. Na gut, dann denk’ ich: ‚Okay. Dann wird es ein guter Mathematiker.‘ Ja, man kann nicht das Gleiche verlangen. Aber also, ich denke, es ist e’n bisschen wichtig zu wissen, ja, wie der Schüler steht […]. CW: Haben Sie da Erfahrungen gemacht, wann dieses Einzelgespräch besonders …, also wann’s Erfolg hat? Ob oder ob’s Erfolg hat? Ob der Schüler danach sich ändert? CP: Ja, danach funktioniert’s besser. […] Ja, ja, doch. Man muss aber wirklich davon wegkommen von der klassischen Lehrerrolle und sagen: ‚Was sind, was sind eigentlich deine Ziele hier? ‘ Also, ich versuche, die Sache auf ihn zu, also wie, wie, wie das Fokus auf ihn zu bringen […]: ‚Ja, was willst du denn hier haben am Ende des Jahres? Wie bist du zufrieden? ‘ Je nachdem wenn einer, je nachdem wie der Horizont ist, was, was er erwartet, wie ich, wie ich verstehe, was er erwartet, dann versuch’ ich ihn zu lenken und sag’: ‚Ja okay, wenn du das haben möchtest am Ende des Jahres …‘ Also, geb’ ich ein paar Tipps, mach’ das und jenes et cetera. Aber ich versuche, ihm bewusst zu machen, dass er da sitzt wegen ihm alleine. Also keine …, also, ich ver…, zwinge niemanden, insofern … Ich versuche a) immer ein Ziel klar zu machen. Also, ich versuche über das Ziel zu reden, sein persönliches Ziel. Es gibt Schüler, die sagen: ‚Ich bin mit einer drei zufrieden. Ich kann nicht besser. Ich hab’ auch keine Lust.‘ Akzeptiere ich auch. Und je nachdem was das Ziel ist, ich versuche ihm zu sagen, ja, oder zu helfen, wie er das Ziel erreichen könnte. Und auch so die Arbeit ein bisschen so atomisiert sehen. Die sehen einfach, die sehen gar nichts. Die sehen Nebel, die haben keinen Plan. […] Also, so ein bisschen so auch ein Schema zu vermitteln. Konkreter. […] Oder auch von der Zeit her haben sie keinen Plan. Und das funktioniert in der Regel.“ (CP, I, 1/ ’08) <?page no="352"?> 5.2 Analyse des Interviews 353 b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung Bei der Lehrerfortbildung hat CP unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die Lehrkräfte hätten bereits theoretische Kenntnisse, deshalb würden theoretische Vorträge ohne konkreten Bezug zum Schulalltag nichts weiter nützen. Als Beispiel nennt sie hier einen Vortrag zum „Konstanzer Modell“, der das Thema „Konflikte verwalten“ behandelte („viel Theorie und viel Utopie dahinter“). Gut findet sie Vorträge, die sich konkret auf den Unterricht beziehen und insbesondere Material anbieten, das zur Schüleraktivierung eingesetzt werden könne. Solche Fortbildungen könne sie sich auch zum Thema „LA“ vorstellen („Warum nicht? “). Hinsichtlich der Referendarausbildung hätte sie den Eindruck, dass die Referendare bereits eine eher konkrete Ausbildung durchlaufen würden: „Ich glaube, die machen’s eher konkret.“ Als Lehrerin arbeite sie gerne alleine, höre sich aber schon die Meinungen der Kollegen an (siehe oben). „CW: Machen Sie Fortbildungen und wie sind die Erfahrungen mit Lehrerfortbildungen? CP: Differenziert. CW: Ja. CP: Ich überlege, welche ich gemacht habe. (Pause) Ach, manche gut, manche weniger. (Pause) Ja, die meisten, die, die, die besten sind natürlich, wenn ’was, wenn ’was rübergebracht wird. Wenn was, was man lernt, was man auch konkret anwenden kann. Die, die theoretische, die, die lass’ ich jetzt zur Seite, weil die mir nicht, nicht weiter bringt. Da kann ich auch e’n Buch lesen, ja. […] Was ich wirklich gerne hätte, wär’ mehr Material, konkret. […] Material, unterrichtsbezogen, also konkret. CW: Zu welchem Aspekt? CP: Zum Beispiel, äh, Fach Englisch oder Fach Französisch, ein Buch, wie ich sagte vorhin, haben nicht schon Sachen drin, ein Repertoire an Sachen, wo der Schüler einfach … CW: Aktiver ist. CP: Aktiver ist, ja. Weil im Grunde die Theorie wissen wir alle, aber das muss man auch einsetzen, also durchsetzen. Die Theorie grob wissen wir alle Lehrer. Aber eher so irgendwas konkret, ja konkrete Themen, ja.“ (CP, I, 1/ ’08) Zu den Perspektiven für das Thema LA Für die Zukunft sieht CP eine zunehmende Notwendigkeit der Kooperation zwischen den Lehrkräften. Durch eine engere Zusammenarbeit könnten sie den komplexeren schulischen Anforderungen und auch der Person des Lerners besser gerecht werden. Sie nennt als Beispiel das Methodentraining, das übergreifend über die einzelnen Sprachen hinweg verfolgt werden könne: „Methodentraining wär’ ganz geeignet für alle Sprachen.“ <?page no="353"?> 354 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ „CP: Da muss man natürlich davon ausgehen, denke ich, dass, äh, die Leute, die Lehrer, die Lehrkräfte mehr zusammenarbeiten. Weil’s schwieriger wird, nicht schwieriger, sondern, ähm, kom…, ja, komplexer. Also, ich denk’ schon, dass, dass die Leute mehr zusammenkommen müssen. Nicht nur wegen einer Vergleichsarbeit. Überhaupt. Im Grunde wir unterrichten eine Person und nicht ein Fach. […] Und oft sieht eine Person, ein Lehrer eine Person, man sieht eine Facette und nicht den Rest drum herum.“ (CP, I, 1/ ’08) 5.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „LA“ Das zweite Gespräch findet etwa zwei Wochen nach dem ersten Interview statt und dauert eine Dreiviertelstunde. Zunächst schaut sich CP in Ruhe alle Kärtchen an und fragt, ob sie sie alle legen solle. Ich antworte, dass sie nur solche anordnen solle, die ihr wichtig seien. Daraufhin legt sie alle Kärtchen. Sie fängt mit den ihr wichtigsten an, nämlich solchen, „die über das Fach hinausgehen, die fachunabhängig sind, psychologisch.“ Sie sagt, das wären: „niemanden auslachen“, „sich trauen, Fehler zu machen“, „hören, was die Schüler zu sagen haben“, „an die Freiheit heranführen“, „Autonomie, Selbstständigkeit beibringen durch zum Beispiel Strukturenlernen und Methodentraining“. Sie widmet sich danach der Funktion der Lehrkraft, ihren Eigenschaften und dem, was sie im Unterricht machen sollte. Sie betont dabei die Eigenverantwortung der Lehrkraft. Sie alleine sei z. B. für die Kooperationen mit anderen Lehrkräften oder für ihre Fortbildungen zuständig. Sie solle in der Zielsprache sprechen, sich dabei immer wieder in Bezug auf die richtige Wortwahl kontrollieren und den Schülern Zeit lassen. Im zweiten Gespräch ordnet sie damit die Selbstkontrolle insbesondere der Lehrkraft zu. Dann betrachtet sie die Seite der Schüler und dabei vor allem, wie sie durch die Lehrkraft „vorbereitet“ werden sollten, was die Lehrkraft ihnen „vermitteln“ sollte. Am Anfang des Lernens stehe die Frage, warum man etwas lerne, z. B. um in Frankreich zurechtzukommen. Das müsse man „den Schülern klar machen“. Ebenso müsse die Lehrkraft ihnen die skills vermitteln, z. B. das Arbeiten mit mindmaps , das Vokabellernen, das Strukturieren nach Wortfeldern oder das Vergleichen mit anderen Sprachen. Mit dem eigenen Frontalunterricht fühlt sie sich bei der Betrachtung des fertig gelegten Strukturbildes nicht wohl. Es wäre besser, wenn sie „viel mehr und gut strukturiertes“ Material hätte und nicht so viel Zeit in die Materialerstellung investieren müsse. Sie bräuchte vor allem Materialien, mit denen sie schneller Gruppenaktivitäten arbeitsteilig organisieren könne, mit denen <?page no="354"?> 5.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 355 die Schüler in Gruppenarbeit zum Sprechen kämen, auch solche Materialien, die Redewendungen und Wortfelder bereitstellen würden. Auch bedauert sie, dass sie aufgrund fehlender Zeit, die Lernertypen nicht analysieren würde. Hier würden ebenfalls entsprechende Materialien benötigt, und zwar in Form von Testfragen. Entsprechend markiert sie die entsprechenden Begriffe im Strukturbild mit einem Minus. Ob das Ziel der LA erreicht werde, hänge letztendlich von der Lehrkraft ab. 5.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit „Ich versuche, den Schülern mehr Freiheit zu geben.“ Gut zweieinhalb Jahre später gibt CP eine Rückmeldung zu ihrer Einzelfalldarstellung: „Ich habe mir die Seiten durchgelesen und kann sagen, Sie haben alles richtig wiedergegeben.“ (CP, E, 9/ ’10) Sie schreibt, dass sie in der Zwischenzeit versuche, den Schülern mehr Freiheit zu geben, indem sie sie stärker zur Selbstkontrolle erziehe. „Ich versuche, den Schülern mehr Freiheit zu geben. Ich erziehe sie zur Selbstkontrolle, wenn dies möglich ist.“ (CP, E, 9/ ’10) Auf meine Fragen nach Begriffsbestimmungen antwortet sie wie folgt (siehe die vollständige Liste der zusätzlichen Fragen im Anhang): • Wie würden Sie den Begriff „Sprache“ definieren? „- Kommunikation, - Ausdruck einer Kultur“ (CP, E, 9/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „Sprachlernen“ definieren? „Das Lernen eines Systems. Daraus resultiert das Kennenlernen einer anderen Kultur und das Relativieren seiner eigenen.“ (CP, E, 9/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „LA“ definieren? „Der Lerner ist/ wird unabhängig, weil er sich Lernstrategien angeeignet hat. LA = das Resultat einer Strategie, die zum Ziel geführt hat.“ (CP, E, 9/ ’10) Die zusätzlichen Auskünfte zu den unveränderlichen persönlichen Daten wurden direkt in die obige Darstellung aufgenommen. <?page no="355"?> Fazit zur Einzelfalldarstellung von CP: Zur LA mit „Augen, Ohren, Nase und rotem Faden“ Interview, zweites Gespräch (mit Legen eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich CP und ihrem Verständnis von LA sowie deren Stellenwert und ihrer Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: LA bedeutet für CP eine schrittweise Unabhängigkeit beim Lernen, verbunden mit dem Wissen, wie man mit dieser Freiheit umgeht. Zu diesem Wissen gehören für sie zielgerichtete Lernstrategien. Im Hinblick auf das Sprachenlernen bedeutet dies für sie, zunehmend unabhängig zu kommunizieren, die andere Kultur kennenzulernen und die eigene zu relativieren. Die Schüler müssten durch die Lehrkraft auf die LA vorbereitet werden, indem sie von ihr zu selbstständigem Denken angeregt werden (Gebrauch von „Intuition, Intelligenz, Augen, Ohren und Nase“, z. B. im Rahmen des Schüleraustausches) und von ihr eine klare Struktur im Hinblick auf das zu Lernende erhalten („einen roten Faden“). Wichtig bei der Heranführung an die LA ist für sie außerdem die Vermittlung eines Methodentrainings. Es umfasse das Lernen von Vokabeln und Strukturen (Arbeit mit mindmaps und Strukturierung des Wortschatzes), sei außerdem sprachenvergleichend im Sinne von language awareness und berücksichtige sowohl die Fertigkeiten des Lesens (einschließlich einer Nichtverstehenstoleranz) als auch die des Schreibens. Bei der Selbstkontrolle achte sie darauf, dass ihre Schüler sich Zeit nehmen und einen Blick für Details entwickeln. Mit Lerntechniken komme man zum „Resultat“. Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist geprägt von dem Ziel, die Schüler zur LA zu führen. Dazu müsse die Lehrkraft mit ihren Schülern in einen Dialog treten, auch über Sinn und Zweck, bestimmte Dinge zu lernen. Außerdem müsse sie eine entsprechende angstfreie, zeitgebende Lernatmosphäre schaffen, die bestimmt ist von gegenseitigem Respekt und dem Mut, auch Fehler zu machen. Die Schüler sollten im Unterricht viel zum Sprechen kommen, hierfür benötige die Lehrkraft aber die Unterstützung durch entsprechende Materialien beziehungsweise durch das dem Unterricht zugrunde liegende Lehrwerk. LA hat für CP einen zentralen Stellenwert, weil LA die Schüler motiviere und zu effektivem Lernen beitrage. Die Erreichung des Ziels LA läge letztlich in der Verantwortung des Lehrenden, den sie in der Rolle eines Helfers und Vermittlers sieht. So holt sie sich immer wieder Rückmeldungen von Seiten der Schüler und nimmt sich Zeit für Einzelgespräche mit ihnen, um über ihr persönliches Lernziel zu sprechen. 356 5 Caterina Pecorari (CP): „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ <?page no="356"?> 5.4 Kommunikative Validierung der Einzelfalldarstellung und Fazit 357 Im Hinblick auf ihren eigenen Unterricht sieht sie noch Verbesserungsbedarf: weniger Frontalunterricht, Optimierung von Selbstkontrolle, Einsatz von Lerntypentests, regelmäßige individuelle Beratungsgespräche mit allen Schülern und die Vermittlung von überzeugenden Gründen für das Erlernen der französischen Sprache. Die Rückmeldung zweieinhalb Jahre nach dem Interview lässt vermuten, dass sie in ihren Bemühungen, den Schülern mehr Freiheit zu geben, in der Zwischenzeit in Bezug auf die Selbstkontrolle weitergekommen ist. <?page no="358"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 359 6 Zwei Kurzdarstellungen Die Gespräche mit Gian-Carlo Boscolo und Véronique Elbert markieren hinsichtlich Alter und Unterrichtserfahrung die beiden Eckpunkte in Bezug auf die Spannbreite der interviewten Lehrkräfte. Die vierjährigen Erfahrungen eines 33 Jahre alten Lehrers stehen hier denen einer 53 Jahre alten Lehrerin mit 29 Jahren Berufserfahrung gegenüber. 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ GCB ist ein junger Lehrer, der sich zu dem Interview bereit erklärte, weil ihn das Thema der LA sehr interessiere: „Weil ich einfach das Thema sehr spannend find’.“ (GCB, I, 5/ ’08). Darüber hinaus erhofft er sich letztendlich ein Feedback über sich selbst als „Lehrerperson“. 6.1.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie GCB ist zum Zeitpunkt des Interviews 33 Jahre alt und unterrichtet seit vier Jahren Französisch, Englisch und Italienisch an einem naturwissenschaftlichsprachlich ausgerichteten Gymnasium in einer Kleinstadt mit ländlichem Einzugsgebiet. Seine Erfahrungen in Französisch beziehen sich auf die erste Fremdsprache, einsetzend ab der Klasse 5. Zum Zeitpunkt des Gesprächs unterrichtet er in Französisch eine Klasse 6, sein Unterrichtsschwerpunkt liegt jedoch in Englisch (Klassen 5 und 12) sowie in Italienisch (Klassen 8 und 9). An seiner Schule ist er Fachschaftssprecher für Italienisch. GCB ist zweisprachig deutsch-italienisch aufgewachsen, wobei er Deutsch als seine „Hauptsprache“ empfindet, da er in Deutschland aufgewachsen und dort auch zur Schule gegangen ist. Englisch war für ihn die 1. Fremdsprache ab Klasse 5, danach lernte er Latein ab Klasse 7 und Französisch „intensiv“ mit sechs Wochenstunden ab Klasse 9. Die Erinnerungen an das Erlernen der französischen Sprache sind noch sehr lebendig, es sei anstrengend, aber äußerst positiv gewesen. Er habe bei einer hohen Wochenstundenzahl in einer kleinen Lerngruppe mit nur elf Mitschülern am Anfang und sieben Mitschülern am Ende („Das war wie Privatunterricht.“) und einem Lehrer, der „sehr viel gepowert, sehr viel gefordert“ habe, sehr schnell Französisch <?page no="359"?> 360 6 Zwei Kurzdarstellungen erlernen können. Der Lehrer habe mit ihnen Dialoge geschrieben und szenisches Spiel geübt. Darüber hinaus sei das Lehrwerk sehr ansprechend gewesen aufgrund von Themen und Figuren, mit denen sich Fünfzehn- und Sechzehnjährige gut identifizieren konnten. Da das Gymnasium neusprachlich ausgerichtet und in Grenznähe gewesen sei, sei man öfters in Straßburg gewesen und habe Französisch „sehr praxisnah“, z. B. in Ausstellungen, erleben können. Schließlich hätte man mit einem Partnerlycée im Elsass an einem bilingualen Projekt in Chemie teilgenommen, gegenseitiger Austausch inbegriffen. Das sei nicht nur für ihn, sondern für die ganze Lerngruppe hoch motivierend gewesen, so dass eine Reihe von seinen Mitschülern ebenfalls Französisch als Leistungskurs gewählt habe. Vergleiche mit anderen Sprachen hätten „ständig“ stattgefunden. Sein Französischlehrer sei auch Lateinlehrer gewesen und der Vergleich zum Lateinischen habe im grammatikalischen Bereich sehr geholfen. In Bezug auf den Wortschatz hätte er auf das Italienische zurückgegriffen und beim Vokabellernen hätte er „die Muster, die er aus dem Englischen und Lateinischen erlernt hatte, weiter verwendet“. Fremdsprachenlehrer sei er geworden, weil er einerseits pädagogisch schon früh interessiert gewesen sei, mit sechzehn habe er sich bereits in der Jugendarbeit engagiert, und weil er andererseits Sprachen und Kulturen vermitteln wollte. „Diese Kulturen, die ich sich so in mir über die Jahre, die sich da, […] ja die ich verinnerlicht hatte, ja, also, das wollte ich einfach weitergeben“. (GCB, I, 5/ ’08) An der Schule, an der er unterrichtet, habe er auch sein Referendariat gemacht: „Das war super.“ 6.1.2 Analyse des Interviews Das Interview findet in einer offenen und freundlichen Atmosphäre statt, es dauert gut anderthalb Stunden. Die Fragen überraschen GCB nicht; sie seien für ihn gut nachvollziehbar gewesen, äußert er am Ende des Interviews. Er hätte mich als sehr neutral erlebt und sei in seinen Antworten nicht durch mich beeinflusst worden. Im Laufe des Interviews sei ihm jedoch bewusst geworden, dass er die Autonomie der Lerner in mehr Phasen fördern könne als bisher. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von GCB a) LA GCB versteht unter LA, dass die Lehrkraft ihre Schüler dahingehend fördere, dass sie zunehmend selbstständig ihre Lernprozesse reflektieren und verstehen, um dadurch als Lerner autonom zu werden. <?page no="360"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 361 „GCB: Ich hab’ den Begriff natürlich schon gehört. Aber letztlich denk’ ich auf…, würd’ ich einfach mal so auf das Wort ‚Autonomie’ mich festlegen. Ich denk’, für mich bedeutet es, dass ich die Schüler dahingehend, äh, erziehe, fördere, dass sie selbst Lernprozesse, äh, reflektieren und selbstständig auch verstehen, wie sie lernen können. Also, ihnen die Prozesse aufzeigen und dass sie das dann für sich zu Hause auch anwenden, um damit sie eben ‚autonom‘ werden in Anführungsstrichen.“ (GCB, I, 5/ ’08) Er fördere die Autonomie der Schüler, indem er im Unterricht Sprache oder Grammatik in Phasen reflektiere und „mit Synergieeffekten arbeite“. So würde er z. B. im Italienischen eine Grammatikregel über die Kenntnisse des Französischen herleiten oder bei der Vokabelabfrage gleich das englische und französische Wort mit abfragen. Der Vergleich mit anderen Sprachen würde beim Lernen helfen (die Kenntnisse über die andere Sprache seien dann spätestens in der nächsten Stunde abrufbar), müsse aber von ihm als Lehrer bewusst gefördert werden, da die Schüler, oft bis zum Ende der Mittelstufe, dazu neigen würden, eine Sprache „als ein geschlossenes System zu sehen“. Er glaube aber, dass er die Schüler dahingehend anleiten könne, dass sie den Vergleich zu anderen Sprachen letztendlich von sich aus herstellen würden. Die Reflexion über Sprache hätte auch positive Auswirkungen auf die kommunikativen Sprachhandlungen, „nicht automatisch von heute auf morgen“, aber zunehmend und mit höherem Alter: „Je bewusster ich mir eigentlich mache, was, wie diese Sprache funktioniert, umso mehr kann ich ja umsetzen.“ (GCB, I, 5/ ’08) Das Ganze sieht er als Prozess, ein Sechstklässler denke noch nicht so viel über seinen Sprechakt nach wie ein Oberstufenschüler. Weitere für ihn wichtige Prinzipien seien: • Sprachkorrektheit und „strenge“ Fehlerkorrektur („Da bin ich ein bisschen vielleicht altmodisch.“), • das „Stehen vor der Klasse“, insbesondere im Hinblick auf die Präsentation bei der Gleichwertigen Feststellung von Schülerarbeiten („dass die ihre Angst überwinden“), • das Rücksichtnehmen aufeinander (bei Fehlern den anderen nicht auslachen, sondern ihn korrigieren), • das Elterngespräch (die Eltern sollen Bescheid wissen für das „Fordern und Fördern zu Hause“), • das Schülergespräch über den individuellen Fortschritt: immer wieder, sowohl mit den guten als auch den schlechten Schülern. Oft fehle ihm aber hier die Zeit für Tipps zum Lernen, besonders in der Unterstufe. <?page no="361"?> 362 6 Zwei Kurzdarstellungen b) Sozialformen In der Unterstufe herrsche bei ihm Frontalunterricht vor, da er das Gefühl habe, noch viel steuern zu wollen. Gerne würde er auch Partnerarbeit einsetzen und, in kurzen Phasen zur Konzentration, auch die Einzelarbeit mit dem Cahier. Projektunterricht hätte er in der Unterstufe noch nie durchgeführt, in der Mittelstufe hätte er allerdings einmal ein kleines Theaterstück erarbeiten lassen. Hätte er mehr Vorbereitungszeit, so würde er gerne Lernplakate für das Klassenzimmer in Projektarbeit erarbeiten lassen. Er würde solche Projekte aber nur dann durchführen, wenn er sie auch entsprechend gut vorbereiten könne, dahingehend dass die Schüler eine Einsicht in den Sinn der Projektarbeit bekämen. Der Gruppenarbeit oder dem Stationenlernen stehe er mit Vorbehalt gegenüber. Das heiße nicht, dass er diese nicht praktiziere, denn beide Sozialformen seien vom Prinzip her gut angedacht. Sie seien aber oft sehr ineffektiv und würden nicht funktionieren, insbesondere bei „chaotischen“ oder großen Klassen und selbst in der Oberstufe. „GCB: Wenn ich mir die Oberstufe angucke und das so beobachte, dann frag’ ich mich manchmal wirklich, ob das das ist, ob das im Sinne des Erfinders ist. Weil ich das Gefühl habe, dass oft nicht so viel dabei ’rum kommt, wie eigentlich dabei ’rum kommen soll. […] Die Gruppenarbeit ist …, wird immer eigentlich höher gehängt, als sie tatsächlich ist. Also, es ist für mich nicht das Nonplusultra.“ (GCB, I, 5/ ’08) Zum Stationenlernen siehe auch unten. c) Aufgaben Die Hausarbeiten seien ihm sehr wichtig, da sei er „sehr konservativ aus seiner Schulzeit geprägt“. Die Aufgaben, passend zur Stunde und meist aus dem Buch, würde er kurz im Unterricht erklären und dann in der nächsten Stunde nachbesprechen. Vokabeln würde er in der Unterstufe mit dem Karteikasten lernen lassen. Das Prinzip bespräche er mit den Fünftklässlern im Unterricht, sie würden das System bereits aus der Grundschule kennen. Ab und zu würde er sich die Kästen dann in der Schule zeigen lassen. Er selbst bedauert, dass er in seiner eigenen Schulzeit erst recht spät, in der Oberstufe, mit dieser Technik vertraut gemacht worden wäre. „Das wär’ ein Prinzip gewesen, was ich mir als Schüler, wo ich mir als Schüler gewünscht hätte, dass ich das sehr früh gelernt hätte.“ (GCB, I, 5/ ’08) Aufgaben im Sinne von Aufgabenorientierung sind GCB bisher nicht bekannt. d) Materialien An der Auswahl von Inhalten und Materialien würde er die Schüler erst gegen Ende der Mittelstufe und Oberstufe beteiligen. In der Unterstufe würde beides <?page no="362"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 363 weitgehend vom Lehrwerk abhängen. „Weil wir da so ’n bisschen mehr oder weniger am, am Buch kleben.“ (GCB, I, 5/ ’08) Ganz am Ende des Interviews kommt er noch einmal auf diesen Punkt zurück. Da er noch am Anfang seiner Berufszeit stehe, könne er noch nicht auf so viel Erfahrung zurückblicken und müsse sehr viel Zeit in die Vorbereitung seines Unterrichts in der Oberstufe investieren. Das ließe ihm sehr wenig Zeit für den Anfangsunterricht. Hätte er mehr Zeit zur Vorbereitung, dann würde er gerne mehr Material für Freiarbeit und Stationenlernen auf die speziellen Bedürfnisse einer Klasse zusammenstellen und auch im Vorfeld „einmal selbst durcharbeiten, um zu sehen, wo Probleme auftauchen könnten“. Auch das Lehrwerk würde er dann im Vorfeld intensiver durcharbeiten, damit er im Unterricht seine Schüler individueller fördern könne. Mehr Zeit zur Vorbereitung würde auf jeden Fall bedeuten, die Schüler mehr in Richtung LA fördern zu können. e) Das Französischlehrwerk In den neueren Lehrwerken sieht GCB die LA durch Bilan -Teile und durch das Prinzip der Selbstevaluation berücksichtigt. Diese Teile würde er auch gerne im Unterricht bearbeiten lassen, um den Schülern die Gelegenheit zu geben, sich bei eventuellen Fragen an ihn als Lehrer zu wenden. Gut strukturierte und übersichtliche Grammatikteile würden die LA ebenfalls fördern, da die Schüler hier selbstständig nachschlagen könnten. f) Medien In Bezug auf Medien, die die LA fördern, nennt er den Software-Bereich und insbesondere die Software, die den Cahiers beigelegt sei. Hiermit würden sich die Schüler gerne zu Hause auf Klassenarbeiten vorbereiten. Allerdings habe er weder seine Schüler an die Arbeit mit elektronischen Medien herangeführt (obwohl er es eigentlich tun sollte), noch würde er sie in seinem Unterricht besprechen. Gerne würde er das Lernen mit Internet stärker in seinen Unterricht einbeziehen. Dazu würden ihm aber sowohl die Unterrichtszeit als auch die Vorbereitungszeit fehlen. g) Diagnose und Förderung Für GCB sind Sprachkorrektheit und Fehlerkorrektur sehr wichtig. Die Korrektur solle aber nicht immer nur von ihm ausgehen, er möchte nicht immer im Vordergrund sein. Deshalb setze er sich bei Schülerpräsentationen gerne „bewusst“ in die Schülerbank und lasse die Schüler agieren und korrigieren: „Um einfach so das, den Schülern das Gefühl zu geben, dass sie jetzt wirklich im Mittelpunkt sind und dass sie das nicht für mich machen, sondern dass sie das für uns als Gruppe machen.“ (GCB, I, 5/ ’08) <?page no="363"?> 364 6 Zwei Kurzdarstellungen Bei falscher Aussprache klopfe man kurz auf den Tisch, so dass sich der Lerner zunächst selbst korrigieren könne. Bei Diktaten würden sich die Schüler gegenseitig korrigieren. In der Oberstufe würden sie eigene Fehlerprotokolle anfertigen (nach Kategorien wie Grammatik, Vokabular, Sprache, Wiederholung, Satzzeichen et cetera), die sie versuchsweise in ihre nächste Klausur mitnehmen dürften. „Um einfach zu, mal zu beobachten, ob sie tatsächlich, aus den, aus dieser Reflexion heraus ’was gelernt haben und das in der nächsten Klausur auch anwenden.“ (GCB, I, 5/ ’08) h) Schüleraustausch GCB hält einen Schüleraustausch grundsätzlich für gut und förderlich. So hätten Austauschschüler aus Frankreich an seinem Französischunterricht teilgenommen, was sehr gut von den deutschen Schülern angenommen worden sei. Als Lehrer würde er aktiv den Austausch seiner Schule mit Italien begleiten, nicht mit Frankreich. Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner GCB denkt, dass das Erlernen von Fremdsprachen als ein allgemeines Konzept generell wichtig sei nach dem Motto: „Je mehr, desto besser.“ Jede Fremdsprache sei wichtig. Deshalb thematisiere er bei seinen Schülern auch nicht die Frage, warum es wichtig sei, speziell Französisch zu erlernen. Er glaubt, dass unter den Schülern an seiner Schule allgemein die Meinung vorherrsche, dass es nicht ausreiche, nur Englisch zu erlernen. Insbesondere sei es ihm wichtig, bei seinen Schülern die interkulturelle Kompetenz zu fördern, „damit sie sich in dem Land zurecht finden können“ und „verstehen, wie Kulturen funktionieren“. Weitere Kompetenzbereiche, auf die er Wert lege, seien das Schreiben und die Aussprache. Er hätte sich noch nicht näher damit auseinandergesetzt, ob Mädchen und Jungen unterschiedlich lernten, glaube aber, dass Mädchen Vokabeln genauer lernten und damit auch präziser in der Rechtschreibung wären. Binnendifferenzierung sei wichtig, würde aber nur funktionieren, wenn man sich vor dem Unterricht darüber Gedanken gemacht hätte. „In jeder Stunde klappe das nicht.“ Bei Gruppenarbeit würde er aber darauf achten, dass schwierigere Aufgaben an die stärkeren Schüler gingen. a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? GCB unterscheidet zwischen Lernern, die schneller, solchen, die langsamer begreifen, und solchen, die eher visuell oder eher haptisch orientiert seien. Er versuche, in seinem Unterricht alle diese Lernertypen anzusprechen. In der Oberstufe hätte er momentan zwei Parallelgruppen. Während die eine bei der Textarbeit eher einen Zugang über das Schreiben suche, würde die andere Grup- <?page no="364"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 365 pe lieber über den Text sprechen. Er passe sich dann der jeweiligen Lerngruppe an. Er selbst sei ein Lernertyp, der über das Schreiben gut lerne, und beobachte, dass er in seinem Unterricht entsprechend dazu tendiere, seine Schüler beim Lernen schreiben zu lassen. Analysetests zur Feststellung von Lernertypen in einer Klasse würde er keine durchführen. b) Lernerstrategien und Lerntechniken GCB verfolgt in seinem Unterricht das Prinzip des Vokabellernens mit dem Karteikasten (siehe oben), das die Schüler bereits aus der Grundschule kennen würden. Auf weitere Lerntechniken müsse er genauer eingehen und könne weniger auf die Erfahrungen mit Englisch in der Grundschule aufbauen. So sei ihm die Rechtschreibung ein wichtiges Anliegen. Hier würde er den Schülern den Tipp geben, die Buchstaben abzuzählen, um zu sehen, ob sie nichts vergessen hätten. Dabei sollten sie auch auf die Setzung der accents achten. Außerdem ermutige er die Schüler, „Dinge, die sie nicht verstanden haben“, auf Zettel zu schreiben. Sie könnten damit zu ihm kommen, um sie am Anfang einer Stunde, insbesondere vor Klassenarbeiten, besprechen zu können. Auch die Vorbereitung auf eine Klassenarbeit gehöre zu den Strategien, die er den Schülern vermitteln möchte. Hierzu würde er den Schülern im Vorfeld ein Arbeitsblatt geben, damit sie rechtzeitig (mindestens eine Woche vorher) mit der Arbeit anfingen. Auch ermuntere er die Schüler dazu, diese Vorbereitung zu zweit oder zu dritt vorzunehmen, um frühzeitig zu lernen, sich gegenseitig Sachverhalte zu erklären. Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers Als Lehrer sieht er sich in der Rolle eines Lernberaters und eines Klassenmanagers. Als Lernberater würde er den Schülern zur Seite stehen. Diese könnten ihn zu gegebener Zeit beim Lernen hinzuziehen; er möchte weniger als Autorität im Vordergrund stehen. Das sei auch sehr entspannend. Die Rolle des Notengebers würde allerdings oft im Konflikt zu dieser Rolle stehen. Außerdem sei der Unterricht in der Unterstufe noch lehrerzentrierter, da die Schüler „noch Handwerkzeug bräuchten, um zu lernen, selbstständig zu lernen“. Die Rolle des Klassenmanagers würde ihn zeitlich sehr stark fordern. Hierzu zähle er die Arbeit außerhalb der Unterrichtsstunden selbst, angefangen bei der Organisation von Aktivitäten, wie z. B. einem Schullandheimaufenthalt, bis hin zur Klärung von Problemen, wie „Reibereien in der Klasse“. Diese Aufgaben würden ihn zeitlich stärker belasten als der Unterricht selbst. <?page no="365"?> 366 6 Zwei Kurzdarstellungen b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung Die Zusammenarbeit im Kollegium, auch mit den Deutschkollegen, würde gut funktionieren. Man würde sich absprechen und auch Materialien tauschen. Die Atmosphäre im Kollegium sei geprägt durch Vertrauen und Offenheit, auch bei fachlichen Meinungsunterschieden. Das hänge maßgeblich mit dem Schulleiter zusammen, der den Zusammenhalt unter den Kollegen aufgrund seiner menschlichen Qualitäten fördere. Jeder Lehrende würde als individuelle Persönlichkeit gesehen und in seiner Identität angenommen. Mit den Grundschullehrern gäbe es zu Anfang des zweiten Halbjahres regelmäßige Kooperationsgespräche, an denen er selbst auch teilnehmen würde. Um als Lehrkraft die Autonomie der Schüler fördern zu können, bräuchte man „emotionale Intelligenz“. Man müsse den Lernenden als Individuum und Person erkennen, sehen, wo er stehe und wie er gefördert werden könne. Man bräuchte ein Auge für Menschen und Situationen. Das seien Kompetenzen, die man bereits ins Referendariat mitbringen sollte, denn sie seien dort schwerlich zu lernen. Eventuell könne man sich in diesem Punkt im Laufe der Jahre durch Erfahrung weiter entwickeln. Man könne auch an seiner Person und seinem Auftreten arbeiten, und zwar dahingehend, dass man offen vor die Klasse trete und auch seine Stimmführung modelliere. GCB nimmt an Fortbildungen durch das Ministerium und die Landesakademie teil. Mit dem Angebot sei er zufrieden. Auch mit den Seminaren seiner Referendare fühle er sich in gutem Austausch. Insbesondere sprechen ihn solche Fortbildungen an, die einen theoretischen Input mit Praxissimulationen verbinden. Inhaltlich sei er an der Erweiterung seiner eigenen Methodenvielfalt interessiert. Zu den Perspektiven für das Thema LA GCB glaubt, dass die Schüler inzwischen autonomer arbeiten als noch vor fünfzehn Jahren. Das liege z. B. daran, dass man mehr über Sprache im Unterricht rede. Auch die zunehmende Bedeutung von Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten oder Qualitätssicherung hätte einen positiven Effekt, weil die Schüler sich dadurch stärker selbst reflektieren müssten. 6.1.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „Mein Schulleben“ Das zweite Gespräch mit GCB dauert eine Dreiviertelstunde. Bei der Strukturbilderstellung unterscheidet er drei Bereiche seines „Schullebens“: „Fach und Klasse“, „Unterrichtswirklichkeit“ und „Lehrer“. <?page no="366"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 367 GCB beginnt das Gespräch mit dem Aspekt, dass er die Schüler fördern möchte, damit sie ihre Lernprozesse reflektieren und anwenden können. Dies gehöre für ihn wesentlich zum Bereich „Fach und Klasse“. Und er beendet auch das Gespräch mit diesem Bereich. „Fach und Klasse“ und das sprachenübergreifende Arbeiten seien ein „zentraler Grundgedanke“, der ihn „als Person ausmache“: „GCB: Es [das Strukturbild] bestätigt so das, wie ich, wie ich wirklich Sch…, mein Schulleben so empfinde, glaube ich. Also, dass es wirklich so, dass erst mal diese, diese Klasse und dieses, äh, Sprachenübergreifend-arbeiten-zu-Wollen, dass das schon erst mal so, so ’n Grundgedanke von mir ist, der wirklich so zentral, ähm, so, der mich als Person ausmacht. Dann kommt eben das tatsächliche Unterrichten, was tatsächlich im Unterricht passiert, was einfach hier zur, ja zur Klasse und zu diesem Bewusstsein gehört. Und dann gibt’s eben diese andere Seite. Also, ich bin als Lehrer in einer, also mit anderen Kollegen in dem Team eingebettet und so weiter. Also, da gibt’s dann diese …, ich als Lehrerperson, abgesehen, also gesondert, von dem, wie ich in der Klasse bin, sondern ja auch dieses eben, was ich brauche. Also, emotionale Intelligenz ist mir einfach wichtig. Oder ich glaub’, dass das wichtig ist. Ja.“ (GCB, SL, 6/ ’08) Fach und Klasse würden eng zusammen gehören. Wenn eine Klasse „funktioniere“, „sozial fit und kompetent“ sei, dann könne er auch inhaltlich gut arbeiten. Deshalb sei es ihm wichtig, dass die Klasse als Gemeinschaft funktioniere, dass die einzelnen aufeinander Rücksicht nähmen. Das stehe bei ihm im Mittelpunkt. Auch eine gute Kommunikation mit den Schülern und Eltern sei ihm ein Anliegen; mit ihnen möchte er im Dialog stehen. Darüber hinaus möchte er die Schüler zum Sprachenlernen motivieren, egal um welche Sprache es sich handele, und im Sinne von Sprachbewusstsein möchte er sie dazu anregen, Sprache und Grammatik zu reflektieren und Kenntnisse aus anderen Sprachen heranzuziehen. Ein weiteres Ziel neben der Förderung des Sprachbewusstseins sei ihm die Förderung der interkulturellen Kompetenz. In der „Unterrichtswirklichkeit“ unterscheidet er einerseits den Aspekt der „LA“ und andererseits den „vom Lehrer gesteuerten Unterricht“. Dabei gehören für ihn zur LA Aspekte wie: Fehlerprotokolle, Selbst- und Fremdevaluation, das individuelle Lernen mit dem Vokabelkasten oder mit Software und das gemeinschaftliche Lernen mit Mitschülern. Die Portfolio-Arbeit fände hauptsächlich in der Unterstufe statt. Während die Selbstevaluation für ihn wichtig sei, würde er nur punktuell Sammlungen von eigenen Arbeiten anregen, da inzwischen solche in jedem Fach angelegt würden und mit der Zeit als anstrengend empfunden würden. Im Bereich des durch die Lehrkraft gelenkten Unterrichts hebt er die Arbeit mit dem Buch hervor (es gäbe „wenig Zeit, um freie Dinge zu machen“) und die Arbeit an den Strukturen. Das sei eine „Macke“ von ihm, er würde selbst <?page no="367"?> 368 6 Zwei Kurzdarstellungen sehr gerne mit Strukturen arbeiten. Partnerarbeit gehöre zu beiden Bereichen und in jedem Falle seien die Hausaufgaben „das Ziel der Stunde“. Der Aspekt „Lehrer“ im Strukturbild betrifft ihn als Person außerhalb des Klassenunterrichts. Hier spiele das Lehrerteam eine wichtige Rolle. Er selbst sei Lernberater, wenn er die Schüler fördern möchte, vor allem aber Klassenmanager. Grundsätzlich brauche eine Lehrkraft emotionale Intelligenz und Zeit für die Bedürfnisse ihrer Schüler. Als Junglehrer sei er bei außerschulischen Aktivitäten, wie der Organisation eines Schullandheimaufenthaltes, zeitlich besonders stark gefordert; ältere Kollegen würden sich hier gerne „ausklinken“: „Will ich nicht mehr machen.“ - „Hab’ ich schon alles gemacht.“ - „Macht ihr mal.“ Solche „äußeren Faktoren“, die nicht seinen tatsächlichen Unterricht beträfen, würden sein Schulleben stark prägen. Schulleben und Privatleben gingen für ihn als Junglehrer noch stark ineinander über. Er hoffe, dass er diese Bereiche in Zukunft besser trennen könne. Als weniger wichtig legt er schließlich die Begriffe: „Lernplakate erstellen“ und „Buchstaben abzählen“ zur Seite. Mit dem erstellten Strukturbild ist er letztendlich sehr zufrieden (siehe oben). 6.1.4 Kommunikative Validierung der Kurzdarstellung und Fazit „Ich habe gelernt, den Schülern noch mehr ‚Autonomie‘ zuzugestehen und mich mehr herauszunehmen.“ Die Validierung der Kurzdarstellung durch GCB erfolgt zwei Jahre nach dem Interview. Er schreibt, dass er in der Zwischenzeit gelernt habe, den Schülern noch mehr Autonomie zuzugestehen und sich selbst stärker in der Rolle des Lernberaters sehe. Er genieße zunehmend sein Lehrerdasein. „Ich genieße mein Lehrerdasein immer mehr. […] Ich habe gelernt, den Schülern noch mehr ‚Autonomie‘ zuzugestehen und mich mehr herauszunehmen. Dabei spielt die Position des ‚Lernberaters‘ eine zentralere Rolle als vorher.“ (GCB, E, 4/ ’10 und 5/ ’10) Folgende Rückmeldungen erhielt ich auf meine Fragen nach Begriffsbestimmungen (siehe die vollständige Liste der zusätzlichen Fragen im Anhang): • Wie würden Sie den Begriff „Sprache“ definieren? „Den Begriff ‚Sprache‘ zu definieren, halte ich für sehr schwierig. Im Studium habe ich mal folgende Definition aufgeschnappt: ‚Sprache ist der unmittelbare Ausdruck seiner selbst.‘ Das stimmt sicherlich. <?page no="368"?> 6.1 Gian-Carlo Boscolo (GCB): „Die eigenen Lernprozesse reflektieren und verstehen.“ 369 Für die Vorstellung der 3. Fremdsprache an den Elternabenden lege ich immer eine Folie mit einem polnischen Sprichwort auf: ‚Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch.‘ Sprache ist für mich auch immer an Kultur geknüpft.“ (GCB, E, 5/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „Sprachlernen“ definieren? „Sprachenlernen bedeutet für mich, sich ein weiteres grammatikalisches, lexikalisches UND kulturelles System anzueignen.“ (GCB, E, 5/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „LA“ definieren? „Ich sehe LA als Konzept, bei dem der Schüler zu eigenverantwortlichem Lernen erzogen wird. Dies setzt voraus, dass der Lehrer Methoden zum ‚autonomen Lernen‘ klar erläutert. Der Prozess muss dennoch von Lehrerseite ‚überwacht‘ werden, um einen Lernerfolg zu garantieren.“ (GCB, E, 5/ ’10) In Bezug auf seine Einzelfalldarstellung äußert GCB keine Einwände. Fazit zur Kurzdarstellung von GCB: Zur LA mit „Handwerkszeug“ Interview, zweites Gespräch (mit Legung eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich GCB und seines Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und seiner Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: LA bedeutet für GCB ein Konzept, bei dem der Lerner zunehmend zu eigenverantwortlichem Lernen erzogen wird, dahingehend dass er seine Lernprozesse immer stärker selbstständig reflektiert, versteht und anwendet. Das heißt, er eignet sich beim Sprachenlernen ein weiteres grammatikalisches, lexikalisches und kulturelles System zunehmend autonom an, allerdings mit Überwachung des Lernprozesses durch die Lehrkraft. Die Hinführung zur LA erfolgt für GCB schrittweise über die Reflexion von Sprache und Grammatik sowie über die klare Vermittlung von Methoden, „Handwerkszeug“ zum autonomen Lernen. Dazu gehöre die Arbeit mit Fehlerprotokollen sowie die Selbst- und Fremdevaluation. Neben dem individuellen Lernen mit dem Vokabelkasten oder mit Software fördere auch das gemeinschaftliche Lernen mit Mitschülern die LA. Insbesondere würde auch die Nutzung von Synergieeffekten mit anderen Sprachen die LA befördern. Dieses sprachenübergreifende Arbeiten mit einer als Gemeinschaft gut funktionierenden Klasse ist ein zentraler Aspekt, der seinem Französischunterricht zugrunde liegt. GCB sagt, Prinzipien wie die Förderung des Sprachbewusstseins, der interkulturellen Kompetenz, des Schreibens und der Aussprache, <?page no="369"?> 370 6 Zwei Kurzdarstellungen 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ VE ist die einzige Interviewpartnerin, die mir im Vorfeld des Interviews persönlich bekannt ist. Dem Interview habe sie zugestimmt, weil ich sie gefragt hätte, sie mich kenne und weil sie außerdem das Thema wichtig und interessant finde. Sie würde sich an ihrer Schule ab der Klasse 5 dafür einsetzen, dass die Schüler im Sprachenlernen zur Selbstständigkeit geführt würden. 6.2.1 Persönliche Daten und Lehr-/ Lernbiografie VE ist zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt und unterrichtet seit 29 Jahren die Fächer Französisch, Spanisch, Gemeinschaftskunde, Geschichte und Ethik. Das Gymnasium, an dem sie unterrichtet, hat ein sprachlich-naturwissenschaftliches Profil und liegt in einer Kleinstadt mit städtischem Einzugsbereich. Ihre Unterrichtserfahrungen in Französisch beziehen sich auf die 1. Fremdsprache (ab Klasse 5), die 2. Fremdsprache (ab Klasse 6 bzw. 7) und die 3. Fremdsprache (ab Klasse 9). Zum Zeitpunkt des Interviews liegt ihr Unterrichtsschwerpunkt in der Unter- und Oberstufe, und zwar im Fach Französisch (Klassen 5, 6, 7 bzw. 12 und 13). An ihrer Schule ist sie Fachbereichsleiterin für Französisch, außerdem ist sie als Fachberaterin für das Regierungspräsidium tätig. Sprachkorrektheit, Fehlerkorrektur, Überwindung von Angst, gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfe sowie das Eltern- und Schülergespräch würden eine wichtige Rolle in seinem/ für seinen Unterricht spielen. In der Unterrichtswirklichkeit nähme neben der Förderung der LA auch der von der Lehrkraft gesteuerte Unterricht eine wichtige Rolle ein. Hierzu gehöre die Arbeit mit dem Buch und an den Strukturen. Ziel der Stunde sei für ihn prinzipiell die Einmündung in die Hausarbeit. Neuere Lehrwerke berücksichtigen nach GCB die LA durch Bilan -Teile, Selbstevaluation und gut strukturierte Grammatikteile zum selbstständigen Nachschlagen. Als Lehrer sieht er sich in der Rolle eines Lernberaters und Klassenmanagers, der über emotionale Intelligenz und Zeit für seine Schüler verfügen sollte. Er möchte seine Schüler zum Sprachenlernen motivieren. Faktoren wie die Rolle des Lehrenden als Notengeber, fehlende Zeit für die Unterrichtsvorbereitung und zu große oder „chaotische“ Lerngruppen wirken sich nach GCB negativ auf die Förderung der LA aus. <?page no="370"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 371 VE ist zweisprachig deutsch-französisch aufgewachsen, ihre Mutter ist Französin. Ihre 1. Fremdsprache war Latein, das sie wegen der Strukturen als „furchtbar“ empfunden hatte. Bei Englisch als 2. Fremdsprache könne sie sich wenig an den Anfangsunterricht erinnern. Ihre zweite Englischlehrerin ist ihr jedoch noch sehr präsent. Sie sei sehr streng gewesen, hätte viel verlangt und auch Schüler bestraft und bloß gestellt. Aus Angst heraus habe sie viel gelernt und selbstständig und systematisch nachgeholt. Sie hätte „unter diesem Druck unglaublich viel gelernt“, obwohl es ihr „einleuchte, dass man eigentlich mit Angst nicht lernen könne“. Französisch als 3. Fremdsprache habe sie wie ihre Mitschüler „richtig systematisch“ gelernt, obwohl sie die Sprache bereits sprechen konnte. Insgesamt habe sie gerne Fremdsprachen gelernt. Sowohl die Sprechphasen als auch die Grammatik („Ich bin ein analytischer Mensch.“) hätten ihr gefallen, weniger das viele Übersetzen. Querverbindungen hätte sie oft vom Französischen zum Englischen hin hergestellt. Der Hauptgrund, Französischlehrerin zu werden, war für sie die Sprache selbst, die sie gut beherrschte. Sie wollte „sie nicht verlieren und drin bleiben, sie anwenden“. Aufgrund der beruflichen Chancen entschied sie sich dann für den Lehrerberuf, pädagogische Aspekte spielten dabei zunächst keine Rolle. Ihre Rolle als Lehrerin habe sich im Laufe der Zeit verändert. Zum einen möchte sie das Fach vermitteln, die Schüler zum Sprechen bringen und sie „überlebensfähig machen in der Welt“. Ganz wichtig sei ihr auch der interkulturelle Ansatz, die Vermittlung von Land und Leuten. Im Laufe ihrer Entwicklung als Lehrerin sei noch ein außerfachlicher Bereich hinzugekommen, der immer mehr an Bedeutung gewinnen würde: Sie möchte den Schülern ein positives Vorbild sein, ihnen Halt in der Schule geben und sie dazu anregen, sich zu überwinden, etwas zu tun. Sie kooperiere mit ihren Fachkollegen an ihrem Gymnasium, indem sie gemeinsame Klassenarbeiten ausarbeiten würden. Das sei aber personenabhängig und würde nicht mit jedem Kollegen funktionieren. Darüber hinaus würde sie als Leiterin der Fachschaft Impulse ins Kollegium geben. Durch die Lehrerfortbildungen, die sie in ihrem Sprengel gebe, würde sie immer wieder Anregungen bekommen. Mit den Grundschullehrern würden Kooperationsgespräche stattfinden, allerdings weniger über das Fach Französisch selbst, da meist Englisch in der Grundschule angeboten würde. Der Austausch mit ihren Englischkollegen am Gymnasium war bislang eher punktuell. Seit sich die Schule aber im Jahr zuvor auf ein Fremdsprachenmodell geeinigt hätte (Französisch nur noch ab Klasse 5, parallel dazu Englisch) könne sie eine intensivere Kooperation mit den Englischlehrern derselben Klasse beobachten, und zwar in den Bereichen „Ler- <?page no="371"?> 372 6 Zwei Kurzdarstellungen nen mit dem Vokabelkasten“ und „Sprachenportfolio“. Auch mit den Deutschlehrern würde sie kooperieren. 6.2.2 Analyse des Interviews Das Interview mit VE dauert gut anderthalb Stunden und verläuft wie alle anderen in einer freundlichen Atmosphäre. Bei ihren Antworten kann sie nicht nur auf eine lange Unterrichtserfahrung zurückblicken, sondern auch auf Erkenntnisse, die sie im Laufe ihrer Tätigkeit als Fachberaterin gewonnen hat. Methodische Konzepte und weitere grundlegende Prinzipien und Verfahren im Unterricht von VE a) LA Für VE bedeutet LA, dass man den Schülern Mittel an die Hand gibt, selbstständig eine Sprache zu lernen und auch sich selbst zu evaluieren. Es sei eine „technische“ Hilfestellung zum Selberlernen. „VE: Das [LA] wäre für mich, äh, Schülern Mittel an die Hand zu geben, dass sie sich selbst, also mit der Zeit immer mehr selbstständig, äh, im Sprachenlernen voranbringen können. Auch, äh, Möglichkeiten der Selbstevaluation an sie ran zu bringen oder ja, einfach technische Hilfestellung zum, zum Selberlernen.“ (VE, I, 3/ ’08) Sie fördere die LA z. B. durch die Arbeit mit dem Vokabelkasten, durch die Beschäftigung mit Laut-Schrift-Zuordnungen und durch Lernstandserhebungen. Bei der Arbeit mit dem Vokabelkasten gehe es ihr um die Methode und die Wiederholung. Hier müsse sie die Schüler noch steuern und anregen, auch die Vokabeln aufzuschreiben. Bei der Zuordnung von Laut und Schrift möchte sie die Schüler befähigen, Wörter, die sie noch nicht kennen, richtig auszusprechen. Die Lernstandserhebungen entnehme sie meist aus dem Bereich des Sprachenportfolios. Hier sollen die Schüler erkennen: „Das kann ich schon. Da muss ich noch etwas machen.“ Und daraus würden sie einen plan d’action entwickeln. Das würde anfangs noch schwer fallen und formuliert werden im Sinne von: „Ich muss mehr lernen.“ An dieser Stelle müsse sie dann nachfragen: „Was hast du nicht gekonnt? Was musst du denn jetzt machen? “ Das müsse immer wieder geübt werden. Zunächst würden die Bögen in der Klasse oder zu Hause bearbeitet, später alleine, mit dem Partner oder in der Gruppe verglichen, wobei die Schüler Fragen stellen könnten. Das würde sie gerne vor den Klassenarbeiten machen. Nach den Klassenarbeiten würde sie die Fehler in Fehlerprotokollen kategorisieren lassen. (Siehe unten zur Selbstkontrolle und Selbstevaluation.) <?page no="372"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 373 Vergleiche zu anderen Sprachen würde sie immer da, wo es ginge, einbauen, sei es mit dem Deutschen, Englischen, Spanischen oder Italienischen. Das würde sich beim Vokabular (Semantisierung) und bei der Grammatik anbieten, vergleichend und auch kontrastierend. Die Schüler würden gerne in einzelnen Sprachenschubladen denken. Bisweilen gäbe es aber auch schon in der Klasse 5 Schüler, die die Vergleiche selbstständig zum Englischen leisten würden. Bei der Performanz helfe der Vergleich zu anderen Sprachen im Bereich des Verstehens und Kontrollierens. Im Bereich des freien Sprechens sei sie sich nicht so sicher, da das Vergleichen ja eine „verkopfte Form des Lernens“ sei und man beim Sprechen das Deutsche ausblenden sollte. Dieses „automatische Sprachensprechen“ könne nur durch ständiges Anwenden erreicht werden. „VE: Wir versuchen die ja von diesem Konstruieren natürlich wegzukriegen, gell. Wie die Lateiner da so die Wörter aneinander reihen. […] Hin zu, zu ’ner Sprachproduktion, die, die nicht immer über, über das Deutsche geht, sondern sich … (lacht) automatisch aus […]. Dadurch, dass sie es immer wieder anwenden.“ (VE, I, 3/ ’08) Sie versuche, das Deutsche in kommunikativen und sprachproduktiven Phasen auszublenden. Das erläutert sie auch noch einmal im zweiten Gespräch: Die Schüler sollten in diesen Phasen nicht vom deutschen Satz ausgehen, sondern direkt mit dem ihnen zur Verfügung stehenden französischen Sprachmaterial arbeiten. Das gelänge beim Schreiben nicht so richtig. Sie versuche dem entgegen zu wirken, indem sie z. B. weitgehend Französisch spreche, Redewendungen für die Textproduktion lernen lasse und auf deutsch-französische Sprachgleichungen bei Tests verzichte. Bei Worterklärungen bewege sie sich innerhalb des Französischen. Sie würde eine Reihe von Verfahren anwenden, um ihre Schüler im Unterricht zum Sprechen zu aktivieren. Dazu gehöre das Chorsprechen für die Artikulation bis hin zu den Formen des offenen Unterrichts wie Partnerarbeit, Gruppenarbeit oder das Präsentieren. Trotzdem würden bei einer Klassenstärke von dreißig Schülern, die einzelnen Lerner noch nicht genug zum Sprechen kommen. Ein ihr sehr wichtiges Unterrichtsprinzip sei die Kommunikationsorientierung. Die Schüler sollen sich gleichermaßen mündlich wie auch schriftlich in der Fremdsprache ausdrücken können, Letzteres im Hinblick auf das Abitur. Auch das Hörverstehen sei ihr ein Anliegen. Im Unterricht sei ihr das Mündliche wichtig, das Schriftliche würde sich für die Arbeit zu Hause anbieten. b) Sozialformen VE kann nicht sagen, ob in ihrem Unterricht eine bestimmte Sozialform vorherrsche. Je nachdem wie es passe, würde sie in Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit oder gerne auch in offenen Unterrichtsformen wie Kugellager oder Omniumkontakt arbeiten lassen. Punktuell würde sie mit ihren Schülern <?page no="373"?> 374 6 Zwei Kurzdarstellungen an Projekten arbeiten (z. B. Fremdsprachenwettbewerb oder Vorbereitung einer Studienfahrt); das würde aber nicht zu ihren Schwerpunkten gehören. Sie würde gerne ihren Unterricht öffnen, aber auch gerne steuern. Steuern würde sie ihn insbesondere bei neuen Elementen, bei der Grammatikvermittlung oder manchmal auch bei der Arbeit am Text. Dadurch dass sie die Struktur des Unterrichts vorgebe und auch über die Sozialformen entscheide, würde sie eigentlich meist grundsätzlich steuern. Selbst wenn die Schüler „Lernen durch Lehren“ praktizierten, sei dies ja durch sie vorgegeben. Im zweiten Gespräch geht sie noch auf den Zeitaspekt ein. Unter Zeitdruck würde sie eher lehrerzentriert arbeiten und bei mehr Zeit zu offeneren Formen greifen mit Selbstkontrolle und der Arbeit an eigenen Fehlern. c) Aufgaben Die Hausaufgaben seien ihr sehr wichtig. Hier würde sie insbesondere im Anfangsunterricht die Schüler in das Vokabellernen und -wiederholen einführen und ihnen Grundsätzliches vermitteln, wie z. B. bei der Hausarbeit die Fremdsprachen zu trennen oder Tages- und Wochenpläne zu schreiben. Die Hausaufgaben würden prinzipiell im Unterricht überprüft, manchmal anhand von einer Hausaufgabe, die auf Folie angefertigt wurde und dann im Unterricht gemeinsam korrigiert werde. d) Materialien In der Unter- und Mittelstufe, also in der Lehrbuchphase, beteiligt VE ihre Schüler an der Auswahl von Materialien nicht. Allerdings würde sie ihnen zeigen, wo sie im Internet Materialien zum eigenständigen Wiederholen von Grammatik und Wortschatz finden könnten. e) Das Französischlehrwerk In den neueren Lehrwerken sieht VE die LA dahingehend umgesetzt, dass sie auf Lern- und Arbeitstechniken, wie das Vokabellernen und das Wörtererschließen, eingingen und Methoden und Strategien vermitteln würden. f) Medien Zur Förderung der LA empfindet sie die elektronischen Medien als sehr hilfreich. Außerdem würde sie es befürworten, wenn die Schüler sich zu Hause die Hörtexte der Lektionen anhören könnten, um ihre Aussprache zu üben. g) Schülerseitige Selbstkontrolle und Selbstevaluation VE sagt, sie übe die Selbstkontrolle kleinschrittig ein, indem sie die Schüler ihre Ergebnisse mit den Lösungen vergleichen lasse. Das müsse immer wieder, auch in unterschiedlicher Form, geübt werden, insbesondere vor Klassenarbeiten. (Siehe oben.) Nach den Klassenarbeiten würde sie die Schüler ihre Fehler kate- <?page no="374"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 375 gorisieren lassen. Dabei müsse das Zuordnen und Verbessern geübt werden im Sinne von: entdecken, erkennen, daran arbeiten. Ziel sei es, dass die Schüler lernen, sich richtig einzuschätzen, und lernen, daraus die richtigen Schlussfolgerungen für das eigene Lernen zu ziehen. Gute Schüler könnten dies bereits in den Klassen 4 oder 5 leisten, die meisten ab den Klassen 7 oder 8, manche würden das nie schaffen. h) Schüleraustausch Am Austausch mit Frankreich könnten nicht alle interessierten deutschen Schüler teilnehmen, da von französischer Seite nicht genügend Austauschplätze angeboten würden. Ansonsten würden noch zusätzlich Fahrten nach Frankreich durchgeführt, z. B. um ein Museum zu besuchen. Wichtig sei es, dass die Schüler Land und Leute kennenlernen würden. Manche profitierten von einer solchen Begegnung in den Bereichen des Hörverstehens und des Wortschatzes. Auch würden sie ihre Scheu abbauen und lernen, flüssiger zu sprechen, „ohne ständig nachzudenken“. Die Sicht auf die Fremdsprachenlerner VE thematisiert die Bedeutung des Französischlernens kaum mit ihren Schülern der Unter- und Mittelstufe, da die Schüler ihrer Schule alle Französisch lernen müssten. Und lachend fügt sie hinzu, dass sie ja selbst „als die leibhaftige Begründung für das Fach“ vor ihren Schülern stehe, da „müsse sie sich auch nicht rechtfertigen“. Thematisieren würde sie die Bedeutung des Französischen erst am Ende der Mittelstufe im Rahmen der Informationen für die Oberstufe und die Kurswahl. Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen würde sie bei den jüngeren Schülern noch nicht sehen, bei beiden Geschlechtern gebe es „Chaoten“ oder „fleißige, saubere Arbeiter“. Mit zunehmendem Alter aber würden die Jungen im Vergleich zu den Mädchen „schlampiger“ werden. „Ich glaube, je später Französisch anfängt, umso mehr leiden die Jungs drunter.“ (VE, I, 3/ ’08) Wenn man die Grundlagen bei ihnen früh legen könne, dann würden sie davon profitieren, da sie am Anfang noch empfänglich seien. Später würden sie das Lernen als „uncool“ ansehen und würden schlechte Leistungen in Französisch mit einkalkulieren, dahingehend dass sich der Aufwand nicht lohne. Manchmal könne sie solche Jungen noch über die Arbeit mit dem Computer, mit Internetrecherchen, einem bestimmten Thema oder „aktivierenden Methoden“ interessieren. Binnendifferenzierung könne sie angesichts der großen Klassen nur ansatzweise realisieren. Meist bestünde sie darin, dass sie den guten Schülern zusätzliche Übungen oder Lektüren anbieten würde. Hier wäre es hilfreich, wenn sie die Klasse in unterschiedliche homogenere Lerngruppen aufteilen könnte und <?page no="375"?> 376 6 Zwei Kurzdarstellungen dann spezifische Materialien an der Hand hätte. Siehe hierzu auch ihre Ausführungen im zweiten Gespräch, unten. Beratungsgespräche würde sie meist nur in Extremfällen mit den Schülern, den Eltern oder auch einmal mit einem Kollegen führen. Die Schüler würde sie dann oft anhand der Fehlerprotokolle beraten. a) Wer ist welcher Lernertyp und hat welche Lernstile? VE identifiziert den „aufmerksamen, braven und sorgfältigen Lerner“, der seine Stärken im schriftlichen Bereich hat. Dann gebe es den „Hörtypen“, dem es leicht falle, sich etwas zu merken und der „ohne viel zu denken, sich verständlich macht, nachsprechen und anwenden kann“. Dieser würde sich beim Hörverstehen und im kommunikativ orientierten Unterricht leicht tun, hätte aber oft Schwierigkeiten im Schriftlichen. Als dritten Typ nennt sie den „Schnellversteher“, dem oft die Energie und Lust für die Vertiefung fehle und der „irgendwo stehen bleibt“. Immer wieder würde sie mit ihren Schülern kleinere Lerntypentests durchführen, damit der einzelne Lerner wisse, zu welchem Typ er tendenziell gehöre, und lerne, damit umzugehen. b) Lernerstrategien und Lerntechniken In ihrem Unterricht würde sie die verschiedenen Lernkanäle (z. B. den haptischen oder den visuellen) bedienen, damit jeder Lerntyp angesprochen werde. Das mehrkanalige Lernen würde sie auch thematisieren, z. B. dass das Illustrieren eine Merkhilfe sei. Sie gebe auch Merktipps für die Hausaufgaben oder für das Auswendiglernen (erst Reimwörter lernen, dann Zeile für Zeile, nicht immer wieder von vorne anfangen). Auch würde sie die Schüler über das häusliche Lernen im Unterricht berichten lassen, z. B. welche Eselsbrücken sie gefunden hätten. Manchmal müsse sie ihren Unterricht anpassen, wenn eine Lerngruppe von einem bestimmten Lerntyp stark geprägt sei. So hätte sie im Augenblick eine Klasse 5, die „nicht auditiv funktioniere“. Hier würde sie mehr schriftliche Angebote unterbreiten. Sehr wichtig sei es ihr, Lerntechniken im Bereich des Vokabellernens zu vermitteln: z. B. portionsweise, einteilend, wiederholend und sich selbst kontrollierend zu lernen. Sie erkläre den Schülern auch die Gründe dafür. Trotzdem würden viele Schüler nur zielgerichtet auf Tests hin arbeiten. Diese würde sie deshalb auf der Basis von Synonymen, Antonymen, Definitionen und Wortfeldern, also in der Sprache selbst, gestalten. So seien die Schüler gezwungen zu wiederholen. Im Rahmen der Gleichwertigen Feststellung von Schülerleistungen, in der sich die Schüler selbstständig mit einem Themengebiet auseinandersetzen und dann dieses präsentieren müssen, würde sie auch die methodische Kompetenz <?page no="376"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 377 der Präsentation mit ihren Schülern genau besprechen und ihnen transparent machen, was von ihnen erwartet werde. In der Mittelstufe würde man dann die Unterschiede zwischen den Schülern, die die Lernstrategien befolgen, und denen, die sie ignorieren, beobachten können. Hier würde „eine Schere aufgehen“. Es seien die guten und selbstständigen Schüler, die mit Lerntechniken arbeiten würden. „Diejenigen, die das verinnerlicht haben und nach diesen Systemen arbeiten, die Angebote des offenen Unterrichts annehmen, der Selbstkontrolle, der LA, die werden wirklich besser.“ (VE, I, 3/ ’08) Obwohl sie die Lerntechniken von allen Schülern einfordere, seien gerade die schlechten „resistent“ dagegen. Die Schule würde außerdem Methodentage anbieten; in der Unterstufe zu den Bereichen Hausaufgaben, Texte markieren und Texte lesen. Auch die Klassenlehrer würden in Zusatzstunden auf das Methodenlernen eingehen. Angebote seien also da. Die Sicht auf den Fremdsprachenlehrer VE denkt, dass ein Fremdsprachenlehrer zuhören können sollte und darüber hinaus über emotionales Einfühlungsvermögen, Flexibilität, und intellektuelle, fachliche und kommunikative Kompetenz verfügen sollte. Er müsse sich auf unterschiedliche Menschen und Situationen einstellen können. Das seien Qualifikationen, die auch die LA fördern würden. a) Die Rolle des Fremdsprachenlehrers Siehe hierzu oben. Bei der Kärtchenabfrage kommt VE abschließend noch darauf zu sprechen, dass sie einmal einen Seminarkurs über Lernprozess-Begleitung gemacht habe. Die Schüler hätten ihren Lernprozess in einem Tagebuch festgehalten und aus ihrer Selbstbeobachtung Rückschlüsse auf das eigene Lernen gezogen, z. B. dass sie mit einer Arbeit zu spät angefangen hätten. Das sei sicher für einige Schüler hilfreich gewesen, aber als Lehrkraft habe man in der täglichen Praxis nicht die Zeit, die Schüler auf diese Weise zu begleiten. b) Kooperationen und Lehrerausbildung und -fortbildung VE ist der Ansicht, dass die Ausbildung von Referendaren mehr auf den Schulalltag ausgerichtet sein sollte. Sie selbst sei immer für fachliche Weiterbildung (z. B. aktuelle Entwicklungen in Frankreich) und didaktische Weiterbildung offen, auch im Ausland und in Form von Hospitationen. Die Vorträge von Manfred Spitzer über das Lernen hätten sie sehr beeindruckt. Für ihre eigene Arbeit habe sie daraus Erkenntnisse über das Lernen gewonnen: früher Beginn, das Vorwissen aktivieren, ver- <?page no="377"?> 378 6 Zwei Kurzdarstellungen netzend und wiederholend lernen, viel üben, mehrere Lernkanäle ansprechen, angstfrei lernen. Das Gehirn wolle lernen; Lernen sei etwas Schönes. Es sei schade, dass solche Fortbildungen nicht mehr Lehrkräfte erreichen würden. Die Rahmenbedingungen für die Fortbildungen würden nicht mehr stimmen; die landesweiten und regionalen seien praktisch abgeschafft. Es gebe nur noch die schulnahen. Fortbildungen sollten wieder offener für die Kollegen angeboten werden, diese wären dafür dankbar. Sie hätte auch den Eindruck, dass ihre Kollegen Fortbildungen benötigten, insbesondere wenn es darum ginge, wie Lernen funktioniere, wie ein günstiges Umfeld für das Lernen geschaffen werden könne oder wie Kompetenzen in Tests abzuprüfen seien. Die Tests würden noch zu häufig aus Lückentests und Übersetzungen bestehen. Die Kompetenzen in den Bereichen des Hörverstehens, Leseverstehens und der Textproduktion würden noch nicht ausreichend abgeprüft. Außerdem ließen viele Lehrkräfte die Schüler im Unklaren darüber, was in den Hausaufgaben erwartet oder was in einem Test abgeprüft werde. Die Schüler könnten sich aber nur dann sinnvoll vorbereiten, wenn sie wüssten, was sie erwarte. „VE: Also das klassische Bild: ‚Was kommt dran? ‘ - ‚Alles.‘ - Wie prüfen Sie es ab? ‘ - ‚Das werdet ihr schon sehen.‘ Das, find’ ich, fördert LA nun ganz bestimmt nicht.“ (VE, I, 3/ ’08) Zu den Perspektiven für das Thema LA Niveaukonkretisierungen, Standards oder Diagnosearbeiten müssten sich nach VE positiv auf die Förderung der LA auswirken, da dadurch nicht nur das Wissen, sondern auch die Methodenkompetenz eingefordert würde und Vergleichbarkeit gegeben sei. Allerdings müssten die Kollegen ernsthaft darauf hinarbeiten und sie sei sich nicht sicher, ob die Standards und Vergleichsarbeiten an der Basis angekommen seien. Es sei bequemer, dem bisherigen Weg zu folgen, insbesondere wenn man wenig Zeit habe. Damit die Standards angenommen würden, müssten sie wahrscheinlich in Richtung Lehrpläne konkreter umformuliert werden. Mit den allgemeinen Kann-Formulierungen täten sich die Kollegen eher schwer. <?page no="378"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 379 6.2.3 Analyse des zweiten Gespräches zur Strukturbilderstellung: „LA - In der Sprache zurechtkommen“ Das Strukturbild von VE zeigt, dass die Förderung der LA das zentrale Ziel ist, das sie in ihrem Unterricht verfolgt. Damit einher gehen für sie, dass sie den Schülern helfen will, in der Sprache zurechtzukommen und mündlich zu kommunizieren. Ebenso möchte sie ihnen in diesem Zusammenhang die französische Kultur vermitteln. Das seien ihre Ziele, das stehe für sie selbst als Lehrerin: „Das ist das, was ich will.“ (VE, SL, 4/ ’08) Sie versuche durch verschiedene Vorgehensweisen, diese Ziele zu erreichen. „So geh’ ich vor, damit die [Schüler] das so machen können.“ Dabei seien ihr das Bedienen der verschiedenen Lernkanäle, die Hausaufgaben und das wiederholende Lernen besonders wichtig. Auch der Vergleich zwischen den Sprachen würde helfen. Binnendifferenzierung sei zentral, aber schwierig. Sie bräuchte mehr Angebote für die besseren Schüler, diese könnten sonst verloren gehen. Würden diese aber solche Angebote bekommen, würde die Schere zu den schlechteren noch weiter aufgehen. Sie versuche, die Stärkeren als Helfer (bei Korrekturphasen, als Experten) mit einzubinden oder ihnen auch zusätzliches Material einschließlich zusätzlicher Lektüren anzubieten und auf ihre weiterführenden Fragen einzugehen. Insgesamt habe sie aber das Gefühl, noch keine richtige Lösung für das Problem im eigentlichen Unterricht gefunden zu haben, der sich doch meist nur an den mittleren bis schlechten Schülern orientiere. Der Einsatz von offenen Unterrichtsformen hänge stark von der zur Verfügung stehenden Zeit ab. Offene Unterrichtsformen sollten immer dann zum Einsatz kommen, wenn die Kommunikation im Zentrum stünde, beim Sprechen, bei der Anwendung, dem Transfer, der Vertiefung, „womöglich auch noch mal in der Grammatik, wenn diese selbstständig angewendet wird“. Sie schätzt, dass sie in dreißig Prozent der Fälle aus Zeitgründen doch eher steuern würde. Auf dem Weg der Schüler zur Selbstständigkeit sieht sie insbesondere folgende Schüleraktivitäten („Das ist das, was die Schüler selber machen.“): die Lernstandserhebungen („Was kann ich schon! “), das selbstständige Üben, das Annehmen von Lerntechniken, das Lernen mit dem Vokabelkasten, die Selbstkontrolle, die Arbeit mit dem Fehlerprotokoll, die Selbstevaluation und die Arbeit mit dem Portfolio („Schüler-Biografie“). Sie erläutert, dass es insbesondere die besseren Schüler seien, die die Lerntechniken und die Angebote des offenen Unterrichts annähmen und dass dieses gerade von den schlechteren Schülern nicht geschehe. Dadurch würde sich die Leistungskluft noch erheblich verstärken. <?page no="379"?> 380 6 Zwei Kurzdarstellungen Um die Schüler zur LA zu führen, brauche die Lehrkraft allgemein und vor allen Dingen Einfühlungsvermögen. Damit einhergehend müsse sie positiv motivieren: „Das kannst du schon! “ Und abschließend beurteilt sie ihr Strukturbild: Es sei nicht so „hundert Prozent durchstrukturiert“, aber „sinngemäß hat’s ’ne Struktur“. Sie sei damit zufrieden und es hätte ihr erst klar gemacht, wie wichtig die Förderung der LA für sie eigentlich sei. „VE: Find’ ich ganz interessant. Also, das hat mir persönlich, äh, ja einfach mal klarer gemacht, wie, wie wichtig mir, mir dieses wirklich ist, dass die Schüler doch auch selbstständig lernen, mit den Dingen umzugehen. Und es war mir, glaub’ ich, gar nicht vorher ganz klar, dass mir das tatsächlich so, so sehr wichtig ist. Das lief bei mir bisher immer so, so ’n bisschen nebenher mit. Also wie die Kommunikationsorientierung, die Sachen, das wusst’ ich schon, das, äh. Aber das (lacht) , ja, das war irgendwie e’n neuer Aspekt und, äh, ja. Doch, ich fand’ das ganz interessant.“ (VE, SL, 4/ ’08) 6.2.4 Kommunikative Validierung der Kurzdarstellung und Fazit „LA wird durch Kürzungen der Stundentafeln, G8 und immer jüngere Schüler schwieriger.“ Die Validierung der Kurzdarstellung durch VE erfolgt gut zwei Jahre nach den ersten beiden Gesprächen (das erste Gespräch war durch das zügig erfolgte zweite Gespräch zeitnah validiert worden). VE ist mit ihrer Darstellung und dem Strukturbild einverstanden, im Hinblick auf die LA allerdings etwas „desillusioniert“. Kürzungen der Stundentafeln, G8 und immer jüngere Lerner würden die Umsetzung des Konzeptes der LA schwieriger machen. VE findet das Strukturbild treffend und sehr interessant und sich selbst in ihrer Darstellung durchaus wieder. Was die LA angeht, ist sie im Moment allerdings ein wenig desillusioniert. […] Im Prinzip ja [habe sie immer noch den gleichen Blick auf das Konzept der LA], „auch wenn ich den Eindruck habe, dass dies durch vor allem Kürzungen der Stundentafeln, G8 und immer jüngere Schüler schwieriger wird“. (VE, E, 5/ ’10) Folgende Antworten erhielt ich auf meine Fragen nach Begriffsbestimmungen (siehe die vollständige Liste der zusätzlichen Fragen im Anhang): • Wie würden Sie den Begriff „Sprache“ definieren? „Ein im Fall des Sprachenlernens vorwiegend verbales Mittel zur Kommunikation und Verständigung, bestehend aus Codes, Zeichensystemen (Saussure), Wortschatz, Grammatik, Interkulturellem, Schrift.“ (VE, E, 5/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „Sprachlernen“ definieren? <?page no="380"?> 6.2 Véronique Elbert (VE): „Technische Hilfestellung zum Selberlernen geben.“ 381 „Erwerb von Kompetenzen und Fähigkeiten, um Kommunikation zu ermöglichen, d. h. auch der Erwerb der o. g. Elemente.“ (VE, E, 5/ ’10) • Wie würden Sie den Begriff „LA“ definieren? „Der Lernende soll mittels Hilfestellung durch den Lehrer in die Lage versetzt werden, sich immer selbstständiger in der Fremdsprache zurechtzufinden und selbst seinen Sprachlernprozess zu gestalten und voranzubringen.“ (VE, E, 5/ ’10) Das Konzept der „Aufgabenorientierung“ stuft sie in der Theorie als förderlich für die LA ein, hat aber Bedenken in Bezug auf das Funktionieren in der Praxis: „VE: Theoretisch ja [hilft Aufgabenorientierung in Bezug auf die Förderung der LA], da (sinnvolle) tâches den Willen zum ‚Lösen der Aufgaben‘, d. h. das Sprachenlernen, sinnvoll machen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das in der Schulrealität wirklich funktioniert.“ (VE, E, 5/ ’10) Zur Förderung der LA setze sie außerhalb ihres Lehrwerks gerne Checklisten, auto-contrôles-/ „Das kann ich schon“-Bögen aus der Portfolio-Arbeit, Selbstevaluationsbögen und Tandembögen ein. Fazit zur Kurzdarstellung von VE: LA - „Die Schere“ Interview, zweites Gespräch (mit Legung eines Strukturbildes) und Evaluation lassen folgende zentrale Aspekte hinsichtlich VE und ihres Verständnisses von LA sowie deren Stellenwert und ihrer Sicht auf die Umsetzung im eigenen Französischunterricht erkennen: LA beim Erwerb einer Fremdsprache bedeutet für VE, dass die Schüler schrittweise lernen, selbstständig Kompetenzen und Fähigkeiten zur Kommunikation zu erwerben - wobei das mündliche Kommunizieren besonders wichtig ist für sie - und sich dabei selbst zu evaluieren. Die Lehrkraft gibt ihren Schülern zum Aufbau der Sprachlernkompetenz „technische“ Hilfsmittel an die Hand, die es ihnen ermöglichen, ihren eigenen Lernprozess zunehmend eigenständig zu gestalten und voranzubringen. Im Falle einer Fremdsprache eignen sich die Lernenden verbale Mittel, Interkulturelles und Schrift an. VE sagt, sie fördere LA über die Hinführung zu Lerntechniken (Arbeit mit dem Vokabelkasten, wiederholendes Lernen, Merktipps, Fremdsprachen beim Lernen trennen, mit Tages- und Wochenplänen arbeiten), über Laut- Schrift-Zuordnungen, über das Bedienen und Thematisieren der verschiedenen Lernkanäle, über Lernstandserhebungen mit dem Sprachenportfolio, über die Arbeit an den Fehlern und die schrittweise Befähigung zur Selbstkontrolle und Selbstevaluation. Der Vergleich mit anderen Sprachen fördere <?page no="381"?> das Verstehen und Kontrollieren, während das ständige Üben und Anwenden der Fremdsprache (bei Ausblenden des Deutschen) die Kompetenz des Sprechens erhöhe. Selbstständiges Üben, Hausaufgaben und wiederholendes Lernen seien ihr wichtig. Auch vermittele sie Präsentationstechniken. Der Schüleraustausch wirke sich positiv auf das Hörverstehen, den Wortschatz und das Sprechen aus. Die Förderung von LA ist der zentrale Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt. Das bedeutet für sie, dass sie den Schülern helfen will, in der Fremdsprache zurechtzukommen. Dabei liegen ihr die mündliche Kommunikation und die Vermittlung der Kultur besonders am Herzen. Sie beschreibt ihren Unterricht als kommunikationsorientiert und offen in Phasen, in denen sie das Sprechen aktivieren möchte, bei Anwendung, Transfer und Vertiefung. Dafür brauche sie als Lehrerin viel emotionales Einfühlungsvermögen und müsse ihre Schüler immer positiv motivieren: „Das kannst du schon! “ Sie sieht den Lehrenden als Helfer und Motivierer, der sowohl fachliche als auch persönliche Qualifikationen brauche. Auch sei die Transparenz gegenüber den Schülern hinsichtlich der Ziele von Hausaufgaben und Tests sehr wichtig. VE sagt, neuere Lehrwerke würden die LA durch Berücksichtigung von Lern- und Arbeitstechniken, Methoden und Strategien fördern. Außerdem seien elektronische Medien und Hörtexte förderlich, ebenso der Einsatz von Tandembögen. An der Schule gäbe es zudem Methodentage (Hausaufgaben, Texte markieren, Texte lesen) und Zusatzstunden zum Methodenlernen. Die Angebote zur Förderung von LA würden von den besseren Schülern eher angenommen, so dass die Schere zu den schlechteren Schülern noch stärker aufginge. Binnendifferenzierung sei allerdings eine Anforderung, für die sie in ihrem Unterricht noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden habe. Der Einsatz von offenen Unterrichtsformen hänge stark von der zur Verfügung stehenden Zeit ab, die durch Stundenplankürzungen und das G8 aber immer knapper werde. Auch werde die Förderung der LA durch immer jüngere Schüler zunehmend erschwert. 382 6 Zwei Kurzdarstellungen <?page no="382"?> Teil IV Die Einzelfalldarstellungen in der Zusammenschau Die sieben Einzelfalldarstellungen werden in diesem Teil zusammengeführt, um eine Übersicht über das Erfahrungswissen der befragten Lehrkräfte zur LA zu erhalten. <?page no="384"?> 1 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten LA beim Erlernen einer Fremdsprache wird in den Subjektiven Theorien der Befragten (vgl. im Folgenden Teil III, oben) zum einen als ein Erziehungskonzept des Unterrichtenden und zum anderen als ein Prozess beim Lerner dargestellt, bei dem der Lerner zunehmend lernt, sich eine Fremdsprache selbstständig und eigenverantwortlich anzueignen und sie selbstständig anzuwenden (vgl. MHL, TW, SR, AK, CP, GCB, VE). Die helfende Rolle der Lehrkraft wird dabei von der Mehrheit als wesentlich eingestuft: „Man muss ihnen die Freiheit beibringen.“ (CP, auch MHL, TW, AK, GCB, VE) Die Befragten sehen Sprache als „wichtigste Säule zwischenmenschlicher Beziehungen“ (MHL, auch GCB), als verbales Mittel zu Kommunikation und Verständigung (AK, CP, VE), bestimmt durch Codes, Zeichensysteme, Wortschatz, Grammatik und Schrift (VE), immer geknüpft an Kultur und Interkulturelles (AK, CP, GCB, VE). Lernen wird als „Speichern im Langzeitgedächtnis“ definiert (MHL), das initiiert wird durch das Wecken von Interesse (TW), durch ein entsprechendes Lernangebot (SR) und ein gutes Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler (SR). Der Lehrende sollte sicherstellen, dass seine Schüler die Sinnhaftigkeit des Lernens verstehen und das Lernen lernen (AK, auch TW und VE). Lernen sollte strukturiert und vernetzend ablaufen, konzentriert auf eine Sache, in kleinen Phasen, kontinuierlich und wiederholend, in der Gemeinschaft (TW). Lernen und LA werden von fast allen Befragten (außer SR) als Prozess verstanden. Die Schüler sollen ihre Lernprozesse zunehmend selbstständig reflektieren, verstehen und entsprechend umsetzen, dadurch werden sie als Lerner autonom (GCB). Schüler sollen lernen, ihre Lernprozesse selbst zu gestalten und voranzubringen und aus der Selbstevaluation die richtigen Schlussfolgerungen für das eigene Lernen zu ziehen (VE). Die Lehrkraft hat dabei eine entscheidende Helferfunktion, indem sie zum selbstständigen Denken anregt, mit den Schülern Methoden trainiert und den Prozess überwacht (MHL, TW, AK, CP, GCB, VE). Somit bedeutet für die Befragten das Erlernen einer Fremdsprache den Erwerb von Kompetenzen und Fähigkeiten zur Kommunikation (MHL, TW, CP, VE) und die Aneignung eines weiteren grammatikalischen, lexikalischen und kulturellen Systems (MHL, AK, CP, GCB, VE). Die Bereitschaft, sich auf eine neue Struktur und neue Kultur einzulassen und die eigene Kultur zu relativieren, ist dabei inbegriffen (AK, CP). Das Erlernen einer Fremdsprache erfolgt <?page no="385"?> 386 1 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten vor allem durch Hören und Sprechen (MHL, TW), Vokabeln und grammatische Phänomene müssen kontinuierlich geübt werden (MHL, TW). Die (individuelle) Aneignung von Methoden zum Selberlernen (AK, VE), zum Lernen von Vokabeln (MHL, TW, AK, CP) und Strukturen (CP), zum Lesen und Schreiben (CP, auch TW) werden als wichtig erachtet, ebenso der Vergleich mit anderen Sprachen (TW, GCB) und die Entwicklung einer Nichtverstehenstoleranz (TW). Der Prozess hin zur Autonomie eines Fremdsprachenlerners ist für die Interviewten damit vor allem gekennzeichnet durch: • das Lernen, eine positive Haltung zum Fremdsprachenlernen einzunehmen, sich auf Sprache und Kultur motiviert einzulassen und damit auch die eigene Kultur relativieren zu können (AK, CP), • das Lernen, Toleranz gegenüber sich selbst als Fremdsprachenlerner zu zeigen, eine Nichtverstehenstoleranz zu entwickeln und Fehlerängste abzubauen (TW, SR, AK, CP, GCB), • die Förderung eines kritischen Bewusstseins und die Erziehung zur Mitbestimmung (SR, CP), • das Lernen von Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, lernen, seine Probleme selbst zu lösen und damit verantwortlich umzugehen: eigenverantwortliches Lernen (TW, AK, CP, GCB), • den schrittweisen Erwerb von Kompetenzen und Fähigkeiten zur selbstständigen Kommunikation in der Fremdsprache, mündlich und schriftlich; grammatikalische, lexikalische und kulturelle Kenntnisse inbegriffen (MHL, TW, AK, CP, GCB, VE), • den Vergleich mit anderen Sprachen und language awareness (MHL, TW, CP, GCB, VE), • eine reiche Lernumgebung (AK), • das Lernen an Projekten, selbstständiges Lernen in der Gemeinschaft und im Sinnzusammenhang (TW), • das Lernen des Lernens: selbstständig und motiviert erarbeiten, vertiefen und üben, und zwar im Unterricht, zu Hause und im fremdsprachigen Ausland, in der Gemeinschaft (AK, auch TW und VE), • die Aneignung technischer Hilfsmittel, wie zielgerichteter und individueller Lernstrategien (MHL, TW, AK, CP, VE), • die Fähigkeit zur selbstständigen Kontrolle (MHL), • das Gestalten und Voranbringen des eigenen Sprachlernprozesses: erkennen, was man im Hinblick auf das Lösen von Problemen, bzw. hinsichtlich einer selbstständigen Kommunikation lernen muss, was einem dazu fehlt und welche Hilfe man sich bei der Lehrkraft holen muss (TW, SR, VE), <?page no="386"?> 1 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten 387 • die zunehmende Reflexion und das Verständnis der eigenen Lernprozesse mit entsprechender Anwendung (GCB), • das Lernen, sich im Hinblick auf seine Kompetenzen selbst zu evaluieren (VE), • die Hilfe durch die Lehrkraft, die hinführt und überwacht (MHL, TW, AK, CP, GCB, VE). Für die Entwicklung hin zur LA werden von den Befragten Bilder benutzt, wie das des „Weges“ (TW, AK) oder der interaktiven, spielerischen „Reise“ (AK), die den Prozesscharakter verdeutlichen. Dabei agiert der Lehrende als „Wegweiser“ (TW: „Ich sag‘ euch, wo der Weg ist, aber laufen tut bitte alleine, ich trag‘ euch nicht.“) oder als „Reisebegleitung“ bzw. „Leithammel“ (AK). Überwiegend wird die Lehrkraft als diejenige gesehen, die den Schülern einen „roten Faden“ (CP, auch TW) und „Handwerkszeug“ mit auf den Weg gibt (GCB, auch VE), also in ihrer Rolle als Helfer. Der Weg zur LA wird auch als ein Konzept mit zwei Seiten beschrieben. MHL benutzt im Hinblick auf das Unterrichtskonzept LA das Bild der „zweiseitigen Medaille“: „Mehr Selbstständigkeit und effektive Kontrolle sind so zwei Seiten derselben Medaille.“ Und VE bezieht sich auf die Schülerleistungen, wenn sie anmerkt, dass mit der Förderung von LA die „Schere“ zwischen guten und schlechten Schülern weiter aufgehe. Der Autonomisierungsprozess wird überdies als kleinschrittig wahrgenommen (MHL) und durchaus als schwierig. AK: „Es ist wie eine Hürde, über die man gerne drüber möchte.“ SR sieht in der LA ein kaum zu erreichendes Ziel, eine gedachte Größe: „Das wäre ja der Idealfall, dass die Schüler wirklich auf den Lehrer zukämen.“ Für sie stellt LA deshalb das „Ei des Kolumbus“ dar. <?page no="388"?> 2 Das Verständnis von LA aus der Sicht der Interviewten im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung Betrachtet man die Subjektiven Theorien über LA im Vergleich zum fachdidaktischen Diskurs über LA (siehe oben), so lässt sich Folgendes festhalten: Die Gesprächspartner betrachten LA vor allem als allgemeines Erziehungs- und Unterrichtsziel und als Prozess, der vom Lerner zu gestalten und von der Lehrkraft zu fördern ist. LA wird zum Teil auch als eine Fähigkeit, die der Lernende bereits mitbringt, gesehen (siehe z. B. AK oder CP, oben), allerdings kaum als didaktisch-methodischer Ansatz diskutiert. Ein Teil der Gesprächspartner hat sich bisher gar nicht oder nur sehr wenig mit fachdidaktischen Theorien im Allgemeinen (SR) oder fachdidaktischen Theorien zum Lernprozess (MHL, TW, SR), zum Sprachenlernen (SR), zum Aufbau von Sprachlernkompetenz (MHL, SR) und zur LA (SR, AK) beschäftigt. SR meint, sie sei als Französischlehrerin und Sprachlehrerin eigentlich gar nicht so geeignet, „weil, wenn es einem selber so leicht fällt, dann fehlt einem oft das Verständnis irgendwie für andere.“ Außerdem „beschäftige sie sich mit Theorie überhaupt gar nicht“. Bei ihren Ausführungen greifen die Befragten auf ihre eigenen Lernerfahrungen und Lehrbiografien, auf ihre Referendarausbildung, auf Fortbildungen und vor allem auf die Beobachtungen und Erfahrungen aus der eigenen Unterrichtspraxis zurück, bisweilen auch auf die Erfahrungen als Elternteil (siehe z. B. MHL, oben). Entsprechend werden in ihren Subjektiven Theorien dieselben Sachverhalte eher individuell beschrieben, unter Umständen auch in anderen Zusammenhängen erwähnt, in Bezug auf fachdidaktische Termini und Konzepte bestehen Unsicherheiten (siehe z. B. zum Begriff des „Lernprozesses“: MHL, TW oder SR). Hierzu meint z. B. AK (siehe auch oben): „AK: Ich hab’ ja jetzt erfahren, dass für mich LA ja sehr eingeschränkt nur gegolten hat. Und im Prinzip spielt es in viel mehr Bereiche rein, als ich mir das vorher vorgestellt hab’. […] Also, das Wort ‚LA‘ is’ ja Überbegriff. Und den verwend’ ich sicherlich nicht so oft, wie er jetzt verwendet wurde. Also ‚Eigenständigkeit‘, ‚Selbstständigkeit‘, ähm, ‚im geschützten Raum‘: solche Dinge hab’ ich viel öfters verwendet als das Wort ‚LA‘. Das selber war mir jetzt so gar kein am Herzen liegender Begriff. Manchmal hab’ ich so’s Gefühl (lacht) , das is’ so die neue Entwicklung, immer e’n neuen Begriff und Altes neu verpackt.“ (AK, SL, 4/ ’08) <?page no="389"?> 390 2 Das Verständnis von LA im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung Dieses Ergebnis korreliert mit dem Ergebnis der Studie von Martinez (2008) über zukünftige Lehrerinnen und Lehrer romanischer Sprachen (siehe hierzu z. B. auch Woods 1996 und Schocker-von Ditfurth 2001: 9): „Darüber hinaus fällt es auf, dass die Aussagen der Studierenden selten auf fachdidaktischem Wissen basieren. So werden z. B. selten fachdidaktische Termini gebraucht. […] Die Aussagen der (Lehramts-) Studierenden basieren meistens auf der subjektiven Analyse ihrer eigenen Lern- und Unterrichtspraxis, die es gilt, in Verbindung mit theoretischen und fachdidaktischen Ansätzen zu festigen bzw. zu erweitern oder zu revidieren. Diese Resultate korrelieren mit Ergebnissen in der Bildungsforschung, die zeigen, wie schwierig die Vermittlung von fachdidaktischem Wissen ist.“ (Martinez 2008: 288; m. R. Gabel 1997, Quetz 1998) GCB, dessen Referendarausbildung zum Zeitpunkt des Interviews erst kurz zurücklag, oder VE, die aktiv in der Lehrerfortbildung tätig ist, greifen in ihren Subjektiven Theorien hingegen bewusster auf neuere fachdidaktische Begriffe oder Konzepte zu. Diese unterschiedliche Ausgangslage der Interviewten galt es bei der Durchführung der Interviews durch Hinterfragen und bei der Analyse der Interviews durch Herausarbeiten und Zusammenstellen des Gemeinten zu berücksichtigen. Übereinstimmend mit der fachdidaktischen Diskussion (siehe oben) definieren die Interviewten in ihren Subjektiven Theorien LA als Fähigkeit des Lerners, die Verantwortung bzw. die Kontrolle für das eigene Fremdsprachenlernen und dessen Prozess zu übernehmen. Hinsichtlich der Kontrolle wird von ihnen allerdings die Fremdkontrolle durch die Lehrkraft und die Hinführung zur Selbstkontrolle durch die Lehrkraft beim Autonomisierungsprozess als wesentlich eingestuft (siehe z. B. MHL). In den Subjektiven Theorien der Interviewten wird damit die Begriffsbestimmung von LA um den wichtigen Aspekt der Hinführung und Kontrolle durch die Lehrkraft erweitert. Die psychologisch positive Beziehung des Lerners zu sich selbst als Lerner, zum Lerngegenstand und zum Lernprozess wird von den Befragten thematisiert (z. B. TW, AK, GCB und VE), ebenso der Aspekt eines individuellen und gleichzeitig interaktiven Prozesses (z. B. TW und GCB). Auch die Anknüpfung an vorhandenes Vorwissen, Sprachwissen und Sprachlernwissen, einschließlich einer Sprach(lern)bewusstheit spielen für die Interviewten eine Rolle (z. B. TW, AK, GCB und VE). Monitoring, Selbstevaluation und Reflexion werden wohl angesprochen (z. B. GCB, VE), bei der Selbstdiagnose herrscht allerdings die Befassung mit der Selbstkontrolle vor. Monitoring, Selbstevaluation und Reflexion spielen bei einer Reihe der Befragten keine Rolle bzw. werden nicht erwähnt oder nicht erfolgreich eingesetzt (z. B. MHL, SR, CP). <?page no="390"?> 2 Das Verständnis von LA im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung 391 LA als gedachte Größe, die nicht in Reinform existiert, wird lediglich von SR deutlich thematisiert. Die übrigen Befragten betrachten die Entwicklung zum autonomen Lerner als einen individuellen Prozess. Strategien, Kompetenzen bzw. Handlungsbereiche, die lernregulierend wirken, die Handlungen und Entscheidungen initiieren, den Lernprozess steuern und im sozialen Lernumfeld zum Zuge kommen (vgl. oben) werden von den Interviewten angesprochen (siehe z. B. TW, der diese Komponenten ohne Verwendung der Fachtermini beschreibt), wobei zielgerichtete konkrete Lerntechniken zum Vokabellernen und der Umgang mit Fehlern bei den meisten im Fokus stehen. Der individuelle Zugang zur LA (vgl. oben) wird von der Mehrheit der befragten Lehrkräfte gesehen (siehe z. B. MHL, AK und GCB), die dynamische interaktive Wechselbeziehung der Komponenten des Konstrukts LA wird ansatzweise thematisiert (siehe oben, z. B. TW zum Umgang mit Schulängsten oder SR im Hinblick auf Lernblockaden). Die Betrachtung von LA aus den oben genannten vier unterschiedlichen Perspektiven findet sich bei den Gesprächspartnern in individuellen Schwerpunktsetzungen wieder. MHL, GCB und VE nehmen vor allem eine psychologische, prozessorientierte Perspektive ein. „GCB: Ich hab’ den Begriff [LA] natürlich schon gehört. Aber letztlich denk’ ich auf…, würd’ ich einfach mal so auf das Wort ‚Autonomie‘ mich festlegen. Ich denk’, für mich bedeutet es, dass ich die Schüler dahingehend, äh, erziehe, fördere, dass sie selbst Lernprozesse, äh, reflektieren und selbstständig auch verstehen, wie sie lernen können. Also, ihnen die Prozesse aufzeigen und dass sie das dann für sich zu Hause auch anwenden, um damit sie eben ‚autonom‘ werden in Anführungsstrichen.“ (GCB, I, 5/ ’08, siehe oben) Die philosophisch, kritisch-politische Perspektive spielt bei SR und CP eine besondere Rolle. Während bei SR der Unterricht „aus der Klasse kommen muss“, betont CP die Förderung des eigenständigen Denkens und des kritischen Bewusstseins. „CP: […] Ja, dass, dass sie auch ihre eigene Idee bringen, je nachdem was man macht natürlich. Ähm, oft frag’ ich auch, ob sie, ob sie mir eine Rückmeldung geben können. Natürlich in einem Alter kann man nicht, also das, das wär’ unrealistisch, das wär’ relativ wär’ idealistisch zu denken, immer krieg’ ich eine Rückmeldung. Aber ich frage nach, ich bohre nach, aber immer wieder versuch’ ich das zu tun, ja weil anders rum funktioniert’s nicht. Hm, also bezüglich dem Stoff oder überhaupt. […] Ich hör’, was sie zu sagen …, ich versuche immer, immer mehr, sag’ ich mal, als am Anfang zu hören, was sie zu sagen haben. Natürlich muss man auch schauen, mit <?page no="391"?> welchen Klassen, mit welchen Personen. Es kann auch andersrum, äh, eine totale Zeitverlust sein, aber nicht unbedingt. Es gibt auch, die nehmen die Sache gar nicht ernst.“ (CP, I, 1/ ’08, siehe oben) AK ist eine reiche Lernumgebung und Materialfülle in Bezug auf die Förderung von LA ein Anliegen (technisch, situativ-strukturelle Perspektive): „AK: Zwei Bereiche. Im Unterricht selber, dass man den Schülern die Möglichkeit gibt, selbstständig das zu erarbeiten. Ähm, indem dass man dementsprechende Materialien mitbringt oder herstellt oder zur Verfügung stellt. Und der andere Bereich ist der häusliche, dass se selbstständig arbeiten. Ob se das jetzt nu’ mal in Form der Hausaufgabe machen oder in Form mit Computer, Softwareprogrammen oder spielerisch. Man könnte natürlich so weit gehen, dass man LA auch noch auf Sprachaufenthalte ausweitet und sagt: ‚Okay, da sind se ja ganz selbstständig.‘ Ne gewisse Selbstständigkeit ist das für mich.“ (AK, I, 4/ ’08, siehe oben) Und TW betont das Lernen in der Gemeinschaft und betrachtet LA vor allem aus einer sozio-interaktiven Perspektive. Dazu führt er aus: „TW: Worauf ich hinaus will, ist Projektarbeit. Nicht? Wir kommen zu Projekten und diese Projekte sind als Problem gestellt. Und die Schüler sollen sich den Weg erst mal selber suchen. Also, ich steh’ nicht da, ihr geht jetzt erst da, dann geht ihr da hin, dann geht ihr da hin, dann seid ihr fertig, sondern: ‚Überlegt mal. Macht das in Gruppen, macht das untereinander. Ich bin gerne bereit, Fragen zu stellen, ich zeig’ euch aber nicht den Weg.‘ Und das hat sich als…, das mach’ ich jetzt seit …, ja eigentlich schon immer so. […] die hatten e’n Problem und die mussten damit fertig werden. Und das gemeinsam. Und die Information, die sie brauchen, die kriegten sie von mir. Allerdings mussten sie danach fragen. […] Projektunterricht ist mein absolutes Ding, […].“ (TW, I, 11/ ’07, siehe oben) Checklisten mit Deskriptoren zur LA (vgl. oben) werden nicht explizit erwähnt. Angesichts der Fragen zur Förderung von LA (siehe z. B. SR, AK und CP) ist davon auszugehen, dass sie der Weiterentwicklung von LA auf Seiten der Lernenden bzw. der Förderung von LA durch die Unterrichtenden deutlich dienen könnten. TW kommentiert weitere Unterstützung zur LA wie folgt: „TW: Äh, selbstverständlich wenn es eine Möglichkeit gibt, mein Zutun zur LA der Schüler zu verbessern, ja gerne. Ich könnte aber jetzt nicht konkret sagen, was mir fehlt. Aber sollte es da ’was geben, von dem ich nichts weiß, her damit, immer gerne.“ (TW, I, 11/ ’07, siehe oben) 392 2 Das Verständnis von LA im Vergleich zur fachdidaktischen Forschung <?page no="392"?> 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten - Zentrale Grundgedanken und der Stellenwert von LA 3.1 LA - die zentrale Zielgröße im eigenen Unterricht Für TW, CP und VE ist die Förderung von LA der zentrale Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt. Dies wird VE allerdings erst durch ihr Strukturbild klar. „VE: Find’ ich ganz interessant [das Strukturbild]. Also, das hat mir persönlich, äh, ja einfach mal klarer gemacht, wie, wie wichtig mir, mir dieses wirklich ist, dass die Schüler doch auch selbstständig lernen, mit den Dingen umzugehen. Und es war mir, glaub’ ich, gar nicht vorher ganz klar, dass mir das tatsächlich so, so sehr wichtig ist.“ (VE, SL, 4/ ’08, siehe oben) VE möchte ihre Schüler vor allem lehren, in der Fremdsprache zurechtzukommen, sie möchte sie überlebensfähig machen. Kommunikationsorientierung, mündlich und schriftlich, sind ihr deshalb ein Anliegen. Dazu wolle sie ihren Schülern die Sprache und die Kultur vermitteln, ihr Hörverstehen und ihre Aussprache fördern, sie insbesondere zum Sprechen bringen in offenen Phasen (Sprechphasen haben ihr als französisch(mutter)sprachige Schülerin immer besonders gefallen). Sie beschreibt ihren Unterricht als offen in Phasen der Anwendung, des Transfers und der Vertiefung. Einsprachigkeit und ständiges Anwenden seien für die Entwicklung der Sprechkompetenz sehr wichtig. Allerdings bedauert sie, dass bei großen Klassen die Schüler nicht oft genug zum Sprechen kämen. Sie betont außerdem die Arbeit mit dem Vokabelkasten, die Beschäftigung mit Laut-Schrift-Zuordnungen, das Lernen von Redewendungen für die Textproduktion und Lernstandserhebungen anhand des Sprachenportfolios. Deutlich stellt sie auch die Rolle der Lehrkraft heraus: Sie brauche Einfühlungsvermögen und müsse positiv motivieren können. TW meint zum Konzept der LA: „Das spielt ’ne große Rolle. Ja. Ich versuch’s zumindestens.“ (TW, I, 11/ ’07) Dabei sei es ihm ein zentrales Anliegen, bei seinen Schülern die Liebe zum Land und zur Sprache, ihr Interesse zu wecken. Er möchte Spaß an der Sache vermitteln, Zusammenhänge aufzeigen, vergleichend arbeiten. Das angstfreie Sprechen sei ihm wichtig; für Präsentationsaufgaben gäbe er daher seinen Schülern genügend Vorbereitungszeit, in Diskussionspha- <?page no="393"?> 394 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten sen achte er nur auf das Verstehen, Fehlertoleranz sei ihm ein Grundsatz. Als Lehrer möchte er seine Schüler vor falschem Lernen bewahren. Kontinuierliche Vokabelarbeit (mit dem Vokabelkasten) und intensive Grammatikvermittlung seien dafür Grundvoraussetzungen, Aufgabenorientierung und die gemeinschaftliche Projektarbeit im Unterricht seien wesentlich. Die Förderung von LA beschreibt er mit: „Weg zeigen, Tür öffnen, selbst laufen lassen.“, und damit ganz im Sinne seiner eigenen Lernbiografie und Persönlichkeit als „Autodidakt“. CP gebraucht hinsichtlich der Förderung von LA das Bild des roten Fadens (einer Klarheit beim Lernen, die sie schon als Schülerin kennen- und wertschätzen lernte). Die Lehrkraft gibt ihren Schülern einen roten Faden, führt sie hin zu selbstständigem Denken, tritt mit ihnen in einen Dialog, auch darüber warum sie bestimmte Dinge lernen sollen, und holt Rückmeldungen von ihnen ein. „Also, ich versuche zuerst, die selber denken zu lassen, warum die Sachen so sind und nicht anders. Damit der Schüler von vorneherein versteht, dass er auch selber irgendwas erarbeiten kann. Und das wissen wir auch alle. Mit der Praxis sieht man auch, dass der Schüler letztendlich auch interessierter wirkt und wird, wenn, wenn er selber Sachen macht.“ (CP, I, 1/ ’08) Die Erzielung von LA hängt für sie wesentlich von der Lehrkraft ab, sie müsse durch sie vorbereitet werden, z. B. durch die Schaffung einer respektvollen, Mut machenden, Zeit gebenden Atmosphäre, durch den Abbau von Fehlerangst und durch Methodenlernen hinsichtlich des Vokabel- und Strukturenlernens. Wichtig ist ihr, dass die Lehrkraft ihre Schüler zum Sprechen bringt (hierzu benötige sie ein entsprechendes kleinschrittiges Lehrwerk), außerdem die Vermittlung der Fertigkeiten Lesen und Schreiben. Sie begründet den zentralen Stellenwert von LA in ihrem Unterricht damit, dass LA die Schüler motiviere und zu effektivem Lernen und besserer sprachlicher Performanz beitrage. Gleichzeitig sei sie sich bewusst, dass in ihrem eigenen Unterricht noch zu viel Frontalunterricht vorherrsche. Entsprechende Materialien könnten sie bei arbeitsteiliger Gruppenarbeit unterstützen. Die Unabhängigkeit beim Lernen, die sie in der LA sieht, findet sich auch in ihrer Lehrerpersönlichkeit wieder, wenn sie sagt, dass sie gerne „alleine“ arbeitet. Alle drei Interviewpartner erachten die Unterrichtsatmosphäre als wesentlich auf dem Weg zur LA. Sie sollte angstfrei und respektvoll, motivierend, Zeit und Mut gebend, kommunikationsorientiert, zum selbstständigen Denken anregend, offen und kommunikativ sein (auch mit offenen Arbeitsformen), Raum zum Sprechen geben. Lernziele, auch im Hinblick auf Hausaufgaben und Tests, müssten klar kommuniziert, transparent gemacht werden. Beim Erwerb von Kompetenzen und Fähigkeiten zur fremdsprachlichen Kommunikation werden von allen dreien das Lernen des Lernens von Vokabeln und Strukturen neben dem interkulturellen Lernen angesprochen. Alle <?page no="394"?> 3.1 LA - die zentrale Zielgröße im eigenen Unterricht 395 drei erachten die Vermittlung von Lerntechniken als wesentlich, dabei wird insbesondere die Arbeit mit dem Vokabelkasten erwähnt und die Hinführung zur Selbstkontrolle. Alle drei bewerten außerdem language awareness und den Vergleich mit anderen Sprachen als förderlich auf dem Weg zur LA. CP hebt hervor, dass dadurch Informationen klarer verarbeitet würden: „Ja, absolut. […] Ja, sie, sie haben eine Struktur im Kopf, eine… Dann lernen sie schneller und klarer. Das ist einfach klarer, bleibt, bleibt hängen in der Regel. Ja, sie, sie können eher die, die Informationen besser, besser, sagen wir mal so, rausholen.“ (CP, I, 1/ ’08, siehe oben) Für VE hilft der Vergleich mit anderen Sprachen insbesondere bei der Semantisierung und der Grammatikarbeit, und zwar in den Bereichen Verstehen und Kontrollieren. Sie betont aber auch, dass sie beim Sprechen das Deutsche gezielt ausblende, einsprachig bleibe, und dass sie den Schülern den Rat gäbe, beim Lernen zu Hause, die Sprachen zeitlich zu trennen. Vom Lehrwerk erwarten alle drei, dass es bei der Förderung von LA die Lehrkraft unterstützt. TW fordert: eine klare Strukturierung, in beliebiger Reihenfolge durchführbare Übungen zum Text, einen Grammatikteil zum Nachschlagen, Lerntechniken, Seiten zur Selbstkontrolle und zur Vorbereitung auf Tests und ein reichhaltiges Zusatzangebot. Dazu gehörten authentische Audioaufnahmen, um die Nichtverstehenstoleranz zu fördern; VE wünscht sich in diesem Zusammenhang Tandembögen. CP ist es besonders wichtig, dass das Lehrwerk mehrere kurze Darbietungsphasen enthält, auf die längere Sprechphasen der Schüler folgen. Die Schüleraktivitäten müssten bereits im Lehrwerk angelegt sein, das könne nicht alles von der Lehrkraft ausgehen, meint sie. Gleichzeitig hängt das Erreichen des Ziels LA für alle drei wesentlich von der Lehrkraft ab, die nicht nur fachlich, sondern auch von ihrer Persönlichkeit her qualifiziert sein müsse. Sie sollte eine förderliche und motivierende Lernatmosphäre schaffen können (siehe oben), den Schülern den Weg weisen, ihnen helfen - auch in Einzelgesprächen - und engagiert sein (alle drei begleiten z. B. aktiv den Schüleraustausch an ihrer Schule). VE führt aus, dass die Lehrkraft Vorbild sein sollte, sie sollte den Schülern Halt und Impulse geben und emotional einfühlend sein. TW bringt es auf den Punkt und thematisiert dabei auch die Rolle des Elternhauses: „TW: Empathie. Und das ist grad’ das Schwierigste dabei. […] Ja. Die Kinder, die Kinder, die sagen nix. Also, die Kleinen grade. […] Die kommen hier an, die haben alle Angst […], die wollen das Gymnasium schaffen: Oh Gott, oh Gott, oh Gott, oh Gott. Und dann sitzen se da. Und das muss e’n Lehrer merken. […] Aber ich weiß nicht, wie die Ausbildung das vermitteln soll. Das ist …, das kann man oder das kann man nicht, glaub’ ich. Weiß ich nicht. Also, ich weiß nicht, wie man das <?page no="395"?> lernen kann. Vielleicht durch Beispiele, und trotzdem ist jedes Kind anders. Was sollte der Lehrer noch machen? Er sollte zumindestens nicht nur Dienst nach Vorschrift machen, weil dann wird’s schwierig, äh, jedem zu he… oder zumindestens grade was solche, solche, solche Autonomiesachen angeht, die … Du meine Güte, wenn e’n Kind von zu Hause alles vorgedoktert kriegt, von morgens bis abends pausenlos e’n Butterbrot schmiert, wie soll der selbstständig arbeiten? Das, das kann ich nicht voraussetzen. Also muss ich das mit ihm machen, und das kann teilweise länger dauern. Das mach’ ich dann mit Privatgesprächen.“ (TW, I, 11/ ’07, siehe oben) 3.2 LA - ein Aspekt unter anderen wichtigen Prinzipien im eigenen Unterricht Für MHL, AK und GCB ist die Förderung von LA ein Aspekt unter weiteren für sie wichtigen und positiven Prinzipien, die sie in ihrem Unterricht verfolgen. MHL führt dazu aus: „MHL: Also, ich denk’, ein guter Unterricht muss eine Mischung aus sehr gesteuertem und selbstständigem Unterricht sein. Und zu welchen Teilen da gemischt wird, das hängt auch sehr von der Klasse ab. Also, ich frag’ ja die Schüler dann auch immer ab: ‚Profitiert ihr von dieser Methode? ‘ […], man muss vorsichtig sein und vor allem am Anfang schon auch noch sehr viel begleiten die Kinder.“ (MHL, I, 6/ ’07, siehe oben) Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist das Bemühen, „die Kinder nicht zu verlieren“. Sie versuche, dies insbesondere im Anfangsunterricht durch Instruktion zu erreichen und durch genaue Kontrolle, insbesondere der schriftlichen Leistungen und des Wortschatzlernens. Vokabeln lernen sei dabei das Zentralste. Daneben sei ihr wichtig, dass die Schüler viel sprechen (auch Sprechen im Chor und nach Mustern); Ziel sei die Formulierung eines eigenen Satzes. In ihrem Unterricht verfolge sie sowohl die Grammatik-Übersetzungs-Methode als auch das Auswendiglernen von sprachlichen Bausteinen (Letzteres, wenn die Schüler die Struktur nicht verstehen). Eine gesteuerte, selbstständige Texterschließung hält sie erst ab Klasse 8 für sinnvoll, Binnendifferenzierung stehe sie kritisch gegenüber, da hier das sprachliche Vorbild der Lehrkraft fehle. Gleichzeitig bemühe sie sich um einen methodisch vielfältigen Unterricht, da dieser die Schüler motiviere. Zu dieser Methodenvielfalt zähle sie neben der Arbeit mit beweglichen Elementen, dem Stationenlernen und dem Schüleraustausch auch die Förderung von LA. LA motiviere die Schüler, bedinge aber eine effektive Kontrolle. Auch ihre eigene Lernbiografie ist von dem Aspekt der Kontrolle geprägt; der Unterricht, den sie als Schülerin erlebte, 396 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten <?page no="396"?> 3.2 LA - ein Aspekt unter anderen wichtigen Prinzipien im eigenen Unterricht 397 bestand aus Grammatikarbeit, Übersetzungen, Diktaten und Nachsprechen. Erst ihre Frankreichaufenthalte motivierten sie für das Französische. Für AK ist LA wichtig, da die Schüler notwendigerweise zu Hause selbstständig Vokabeln lernen müssten. LA sei aber nicht zentral für sie, da zeitaufwändig in der Vorbereitung durch die Lehrkraft. Bei Zeitmangel entscheide sie sich für Frontalunterricht: „AK: Ja. In gewisser Hinsicht: ja, sehr wichtig. Also (räuspert sich), zum einen muss ich ganz zu Beginn schon sicherstellen, dass meine Schüler selbstständig lernen, wie man lernt. Also dass, dass wir sicher gehen: unter Vokabellernen verstehen alle das Gleiche, so. Dass se verstehen, warum se das machen müssen, warum es in ’ner Sprache wichtig ist und ’ne Sprache geht net ohne des. Man kann se net so weit treiben. Die müssen’s einfach selber diese paar tausend Wörter auch lernen oder Verben lernen. Das kann man net in der Schule alles leisten. Das ist wichtig. Und zweitens macht’s einfach auch für mich den Alltag leichter. Es ist unglaublich schwer in der Vorbereitung, des. Also als ständiges Lernziel kann ich’s net angeben. Aber es is’, äh, ein immer wiederkehrendes wichtiges Element im Unterrichten, dass man einfach für sich mal ’ne Pause schafft und man hat jetzt die Materialien bereit gestellt und jetzt sind die Schüler dran und erklären zum Beispiel auch mal mir ’was. Ja. Das ist entspannend.“ (AK, I, 4/ ’08, siehe oben) „Eines der zentralen Punkte bei der LA, dass der Lehrer das strukturiert wie der Moderator und vorbereitet, ist die Zeit, die man dazu braucht und wenn man die net hat. […] Wenn’s ’ne Hürde ist für den Lehrer, dann bleibt man natürlich beim Frontalunterricht und vermittelt die Zusammenhänge selber. […] Bei Zeitmangel geh’ ich auf Frontalunterricht über.“ (AK, SL, 4/ ’08, siehe oben) LA ist für AK ein wichtiges Konzept, das die Motivation für das Lernen steigere, das Lernen erleichtere und die Berücksichtigung unterschiedlicher Lerntypen ermögliche Außerdem verhalten sich ihrer Meinung nach selbstständige Schüler schneller locker und selbstbewusst in echten Kommunikationssituationen. LA käme daher immer wieder in ihrem Unterricht zum Tragen, aufgrund der aufwändigen Vorbereitung durch die Lehrkraft allerdings nicht ständig. Auch in leistungsunwilligen Lerngruppen gestalte sich die Förderung von LA schwierig. Deshalb empfindet sie die Förderung von LA als eine Herausforderung und gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild der Hürde, über die man gerne möchte. Sie meint, dass die Arbeit im Lehrerteam hier unterstützen könne. Das Ziel ihres Französischunterrichts ist für AK die Vorbereitung ihrer Schüler auf das Leben und auf das selbstständige Agieren im Ausland. (Den Austausch an ihrer Schule gestalte sie engagiert mit.) Dazu müsse im Unterricht, neben dem Aufzeigen von geschichtlichen und interkulturellen Zusammenhängen, <?page no="397"?> vor allem die nötige Sprachkompetenz vermittelt werden. Voraussetzung dafür sei wiederum die Schaffung einer disziplinierten und (fehler-) angstfreien Unterrichtsatmosphäre, ohne die ein Sprachunterricht nicht funktionieren könne. Die Schüler sollten lernen, einander zuzuhören und sich zu helfen. Sie sollten überdies viel Französisch sprechen, auch im geschützten Raum ohne die Lehrkraft. Methodenvielfalt sei ihr wichtig (sie selbst hatte als Schülerin Lehrkräfte, die allesamt sehr unterschiedlich unterrichteten - haptisch, strukturiert und auditiv), auch Bewegung, um Nervosität abzubauen und Energie abzureagieren. Auch für GCB ist die Förderung von LA nicht der alleinige wichtige Aspekt, den er in seinem Unterricht verfolgt. Grundsätzlich unterscheidet er zunächst drei Bereiche seines „Schullebens“: „Fach und Klasse“, „Unterrichtswirklichkeit“ und „Lehrer“: „GCB: Es [das Strukturbild] bestätigt so das, wie ich […] mein Schulleben so empfinde, glaube ich. Also, dass es wirklich so, dass erst mal diese, diese Klasse und dieses, äh, sprachenübergreifend arbeiten zu wollen, dass das schon erst mal so, so ’n Grundgedanke von mir ist, der wirklich so zentral, ähm, so, der mich als Person ausmacht. Dann kommt eben das tatsächliche Unterrichten, was tatsächlich im Unterricht passiert, was einfach hier zur, ja zur Klasse und zu diesem Bewusstsein gehört. Und dann gibt’s eben diese andere Seite. Also, ich bin als Lehrer in einer, also mit anderen Kollegen in dem Team eingebettet und so weiter. Also, da gibt’s dann diese …, ich als Lehrerperson, abgesehen, also gesondert, von dem wie ich in der Klasse bin, sondern ja auch dieses eben, was ich brauche. Also, emotionale Intelligenz ist mir einfach wichtig. Oder ich glaub’, dass das wichtig ist. Ja.“ (GCB, SL, 6/ ’08, siehe oben) Das sprachenübergreifende Arbeiten mit einer als Gemeinschaft gut funktionierenden Klasse ist ein zentraler Aspekt, der seinem Französischunterricht zugrunde liegt. Die Reflexion über Sprache helfe bei der Kommunikation, da man sich bewusst mache, wie die Sprache funktioniere. Das sei ein laufender Prozess. (Es ist anzunehmen, dass hier auch seine deutsch-italienische Lernbiografie eine prägende Rolle spielt. Da Französisch seine 3. Fremdsprache war, konnte er als Schüler beim Vokabellernen immer erfolgreich auf das Italienische, Englische und Lateinische zurückgreifen.) Er möchte außerdem seine Schüler zum Sprachenlernen motivieren. Das Elterngespräch sei ihm zudem ein Anliegen; die Eltern sollten zu Hause fördern und fordern können. Für Schülergespräche fehle in der Unterstufe leider oft die Zeit. In Bezug auf die „Unterrichtswirklichkeit“ nennt er einerseits den Aspekt der „Förderung von LA“ und andererseits den „vom Lehrer gesteuerten Unterricht“, beides nimmt für ihn eine wichtige Rolle ein. Prinzipien wie die Förderung der Sprachbewusstheit, der Sprachlernbewusstheit, der interkulturellen Kompetenz, 398 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten <?page no="398"?> 3.3 LA - zählt zu den Bedingungen für gutes Lernen, aber ein Idealfall 399 des Schreibens und der Aussprache, Sprachkorrektheit, strenge Fehlerkorrektur, die Angstüberwindung (durch Präsentationsaufgaben), gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfe spielen eine wichtige Rolle in seinem Unterricht, sagt er. Im Bereich des durch die Lehrkraft gelenkten Unterrichts hebt er die Arbeit mit dem Buch hervor (es gäbe „wenig Zeit, um freie Dinge zu machen“) und die Arbeit an den Strukturen. Das sei eine „Macke“ von ihm, er würde selbst sehr gerne mit Strukturen arbeiten. (Anzumerken ist hier, dass sein ehemaliger Französischlehrer auch Lateinlehrer war und der Vergleich mit Latein seinerzeit von ihm bei der französischen Grammatikarbeit als hilfreich empfunden wurde.) In jedem Falle seien die Hausaufgaben „das Ziel der Stunde“. Als „Lehrer“ sieht er sich selbst als Lernberater, wenn er die Schüler fördern möchte, vor allem aber als Klassenmanager. Grundsätzlich brauche eine Lehrkraft emotionale Intelligenz und Zeit für die Bedürfnisse ihrer Schüler. Fazit: Während alle drei Interviewten dem Prinzip der LA positiv gegenüberstehen und z. B. den motivierenden und lernfördernden Aspekt des Prinzips der LA hervorheben, betonen sie die gleichzeitige Notwendigkeit von lehrergesteuerten Phasen in ihrem Unterricht. Für AK steht die Vermittlung von Sprachkompetenz im Mittelpunkt, die Lernenden sollen im Unterricht viel sprechen können. Frontalunterricht sei bei Zeitknappheit zielführender, zeitökonomischer, lernerautonome Phasen zudem sehr aufwändig in der Vorbereitung durch die Lehrkraft. Für MHL gewährleistet der gesteuerte Unterricht die notwendige Instruktion und Kontrolle, um die Schüler sicher zu begleiten und nicht zu verlieren. GCB betont, dass die Arbeit an den Strukturen der Steuerung bedarf (vgl. auch TW, oben), der Unterricht weitgehend und grundlegend dem Lehrwerk folge. Auch die Zusammensetzung der Klasse habe einen Einfluss; leistungsunwillige oder jüngere Lerngruppen machen einen eher lehrergesteuerten Unterricht erforderlich (siehe MHL und AK; außerdem VE in ihrer Evaluation, oben). 3.3 LA - zählt zu den Bedingungen für gutes Lernen, aber ein Idealfall Für SR sollte Französischunterricht durch gutes Lernen geprägt sein. LA harmoniert mit diesem Grundgedanken, denn LA zählt für sie zu den Bedingungen für gutes Lernen. SR sagt, sie versuche ihren Unterricht in Richtung LA zu gestalten, LA stelle aber für sie einen Idealfall dar, den sie selbst in ihrem Unterricht noch nie erreicht habe. <?page no="399"?> „SR: Ja, das wäre ja der Idealfall. […] Der Schüler wüsste: ‚Was fehlt mir? Was muss ich tun? ‘ Der Schüler würde, würde sich klar machen, wo seine Schwächen sind und würde dann einfach dem Lehrer sagen: ‚Ich brauche da noch etwas.‘ […] Also, da denke ich, wenn man das hinkriegen würde, dass die Schüler wirklich auf den Lehrer zukämen, das wäre es dann. Aber das habe ich in dem Sinn noch nicht geschafft.“ (SR, I, 7/ ’07, siehe oben) Zentral für gutes Lernen ist für SR vor allem eine authentische Lehrerpersönlichkeit, die hinter ihren Methoden steht. Letztendlich hätte die Lehrkraft aber nur einen begrenzten Einfluss auf das Lernen der Schüler und die Methoden keine Auswirkung auf deren Motivation. SR, die sich selbst als Sprachlehrerin gar nicht so geeignet fühlt, da ihr das Französischlernen immer sehr leicht gefallen sei, wählt ihre eigenen Methoden, schätzt ihren Unterricht aber auch so ein, dass er „nicht für jeden geeignet sei“. Der Grundgedanke, der ihrem Französischunterricht zugrunde liegt, ist, dass der Unterricht aus der Klasse kommen sollte, weniger von Vorgefertigtem. Sie arbeite daher mit ihren Schülern viel an der Tafel, lasse sie dort Bilder erstellen und selber Sätze und Beispiele bilden. Ihre Schüler würden selbstständig ihre eigenen Geschichten schreiben. SR beschreibt ihren Unterricht als relativ offen und frei, sie arbeite gerne mit Bewegung (das ginge auf ihre Zeit als Lehrerin an einer Waldorfschule zurück) und vor allem spreche sie viel mit ihren Schülern. Dabei sei ihr das Verstehen wichtig, die Schüler sollten ihre Fehlerangst verlieren. Auf das Aussprachetraining lege sie Wert, außerdem bleibe sie einsprachig, auch wenn es um Grammatik gehe. Diese versuche sie über kleine Texte zu vermitteln und sie benutze dabei viel Gestik, damit die Schüler selbstständig grammatikalische Sachverhalte erschließen könnten. Den hohen Wert des selbstständigen Erschließens habe sie als autonome Spanischlernerin kennengelernt: „ Bloß weiß ich nicht, ob es mir jetzt so tief klar wäre, wie jetzt, nachdem ich selber gesucht habe.“ (SR, I, 7/ ’07, siehe oben) LA sehe sie durch ihren Ansatz allerdings noch nicht in reiner Lehre verwirklicht, da sie als Lehrerin doch noch sehr stark durch ihre Vorgaben lenke. Es ist anzunehmen, dass sie ihre Einschätzung vor dem Hintergrund trifft, dass sie sich selbst seinerzeit Spanisch vollkommen autonom angeeignet hatte, nur mit Hilfe ihrer Französischkenntnisse und des Radios, ohne Lehrkraft. „SR: Aber ja, das ist so eher mein Ansatz, dass die Schüler selber es irgendwie klar kriegen. Aber LA ist das auch nicht. Da störe ich sie ja auch mit meinem Text oder mit der Sache, die ich da jetzt produziere.“ (SR, I, 7/ ’07, siehe oben) 400 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten <?page no="400"?> 3.4 Ergebnisse 401 3.4 Ergebnisse • Bei allen Interviewten hat der Großbegriff „LA“ einen positiven Stellenwert und, falls er nicht als zentrale Zielgröße gesehen wird, so wird er mit den weiteren Grundgedanken zum eigenen Französischunterricht in Einklang gebracht. • In Bezug auf LA wird vor allem gesehen, dass sie die Schüler motiviert, zu effektivem Lernen beiträgt und förderlich ist für die sprachliche Performanz in Kommunikationssituationen (MHL, SR, AK, CP). • Die Vermittlung von Sprache und Kultur und die Liebe dazu werden von der Mehrheit als wichtiger Grundgedanke explizit genannt (TW, AK, GCB, VE). • Ein großer Teil der Interviewten spricht außerdem eine lernförderliche, angstfreie Unterrichtsatmosphäre (TW, SR, AK, CP, GCB), die kooperative Zusammenarbeit der Schüler untereinander (TW, AK, GCB) und eine empathische, motivierende, authentische Lehrerpersönlichkeit (TW, SR, CP, GCB, VE) an. • Diejenigen, die LA als zentrale Zielgröße für ihren Unterricht sehen (TW, CP, VE), bewerten außerdem als wichtig: Transparenz der Lernziele, eine konstruktive und kommunikative Unterrichtsatmosphäre, offene Unterrichtsformen (auch SR), viel Raum zum Sprechen, interkulturelles Lernen, das Lernen des Lernens (Lerntechniken in Bezug auf Vokabeln und Strukturen), language awareness, sprachvergleichendes Arbeiten, Selbstkontrolle, ein autonomiefördernes Lehrwerk, eine fachlich und vor allem auch persönlich qualifizierte, emphatische, engagierte Lehrkraft, die sich Zeit nimmt für Einzelgespräche mit ihren Schülern. • Die Interviewpartner, bei denen LA eine weniger zentrale Rolle spielt, betonen die Notwendigkeit von lehrergesteuerten Phasen (MHL, AK, GCB). Diese ergibt sich für sie durch den Bedarf an Instruktion (Vermittlung der lingualen Ressourcen, insbesondere bei der Arbeit an den sprachlichen Strukturen), durch die Notwendigkeit von Kontrolle (beide Aspekte auch bei TW), aus Zeitknappheit oder aufgrund der Zusammensetzung der Klasse, vor allem bei leistungsunwilligen oder jüngeren Lerngruppen (auch bei VE). Außerdem folge der Unterricht weitgehend dem Lehrwerk (auch CP). Sowohl MHL als auch AK bemühen sich um Methodenvielfalt und sehen darin einen motivierenden Faktor. • In Bezug auf den Kompetenzaufbau finden sich schwerpunktmäßig folgende Grundgedanken: ∘ Interkulturelle kommunikative Kompetenz: <?page no="401"?> Geschichtliche und interkulturelle Kompetenz bei den Schülern zu fördern ist wichtig, ihnen soll die französische Kultur und die Liebe zum Land vermittelt werden (TW, AK, GCB, VE), Schüler sollen im Ausland selbstständig agieren können, sie sollen dort überlebensfähig sein (AK, VE), Schüleraustausch fördert ihre interkulturelle bzw. sprachliche kommunikative Kompetenz (AK, CP, GCB, VE). ∘ Funktionale kommunikative Kompetenz: Hier steht die Sprachproduktion der Schüler im Vordergrund. Für die meisten ist der Aufbau der Sprechkompetenz zentral (MHL, TW, SR, AK, CP, VE). Die Schüler sollen in einer angstfreien, zeitgebenden Atmosphäre viel sprechen können, wobei vor allem auf das Verständnis bei der Kommunikation geachtet werde und weniger auf Fehler (TW, SR, AK, CP), auch die Einsprachigkeit sei förderlich (SR, VE). Das gelenkte Sprechen im Chor und nach Mustern fände ebenfalls Anwendung (MHL, VE) sowie das zusammenhängende, vorbereitete Sprechen beim Präsentieren (TW, auch GCB) oder das Sprechen im geschützten Raum ohne Lehrkraft (AK). VE und CP bedauern, dass ihre Schüler oft nicht genug zum Sprechen kämen, aufgrund zu großer Klassen (VE) bzw. aufgrund eines zu wenig kleinschrittigen Lehrwerks (CP). Daneben erwähnen die meisten, dass ihnen die Förderung der Schreibkompetenz wichtig sei (MHL, SR, CP, GCB, VE). Hierzu werden z. B. Redewendungen für die Textproduktion auswendig gelernt (MHL, VE) oder die Schüler werden aufgefordert, eigene Geschichten zu schreiben (SR). Die Vermittlung von sprachlichen Mitteln sei Grundvoraussetzung für die Kommunikation in der Fremdsprache, die Schüler müssten in der Fremdsprache zurechtkommen (MHL, TW, SR, AK, CP, GCB, VE). Die Mehrheit betont zunächst das Wortschatzlernen und die Vermittlung von entsprechenden Lerntechniken, insbesondere die Arbeit mit dem Vokabelkasten (MHL, TW, AK, CP, VE). Auf eine gute Aussprache werde Wert gelegt (SR, GCB, VE), ebenso auf eine richtige Orthografie (MHL lässt mit dem Vokabeltrainer üben, VE arbeitet mit Laut-Schrift- Zuordnungen). Im Zusammenhang mit dem Vokabellernen wird auch die notwendige Kontrolle erwähnt (MHL, TW). Auch die Grammatikarbeit wird von der Mehrheit als grundlegend thematisiert (MHL, TW, CP, GCB). Sie wird als intensiv und gesteuert beschrieben (MHL, TW, GCB, auch SR). Auch hier werde auf die Vermittlung von Lerntechniken Wert gelegt (MHL, CP). In diesen Phasen werde außerdem gerne sprachvergleichend gearbeitet (TW, GCB, VE). 402 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten <?page no="402"?> 3.4 Ergebnisse 403 Folgende Teilbereiche der funktionalen kommunikativen Kompetenz finden bei der Erörterung der Grundgedanken kaum Berücksichtigung, tauchen nur bei einzelnen Interviewten oder überhaupt nicht auf: die rezeptiven Kompetenzen des Hör-/ Hörsehverstehens und des Leseverstehens, außerdem die Sprachmittlung und die kommunikativen Strategien. ∘ Die Textkompetenz wird nur bisweilen thematisiert, die Medienkompetenz spielt keine Rolle: Gelenkte, selbstständige Texterschließung ab Klasse 8 (MHL), Zusammenhänge herstellen bei der Erarbeitung von Texten (TW), Verfassen von eigenen Texten (SR). Dieser Befund mag auch damit zusammenhängen, dass der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Sekundarstufe I lag und die Interviews 2010 abgeschlossen waren. ∘ Die Förderung der Sprachlernkompetenz wird als solche nicht so benannt, sondern umschrieben (der Begriff rückte erst durch das Kompetenzstrukturmodell der KMK 2012, also zeitlich nach den Interviews, in den Fokus): Die Schüler sollen vor allem zum Sprachenlernen motiviert, ihnen soll Mut gemacht werden (TW, SR, AK, CP, GCB, VE). Außerdem sollen sie lernen zu lernen, insbesondere auch Lerntechniken kennenlernen und anwenden (TW, AK, CP, VE, auch MHL); nur drei der Befragten erwähnen, dass sich die Schüler selbst kontrollieren bzw. evaluieren können sollten (VE, auch TW und CP). Bei der Erörterung der zentralen Lehrkonzepte wird die Reflexion der eigenen Lernprozesse nur von GCB explizit als grundlegendes Ziel formuliert, bei VE und TW klingt sie an (Lernstandserhebungen mit dem Sprachenportfolio bzw. Nachdenken über effektives Vokabellernen mit dem Vokabelkasten). ∘ Auch der Begriff der Sprachbewusstheit bzw. language awareness wird nicht aktiv, sondern erst auf Nachfrage hin verwendet bzw. umschrieben, gehört aber bei den meisten mit zu den Grundgedanken bezüglich ihres Unterrichts: Die Interviewten sagen, sie arbeiten mit den Schülern sprachvergleichend (TW, SR, CP, GCB, VE); VE führt aus, dass sie insbesondere bei der Semantisierung und bei der Grammatikarbeit sprachvergleichend vorgehe und davon überzeugt sei, dass der Sprachvergleich bei Verstehen und Selbstkontrolle förderlich ist. <?page no="403"?> Reflexion über Sprache und Grammatik wird lediglich von GCB im Zusammenhang mit seinen Grundgedanken konkret und aktiv angesprochen. Die Aktivierung von Vorwissen wird von keinem der Interviewten explizit genannt. • Bei allen Interviewten lassen sich bei der Formulierung ihrer Grundgedanken Prägungen durch ihre eigenen Lernbzw. Lehrbiografien feststellen (siehe oben), ein Hinweis darauf, dass es sich hier um weitgehend dauerhafte Einstellungen und Gedanken handelt. Während erstes und zweites Gespräch mit den Interviewten zeitlich relativ eng aufeinander folgten (zwischen dem Interview und dem zweiten Gespräch zur Strukturbilderstellung lagen durchschnittlich zwei Wochen), wurde eine Validierung meiner Falldarstellungen durch sechs von sieben Interviewten nach mehr als einem Jahr, teilweise nach mehr als zwei Jahren, vorgenommen. Die Evaluation ergab: 1. Die Falldarstellungen wurden grundsätzlich bestätigt (MHL, SR, AK, CP, GCB, VE). SR und AK führten aus, dass sich ihre Ansichten in der Zwischenzeit nicht geändert hätten. Von MHL wurden lediglich noch Präzisierungen vorgenommen. 2. Graduelle Veränderungen ergaben sich in der Unterrichtspraxis bei CP und GCB, die beide angaben, die LA ihrer Schüler in der Zwischenzeit noch mehr zu fördern, und zwar durch mehr schülerseitige Selbstkontrolle bzw. durch mehr lehrerseitige Lernberatung. AK und VE mussten hingegen die Förderung von LA in ihrer Unterrichtspraxis zwischenzeitlich stärker einschränken, und zwar aufgrund von größerer Zeitnot (weniger persönliche Vorbereitungszeit, Kürzung der Stundentafeln, G8) und schwierigeren bzw. jüngeren Lernern. Präzisierungen und zwischenzeitliche Veränderungen in der Unterrichtspraxis, die sich bei der Validierung ergaben, wurden bei den Falldarstellungen mit berücksichtigt. Aufgrund der grundsätzlichen Bestätigung der Falldarstellungen nach einem Zeitraum von durchschnittlich zwei Jahren kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der obigen Beschreibung der Grundgedanken zum jeweils eigenen Französischunterricht im Sinne von Subjektiven Theorien um weitgehend dauerhafte Einstellungen und Gedankenkonstrukte handelt. Das Gleiche gilt für die nachfolgenden Betrachtungen zur Umsetzung bzw. Förderung von LA im eigenen Unterricht. 404 3 Der eigene Französischunterricht aus der Sicht der Interviewten <?page no="404"?> 4 Sicht der Interviewten auf die Umsetzung bzw. Förderung des autonomen Fremdsprachenlernens im eigenen Unterricht Fast alle Befragten sehen Möglichkeiten, LA im eigenen Unterricht zu fördern. Aus der jeweiligen Perspektive auf LA und den eigenen Grundgedanken zum Französischunterricht heraus (siehe oben) ergeben sich jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. MHL ist es besonders wichtig, dass die Schüler verschiedene „Strategien der Wissensaneignung“ kennenlernen und gemäß ihrem eigenen Lerntyp selbst auswählen. Sie fänden sukzessiv „Methoden, ihre eigenen Leistungen zu kontrollieren (auch die ihrer Mitschüler)“. Die Hinführung zur LA erfolgt für sie „in ganz kleinen Schritten“. Sich selbst sieht sie als Vermittler von Fachwissen, als Motivierer und Kontrolleur. TW möchte, dass seine Schüler zunächst ihre Angst verlieren, Nichtverstehenstoleranz entwickeln, insbesondere auch lernen, angstfrei zu sprechen. In diesem Zusammenhang gebraucht er wiederholt das Bild des Weges: Auf dem Weg der LA arbeiten die Schüler gemeinsam an einem Problem, kontinuierlich, strukturiert, selbstständig in der Gemeinschaft bei Projekt-, Gruppen- oder Partnerarbeit. Entsprechend betrachtet er die Lehrerrolle: Er möchte als Lehrer den Schülern den richtigen Weg zeigen, sie vor falschem Lernen bewahren. Für AK erfolgt die Hinführung zur LA insbesondere über entsprechende Materialien und Aufgaben, die eine Selbstkontrolle ermöglichen. Auch fördert AK die LA ihrer Schüler über das Verstehen und Lernen des Lernens, z. B. im Hinblick auf das Vokabellernen, die Arbeit mit dem Wörterbuch oder die individuelle Arbeit an Fehlern. Auf Lerntechniken wie das Lernen mit Bewegung oder das Markieren lege sie Wert. Sich selbst sieht sie in der Rolle eines „Wegweisers“ und „Reisebegleiters“. CP meint, dass die Schüler durch die Lehrkraft auf die LA vorbereitet werden müssen, indem sie von ihr zu selbstständigem Denken angeregt werden und von ihr eine klare Struktur im Hinblick auf das zu Lernende erhalten („einen roten Faden“). Wichtig bei der Heranführung an die LA ist für sie außerdem die Vermittlung eines Methodentrainings. Es umfasse das Lernen von Vokabeln und Strukturen und ist außerdem Sprachen vergleichend im Sinne von language awareness. Den Lehrenden sieht sie in der Rolle eines <?page no="405"?> 406 4 Sicht der Interviewten auf die Umsetzung Helfers und Vermittlers, der sich auch Zeit nimmt für Einzelgespräche mit seinen Schülern. Die Hinführung zur LA erfolgt für GCB schrittweise über die Reflexion von Sprache und Grammatik (sprachenübergreifend) sowie über die Reflexion von Lernprozessen, außerdem über die klare Vermittlung von Methoden, „Handwerkszeug“ zum autonomen Lernen. Dazu gehört z. B. die Arbeit mit Fehlerprotokollen sowie die Selbst- und Fremdevaluation. Als Lehrer sieht er sich in der Rolle eines Motivierers, Lernberaters und Klassenmanagers, der über emotionale Intelligenz und Zeit für seine Schüler verfügen sollte. VE sagt, sie fördere LA, indem sie „technische Hilfestellung zum Selberlernen“ gebe, z. B. über die Hinführung zu Lerntechniken, über die Arbeit an den Fehlern und die schrittweise Befähigung zur Selbstkontrolle und Selbstevaluation. Der Vergleich mit anderen Sprachen fördere das Verstehen und Kontrollieren, während das ständige Üben und Anwenden der Fremdsprache (bei Ausblenden des Deutschen) die Kompetenz des Sprechens erhöhe. Dafür brauche sie als Lehrerin viel emotionales Einfühlungsvermögen und müsse ihre Schüler immer positiv motivieren. Auch sei die Transparenz hinsichtlich der Ziele von Hausaufgaben und Tests sehr wichtig. SR hingegen ist skeptisch. Die Hinführung zur LA erfolgt für sie z. B. über Selbstkontrolle oder individuelle Hausaufgaben. In Bezug auf Letzteres gebraucht sie das Bild des „Ei des Kolumbus“, das sie noch nicht entdeckt habe.