Latein für Romanist*innen – Ergänzungsmaterialien für Lernende und Lehrende
Texte, Übungen, Wortschatz. Unter Mitarbeit von Wolfgang Reumuth
0125
2021
978-3-8233-9419-8
978-3-8233-8419-9
Gunter Narr Verlag
Johannes Müller-Lancé
Amina Kropp
Katrin Siebel
Alexander Stöckl
Das Referenzwerk Latein für Romanist*innen vermittelt Einblicke in Struktur und Entwicklung der lateinischen Sprache. Für den Aufbau echter Lateinkompetenzen bietet dieser Ergänzungsband zusätzlich Texte, an denen diese Einsichten erprobt werden können, und Aufgaben, um die grammatischen Kenntnisse zu üben. Weiterhin enthält der Band Hinweise für Lehrende und vor allem ein aktiv zu lernendes, für die romanischen Sprachen fruchtbares Wortschatzinventar.
<?page no="0"?> Latein für Romanist*innen - Ergänzungsmaterialien für Lernende und Lehrende Johannes Müller-Lancé / Amina Kropp Katrin Siebel / Alexander Stöckl Texte, Übungen, Wortschatz <?page no="2"?> Johannes Müller-Lancé / Amina Kropp / Katrin Siebel / Alexander Stöckl Latein für Romanist*innen - Ergänzungsmaterialien für Lernende und Lehrende Texte, Übungen, Wortschatz Unter Mitarbeit von Wolfgang Reumuth <?page no="3"?> www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8419-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9419-8 (ePDF) <?page no="4"?> Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Warum ein Ergänzungsband? ...................................... 7 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben....................................................................................... 11 2.1 Lateinische Texte .......................................................................................... 11 2.1.1 Das römische Nationalepos: Vergils Aeneis ............................... 11 2.1.2 Pompejanische Wandinschriften .................................................. 17 2.1.3 Defixionum tabellae .......................................................................... 24 2.1.4 Vulgata: Weihnachtsgeschichte .................................................... 39 2.1.5 Dante: De vulgari eloquentia .......................................................... 46 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum ...................................... 54 2.2.1 Reichenauer Glossen ........................................................................ 55 2.2.2 Straßburger Eide ............................................................................... 59 2.2.3 Eulaliasequenz ................................................................................... 64 2.2.4 Chanson de Roland ............................................................................ 70 2.2.5 François Rabelais: Pantagruel ......................................................... 74 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum....................................... 78 2.3.1 Indovinello Veronese .......................................................................... 78 2.3.2 Placiti cassinesi ................................................................................... 82 2.3.3 Wandinschrift der Commodilla-Katakombe .............................. 87 2.3.4 Inschrift in der Basilica San Clemente .......................................... 89 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum...................................... 93 2.4.1 Nodicia de kesos ................................................................................. 93 2.4.2 Glosas Emilianenses: Consistorio de demonios ............................. 95 2.4.3 Auto de los reyes magos .................................................................... 98 2.4.4 Cantar de Mio Cid ........................................................................... 100 2.4.5 Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de buen amor ................. 103 3. Lernwortschatz für Romanist*innen........................................... 107 3.1 Erläuterungen zum Lernwortschatz....................................................... 107 3.1.1 Lateindidaktischer Hintergrund.................................................. 107 3.1.2 Zweck des Lernwortschatzes ....................................................... 108 3.1.3 Bedeutungsangaben beim Lernwortschatz............................... 109 3.2 Lernwortschatz............................................................................................ 109 3.2.1 Substantive ....................................................................................... 111 3.2.2 Adjektive........................................................................................... 126 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 6 3.2.3 Verben ............................................................................................... 132 3.2.4 Kleine Wörter .................................................................................. 142 4. Handreichung für einen universitären Kurs ............................. 151 4.1 Allgemeine Vorbemerkungen .................................................................. 151 4.2 Umgang mit der Handreichung............................................................... 152 4.3 Zur Heterogenität der Lerngruppe ......................................................... 152 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden........................... 153 4.4.1 Erster lateinischer Text und klassische Aussprache des Lateinischen ..................................................................................... 154 4.4.2 Einführung in die Nominalmorphologie................................... 155 4.4.3 Einführung in die Verbalmorphologie....................................... 162 4.4.4 Einführung in die Wortbildungslehre........................................ 169 4.4.5 Allgemeine Bemerkungen zum Vulgärlatein ........................... 170 4.4.6 Phonetische Prozesse im Vulgärlatein....................................... 170 4.4.7 Morphosyntaktische Prozesse im Vulgärlatein ....................... 177 4.4.8 Zum lateinischen Wortschatz ...................................................... 180 4.4.9 Was Latein-Lernende sonst noch wissen sollten .................... 182 4.4.10 Lösungshinweise zu den Arbeitsblättern .................................. 184 <?page no="6"?> 1. Einleitung: Warum ein Ergänzungsband? 2006 kam Latein für Romanist*innen erstmals auf den Markt, 2020 erschien die dritte Auflage. Das Buch erfreut sich damit seit 15 Jahren an zahlreichen Hochschulen großer Beliebtheit. Dies liegt auch daran, dass an immer mehr romanistischen Instituten auf die Einforderung des traditionellen Latinums verzichtet und stattdessen ein Kurs eingerichtet wird, der diejenigen Lateinkompetenzen vermittelt, die für Romanist*innen zentral sind. Das hierfür als Grundlage häufig verwendete Latein für Romanist*innen ist aber kein Lehrbuch im klassischen Sinne mit einer vorgegebenen Progression von der ersten bis zur letzten Semesterwoche, sondern es ist eher als Kombination aus Sprachgeschichte und Grammatik aufgebaut und zum Selbststudium oder als Nachschlagewerk konzipiert. So enthält es beispielsweise weder Übungstexte, noch einen zu lernenden Wortschatz. Entsprechend kam von Alexander Stöckl, der an der Universität Mannheim seit Jahren den entsprechenden Lateinkurs unterrichtet, die Anregung, einen Ergänzungsband zu erstellen, der Lehrenden Materialien sowie konkrete Anregungen an die Hand gibt, einen einsemestrigen Lehrgang „Latein für Romanist*innen“ zu konzipieren. Gleichzeitig sollte der Ergänzungsband aber auch das Selbststudium ermöglichen. Es gibt schließlich romanistische Studiengänge, die vollständig auf die Vermittlung von Lateinkenntnissen verzichten - deren Studierende sollten mit den genannten beiden Büchern auch eigeninitiativ in der Lage sein, sich die wichtigsten Lateinkompetenzen zu erarbeiten. Auch der Ergänzungsband ist bewusst nicht in Lektionen aufgeteilt. Dafür sind die Vorstellungen, was genau in einen Kurs „Latein für Romanist*innen“ hineingehört, viel zu unterschiedlich. Manche Lehrende werden den Schwerpunkt eher auf den Sprachwandel bei Morphologie und Syntax legen, andere eher auf den Wortschatz. Und schließlich können auch die romanischen Zielsprachen je nach Studiengang und individueller Sprachenkonstellation sehr unterschiedlich ausfallen. Wir haben daher folgenden Aufbau für unser Beibuch gewählt: In einem ersten Teil (Kap. 2) werden repräsentative Texte aus unterschiedlichen lateinischen und romanischen Epochen präsentiert, an denen Phänomene der Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen demonstriert werden. Viele dieser Texte sind Dauerbrenner in Sprachgeschichten, Einführungswerken und Kursen zu älteren Sprachstufen des Französischen, Spanischen und Italienischen, können aber dort nicht detailliert behandelt werden. Die Texte werden mit Übersetzung vorgelegt, einfachere Passagen sind selbst zu übersetzen. Zum Verständnis der Texte gibt es Hilfen und <?page no="7"?> 1. Einleitung: Warum ein Ergänzungsband? 8 Kommentare, zur Vertiefung spezielle Übungen mit Lösungen und weiterführenden Literaturhinweisen. Der zweite Teil (Kap. 3) enthält einen zu lernenden lateinischen Grundwortschatz, der nach dem Kriterium größtmöglicher Fortsetzung in den romanischen Sprachen ausgewählt wurde. Um das kombinierte Erarbeiten von Morphologie und Wortschatz zu erleichtern, wird der Wortschatz nach Wortklassen getrennt präsentiert, innerhalb der Wortklassen jedoch in alphabetischer Reihenfolge, um das Nachschlagen zu ermöglichen. Der dritte und letzte Teil (Kap. 4) wendet sich besonders an Lehrende und enthält eine Sammlung von in der Praxis erprobten Übungen zu Morphologie, Syntax und Lexik des Lateinischen mit klarer Progression, die auf einen Semesterkurs mit 14 Lehreinheiten zugeschnitten ist. In diesem Kapitel finden sich auch konkrete Hinweise für Lehrende zur Einführung der verschiedenen Unterrichtsbausteine. Zu allen Kapiteln sei angemerkt, dass die Verweise auf Fortsetzungen in den romanischen Sprachen keinesfalls erschöpfend sind, sondern klar die meiststudierten Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch fokussieren. Zu sämtlichen Übungen in diesem Ergänzungsband werden Lösungsvorschläge angeboten. Außerdem finden sich bei den jeweiligen Aufgaben bzw. Phänomenbeschreibungen Verweise auf die entsprechenden (Unter-)Kapitel im Lehrbuch Latein für Romanist*innen . Das Verweisen auf Kapitelnummern (und nicht Seitenzahlen) des Referenzwerks (abgekürzt als LatRom ) ist zwar gelegentlich etwas grobkörnig, ermöglicht es den Lernenden aber, den Ergänzungsband mit sämtlichen Auflagen des Referenzwerks zu kombinieren. Dort wird die Kapiteleinteilung seit 15 Jahren konstant gehalten, nicht jedoch die Seitenzählung. Um das Bearbeiten einzelner Kapitel im vorliegenden Buch zu erleichtern, finden sich die Literaturangaben jeweils am Ende der (Unter-)Kapitel. Wir Autor*innen haben uns bemüht, möglichst viele unserer praktischen Unterrichtserfahrungen in dieses Buch einfließen zu lassen. Diese Erfahrungen stammen aus unterschiedlichen Universitäten mit unterschiedlichen Studiengängen, zeigen aber doch immer wieder, dass es so etwas wie einen groben romanistischen Konsens darüber gibt, welche Phänomene unbedingt thematisiert werden sollten. Im Einzelnen sind wir: Amina Kropp: Akademische Rätin für Sprachwissenschaft am Romanischen Seminar der Universität Mannheim, Studium von Klassischer Philologie und Romanistik (Französisch, Italienisch) in Heidelberg und Freiburg; Promotion über vulgärlateinische Fluchtafeln; Habilitationsprojekt zu Mehrsprachigkeit und Migration im schulischen Kontext. Johannes Müller-Lancé: Professor für Sprach- und Medienwissenschaft am Romanischen Seminar der Universität Mannheim, Studium von Klassischer Philologie und Romanistik (Französisch, Spanisch) in Freiburg; Promotion über die Entwicklung absoluter Konstruktionen vom Altlatein zum <?page no="8"?> 9 1. Einleitung: Warum ein Ergänzungsband? Neufranzösischen; Habilitation zum Wortschatz romanischer Sprachen im Drittspracherwerb Alexander Stöckl: Schulleiter des Ursulinen-Gymnasiums Mannheim; Studium von Klassischer Philologie und Romanistik in Heidelberg; Lehrer für Latein, Französisch, Italienisch; Lehrbeauftragter für den Kurs „Latein für Romanistikstudierende“ am Romanischen Seminar der Universität Mannheim Katrin Siebel: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Lexikografie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Studium von Klassischer Philologie, Anglistik und Deutsch als Fremdsprache an der Humboldt Universität zu Berlin; Promotion zur Rolle des Lateinischen in der Mehrsprachigkeitsdidaktik mit Schwerpunkt Wortschatz. Amina Kropp und Johannes Müller-Lancé haben gemeinsam Kapitel 2 verfasst, Katrin Siebel Kapitel 3 und Alexander Stöckl Kapitel 4. Herzlich bedanken möchten wir uns bei Wolfgang Reumuth, Koautor mehrerer Grammatiken zu romanischen Sprachen, pensionierter Latein-, Französisch-, Italienisch- und Spanischlehrer und eifriger Sammler interlingualer Kuriositäten (vgl. seine Website http: / / sammelsurium.sprachenfreak.de/ ). Reumuth hat vor allem Übungen zu Kap. 4 beigesteuert, aber auch zahlreiche Anregungen zu den übrigen Buchteilen gegeben und insbesondere Beispiele zum Portugiesischen ergänzt. Für einen hilfreichen Austausch zu Parallelen im Alt- und Mittelhochdeutschen bedanken wir uns bei Ludwig Eichinger. Weiterhin mitgewirkt an diesem Buch haben unsere Wissenschaftlichen Hilfskräfte Florian Braun, Malina Kroffl und Friederike Struppek. Auch bei ihnen, sowie bei Kathrin Heyng und Corina Popp vom Gunter Narr Verlag möchten wir uns für die gute Zusammenarbeit bedanken. <?page no="10"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben In den folgenden Abschnitten werden Textauszüge präsentiert, die sprachlich und inhaltlich interessant sind und/ oder zentrale Phasen der Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen dokumentieren. Jedem Textauszug wird eine knappe Einführung vorangestellt. Zum besseren Verständnis werden wichtige oder schwierige Textpassagen kommentiert und erläutert, außerdem wird eine Übersetzung ins Deutsche beigefügt. Kurze Aufgaben mit Lösungen ermöglichen die vertiefte Auseinandersetzung mit den Texten. Spezifische Literaturhinweise zu den Textdokumenten schließen die einzelnen Abschnitte ab. Die Textauszüge werden in vier Gruppen präsentiert: Lateinische Texte (2.1), galloromanische Texte (2.2), italoromanische Texte (2.3), iberoromanische Texte (2.4). Die Auswahl an Texten soll demonstrieren, wie fließend sich der Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen in den uns erhaltenen Dokumenten vollzogen hat. So, wie wir in späten lateinischen Texten bereits romanische Elemente finden (vgl. die Abschnitte 2.1.2 und 2.1.3), finden sich umgekehrt in den frühen romanischen Texten noch viele lateinische Elemente. Das betrifft nicht nur den Wortschatz, sondern durchaus auch die Morphologie. Entscheidend für die Zuordnung eines Textes zu der einen oder anderen Sprache (Latein oder „Romanisch“) ist daher zum einen der quantitative Anteil einzelsprachlicher Elemente, zum anderen die Syntax. Unsere Auswahl bemüht sich weiterhin, die typischen frühromanischen Textsorten (Listen, Glossen, Epik, religiöse Dichtung etc.) zu berücksichtigen. 2.1 Lateinische Texte 2.1.1 Das römische Nationalepos: Vergils Aeneis Publius Vergilius Maro (70-19 v.Chr.) gilt als der größte Dichter Roms. Sein Hauptwerk, die aus zwölf Büchern bestehende Aeneis , an der Vergil bis an sein Lebensende arbeitete, nimmt sich Homers Ilias und Odyssee zum Vorbild. Es wird geschildert, wie der trojanische Held Aeneas nach dem Untergang Trojas flieht und auf vielen Umwegen durch den Mittelmeerraum (Buch I-VI; hier dominiert die Anlehnung an die Odyssee ) in Latium landet, wo er zunächst freundlich <?page no="11"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 12 aufgenommen wird und wo ihm sogar die Königstochter Lavinia zur Frau versprochen wird. Dieselbe Frau wird aber auch vom Rutulerfürsten Turnus begehrt, so dass es einige Verwicklungen und Kämpfe braucht, bis Aeneas Turnus im Zweikampf besiegen und mit Lavinia einen neuen Volksstamm begründen kann, dessen Nachkommen Rom gründen sollen (Buch VII-IX; = Anlehnung an die Ilias ; dort war Helena die Frau, die den Krieg auslöste). In Buch VI der Aeneis steigt Aeneas in die Unterwelt hinab, wo die Seelen der Verstorbenen als Schatten weiter existieren. 1 Hier sucht Aeneas seinen Vater Anchises auf, der ihm u.a. verkündet, wie seine Nachkommen Rom gründen werden und welche Rolle Rom in der Welt spielen wird. Am bekanntesten sind die Stellen, wo das Wirken des Kaisers Augustus angekündigt (V.788-806; unten nur bis V.797 erfasst) und das künftige Erfolgsrezept römischer Außenpolitik empfohlen wird, das darin besteht, Besiegte zu Verbündeten zu machen (V.851-853). Historisch interessant sind diese Stellen, weil Vergils Leben lange von verschiedenen römischen Bürgerkriegen geprägt war, bis 31 v.Chr. Octavian, der Großneffe Caesars, an die Macht kam und als Princeps Augustus das Reich für eine längere Epoche befriedete, für die sich der Ausdruck Pax Romana (‚römischer Friede ‘ ) eingebürgert hat. Zwei Jahre nach der Machtübernahme durch Octavian bzw. Augustus begann Vergil die Arbeit an der Aeneis , in der Augustus als Heilsbringer geschildert wird und die zum römischen Nationalepos werden sollte. Rom wird hier als eine kämpferische Macht beschrieben, deren eigentliche Aufgabe aber darin besteht, Frieden in die Welt zu bringen. Bibelkundigen dürfte der erste der genannten Ausschnitte an die Verkündigung des Messias gegenüber Maria (Lk 1, 26-38) sowie gegenüber den Hirten in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2, 8- 14) erinnern. Romanist*innen werden sofort die Parallele zum spanischen Diktator Franco bemerken, der sich nach dem von ihm selbst ausgelösten Bürgerkrieg ebenfalls als Friedensbringer inszenierte und für entsprechende Verherrlichungsliteratur sorgte. Und natürlich lässt der Text sofort an die Entstehung der großen Hegemonialmächte des 20. Jahrhunderts denken. Das auch von ihnen angewandte Prinzip, sich mit Unterlegenen zu verbünden, war die Grundlage der Entstehung des Imperium Romanum und über den daraus resultierenden Sprachkontakt auch Grundlage der Entstehung der Romania bzw. der romanischen Sprachen (vgl. LatRom Kap. 2.1) 1 Um in das Schattenreich (= in den Hades oder Orcus; diese Bezeichnungen stehen ursprünglich für den Gott der Unterwelt in der griechischen bzw. lateinischen Benennung und wurden als pars pro toto auf die gesamte Unterwelt übertragen) zu gelangen, muss der Fluss Styx überquert werden, was nur mit Hilfe des Fährmanns Charon möglich ist. Um diesen Fährmann zu bezahlen, wurde in Griechenland den Leichen vor der Verbrennung eine kleine Münze (gr. obolós ) unter die Zunge gelegt. Von dessen lateinischer Entsprechung obolus kommt unsere deutsche Bezeichnung Obolus für eine Spende oder Gabe - die griechischen Substantive auf -ós werden im Lateinischen üblicherweise an die o -Deklination angeglichen, lauten also im Nominativ auf us aus. Das Deutsche übernimmt demnach hier den lateinischen Ausdruck. <?page no="12"?> 2.1 Lateinische Texte 13 Hier nun zu sprachlichen Aspekten der genannten Ausschnitte aus Buch VI: Vers lateinischer Text deutsche Übersetzung (frei nach Gottwein) 788 „huc geminas nunc flecte acies, hanc aspice gentem Und nun wende den Blick hierher, sieh dieses Geschlecht an 789 Romanosque tuos. hic Caesar et omnis Iuli und deine Römer. Sieh Caesar hier und Iulus' gesamten 790 progenies magnum caeli ventura sub axem. Stamm, der einst zu des Himmels erhabenem Pol steigen wird. 791 hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Dieser Mann, dieser ist es, den öfters du dir hörtest verheißen, 792 Augustus Caesar, divi genus, aurea condet Caesar Augustus, des Göttlichen Sohn, der die goldenen 793 saecula qui rursus Latio regnata per arva Zeiten wieder nach Latium bringt, zu der Flur, die früher Saturnus' 794 Saturno quondam, super et Garamantas et Indos Zepter beherrscht, der das Reich ausdehnt bis über der Inder und Garamanten 795 proferet imperium; iacet extra sidera tellus, Gebiet - das Land liegt außer der Sternbahn, 796 extra anni solisque vias, ubi caelifer Atlas Außerhalb der Pfade des Jahres und der Sonne, wo der Träger des Himmels, Atlas, 797 axem umero torquet stellis ardentibus aptum. mit der Schulter die Achse bewegt, die mit funkelnden Sternen besetzte. 851 tu regere imperio populos, Romane, memento Dein sei, Römer, das Amt, als Herrscher die Völker zu zügeln 852 - hae tibi erunt artes -, pacique imponere morem, - Dies ist die Kunst, die dir ziemt - die Gesetze des Friedens zu schreiben, 853 parcere subiectis et debellare superbos." Dem, der gehorcht, zu verzeihn, Aufmüpfige niederzukämpfen! “ (Text nach ed. Mynors 1969, Übersetzung frei nach https: / / www.gottwein.de/ - Lat/ verg/ aen06.php) 2 2 Sämtliche gängigen Übersetzungen ins Deutsche bemühen sich, das lateinische Versmaß im Deutschen nachzubauen. Dadurch entfernt sich die Übersetzung zwangsläufig vom Original und wird schwerer nachvollziehbar, insbesondere was die Verteilung der lexikalischen Elemente auf die einzelnen Verse angeht. Aus diesem Grund wurde die - sehr <?page no="13"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 14 Kommentare/ Hilfen V.788: huc (Adv.): ‚hierher ‘ ; acies , aciei , f ‚Schärfe, Sehkraft ‘ ; am Attribut geminas (‚doppelt ‘ , vgl. Medizinerdeutsch gemini und it. gemelli ‚Zwillinge ‘ ; gemeint ist also die Sehkraft beider Augen) erkennt man, dass hier der Akkusativ Plural vorliegt, also ein direktes Objekt zum Imperativ flecte (von flectĕre , o , flexi , flexum ‚beugen, wenden ‘ , vgl. dt. flexibel , Flexion ) V.790: progenies, -ei , f ‚Stamm ‘ , ‚Nachkommenschaft ‘ , vgl. it. genitori ‚Eltern ‘ ; axis , is , m. ‚Achse, Pol‘ (vgl. sp. axis , fr. axe , it. asse , dt. Achse ,) V.791: tibi quem : das Relativpronomen quem ist hier nachgestellt. saepius : Komparativ zum Adverb saepe ‚oft‘ V.791: hic kann Adverb (‚hier‘) oder Demonstrativpronomen (‚dieser‘) sein; wahrscheinlicher ist hier das Pronomen. V.792: aureus, 3 = Adjektiv zu aurum , i , n ‚Gold‘ (vgl. it. aureo , sp. áureo ‚ golden‘); condet : von condĕre , o , condidi , conditum ‚gründen‘ (vgl. lat. ab urbe condita ‚von Gründung der Stadt [sc. Rom] an‘) V.793: arvum , i , n ‚Feld, Flur‘; das Relativpronomen qui ist nachgestellt und bezieht sich auf Augustus Caesar in V.792 V.794: et ... et ... entspricht dem deutschen ‚sowohl ... als auch‘ ; quondam (Adv.) ‚einst‘; Saturno ist hier adjektivisch gebraucht, also wörtlich ‚dem saturnischen Latium‘ V.795: proferet imperium super ... ‚er wird das Reich ausdehnen über...‘; sidus , eris , n ‚Gestirn‘; tellus , telluris , f ‚Erde, Land‘ V.796: ändert man die Wortstellung und die Konjunktion zu extra vias anni et solis , so lässt sich dieser Teil mit romanischen Sprachkompetenzen komplett erschließen ( sol , solis , m ‚Sonne‘; vgl. sp. sol , it. sole , fr. soleil ); caelifer ist eine nominale Komposition aus caelum ‚Himmel‘ (vgl. it./ sp. cielo , fr. ciel ) und dem Verb ferre (‚tragen‘), analog z.B. zu fructifer (‚früchtetragend‘). Im Deutschen kennen wir aus der Botanik die entsprechende Konstruktion Konifere (von conifer ‚zapfentragend‘; vgl. conus , -i , m ‚Kegel, Zapfen‘, vgl. dt. konisch ). V.797: aptus , 3 ‚tauglich, passend‘ (vgl. sp. apto , fr. apte , it. atto ), hier ‚besetzt mit‘ + Abl.; umerus , -i , m. ‚Schulter‘ (vgl. sp. hombro ); torquēre , eo , torsi , tortum ‚drehen, werfen, foltern‘ (vgl. dt. Torsion , Tortur ) V.851: tu ist zu beziehen auf den Vokativ Romane . V.852: mos , moris , m ‚Gesetz, Sitte, Art und Weise‘ (vgl. fr. les mœurs , dt. Moral ) V.853: subiectis von subicĕre , io , ieci , iectum ‚unterwerfen‘. Im Französischen wurde aus dem ‚Unterworfenen‘ (lat. subiectus ) in der Form sujet der ‚Untertan‘ bzw. der ‚Staatsbürger‘, aber auch das ‚Subjekt‘ in der schöne - Gottwein-Übersetzung an mehreren Stellen so modifiziert, dass die deutsche Verszeile in etwa der lateinischen entspricht. <?page no="14"?> 2.1 Lateinische Texte 15 Grammatik (als das dem Prädikat unterworfene Satzglied). Im Spanischen und Italienischen existieren analog sujeto und soggetto . Aufgaben zum Text a. V.788: Wie lautet der Nominativ zu gentem ? Welche Wörter leiten sich daraus im Französischen, Englischen, Spanischen und Italienischen ab? b. V.789-790: Wie lautet das Prädikat des Satzes „ hic ... axem “? c. V.790: Was für eine Form ist ventura ? Wie hängt das Wort inhaltlich und formal mit sp. aventura , it. avventura , fr. aventure , en. adventure zusammen? d. V.791: Wie nennt man das Stilmittel in „ hic vir, hic est “? (zu Stilmitteln vgl. LatRom Kap. 7.2) e. V.791: Was für eine Form von promittere ist promitti ? In was für eine Konstruktion ist das Wort eingebunden? f. V.788-797: Suchen Sie mindestens drei Hyperbata im lateinischen Text. g. V.797: Was für ein Ablativ ist umero ? Erklären Sie den Wandel zu sp. hombro . h. V.851: Was für eine Form ist memento ? Wie müsste man sie wörtlich übersetzen, und wie wird sie hier auf Deutsch wiedergegeben? i. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die lateinischen Wörter tauchen im Text auf. Da es bei diesen Wortschatzübungen oft mehrere korrekte Möglichkeiten gibt, werden in der Folge nicht durchweg Musterlösungen angeboten. Latein Deutsch Englisch Französ. Italien. Span. Aspekt to promise regĕre règne anno säkular siglo Lösungen a. lat. gens - Ableitungen: fr. les gens , gentil , gentilhomme ; eng. gent , gentle , gently , gents , gentleman ; sp. la gente , gentil ; it. gente , gentile , gentilezza , gentilmente , gentiluomo b. Der Satz hat kein Prädikat im Sinne eines Vollverbs. Zu ergänzen ist eine entsprechende Form von esse ( est ), oder aber man muss das Pronomen hic als eine Art Präsentativum verstehen wie beispielsweise voilà im Französischen oder ecco im Italienischen. c. Feminines Partizip Futur Aktiv (PFA) im Nominativ Singular. Vom Kompositum advenire ‚ankommen‘ (vgl. dt. Advent ) wird das PFA adventurus gebildet. Die Neutrum-Plural-Form adventura steht für ‚alle Dinge, die <?page no="15"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 16 (an-)kommen werden‘, also für die Zukunft. Da man nie weiß, was kommt, ist die Zukunft auch oft abenteuerlich. d. Anapher e. Infinitiv Präsens Passiv: ‚versprochen werden‘; es liegt ein AcI vor, dessen Subjektsakkusativ zugleich das Relativpronomen eines Relativsatzes ist (sog. „relativische Verschränkung“, vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995, §245): hic est quem audis tibi promitti - ‚er ist der, von dem du hörst, dass er dir verheißen wird‘. f. V.788: geminas ... acies ; hanc ... gentem . V.790: progenies ... ventura ; magnum ... axem . V.792/ 793: aurea ... saecula ; regnata ... arva . V.797: axem ... aptum . g. Ablativus instrumentalis (‚mit Hilfe der Schulter‘). Im Spätlatein hat sich neben umerus eine geschriebene Parallelform humerus ausgebildet, also mit Anlauth . Zu erklären ist sie durch die Unsicherheiten, die darin bestanden, dass das geschriebene <h> schon lange nicht mehr gesprochen wurde (vgl. LatRom Kap. 3.2.2), so dass man nie wusste, vor welchem Anlaut es zu schreiben ist. Die beiden kurzen / u/ -Laute in ŭmerŭs bzw. dem Akkusativ ŭmerŭm entwickelten sich im Vulgärlatein ganz lautgesetzlich (s. Quantitätenkollaps) zu offenem / ɔ/ , das Auslaut-/ m/ verstummte (> omero). Im Zuge der Ökonomisierung der Aussprache (Schnellsprechform) verstummte auch der unbetonte Zwischenvokal / e/ . Da aber omro schwer auszusprechen war, wurde als Stützkonsonant ein / b/ eingefügt (> altsp. ombro ). Das geschriebene <h> wurde im Zuge der Relatinisierung in Analogie zu z.B. hombre (von lat. hominem ) eingefügt, woraus sich die heutige Graphie <hombro> ergab. In <hombre> hat das <h> allerdings seine etymologische Berechtigung, in <hombro> nur in Bezug auf die o.g. Parallelform. h. Imperativ Futur. Wörtlich: ‚Denke immer daran, die Völker mit deinem Befehl zu beherrschen und dem Frieden Regeln aufzuerlegen‘; in der Übersetzung oben wird die Formulierung verwendet „dein Amt sei“ - der Imperativ wird also zu einem Konjunktiv abgeschwächt. Literatur P. Vergili Maronis Opera , ed. R.A.B. Mynors, Oxford: Oxford University Press (1969). P. Vergilius Maro: Aeneis Buch VI , hrsg., kommentiert und übersetzt von Eduard Norden. Darmstadt: WBG ( 4 1957). Virgil, Aeneid I-VI , hrsg. und kommentiert von R.D. Williams. Basingstoke/ London: Macmillan/ St Martin’s Press (1972). P. Vergilius Maro: Aeneis , online-Textausgabe mit Wörterbuch und Übersetzung, besorgt von Gottwein, Egon und Gottwein, Gisela: https: / / www.gottwein.de/ Lat/ verg/ aen06.php (zuletzt besucht 15.1.2020). Vergil: Aeneis. 12 Gesänge . Übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Plankl und Karl Vretska. Stuttgart: Reclam (1980). Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. <?page no="16"?> 2.1 Lateinische Texte 17 2.1.2 Pompejanische Wandinschriften Die Besonderheit der Wandinschriften von Pompeji besteht darin, dass sie wegen des Ausbruchs des Vesuvs und der damit zusammenhängenden 1700 Jahre Konservierung (bis zur Ausgrabung im 18.Jh.) unter Asche und Bimsstein zum einen sehr gut erhalten sind und zum andern klar datiert werden können, nämlich auf den Zeitraum vor 79 n.Chr., dem Jahr, in dem der Vulkan ausbrach. Auf diese Weise wurden auch Inschriften erhalten, die keinen offiziellen Charakter hatten, also nicht professionell in die Steine eingemeißelt, sondern lediglich eingeritzt oder mit Farbe aufgemalt waren, d.h. echte Graffiti sind. Diese von Amateuren produzierten Graffiti waren sprachlich näher am gesprochenen Latein als die offiziellen Inschriften und gelten daher als eine der wichtigsten Quellen des Vulgärlateins. Viele Graffiti drehen sich um das Thema Sexualität und bedienen sich einer sehr expliziten Vulgärsprache. Sämtliche hier präsentierten Inschriften einschließlich ihrer (teilweise recht drastischen, aber durchaus registerkonformen) Übersetzung und Nummerierung sind nach Wachter (2019) zitiert. Auch die Abkürzungspunkte werden von Wachter übernommen, stehen allerdings so nicht in den Originalen. 2.1.2.1 Gladiatorenkämpfe Gladiatoren hatten im römischen Kaiserreich einen ähnlichen Stellenwert wie professionelle Fußballer in der heutigen Zeit. Sie wurden als Stars verehrt, es gab regelrechte Fan-Clubs, und man kritzelte die Namen seiner Lieblinge an die Wand - ähnlich wie man heute die Namen von Tour de France-Fahrern auf die Straße malt. Typisch für römische Inschriften sind auch die extrem häufigen Abkürzungen, wie die folgenden Beispiele zeigen: Nr. lat. Text dt. Übersetzung (nach Wachter) #398 Asicius mur. XV Der Murmillo Asicius, 15 Kränze #403 essed. Auriolus Sisen. III c. III Der Wagenkämpfer Auriolus, Sisennaner, drei Kämpfe, drei Kränze #426 Hermaiscus invictus hac Hermaiscus, der Unbesiegte, ist hier vorbeigekommen Kommentare/ Hilfen #398: Die Abkürzung mur. verweist auf den sog. murmillo , einen besonders gut bewaffneten Kämpfer, der typischerweise gegen den retiarius (von lat. rete ‚Netz‘, vgl. it. la rete , sp. la red , auch für das Internet) zu kämpfen hatte, also einen Gladiator mit Fischernetz und Dreizack. Der Murmillo leitet sich <?page no="17"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 18 von lat. murma ab, einem Seefisch, der typischerweise in Netzen gefangen wurde. Hier kämpft also gewissermaßen Fisch gegen Fischer. #403: - Als Preis für den Sieger eines Gladiatorenkampfes gab es zumeist eine Geldprämie und einen Palmenzweig oder -kranz (oft auch mit c . für corona ‚Kranz‘ abgekürzt; vgl. it./ sp. corona , fr. couronne , en. crown , dt. Krone ). - Die Abkürzung essed . verweist auf den essedarius , den Fahrer eines Streitwagens. Sisenna war der Name einer römischen Adelsfamilie, in deren Dienst dieser Gladiator wohl stand. - Die Kampfstatistik von Gladiatoren wurde ähnlich gezählt wie heute bei Profiboxern: 3 Die Anzahl der Kämpfe wird mit der Anzahl der Siege (metonymisch steht dafür die Anzahl der Kränze) kombiniert. Da der Unterlegene nicht zwangsläufig starb (er konnte „begnadigt“ werden) und es auch Unentschieden gab, konnte man mehr Kämpfe als Siege aufweisen. #426: hac steht verkürzt für ablativisches hac via (‚auf diesem Weg‘); das entsprechende Bewegungsverb wird in solchen Inschriften meist weggelassen. Es wurden aber von gut informierten Fans auch Kämpfe bestimmter Gladiatoren angekündigt, denn natürlich konnte in den offiziellen Ankündigungen von Gladiatorenspielen nicht jeder Gladiator einzeln erwähnt werden. Eine solche namentliche Nennung zeigt das folgende Beispiel: Nr. lat. Text dt. Übersetzung (nach Wachter) #421 hec venatio pugnabet V k. Septembres et Felix ad ursos pugnabet Diese Tierhatztruppe wird am 5. Tag vor den Kalenden des September 4 kämpfen, und Felix wird gegen die Bären kämpfen Kommentare/ Hilfen venatio , onis , f: eigtl. ‚Jagd, Tierhetze‘; hier wohl metonymisch für die Personen, die die Tierhetze durchführen. Der Akkusativ venationem hat sich in fr. venaison ‚Wildbret‘ fortgesetzt. Das Ursprungslexem venari ‚jagen‘ hingegen wurde vom vulgärlateinischen captiare , einem Verbum Intensivum zum klassischen capĕre (‚ergreifen‘) verdrängt, vermutlich deshalb, weil es als Deponens 5 vergleichsweise unregelmäßig war und obendrein dem extrem häufigen Bewegungsverb venire ‚kommen‘ sehr 3 Anzahl der Kämpfe, Anzahl der gewonnenen Kämpfe, davon Siege durch KO. 4 Zum römischen Kalender vgl. LatRom Kap. 6.4.1 sowie Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995, §276. 5 Ein Deponens hat passivische Formen, aber aktivische Bedeutung. Es hat gewissermaßen die aktivischen Forman ‚abgelegt’ (von lat. deponĕre ‚ablegen’). <?page no="18"?> 2.1 Lateinische Texte 19 ähnelte. Aus captiare resultieren it. cacciare , sp. cazar , fr. chasser (‚jagen‘) und die entsprechenden Substantive ( la caccia , la caza , la chasse ‚die Jagd‘). - Die Formen hec für klassisch haec und pugnabet für klassisch pugnabit (3.Sg.Futur I) dokumentieren die volkstümliche Monophthongierung (ae >e) und die Veränderung des kurzen / i/ zu offenem / ɛ/ im Rahmen des Quantitätenkollapses (vgl. LatRom Kap. 3.2). - Die Kalenden bezeichnen den ersten Tag eines Monats. Von diesem aus wird zurückgerechnet, wobei die jeweiligen Grenztage mitzählen. Der 5. Tag vor dem 1. September ist also der 28. August. ad ursos : Klassisch würde hier die Präposition cum (‚mit‘) oder contra bzw. adversus (‚gegen‘) stehen. Die Gladiatoren galten als Frauenhelden, was mehrfach in Wandinschriften dokumentiert ist - besonders begehrt war offensichtlich Celadus, wie die beiden folgenden Beispiele dokumentieren: Nr. lat. Text dt. Übersetzung (nach Wachter) #407 suspirium puellarum Celadus Tr. Der Seufzer der Mädchen: Celadus der Thraker #408 puellarum decus Celadus Tr. Das Schmuckstück der Mädchen: Celadus der Thraker Kommentare/ Hilfen #407/ 408: Die Abkürzung Tr . für Thrax bezeichnet weniger einen Volksstamm als vielmehr eine Art von Bewaffnung, mit der bestimmte Gladiatoren ausgestattet wurden. Charakteristisch für den vermeintlichen ‚Thraker‘ war sein gebogenes Kurzschwert, der große Schild und die hohen Beinschienen. #407: suspirium , i , n ‚Seufzer‘ > sp. suspiro , fr. soupir , it. sospiro #408: decus , decoris , n ‚Schmuck‘. 2.1.2.2 Liebesbekundungen Das Bedürfnis von Liebenden, ihre Liebe in der Öffentlichkeit zu dokumentieren, scheint universell und zeitlos zu sein. Liebesschlösser an Brückengeländern gab es in der Antike noch nicht, aber entsprechende Wandkritzeleien zu Hauf - mal mit, mal ohne namentliche Kennzeichnung, und häufig auch mit Kosenamen: <?page no="19"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 20 Nr. lat. Text dt. Übersetzung (nach Wachter) #1139 unus amat una, sa., sal. Einer liebt eine, Gruß da, Gruß dort #1146 Marcus Spedusa amat Marcus liebt Spedusa #1131 Cresces, have, anima dulcis et suavis Crescens, sei gegrüßt, du süße und liebliche Seele #1134 fonticulus pisciculo suo plurma salut. Quellchen [schickt] seinem Fischchen ganz viele Grüße Kommentare/ Hilfen #1139/ 1146: Diese Belege dokumentieren den Verfall des Auslautm im Akkusativ. Klassisch würde es unam und Spedusam lauten. #1139: Die Abkürzungen sa. und sal . stehen beide gleichermaßen für salutem , ‚Gruß‘ (Akkusativ von lat. salus , salutis , f. ‚Heil, Gesundheit, Gruß‘); salut . in #1134 hingegen steht für den Plural salutes (‚Grüße‘) #1131: - Cresces statt Crescens (Eigenname, abgeleitet vom Part.Präs.Akt. von crescĕre , wörtl. ‚der Wachsende‘) belegt die auch in der Appendix Probi 6 dokumentierte Tendenz des Vulgärlateins, / n/ vor / s/ nicht auszusprechen. Vgl. lat. mensa ‚Tisch‘ > sp. mesa . have ist nicht etwa ein englisches Verb, sondern eine lateinische Hyperkorrektur 7 : Man wusste, dass <h> oft geschrieben wird, ohne dass man es sprach (z.B. in harena ‚Sand‘, aus dem später der sandige Kampfplatz arena wurde). Deshalb wurde es manchmal auch fälschlich an Stellen eingefügt, wo es nicht hingehörte. Hier ist der bekannte Gruß ave gemeint, der in Verbindung mit der Anrede des Imperators geradezu sprichwörtlich geworden ist ( Ave Caesar! ‚Heil dir Caesar‘). Ganz ähnliche Probleme haben spanische Kinder, die ‚mal sehen‘ meinen, aber statt a ver das gleichlautende haber ‚haben‘ schreiben. #1134: - Die Form plurma für plurima ist hier wohl keine bewusste Abkürzung sondern eher ein Beleg für die volkstümliche Tendenz, unbetonte Zwischenvokale nicht auszusprechen. Noch interessanter ist aber, dass hier eine Form (Akk. Pl. Neutrum) gewählt wird, die nicht zu ihrem Bezugswort passt (Akk. Pl. Femininum) - ein Beleg für den allmählichen Verfall der 6 Die Appendix Probi ist ein sog. Antibarbarus, also eine Liste von Wortpaaren, von denen jeweils eines das „barbarische“ und eines das „korrekte“ Wort darstellt. Die genannte Liste enthält 227 klassisch vs. vulgärlateinische Wortpaare und ist um 300 n.Chr. am Ende eines Manuskripts der Grammatik des Probus festgehalten worden (vgl. LatRom Kap. 2.4.2 und 3.2.1). 7 Bei einer Hyperkorrektur wird ein korrekter Ausdruck, der nur vermeintlich falsch ist, zu Unrecht korrigiert und damit wirklich falsch. <?page no="20"?> 2.1 Lateinische Texte 21 Deklination, die einhergeht mit einer allgemeinen Tendenz zum Verstummen des Auslauts s . Korrekt müsste es plurimas heißen. - Die Kosenamen fonticulus (von fons , fontis , m ‚Quelle‘) und pisciculus (von piscis , is , m. ‚Fisch‘) bezeugen die offensichtlich universelle Tendenz, Deminutivformen in affektischer Weise zu verwenden. Im Vulgärlatein ersetzten diese Deminutive oft die Ausgangsformen und verloren ihre deminutive Bedeutung. Typischerweise setzten sich dann die Deminutivformen in den romanischen Sprachen fort, hier sind es jedoch einmal die neutralen Formen (vgl. it. fonte / pesce , sp. fuente / pez ; stärker abgewandelt: fr. fontaine / poisson ) 2.1.2.3 Prostitution Eine besonders frequentierte Touristenattraktion in Pompeji sind die früheren Bordelle mit ihren gut erhaltenen erotischen Wandgemälden. An den Hauswänden in oder in der Nähe der Etablissements finden sich aber auch Inschriften mit Werbung oder Informationen für potenzielle Kunden beiderlei Geschlechts. Teils stammen die Empfehlungen von den Kunden, teils wohl auch von den Sexarbeiter*innen selbst. 8 Sprachlich interessant sind diese Passagen, weil sie dokumentieren, dass ein beträchtlicher Teil der überwiegend sexuell motivierten Schimpfwörter und Flüche der romanischen Sprachen (vgl. hierzu Gauger 2012) bereits im Vulgärlatein angelegt ist: Nr. lat. Text dt. Übersetzung (nach Wachter) #1283 Beronice abenda futuere Beronice ist fickenswert #1291 Lahis felat a. II Lais bläst für 2 As #1330 Glyco cunnum lingit a. II Glyco leckt die Möse für 2 As Kommentare/ Hilfen #1283: - Der Eigenname Beronice stammt ursprünglich aus dem Griechischen ( Bereníke ), existiert im Lateinischen als Berenice und Beronice und wird auch im Romanischen (z.B. fr. Bérénice, Véronique ) und Deutschen ( Veronika ) als Eigenname fortgesetzt. Aus der griechischen Stadt gleichen Namens ( Bereníke ) stammt übrigens eine spezielle Form der Lackierung, die zu it. vernice und fr. vernis (‚Anstrich, Glanzlack‘) geführt hat. 8 Dieser moderne Ausdruck ist durchaus berechtigt: Das Gewerbe war legal, die Arbeiter*innen angemeldet und seit 40 n.Chr. auch steuerpflichtig (Weeber 2011: 64). <?page no="21"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 22 - Die Form abenda (Gerundivum von habēre ‚haben‘) 9 dokumentiert die Unsicherheit im schriftlichen Gebrauch des <h>, das mündlich schon lange nicht mehr realisiert wird. Entsprechend fehlt das <h> konsequent im französischen avoir und italienischen avere , während es im spanischen haber als Relatinisierung später wieder eingefügt wurde. - Wörtlich müsste die Konstruktion in #1283 als ‚Beronice ist zum Ficken habenswert‘ übersetzt werden, das fehlende Prädikat est ist zu ergänzen. Das Verb futuĕre ist ein sehr vulgär konnotiertes Lexem für die Ausübung des Geschlechtsakts und gerade deshalb in der Wortbildung sehr produktiv ( fututio , fututor , fututrix ...). Besonders lebendig sind seine Fortsetzer im Französischen. Hier existiert nicht nur das Verb foutre in der Originalbedeutung sowie in derben Beschimpfungen ( va te faire foutre - im Deutschen am ehesten verpiss dich ; fous-moi la paix ‚lass mich in Ruhe‘), sondern es gibt auch feste Redensarten wie c’est foutu (‚es ist schiefgegangen‘), je m’en fous (‚ist mir egal‘), le jemenfoutisme (= die Haltung von jemandem, dem alles egal ist), in denen der vulgäre Charakter etwas abgeschwächt und die sexuelle Metaphorik verblasst ist. Voll erhalten sind die Originalbedeutung und der vulgäre Charakter im italienischen fóttere sowie im spanischen joder , das auch als Fluch im Sinne von en. fuck fungiert. Weitere Fortsetzer sind port. foder , kat. fotre , rum. a fute und rätoromanisch fuoter (Gauger 2012: 26-37). #1291: - Die Form felat anstelle von fellat (zu fellare ‚saugen‘; vgl. dt. Fellatio ) ist ein Beleg für die Tendenz im Vulgärlatein, klassisch lateinische Doppelkonsonanten auf einen einzigen zu reduzieren (vgl. bella ‚schön‘ > okz. bele , afr. bele ). - Lais war ein beliebter Name von Prostituierten im antiken Griechenland und entsprechend auch im griechisch geprägten Süditalien. Dass er hier mit <h> geschrieben wird, dokumentiert einmal mehr die Instabilität des Lauts / h/ . - Das As (abgekürzt a .) war eine kleine römische Geldmünze. Zur Zeit der Republik betrug die kleinste römische Geldstrafe ein Schaf oder 10 As, die höchste 3020 As (Der Kleine Pauly: Art. multa ). Zur Zeit des Vesuv-Ausbruchs war das As schon deutlich weniger wert: Nach Weeber (2011: 65) entsprach der typische Billig-Tarif von zwei Assen in etwa dem „Kaufkraft- Äquivalent von zwei Laiben Brot oder einem halben Liter Wein gehobener Qualität“, wodurch sich auch Sklav*innen professionelle Liebesdienste leisten konnten. #1330: cunnus ist ein dichterischer Ausdruck für das weibliche Geschlechtsteil, der v.a. in Satiren verwendet wurde, wo man sich zumindest lexikalisch gerne 9 Das deutsche Wort haben ist zwar über indogermanische Vorfahren mit lat. habēre verwandt, stammt aber nicht direkt von diesem ab. <?page no="22"?> 2.1 Lateinische Texte 23 der Volkssprache bediente. In den romanischen Sprachen hat sich das Lexem hervorragend erhalten, und zwar sowohl in der ursprünglichen Bedeutung mit vulgärer Konnotation (fr. con , sp. coño , im 16.Jh. auch noch ital. conno ), vor allem aber als Schimpfwort (sp. coño ! entsprechend etwa dt. Arschloch ! ). Im Französischen wird das Wort als Beschimpfung v.a. in der 3.Person gebraucht ( ah, le con! etwa: dieser Idiot! ). Deutlich desemantisiert und devulgarisiert ist der adjektivische Ausdruck c’est con entsprechend das passt mir nicht / das kotzt mich an . - Das Verb lingĕre , o , linxi , linctum (‚lecken‘) ist mit lingua (‚Zunge, Sprache‘) verwandt und hat sich insbesondere im Fachausdruck für die oben beschriebene Sexualpraktik verewigt (vgl. dt. Cunnilingus ). Aufgaben zu den pompejanischen Inschriften a. zu Inschrift #408 (s.o.): Suchen Sie Fortsetzer von decus , decoris in den romanischen Sprachen sowie im Deutschen und Englischen. Von welcher Form sind die Fortsetzer abgeleitet? b. Um was für eine Art von Inschrift handelt es sich bei dem folgenden Beispiel? Woher kennen Sie die Wörter populus und rogat ? Übersetzen Sie die Inschrift und lösen Sie die Abkürzung auf: #286: L. Popidium Secundum aedilem; populus rogat c. Übersetzen Sie die folgende Inschrift und lösen Sie die Abkürzung auf: #646: Ismarus Crocineni suae sal . Lösungen a. it. decoro , decorare , decorato , decoroso , decorazione , decoratore ; sp. decoro , decorar , decorado , decoroso , decoración , decorador ; fr. décor , décorer , décoré , décoration , décorateur ; dt. Dekor , dekorieren , dekoriert , Dekorateur , Dekoration ; en. decor , to decorate , decorated , decoration , decorator , decorative , decorativeness ; sämtliche Fortsetzer sind von dem im Genitiv erkennbaren Stamm decor abgeleitet. Der Nominativ decus bleibt ohne Fortsetzer (der Akkusativ lautet identisch wie der Nominativ, da es sich um ein Neutrum handelt). b. Es handelt sich um politische Wahlwerbung. Hier wird behauptet, das Volk verlange danach, dass Lucius Popidius Secundus zum Ädil (= oberster Vertreter der Polizeigewalt) gewählt wird. Offensichtlich haben seine Unterstützer die Inschrift verfasst. Lat. pŏpulus setzt sich z.B. in it. popolo , sp. pueblo und fr. peuple fort (‚Volk‘), aber auch in Adjektiven wie dt. populär (‚im Volk beliebt‘) oder neuerdings Populist . Das Verb rogare ‚fragen, vorschlagen, bitten‘ ist nahezu unverändert erhalten in sp. rogar , it. rogare , im Französischen und Deutschen hingegen nur in Zusammensetzungen wie fr. interroger , interrogatif oder dt. Interrogativpronomen . Das L . muss als Lucium (Akk.) aufgelöst werden. Übersetzung: ‚Lucius Popidius Secundus zum Ädilen! Das Volk empfiehlt [ihn]‘ <?page no="23"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 24 c. ‚Ismarus [schickt] seiner Crocine einen Gruß‘; sal . muss zu salutem aufgelöst werden, das Verb ist zu ergänzen. Crocine ist ein griechischer Name, daher die ungewöhnliche Dativform. Literatur Gauger, Hans-Martin (2012): Das Feuchte & das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache . München: Beck. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik. Neubearbeitet von Richard Heine . Bamberg: Buchners. Wachter, Rudolf (2019): Pompejanische Wandinschriften. Herausgegeben und übersetzt von Rudolf Wachter. Berlin/ Boston: De Gruyter. Weeber, Karl-Wilhelm ( 3 2011): Nachtleben im alten Rom . Darmstadt: WBG. Ziegler, Konrat; Sontheimer, Walther (2013, Hrsg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Stuttgart: Metzler (unveränderter Nachdruck der 1964-1975 bei Artemis erschienenen Bände). 2.1.3 Defixionum tabellae Fluchtafeln (gr. κατάδεσμοι; lat. defixiones oder defixionum tabellae ) sind Primärzeugnisse eines Schadenzauberrituals, das in der griechisch-römischen Antike bis zum endgültigen Siegeszug des Christentums weit verbreitet ist (Zeitraum ca. 6. Jh. v.Chr. bis 5. Jh. n.Chr.). Praktiziert wird diese Form schwarzer Magie in der gesamten antiken Welt, in Griechenland wie in Spanien, in Ägypten wie in Britannien. Das Ritual wird dabei unmittelbar an der Fluchtafel ausgeführt: Dünne Metallplättchen (meistens Blei) werden hierfür zunächst mit mehr oder weniger formelhaften Zaubertexten beschriftet, anschließend rituell durchbohrt (oder auf andere Weise manipuliert) und zu guter Letzt an einem magischen Ort abgelegt. Besonders beliebt sind Gräber und unbenutzte Brunnen oder aber die Heiligtümer großer Götter wie z.B. Sulis/ Minerva oder Merkur. Einschlägige „Rezepte“ lassen sich in altägyptischen Zauberpapyri (z.B. den sogenannten Papyri Graecae Magicae ) finden. Im antiken Rom steht der Schadenzauber spätestens mit dem Zwölftafelgesetz (5. Jh. v. Chr.), das explizit ‚böse Gesänge‘ ( mala carmina ) nennt, unter Strafe. Fluchtafeln kommen in sehr unterschiedlichen Situationen zum Einsatz: In Liebesdingen zielen sie auf die Eroberung einer Person ab; daneben werden Widersacher und Konkurrenten aller Art (vor allem vor Gericht oder im Wettkampf) verwünscht ebenso wie Diebe und andere Übeltäter. Nicht alle defixiones lassen sich jedoch zuordnen; viele enthalten nur den bzw. die Namen der Opfer, einige auch die verwünschten Körperteile („Glieder“defixiones , s.u.) oder die Aufzählung von Krankheiten und Schmerzen. Von den ca. 1.550 Fluchtafeln sind über 600 in (vulgär)lateinischer Sprache abgefasst. Aufgrund ihrer besonderen Produktions- und Überlieferungsumstände liegen sie so vor, wie der bzw. die defigens sie aus der Hand gelegt <?page no="24"?> 2.1 Lateinische Texte 25 hat; sie stellen folglich Sprachdenkmäler von hohem sprachwissenschaftlichem Wert dar, die uns vielfach recht genau Auskunft über die gesprochene Alltagssprache geben können. Der Abstand zum Klassischen Latein zeigt sich dabei vor allem im Bereich von Phonetik/ Phonologie und Morphologie. Allerdings geben schriftliche Belege nicht zwingend die lautliche Realität wieder, da sich für neue Laute auch neue Graphien entwickeln müssen (vgl. LatRom Kap. 3.1.1). Zudem sind die defixiones auch aus pragmalinguistischer Sicht überaus aufschlussreich: Der Schadenzauber erfüllt sich nicht allein durch die Mitwirkung von Gottheiten und Dämonen; vielmehr reflektiert sich in den „götterlosen“ Formeln auch die Vorstellung von der Selbstwirksamkeit des „bösen Wortes“, das - wie der „böse Blick“ - dem Opfer unmittelbar schaden kann. Nach antikem Verständnis können folglich auch Worte töten, was in klarem Widerspruch zu unserer modernen, „reduzierten“ Konzeption von Sprache steht (vgl. Kropp 2008). 2.1.3.1 „Glieder“defixio Nachfolgende Fluchtafel, die in das 1. Jh. v.Chr. datiert wird, stammt aus einem Grab in Latium (Italien). Sie ist beidseitig beschriftet: Auf der einen Seite richtet sie sich gegen eine Person namens Malchio, Sohn oder Sklave des Nico, auf der anderen Seite wird eine weitere Person verwünscht. In der Tabelle werden Anfang und Ende des ersten Verwünschungstextes zeilenweise wiedergegeben. Die Lesung entstammt Kropp 2008 - eckige Klammern markieren ausgelassene Textteile. Zeile Vulgärlatein Deutsche Übersetzung 1 Malcio Nicones oculos Malchio, Sohn (oder Sklave) des Nico: Augen 2 manus dicitos bracias uncis […] Hände, Finger, Arme, Fingernägel […] 3 collus os bucas dentes labias […] Hals, Mund, Backen, Zähne, Lippen […] 4 […] oclos […] […] Augen […] 5 scaplas […] ossu […] Schultern […] Knochen 6 […] defico bohre ich hinein (d.h. banne ich fest) 7 in as tabelas in diese Täfelchen. Kommentare/ Hilfen Z.1: Die Vornamen Malchio und Nico sind griechischen Ursprungs. Unter griechischem Einfluss gelangen auch die aspirierten Okklusive [p h ], [t h ] und [k h ] ins Latein, die bereits früh mit der Graphemkombination <ph>, <th>, <?page no="25"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 26 <ch> wiedergebeben werden (vgl. Väänänen 1981: 56; LatRom Kap. 3.1.2.3, Anm. 9). In der Schreibung Malcio erscheint der aspirierte Okklusiv [k h ] allerdings ohne <h>, was darauf deutet, dass die Aspiration der Okklusive schon im Altlatein nicht mehr systematisch erfolgt (vgl. Kropp 2008: 262; Väänänen 1981: 55; LatRom Kap. 2.1.1). Dasselbe trifft auch auf bracias in der folgenden Zeile zu. Nicones steht für Niconis ; hier fällt in der Endung die Schreibung <e> für ĭ auf, die in den Fluchtafeln recht häufig belegt ist (vgl. Kropp 2008: 257) und für die bereits in das 2. Jh. v. Chr. datierte Tendenz spricht, kurze Vokale eher offen zu artikulieren (vgl. LatRom Kap. 3.2.1) Z.2: Die Formen dicitos für digitos ‚Finger‘ und uncis für unguis ‚Nägel‘ zeigen möglicherweise die archaische Graphie <c> für / g/ (vgl. LatRom 3.1.2.1). Dieselbe Schreibung findet sich auch bei defico für defigo ‚ich bohre hinab“ (Z. 6). Der Ausfall von / u/ vor / g/ ist eher ungewöhnlich (vgl. Väänänen 1981: 52); allerdings findet sich die Schreibung von unguis ohne / u/ auch in anderen defixiones aus dieser Zeit. bracias steht für das klat. brachia (Neutrum Plural) ‚Arme‘, labias für labia (Neutrum Plural). Z.3: Das maskuline Substantiv collus , i ‚Hals‘ ist die vulgärsprachliche Variante des klassischen collum , i . Das Substantiv ōs , oris n. bedeutet ‚Mund‘; bucca , ae hat die Bedeutung ‚Backe‘. Z.5: Das feminine Substantiv scapula , ae bedeutet ‚Schulter‘. Die Form ossu(m) steht für das klat. ŏs , ossis n. ‚Knochen‘. Z.6: Von defigĕre ‚befestigen‘, ‚hineinbohren‘, ‚festbannen‘ leitet sich die Ritualbezeichnung defixio ab. Bei defico (bzw. defigo ) ‚ich banne fest‘ handelt es sich um eine „götterlose“ Formel, die automatisch die beabsichtigten physischen und psychischen Auswirkungen auf das Opfer der Verwünschung herbeiführen soll. Aufgaben a. Von welchem Verb sind die aufgezählten Substantive abhängig? Welcher Kasus wäre zu erwarten und welche Kasus finden sich tatsächlich? b. Z.1/ Z.4: Vergleichen Sie oclos (Z.1) mit oculos (Z.4). Was fällt Ihnen auf? Um welches Lautwandelphänomen handelt es sich? In welchem anderen Wort zeigt sich dasselbe Phänomen ebenfalls? c. Z.2: uncis (bzw. unguis ); manus : Welche Deklination liegt hier jeweils vor? Wie sieht der Fortsetzer von manus im Italienischen und Spanischen aus? Was ist hieran ungewöhnlich? d. Z.2: bracias : Was hat es mit dieser Form auf sich? Finden Sie eine weitere Form, auf die dasselbe Phänomen zutrifft? Kennen Sie eine romanische Sprache, die in beiden Fällen die „alten“ Neutrumformen morphologisch weiterführt? e. Z.5: ossu : Vergleichen Sie mit der klassisch lateinischen Form. Was hat es mit dieser Form auf sich? <?page no="26"?> 2.1 Lateinische Texte 27 f. Z.6: defico (bzw. defigo ): Wie lautet das PPP zu defigere ? Gehen Sie vom zugehörigen deverbalen Substantiv aus. 10 g. Z.7: in as tabellas : Um welche Wortart handelt es sich bei as ? Welches lautliche Phänomen liegt hier vor? Lösungen a. Die Aufzählung ist von defigo ‚ich bohre hinein‘ abhängig. Bei defigĕre handelt es sich um ein transitives Verb, das den Akkusativ regiert (vgl. LatRom Kap. 5.1.3). Allerdings stehen nicht alle Formen im Akkusativ, collus steht im Nominativ. Dies liegt möglicherweise daran, dass dem Schreiber der Fluchtafel die korrekte Syntax nicht bewusst war oder er von der falschen Vorlage abgeschrieben hat. b. Z.1/ 4: Bei oclos liegt die Synkope des nachtonigen, unbetonten Zwischenvokals vor, die zu einer Wortkürzung geführt hat (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). Interessanterweise finden sich also zwei Varianten derselbe Nominalform in einem Text. Ein weiteres Beispiel ist scaplas (Z.5), das klassisch lateinisch scapulas heißen müsste. c. Z.2: Das Substantiv unguis, unguis m. gehört der gemischten Deklination an, erkennbar am Genetiv Plural auf ium ; die Besonderheit dieser Deklinationsklasse ist, dass sie im Singular die Ausgänge der konsonantischen Deklination, im Plural die der i-Deklination aufweist (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). Die gemischte Deklination ist deswegen bedeutsam, weil das PPA nach diesem Muster dekliniert wird. Das Substantiv manus , manūs f. gehört der u-Deklination an, die verhältnismäßig wenige, überwiegend maskuline Substantive umfasst (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). Bei manus handelt es sich um eines der seltenen Feminina, die allerdings hochfrequent und relevant sind. Das lateinische manus lebt im it./ sp. (la)mano weiter und ist mit dieser ansonsten typisch maskulinen Endung eines der morphologisch ungewöhnlichen „romanischen“ Feminina. d. Z.2: Für den Plural wäre im Klassischen Latein brachia zu erwarten gewesen. Das Neutrum wird im Vulgärlatein als eigene Kategorie aufgegeben. Die meisten Neutra gehen in der Kategorie der Maskulina auf, bisweilen wird der Plural auch als Feminin Singular reanalysiert und entsprechend dekliniert (hier brachias bzw. labias ) (vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Dieses Phänomen ist häufig bei paarweise angeordneten Körperteilen anzutreffen. Im Italienischen lautet der Singular il braccio (< lat. brachium ), der Plural le braccia (< lat. brachia aber auch it. i bracci ‚Flussarme‘) bzw. il labbro (< lat. labium ), der Plural le labbra (< lat. labia ). 10 Der Plural ossa verweist auf menschliche Knochen, der Plural ossi auf tierische Knochen. <?page no="27"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 28 e. Z.5: Bei ossu(m) (statt klat. ŏs , ossis n.) ‚Knochen‘ handelt es sich um eine Neubildung, die möglicherweise unter analogischem Einfluss der „regelmäßigen“ o-Deklination steht. Auf diese Weise erfolgt einerseits eine deutlichere formale Abgrenzung zu ōs, ōris (Z.3) ‚Mund‘, andererseits eine eindeutige Charakterisierung des Genus (mit der Endung um ). Das Lexem lebt im Italienischen weiter und erinnert im Plural morphologisch an das Neutrum: Sg. l’osso , Pl. le ossa (aber auch gettare gli ossi al cane ‚dem Hund Knochen hinwerfen‘). f. Z.6: Das PPP zu defigĕre lautet defixus ( defigo , defixi , defixus ), was ausgehend vom deverbalen Substantiv defixio erschließbar ist. g. Z.7: Bei as handelt es sich um das Demonstrativum has (Akkusativ Plural von hic , haec , hoc ). Es liegt die Aphärese (d.h. das Verstummen) des anlautenden / h/ vor, das schon früh nicht mehr gesprochen wurde. Literatur Kropp, Amina (2008): Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln . Tübingen: Narr. Väänänen, Veikko ( 3 1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. 2.1.3.2 Unspezifische Verwünschung Nachfolgende defixio , die in das 1./ 2. Jh. n.Chr. datiert wird, stammt aus dem Mater Magna-Heiligtum in Mainz. Ohne bestimmte Gottheiten oder Dämonen zu nennen richtet sie sich gegen eine Frau namens Prima Aemilia. Der Hintergrund der Verwünschung bleibt dabei im Dunkeln. Bemerkenswert ist die verwendete Sprache, die nahezu keine vulgärlateinische Färbung aufweist. Zudem handelt es sich um die einzige in Mainz gefundene Tafel, die eine magische Textgestaltung zeigt. Die nachfolgende Umschrift gibt die gesamte defixio wieder; Rekonstruktionen von Textlücken stehen in eckigen Klammern. Der Text ist von uns zeilenweise in Sinneinheiten unterteilt, die Original-Zeilenumbrüche auf der Tafel sind durch einen Schrägstrich markiert; doppelte Schrägstriche zeigen an, dass der Text auf dem Rahmen und im Mittelteil geschrieben wurde und für eine schlüssige Lesung z.T. anders angeordnet werden musste. Lesung und Übersetzung orientieren sich weitgehend an Blänsdorf 2012 (DTM 15). <?page no="28"?> 2.1 Lateinische Texte 29 Zeile Vulgärlatein Deutsche Übersetzung 1 Prima Aemilia Nar/ cissi agat Prima Aemilia, (die Geliebte) des Narcissus, soll (so) leben: 2 quidquid co/ nabitur quidquid aget / omnia illi inversum sit / / Was auch immer sie versuchen wird, was auch immer jene tun wird, alles soll ihr verkehrt sein. 3 amentita surgat a/ mentita suas res agat Von Sinnen soll sie sich erheben, von Sinnen soll sie ihre Sachen tun. 4 quidquid surget om/ nia interversum sur/ gat Was auch immer sich erheben wird, alles soll sich verkehrt erheben. 5 [P]rima Narcissi / aga[t] Prima, (die Geliebte) des Narcissus, soll (so) leben: 6 como haec carta / nuncquam florescet / / sic illa nuncquam / quicquam florescat Wie dieser Brief niemals erblühen wird, so soll jener niemals irgendetwas erblühen. Kommentare/ Hilfen Z.1/ Z.5: Der Name enthält folgende Bestandteile: Vorname, Familienname und Name des Besitzers oder Gatten oder Geliebten. Das Verb agĕre ‚tun, handeln‘ kann für sich allein gebraucht auch ‚leben‘ bedeuten. Z.2: Bei quidquid handelt es sich um ein rein substantivisch gebrauchtes verallgemeinerndes Relativum in der Bedeutung ‚alles, was‘ (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). Das Verb conari bedeutet ‚versuchen‘. Bei omnia handelt es sich um das Neutrum Plural von omnis , ein Indefinitum mit der Bedeutung ‚jeder, ganz, alle‘. inversum ist das PPP zu invertĕre ‚umkehren, verkehren‘. Z.3: Bei amentita ‚von Sinnen‘ handelt es sich um einen Neologismus; möglicherweise ist dies eine bisher nicht belegte denominale Verbbildung zu mens, -tis f. ‚Geist, Verstand‘ mit der Bedeutung ‚um den Verstand bringen‘. Das Verb sugĕre bedeutet ‚sich erheben‘. Z.4: Die Form interversum wurde vermutlich fälschlicherweise statt inversum (Z.2) geschrieben. Z.6: Das Frageadverb como steht für klat. quomodo ‚wie‘. Das Nomen c(h)arta (‚Papyrus‘) erscheint hier in der Bedeutung ‚Brief‘. Tatsächlich haben einige defixiones Briefcharakter, weswegen sie in der Fachliteratur auch als „Unterweltsbriefe“ bezeichnet werden (vgl. Kropp 2008: 197-200). Das Temporaladverb nuncquam (statt klat. numquam ) ist ein „vulgärlateinischer Hyperurbanismus“ (Blänsdorf 2012: 138), der möglicherweise mit dem Temporaladverb nunc ‚nun, jetzt‘ in Verbindung steht. Bei quicquam handelt es sich um das Neutrum des substantivischen Indefinitpronomens ( quisquam , quicquam ) mit der Bedeutung ‚irgendetwas‘ (vgl. LatRom Kap. 4.3.4); syntaktisch ist quicquam das direkte Objekt zu florescat (von florescĕre ‚erblühen‘), illa (fälschlicherweise für illi wie in Z.2) das indirekte Objekt. Bei florescĕre handelt es sich um ein <?page no="29"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 30 Verbum incohativum, das den Beginn eines durativen Vorgangs ausdrückt; es ist morphologisch am Präsensinfix sc erkennbar (vgl. Rubenbauer/ Hofmann 1995: 100, 239; LatRom Kap. 4.2.2). Bei dem ganzen durch como - sic ‚so - wie‘ gegliederten Abschnitt handelt es sich um eine sogenannte „Analogieformel“, mittels derer das Schicksal des Opfers mit einem bestimmten Aspekt der rituellen Situation gleichgesetzt wird. In diesem Fall mit carta , womit die Bleitafel gemeint ist. Blei galt in der Antike als Material mit unangenehmen Eigenschaften, das mit Unheil assoziiert wurde. Aufgaben a. Z.2: conari : Um welche besondere Verbklasse handelt es sich hier? Was passiert im Vulgärlatein? b. Z.2: conabitur : Welches Tempus liegt hier vor und wo findet es sich im Text noch? Wie wird das Tempus in den romanischen Sprachen gebildet? c. Z.2: omnia […] sit : Was lässt sich hier im Hinblick auf die Kongruenz aussagen? d. Z.2/ Z.6: Wie sehen die direkten Fortsetzer von quidquid und quicquam aus? e. Z.6: como: Vergleichen Sie mit der klassisch lateinischen Form: Welche lautliche Entwicklung liegt zugrunde? f. Z.6: nuncquam bzw. numquam : In welcher romanischen Sprache gibt es einen direkten Fortsetzer? Lösungen a. Z.2: Das Verb conari gehört zu den Deponentien, die zwar eine passivische Form, aber eine aktivische Bedeutung aufweisen (vgl. LatRom Kap. 4.5.6.1). Im Spätlatein, in dem morphologische Unregelmäßigkeiten vielfach „begradigt“ werden, nehmen die Deponentien üblicherweise eine aktivische Form an (vgl. LatRom Kap. 4.6.2). b. Z.2: Bei conabitur handelt es sich um ein Futur I (vgl. LatRom Kap. 4.5.4.1). Im Text finden sich noch folgende Beispiele: aget (2); florescet (6). In den romanischen Sprachen wird diese synthetische Futurform durch die Periphrase aus Infinitiv + Präsens von habere ersetzt, die ihrerseits grammatikalisiert wird (vgl. LatRom Kap. 4.6.4). c. Z.2: Bei omnia […] sit liegt keine Numerus-Kongruenz zwischen Subjekt (Plural) und Prädikat (Singular) vor. Die fehlende Kongruenz lässt sich allerdings durch die kollektive Bedeutung von omnia im Sinne von ‚alles‘ erklären. d. Z.2/ Z.6: In den romanischen Sprachen gibt es keine direkten Fortsetzer von quidquid und quicquam oder anderer Formen aus deren Paradigma (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). e. Z.6: Bei como statt klat. quomodo liegt eine Apokopierung der unbetonten auslautenden Silbe vor, die bei der Entwicklung vom Vulgärlatein zu den romanischen Sprachen vielfach auftritt (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). <?page no="30"?> 2.1 Lateinische Texte 31 f. Z.6: Im Spanischen setzt das Adverb nunca die lateinische Form fort (mit Apokopierung). Im Französischen und Italienischen wird es hingegen ersetzt (fr. jamais ; it. mai ). Literatur Blänsdorf, Jürgen (2012). Die Defixionum tabellae des Mainzer Isis- und Mater Magna- Heiligtums: Defixionum tabellae Mogontiacensis (DTM). Mainz: Generaldirektion Kulturelles Erbe, Direktion Landesarchäologie. Kropp, Amina (2008): Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln . Tübingen: Narr. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik. Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. 2.1.3.3 Verwünschung eines Gladiators (Bärenkampf) Nachfolgende Fluchtafel, die in das 2. Jh. n.Chr. datiert wird, stammt aus dem Amphitheater von Karthago (Nordafrika), das auch als der Austragungsort eines Bärenkampfes genannt wird. Verwünscht wird ein Gladiator namens Vincentius, der Sohn einer Concordia. Die Tafel ist in griechischen und lateinischen Buchstaben verschriftet und insgesamt sehr formelhaft; mit 68 Zeilen stellt diese defixio auch einen der längsten Verwünschungstexte dar. Es handelt sich um eine von insgesamt zwei griechisch-lateinischen Wettkampf-Täfelchen aus Karthago, in denen das Scheitern des Rivalen bei der Bärenhatz ausführlich und detailgenau festgehalten ist (s. auch Kap. 2.1.2 pompejanische Inschriften). Die nachfolgende Umschrift orientiert sich am Originaltext. Rekonstruktionen, die sich z.T. auch aus den übrigen Textteilen ergeben, stehen in eckigen Klammern. Der Text ist zeilenweise in Sinneinheiten unterteilt, die Zeilenumbrüche auf der Tafel sind durch einen Schrägstrich markiert. Der Abschnitt stammt aus dem Mittelstück der Tafel. Die Lesung folgt Kropp 2008. Zeile Vulgärlatein Deutsche Übersetzung 1 Vincentζo […] quem peperit Con[cor]dia in ampitζatru / Carthaginis in ζie Merccuri obligate in[p]licate lac[i]nia […] dem Vincentius […], den Concordia gebar, bindet zusammen, verwickelt im Amphitheater von Karthago am Tag des Merkur das Gewand […] 2 ut urssos ligare non possit [s.u.] 3 omni urs/ su perdat (damit er) jeden Bären verliert 4 omnni urssu Vincentζus non occidere possit […] (damit) Vincentius jeden Bären nicht töten kann […] 5 iam iam cito cito facite macht bald, bald, schnell, schnell. <?page no="31"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 32 Kommentare/ Hilfen Z.1: Die Verbform peperit stammt von parĕre ‚gebären‘. Die Verbformen obligate (zu obligare ‚an-, zusammenbinden‘) und implicate (zu implicare ‚verwickeln‘) regieren das Nomen lacinia(m) , Akkusativ Singular von lacinia, ae f. ‚Gewand‘. Der Text ist in lateinischer Schrift verfasst, enthält aber an drei Stellen den griechischen Buchstaben Zeta (ζ). Sehr wahrscheinlich deutet dies eine palatale Aussprache der dentalen Okklusive vor hellen Vokalen an: t > tζ ( Vincentius > Vincentζus ; amphiteatru > amp‹h›itζatru ) und d > ζ ( die > ζie ). Diese Palatalisierungstendenz manifestiert sich auch in anderen vulgärlateinischen Texten (vgl. Väänänen 1981: 52-54). Z.2: Das Verb posse bedeutet ‚können‘. Z.2- Z.4: Das Nomen urssus (klat. ursus ‚Bär‘) weist eine Konsonantengemination (‚Doppelung‘) auf, die sich gelegentlich auch in anderen nachchristlichen Täfelchen findet (vgl. Kropp 2008: 264). Dieselbe Doppelung zeigt sich auch bei Merccuri (1) statt Mercuri und omnni (4) statt omni ; bei letzterem könnte es sich allerdings um einen Schreibfehler handeln, da es sich mit dieser Schreibung nur einmal in der Tafel findet. Z.3: Bei omnis handelt es sich um ein Indefinitum mit der Bedeutung ‚jeder, ganz‘. Z.4: Das Verb occidĕre bedeutet ‚töten‘. Z.5: iam ‚bald‘ und cito ‚schnell‘ sind Temporaladverbien. Das Verb facĕre bedeutet ‚machen, tun‘. Aufgaben a. Z.1/ Z.5: Um welche Verbform handelt es sich bei obligate , implicate und facite ? Wer ist der Adressat? b. Z.1/ Z.2: In welcher Bedeutung leben die klat. Verben obligare bzw. ligare in den romanischen Sprachen fort? c. Z.1: Wie lauten die romanischen Fortsetzer von die Mercurii ? d. Z.1: Welche lautliche Besonderheit lässt sich bei der Form lacina feststellen? e. Z.2: Bestimmen Sie die Verbform possit . Um welche besondere Satzart handelt es sich? f. Z.2: Vergleichen Sie den Infinitiv posse mit der entsprechenden Form in den romanischen Sprachen: Kann hier von einer direkten Fortsetzung ausgegangen werden? g. Z.2: Übersetzen Sie den Teilsatz. h. Z.3: omni : Wie würde die korrekte Form im Klassischen Latein lauten? Welche romanische Sprache setzt das Indefinitum omnis direkt fort? i. Z.5: iam : In welchen romanischen Sprachen gibt es Fortsetzer? <?page no="32"?> 2.1 Lateinische Texte 33 Lösungen a. Z.1/ 5: Bei obligate , implicate und facite handelt es sich um die 2. Person Plural Imperativ Präsens. Die imperativische Aufforderung richtet sich an die Gottheiten, die die Verwünschung ausführen sollen. b. Z.1: Das klat. obligare lebt in der übertragenen Bedeutung ‚verpflichten‘ (fr. obliger ; it. obbligare ; sp. obligar ) weiter, die bereits im Klassischen Latein existiert (vgl. Georges, obligare ); ligare lebt in seiner ursprünglichen, konkreten Bedeutung ‚(fest)binden‘ weiter: fr. lier ; it. legare (NICHT sp. legar ‚vermachen‘, das von klat. legare abstammt! ). c. Z.1: Die Fortsetzer lauten folgendermaßen: fr. mercredi ; it. mercoledì ; sp. miércoles . Allerdings setzen das Französische und das Spanische das vlat. Mercuris (dies) fort, d.h. gehen von einer abweichenden Genetivform aus. d. Z.1: Bei der Akkusativform lacina ist das auslautende m nicht verschriftet, weil es in der Aussprache sehr wahrscheinlich schon verstummt ist; man spricht hier von Apokopierung (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). e. Z.2: Das it. potere und sp. poder lassen darauf schließen, dass die vlat. Form, die sich durchgesetzt hat, potēre gelautet haben muss. Die ist eine typische Entwicklung des Vulgärlateins, in dem unregelmäßige Verben vielfach „begradigt“ wurden (vgl. LatRom Kap. 4.6.2). f. Z.2: Die Übersetzung lautet: ‚damit er die Bären nicht festbinden kann‘. g. Z.2: Die Verbform possit ist die 3. Person Singular Konjunktiv Präsens von posse ‚können‘. Es handelt sich um einen konjunktivischen ut -Satz, mit dem der Zweck oder die Absicht einer Handlung ausgedrückt wird (Finalsatz) (vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3). h. Z.3: Die klat. Entsprechung zu omni würde omnem (Akk. Sg. masc.) lauten. Im Italienischen wird omnis unmittelbar durch ogni weitergeführt (vgl. Michel 1997: 97). i. Z.5: In folgenden romanischen Sprachen gibt es Fortsetzer von iam : Französisch: déjà ‚schon‘ (< dès < de ex + ja < iam ), jamais ‚nie‘ (< iam + magis ); Italienisch: già ‚ schon‘ (< iam ), giammai ‚nie‘ (< iam + magis ); Spanisch: ya ‚ schon‘ (< iam ); jamás ‚nie‘ (< iam + magis ). Literatur Georges, Karl Ernst (2013): Der Neue Georges. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch . Hrsg. von Thomas Baier, bearbeitet von Tobias Dänzer. 2 Bände. Darmstadt: WBG (typographisch erneuerte Reproduktion der 8.Aufl. von 1913). Kropp, Amina (2008): Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln . Tübingen: Narr. Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Väänänen, Veikko ( 3 1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. <?page no="33"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 34 2.1.3.4 Liebeszauber Nachfolgende defixio , die in das 2./ 3. Jh. n. Chr. datiert wird, stammt aus einem Grab in Karthago (Nordafrika). Verschiedene Dämonen, deren Namen durchgehend in griechischen Buchstaben wiedergegeben sind, werden aufgefordert, eine Frau liebeskrank zu machen; ihr Name ist auf der Tafel allerdings nicht erkennbar. Die nachfolgende Umschrift gibt den Anfang der defixio wieder; Rekonstruktionen von Textlücken stehen in eckigen Klammern. Der Text ist zeilenweise in Sinneinheiten unterteilt, die Zeilenumbrüche auf der Tafel sind durch einen Schrägstrich markiert. Die Lesung entstammt Kropp 2008. Zeile Vulgärlatein Deutsche Übersetzung 1 Καταξιν (Kataxin) [q]ui es Aegupto magnus daemon […] / […] aufer illae somnum usque dun veniat at me […] / et animo meo satisfaciat Kataxin , der du (in) Ägypten ein großer Dämon bist […] / nimm jener den Schlaf weg, solange bis sie zu mir kommt […] und mein Herz zufriedenstellt; 2 Τραβαξιαν (Trabaxian) omnipotens daemon adduc / [illa(m)] amante(m) aestuante(m) amoris et desideri mei cau/ sa Trabaxian allmächtiger Dämon führe [jene] herbei, liebend, lodernd aus Liebe und Verlangen nach mir (wörtl.: der Liebe ... wegen); 3 Νοχθιριφ (Nochthiriph) qui [es] cogens daemon coge illa(m) […] / m[ec]un coitus facere […] [s.u.] Kommentare/ Hilfen Z.1: Die Schreibung Aegupto (<u> statt <y>) scheint an das Griechische angelehnt zu sein. Das Adjektiv magnus bedeutet ‚groß‘. Das Verb auferre ‚ wegnehmen‘ steht mit dem indirekten Objekt illae ‚ihr‘ und dem direkten Objekt somnum ‚Schlaf‘. Die temporale Konjunktion usque dum (hier: usque dun ) bedeutet ‚solange bis‘. Das Nomen animus, -i m. hat hier die Bedeutung ‚Herz‘. Bei der Präposition ad (‚zu, nach‘) wird die Auslautverhärtung, die wir auch im Deutschen kennen (z.B. Rad / Rat ), graphisch konsequent umgesetzt (daher <at>, nicht zu verwechseln mit der Konjunktion at ‚aber, dennoch‘). Z.2: Das Verb adducĕre hat die Bedeutung ‚herbeiführen‘. Die Verbform aestuante gehört zu aestuare ‚lodern‘. Bei causa ‚wegen‘ handelt es sich um eine Postposition mit Genetiv, vergleichbar dem Deutschen (z.B. des Geldes wegen ) (vgl. Rubenbauer/ Hofmann 1995: 150). Z.3: Das Verb cogĕre hat die Bedeutung ‚zwingen‘. <?page no="34"?> 2.1 Lateinische Texte 35 Z.1-3: In der Tafel findet sich für die Endsilbe <um > öfters die Schreibung <un > (z.B. 1: dun ; 3: mecun ) Aufgaben a. Z.1: Welcher Kasus ist Aegupto ? Was fällt syntaktisch auf? b. Z.1: Bestimmen Sie die Verbform aufer . Wo findet sich derselbe Modus noch? Was lässt sich über die Morphologie von aufer sagen? c. Z.1: illae : Bestimmen Sie die Form. Wie lautet die Entsprechung im Klassischen Latein? Wie würden Sie die Form illae erklären? d. Z.1: Mit welchem Kasus steht satisfaciat ? Was bedeutet das Verb wörtlich? e. Z.2: amante , aestuante : Um welche Verbform handelt es sich? Zu welcher Deklination gehört sie? Wo findet sich ein weiteres Beispiel? Um welche Konstruktion handelt es sich bei amante aestuante amoris et desideri mei causa ? f. Z.3: Welche Konstruktion ist von der Verbform coge abhängig? g. Z.3: Übersetzen Sie den Textabschnitt. Lösungen a. Z.1: Aegupto ist ein Ablativus locativus: Ohne Präposition steht er klassisch nur bei Städtenamen und kleineren Inseln: im vorliegenden Fall würde man also die Präposition in erwarten (vgl. LatRom Kap. 5.1.3). b. Z.1: Bei der Verbform aufer handelt es sich um die 2. Person Singular Imperativ Präsens Aktiv. Derselbe Modus liegt auch bei adduc (2) und coge (3) vor. aufer (wie auch adduc ) ist eine unregelmäßige Imperativform; auferre bzw. das Simplex ferre ‚tragen‘ weist insgesamt ein sehr unregelmäßiges Paradigma mit verschiedenen Stämmen auf ( fero , tuli , latum ), weswegen es in den romanischen Sprachen durch das morphologisch regelmäßige portare (> fr. porter ; it. portare; sp. portar(se) ) ersetzt wird (vgl. LatRom Kap. 2.5). c. Z.1: Bei der Form illae handelt es sich um den Dativ Sg. Fem. des Demonstrativums ( ille , illa , illud ); im Klassischen Latein lautet die Entsprechung illi (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). Die Form illae stellt vermutlich eine Analogiebildung zum Dativ der regelmäßigen a-Deklination dar. d. Z.1: Die Verbform satisfaciat steht mit dem Dativ. Wörtlich bedeutet satisfacĕre ‚Genüge tun‘, was im Deutschen ebenfalls mit dem Dativ steht. e. Z.2: Bei amante(m) und aestuante(m) handelt es sich um das PPA (zu amare ‚lieben‘ und aestuare ‚lodern‘), das zur gemischten Deklination gehört (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). Ein weiteres Beispiel ist cogens (3) zu cogĕre ‚zwingen‘. Bei amante(m) aestuante(m) amoris et desideri mei causa handelt es sich um ein Participium Coniunctum (PC), das wiederum von dem Objekt zu adduc (vermutlich illam ) abhängig ist (vgl. LatRom Kap. 5.2.1.3). Im Deutschen lässt sich das PC im vorliegenden Fall mit einer analogen Konstruktion wiedergeben; je nach Komplexität kann es aber auch durch einen Nebensatz aufgelöst werden. <?page no="35"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 36 f. Z.3: Von coge hängt der Accusativus cum Infinitivo (AcI) illa(m) […] / m[ec]un coitus facere ab (vgl. LatRom Kap. 5.2.1.1). Hierbei handelt es sich um eine satzwertige Konstruktion, bei der der Akkusativ Subjektsfunktion hat. Im Deutschen bietet sich die Wiedergabe durch eine Infinitivkonstruktion an. g. Z.3: Die Übersetzung lautet folgendermaßen: Nochthiriph , der du ein zwingender Dämon [bist], zwinge jene, mit mir Beischlaf zu haben […]. Literatur Kropp, Amina (2008): Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln . Tübingen: Narr. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. 2.1.3.5 „Rachegebet“ bzw. „prayer for justice“ gegen den Dieb eines Silberrings Nachfolgende Fluchtafel, die in das 3./ 4. Jh. n.Chr. datiert wird, stammt aus dem Sulis-Heiligtum in Bath (England). Bei Sulis handelt es sich um eine Heil- und Quellgottheit, die auch mit der römischen Göttin Minerva identifiziert wird; in der Tafel selbst wird jedoch der Tempel des Mars erwähnt. Gefordert wird eine harte Strafe für den Diebstahl eines Silberrings. Diese Sonderform der defixio , die inhaltlich und formal zwischen magischer Verwünschung und antikem Fluch steht, wird auch als „prayer for justice“ bezeichnet. Diese Täfelchen wurden zudem nicht in Totenstätten o.ä., sondern in Heiligtümern abgelegt. Die nachfolgende Umschrift gibt nahezu die gesamte defixio wieder, Rekonstruktionen werden durch eckige Klammern angezeigt. Der Text ist zeilenweise in Sinneinheiten unterteilt, die Zeilenumbrüche auf der Tafel sind durch einen Schrägstrich markiert; der doppelte Schrägstrich trennt Vorder- und Rückseite. Die Lesung entstammt Kropp 2008. Zeile Vulgärlatein Deutsche Übersetzung 1 Basilia donat in templum Martis anilum argenteum […] Basilia gibt in den Tempel des Mars den Silberring […] 2 ut sanguine et liminibus et / / omnibus membris configatur damit an seinem Blut, seinem Augenlicht und all seinen Glieder durchbohrt werde 3 uel etiam intestinis excomesis [om]nibus habe[at] / oder sogar nach völliger Aufzehrung aller Eingeweide tödlich getroffen sei 4 is qui anilum inuolauit uel qui medius / fuerit derjenige, der meinen Ring gestohlen hat oder daran beteiligt gewesen ist. <?page no="36"?> 2.1 Lateinische Texte 37 Kommentare/ Hilfen Z.1: Das Verb donare hat im Klassischen Latein die Bedeutung ‚schenken; als Opfer darbringen‘ und wird mit Dativ konstruiert. Für den vorliegenden Fall wird aufgrund der Konstruktion in mit Akkusativ die Bedeutung ‚geben‘ angenommen. Z.1/ Z.4: Das Substantiv anilum (klat. anulus , i m.) hat die Bedeutung ‚Ring‘. Z.2: Das offensichtlich falsch geschriebene (i statt u) Substantiv liminibus (klat. lumen, luminis n. ‚Licht‘) wird hier in der übertragenen Bedeutung ‚Augenlicht, Auge‘ verwendet. Bei omnis handelt es sich um ein Indefinitum mit der Bedeutung ‚jeder, ganz‘. Das Verb configĕre bedeutet hier ‚durchbohren‘ und steht mit dem Ablativ im lokativen Sinne. Z.3: Bei vel ‚oder‘ und etiam ‚auch, sogar‘ handelt es sich um Konjunktionen, mittels derer die beiden gleichwertigen Teilsätze verbunden werden. Das Verb excomedĕre bedeutet ‚völlig aufzehren‘. Das Verb habere wird hier in der Bedeutung ‚tödlich getroffen sein‘ verwendet (vgl. Adams 1992: 9). 11 Z.4: Das Verb involare (wörtlich ‚hineinfliegen‘) erscheint hier mit der übertragenen Bedeutung ‚stehlen‘. Der Ausdruck medius esse wird im Sinne von ‚beteiligt sein‘ verwendet. Aufgaben a. Z.1: Wie lautet das „reguläre“ Verb für ‚geben‘ im Klassischen Latein? In welcher romanischen Sprache wird donare in der Bedeutung ‚geben‘ weitergeführt? b. Z.1: Was wird mit der Konstruktion in mit Akkusativ ausgedrückt. Mit welchem anderen Kasus kann in noch stehen und welche Bedeutung liegt dann vor? c. Z.2 - Z.4: Um welche Satzart handelt es sich? Was ist das Subjekt des Satzes? d. Z.2: liminibus bzw. luminibus: Welcher Deklination gehört das Nomen an? Woran ist dies morphologisch erkennbar? e. Z.3: intestinis excomesis [om]nibus: Um welche Konstruktion handelt es sich? f. Z.3: Wie lautet das Verbum Simplex zu excomedĕre ? Welches morphologische Verfahren liegt hier vor? In welcher romanischen Sprache lebt das Verb in ähnlicher Form weiter? g. Z.4: involare : In welcher romanischen Sprache findet sich ein vergleichbares Verb für ‚stehlen‘? h. Z.4: Bestimmen Sie die Verbformen inuolauit und fuerit . Was fällt Ihnen auf? Welches Zeitverhältnis wird ausgedrückt? 11 Denkbar wäre auch, dass bei intestinis excomesis [om]nibus habe[at] fälschlicherweise der Ablativ statt des Akkusativs verwendet wurde. Die Übersetzung müsste dann folgendermaßen lauten: ‚er möge völlig aufgezehrte Eingeweide haben‘. <?page no="37"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 38 Lösungen a. Z.1: Das „reguläre“ Verb für ‚geben‘ im Klassischen Latein lautet dare . Das Verb donare wird in fr. donner weitergeführt, im Gegensatz zu it. dare bzw. sp. dar , die auf klat. dare zurückgehen. b. Z.1: Die Konstruktion in mit Akkusativ gibt eine Richtung an; mit Ablativ wird in zur Angabe des Ortes verwendet (vgl. LatRom Kap. 4.2.3). c. Z.2 - Z.4: Es handelt sich um einen konjunktivischen ut -Satz, mit dem der Zweck oder die Absicht einer Handlung ausgedrückt wird (Finalsatz) (vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3). Das Subjekt des Finalsatzes, das erst in der letzten Zeile erscheint, ist das Demonstrativum is ‚dieser‘, das für die fehlende 3. Person der Personalpronomina steht (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). Im Gegensatz zu den anderen Demonstrativa kann is kataphorisch sein, d.h. im Text nach vorne verweisen, im vorliegenden Fall auf den nachfolgenden Relativsatz; in dieser Verwendung zählt is zu den Determinativpronomina (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). d. Z.2: Das Nomen lumen, luminis n. gehört der konsonantischen Deklination an. Man erkennt dies daran, dass der Stamm auf einen Konsonanten endet und der Nominativ sich von den anderen Kasus unterscheidet (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). e. Z.3: Bei intestinis excomesis [om]nibus handelt es sich um einen Ablativus Absolutus, einen „losgelösten Ablativ“. Dies ist eine in den Matrixsatz eingebettete satzwertige Konstruktion, in der das nominale Element (hier intestinis omnibus ‚alle Eingeweide‘) die Subjektsfunktion, das andere Element, zumeist ein Partizip (hier: excomesis ‚völlig aufgezehrt‘) die Prädikatsfunktion übernimmt (vgl. LatRom Kap. 5.2.1.4 sowie Müller-Lancé 1994). Die gesamte Konstruktion hat adverbiale Bedeutung und dient der Angabe näherer Umstände im Hinblick auf den Matrixsatz. Im vorliegenden Fall drückt das PPP excomesis Vorzeitigkeit aus; neben einer rein temporalen Bedeutung ist auch ein kausaler Nebensinn denkbar. f. Z.3: Das Verbum Simplex zu excomedĕre lautet edĕre ‚essen‘. Bei excomedĕre liegt eine mehrfache Präfigierung (mit den Präfixen ex - und cum -) vor, die der semantischen Intensivierung dient (vgl. Kropp 2008: 293f). Bei diesen Präfixableitungen handelt es sich um ein hochfrequentes Wortbildungsmuster des Vulgärlateinischen (vgl. LatRom Kap. 4.2.3, 6.2.1). In den romanischen Sprachen halten sich häufig eher die komplexen als die einfachen Formen (vgl. LatRom Kap. 3.1.3.3). So lebt die deverbale Ableitung comedĕre im sp. comer ‚essen‘ fort (im Französischen und Italienischen, die anders als das Spanische zur Zentralromania gezählt werden, wird edĕre durch manducare ‚kauen, mampfen‘ ersetzt, vgl. LatRom Kap. 2.1.2, 2.4.2). g. Z.4: Im Französischen lautet das reguläre Verb für ‚stehlen‘ voler , das tatsächlich auf das lat. volare ‚fliegen‘ zurückgeht. Im Französischen existiert voler auch im Sinne von ‚fliegen‘; beiden Verben liegt folglich dasselbe Etymon zugrunde. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Semantik gelten sie <?page no="38"?> 2.1 Lateinische Texte 39 aus aktueller Sicht allerdings als Homonyme und nicht als zwei Bedeutungen desselben Wortes. h. Z.4: Bei inuolauit handelt es sich um die 3. Person Singular Indikativ Perfekt aktiv, während fuerit die zugehörige Konjunktivform ist. Die Beiordnung ist ungewöhnlich. Jeweils für sich genommen sind beide Modi im Relativsatz durchaus denkbar: Üblicherweise stehen Relativsätze im Indikativ, der Konjunktiv kann aber einen Nebensinn ausdrücken; im vorliegenden Fall liegt vermutlich ein kausaler oder verallgemeinernder Nebensinn vor (vgl. LatRom Kap. 5.2.4.1; Rubenbauer/ Hofmann 1995, S. 287). Mit dem Perfekt wird jeweils die Vorzeitigkeit zu einem Haupttempus ausgedrückt (vgl. LatRom Kap. 5.2.4). Literatur Adams, James N. (1992): „British Latin: The Text, Interpretation and Language of the Bath Curse Tablets“, in: Britannia 23, S. 1-26. Kropp, Amina (2008): Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln . Tübingen: Narr. Müller-Lancé, Johannes (1994): Absolute Konstruktionen vom Altlatein zum Neufranzösischen . Tübingen: Narr. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. 2.1.4 Vulgata: Weihnachtsgeschichte Die in Deutschland bekannteste Bibel-Episode dürfte die sog. „Weihnachtsgeschichte“ sein, die in dieser Ausführlichkeit nur im Lukas-Evangelium (Kap.2, V.1-20) vorliegt. Dieses Evangelium entstand zwischen 60 und 90 n.Chr., also in der Epoche des Vesuv-Ausbruchs in Pompeji (s.o.). Der Originaltext war allerdings auf Griechisch verfasst und wurde erst zwischen 380 und 400 n.Chr., zusammen mit dem gesamten Neuen Testament sowie dem ursprünglich auf Hebräisch verfassten Alten Testament, vom Kirchenvater Hieronymus ins Lateinische übersetzt. Dabei orientierte sich Hieronymus auch an älteren lateinischen Bibelübersetzungen, den Texten der sog. Vetus Latina . Da Hieronymus‘ Übersetzung dem gesprochenen Latein seiner Zeit deutlich näher war als die Vorgängerversionen, wurde sie auch Vulgata genannt (‚die volkstümliche‘). Die unten parallel präsentierte Luther-Übersetzung orientiert sich im Zweifelsfall am griechischen Original und weicht daher manchmal ein wenig vom lateinischen Text ab. <?page no="39"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 40 Vers Text Lukas Kap.2 Luther-Übersetzung 1 factum est autem in diebus illis exiit edictum a Caesare Augusto ut describeretur universus orbis Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2 haec descriptio prima facta est praeside Syriae Cyrino Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3 et ibant omnes ut profiterentur singuli in suam civitatem Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. 4 ascendit autem et Ioseph a Galilaea de civitate Nazareth in Iudaeam civitatem David quae vocatur Bethleem eo quod esset de domo et familia David Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, 5 ut profiteretur cum Maria desponsata sibi uxore praegnate damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 6 factum est autem cum essent ibi impleti sunt dies ut pareret Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. 7 et peperit filium suum primogenitum et pannis eum involvit et reclinavit eum in praesepio quia non erat eis locus in diversorio Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8 et pastores erant in regione eadem vigilantes et custodientes vigilias noctis supra gregem suum Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 et ecce angelus Domini stetit iuxta illos et claritas Dei circumfulsit illos et timuerunt timore magno Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 et dixit illis angelus nolite timere ecce enim evangelizo vobis gaudium magnum quod erit omni populo Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; <?page no="40"?> 2.1 Lateinische Texte 41 11 quia natus est vobis hodie salvator qui est Christus Dominus in civitate David [ s. Aufgaben] 12 et hoc vobis signum invenietis infantem pannis involutum et positum in praesepio Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13 et subito facta est cum angelo multitudo militiae caelestis laudantium Deum et dicentium Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 gloria in altissimis Deo et in terra pax in hominibus bonae voluntatis Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. 15 et factum est ut discesserunt ab eis angeli in caelum pastores loquebantur ad invicem transeamus usque Bethleem et videamus hoc verbum quod factum est quod fecit Dominus et ostendit nobis Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. 16 et venerunt festinantes et invenerunt Mariam et Ioseph et infantem positum in praesepio Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 videntes autem cognoverunt de verbo quod dictum erat illis de puero hoc Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 et omnes qui audierunt mirati sunt et de his quae dicta erant a pastoribus ad ipsos Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria autem conservabat omnia verba haec conferens in corde suo Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 et reversi sunt pastores glorificantes et laudantes Deum in omnibus quae audierant et viderant sicut dictum est ad illos Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war <?page no="41"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 42 Kommentare/ Hilfen - Hieronymus kannte noch keine Interpunktionszeichen. Die syntaktische Struktur des Textes wird daher durch wiederkehrende verbale Elemente verdeutlicht. Besonders beliebt zur Markierung von Satzanfängen ist die Formulierung factum est (‚es geschah, es begab sich‘), z.B. in den Versen 1, 6, 15, oder die einfache satzeinleitende Konjunktion et (‚und‘), z.B. in den Versen 7, 8, 9, 10, 12, 13, 15, 16, 18, 20 (letztere entspricht dem kai im griechischen Original). Hieraus ergibt sich der typisch monotone Bibelstil, der stark an Kindererzählungen erinnert und sich auch innerhalb der Verse fortsetzt (besonders z.B. in V.7 und 9). Auch das Adverb autem hat hier kaum adversative Funktion (‚aber‘), sondern dient eher der Einführung einer neuen handelnden Person (z.B. V.4: ascendit autem et Ioseph ; V.19: Maria autem ) oder einer neuen Handlung (V.1: factum est autem ; V.17: videntes autem cognoverunt ). - Das oben schon genannte factum est wird zunehmend formelhaft gebraucht, also nicht mehr als echtes Hauptsatzprädikat, von dem im Klassischen Latein typischerweise ein mit ut + Konjunktiv oder quod ‚dass‘ eingeleiteter Nebensatz abhängt. 13 Dieser klassischen Konstruktion am nächsten kommt noch V.15 factum est ut discesserunt [...] angeli (‚es begab sich, dass die Engel fortgingen‘), allerdings steht hier der Indikativ anstelle des Konjunktivs. In Vers 1 und 6 hingegen kann das factum est ohne irgendeinen semantischen oder syntaktischen Verlust weggelassen werden. V.11 hodie ‚heute‘: Dieses Adverb resultiert aus der ablativischen Zusammensetzung hoc die (‚an diesem Tag‘). Die Aussprache des anlautenden / h/ wurde schon früh aufgegeben, entsprechend lautet die italienische Entsprechung oggi . Im Französischen und Spanischen hingegen wurde das <h> in relatinisierender Absicht beibehalten, aber nicht gesprochen: hoy und aujourd’hui . Die französische Konstruktion wiederholt gewissermaßen die lateinische Entwicklung ( hoc die > hodie ) mit französischen Mitteln ( au jour de > aujourd’ ) und ist damit aus etymologischer Sicht tautologisch: ‚am Tag von diesem Tag‘. V.12 et hoc vobis signum : hier muss ein Prädikat wie sit (3.Pers. Konj. Präs. von esse , ‚sein‘) ergänzt werden, also ‚dies sei euch ein Zeichen‘, oder aber man muss signum als Objekt zu invenietis auffassen (‚ihr werdet dieses Zeichen finden‘). Was danach kommt, stände dann gewissermaßen nach einem Doppelpunkt ohne eigenes Verb: infantem ‚ein Kind...‘. V.12/ 16 infantem : Dieser Ausdruck für ‚Kind‘, der sich v.a. im Französischen fortgesetzt hat ( enfant ), bezieht sich vor allem auf sehr kleine Kinder, die 13 Die Konstruktion in Vers 15 hat damit nichts zu tun: In verbum quod factum est quod fecit Dominus liegen zwei Relativsätze vor; das zweite quod hängt also nicht von factum est ab. <?page no="42"?> 2.1 Lateinische Texte 43 noch nicht (richtig) sprechen können (vgl. im Deutschen das zumeist abwertend gebrauchte Fremdwort infantil ). Es handelt sich bei der vorliegenden Form um den Akkusativ des substantivierten Adjektivs infans , das aus dem Verneinungspräfix in - und dem Partizip Präsens des Deponens fari (‚sprechen‘) zusammengesetzt ist, und bedeutet wörtlich ‚nicht sprechend‘. Im Spanischen existiert infante bzw. infanta nur als Titel für die Kinder von Monarchen (‚der/ die Infant[in]‘). V.15 usque Betleem : Klassisch ist usque ein Adverb, das zum Ausdruck der Bedeutung ‚bis/ bis nach‘ zusätzlich die Präposition ad bei sich trägt, also usque ad Betleem . Die altfranzösischen Entsprechungen josque bzw. jusque bzw. juque gehen wohl auf inde usque zurück. Die neufranzösische Konstruktion jusqu’à (‚bis‘) ist also in mehrfacher Hinsicht eine Relatinisierung: Die im Altfranzösischen konkurrierende Graphie mit <o> wurde aufgegeben, das <s> wurde wieder konsequent geschrieben und ab dem 17.Jh. auch ausgesprochen (analog zu presque , lorsque etc.), und es wurde die französische Präposition angehängt, die dem lateinischen ad entsprach (cf. Bloch/ Wartburg, Stichwort jusque ). Die Tatsache, dass Betleem anders als im Hebräischen ohne ein Zeichen für intervokalisches / h/ geschrieben wird, liegt an der griechischen Vorlage. Im Griechischen existierte ein Schriftzeichen für / h/ nur im Wortanlaut. V.18 mirati sunt : Das Verb mirari (‚sich wundern‘) ist ein Deponens, also ein Verb mit passivischen Formen bei aktivischer Bedeutung. In den romanischen Sprachen hat sich eher das Kompositum admirari (‚bewundern‘) erhalten; vgl. z.B. sp./ kat./ port. admirar , fr. admirer , it. ammirare , rum. a admira . V.19 in corde suo : Das Italienische und Spanische leiten ihre Ausdrücke für das Herz direkt vom lateinischen Nominativ cor ab, der formgleich mit dem Akkusativ ist, weil es sich um ein Neutrum handelt (vgl. it. cuore , fr. cœur ). Das spanische corazón hingegen entstand durch Hinzufügung des Augmentativsuffixes ón (vgl. un monte vs. un montón ), bedeutete also zunächst ‚ein besonders großes/ tapferes Herz‘. Kulturgeschichtlich ist interessant, dass das Herz für die Römer der republikanischen Zeit nur in geringem Maße symbolische Bedeutung hatte. Viel wichtiger waren in der römischen Wertevorstellung der Geist ( animus ), die Seele ( anima ) und die Tugend ( virtus ). Deutliche Aufwertung erfuhr das Herz als Sitz von Seele und Liebe erst im Christentum und damit im Spät- und Mittellatein (vgl. Maxsein 1960: 286f.). <?page no="43"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 44 Aufgaben a. V.11: Bestimmen Sie die einzelnen Elemente des Verses formal und funktional und übersetzen Sie den Vers ins Deutsche. b. Vergleichen Sie V.14 mit der Luther-Übersetzung. Wo weicht die Übersetzung vom lateinischen Wortlaut ab? c. In der sog. Einheitsübersetzung der Jerusalemer Bibel wird V.1 folgendermaßen übersetzt: ‚In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.‘ Worin bestehen die Unterschiede zur Luther-Übersetzung? Welche Übersetzung ist näher am Vulgata-Text? d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die lateinischen Wörter tauchen im Text auf. Latein Deutsch Engl. Franz. Ital. Span. pastor filius fils angelo dominant dueño to conserve Kognition verbo Lösungen a. Der Vers besteht aus einem Gliedsatz erster Ordnung ( quia ... salvator ), der vom Hauptsatz in V.10 abhängt, sowie einem relativischen Gliedsatz zweiter Ordnung ( qui ... David ), der vom Subjekt salvator des Gliedsatzes erster Ordnung abhängt. quia : gliedsatzeinleitende kausale Konjunktion: ‚weil‘. natus est : 3.Sg.Perf. vom Deponens nasci ‚geboren werden, entspringen‘: ‚er wurde geboren‘; Prädikat des Kausalsatzes. vobis : Dativ des pluralischen Personalpronomens der 2.Person: ‚euch‘; indirektes Objekt zu natus est. hodie : Temporaladverb ‚heute‘; adverbiale Bestimmung der Zeit zu natus est. salvator : Nominativ Singular von salvator ‚Retter‘; Subjekt zu natus est. qui : Relativpronomen masc. Singular Nominativ ; bezogen auf salvator ; ‚der/ welcher‘; Subjekt des Relativsatzes. est: 3.Sg.Präs. von esse ‚sein‘: ‚er ist‘; est ist als sog. Kopula-Verb Teil eines komplexeren Prädikats - es verbindet das Subjekt qui mit dem Prädikatsnomen Christus. <?page no="44"?> 2.1 Lateinische Texte 45 - Christus Dominus : Beide Substantive stehen im Nominativ Singular. Eines von beiden ist Prädikatsnomen zu est , das andere Apposition zum Prädikatsnomen. Welches Substantiv welche Rolle spielt, ist nicht eindeutig zu klären, da die Wortstellung auch im Bibellatein noch relativ frei sein kann. Dennoch spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das erstgenannte Substantiv das Prädikatsnomen ist und das zweite die Apposition, also: ‚Christus der Herr‘. in civitate : Präposition in mit Abl. Sing. von civitas ‚Stadt‘ als adverbiale Bestimmung des Orts zu natus est : ‚in der Stadt‘. - David : hier undekliniert, weil der Name nicht lateinisch ist. Formal korrekt müsste der Genitiv Singular als Genitiv-Attribut zu civitate stehen: ‚Davids‘. - Textnahe Übersetzung: ‚weil euch heute der Retter geboren ist, welcher Christus der Herr ist, in der Stadt Davids‘. - Luther-Übersetzung (Luther macht aus dem kausalen Gliedsatz einen Hauptsatz): ‚denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. b. altissimis von altus , 3 (‚hoch‘) wird singularisch mit ‚in der Höhe‘ übersetzt; eigentlich liegt lateinisch ein superlativischer Plural vor (also wörtlich ‚in den höchsten Höhen‘). Im lateinischen Text „fehlt“ weiterhin ein Prädikatsverb, das im Deutschen mit ‚sei‘ ergänzt wird. Auch das deutsche Possessivpronomen seines steht nicht im lateinischen Text und wurde hinzugefügt. c. factum est : Diese Formel wird in der Jerusalemer Übersetzung nicht wiedergegeben, die Luther-Übersetzung lautet ziemlich textnah ‚es begab sich‘. in diebus illis : Die Luther-Übersetzung lautet relativ frei ‚zu der Zeit‘, die Einheitsübersetzung ist mit ‚in jenen Tagen‘ deutlich näher am lateinischen Text. exiit edictum a Caesare Augusto : Die Luther-Übersetzung übernimmt die lateinische Konstruktion mit dem Subjekt edictum (‚ein Gebot ging vom Kaiser Augustus aus‘), die Einheitsübersetzung macht aus dem eigentlichen Agens das Subjekt (‚Kaiser Augustus erließ den Befehl‘). ut describeretur universus orbis : Die Luther-Übersetzung ist hier sehr nah an der Vulgata (‚dass alle Welt geschätzt würde ‘ ), die Einheitsübersetzung wird deutlich konkreter und eingrenzender (‚alle Bewohner des Reiches‘ für universus orbis ) und fügt mit den ‚Steuerlisten‘ ein Detail ein, das in der lateinischen Version nicht vorhanden ist. - Insgesamt ist die Luther-Übersetzung bei drei von vier Elementen des Verses näher an der Vulgata als die Jerusalemer Einheitsübersetzung. <?page no="45"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 46 Literatur Bloch, Oscar; v. Wartburg, Walther ( 7 1986): Dictionnaire étymologique de la langue française . Paris: PUF. Maxsein, Anton ( 2 1960): „Herz“. In: Höfer, Josef; Rahner, Karl (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 5, Freiburg: Herder, S.286/ 287. Lateinischer Text: Biblia Sacra Vulgata, Editio Quinta hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007. https: / / www.bibelwissenschaft.de/ online-bibeln/ biblia-sacra-vulgata/ lesen-im-bibeltext/ bibel/ text/ lesen/ ? tx_buhbibelmodul_bibletext%5 Bscripture%5D=Lukas+2%2C+1-20 Deutscher Text: Luther-Bibel , Revision 1984, durchgesehen und in neuer deutscher Rechtschreibung vorgelegt 1999. https: / / www.bibelwissenschaft.de/ online-bibeln/ luther-bibel-1984/ lesen-im-bibeltext/ bibel/ text/ lesen/ ? tx_buhbibelmodul_ bibletext%5Bscripture%5D=Lukas+2%2C+1-20 Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit Kommentar hrsg. von Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel, Freiburg: Herder 6 1985. 2.1.5 Dante: De vulgari eloquentia Dante Alighieri (1265-1321) verfasste seine Schriften sowohl auf Latein als auch in seiner Florentiner Muttersprache. Zu seinen lateinischen Werken zählt das unvollendete theoretische Traktat De vulgari eloquentia („Über die Beredsamkeit in der Volkssprache“) aus dem frühen 14. Jahrhundert, das die dialektale Gliederung Italiens zum Thema hat. Hintergrund dieser linguistischen Reflexion ist Dantes Suche nach dem volgare illustre , der idealen, „literaturwürdigen“ Sprachform, im Rahmen derer er insgesamt 14 Dialekte identifiziert und diese auch beschreibt und bewertet. Zwei Jahrhunderte später löst Dantes Traktat die sogenannte questione della lingua , die Frage nach der Hochsprache Italiens aus. Dass Dante seine Abhandlung, in der er dem volgare gegenüber dem Latein Geltung verschaffen will, ausgerechnet in letzterer Sprache verfasst, reflektiert die Tatsache, dass zu Dantes Zeit eine philosophische Reflexion nur auf Latein als Sprache der Wissenschaft Gewicht hatte und international rezipiert wurde. In den zwei überlieferten Büchern (ca. 1303-1304) versucht Dante, den Nachweis zu erbringen, dass das volgare durch bewusste Sprachplanung zu einer dem Lateinischen ebenbürtigen, voll ausgebauten und allen Zwecken entsprechenden Hochsprache entwickelt werden kann. Beim Ausbau des Italienischen soll das Lateinische zugleich als kodifizierte, hochentwickelte Schriftsprache Vorbildfunktion übernehmen. Im ersten Buch 13 gehen seine theoretischen Argumentationen dabei auf zahlreiche sprachwissenschaftliche Themen ein: den (unterschiedlichen) Erwerb von Primär- und Sekundärsprache (I, 1), Wesen und Ursprung der Sprache (I, 2-4; I, 6), die babylonische Sprachverwirrung (v.a. I, 7), den Sprachwandel (v.a. I, 9), die sprachliche 13 Da das zweite Buch unvollendet abbricht, wird hier nicht näher darauf eingegangen. <?page no="46"?> 2.1 Lateinische Texte 47 Gliederung Europas, die Romania und die romanischen Sprachen (I, 8-10), die italienischen Dialekte und die questione della lingua (I, 10-19). Angesicht der vielen behandelten Teilbereiche der Linguistik (u.a. historische Dialektologie und Varietätenlinguistik) nimmt Dantes Traktat auch einen festen Platz in der Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft ein (vgl. Coseriu/ Meisterfeld 2003: Kap. 3.2). Für den Textauszug in nachfolgender Tabelle wurden diejenigen für Romanist*innen interessanten Passagen ausgewählt, in denen Spracherwerb und -ursprung, das sprachliche Zeichen sowie die Romania und die romanischen Sprachen thematisiert werden (vgl. Michel 1994: 106ff; Coseriu/ Meisterfeld 2003: Kap. 3.2). Die Textwiedergabe folgt Michel 1994 und Coseriu/ Meisterfeld 2003. Lateinisch Deutsche Übersetzung 14 I, 1, 2-3 (2) […] dicimus […] quod vulgarem locutionem appellamus eam qua infantes assuefiunt ab assistentibus cum primitus distinguere voces incipiunt; vel, quod brevius dici potest, vulgarem locutionem asserimus quam sine omni regola nutricem imitantes accipimus. (3) Est et inde alia locutio secondaria nobis, quam Romani gramaticam vocaverunt. D ER S PRACHERWERB : V OLKSSPRACHE VS . ‚G RAMMATIK ‘ […] wir sagen […], dass wir ‚Volkssprache‘ diejenige nennen, an die sich die Kinder durch ihr Umfeld gewöhnen, sobald sie beginnen, zum ersten Mal Laute zu unterscheiden; oder, (was) kürzer gesagt (werden kann), zur ‚Volkssprache‘ erklären wir diejenige, die wir ohne jegliche Regel die Amme nachahmend annehmen. (3) [s.u.] I, 2, 1 Hec est nostra vera prima locutio. Non dico autem 'nostra' ut et aliam sit esse locutionem quam hominis: nam eorum que sunt omnium soli homini datum est loqui, cum solum sibi necessarium fuerit. D IE MENSCHLICHE S PRACHFÄHIGKEIT [s.u.] Ich sage aber nicht „unsere“, so als ob es (sei, dass es) auch eine andere Sprache gäbe als die des Menschen: denn von allen denjenigen, die sind, ist allein dem Menschen gegeben zu sprechen, da es nur für ihn notwendig war. 14 Die Übersetzung lehnt sich an Botterill (1996) und Cheneval (2007) an. <?page no="47"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 48 I, 3, 3 Hoc equidem signum est ipsum subiectum nobile de quo loquimur: nam sensuale quid est in quantum sonus est; rationale vero in quantum aliquid significare videtur ad placitum. D AS SPRACHLICHE Z EICHEN Dieses (sprachliche) Zeichen freilich ist eben der edle Gegenstand, von dem wir sprechen: Es ist nämlich etwas, das die Sinne betrifft, insofern als es ein Laut ist; [weiter s.u.] I, 6, 7 Fuit ergo hebraicum ydioma illud quod primi loquentis labia fabricarunt. D ER S PRACHURSPRUNG [s.u.] I, 8, 5 Totum vero quod in Europa restat ab istis, tertium tenuit ydioma, licet nunc tripharium videatur: nam alii oc , alii oil , alii sì affirmando locuntur, ut puta Yspani, Franci et Latini. Signum autem quod ab uno eodemque ydiomate istarum trium gentium progrediantur vulgaria, in promptu est, quia multa per eadem vocabula nominare videntur, ut Deum, celum, amorem, mare, terram, est, vivit, moritur, amat, alia fere omnia. D IE D REITEILUNG DER R OMANIA Alles aber, was in Europa (abgesehen) von diesen noch übrig bleibt, hat ein drittes Idiom eingenommen, wenngleich es heute dreigeteilt erscheint: Denn die einen sagen oc , die einen oïl und die anderen sì zur Bejahung, nämlich die Spanier, Franzosen und „Lateiner“. Der Beweis aber, dass die Volkssprachen dieser drei Völker von ein und demselben Idiom abstammen, liegt auf der Hand, [weiter s.u.] I, 9, 2 […] Et quod unum fuerit a principio confusionis […] apparet, quia convenimus in vocabulis multis, velut eloquentes doctores ostendunt: que quidem convenientia ipsi confusioni repugnat, que ruit celitus in edificatione Babel. G EMEINSAME H ERKUNFT VS . S PRACH- VERWIRRUNG […] Und dass diese [Sprache] am Anfang der Verwirrung nur eine war […] ist klar, da wir in vielen Wörtern übereinstimmen, wie die Lehrer der Beredsamkeit zeigen: Diese Übereinstimmung aber widerspricht jener Verwirrung, die vom Himmel stürzte beim Bau von Babel. <?page no="48"?> 2.1 Lateinische Texte 49 Kommentare/ Hilfen I, 1, 2 - Die Konjunktion quod leitet einen von dicimus abhängigen Nebensatz ein. assuefiunt: assuefacĕre ‚ gewöhnen‘; fieri ist das Passiv zu facĕre - Die Konjunktion cum (+ Indikativ) leitet einen temporalen Nebensatz ein ( cum temporale , vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3). assistentibus : assistĕre ‚(dabei)beistehen‘ primitus (Adv.) ‚ zum ersten Mal‘ incipiunt : incipĕre ‚ anfangen, beginnen‘ vel ‚ oder‘ asserimus: asserĕre ‚behaupten, erklären‘ ( ThlL , assero ); hier Konstruktion mit doppeltem Akkusativ (‚jdn./ etw. erklären zu‘). Es fehlt das Bezugswort (Antezedens) zum Relativpronomen quam ; im Lateinischen ist dies häufiger als im Deutschen der Fall. nutricem: nutrix, -cis f. ‚Amme‘ accipimus: accipĕre ‚ annehmen‘ I, 1, 3 inde (Adv.) ‚daher‘; kann auch die Bedeutung ‚dann‘ ( tum ) annehmen (vgl. ThlL 1111, 63). Es lebt im romanischen Pronominaladverb (z.B. fr. en , it. ne ; nicht sp.) weiter. I, 2, 1 - Non dico […]: s.u. autem (Adv.) ‚aber‘ nam (Adv.) ‚ denn‘ eorum […] omnium: Hyperbaton (vgl. LatRom Kap. 5.1.1) I, 3, 3 equidem (Adv.) ‚freilich‘ ipsum ‚selbst‘; kann auch für eine schärfere Begriffsbegrenzung verwendet werden (‚gerade, eben‘). Diese Textstelle bezieht sich auf den Anfang des Traktats (I, 1, 2), in dem Dante die Offenlegung bzw. Klärung des Gegenstands ( subiectum ) seiner theoretischen Abhandlung ( doctrina ) ankündigt ( Sed quia unamquanque doctrinam oportet non probare, sed suum aperire subiectum […] . ‚Da aber eine jede Wissenschaft ihren Gegenstand nicht beweisen, sondern offenlegen soll […]‘). sensuale/ rationale: sensualis (Adj.) drückt die Zugehörigkeit zu sensus , us m. ‚Wahrnehmung, Empfindungsvermögen, Sinn‘ aus. Analog hierzu rationalis zu ratio, -nis f. (im übertragenen Sinn) ‚Denken, Geisteskraft, Vernunft‘. - Das substantivische Indefinitpronomen aliquid ‚etwas‘ steht hier in seiner enklitischen Form quid . placitum, -i n. ‚ Übereinkunft‘ ydioma : Für den Gräzismus idioma, -atis n. liegen unterschiedliche Graphien vor (vgl. ThLL , idioma ). <?page no="49"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 50 fabricarunt : Kurzform für fabrica(ve)runt (vgl. LatRom Kap. 4.5.5 Anmerkungen). I, 8, 5 licet + Konjunktiv ‚wenngleich‘ nam (Adv.) ‚denn‘ ut puta (Adv.) ‚nämlich‘ (von putare ‚glauben‘) - Yspani : Hierbei handelt es sich nicht um eine „antike“ (s.o. ydioma ), sondern um eine zeitgenössische Schreibung für das klassisch lateinische Hispani . signum, -i n. ‚Zeichen‘; ‚Beweis‘ vulgare, -is n. ‚Volkssprache‘ progrediantur: progredi ‚ vorrücken‘ wird hier im übertragenen Sinne von ‚abstammen‘ verwendet (vgl. ThLL : 1769, 15). Bei progrediantur handelt es sich um den Konjunktiv Präsens. Die Verwendung des Konjunktivs in einem faktischen quod -Satz deutet auf innerliche Abhängigkeit (Coniunctivus obliquus) hin (vgl. LatRom Kap. 5.2.4). in promptu est ‚ es liegt auf der Hand‘ (Abl. von promptus ‚Sichtbarkeit‘) fere (Adv.) ‚fast‘, ‚nahezu‘ I, 9, 2 unum bezieht sich auf idioma. apparet ‚es ist klar‘; üblicherweise mit AcI, hier mit quod + Konjunktiv ( fuerit ). 15 convenimus : convenire ‚ übereinstimmen‘ velut (Adv.) ‚wie‘ eloquentes doctores : wörtlich ‚die wortgewandten Lehrer‘ ostendunt: ostendĕre ‚ zeigen‘ que quidem convenientia: relativischer Satzanschluss (vgl. LatRom Kap. 5.2.4.1) quidem (Adv.) ‚aber‘ convenientia, -ae f. : Substantiv zu convenire (s.o.) repugnat: repugnare ‚ im Widerspruch stehen, widersprechen, unvereinbar sein‘ ruit: ruĕre ‚ stürzen‘ celitus (Adv.)‚vom Himmel‘, zu caelum , -i n. ‚Himmel‘ - Babel: Das Substantiv ist nicht dekliniert. 15 Ähnlich wie in I, 8, 5 scheint es sich auch hier um einen obliquen Konjunktiv in einem faktischen quod -Satz zu handeln. Denkbar wäre allerdings auch, dass der eigentlich vorgeschriebene AcI durch einen Konjunktiv ersetzt wird, um auszudrücken, dass eine vom Hauptsatz abhängige Konstruktion vorliegt; die Explizierung der Abhängigkeit scheint auch insofern angebracht, als der quod -Satz dem Hauptsatz vorangeht. <?page no="50"?> 2.1 Lateinische Texte 51 Aufgaben a. Übersetzen Sie folgende Abschnitte: - I, 1, 3/ I, 2, 1: Est et inde […] prima locutio . - I, 3, 3: rationale vero […] ad placitum. - I, 6, 7 : Fuit ergo hebraicum ydioma […] fabricarunt. - I, 8, 5: […] quia multa per eadem vocabula nominare videntur, ut Deum, celum, amorem, mare, terram, est, vivit, moritur, amat, alia fere omnia. b. Bestimmen Sie folgende Formen: assistentibus (I, 1, 2), brevius (I, 1, 2), fuerit (I, 2, 1); affirmando (I, 8, 5). c. Wo finden sich im Text monophthongierte Formen? Was versteht man unter Monophthongierung? d. I, 1, 2: locutio : Von welchem Verb ist das Substantiv abgeleitet? Kennen Sie Fortsetzer von Verb und Substantiv in den romanischen Sprachen? e. I, 1, 2: Ergänzen Sie das Antezedens zu quam. f. I, 1, 3: Analysieren Sie das Syntagma est […] nobis. g. I, 2, 1: dico : Welche klassisch lateinische Konstruktion erkennen Sie nach diesem Prädikat? Finden Sie eine vergleichbare Stelle im Text, in der eine andere Konstruktion gewählt wurde und erläutern Sie diese. h. I, 3, 3: Zu welchem Verb gehört placitum ? Von welcher Verbform ist es abgeleitet? i. I, 8, 5: Wer ist mit Yspani gemeint? Wer mit den „Lateinern“? j. I, 8, 5: progredi : Welche Fortsetzer in den romanischen Sprachen und im Englischen sind Ihnen geläufig? Von welcher Verbform sind sie abgeleitet? k. I, 9, 2: Wie wird Mehrsprachigkeit gewertet? l. I, 8, 5: Überprüfen Sie Dantes Aussage, indem Sie die von ihm genannten Lexeme in folgenden Sprachen einander gegenüberstellen: Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch Deum celum amorem mare terram est vivit moritur amat <?page no="51"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 52 Lösungen a. Übersetzung: I, 1, 3/ I, 2, 1: Wir haben dann auch (noch) eine andere zweite Sprache, welche die Römer ‚Grammatik‘ nannten. Dies(e) ist unsere wahre erste Sprache. I, 3, 3: Es ist etwas, das die Sinne betrifft, insofern als es ein Laut ist; es ist aber auch etwas Geistiges, insofern es etwas zu bedeuten scheint gemäß Übereinkunft . 17 I, 6, 7 : Es war also das hebräische Idiom jenes, welche die Lippen des ersten Sprechenden erzeugten. (Dies war im Mittelalter aus religiösen Gründen die verbreitete Meinung.) I, 8, 5: […] weil sie vieles mit demselben Wort zu benennen scheinen, wie Gott, Himmel, Liebe, Meer, Erde, ist, lebt, stirbt, liebt und nahezu alles andere. b. Formenbestimmung: assistentibus (I, 1, 2): PPA von assistĕre , Ablativ Plural (abhängig von der Präposition ab zum Ausdruck des menschlichen Urhebers beim Passiv, vgl. LatRom Kap. 4.3.1, Anm. 21) brevius (I, 1, 2): Komparativ von breviter (Adv.); Adverbien tragen im Komparativ wie das Neutrum das Suffix ius (vgl. LatRom Kap. 4.3.3) fuerit (I, 2, 1): 3. Ps. Sg. Konjunktiv Perfekt Aktiv von esse (nach Cum causale, vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3; Vorzeitigkeit zu nobis datum est in resultativem Sinne ‚uns ist gegeben‘ gleichbedeutend mit ‚wir haben‘, vgl. LatRom Kap. 4.6.3) affirmando (I, 8, 5): Gerundium von affirmare , Dativ Singular (hierbei handelt es sich um einen Dativus finalis, vgl. LatRom Kap. 5.1.3). c. Monophthongierte Formen finden sich an zahlreichen Stellen: hec (I, 2, 1) statt haec ; que (I, 2, 1 und I, 9, 2) statt quae ; edificatione (I, 9, 2) statt aedificatione . Unter ‚Monophthongierung‘ versteht man die Vereinfachung von Diphthongen; hier des Diphthongs / a͡ e/ zu / ɛ/ (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). d. I, 1, 2: Das Substantiv locutio, -nis (f) ist vom Verb loqui ‚sprechen‘ abgeleitet. Das Verb loqui hat keinen direkten Fortsetzer in den romanischen Sprachen, sondern wird durch andere Lexeme ersetzt (z.B. parabolare > fr. parler / it. parlare ; fabulare > sp. hablar ). Die deverbale Ableitung locutio hingegen lebt in den romanischen Sprachen in der Bedeutung ‚Redewendung‘, ‚Ausdruck‘ u.ä. unmittelbar weiter (z.B. fr. locution , it. locuzione ; sp. locución ); dies gilt auch für das titelgebende Substantiv eloquentia (s.u.). 17 Die Unterscheidung zwischen materieller (und damit sinnlich wahrnehmbarer) und inhaltlicher Seite des sprachlichen Zeichens wurde bereits von Aristoteles (384-322 v. Chr.) getroffen. Im Zeichenmodell von de Saussure (1916) findet sie sich als Dichotomie signifiant/ signifié wieder. <?page no="52"?> 2.1 Lateinische Texte 53 Daneben gibt es noch zahlreiche andere deverbale Ableitungen von loqui , wie nachfolgende Tabelle beispielhaft veranschaulichen soll: Französisch Italienisch Spanisch Deutsch allocution allocuzione alocución Anrede éloquence eloquenza elocuencia Wortgewandtheit, Eloquenz éloquent eloquente elocuente wortgewandt, eloquent locuteur locutore locutor Sprecher locutorio Sprechzimmer Nicht zuletzt existieren linguistische Fachbegriffe sowohl in den romanischen Sprachen als auch im Deutschen, die z.T. aus dem Englischen übernommen wurden, wie etwa Lokution , Illokution , Perlokution (Pragmatik). e. I, 1, 2: Das Antezedens lautet eam (parallel zu eam qua infantes im unmittelbar vorangehenden Satz). f. I, 1, 3: Bei dem Pronomen nobis handelt es sich um den Dativus possessivus bzw. possessoris. Zusammen mit esse gibt er den Besitzer an. g. I, 2, 1: Im Klassischen Latein steht nach Verben der Behauptung ( verba dicendi ) wie etwa dicĕre ein AcI, wenn der Infinitiv ein eigenes Subjekt hat (vgl. LatRom Kap. 5.2.1.1) (s.u. Placiti cassinesi ). Im Vulgärlatein wird der AcI zunehmend durch einen Nebensatz ersetzt, der üblicherweise mit quod eingeleitet wird (zur Morphologie von quod und den romanischen Fortsetzern s.u. Placiti cassinesi ). Ein entsprechendes Beispiel findet sich direkt am Textanfang ( dicimus […] quod ). Hieran zeigt sich die Kopräsenz „alter“ und „neuer“ sprachlicher Verfahren („Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“). h. I, 3, 3: Das Substantiv placitum ist abgeleitet vom Verb placēre ‚gefallen‘, und zwar als Substantivierung vom PPP placitum . i. I, 8, 5: Mit Yspani sind nicht die Hispani , d.h. aus heutiger Sicht ‚die Spanier‘ gemeint, sondern die Okzitanen; tatsächlich verdankt sich diese Bezeichnung der Bejahungspartikel oc (< hoc ), wovon auch die Bezeichnung langue d’oc abgeleitet ist (vgl. LatRom Kap. 4.4.3). Mit den Lateinern sind die Italiener gemeint (vgl. Tagliavini 1998: 4). Damit stellt dies einen frühen Klassifikationsversuch der Romania auf lexikalischer Grundlage dar. j. I, 8, 5: Die Fortsetzer von progredi sind folgende: fr. progrès , it. progresso , sp. progreso , eng. progress in der Bedeutung ‚Fortschritt‘. Abgeleitet sind sie vom PPP progressum (s.o. placitum ). k. I, 9, 2: Mehrsprachigkeit wird hier nicht als etwas Positives, sondern als etwas Negatives gewertet. <?page no="53"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 54 l. I, 8, 5: Dante hat sich offensichtlich nicht geirrt: Anhand nachfolgender Gegenüberstellung zeigt sich der gemeinsame Ursprung an der formalen Ähnlichkeit der Lexeme - trotz offensichtlicher Weiterentwicklungen auf unterschiedlichen Sprachebenen (z.B. Tilgung der Deponentien, „romanische“ Diphthongierung, s.u. Eulaliasequenz): Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch Deum Dieu Dio Dios Gott god celum ciel cielo cielo Himmel heaven; sky amorem amour amore amor Liebe love mare mer mare mar Meer; See sea terram terre terra tierra Land land est est è es ist is vivit vit vive vive lebt lives moritur meurt muore muere stirbt dies amat aime ama ama liebt loves Literatur Coseriu, Eugenio; Meisterfeld, Reinhard (2003): Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft . Tübingen: Narr. Dante Alighieri: De vulgari eloquentia , hrsg. und übers. v. S. Botterill. Cambridge: Cambridge University Press (1996). Dante Alighieri: De vulgari eloquentia , übers. v. F. Cheneval. Hamburg: Felix Meiner (2007). Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Tagliavini, Carlo ( 2 1998): Einführung in die romanische Philologie . Tübingen/ Basel: Francke. ThLL. Thesaurus linguae Latinae onlinehttp: / / publikationen.badw.de/ de/ thesaurus/ lemmata 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum Im folgenden Kapitel werden alt- und mittelfranzösische Texte präsentiert, die aus vielerlei Hinsicht von Bedeutung für Studierende der Romanistik sind. Den Anfang machen jedoch einige Sprachzeugnisse, die das Auftreten einer romanischen Volkssprache auf dem Boden der Galloromania in Einzelwörtern dokumentieren, die sog. Glossen. Man kann hier also noch nicht von altfranzösischen „Texten“ sprechen, sehr wohl aber von galloromanischen Sprachzeugnissen. <?page no="54"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 55 2.2.1 Reichenauer Glossen Ab dem 9. Jahrhundert manifestiert sich in ganz unterschiedlichen Texten aus dem romanischen Sprachraum zunehmend der Abstand zum Lateinischen. Als wichtige volkssprachliche Zeugnisse gelten Glossare, d.h. Sammlungen von Wörtern mit Erklärungen bzw. Übersetzungen (Glossen) eines bestimmten, offensichtlich schwer verständlichen Textes (vgl. LatRom Kap. 6.6.1). Damit geben diese Glossare auch Aufschluss darüber, welche Wörter nicht mehr verwendet oder verstanden wurden. Zu den bekanntesten Glossaren zählen die sogenannten Reichenauer Glossen, die ihren Namen der Abtei Reichenau, ihrem Fundort, verdanken. Entstanden sind sie aber wohl im Benediktinerkloster von Corbie (Picardie, Nordfrankreich), wahrscheinlich zu Beginn des 9. Jahrhunderts. Die Sammlung umfasst insgesamt 4877 lateinisch-volkssprachliche 17 Glossen und ist in zwei Teile aufgeteilt: Der erste, umfangreichere Teil (3152 Glossen) bezieht sich auf die Vulgata (s.o.), während der zweite Teil (1725 Glossen) ein alphabetisches Glossar zu unterschiedlichen Texten darstellt (vgl. LatRom Kap. 2.4.2). Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auswahl an Glossen. Text und Zählung orientieren sich an Iliescu/ Slusanski (1991: 286-290). Latein „Volkssprache“ Deutsche Übersetzung 46: PULCRA bella schön 48: QUAESO preco ich bitte 94: OPTIMUM valde bonum [s.u.] 122: IACERE iactare werfen 285a 18 CASEUM formaticum [s.u.] 480: FLARE suflare blasen 742a: IS ille dieser; er 1377: IECORE ficato Leber 1677: [s.u.] si voles wenn du willst 1737: [s.u.] sic so 1783: HEDUNT manducant er/ sie/ es essen 2086: INGREDI intrare [s.u.] 2670: [s.u.] caderunt er/ sie/ es fielen 17 Die Frage, ob es sich hierbei um lateinische oder schon um romanische Lexeme handelt, ist in der Forschung umstritten (vgl. Iliescu/ Slusanski 1991: 285). Aufgrund der merowingischen Schreibtradition sahen die Wörter aber sicherlich „lateinischer“ aus, als sie gesprochen wurden. 18 Die Abkürzung a bezieht sich auf den alphabetischen Teil des Glossars. <?page no="55"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 56 Kommentare/ Hilfen s. Aufgaben Aufgaben a. Z.46: Welches andere Wort mit der Bedeutung ‚schön‘ kennen Sie im Klassischen Latein? In welcher romanischen Sprache wird dieses Wort fortgeführt? b. Z.48: Wie müsste die „korrekte“ klassisch lateinische Form zu preco lauten? Welche systematische morphologische Veränderung tritt hier zutage? Finden Sie in den Glossen ein weiteres Beispiel für diese besondere Verbgruppe? c. Z.94: Was ist bei optimum > valde bonum die auffälligste Neuerung auf morphosyntaktischer Ebene? Inwiefern ist diese Entwicklung typisch für die romanischen Sprachen (s.o.)? Welche zwei Möglichkeiten gibt es, optimum ins Deutsche zu übersetzen? Wie werden diese Formen genannt? d. Z.122: Wie hängen iacĕre und iactare morphologisch zusammen? Mit welchem Fachbegriff wird die Bildung iactare bezeichnet und was lässt sich semantisch über sie aussagen? Welcher Bedeutungswandel zeichnet sich in den romanischen Sprachen ab? e. Z.285: Geben Sie die deutsche Übersetzung an. Wie lautet die Entsprechung auf Spanisch und Französisch? Was lässt sich an dem Wortpaar caseum : formaticum im Hinblick auf die romanischen Fortsetzer kommentieren? Finden Sie in den Glossen für diesen Befund ein weiteres Beispiel? f. Z.480: Welches typische Wortbildungsverfahren lässt sich bei suflare nachweisen? Was lässt sich hierzu semantisch sagen? In welchen romanischen Sprachen setzt sich suflare fort? g. Z.742a: Um welche Wortart handelt es sich? Was stellen Sie fest, wenn Sie die Semantik der beiden Wörter vergleichen? Welche Fortsetzer findet ille in den romanischen Sprachen? h. Z.1377: Das volkssprachliche Wort ficatum hängt mit ficus ‚Feige‘ zusammen. Können Sie erklären, wie es zu der Bedeutung ‚Leber‘ kommt? i. Z.1677: Wie müsste die klassisch lateinische Entsprechung zu voles lauten? Welcher Infinitiv lässt sich hinter si voles vermuten? Können Sie sich vorstellen, warum die klassisch lateinische Form ersetzt wurde? j. Z.1737: Welches andere klassisch lateinische Wort für ‚so‘ kennen Sie? In welchen romanischen Sprachen findet sich der Fortsetzer von sic ? Welche Bedeutung hat es hier? k. Z.1783: Wie müsste die „korrekte“ Form zu hedunt lauten? Welche lautliche Erscheinung steckt hinter dieser Schreibung. l. Z.2086: Welche Wörter im Deutschen, Englischen, Französischen, Spanischen und Italienischen leiten sich aus ingredi ab? <?page no="56"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 57 m. Z.2670: Wie lautet die klassisch lateinische Form zu caderunt ? Welche morphologischen Gründe für den Ersatz würden Sie vermuten? Finden Sie für diese Entwicklung in den Glossen weitere Beispiele? Lösungen a. Z.46: Neben bellus ‚charmant, lieblich‘ existiert noch formosus ‚schön an Gestalt‘; beide verdrängen das neutralere pulc(h)er ‚schön‘ (vgl. LatRom Kap. 6.2.4). formosus lebt im spanischen hermoso und in rum. frumos ‚schön‘ weiter; bemerkenswert ist dabei der typische spätere Lautwandel / f/ > / h/ im Altspanischen (z.B. auch bei filium > hijo ) (vgl. LatRom Kap. 2.2). b. Z.48: Die „korrekte“ Form wäre precor . Bei precari handelt es sich um ein Deponens, d.h. um ein formal passivisches Verb mit aktivischer Bedeutung (vgl. LatRom Kap. 4.5.6). Bereits im Altlatein gibt es die Tendenz, Deponentien in formal aktivische Formen umzuwandeln (vgl. LatRom Kap. 4.6.3). Diese Tendenz zur Vereinfachung unregelmäßiger Formen verstärkt sich im Vulgärlatein weiter (vgl. LatRom Kap. 2.5). Ein weiteres Beispiel wäre der Ersatz von ingredi durch die „regelmäßige“ Verbform intrare (2086). c. Z.94: Im Gegensatz zum Klassischen Latein werden die romanischen Steigerungsformen des Adjektivs fast ausnahmslos mittels separater Adverbien gebildet (vgl. LatRom Kap. 4.3.3, 4.4.2). Auch im vorliegenden Beispiel wird die klassische synthetische Form optimum in die analytische Form valde bonum übertragen. Hierin spiegelt sich die für die romanischen Sprachen typische Tendenz zu analytischen Verfahren; damit entfernen sich die romanischen Sprachen auch typologisch vom Lateinischen, einer synthetischen Sprache. Die Steigerungsform optimum kann sowohl als Elativ ‚sehr gut‘ übersetzt werden, was dem volkssprachlichen valde bonum entspricht. Darüber hinaus kann es auch als Superlativ verstanden werden, die deutsche Übersetzung wäre dann ‚das Beste‘ (vgl. LatRom Kap. 4.3.3). d. Z.122: Bei iactare handelt es sich um das Verbum intensivum zu iacĕre . Diese Verben werden vom PPP-Stamm (hier: iactum ) abgeleitet und bezeichnen verstärkte oder wiederholte Handlungen. Wegen ihrer regelmäßigen Formen (a-Konjugation) werden sie im Vulgärlatein generalisiert, wodurch sie ihre Sonderbedeutung verlieren (vgl. LatRom Kap. 4.2.2, 6.2.1). e. Z.285: Die deutsche Übersetzung lautet ‚Käse‘. Auf Spanisch lautet die Entsprechung el queso , auf Französisch hingegen le fromage (mit Metathese, d.h. Lautumstellung bzw. -vertauschung < afr. formage , vgl. auch it. formaggio ). Interessant ist bei dem Wortpaar caseum : formaticum , dass in einem Fall die klassisch lateinische (auch z.B. in tosk./ mittelu. südit. cacio ), im anderen Fall die jüngere vulgärlateinische Form weiterlebt; dies trifft auch auf andere Lexeme zu (z.B. sp. cabeza vs. fr. tête ) und ist ein Beleg für die Klassifikation in eine lexikalisch „konservativere“ Randromania und eine „innovativere“ Zentralromania (vgl. z.B. LatRom Kap. 2.1.2, 6.2.4). <?page no="57"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 58 Auch bei formosus (sp. hermoso ) vs. bellus (fr. beau , bel , belle ) (s.o.) lässt sich diese Zweiteilung beobachten. f. Z.480: Bei suflare handelt es sich um die Zusammensetzung eines Präfixes ( sub -) mit einem anderen Lexem (das einfache Verb flare ), was im Vulgärlatein ein hochfrequentes Wortbildungsmuster darstellt (vgl. LatRom Kap. 6.2.1). Wie die oben besprochenen Verba intensiva verlieren auch diese zusammengesetzten Lexeme ihre Sonderbedeutung (vgl. LatRom Kap. 6.2.1). suflare setzt sich in den romanischen Sprachen folgendermaßen fort: fr. souffler , it. soffiare , sp. soplar. g. Z.742a: Bei is und ille handelt es sich um Demonstrativpronomina (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). Während is aus personaldeiktischer Sicht neutral ist, verweist ille auf alles, was sich weit weg vom Sprecher befindet (dt. ‚jener‘). An der Gleichsetzung im Glossar kann man feststellen, dass diese personaldeiktischen Unterschiede im Vulgärlatein verloren gehen. Das ursprüngliche Demonstrativum ille entwickelt sich in den romanischen Sprachen einerseits zu einigen Personalpronomina der 3. Person (z.B. fr. il / elle ), andererseits zum bestimmten Artikel (z.B. it. il / la ). h. Z.1377: Das volkssprachliche Wort ficatum existierte in zwei verschiedenen Betonungsmustern ( fícatum > fr. foie, it. fegato, sp. hígado ; ficátum > rum. ficat ) und entstammt der Wortverbindung ( iecur ) ficatum , später nur ficatum ‚mit Feigen gemästet‘. Jeder, der einmal foie gras gegessen hat, kann sich den Zusammenhang zwischen ‚Leber‘ und ‚mit Feigen gemästet‘ ungefähr vorstellen. Um diese Etymologie zu verstehen, muss man also die Realität der antiken Tiermast und andere kulinarische Gegebenheiten kennen. Das Nomen ( iecur ) ficatum ist ursprünglich nichts anderes als die ‚Stopfleber‘, die Bedeutung hat sich dann zu ‚Leber‘ im Allgemeinen erweitert (vgl. auch LatRom Kap. 2.4.2; Tagliavini 1998: 372, Anm. 17). i. Z.1677: Die klassisch lateinische Entsprechung zu si voles lautet si vis . Hinter der volkssprachlichen Verbform voles lässt sich ein Infinitiv * volēre vermuten, der sich am PPA volens orientiert. Da es sich hierbei um ein regelmäßiges Verb handelt, hat dies sehr wahrscheinlich das unregelmäßige klassische velle ersetzt (vgl. LatRom Kap. 4.6.2). j. Z.1737: Neben sic gibt es im Klassischen Latein auch das Adverb ita in der Bedeutung ‚so‘ (vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3). sic lebt im it. sì und sp. si weiter, wo es die Bedeutung ‚ja‘ (Bejahungspartikel) hat. k. Z.1783: Die „korrekte“ Form zu hedunt lautet edunt von klat. edĕre . Hierbei handelt es sich um eine häufige Hyperkorrektur, die die schon mehrfach genannte Unsicherheit bei der Aussprache von / h/ im Anlaut dokumentiert (s.o.). l. Z.2086: Aus ingredi leiten sich folgende Wörter ab: dt. Ingredienz ‚Zutat‘; engl. ingredient ; fr. ingrédient ; sp. ingrediente ; it. ingrediente , daneben auch it. ingresso ‚Eingang‘. m. Z.2670: Die klassisch lateinische Form zu caderunt lautet ceciderunt . Auch in diesem Fall wurde das morphologisch unregelmäßige Verb ( cadĕre , <?page no="58"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 59 cecidi , casum ) durch eine regelmäßige Alternative ersetzt. Dies trifft auch auf folgende Beispiele zu: iacĕre vs. iactare (122); velle vs. volēre (1677), edĕre vs. manducare (1783). Literatur Iliescu, Maria; Slusanski, Dan (1991): Du latin aux langues romanes choix de textes traduits et commentés (du IIe siècle avant J.C. jusqu ‘ au Xe siècle après J.C.). Wilhelmsfeld: Egert. Tagliavini, Carlo ( 2 1998): Einführung in die romanische Philologie . Tübingen/ Basel: Francke. 2.2.2 Straßburger Eide Das nachfolgende Sprachdenkmal gilt als der älteste zusammenhängende französische Text. Es handelt sich um den romanischen Teil der sogenannten Straßburger Eide ( serments de Strasbourg ), die der karolingische Chronist Nithard (790 - ca. 845) in seinem lateinischen Geschichtswerk (ca. 843) wiedergibt. Geleistet wurden diese Eide im Jahre 842 zwischen den zwei Enkeln Karls des Großen, Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen ( Charles le Chauve ), die sich im Kampf um das Erbe ihres Großvaters gegen den älteren Bruder Lothar verbündeten. 19 Die Eidesformel liegt in romanischer und germanischer Sprache vor, weil sie jeweils in der Sprache des anderen vor den beiden Heeren abgelegt wurde: von Ludwig dem Deutschen auf Altfranzösisch und von Karl dem Kahlen „in teudisca autem lingua“, d.h. auf Althochdeutsch. Die Straßburger Eide können gewissermaßen als die „Geburtsurkunde“ der französischen Sprache betrachtet werden (vgl. LatRom Kap. 4.6.8). Die Straßburger Eide sind kein literarischer, sondern ein juristischer bzw. politischer Text, der entsprechend formelhaft abgefasst ist. Sprachlich sind sie sehr interessant, weil sie einerseits Relatinisierungstendenzen (v.a. Graphie, Lexikon und Syntax), andererseits aber auch altfranzösische Elemente (v.a. Morphologie) aufweisen. In der nachfolgenden Tabelle findet sich der Anfang der von Ludwig dem Deutschen geschworenen Eidesformel. Der Text ist in „geglätteter“ Schreibung und modern interpungiert wiedergegeben (vs. diplomatische 19 Hintergrund ist der seit 840 andauernde Erbstreit um das Reich Karls des Großen unter seinen drei Enkeln: Karl der Kahle, Herrscher über das Westreich, Ludwig der Deutsche, König über das Ostreich und den ihnen übergeordneten Bruder Lothar, Herrscher über das Mittelreich und seit 817 Mitkaiser. Um ihre Streitigkeiten zu beenden, wird das Reich Karls des Großen schließlich in drei Teile zerschnitten: Der Westen (das zukünftige Frankreich) geht an Karl den Kahlen, der Osten (das zukünftige Deutschland) an Ludwig den Deutschen und das Mittelreich an Lothar (daher der Name Lothringen). Dies geschieht im Jahr 843 mit dem Vertrag von Verdun, der damit auch das Ende des Reiches Karls des Großen besiegelt. <?page no="59"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 60 Umschrift 20 ) und in sechs Sinnabschnitte unterteilt. Die Lesung stammt aus Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 184, ebenso die nachfolgende Abbildung 1. Altfranzösisch Deutsche Übersetzung 21 1 : Pro Deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, Bei der Liebe Gottes und dem christlichen Volk und unser aller Rettung, 2 : d’ist di in avant, in quant Deus savir et podir me dunat, von diesem Tage an, soweit mir Gott Wissen und Können gibt, 3 : si salvarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, werde ich diesem meinem Bruder Karl hier beistehen, sowohl in Hilfeleistung als auch in jeder anderen Angelegenheit, 4 : si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi altresi fazet so wie man zu Recht seinem Bruder beistehen soll, auf dass er mir genauso tue 5 : et ab Ludher nul plaid nunquam prindrai, und ich werde von Lothar niemals ein Abkommen annehmen, 6 : qui, meon vol, cist meon fradre Karle in damno sit. […] das, nach meinem Willen, meinem Bruder Karl zum Schaden sei. […] 20 Bei der sogenannten diplomatischen Umschrift handelt es sich um eine „urkundengetreue“, d.h. möglichst authentische Transkription, bei der sämtliche spezifische Eigenheiten einer Handschrift (z.B. Umbrüche, Abkürzungen, Korrekturen) übernommen werden. Entsprechend erfolgt auch keine Normalisierung von Wortformen. 21 Die Übersetzung orientiert sich an der französischen Übersetzung in Berschin/ Felixberger/ Goebl (1978: 184) und der deutschen Übersetzung in Price (1988: 8). <?page no="60"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 61 Abb. 1: Manuskript der Straßburger Eide (Felixberger/ Berschin/ Goebl 1978: 186) Kommentare/ Hilfen Z.2: Die Verbform dunat steht für donat ; die Graphie <u> für langes o ist im Merowingerlatein häufig belegt, z.B. auch amur (Z.1) (vgl. Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 188). Z.2: Bei dem Adverb avant ‚vorn, vorwärts‘ handelt es sich um eine Zusammensetzung aus der lateinischen Präposition ab und dem lateinischen Adverb ante . Diese Zusammensetzungen finden sich bereits im Vulgärlatein sehr häufig (vgl. Väänänen 1981: 95). Z.3: Das Adverb si (< lat. sic ) leitet hier einen Hauptsatz nach einem vorangehenden Nebensatz ein und muss nicht zwingend wörtlich mit ‚so‘ übersetzt werden (vgl. z.B. Rohlfs 1968: 57). Z.3: Das Pronomen eo stammt vom lateinischen ego ‚ich‘. Z.3: Der Demonstrativbegleiter cist hat die Bedeutung ‚dieser hier‘. Z.3: Bei dem Substantiv aiudha handelt es sich um eine deverbale Ableitung von vulgärlateinisch adiutare ‚helfen, unterstützen‘, das wiederum das Verbum intensivum zu dem klassisch lateinischen adiuvare (PPP adiutum ) darstellt (vgl. LatRom Kap. 4.2.2, 6.2.1). <?page no="61"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 62 Z.3: bei cadhuno/ a handelt es sich um das Indefinitpronomen mit der Bedeutung ‚jede/ r‘. Es geht auf das Syntagma cata unum zurück, das mit der gr. Präposition κατά ‚nach‘ und lat. unus/ a gebildet wird. Im heutigen Französischen lebt das Pronomen in der Form chacun/ e (it. ciascuno ; sp. cada uno ) weiter. Z.3: Das Substantiv cosa (nfr. chose ) geht auf das lateinische causa ‚(Gerichts)Sache, Angelegenheit‘ zurück und hat im modernen Französisch die allgemeine Bedeutung ‚Sache‘ angenommen. Neben chose existiert im modernen Französisch die spätere (relatinisierende) Entlehnung cause ‚Grund, Angelegenheit‘ weiter. Z.4: Das altfranzösische Personalpronomen om entspricht dem deutschen ‚man‘. Z.4: Das Substantiv dreit geht auf das lateinische PPP directu(m) zurück und bedeutet ‚Recht‘. Z.4: Die altfranzösische Verbform dift geht auf das lateinische debet zurück. Z.4: Die zusammengesetzte Konjunktion in o quid (< lat. in hoc quid ) hat die Bedeutung ‚unter der Bedingung, dass, auf dass‘. Z.4: Das zusammengesetzte Adverb altresi (< lat. alteru(m) + sic ) bedeutet ‚ebenso‘. Z.5: Das Substantiv plaid geht auf das lateinische PPP placitu(m) zurück und bedeutet ‚Abkommen, Abmachung‘ (s. auch unten Kap. 2.3.2 Placiti cassinesi ). Aufgaben a. Lexikon: Führen Sie jeweils die Entsprechung im Klassischen Latein an, die durch das romanische Lexem ersetzt wurde: savir (Z.2), cosa (Z.3), dreit (Z.4); plaid (Z.5). b. Phonetik/ Phonologie: Geben Sie das lateinische Etymon an und gehen Sie kurz auf den jeweils zugrundeliegenden Lautwandel ein: cosa (Z.3) poblo (Z.1), savir (Z.2), fradre (Z.3) c. Morphologie: Z.2/ Z.3: Worauf geht der Demonstrativbegleiter ist bzw. cist zurück? Welche ‚„neue“ personaldeiktische Relation liegt im Text vor? Wie wird diese Relation im modernen Französisch ausgedrückt? Z.4: Welches lateinische Substantiv liegt dem Indefinitpronomen om zugrunde? Welchen anderen französischen Fortsetzer dieses lateinischen Wortes kennen Sie? d. Morphosyntax: Analysieren Sie das Syntagma Deo amur (Z.1): Welche besondere Kasusverwendung können Sie feststellen? An welcher Textstelle taucht eine weitere Form zu Deo auf? Um welchen Kasus handelt es sich hierbei? e. Syntax: Wo findet sich eine klassisch lateinische Satzstruktur? <?page no="62"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 63 Lösungen a. Lexikon: Die entsprechenden Lexeme im Klassischen Latein lauten folgendermaßen: scire (vgl. Z.2 vs. savir von sapĕre ), res (vgl. Z.3 vs. cosa von causa ), ius (vgl. Z.4 vs. dreit von directum ); foedus (vgl. Z.5 vs. plait von placitum ) b. Phonetik/ Phonologie: causa (vgl. Z.3) (s.o.). Die Monophthongierung von / au/ zu / o/ ist ein typisches Phänomen des gesprochenen Lateins (vgl. LatRom Kap. 2.3, 3.2.1). populum (vgl. Z.1), sapere (vgl. Z.2), fratrem (vgl. Z.3). Bei dem Lautwandel handelt es sich um die Sonorisierung bzw. Spirantisierung der stimmhaften Verschlusslaute (hier / p/ und / t/ ), die sowohl in intervokalischer Stellung als auch vor / r/ und / l/ eintritt. Dieser Lautwandel bildet ein Merkmal der Westromania (vgl. LatRom Kap. 3.2.2; Väänäänen 1981: 56f). Bei populum > poblo liegt zudem eine Synkope im Wortinnern vor. c. Morphologie/ Semantik: Pronomina Z.2/ Z.3: ist geht direkt auf das lateinische Demonstrativum iste zurück, während sich cist aus ecce + iste zusammensetzt. Im Hinblick auf die Personaldeixis ist iste ursprünglich das Demonstrativum der zweiten Person, übernimmt aber die Funktionen von hic als Demonstrativum der ersten Person (z.B. ‚erhalten‘ in sp. este ‚dieser hier ‘ ) (vgl. LatRom Kap. 4.3.4, 4.4.3). Im Französischen wird das Paradigma der Demonstrativa grundlegend umgebaut (zur Morphologie s. u. Rabelais-Text Kap. 2.2.6); im modernen Französisch wird die personaldeiktische Relation der Nähe nicht mehr am Demonstrativum, sondern durch Anfügung der Partikel -ci (z.B. celui-ci ) ausgedrückt (vgl. Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 128f). Z.4: Dem Indefinitpronomen om liegt das lateinische homo , hominis , m ‚Mann, Mensch‘ zugrunde, das auch in dem entsprechenden Substantiv homme fortgeführt wird (ebenso it. uomo ; sp. hombre ). Dabei haben wir es mit einer sogenannt Dublette zu tun, d.h. mit zwei Lexemen, die auf dasselbe Etymon zurückgehen (vgl. LatRom Kap. 2.1.6). Dies trifft auch auf das neufranzösische Wortpaar chose / cause zu, das auf das klassisch lateinische causa zurückgeht (s.o.). d. Morphosyntax: Im Syntagma Deo amur ist Deo das Genetivattribut zu amur. Dieses Attribut wird - analog zum klassischen Latein - ohne Präposition, nur mit dem bloßen Casus Obliquus (Objektskasus) ausgedrückt (vgl. hierzu Große 1971: 86). Im Text findet sich noch der Casus Rectus (Subjektskasus) Deus (Z.2), der vom lateinischen Nominativ Deus abstammt. Tatsächlich gibt es im Altfranzösischen eine sog Zweikasusflexion, die zwischen einem Casus Rectus (Funktion des Nominativs) und einem Casus Obliquus (Funktionen des Genetivs, Dativs, Ablativs) unterscheidet (s.u. Kap. 2.2.5: Chanson de Roland ; vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Für den Genetiv findet sich neben dem Syntagma de + Obliquus auch besagter präpositionsloser Obliquus (z.B. heute noch bei französischstämmigen Familiennamen im <?page no="63"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 64 Englischen wie Fitzgerald < fils Gerald ‚ Sohn des Gerald‘, vgl. Rohlfs 1968: 182f). e. Syntax: Die typisch lateinische Verbendstellung (SOV) findet sich in (Z.4) si cum om per dreit son fradra salvar dift ; ebenso in (Z.5) ab Ludher nul plaid nunquam prindrai . Literatur Berschin, Helmut; Felixberger, Josef; Goebl, Hans (1978): Französische Sprachgeschichte . München: Hueber. Große, Ulrich (1971): Altfranzösischer Elementarkurs. München: Max Hueber. Price, Glanville (1988): Die französische Sprache von den Anfängen bis zur Gegenwart . Tübingen: Francke. Rohlfs, Gerhard (1968): Vom Vulgärlatein zum Altfranzösischen. Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache . Tübingen: Niemeyer. Väänänen, Veikko (1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. 2.2.3 Eulaliasequenz Die frühesten literarischen Werke in altfranzösischer Sprache sind religiöse Texte, insbesondere Hagiographien (Heiligenviten). Der älteste unbestreitbar französische Text ist die Eulaliasequenz ( Séquence oder Cantilène de Sainte Eulalie ), die um 880 entstand und 29 Verse umfasst. Es handelt sich dabei um ein Gedicht bzw. Lied, das zu Ehren der Jungfrau Eulalia, einer spanischen Märtyrerin aus dem 3. Jahrhundert verfasst wurde. Besungen werden Leben und Tod der Heiligen Eulalia, die durch ihre Standhaftigkeit im christlichen Glauben den Zorn des „Heidenkönigs“, Kaiser Maximilian, auf sich zieht und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Der Text, der aus dem Kloster St. Armand in der Picardie (Nordfrankreich) stammt, enthält bereits nordfranzösische Dialektmerkmale und wirkt auch deutlich „romanischer“ als die „Straßburger Eide“. Aufgebaut ist das Gedicht in 14 Doppelverse unterschiedlicher Länge (Zehnbis Dreizehnsilber) mit paarweiser Assonanz (Halb- oder Vokalreim) 22 und einem Siebensilber als Abschlussvers. Die „Eulaliasequenz“ ist sprachlich interessant, weil hier die im Zuge der karolingischen Reform etablierte Schreibform der romanischen Volkssprache schon sehr weit entwickelt ist. Die „echten“ französischen Formen erlauben zugleich auch eine sichere dialektale Zuordnung zum pikardisch-wallonischen Sprachgebiet (vgl. hierzu auch Voretzsch 1932: 8; Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: Kap. E.4). 22 Hierbei handelt es sich um eine Frühform des Reims, der nur den letzten betonten Vokal im Vers betrifft. <?page no="64"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 65 Aufgeführt ist der Anfang des Gedichts (die ersten fünf Doppelverse), in dem die Standhaftigkeit und Unbestechlichkeit der Heiligen Eulalia besungen werden. Der Text folgt der Edition von Berger/ Brasseur 2004. Altfranzösisch Deutsche Übersetzung 24 1a : Buona pulcella fut Eulalia: Ein gutes Mägdelein war Eulalia: 1b : Bel auret corps, bellezour anima. Einen schönen Körper hatte sie (und) eine (noch) schönere Seele. 2a : Voldrent la ueintre li D[e]o inimi, Die Feinde Gottes wollten sie besiegen, 2b : Voldrent la faire dïaule servir. Wollten sie dem Teufel dienen lassen. 3a : Elle nont eskoltet les mals conselliers Sie hört in dieser Sache nicht auf die bösen Ratgeber, 3b : Qu‘elle D[e]o raneiet chi maent sus en ciel. Dass sie Gott verleugne, der oben im Himmel weilt. 4a : Ne por or ned argent ne paramenz, Weder für Gold noch Silber noch Schmuck. 4b : Por manatce regiel ne preiement; [Noch] auf königliches Drohen noch Bitten; 5a : Niule cose non la pouret omq[ue] pleier, Nichts vermochte sie jemals zu beugen, 5b : La polle sempre n[on] amast lo D[e]o menestier. […] [Dass] das Mädchen nicht immer den Dienst an Gott geliebt hätte. […] Kommentare/ Hilfen Z.1a: Das Nomen pulcella ‚Mädchen, Jungfrau‘ ist abgeleitet vom vulgärlateinischen * pulicella , einer Diminutivform von puella ‚Mädchen‘, das wiederum eine Analogiebildung zu puellus darstellt, der Diminutivform von puer (‚Junge‘). Z.1a: Es liegt eine Inversion des nominalen Subjekts Eulalia vor. Auch im weiteren Text sieht man, dass die Wortstellung im Altfranzösischen noch vergleichsweise flexibel ist. Dies hängt damit zusammen, dass es im Altfranzösischen eine sogenannte Zweikasusflexion gibt, die zwischen einem Casus Rectus (Funktion des Nominativs) und einem Casus Obliquus (Funktionen des Genetivs, Dativs, Ablativs) unterscheidet (s.o. Chanson de Roland ; vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Die Subjektinversion kann dabei als ein Charakteristikum des altfranzösischen Aussagesatzes gelten, wobei die Abfolge Ergänzung-Verb-Subjekt einen der zwei Kernsatztypen darstellt. 24 Die Übersetzung orientiert sich an Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978; Tagliavini 1998. <?page no="65"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 66 Erkennbar ist im Altfranzösischen auch eine klare Tendenz zur Verbzweitstellung, die möglicherweise durch germanischen Einfluss noch verstärkt wird (vgl. Wolf/ Hupka 1981: 186-188; Price 1988: 283f). Z.1b: Die altfranzösische Verbform auret geht auf den lateinischen Indikativ Plusquamperfekt habuerat (vulgärlateinisch stammbetont hábuerat ) zurück. Hieran zeigt sich die typisch ‚französische‘ Tendenz zur Wortkürzung. Dies trifft auch auf (Z.5a) pouret (< pótuerat ) zu. In seiner Funktion entspricht das Plusquamperfekt hier der einfachen Vergangenheit, was nur für die frühen altfranzösischen Texte belegt ist. Zu anlautendem / h/ s.o. Kap. 2.1.3.1 „Gliederdefixio “ (Z.7) sowie LatRom Kap. 3.2.2. Z.1b: In bellezour ist der synthetische Komparativ * bellatiore ( m) bewahrt, wie er sich im frühen Altfranzösischen verschiedentlich noch findet. Der zugehörige Positiv lautet * bellatus , eine Ableitung von bellus ‚schön‘ (hierzu s.o. „Reichenauer Glossen“) (vgl. Berger/ Brasseur 2004: 140). Z.2a: Die Verbform voldrent entspricht dem lateinischen voluerunt . Wie auch beim Plusquamperfekt (s.o.) zieht sich bereits im Vulgärlatein die Betonung auf den Stamm zurück (von voluérunt zu vóluerunt ); zudem schwächt sich die lateinische Endung erunt im Altfranzösischen systematisch zu erent ab (vgl. Rheinfelder 1967 (2): 233; Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 134). Lautlich ist ferner der zwischen / l/ und / r/ eingeschobene Gleitkonsonant / d/ bemerkenswert, der die Aussprache der synkopierten Form vólrent vereinfacht. Z.2a: Der Infinitiv ueintre ‚(be)siegen‘ geht auf das lateinische vincĕre zurück (zur lautlichen Entwicklung vgl. Rheinfelder 1967 (1): 250). Z.2a: Das Nomen inimi (Endbetonung) führt das lateinische inimicus ‚(persönlicher) Feind‘ fort. Die Schreibung inimi ist latinisiert. Z.2a: li D[e]o inimi : zum präpositionslosen Obliquus in genetivischer Funktion s.o. „Straßburger Eide“. Deus statt Dieus spricht für die Zugehörigkeit zum pikardisch-wallonischen Dialekt (vgl. Voretzsch 1932: 8). Z.2b: Das Nomen dïaule geht auf das lateinische diabolu(m) ‚Teufel‘ zurück (als „Unikum“ ohne bestimmten Artikel). Die besondere Lautung weist auf das pikardisch-wallonische Dialektgebiet. Z.3a: Die Wortform nont stellt eine Verschmelzung der lateinischen Negation non und des Pronominaladverbs inde ‚von dort‘ dar; letzteres hat im Altfranzösischen nicht nur eine lokale Bedeutung, sondern entwickelt eine pronominale Funktion, wobei es auf Personen wie auch auf Sachen verweisen kann. Z.3a: Das Verb escolter ‚zuhören‘ geht auf das vulgärlateinische ascultare (klat. auscultare ) zurück. Auffällig ist hier die Schreibung mit <k>, die im Text insgesamt uneinheitlich ist (z.B. Z.21a: kose , aber Z.19a: com ) (hierzu s.u. Chanson de Roland ) Z.3b: Das Verb raneier geht auf das vulgärlateinische * renegare ‚verleugnen‘ zurück. Bei raneiet handelt es sich um den Konjunktiv Präsens in einem <?page no="66"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 67 Nebensatz, in dem ein Wunsch ausgedrückt wird. Die Form raneiet ist allerdings nicht lautgerecht, sondern weist in der Endung möglicherweise ein analogisches -e zur lateinischen Form ( reneget ) auf (vgl. Voretzsch 1932: 8; Tagliavini 1998: 377, Anm. 35). Z.3b: Das Relativpronomen chi ist als ki zu lesen. Das Graphem <h> fungiert dabei als diakritisches Zeichen, das die velare Aussprache / k/ vor einem palatalen Vokal anzeigt. Z.3b: Der Verbform maent liegt das lateinische manet ‚er bleibt‘ zugrunde, wobei sich haupttoniges / a/ zu / ae/ bzw. / e/ entwickelt, während unbetontes / e/ verstummt. Z.4a: parament (Pl. paramenz ) geht auf das deverbale Nomen paramentu(m) zurück, das sich von parer (< klat. parare ) ‚ausstatten, schmücken‘ ableitet; es ist sowohl in der Bedeutung ‚(Kirchen)Schmuck‘ als auch ‚schönes Gewand‘ belegt. Die Schreibung paramenz statt paremenz ist als Latinismus zu werten (vgl. Voretzsch 1932: 9). Z.4b: In dem Nomen manatce ‚Drohung‘, ‚Drohen‘ (< lat. minacia ) 25 fällt die etymologisierende Graphie <tc> für [ts] auf. Für die sich im Altfranzösisch herausbildenden Affrikaten existieren im klassisch lateinischen Alphabet keine graphischen Entsprechungen. Z.4b: Das Adjektiv regiel geht auf lat. regale(m) zurück, das wiederum zu rex ‚König‘ gehört. Die Graphie ist latinisiert. Z.4b: preiement stellt eine deverbale Nominalbildung zu preier (< vlat. precare ) ‚beten‘ dar. Z.5a: Bei der Verbform pouret (< vlat. pótuerat ) handelt es sich um den formalen Fortsetzer des Indikativ Plusquamperfekt (s.o.). Z.5a: Niul ist eine frühe und nur selten belegte Form von nul ‚keiner‘, die auf das lateinische nullu(m) zurückgeht (vgl. Berger/ Brasseur 2004: 98) Z.5a: cose : Die Graphie deutet auf den Erhalt des / k/ im Anlaut, was eine Besonderheit des Pikardischen gegenüber dem Franzischen darstellt, wo / k/ vor / a/ zu / tʃ/ palatalisiert wurde (erkennbar an der Orthographie von nfr. chose ). 26 Zur Semantik s. o. Straßburger Eide. Z.5a: Das Verb pleier (> nfr. plier ‚falten ‘ ) ist der direkte Fortsetzer des lateinischen plicare ‚biegen, brechen‘. 25 Angemerkt sei hierzu, dass im Klassischen Latein nur der Plural minaciae belegt ist. 26 Beim Franzischen handelt es sich um den Dialekt der Ile de France um Paris, der später zur französischen Hochsprache wurde (vgl. LatRom Kap. 2.2). Anzumerken ist, dass die für das Franzische typische Palatalisierung / k/ vor / a/ betrifft, das zu / tʃ/ und schließlich zu / ʃ/ vereinfacht wird (z.B. caballum > cheval ) (vgl. LatRom Kap. 3.2.2); daher ist anzunehmen, dass dieser Lautwandel vor der Monophthongierung von / au/ zu / o/ ( causa > cosa ) eingetreten ist (vgl. Rheinfelder 1963: 163). <?page no="67"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 68 Z.5b: Hierbei handelt es sich um einen konjunktivischen Nebensatz. Eine nebensatzeinleitende Konjunktion ist nicht notwendig, da der Konjunktiv alleine einen ausreichenden Hinweis für die Unterordnung darstellt. Z.5b: Die Etymologie von polle ‚Mädchen‘ ist unklar (vgl. Greimas 1992, pucele ). Ein Zusammenhang mit lateinisch puella und dem obigen pulcella (Z.1a) ist anzunehmen. 27 Z.5b: Die Verbform amast geht auf das lateinische ama(vi)sset zurück. Grundlage für das Altfranzösische sind die z.T. bereits im Klassischen Latein synkopierten Formen des Perfektstamms (vgl. Rheinfelder 1967: 230; LatRom Kap. 4.5.5). Z.5b: Das Nomen menestier ‚Dienst‘ geht auf das klassisch lateinische ministerium zurück. Aufgaben a. Z.1a: Wie lautet das Etymon zu buona und welches Lautwandelphänomen liegt hier vor? b. Z.1a: Nennen Sie ein weiteres Beispiel für die Inversion des nominalen Subjekts. c. Z.1b: auret : Wie lautet die entsprechende Form im heutigen Französisch? Welches besondere Verfahren liegt vor? Was wird mit diesem Tempus im Neufranzösischen ausgedrückt? d. Z.1b: bellezour : Wie lautet die entsprechende Form im Neufranzösischen. Was ist zu dieser ‚„neuen‘“ Bildung zu sagen? Kennen Sie neufranzösische Adjektive, die den synthetischen Komparativ fortsetzen? e. Z.1b : Bel auret corps, bellezour anima : Wie wird das Subjekt hier ausgedrückt? Vergleichen Sie mit dem Neufranzösischen. f. Z.2a: li D[e]o inimi: Finden Sie ein weiteres Beispiel für den präpositionslosen Obliquus in genetivischer Funktion. g. Z.4b: manatce : Wie lautet die neufranzösische Entsprechung? Was fällt im Hinblick auf den Konsonantennexus [ts] auf? h. Z.5a: omq[ue]: Wie lautet hierzu die Etymologie? Wie lautet die neufranzösische Entsprechung zu omq[ue] in diesem Satz? i. Z.5b: Um welches Tempus handelt es sich bei amast bzw. ama(vi)sset ? Wie wird es im Neufranzösischen fortgesetzt? j. Wo und in welcher Funktion finden Sie im obigen Text Fortsetzer des lateinischen Demonstrativums ille ? Lösungen a. Z.1a: Das Etymon zu buona lautet bona . Bei dem Lautwandel handelt es sich um die „romanische“ Diphthongierung von kurzem / o/ (unter dem 27 Tagliavini (1998: 337, Anm. 35) setzt als Etymon pulla an. <?page no="68"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 69 Hauptton und in offener Silbe) zu / uo/ , die im Französischen (und Spanischen) noch weitergeht, nämlich zu / ue/ , z.B. afr. buens und sp. bueno (vgl. Perret 2008: 213). b. Z.1a: Eine weitere vergleichbare Subjektinversion findet sich in 2a : Voldrent la ueintre li D[e]o inimi. c. Z.1b: Die entsprechende Form zu auret im heutigen Französisch lautet avait eu . An die Stelle des ‚alten‘“ synthetischen Plusquamperfekts tritt eine Periphrase (PPP + Hilfsverb habere im Imperfekt) und damit eine analytische Form (vgl. LatRom Kap. 4.6.4). Im Neufranzösischen drückt das Plusquamperfekt in der Regel die Vorvergangenheit zu einem anderen Geschehen in der Vergangenheit aus (vgl. Klein/ Kleineidam 1987: 389). d. Z.1b: Die entsprechende neufranzösische Form lautet plus belle . Dabei handelt es sich um eine analytische Bildung des Komparativs mit dem Adverb plus ‚mehr‘ (< lat. plus ) und dem Adjektiv im Positiv; plus ist das typische Adverb für die Zentralromania, während die Randromania den Fortsetzer von lat. magis ‚mehr‘ (z.B. sp. más ) bewahrt (vgl. LatRom Kap. 4.3.3, 4.4.2). Auch im modernen Französisch gibt es vereinzelt noch eigenständige lexikalisierte analytische Komparative wie z.B. meilleur (< lat. meliorem ), pire (< lat. peior 27 ), die mit dem bestimmten Artikel auch als Superlative gebraucht werden (z.B. le meilleur ) (vgl. Price 1988: 124f). e. Z.1b : Bel auret corps, bellezour anima : Das Subjekt wird hier unmittelbar am Prädikat ( auret ) ausgedrückt. Im Neufranzösischen (anders als etwa im Italienischen oder Spanischen) ist die Setzung des unbetonten Subjektpronomens (hier: elle ) obligatorisch (vgl. Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 125). f. Z.2a: li D[e]o inimi: Ein weiteres Beispiel für den präpositionslosen Obliquus in genetivischer Funktion findet sich in Deo menestrier (5b). g. Z.4b: Die neufranzösische Entsprechung zu manatce lautet menace . Die Affrikate / ts/ wird zum Reibelaut / s/ vereinfacht, wodurch auch die entsprechende Opposition (z.B. cerf ‚Hirsch‘ vs. serf ‚Diener‘) verloren geht (vgl. Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 94; Perret 2008: 214). Im Gegensatz zum modernen Italienisch und Spanisch weist das Französische außer bei Fremdwörtern keine Affrikaten mehr auf. h. Z.5a: Die Etymologie zu omq[ue] lautet umquam , das meist in negativen Sätzen verwendet wird. Die neufranzösische Entsprechung lautet jamais , ein Kompositum aus ja (< lat. iam ) und mais (< lat. magis ). i. Z.5b: Bei amast bzw. ama(vi)sset handelt es sich um den Konjunktiv Plusquamperfekt Aktiv (vgl. LatRom Kap. 4.5.4.1). Sein neufranzösischer Fortsetzer aimât ( subjonctif imparfait ) ist allerdings literarisch und kommt nur 27 Bei peior > pire handelt es sich um eines der wenigen Beispiele, bei denen nicht die Akkusativ-, sondern die Nominativform weiterlebt (vgl. hierzu Wolf/ Hupka 1981: 106; Price 1988: 124). <?page no="69"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 70 in der geschriebenen Sprache vor (vgl. Price 1988: 233f; Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 153). j. Das lateinische Demonstrativum ille setzt sich einmal in den Personalpronomina der 3. Person fort (z.B. 2a: la ; 3a/ b: elle ), einmal im bestimmten Artikel (z.B. 2a: li ; 3a: les ); letzterer ist in der Eulaliasequenz nahezu generalisiert, während der unbestimmte Artikel nicht systematisch erscheint. Literatur Berschin, Helmut; Felixberger, Josef; Goebl, Hans (1978): Französische Sprachgeschichte . München: Hueber. Greimas, Algirdas Julien ( 2 1992): Dictionnaire de l’ancien français . Paris: Larousse. Große, Ulrich (1971): Altfranzösischer Elementarkurs . München: Hueber. Klein, Hans-Wilhelm/ Kleineidam, Hartmut (1987): Grammatik des heutigen Französisch . Stuttgart u.a.: Klett. Berger, Roger; Brasseur, Annette (2004, Hrsg.): Les séquences de Sainte Eulalie: Buona pulcella fut Eulalia, hrsg., komm., übers. v. R. Berger und A. Brasseur. Genève: Droz. Perret, Michèle ( 3 2008): Introduction à l’histoire de la langue française . Paris: Armand Colin. Price, Glanville (1988): Die französische Sprache von den Anfängen bis zur Gegenwart . Tübingen: Francke. Rheinfelder, Hans (1967/ 1963): Altfranzösische Grammatik . Bd.1: 3 1963; Bd.2: 1967. München: Hueber. Tagliavini, Carlo ( 2 1998): Einführung in die romanische Philologie. Tübingen/ Basel: Francke. Voretzsch, Karl (1932): Altfranzösisches Lesebuch: zur Erläuterung der altfranzösischen Literaturgeschichte . Halle (Saale): Niemeyer. Wolf, Lothar; Hupka, Werner (1981): Altfranzösisch, Entstehung und Charakteristik: eine Einführung . Darmstadt: WBG. 2.2.4 Chanson de Roland Das Rolandslied ist das älteste uns erhaltene Beispiel der chansons de geste , einer Gattung von altfranzösischen Heldenliedern, die typischerweise statt in Strophen in sog. Laissen gegliedert sind, also Gruppen von Versen, deren letzte betonte Silbe jeweils denselben Vokal enthält (Assonanzprinzip, s. auch Eulalia-Sequenz). Diese Chansons wurden von Spielleuten, sog. jongleurs , vorgetragen, mündlich weitergegeben und erst deutlich später verschriftlicht. Das Rolandslied thematisiert einen Feldzug Karls des Großen aus dem Jahr 778 gegen muslimische Heere auf der Iberischen Halbinsel, bei dem sein Neffe Roland in einen Hinterhalt gerät und heldenhaft stirbt. Das Epos selbst ist wohl erst 300 Jahre später im Kontext der Kreuzzüge entstanden und erlangte sehr bald die Bedeutung eines Nationalepos. Dabei stammt das Manuskript selbst aus Oxford (um 1170 verfasst) und enthält anglonormannische Elemente (vgl. Klare 1998: 55-57). <?page no="70"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 71 Der folgende Textauszug enthält die erste Laisse des Epos (V.1-9), wiedergegeben nach der Edition von Hilka (1974). Geschildert wird der historische Hintergrund des Feldzugs: Vers altfranzösischer Text dt. Übersetzung 1 Carles li reis, nostre emperere magnes, Der König Karl, unser großer Kaiser, 2 Set anz tuz pleins ad estéd en Espaigne, ist sieben volle Jahre in Spanien gewesen, 3 Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne; er hat das Hochland bis zum Meer erobert; 4 N’i ad castel ki devant lui remaigne, es gibt keine Burg, die ihm Widerstand leistet, 5 Mur ne citét n’i est remés a fraindre weder eine Mauer noch eine Stadt ist zum Durchbrechen übrig 6 Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne. außer Zaragoza, das auf einem Berg liegt. 7 Li reis Marsilie la tient, ki Deu nen aimet, Der König Marsilie hält sie, der Gott nicht liebt, 8 Mahumet sert et Apollin recleimet; der Mohammed dient und Apoll anruft; 9 Nes poet guarder que mals ne l’i ateignet. Aoi. er kann nicht verhindern, dass ihm Übel widerfährt. Aoi! Kommentare/ Hilfen V.1 Carles li reis ; V.7 Li reis Marsilie : Im Altfranzösischen haben sich Reste einer Zweikasus-Flexion bewahrt, allerdings nur noch bei Maskulina, und auch nicht bei allen Wortklassen. Den Rectus (Subjektskasus) erkennt man im Singular am Suffix s , im Plural ist er ohne Kasussuffix, beim Obliquus (Objektskasus) ist es umgekehrt (vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Beide hier genannten Könige sind Subjekt in ihren Sätzen, Carles (< lat. Carolus ) aber trägt das Rectus-Suffix, Marsilie nicht, da der Name nie der lateinischen o- Deklination angehörte und daher zu keiner Zeit ein -s im Nominativ trug. V.2/ 4 ad : von lat. habet ; das schon im Lateinischen phonetisch nicht mehr realisierte / h/ wird in der recht phonographischen 28 Graphie des Altfranzösischen nicht mehr verschriftet. Zum Neufranzösischen hin wird die Form noch weiter verkürzt: a (‚er hat, es gibt ‘ ). Die neufranzösische Präposition 28 Eine Graphie, die die lautliche Ebene recht unmittelbar wiedergibt, wie z.B. die spanische Orthographie, nennt man phonographisch. Die neufranzösische Orthographie hingegen ist eher etymologisch bzw. historisch orientiert. <?page no="71"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 72 à stammt von lat. ad (‚an, bei, hin ‘ ) ab und trägt nur zur Unterscheidung von a den (diakritischen) Akzent. V.3 tresqu’ : afr. tres von lat. trans (‚durch, hinüber ‘ ) kann als Präposition und Adverb lokal (‚bei, hinter, bis ‘ ) oder temporal (‚seit, seitdem, bis ‘ ) gebraucht werden und wird gelegentlich um die Universalkonjunktion que erweitert; entspricht hier nfr . jusqu’à . V.3 altaigne : Das lat. Adjektiv altus (‚hoch ‘ ) wird im Altfranzösischen zunächst einmal zu alt reduziert (also genau wie bei kat. alt ‚hoch ‘ ), das sich dann lautgesetzlich zu aut weiterentwickelt (vgl. auch lat. falsus > fr. faux ‚falsch ‘ ). Altaigne bzw. hautain ist eine altfranzösische Derivation hiervon und wird v.a. in physischen Kontexten benutzt (vgl. Bloch/ Wartburg: haut ). Das graphisch hinzugefügte und bis heute erhaltene <h> ist ein Ergebnis des germanischen Einflusses auf das Altfranzösische (nfr. haut ; vgl. dt. hoch ). V.4/ 6/ 7 ki : Die Schreibung im Altfranzösischen ist vor allem durch ihren Variantenreichtum charakterisiert. Dasselbe Phonem, in diesem Falle / k/ als Anlaut, kann in einem einzigen Dokument ganz unterschiedlich verschriftet werden. Hier wird das von lat. qui abstammende Relativpronomen ganz innovativ und phonographisch mit <k> verschriftet, während in cunquist (V.3, von vulg.lat. * conquaerere ) und in que (V.9, von lat. quod bzw. quia ) etymologische Lösungen gewählt werden, die die lateinische Graphie fortsetzen, also einmal das <c> und einmal das <qu>. V.4 remaigne : 3.Pers. Sg. Subjonctif von afr. remanoir ‚bleiben, Widerstand leisten’. Das von lat. remanēre (‚zurückbleiben ‘ ) abstammende Verb wurde im Französischen später aufgegeben (Überreste sind z.B. le manoir ‚Gutshaus, Herrenhaus ‘ ), ist aber im Englischen über den normannischen Einfluss bis heute gut erhalten: to remain . V.5 fraindre : von lat. frangĕre , o , fregi , fractum ‚brechen ‘ , vgl. dt. Fraktur . V.6 fors : vom lateinischen Adverb foris (‚draußen, außerhalb ‘ ), einem erstarrten Ablativ Plural von * fora ‚Türflügel ‘ . Zum Neufranzösischen hin wandelte sich das / f/ zu einem / h/ , das schon bald nicht mehr gesprochen, aber bis heute geschrieben wird: hors (‚außer ‘ ). V.9 nes : Kontraktion der Negation ne mit dem Reflexivpronomen se . V.9 aoi : Ausruf, der sich häufig am Ende von Laissen befindet und den Zuhörern signalisiert, dass die Laisse zu Ende ist; verwandt mit dem deutschen Seemannsgruß ahoi . Aufgaben a. Carles/ Charles (V.1): Sprachhistoriker sind sich einig, dass der Buchstabe <c> (in anderen altfranzösischen Texten wird bereits <ch> geschrieben) hier im Anlaut als / tʃ/ auszusprechen ist. Welche Indizien für diese altfranzösische Aussprache gibt es? <?page no="72"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 73 b. Eines der typischen Charakteristika des Altfranzösischen im Gegensatz zum Lateinischen sind sog. analytische, also mit Hilfsverb gebildete, Verbformen. Welche Beispiele finden sich in diesem Text? c. Vergleichen Sie nostre (V.1), ested (V.2) und est (V.5) mit ihren neufranzösischen Entsprechungen: Inwiefern lassen sich hier Inkonsistenzen und Probleme der neufranzösischen Orthographie aufzeigen? d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die französischen Wörter tauchen im Text in ihrer altfranzösischen Form auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch civitas citet murus muro Annuität an roi rey mountain montagne Lösungen a. Im Jahre 1066 wurde mit der normannischen Eroberung ein altfranzösischer Dialekt, nämlich das Normannische, nach England exportiert. Bis heute wird dort in der Mehrzahl der Wörter, die auf einen ursprünglich lateinischen Anlaut / ka/ (geschrieben <ca>) zurückgehen und über das Normannische importiert wurden, dieser Anlaut als / tʃ/ gesprochen, was ein Indiz dafür ist, dass dies die Aussprache der altfranzösischen Epoche darstellte; vgl. en. Charles (< afr. C(h)arles < lat. Carolus ) und en. chapter ( < afr. chapitle < lat. capitulum ). Die neufranzösische Aussprache / ʃ/ ist also offensichtlich ein jüngeres Phänomen, das Englische konservierte die ältere Form. b. Passé composé: ad estéd (V.2, entsprechend nfr. a été ); Passiv Präsens: est remés (V.5, entsprechend nfr. est remis ). c. In keinem der drei Wörter wird das <s> vor <t> heute noch gesprochen. Bei den ersten beiden Formen fällt in der modernen französischen Orthographie das <s> jedoch weg ( notre 29 , été ), bei est nicht. Hauptgrund hierfür ist das Ziel, die beiden Homophone et ‚und‘ (< lat. et ) vs. est ‚er ist‘ (< lat. est ) wenigstens graphisch zu unterscheiden. 29 Daneben gibt es das substantivierte Adjektiv le nôtre , in dem das wegfallende <s> gewissermaßen graphisch durch den accent circonflexe kompensiert wird. <?page no="73"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 74 Literatur Bloch, Oscar; von Wartburg, Walther ( 7 1986): Dictionnaire étymologique de la langue française. Paris : PUF. Greimas, Algirdas Julien (1980): Dictionnaire de l’ancien français jusqu’au milieu du XIV e siècle . Paris: Larousse. Klare, Johannes (1998): Französische Sprachgeschichte . Stuttgart: Klett. Hilka, Alfons (1974, Hrsg.): Das altfranzösische Rolandslied nach der Oxforder Handschrift. Siebente, verbesserte Auflage besorgt von Gerhard Rohlfs . Tübingen: Niemeyer. Bédier, Joseph (1922, Hrsg.) : La chanson de Roland , édition bilingue en ligne: https: / / fr.wikisource.org/ wiki/ La_Chanson_de_Roland/ Joseph_B%C3%A9dier/ La_Chanson_de_Roland/ Bilingue/ 001-050 (18.1.2020) 2.2.5 François Rabelais: Pantagruel Dass wir in dieser Sammlung von Texten romanischer Sprachstufen, die dem Lateinischen nahe stehen, mit Rabelais (1494-1553) auch noch einen Autor aus dem 16.Jh. präsentieren, hat zwei Gründe: Erstens gilt Rabelais als der französische Autor mit dem größten Wortschatz aller Zeiten, und dieser Wortschatz schöpft sich u.a. direkt aus dem Lateinischen, und zweitens ist die Sprache und die Graphie der Renaissance allgemein stark relatinisierend. Man erkennt also die Verwandtschaften zum Lateinischen sehr gut - oder umgekehrt formuliert: Ohne Lateinkenntnisse hat man auch als fortgeschrittener Frankophoner große Verständnisschwierigkeiten. Die folgende Episode (Kap.VI) aus dem 1532 erschienenen satirischen Roman Pantagruel ist in dieser Hinsicht besonders extrem: Der intellektuelle Riese Pantagruel trifft vor den Toren von Paris auf einen Studenten aus dem Limousin, der einen äußerst akademischen und damit latinisierenden Jargon verwendet, der für zeitgenössische Französ*innen offensichtlich kaum verständlich war und hier von Rabelais karikiert wird (Text nach der Edition von Michel 1964: 91-95); die Zeilennummern dienen lediglich der Zuordnung der Kommentare und Aufgaben): Zeile mittelfranzösischer Text dt. Übersetzung 1 Quelque jour, je ne sçay quand, Eines Tages, ich weiß nicht, wann, 2 Pantagruel se pourmenoit après soupper ging Pantagruel nach dem Abendessen 3 avecques ses compaignons par la porte mit seinen Freunden bei dem Stadttor 4 dont l’on va à Paris. spazieren, von wo man nach Paris geht. <?page no="74"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 75 5 Là rencontra un escholier tout jolliet, Dort traf er einen sehr schmucken Studenten, 6 qui venoit par icelluy chemin ; der desselben Weges kam; 7 et, après qu’ilz se furent saluez, luy demanda : und, nachdem sie sich gegrüßt hatten, fragte er ihn: 8 « Mon amy, dont viens tu à ceste heure ? » „Mein Freund, woher kommst du um diese Zeit? “ 9 L’escholier luy respondit : Der Student antwortete ihm: 10 « De l’alme, inclyte, et célèbre académie „Von der fruchtbaren, viel genannten und berühmten Akademie, 11 que l’on vocite Lutèce. » [...] die man Lutetia nennt.“ [...] 12 « [...] et à quoy passez vous le temps, „[...] und womit verbringt ihr die Zeit, 13 vous aultres messieurs estudiens audict Paris? » ihr Herren Studenten in dem genannten Paris? “ 14 Respondit l’escholier: Da antwortete der Student: 15 « Nous transfrétons la Séquane „Wir überqueren die Seine 16 au dilucule et crépuscule; im Morgengrauen und in der Abenddämmerung; 17 nous déambulons par les compites wir spazieren über die Weggabelungen 18 et quadrivies de l’urbe; und Kreuzungen der Stadt; 19 nous despumons la verbocination latiale, wir sondern lateinisches Wortgemisch ab, 20 et comme verisimiles amorabonds, und wie wirkliche Liebeskranke 21 captons la bénévolence de l’omnijuge, erstreben wir das Wohlwollen des alles richtenden, 22 omniforme et omnigène sexe féminin. [...] » alles gestaltenden und alles erschaffenden weiblichen Geschlechts. [...]“ 23 A quoy Pantagruel dist: [s. Aufgaben] 24 « Que diable de langaige est cecy? [...] » [s. Aufgaben] Kommentare/ Hilfen Z.1 sçay : Im Mittelfranzösischen anders als im Altfranzösischen relatinisierend mit <ç> geschrieben, um an lat. scire ‚wissen‘ zu erinnern, auf das es fälschlich etymologisch zurückgeführt wurde. Faktisch stammt savoir von lat. sapĕre ab, weshalb das <ç> in der neufranzösischen Orthographie wieder aufgegeben wurde. <?page no="75"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 76 Z.4/ 8 dont : hier noch in der ursprünglichen lokalen Bedeutung, also gleichbedeutend zu seinem lateinischen Vorgänger de unde ‚von wo, woher ‘ Z.5/ 9 escholier ‚Schüler, Student ‘ : abgeleitet von lat. schola ‚Schule‘ (wegen der Konsonantenhäufung am Wortanfang wird ein prothetisches e zur Ausspracheerleichterung eingefügt); semantisch wird hier kein Unterschied zwischen (älterem) Schüler und Student (vgl. Z.13 estudiens ) gemacht. Z.6 icelluy ‚jener ‘ : Schon im Altfranzösischen gab es zwei verschiedene Demonstrativpronomina, icel ‚jener‘ (von lat. ecce ille ) und icest ‚dieser‘ < lat. ecce iste ), neben denen zusätzlich noch betonte Formen verwendet wurden, und zwar in zwei Kasus, dem Rectus (Subjektskasus) und dem Obliquus (Objektskasus): icil/ icelui ‚jener/ jenen da‘ und icist/ icestui ‚dieser/ diesen hier‘ (vgl. LatRom Kap. 4.4.3 und Greimas 1980, Stichwort icel und icest ). Im Mittelfranzösischen setzten sich dann die verkürzten Formen des Obliquus cest / ceste (vgl. Z.8 ceste heure ) und cel / cele durch (fortgesetzt im Neufranzösischen durch ce / cette und celui / celle ). Bei Rabelais werden also gewissermaßen alt- und mittelfranzösische Formen nebeneinander gebraucht, und er bedient sich vereinzelt auch noch der Zwei- Kasus-Flexion. Z.10 alme : von lat. almus , 3, ‚nahrunggebend, fruchtbar, gütig‘ (vgl. im Dt. Alma Mater als Synonym für Universität ); inclyte von lat. inclitus / inclutus ‚berühmt ‘. Z.11 vociter : von lat. vocitare , einem Verbum Intensivum/ Frequentativum, abgeleitet von lat. vocare ‚rufen, nennen ‘ ; verwandt mit lat. vox , vocis , f ‚Stimme‘ (vgl. fr. la voix , sp. la voz , it. la voce ); Lutèce : französische Entsprechung des lateinischen Namens Lutetia für die Stadt Paris. Z.13 vous aultres : ursprünglich von lat. vos alteros (Akk. ‚ihr anderen ‘ ); der Bedeutungsgehalt ‚andere‘ ist aber bereits verloren gegangen, so dass das Phrasem hier gleichbedeutend zu nfr. vous ‚ihr‘ steht, also ganz wie in sp. vosotros oder kat. vosaltres . Z.15 transfrétons : Französisierung des lat. Verbs transfretare (‚über das Meer fahren ‘ ), gebildet aus den lateinischen Komponenten trans (Präposition: ‚über ‘ ) und fretum , i , n (‚Meer ‘ ); Séquane : Relatinisierung des Flussnamens Seine nach dem lat. Vorbild Sequana . Z.16 dilucule : Französisierung von lat. diluculum, -i, n (‚Morgendämmerung ‘ ; deminutivische Ableitung von lux , lucis , f ‚Licht ‘ ; vgl. sp. luz , it. luce .). Z.17 compites : von lat. compitum , i , n ‚Kreuzweg, Scheideweg‘ (zusammengesetzt aus cum ‚zusammen‘ und ire ‚gehen ‘ ). Z.18 quadrivies : von lat. quadrivium , -i, n ‚Kreuzung, Kreuzweg‘ (zusammengesetzt aus quattuor ‚vier‘ und via ‚Weg, Straße ‘ ); urbe : Französisierung von lat. urbs , urbis , f ‚Stadt‘ (vgl. fr. urbain , sp. urbano , it. urbano , dt. urban ). Z.19 despumons : Französisiserung von lat. despumare ‚abschäumen ‘ ; verbocination latiale : latinisierende Neubildung mit den Bestandteilen verbum ‚Wort‘ und Latium ‚Latium ‘ ; gemeint ist die Sprache der Region Latium, <?page no="76"?> 2.2 Texte aus dem galloromanischen Sprachraum 77 also das Lateinische; wörtlich: ‚Wir schäumen das Wortgemisch von Latium ab. ‘ Z.20 verisimiles : Französisierung von lat. verisimilis ‚wahrscheinlich‘ (Zusammensetzung aus den lateinischen Adjektiven verus ‚wahr‘ und similis ‚gleich, ähnlich ‘ ); erbwörtlich entwickeln sich die genannten Bestandteile zu fr. vraisemblabe ‚wahrscheinlich ‘ ; amorabonds : Französisierung von lat. amorabundus ‚liebeskrank‘ (vgl. amare ‚lieben ‘ , amor, amoris , m ‚Liebe ‘ ). Z.21 captons : Französisierung von lat. captare (‚ergreifen, streben nach ‘ ; Verbum Intensivum/ Frequentativum zu capĕre , io , cepi , captum ‚greifen ‘ ); bénévolence Französisierung von lat. benevolentia ‚Wohlwollen‘ (Komposition aus lat. bene ‚gut‘ und velle ‚wollen ‘ ); vgl. die rhetorische Strategie der captatio benevolentiae , die darin besteht, zunächst einmal das Wohlwollen der Zuhörer zu gewinnen; omnijuge (‚alles richtend/ beurteilend ‘ ) adjektivische Neubildung mit den Bestandteilen lat. omnis ‚jeder, ganz, alle‘ und fr. juger (von lat. judicare ‚richten, entscheiden ‘ ) analog zu fr. omniprésent . Z.22 omniforme (‚alles gestaltend ‘ ), omnigène (‚alles erschaffend ‘ ): latinisierende Wortbildungen analog zu Z.21 omnijuge , hier aber als zweiter Wortbestandteil formare ‚formen, gestalten‘ bzw. generare ‚erschaffen‘ (verwandt mit lat. genus , generis , n ‚Geburt, Geschlecht, Volk‘ und gignĕre , genui , genitum ‚erzeugen, gebären ‘ ). Aufgaben a. Erläutern Sie die von der neufranzösischen Orthographie abweichende Schreibung <audict> (Z.13): b. Was fällt in Bezug auf die Syntax in Z.5 und 14 auf, wenn Sie diese Sätze mit dem Neufranzösischen vergleichen? c. Übersetzen Sie die Zeilen 23/ 24. d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die französischen Wörter tauchen im Text in ihrer mittelfranzösischen Form auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch caminus chemin Responsorium to respond répondre tempus temps cuando diurnus journal jour <?page no="77"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 78 Lösungen a. Die Präposition ( au ) und die Verbform bzw. das Adjektiv ( dict ) werden in der Schreibung zusammen gezogen. Das <c> in dict erinnert relatinisierend an lat. dictum . b. An sich festigt sich die Wortstellung im Mittelfranzösischen allmählich in der heutigen Form (Subjekt - Verb - Objekt), und die Nennung des Subjekts - zumindest als Pronomen - wird obligatorisch (vgl. Sergijewskij 1997: 115). Rabelais macht aber noch von den Freiheiten des Altfranzösischen Gebrauch, lässt in Z.5 das Subjektpronomen il weg und stellt in Z.14 das Verb vor das Subjekt. c. Z.23 ‚Hierzu sagte Pantagruel: ’ Z.24 „Was zum Teufel ist das für eine Sprache? “ Literatur Greimas, Algirdas Julien (1980): Dictionnaire de l’ancien français jusqu’au milieu du XIVe siècle . Paris: Larousse. Michel, Pierre (Hrsg., 1964): François Rabelais: Pantagruel . Paris: Gallimard. Ménager, Daniel (1978): Pantagruel et Gargantua - Rabelais. Analyse critique . Paris: Hatier ( Profil d’une œuvre ). Sergijewskij, Maxim W. (1997): Einführung in das ältere Französisch . Tübingen: Narr. 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum Bekanntermaßen ist das Italienische die romanische Sprache, die - zumindest graphisch - dem Lateinischen am nächsten ist. Entsprechend fließend sind die sprachlichen Übergänge von den späten lateinischen zu den frühen italoromanischen Texten. Allerdings sind auf italienischem Boden die dialektalen Unterschiede bis heute besonders groß. Von „italienischen“ Texten im engeren Sinne kann man deshalb erst ab der sog. Questione della lingua sprechen, im Rahmen derer zwischen dem 14. und 19.Jh. nach einer einheitlichen Literatur- und Nationalsprache für das Land Italien gesucht wurde. Die von uns ausgewählten Texte liegen vor dieser Zeit und werden in der Reihenfolge ihrer Entstehung präsentiert. 2.3.1 Indovinello Veronese Im Vergleich zum Französischen, dessen „Geburtsstunde“ für das Jahr 842 („Straßburger Eide“) angesetzt wird, lässt die Textproduktion in italoromanischer Sprache noch fast ein Jahrhundert auf sich warten ( Placiti cassinesi : 960-963, s.u.). Allerdings erscheinen romanische Elemente auch schon in früheren Texten: Das älteste Zeugnis ist das sogenannte Indovinello veronese („Veroneser Rätsel“): drei <?page no="78"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 79 Zeilen, die Ende des 8. Jahrhunderts/ Anfang des 9. Jahrhunderts verfasst wurden. Gefunden wurde es in einem aus Spanien stammenden mozarabischen Orationale (Gebetsbuch) aus dem 8. Jahrhundert, seinen Namen verdankt es aber dem Aufbewahrungsort der Handschrift, der Biblioteca Capitolare von Verona. Das Rätsel wurde von einem norditalienischen Schreiber nachträglich hinzugefügt, zwischen den beiden Texten besteht kein Zusammenhang. Aufgrund seiner sprachlichen Merkmale stammt der Text mit einiger Sicherheit aus dem Veneto (Norditalien). Insgesamt stellt er eine für mittelalterliche Texte übliche Kombination aus lateinischen und volkssprachlichen Elementen dar. Das Indovinello ist in scriptio continua verfasst, d.h. die Wörter sind ohne Satzzeichen und Leerstellen aneinandergereiht. Entsprechend ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, die einzelnen Wörter zu trennen und den Text zu lesen. Inhaltlich besteht das Rätsel in einer Metapher auf den Schreibvorgang, der etwas „schwarz auf weiß“ setzt. Nachfolgend wird der Text zunächst in diplomatischer Umschrift dargestellt, um einen Eindruck der o.g. scriptio continua und der Problematik der Textinterpretation zu geben. In der Tabelle wird nur der italoromanische Teil (Zeile 1 und 2), aufgeteilt in Sinneinheiten, dargeboten (vgl. Michel 1997: 137f; Tagliavini 1998: 408; Michel 2016: 50-52). Die diplomatische Umschrift folgt der Bibliotheca Augustana , wo auch eine Abbildung des Textes abrufbar ist; die Lesung in der Tabelle stammt aus Michel (2016: 51). Diplomatische Umschrift: 1 †separebabouesalbaprataliaaraba&albouersorioteneba&negrosemen 2 seminaba 3 †gratiastibiagimusomnip(oten)ssempiterned(eu)s Italoromanisch Deutsche Übersetzung 1 : Se pareba boves, Er trieb die Ochsen vor sich her, 2 : alba pratalia araba, ein weißes Feld pflügte er, 3 : albo versorio teneba, einen weißen Pflug hielt er, 4 : negro semen seminaba. schwarzen Samen säte er. Kommentare/ Hilfen Z.1: pareba ‚ er trieb vor sich her‘. Bei der Verbform se pareba ist allerdings unklar, ob sie sich auf lat. parare ‚die Ochsen antreiben‘ oder lat. parēre ‚ähneln‘ 30 bezieht, auch wenn analogische Übergänge von der 1. Konjugation (Verben auf are ) in die zweite (Verben auf ēre ) immer wieder vorkommen. Angesichts der o.g. scriptio continua ist zudem die Trennung der 30 Das Verb parēre ‚ähneln‘ ist nicht zu verwechseln mit parĕre ‚gebären, hervorbringen‘. <?page no="79"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 80 Wörter nicht eindeutig festzulegen (denkbar z.B. auch separeba boves ‚er trennte die Ochsen‘), so dass es sich hierbei um eine höchst problematische Textstelle handelt, die auch eine philologische Kontroverse ausgelöst hat. 31 Anstelle der dativischen Form des lateinischen Reflexivpronomens ( sibi ) findet sich die verkürzte Form se . 32 Z.1: Bei dem Substantiv boves handelt es sich aufgrund des auslautenden s um einen (zumindest orthographischen) Latinismus oder ein Charakteristikum der altnorditalienischen Dialekte (vgl. Michel 1997: 141); im Italoromanischen hat sich größtenteils die Pluralform auf i durchgesetzt. Z.2/ Z.3: Das Farbadjektiv albo/ a ist möglicherweise ein lexikalischer Latinismus, die Vitalität des Lexems um 800 ist umstritten (vgl. Michel 2016: 51). Z.2: Das Substantiv pratalia stellt eine denominale Ableitung dar, ausgehend von lateinisch pratum ‚Wiese‘ (so noch erkennbar im Wiener Prater ) und dem Kollektivsuffix alia . Im Klassischen Latein sind die Kollektiva auf alia Neutra (Plural). Im Spätlatein findet aufgrund der Pluralendung a eine Reanalyse als Feminin (Singular) statt (vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Z.3: Das Substantiv versorio setzt das vulgärlateinische * versorium ‚Pflug‘ fort und lebt im heutigen versoio ‚Pflugschar‘ weiter. Aufgaben a. Z.1: pareba : Um welches Tempus handelt es sich hier? Wie lautet die Entsprechung im heutigen Italienisch (ausgehend von parere )? Welches typische Lautwandelphänomen können Sie erkennen? b. Z.2/ Z.4: Wie lauten das klassisch lateinische Etymon und die aktuellen Fortsetzer der Farbadjektive albo und negro im Italienischen? Stellen sie in der Tabelle die unterschiedlichen Sprachen einander gegenüber. Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch 31 Auf die gesamte Kontroverse zu dieser Textstelle kann hier nicht näher eingegangen werden; verwiesen sei auf den ausführlichen Kommentar und eine alternative Interpretation in Michel (1997: 137ff). 32 Angemerkt sei, dass sich das (apokopierte) Dativpronomen sibi im Italienischen zum unbetonte Pronomen si weiterentwickelt, wobei es sich formal mit der unbetonten Form des Akkusativs überlagert; bei dem entsprechenden betonten Pronomen se hat sich hingegen die klassisch lateinische Akkusativform (se) gehalten (vgl. Michel 1997: 93; Heinemann 2017: 75f). <?page no="80"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 81 c. Z.3: albo : Um welchen Kasus handelt es sich? Kommentieren Sie kurz die formale Besonderheit im Vergleich zum Klassischen Latein. d. Z.3: versorio : Wie lautet das entsprechende klassisch lateinische Lexem? Welchen lautlichen Hintergrund für den lexikalischen Ersatz können Sie sich vorstellen? Auf welches lateinische Wort geht versorio zurück? Welche Art der Wortbildung liegt hier vor? e. Z.4: negro : Wie lautet das lateinische Etymon? Welches Lautwandelphänomen im Wortinneren ist hier beobachtbar? Lösungen a. Z.1: Bei pareba handelt es sich um das Imperfekt Indikativ Aktiv. Die aktuelle Entsprechung wäre pareva . Die Formen sind noch sehr ähnlich, nur in der Endung fällt / b/ > / v/ auf. Tatsächlich entwickelt sich in der ganzen Romania das stimmhafte intervokalische / b/ über bilabial aspiriertes / β/ zum labiodentalen Reibelaut / v/ (vgl. LatRom Kap. 3.2.2). Im Indovinello ist die Schreibung <b> statt <v> latinisierend. b. Z.2/ Z.4: In der Italoromania existiert albus im literatursprachlichen Farbadjektiv albo weiter. Daneben setzt sich in dem geläufigeren bianco das germanische Adjektiv blank fort. Lateinisches Etymon und aktuelle Fortsetzer von albo und negro : Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch albus blanc albo (bianco) albo (blanco) weiß white niger noir nero negro schwarz black c. Z.3: albo : Es handelt sich um den (flexionslosen) Akkusativ Singular. Formal fällt die Endung auf: Statt des lateinischen -um findet sich o , so dass das Wort albo formal an den Dativ oder Ablativ erinnert. Tatsächlich findet bereits im Vulgärlatein ein radikaler Umbau des Kasussystems statt, der auf den phonetischen Verfall der Wortendungen zurückgeführt werden kann (vgl. LatRom Kap. 4.4.1). Maßgeblich bestimmt wird dieser Verfall einerseits durch die Apokopierung des auslautenden m (vgl. LatRom Kap. 3.2.1), andererseits durch die Öffnung von ŭ zu ɔ im Rahmen des sogenannten Quantitätenkollapses (vgl. LatRom , Kap. 3.2.1). d. Z.3: versorio : Das entsprechende klassisch lateinische Lexem lautet aratrum, i, n (‚Pflug‘). Ein Grund für seine Ersetzung könnte der geringe Lautkörper sein, da im Vulgärlatein die Tendenz besteht, kurze Wörter „auszusortieren“ (vgl. LatRom Kap. 6.2.2). Das Substantiv versorio geht auf das lateinische Verb versare ‚drehen‘, ‚wenden‘ zurück (als Intensivum zu vertĕre , gebildet vom PPP versum ; vgl. LatRom Kap. 4.2.2, 6.1.2). Bei versorio handelt es sich um eine deverbale Nominalbildung mit dem Suffix -orio, das <?page no="81"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 82 das Werkzeug der im Verb ausgedrückten Handlung anzeigt (vgl. Seewald 1996: 50ff). e. Z.4: negro : Das lateinische Etymon lautet niger bzw. nigrum . Im Wortinnern öffnet sich ĭ zu ɛ im Rahmen des „Quantitätenkollapses“ (s.o.). Literatur Bibliotheca Augustana. https: / / www.hs-augsburg.de/ ~harsch/ italica/ Cronologia/ secolo09/ Indovinello/ ind_vero.html Heinemann, Sabine (2017): Altitalienisch. Eine Einführung . Tübingen: Narr Francke Attempto. Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Michel, Andreas ( 2 2016): Einführung in die italienische Sprachwissenschaft . Berlin/ Boston: de Gruyter. Seewald, Uta (1996): Morphologie des Italienischen . Tübingen: Niemeyer. Tagliavini, Carlo ( 2 1998): Einführung in die romanische Philologie . Tübingen/ Basel: Francke. 2.3.2 Placiti cassinesi Als erste vollständig in der Volkssprache geschriebene Textzeugnisse gelten die sogenannten Placiti cassinesi (auch Placiti campani ), in denen die Diglossie zwischen Latein und Romanisch erstmals zutage tritt. Es handelt sich dabei um vier zwischen 960 und 963 abgefasste Zeugenformeln, in denen der Grundbesitz kampanischer Klöster in einer gerichtlichen Auseinandersetzung bestätigt wird. Die Eidesformeln, die an vier unterschiedlichen Orten in Kampanien (s.u.) in nahezu identischer Form Verwendung fanden, wurden vom jeweiligen Richter vorgelesen und anschließend von drei Zeugen wiederholt. Die kurzen Formeln sind jeweils eingebettet in ein umfangreicheres lateinisches Protokoll. Ähnlich wie bei den ein Jahrhundert früher entstandenen Straßburger Eiden (s.o.) und den etwa zeitgleichen Glosas Emilianenses und Silenses (s.u.) zeigt sich die „Emanzipation“ der Volkssprache am expliziten Kontrast zum Lateinischen. Aufbewahrt werden die Manuskripte im Archiv des Klosters von Montecassino. Sprachlich sind die Eidesformeln interessant, weil die schriftliche Fassung die phonetische Realität möglichst genau wiederzugeben scheint. Ferner weisen sie zahlreiche altkampanische Elemente auf, die sich deutlich vom Alttoskanischen unterscheiden. In der nachfolgenden Tabelle befinden sich zwei der vier, jeweils nur in geringer Variation vorliegenden Eidesformeln mit Angabe von Ort und Datum. Beide Lesungen folgen Michel (1994: 148ff). <?page no="82"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 83 Altitalienisch Deutsche Übersetzung 1 : Sao ko kelle terre, per kelle fini que ki contene, [t]renta anni le possette parte Sancti Benedicti. Capua, März 960 [s.u.] 2 : Kella terra, p[er] kelle fini q[ue] bobe mostrai, S[an]c[t]e Marie è, et trenta anni la posset parte S[an]c[t]e Marie. Teano, Juli 963 Jene Länderei, innerhalb (i.e. begrenzt durch) jener Grenzen, die ich euch zeigte, gehört Sankt Maria, und dreißig Jahre lang war sie im Besitz der Prozesspartei Sankt Maria. Kommentare/ Hilfen Z.1: Die Verbform sao (< lat. sapio , von sapĕre ) ist nicht lautgesetzlich. Eine zufriedenstellende Erklärung hierfür gibt es in der dialektologischen Forschung bisher nicht (vgl. Michel 2016: 52f). Formal ähnelt es zwar dem heutigen Italienisch ( so ), steht hierzu aber in keiner Beziehung, nicht zuletzt weil diese Form das Florentinische und damit eine andere diatopische Varietät fortsetzt (vgl. Michel 1994: 158). Z.1: Für die Wiedergabe des Phonems / k/ (stimmloser velarer Verschlusslaut) werden selbst in diesem kurzen Text drei unterschiedliche Grapheme verwendet (z.B. ko, kelle vs. que vs. contene ) (vgl. LatRom Kap. 3.1.2.3). Z.1: ko (< lat. quod ) fungiert hier als nebensatzeinleitende Konjunktion. Es handelt sich hierbei um eine typisch süditalienische Form; quod ist ferner auch im Merowingerlatein geläufig (vgl. Väänänen 1981: 162). Z.1: kelle geht auf vlat. eccu illae zurück. Für den italoromanischen Sprachraum ist die volkssprachliche Form des Präsentativums eccu (vs. klat. ecce ) anzusetzen. Z.1: Das Ortsadverb ki geht auf vlat. eccu hic zurück. Inhaltlich verweist ki sehr wahrscheinlich auf Informationen, die im lateinischen Protokoll enthalten sind. Z.1: Das der Verbform contene (< klat. continet ) 33 zugrundeliegende Verb ist vermutlich ein fachsprachlicher Latinismus, dessen Bedeutung sich im Mittelalter nach griechischem Vorbild von ‚enthalten‘ zu ‚lauten, geschrieben stehen‘ erweitert hat (vgl. Michel 1994: 46). Z.1: Das Zahlwort trenta (< lat. triginta ) weist einen erheblichen lautlichen „Verschleiß“ auf. Dies ist schon früh belegbar und typisch für die Zahlenwörter der Zehnerreihe (vgl. Väänänen 1981: 119). Z.1: Das anaphorische Pronomen le nimmt das „links“ stehende direkte Objekt kelle terre wieder auf. Diese proleptische Konstruktion wird auch als 33 Hierzu ist anzumerken, dass sich in einer vergleichbaren Textstelle auch die Form contenit (mit Konjugationswechsel bzw. Metathese) belegt findet, vgl. Michel 2016: 53. <?page no="83"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 84 Linksversetzung bzw. Linksdislokation (it. dislocazione a sinistra ) bezeichnet, die im heutigen gesprochenen Italienisch ebenfalls sehr häufig ist und der Hervorhebung dient, z.B. Maria, la vedrai domani? (vgl. Michel 2016: 155, 209). 34 Z.1: possette : Ähnlich wie bei sao (s.o.) gibt es auch für diese Verbform keine zufriedenstellende phonetisch-morphologische Erklärung. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine analoge Form zu dem häufigen stette ‚ stand‘, das wiederum auf ein vulgärlateinisches * stetuit , einer Analogiebildung zu habuit , voluit zurückgeht. Z.1: Bei dem Substantiv parte handelt es sich um einen juristischen Fachbegriff mit der Bedeutung ‚Prozesspartei‘. Z.2: Das Pronomen bobe , das auf das lateinische vobis zurückgeht, fungiert hier als höfliche Allokutionsform (vgl. Michel 1994: 165). Aufgaben a. Z.1: Übersetzen Sie die erste Eidesformel auf der Grundlage Ihrer Latein- und Italienischkenntnisse. b. Z.1: eccu : Wie lautet die Entsprechung im Klassischen Latein? In welchem italienischen Wort wird eccu fortgesetzt? Welche Funktion hat es? c. Z.1: Sao ko : Wie würde die Konstruktion im Klassischen Latein aussehen (ohne Linksdislokation)? d. Z.1: ko : Bestimmen Sie quod . Vergleichen Sie die Konjunktion mit dem Neuitalienischen. e. Z.1: Bestimmen Sie das Pronomen vobis . Vergleichen Sie mit dem entsprechenden Pronomen im heutigen Italienisch. f. Z.1: Wie lauten die aktuellen Fortsetzer von triginta in den folgenden Sprachen: Französisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Englisch? Stellen sie in nachfolgender Tabelle die unterschiedlichen Sprachen einander gegenüber: Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch g. Z.1/ Z.2: Erläutern Sie die Konstruktionen parte Sancti Benedicti und S[an]c[t]e Marie è . h. Z.2: Worauf geht mostrai zurück? Um welches Tempus handelt es sich? In welcher italienischen Tempusform wird es weitergeführt? 34 Nach Metzler (2016, Prolepsis) versteht man hierunter die „Voranstellung eines Satzteils oder eines attributiven Adjektivs, das die Folge des im Satz ausgesagten Geschehens vorwegnimmt“. <?page no="84"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 85 Lösungen a. Z.1: Die nachfolgende Übersetzung ins Deutsche orientiert sich an Michel 1994: 151ff: ‚Ich weiß, dass jene Ländereien, innerhalb (i.e. begrenzt durch) jener Grenzen, die hierin vermerkt sind, dreißig Jahre lang im Besitz der Prozesspartei Sankt Benedikt waren.‘ b. Z.1: Die klassisch lateinische Entsprechung zu eccu lautet ecce (vgl. LatRom Kap. 4.4.3). Die deklinierte Form eccum ist schon im Altlateinischen, z.B. bei Plautus ( virum bonum eccum ) belegt (vgl. Georges, ecce ; zum Altlateinischen vgl. LatRom Kap. 2.1.2). Der italienische Fortsetzer ist ecco , das - wie die klassische Form - als Präsentativum (‚hier‘, ‚siehe da‘) fungiert. c. Z.1: Im Klassischen Latein steht nach Verben der Behauptung ( verba dicendi ) ein AcI, wenn der Infinitiv ein eigenes Subjekt hat (vgl. LatRom Kap. 5.2.1.1). Ohne Linksdislokation lautet der (verkürzte) altitalienische Satz folgendermaßen: Sao ko parte […] possette kelle terre. Übertragen ins Klassische Latein sähe er so aus: scio partem […] illas terras possedisse . In dieser besonderen satzwertigen Konstruktion ist partem (‚Teil‘, hier: die Prozesspartei) der Subjektsakkusativ, während der Akkusativ illas terras das direkte Objekt zum Infinitiv (in Prädikatsfunktion) possidere darstellt. Zum Ersatz von klat. scire durch vlat. sapere s.o. Rabelais. d. Z.1: Bei quod handelt es sich ursprünglich um das Relativpronomen im Nominativ bzw. Akkusativ Neutrum Singular, das im Sinne von ‚die Tatsache, dass‘ verwendet wird (vgl. Väänänen 1981: 161; LatRom Kap. 4.3.4; zum „faktischen quod “ vgl. LatRom Kap. 5.2.4.3). Im Neuitalienischen stünde hier che ‚dass‘ (vgl. auch fr. que , sp. que ). Die Etymologie ist nicht ganz geklärt: Als Ursprung angenommen werden entweder die lateinische Konjunktion quia ‚weil‘ oder das „universelle“ lateinische Relativpronomen que , das auf den Akkusativ quem zurückgeht (vgl. Väänänen 1981: 162; Lat- Rom Kap. 4.3.4); letzteres findet sich im selben Satz in seiner Funktion als Relativpronomen zu dem vorangehenden kelle fini . Wie an der Graphie <ko> ebenfalls ersichtlich, lässt sich auf phonetischer Ebene ferner die Vereinfachung des Konsonantennexus [kw] zu [k] hervorheben, die auch vor hellen Vokalen eintritt (vgl. Väänänen 1981: 52; Michel 1994: 156). Vor diesem Hintergrund ist die Schreibung des Relativpronomens que als Latinismus einzustufen. e. Z.1: Bei dem Pronomen vobis ‚euch‘ handelt es sich um den Dativ des Personalpronomens der 2. Person Plural (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). Der klat. Dativplural vobis lebt im heutigen Italienisch nicht weiter, sondern wird durch vi ersetzt, das auf das klat. Ortsadverb ibi ‚dort‘ zurückgeht. f. Z.1: Aktuelle Fortsetzer von triginta (alle romanischen Sprachen führen die verkürzte Form weiter): <?page no="85"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 86 Latein Französisch Italienisch Spanisch Deutsch Englisch triginta trente trenta treinta dreißig thirty g. Z.1/ Z.2: Bei den Konstruktionen parte Sancti Benedicti und S[an]c[t]e Marie è handelt es sich um juristische Fachausdrücke, die in hybriden altkampanisch-lateinischen Syntagmen versprachlicht sind: Im Syntagma parte Sancti Benedicti fehlt der bestimmte Artikel la vor dem volkssprachlichen parte ; bei Sancti Benedicti handelt es sich um das Genetivattribut zu parte , das mit dem klassisch lateinischen Genetiv (d.h. präpositionslos) wiedergegeben wird. Eine vergleichbare Konstruktion liegt mit S[an]c[t]e Marie è vor: Auch bei S[an]c[t]e Marie handelt es sich um den Genetiv in Abhängigkeit von è (< est ), mit dem die Besitzverhältnisse ausgedrückt werden. Die Monophthongierung / a͡e/ zu / ɛ/ ist graphisch durch <e> realisiert (vgl. Michel 1994: 165; LatRom Kap. 3.2.1). h. Z.2: Die Verbform mostrai geht auf klat. monstravi zurück. Dabei handelt es sich um den Indikativ Perfekt Aktiv. Dieses Tempus lebt im italienischen passato remoto weiter; in der gesprochenen Sprache wird es häufig vom zusammengesetzten Perfekt ( passato prossimo ), das die Vergangenheit mit Gegenwartsnähe bzw. -bezug ausdrückt, verdrängt (v.a. in Norditalien) (vgl. Reumuth/ Winkelmann 1991: 208; Bossong 2008: 217f; Koch/ Oesterreicher 2011: 205f). Zum Verstummen von / n/ vor / s/ vgl. LatRom Kap. 2.1.2, 2.4.2. Literatur Bossong, Georg (2008): Die romanischen Sprachen. Eine vergleichende Einführung . Hamburg: Buske. Georges, Karl Ernst (2013): Der Neue Georges. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hrsg. von Thomas Baier, bearbeitet von Tobias Dänzer. 2 Bände. Darmstadt: WBG (typographisch erneuerte Reproduktion der 8.Aufl. von 1913). Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf ( 2 2011): Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch . Berlin/ New York: de Gruyter. Metzler-Lexikon Sprache (1984), hrsgg. von Helmut Glück. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Michel, Andreas ( 2 2016): Einführung in die italienische Sprachwissenschaft . Berlin/ Boston: de Gruyter. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (1991): Praktische Grammatik der italienischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. Tagliavini, Carlo ( 2 1998): Einführung in die romanische Philologie . Tübingen/ Basel: Francke. Väänänen, Veikko ( 3 1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. <?page no="86"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 87 2.3.3 Wandinschrift der Commodilla-Katakombe Für die Zeit vor dem Jahr 1000 liegen uns nur wenige volkssprachliche Zeugnisse aus dem italoromanischen Sprachraum vor. Hierzu zählt die Inschrift der Katakombe von Commodilla (Rom) aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um ein kurzes Graffito (Wandinschrift), das in der Krypta der altkirchlichen Märtyrer Felix und Adauctus in die Rahmung eines deutlich älteren Freskos graviert wurde. Der kurze Text ist in Großbuchstaben und scriptio continua , d.h. ohne Satzzeichen und Leerstellen, geschrieben und erstreckt sich über vier Zeilen. Sprachlich haben wir es mit einer ‚„Zwischenform‘“ zwischen gesprochenem Latein und Italoromanisch zu tun, woran einmal mehr deutlich wird, wie schwer es ist, eine Grenze zwischen diesen historischen Sprachstufen zu ziehen. Der Inhalt besteht in einer Aufforderung, Geheimnisse nicht zu verraten. Nachfolgend wird der Text zunächst in diplomatischer Umschrift dargestellt (vgl. Michel 1997: 146). Die Lesung in der Tabelle stammt aus Michel (2016: 53). In der Bibliotheca Augustana ist eine Abbildung der Inschrift und des Freskos abrufbar. Diplomatische Umschrift 1 NON 2 DICE 3 REIL 4 LESE 5 CRITA 6 AB B OCE Italoromanisch Deutsche Übersetzung Non dicere ille secrita a bboce Sag jene Geheimnisse nicht mit (lauter) Stimme. Kommentare/ Hilfen - Das Lexem secrita steht für das klat. secreta . Die Schreibung <i> für / e/ entspricht den merowingischen Schreibgewohnheiten (vgl. Blasco Ferrer 1994: 140). Gemeint sind mit secreta die geheimen Gebete bei der Messe, die nicht laut gesprochen werden sollten (vgl. Blasco Ferrer 1994: 140; Reutner/ Schwarze 2011: 53). - Die Form bboce entspricht dem klat. voce. Hier sind zwei phonetische Phänomene erkennbar: Zum einen zeigt die Graphie die sogenannte phonosyntaktische Verdoppelung (it. raddoppiamento oder rafforzamento <?page no="87"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 88 fonosintattico ) an; 35 zum anderen sieht man mit der „Verwechslung“ von / b/ und / v/ einen sogenannten Betazismus, der bereits in der Spätantike weit verbreitet ist (vgl. Michel 2016: 53; Väänänen 1981: 50f). Aufgaben a. non dicere : Wie wird der entsprechende negative Imperativ im Klassischen Latein gebildet? Vergleichen Sie auch mit dem heutigen Italienisch. b. secreta : Bestimmen Sie Kasus und Numerus. Welches Genus liegt vor? Bilden Sie den Nominativ Singular. c. ille : Welche Wortart liegt hier vor? Wie würde die entsprechende Form im Klassischen Latein lauten? Was lässt sich hierzu phonetisch und morphologisch sagen? d. Wie heißen Nominativ und Genetiv Singular zu klat. voce ? Um welche Deklination handelt es sich? e. Welcher Kasus steht im Klassischen Latein nach der Präposition ad ? Wie würde die entsprechende Form lauten? f. ad voce : Welcher Kasus würde hier im Klassischen Latein stehen? Wie würde die entsprechende Form aussehen? g. Übersetzen Sie den Text ins Klassische Latein. Lösungen a. Der entsprechende negative Imperativ an die 2. Person kann im Klassischen Latein auf zwei Arten gebildet werden: 1) noli (Imperativ von nolle ‚nicht wollen‘) + Infinitiv ( noli dicĕre ); 2) ne + zeitstufenloser Konjunktiv Perfekt („Prohibitiv“) ( ne dixeris ) (vgl. LatRom Kap. 5.2.3.3). Non dicere entspricht exakt dem typischen Verneinungsimperativ des heutigen Italienischen ( non dire ) (Blasco Ferrer 1994: 140). b. Das Nomen secreta steht im Akkusativ Plural (abhängig von dicere ). Das Genus ist Neutrum. Der Nominativ Singular lautet secretum (PPP von secerněre ‚absondern, trennen‘) c. Bei ille handelt es sich um ein Demonstrativum (vgl. LatRom Kap. 4.3.4); möglicherweise fungiert es hier aber bereits als bestimmter Artikel (vgl. Michel 1997: 147). Bezogen ist es auf den Plural secreta . Es ist also unwahrscheinlich, dass hier die klassische Form ille vorliegt, sondern wohl eher eine alternative Schreibung der klassischen Form illae (fem. Pl.). Die Schreibung ille zeigt in diesem Falle eine Monophthongierung an, d.h. die 35 Hierbei handelt es sich um ein typisches Merkmal des Italienischen, bei dem bestimmte lexikalische Einheiten (v.a. aus einzelnen Vokalen bestehend wie z.B. è, a) eine Verdoppelung des unmittelbar nachfolgenden Konsonanten bewirken. Die Verdoppelung zeigt sich im modernen Italienisch nur bei zusammengesetzten Wörtern (z.B. davvero), ansonsten - im Gegensatz zur mittelalterlichen Schreibpraxis - nicht mehr (z.B. a casa, nicht *a ccasa) (vgl. Michel 2016: 85). <?page no="88"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 89 Vereinfachung der Vokalverbindung / a͡e/ zu / ɛ/ ist graphisch durch <e> realisiert (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). Auf morphologischer Ebene fällt die fehlende Kongruenz mit dem Substantiv (s.o.) auf: Die zu secreta passende klassische Form des Demonstrativums müsste illa lauten, da es sich um ein Neutrum handelt. d. Die klat. Formen im Nominativ und Genetiv Singular lauten vox , vocis f. Das Substantiv gehört zur konsonantischen Deklination. Man erkennt dies daran, dass der Stamm auf einen Konsonanten endet und der Nominativ sich von den anderen Kasus unterscheidet (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). e. Im Klassischen Latein steht nach ad der Akkusativ. Die entsprechende Form würde vocem lauten. f. Im Klassischen Latein würde hier der Ablativ des Mittels (Ablativus instrumenti) stehen, der das Mittel bzw. Werkzeug einer Handlung anzeigt (vgl. LatRom Kap. 5.1.3). Die ablativische Form würde voce lauten. g. Die Übersetzung würde folgendermaßen lauten: Noli dicĕre (illa) secreta ad vocem (oder voce ) . Literatur Bibliotheca Augustana. https: / / www.hs-augsburg.de/ ~harsch/ italica/ Cronologia/ secolo09/ GraffittoMurale/ gra_iscr.html Blasco Ferrer, Eduardo (1994): Handbuch der italienischen Sprachwissenschaft . Berlin: Schmidt. Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Michel, Andreas ( 2 2016): Einführung in die italienische Sprachwissenschaft . Berlin/ Boston: de Gruyter. Reutner, Ursula; Schwarze, Sabine (2011): Geschichte der italienischen Sprache. Eine Einführung . Tübingen: Narr Francke Attempto. Väänänen, Veikko ( 3 1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. 2.3.4 Inschrift in der Basilica San Clemente Die nach 1100 entstandenen Textzeugnisse dokumentieren im Gegensatz zu ihren Vorläufern eine deutlichere Trennung von Latein und italoromanischer Volkssprache. Hierzu zählt auch die Inschrift in der Basilica San Clemente in Rom, die auf einem Ende des 11. Jahrhunderts entstandenen Fresko angebracht wurde. Abgebildet und mit volksprachlichen und lateinischen Textelementen versehen ist eine Episode aus dem Leben des Heiligen Klemens (s.u.): Die Szene zeigt Klemens’ Widersacher, den römischen Patrizier Sisinius, und seine Sklaven Carboncello, Albertello und Gosmari, die fälschlicherweise davon überzeugt sind, Klemens gefangen zu nehmen; in Wahrheit mühen sich die drei Sklaven unter den Befehlen ihres Herren mit Stange und Seil an einer schweren Säule ab. Bild und Redetexte bilden ein Ensemble, das „in der <?page no="89"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 90 italienischen Fachliteratur häufig als fumetto in volgare (‚volkssprachlicher Comic‘) bezeichnet [wird]“ (Michel 2016: 53f). Die kurzen volkssprachlichen Texte können als direkte Rede der Figur des Sisinius zugeordnet werden (s.u. Z.1-3); der lateinische Text ist die Antwort des abwesenden Klemens, der durch die Säule ersetzt wurde (s.u. Z.4). 36 Abgefasst sind sie in Großbuchstaben und scriptio continua , d.h. ohne Satzzeichen und Leerstellen. In nachfolgender Tabelle werden die volkssprachlichen wie auch die lateinischen Textelemente in der Reihenfolge der Dramaturgie wiedergegeben. Im Bild ist die Reihenfolge der Textelemente anders, nämlich - von links nach rechts - 3 > 4 > 2 > 1. Der Text steht also jeweils neben dem Element, das ihn ausspricht, oder neben dem, an das er gerichtet ist. Die Lesung stammt aus Michel (2016: 54). In der Bibliotheca Augustana ist eine farbige Abbildung des Freskos abrufbar (s.u.). Italoromanisch Deutsche Übersetzung 1 : Fili de le pute, traite. 2 : Gosmari, Albertel traite. 3 : Falite dereto co lo palo, Carvoncelle. 4 : Duritiam cordis vestris […] saxa traere meruistis. 1 : Ihr Hurensöhne, zieht! 2 : Gosmari, Albertello, zieht! 3 : Stell dich hinter ihn mit der Stange, Carboncello! 4 : Eure Hartherzigkeit […] habt ihr es verdient, Steine zu schleppen! Abb. 2: Inschrift von San Clemente (Foto: Biblioteca Augustana) Kommentare/ Hilfen Z.1: Das italienische Substantiv puta hat die Bedeutung ‚Hure‘. Dabei handelt es sich nicht um den Fortsetzer des entsprechenden klat. Lexems ( meretrix ), vielmehr wird ein Zusammenhang mit dem lat. Substantiv puta ‚Mädchen, Dirne‘ angenommen (vgl. DELI, puttana ; Dizionario etimologico online : puttana ). 36 Andere Interpretationen schreiben die Redetexte auch den anderen Figuren zu (vgl. Blasco Ferrer 1994: 140). <?page no="90"?> 2.3 Texte aus dem italoromanischen Sprachraum 91 Z.3: Bei der Verform falite zeigt sich die altitalische Reihenfolge der unbetonten Pronomina, hier li (< lat. illi ) und te (vgl. Blasco Ferrer 1994: 140). Die wörtliche Übersetzung lautet ‚mach dich hinter ihn‘ ( fa-li-te ). Z.3: Die Präposition dereto ‚hinter‘ geht auf ein lat. de + retro zurück. Vergleichbare Zusammensetzungen von Präposition und Adverb finden sich bereits im Vulgärlatein sehr häufig (vgl. Väänänen 1981: 95). Z.3: Das Substantiv palo hängt mit dem lat. palus, -i m. ‚Pfahl‘ zusammen. Bei lo handelt es sich um die maskuline Artikelform, die in den Texten vor dem 14. Jh. geläufig ist (vgl. Michel 1997: 88). Im heutigen Italienisch steht die Artikelform lo nur vor bestimmten Konsonanten und Konsonantenverbindungen (v.a. [s] + Konsonant, [z]). Z.4: Das Substantiv saxum hat die Bedeutung ‚Stein‘. Z.4: Das Verb merēre bedeutet ‚verdienen‘ (vgl. dt. die Meriten im Sinne von ‚die Verdienste‘). Aufgaben a. Z.1: de le pute : Welcher Kasus stünde im Klassischen Latein? Welche morphosyntaktischen Besonderheiten sind erkennbar, die typisch für das Vulgärlatein bzw. die romanischen Sprachen sind? b. Z.1/ Z.2: traite : Bestimmen Sie die Verbform. Wie lautet die klat. Entsprechung? Welche lautliche Besonderheit fällt im Vergleich auf? c. Z.3: falite : Bestimmen Sie die Verbform. Wie lautet die klat. Entsprechung (ohne Pronomina)? d. Z.3: . co lo : Wie lautet die klat. Entsprechung zu co ? Um welche Wortart handelt es sich? Auf welches lateinische Wort geht der bestimmte Artikel zurück? e. Z.4: cordis : Um welchen Kasus handelt es sich? Wie lautet hierzu der Nominativ Singular? Welcher Deklination gehört das Substantiv an? Wie sehen die Fortsetzer im Französischen, Italienischen und Spanischen aus? Was fällt hier morphologisch auf? f. Z.4: vestris : Welche Wortart liegt hier vor? Wie lautet die „korrekte“ klat. Form? g. Z.4: Von welchem Adjektiv leitet sich das Nomen duritia ab? h. Z.4: Bestimmen Sie die Wortform saxa . Lösungen a. Z.1: Im Klassischen Latein stünde der Genetivus possessivus, mit dem der Besitzer angezeigt wird (vgl. LatRom Kap. 5.1.3). Als typisch für das Vulgärlatein erkennbar ist zum einen die Verwendung von Präpositionen statt synthetischer Kasusformen (hier de für den Genetiv). Ebenso findet sich der bestimmte Artikel ( le ), der im Klassischen Latein nicht existiert (vgl. LatRom Kap. 4.1). Die romanischen Sprachen zeigen die Tendenz zu analytischen Verfahren, wodurch sie sich auch typologisch vom Lateinischen, einer synthetischen Sprache, entfernen. <?page no="91"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 92 b. Z.1/ Z.2: Bei der Verform traite handelt es sich um den Imperativ der 2. Person Plural von trahĕre ‚ziehen‘. Die klat. Entsprechung lautet trahite . Die Graphie zeigt an, dass das / h/ in zwischenvokalischer Stellung verstummt ist, was sich bereits für das Altlateinische nachweisen lässt (vgl. Väänänen 1971: 55). c. Z.3: Bei falite handelt es sich um den Imperativ der 2. Person Singular von facĕre ‚tun, machen‘. Die klat. Entsprechung lautet fac . d. Z.3: . co lo : Die klat. Entsprechung zu co lautet cum ; hierbei handelt es sich um eine Präposition. Der bestimmte Artikel lo geht auf die apokopierte Form lu des lateinischen Demonstrativums illu(m) zurück (vgl. LatRom Kap. 4.3.4, 4.4.3); dabei liegt aufgrund des sogenannten Quantitätenkollapses die Öffnung von / ŭ/ zu / o/ vor (vgl. LatRom Kap. 3.2.1). e. Z.4: Bei cordis handelt es sich um den Genetiv Singular von cor, cordis n. ‚Herz‘. Das Substantiv gehört der konsonantischen Deklination an. Man erkennt dies daran, dass der Stamm auf einen Konsonanten endet und der Nominativ sich von den anderen Kasus unterscheidet (vgl. LatRom Kap. 4.3.2). Die Fortsetzer sehen folgendermaßen aus: fr. cœur ; it. cuore ; sp. corazón . Morphologisch fällt auf, dass das Französische und Italienische unmittelbar das klat. Lexem fortsetzen, während das spanische Lexem eine Augmentativderivation darstellt, also eine Ableitung mit ursprünglich vergrößernder Bedeutung, ähnlich wie in sp. monte vs. montón (vgl. Corominas 1987 corazón ). f. Z.4: Bei vestris handelt es sich um ein Possessivum (2. Ps. Pl.) (vgl. LatRom Kap. 4.3.4). Da sich das Possessivum nach dem Bezugswort richtet (hier cordis : Genetiv Singular Neutrum) und die Possessiva ( vester, -tra, -trum ) nach der o-/ a-Deklination gehen, lautet die „korrekte“ klat. Form vestri . g. Z.4: Das Nomen duritia leitet sich vom Adjektiv durus, -a, -um ‚hart‘ ab. h. Z.4: Bei saxa handelt es sich um den Akkusativ Plural. Literatur Bibliotheca Augustana. https: / / www.hs-augsburg.de/ ~harsch/ italica/ Cronologia/ secolo11/ Clemente/ cle_intr.html Blasco Ferrer, Eduardo (1994): Handbuch der italienischen Sprachwissenschaft . Berlin: Schmidt. Corominas, Joan (1987): Breve diccionario etimológico de la lengua castellana . Madrid: Ed. Gredos. DELI. Il nuovo etimologico: DELI - Dizionario etimologico della lingua italiana (1999), hrsgg. von Manlio Cortelazzo. Bologna: Zanichelli. Dizionario etimologico online. https: / / www.etimo.it Garzanti italiano. Con sinonimi e contrari (1999), hrsg. von Pasquale Stoppelli. Milano: Garzanti. Michel, Andreas (1997): Einführung in das Altitalienische . Tübingen: Narr. Michel, Andreas ( 2 2016): Einführung in die italienische Sprachwissenschaft . Berlin/ Boston: de Gruyter. Väänänen, Veikko ( 3 1981): Introduction au latin vulgaire . Paris: Ed. Klincksieck. <?page no="92"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 93 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum Ähnlich wie in den Kapiteln zur Gallo- und der Italoromania dokumentiert unsere Auswahl von frühen Texten der Iberoromania die typischen Entwicklungsstufen von volkssprachlichen Einzelwörtern bzw. Glossen über frühe religiöse Dichtung hin zu weltlichen literarischen Texten. Auch hier sind die Texte wieder nach ihrem Entstehungszeitpunkt sortiert. 2.4.1 Nodicia de kesos Der folgende Text gilt als eines der ältesten, evtl. als das älteste erhaltene Sprachdenkmal des Iberoromanischen (um 980 n.Chr. entstanden). Es handelt sich um eine Liste, die der Küchenmeister des Klosters San Justo y Pastor in Rozuela (Königreich León) erstellt hatte, um zu dokumentieren, wie viele Käselaibe er als Tagesverpflegung an welche Mönche ausgegeben hat. Die Mönche arbeiteten in Weinbergen außerhalb des Klosters; deshalb werden in der Liste nicht die Mönche mit ihren Namen genannt, sondern nur ihre Einsatzgebiete. Die Sprache des Textes ist strenggenommen Altleonesisch, enthält aber auch altkastilische Elemente. Die Liste umfasst 35 Zeilen, von denen hier nur die ersten 15 abgedruckt sind; die zweite Hälfte des Dokuments ist deutlich schlechter lesbar. Typisch für die Textsorte Liste sind die Sätze sehr kurz, teils stichwortartig. Die Syntax ist deshalb nur schwierig dem Lateinischen oder Romanischen zuzuordnen. Die Morphologie ist teils romanisch, teils lateinisch. Der unten abgedruckte Text folgt einschließlich der Interpunktion der Edition von Menéndez Pidal (1956: 24/ 25). Unsere Übersetzung bemüht sich, die Verteilung der Wörter auf die einzelnen Zeilen der Liste beizubehalten, incl. der Worttrennungen in den Zeilenumbrüchen 5/ 6 und 7/ 8. Zeile altspan. Text dt. Übersetzung 1 Nodicia de Notiz über die 2 kesos que Käselaibe, die 3 espisit frater ausgegeben hat der Bruder 4 Semeno jn labore Jimeno für die Arbeit 5 de fratres: jnilo ba von den Brüdern: in dem Wein- 6 celare berg 7 de cirka Sancte Jus bei San Jus- 8 te, kesos .U.; jnilo to, 5 Käselaibe; in dem 9 alio de apate, anderen daneben 10 .II. kesos; en que 2 Käselaibe; in dem [Weinberg], den 11 puseron organo, sie dieses Jahr angelegt haben, 12 kesos .IIII.; jnilo 4 Käselaibe; in dem 13 de Kastrelo, .I.; von Castrillo, 1; 14 jnila vinia majore, in dem größeren Weinberg, 15 .II.; 2; <?page no="93"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 94 Kommentare/ Hilfen Z.3 espisit : von lat. expensit ( expendĕre ‚abwiegen, auszahlen, ausgeben‘; vgl. pensum , i , n ‚abgewogene Wolle, Tagewerk, Aufgabe‘); der Ausfall des lateinischen n vor s ist im Spanischen durchaus häufig, vgl. lat. mensa ‚Tisch‘ > sp. mesa . Z.4/ 5/ 8/ 12/ 14 jn , jnilo : anlautendes / i/ wird in diesem Dokument immer als <j> verschriftet; jnilo ist aufzulösen zu in ilo (< lat. in illo - lateinische Doppelkonsonanten werden im Spanischen oft degeminiert, also vereinfacht). Der Fortsetzer des lateinischen Demonstrativpronomens ille wird hier schon beinahe wie ein Artikel benutzt. Z.5/ 6 bacelare : hier gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Nsp. bacilar (‚stabförmig‘) geht auf lat. baculum , -i , n (‚Stock‘) zurück. Für die Herleitung des vorliegenden Substantivs kommen aber auch lat. baca , ae , f (‚Beere‘), bacalis (‚beerentragend‘) und bacalia , ae , f (‚Lorbeerbaum‘) als Etyma in Frage. Ziemlich sicher geht es also um einen Garten oder ein Feld, auf dem Beeren geerntet werden. Z.8 . U .: Wie schon im Lateinischen wird auch in diesem Text noch nicht zwischen <u> und <v> unterschieden. Es geht hier also um das Zahlzeichen V (‚5‘). Z.9 apate : aufzulösen zu a parte (das r fiel vermutlich phonetischer Ökonomie zum Opfer). Z.11 organo : von lat. hoc anno (‚in diesem Jahr‘). Z.13 Kastrelo : Nach Menéndez Pidal (1956: 24) ist wahrscheinlich der Ort Castrillo de Porma gemeint. Z.14 vinia : lat. vinea steht sowohl für ‚Weinstock‘ als auch für ‚Weingarten‘. Die vorliegende Form mit dem Halbkonsonanten i vor a ist eine typische Übergangsform im Rahmen der Palatalisierung zu sp. viña (vgl. auch fr. vigne ). Aufgaben a. Welche Schreibvarianten für den Laut / k/ finden sich im Text? Welche Regelmäßigkeiten können Sie beobachten? b. Z.4/ 5: Die Formulierung in labore de fratres ist typisch für den Übergang von synthetischen zu analytischen Nominalformen. Wie müsste die klassisch lateinische Entsprechung lauten? (vgl. LatRom Kap. 4.3 und 4.4) c. Welches typische phonetische Entwicklungsphänomen der Westromania findet sich in Zeile 1? (vgl. LatRom Kap. 3.2) d. Welche Wörter im Text kann man (auch) noch als lateinisch bezeichnen? e. Die Zählweise im Text weicht von der im Klassischen Latein üblichen Zählung ab. Worin besteht die Abweichung? Wie wird klassisch von 1-10 gezählt? (zur lat. Zählweise vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: §63). <?page no="94"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 95 Lösungen a. <k> in kesos (Z.2, 8, 10, 12) und cirka (Z.7) sowie <qu> in que (Z.10). Der / k/ -Laut wird im Anlaut vor dem Laut / e/ also uneinheitlich verschriftet. Die Ursache ist vermutlich etymologischer Natur: Ein / k/ -Laut, der im Lateinischen mit <c> geschrieben wurde (z.B. in caseus ‚Käse‘) wird in diesem Text mit <k> verschriftet. Wurde er lateinisch mit <qu> geschrieben (wie in quem ‚den‘), wird entsprechend das Graphem <qu> verwendet. b. Im Klassischen Latein hätten hier reine, also präpositionslose Kasus gestanden, nämlich der Dativ Singular labori (‚für die Arbeit‘) und der Genitiv Plural fratrum (‚der Brüder‘). Beim Übergang vom Genitiv zur Umschreibung mit der Präposition de (‚von‘) ist zunächst einmal eine Konstruktion de + Ablativ anzunehmen ( de fratribus ), ehe auch der Ablativ als Kasusform aufgegeben und durch den Akkusativ ( de fratres ) ersetzt wird. c. Sonorisierung der intervokalischen Verschlusslaute / p, t, k/ in lat. notitia > nodicia d. de (Z.1), frater (3), in (4, 5, 8, 12, 14 - alternativ gibt es bereits romanisches en in Z.10), labore (4), fratres (5), alio (9); je nachdem, wie stark man das Kriterium der graphischen Identität bewertet, kämen auch noch ilo/ ila (Z.5, 12, 14, klassisch illo/ illa ), cirka (Z.7, klass. circa ), vinia (Z.14, klass. vinea ) und majore (Z.14, klass. maiore ) als lateinische Wörter in Frage. e. I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X Literatur Menéndez Pidal, Ramón ( 4 1956): Orígenes del Español . Madrid: Centro de estudios históricos. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. 2.4.2 Glosas Emilianenses: Consistorio de demonios Die Glosas Emilianenses , entstanden um 1000 n.Chr., gelten als das älteste Sprachdenkmal des Kastilischen. Sie wurden im Kloster San Millán de la Cogolla in der Provinz Logroño (westlich von Burgos) entdeckt. Bei den Glossen handelt es sich um Übersetzungen einzelner Wörter oder Wortgruppen aus einem lateinischen Text, die über die Wörter oder an den Rand der Seite geschrieben wurden. Hier bestand also offensichtlich ein Diglossiebewusstsein (vgl. LatRom Kap. 2.1.5) bei den Schreibern, die bestimmte lateinische Wörter nicht mehr verstanden oder glaubten, dass sie von den Lesern nicht mehr verstanden würden, und sie deshalb in die Volkssprache übertrugen. Der Haupttext ist also eindeutig lateinisch, nur die Glossen sind romanisch. Es ist denkbar, dass die Glossen von verschiedenen Mönchen eingetragen wurden, denn sie weisen teilweise kastilische, teilweise aragonesische Merkmale auf <?page no="95"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 96 (Bollée/ Neumann-Holzschuh 2013: 57). Der Haupttext enthält verschiedene religiöse Geschichten und Exempla, wie sie typischerweise in Predigten verwendet wurden. Der hier folgende Textauszug basiert auf einer Edition von Menéndez Pidal (1956: 4). Die Glossen sind zwischen eckige Klammern gesetzt und stehen unmittelbar hinter den Wörtern, die sie übersetzen. Der Auszug schildert eine Ratssitzung von Dämonen, in der mehrere Gehilfen des Teufels berichten, was für Übeltaten sie zuletzt begangen haben. In der Handschrift ist der Text auf zwei Seiten verteilt und nicht überall lesbar. Deshalb enthält die Edition Lücken (...). Die Zeilen in der Texttabelle unten beziehen sich nicht auf den Originaltext, sondern gliedern den Text in Sinnabschnitte. Zeile lateinisch-altspan. Text dt. Übersetzung 1 ... Et ecce repente [lueco] unus de principibus ejus veniens adorabit eum. Und augenblicklich kam einer seiner Helfer zu ihm und machte ihm seine Aufwartung. 2 Cui dixit diabolus ¿unde uenis? [s. Aufgaben] 3 Et respondit: fui jn alia provincia Und er antwortete : Ich war in einer anderen Provinz 4 et suscitabi [lebantai] bellum [pugna] und habe einen Krieg provoziert 5 et effusiones [bertiziones] sanguinum. und Blutvergießen. 6 ... similiter respondit: ... dieser antwortete sogleich: 7 jn mare fui et suscitabi [lebantaui] conmotiones [moueturas] Ich war auf dem Meer und habe Stürme aufgewühlt 8 et submersi [trastorne] nabes cum omnibus ... und habe Schiffe mit allen ... untergetaucht 9 Et tertius veniens [elo terzero diabolo venot] Und der dritte beim Ankommen 10 ... jnpugnaui quemdam monacum ... ich habe einen Mönch bedrängt 11 et uix [ueiza] feci eum fornicari. und hätte ihn beinahe zum Herumhuren gebracht. Kommentare/ Hilfen Z.11 vix feci : Im Lateinischen steht bei Ausdrücken für ein Geschehen, das beinahe eingetreten ist oder als möglich beurteilt wird, anders als im Deutschen der Indikativ (vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: §214). Wörtlich würde vix feci also mit ‚ich habe [ihn] fast dazu gebracht‘ übersetzt. Aufgaben a. Z.2: Bitte übersetzen Sie den Text dieser Zeile. <?page no="96"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 97 b. Bis heute besteht eine Besonderheit der spanischen Sprache darin, dass in der Phonologie nicht klar zwischen / b/ und / v/ unterschieden wird, sehr wohl aber in der Orthographie zwischen <b> und <v> (vgl. die gleich lautenden Wörter vaca ‚Kuh‘ und baca ‚Gepäckträger‘). An welchen Stellen des Textes finden Sie Belege dafür, dass diese Unsicherheit schon beim Übergang vom Lateinischen zum Romanischen bestand? c. Z.9: Erläutern Sie, inwieweit in dieser Zeile sowohl die altspanische Glosse als auch die deutsche Übersetzung von der Konstruktion des lateinischen Textes abweichen. d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die lateinischen Wörter tauchen im Text auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch diabolisch navy nave tercero monacus mare mer Lösungen a. ‚Zu diesem sagte der Teufel: Woher kommst du? ‘ b. Z.1: adorabit statt korrekt adoravit (Perfekt); Z.4/ 7: suscitabi statt korrekt suscitavi (Perfekt) und asp. lebantai im Unterschied zu nsp. levanté ; Z.5 asp. bertiziones zurückgehend auf lat. vertitiones (von vertĕre - ‚umdrehen‘); Z.8: nabes statt korrekt naves. c. Im lateinischen Text steht mit tertius veniens eine Partizipialkonstruktion (wörtlich: ‚der dritte kommend‘), die in der Glosse zu einem Hauptsatz aufgelöst wird (wörtlich: ‚der dritte Teufel kam‘) und in der deutschen Übersetzung in einen präpositionalen Ausdruck (‚der dritte beim Ankommen‘) umgewandelt wurde. Literatur Bollée, Annegret; Neumann-Holzschuh, Ingrid (2013): Spanische Sprachgeschichte . Stuttgart: Klett. Menéndez Pidal, Ramón ( 4 1956): Orígenes del Español . Madrid: Centro de estudios históricos. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchners. <?page no="97"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 98 2.4.3 Auto de los reyes magos Eine vergleichsweise frühe szenische Textsorte waren die sog. Mysterienspiele, spanisch: autos sacramentales (von lat. actus , us , m ‚Handlung, Schauspiel‘). Sie wurden bei religiösen Festen aufgeführt und stellten Episoden aus der Bibel oder anderen religiösen Texten auf der Bühne dar. Im Auto de los reyes magos , einem Mysterienspiel aus dem späten 12. Jahrhundert, geht es um die heiligen drei Könige (die zugleich magos - ‚Zauberer‘ - oder genauer: Sterndeuter sind), ihre Reise nach Betlehem und die dortige Beschenkung des Jesuskindes. Kulturgeschichtlich ist diese Episode für Hispanisten auch insofern von Bedeutung, als in Spanien, im Unterschied zu Deutschland, bekanntermaßen am Dreikönigsfest die „Weihnachtsgeschenke“ übergeben werden und entsprechend der Wunschzettel an die drei Könige, nicht etwa an das Christkind, gerichtet wird. Bei dem unten präsentierten Textauszug (span. Text nach der Edition von Gifford/ Hodcroft 1966: 377) handelt es sich um den Beginn des Stücks, also den Anfang der ersten Szene, in der König Caspar am Himmel den Stern entdeckt und dies kommentiert. Der Text ist gereimt und folgt dem Muster aabb: Vers altspan. Text dt. Übersetzung 1 Dios criador, qual maravila Gott Schöpfer, was für ein Wunder 2 no se qual es achesta strela! ich weiß nicht, was das für ein Stern ist. 3 Agora primas la e veida, Gerade habe ich ihn zum ersten Mal gesehen, 4 poco timpo a que es nacida. es ist erst kurze Zeit her, dass er aufgegangen ist. 5 Nacido es el Criador [s. Aufgaben] 6 que es de la gentes senior? [s. Aufgaben] 7 Non es verdad non se que digo Es ist nicht wahr, ich weiß nicht, was ich sage, 8 todo esto non vale uno figo; all das ist keine Feige wert; 9 otra nocte me lo catare ich werde mir das in einer weiteren Nacht ansehen; 10 si es verdad, bine lo sabre. wenn es wahr ist, werde ich es sehr wohl erfahren. Kommentare/ Hilfen V.2 strela : von lat. stella (‚Stern‘) über vulg.lat. * estella ; das hinzugefügte r findet sich v.a. auf der Iberischen Halbinsel und in einigen norditalienischen Dialekten; vgl. nsp. estrella , port. estrela (vgl. Corominas 1990: Stichwort <?page no="98"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 99 estrella ). Das vorangestellte e bzw. i (sog. prothetisches e/ i) hingegen findet sich auch in Frankreich (nfr. étoile ). V.3 agora : von lat. hac hora (‚zu dieser Stunde‘) > asp. agora > nsp. ahora ‚jetzt‘. V.2/ 7 se ; V9 catare ; V.10 sabre : Im Altspanischen ist die Setzung der graphischen Akzente noch nicht etabliert. Im Neuspanischen stünde jeweils ein acento agudo , also sé (‚ich weiß‘), sabré (‚ich werde wissen/ erfahren‘) und * cataré . Catar ist ein altspanisches Lexem, das im Neuspanischen nicht fortgesetzt wurde. Es leitet sich von lat. captare (‚ergreifen, fangen‘), einer Intensivbildung (vgl. LatRom Kap. 4.2.2) von capĕre , io , cepi , captum (‚greifen‘), ab und ist wohl über die Ergänzung ‚mit den Augen ergreifen‘ entstanden. V.10 bine : vom klassisch-lateinischen Adverb bĕnĕ ‚gut‘. Da sich das kurze betonte e des Klassischen Lateins im Vulgärlatein zu einem offenen e (also / ɛ/ ) entwickelt (vgl. LatRom Kap. 3.2.1), und nicht zu einem / i/ , darf man annehmen, dass das graphische Zeichen <i> hier für den neu entstandenen Diphthong / i͡e/ steht, also genau wie oben (V.4) in timpo (vgl. nsp. bien , tiempo ). Aufgaben a. V.5/ 6: Übersetzen Sie die beiden Verse. Was fällt wortstellungstechnisch im Vergleich zum Neuspanischen auf? b. Welche Wörter im Text haben noch ihre originale lateinische Form? Welche davon sind bis heute unverändert geblieben? c. Welchen Wörtern aus dem Text wird in der neuspanischen Graphie ein <h> vorangestellt, um an die lateinische Originalschreibung zu erinnern (sog. Relatinisierung)? d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die spanischen Wörter tauchen in ihrer altspanischen Form im Text auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch stella estrella veritas verdad Nokturn nuit creatore totus tutto <?page no="99"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 100 Lösungen a. ‚Ist der Schöpfer geboren, der der Herr der Menschen ist? ‘ Die Wortstellung ist im Altspanischen noch sehr frei: In V.5 ist das Subjekt ( el Criador ) nachgestellt, in V.6 steht das Prädikatsnomen ( senior ) nach der von ihm abhängenden Ergänzung ( de la gentes ). b. V.6: de ; V.7/ 8: non ; V.9: nocte ; V.10: si ; bis ins Neuspanische sind de und si unverändert geblieben, non hat sich zu nsp. no und nocte zu noche weiterentwickelt. c. V.3 asp. <e> => nsp. <he>; erinnernd an lat. habeo ‚ich habe‘; V.4 asp. <a> => nsp. <ha>, erinnernd an lat. habet ‚er/ sie/ es hat‘. Literatur Gifford, Douglas J.; Hodcroft, Frederick W. (21966, Hrsg.): Textos linguísticos del medioevo español: preparados con introducciones y glosario . Oxford: Dolphin. Corominas, Joan (1990): Breve diccionario etimológico de la lengua castellana . 5. Nachdruck der 3.Auflage, Madrid: Gredos. 2.4.4 Cantar de Mio Cid Das Poema bzw. Cantar de Mio Cid ist das erste literarische Zeugnis des Kastilischen und gilt als spanisches Nationalepos (also gewissermaßen das Pendant zum altfranzösischen Rolandslied). Es berichtet von den Heldentaten eines Vasallen des Königs Alfons VI, Rodrigo Díaz de Vivar (genannt El Cid von arab. Sidi ‚Herr‘), der im Rahmen der Reconquista 37 u.a. Valencia (1094) zurückerobert hat. Im Zentrum des Epos steht das problematische Verhältnis der beiden genannten historischen Figuren; so war der Cid z.B. vorübergehend bei Alfons VI in Ungnade gefallen. Solche Epen wurden mündlich überliefert und von Spielleuten bei verschiedenen öffentlichen Anlässen vorgetragen. Der Text ist wohl um 1200 entstanden und in einer fragmentarischen Abschrift aus dem frühen 14.Jh. erhalten. Er enthält 3730 Verse in assonierenden, also auf demselben betonten Vokal auslautenden Strophen (sog. Laissen) (Bollée/ Neumann-Holzschuh 2013: 62/ 63). Der folgende Textabschnitt (V.15-20) schildert, wie der Cid aufgrund einer königlichen Verbannung seinen Stammsitz in Vivar bei Burgos und seine Familie verlassen muss, um nach Süden in den Krieg gegen die Mauren zu ziehen. Der erhaltene Teil des Epos beginnt mit dem Auszug aus Vivar (Laisse 1), in der unten folgenden Laisse 3 wird das Durchqueren der Stadt Burgos dargestellt, wo die 37 Reconquista wird im Spanischen die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel nach deren Eroberung durch die muslimischen Heere ab 711 n.Chr. genannt. Die Reconquista begann 718 n.Chr. und endete 1492 mit der Übergabe Granadas an die „katholischen Könige“. <?page no="100"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 101 Bewohner dem scheidenden Cid ebenfalls huldigen (der spanische Text folgt der Edition von Smith 1972, die Übersetzung ist textnah): Vers altspanischer Text dt. Übersetzung 15 Mio Çid Ruy Diaz por Burgos entrava, [s. Aufgaben] 16a en su compaña .lx. pendones levava. in seinem Gefolge führte er 60 Bannerträger mit. 16b Exien lo ver mugieres e varones, [s. Aufgaben] 17 burgeses e burgesas por las finiestras son, die Einwohner und Einwohnerinnen von Burgos stehen an den Fenstern, 18 plorando de sos ojos tanto avien el dolor. weinend aus ihren Augen, so großen Schmerz hatten sie. 19 De las sus bocas todos dizian una razon: Aus ihren Mündern sagten alle einen Satz: 20 „¡Dios, que buen vassalo! ¡Si oviesse buen señor! “ „Gott, was für ein guter Vasall! Wenn er nur einen guten Herrn hätte! “ Kommentare/ Hilfen V.16a/ b: Zwischen diesen beiden Versen besteht ein formaler Bruch in der Laisse: Davor lauten die Assonanzen auf a ( entrava , levava ), danach auf o ( varones , son , dolor , razon , señor ). V.16a: pendones - vgl. nsp. pendón ‚Standarte, Banner‘: die altspanische Form ist vom altfranzösischen penon entlehnt, das wiederum auf lat. penna / pinna (‚Feder‘; vgl. die italienische Nudelform penne ) 38 zurückgeht. Mit solchen Federn wurden die Lanzen an der Spitze geschmückt. Die Federn hingen an der Lanze, weshalb eine Kontamination mit sp. pender (‚hängen‘) von lat. pendēre sehr wahrscheinlich ist (Corominas 1990, Stichwort pendón ). V.17: son - im Altspanischen wird noch nicht systematisch zwischen ser (< lat. * essere ‚sein‘) und estar (< lat. stare ‚stehen‘) unterschieden. Neuspanisch müsste hier están stehen, da es sich nicht um eine Wesenseigenschaft, sondern eine vorübergehende Ortsangabe handelt. Aufgaben a. Übersetzen Sie die Verse 15 und 16b. b. V.15 und 16a: Von welchen lateinischen Formen sind die Verbformen entrava und levava abgeleitet? Wie lauten die neuspanischen Entsprechungen? Was fällt auf? c. V.20 oviesse : auf welche lateinische Form geht diese Verbform zurück? 38 Die italienischen penne (Sing. penna ‚Feder’) sind Nudeln in Form dünner Rohre, die an den Enden schräg abgeschnitten sind, also genau wie eine Schreibfeder (vgl. auch engl. pen ). <?page no="101"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 102 d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die spanischen Wörter tauchen im Text in ihrer altspanischen Form auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch plorare deplorabel llorar bonus bon Diktat decir dolor Deus ex machina Deus ex machina Dios Lösungen a. Übersetzung V.15: ‚Mein Cid, Ruy Diaz, ritt in Burgos ein‘; V.16b: ‚Frauen und Männer kamen heraus, um ihn zu sehen‘ b. lat. intrabat (Ind. Imperfekt von intrare ‚eintreten‘) > asp. entrava > nsp. entraba; lat. levabat (Ind. Imperfekt von levare ‚heben‘) > asp. levava > nsp. llevaba. In beiden Fällen verstummt der lat. Auslautkonsonant -t, und das intervokalische / b/ wird zu [ß] spirantisiert, ohne ein neues Phonem zu bilden. Zum Neuspanischen hin verändert sich der Laut phonetisch nicht weiter, aber die Graphie wird zu <b> relatinisiert. Der typisch spanische Laut / ʎ/ (graphisch <ll>) ist hier nicht wie üblich ein Fortsetzer der lateinischen Konsonantenverbindungen / pl/ oder / kl/ (vgl. lat. plorare > llorar , lat. clavem > llave ), sondern ergibt sich aus einer Analogiebildung: lat. lévat entwickelt sich ganz lautgesetzlich zu asp. lieva (das betonte / e/ wird diphthongiert), der so entstandene / ʎ/ -Laut wird dann auf sämtliche Formen des Verbs übertragen (also auch auf die mit anderen Betonungsverhältnissen wie llevamos ) und schließlich analog zu Verben wie llorar (s.o.) mit dem Doppelgraphem <ll> verschriftet. c. lat. habuisset (Konj. Plusquamperfekt von habēre ‚haben‘) > asp. oviesse (Konj. Imperfekt) > nsp. hubiese . Die Zeiten, die mit denselben Formen ausgedrückt werden, verschieben sich also gewissermaßen (vgl. LatRom Kap. 4.6.4 und 4.6.5). Hier liegt ein weiterer Beleg dafür vor, dass das lateinische Graphem <h> im Altspanischen wegfällt und im Neuspanischen relatinisierend wieder eingefügt wird. <?page no="102"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 103 Literatur Corominas, Joan (1990): Breve diccionario etimológico de la lengua castellana , Madrid: Gredos (= 5.Nachdruck der 3.Aufl. von 1973). Smith, Colin (1972, Hrsg.): Poema de Mio Cid . Oxford: Clarendon Press. 2.4.5 Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de buen amor Das Libro de buen amor war ein Skandalbuch des ausgehenden Mittelalters und ist bis heute entsprechend beliebt geblieben. Es wurde verfasst von Juan Ruiz (1283-1351? ), dem Erzpriester von Hita in der Provinz Guadalajara, vermutlich während der Verbüßung einer langjährigen durch den Bischof von Toledo verhängten Gefängnisstrafe. 40 Das Buch enthält in 1728 gereimten Strophen didaktisch-moralisierende Episoden und Exempla, die z.T. autobiographische Züge (der Priester schreibt also munter über sein eigenes Liebesleben) tragen und überwiegend um das Thema Liebe kreisen. Der Text steht damit in der Tradition zahlreicher Fortsetzer von Ovids Ars amatoria (‚die Kunst des Liebens‘; auch: ars amandi ), einem längeren lateinischen Lehrgedicht vom Anfang des 1.Jahrhunderts, das seinem Autor gleichfalls große Popularität, aber wegen des teils frivolen Inhalts auch Sanktionen einbrachte (vgl. Bollée/ Neumann-Holzschuh 2013: 78; Flasche 1977: 204ff). Die Gattung des Lehrgedichts läuft in Spanien unter der Bezeichnung mester de clerecía , wobei das altspanische Wort mester aus lat. ministerium (‚Dienst‘) entstanden ist und die Bedeutung ‚Dichtung, Kunst‘ erlangt hat, ähnlich wie afr. mestier , das zu nfr. métier (‚Beruf‘) wurde. Clerecía stand zunächst für alles, was vom Klerus (lat. clerus < gr. kleros ‚Los, Verlosung, verloster Anteil, Erbe‘; es geht also um denjenigen Stand, der das Erbe Gottes verwaltet) ausging, insbesondere die Bildung. Der folgende Auszug setzt sich mit dem Selbst- und dem Arterhaltungstrieb auseinander und enthält die Strophen 71 (V.302-305; Endreim auf era ) und 72 (V.306-309; Endreim auf ar ). Der Text folgt der Edition von Chiarini (1964): 40 Es finden sich auch Quellen, die in dem Buch die Ursache für die Gefängnisstrafe sehen. <?page no="103"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 104 Vers altspanischer Text dt. Übersetzung 302 Como dize Aristótiles, cosa es verdadera, Wie Aristoteles sagt, ist es eine Tatsache, 303 el mundo por dos cosas trabaja: la primera dass die Welt aus zwei Gründen arbeitet: erstens 304 por aver mantenençia, la otra cosa era um einen Lebensunterhalt zu haben, und zweitens 305 por aver juntamiento con fenbra plazentera. um sich mit einer willigen Frau zu vereinen. 306 Si lo dexies’ de mío, sería de culpar; Wenn ich das aus eigenen Stücken gesagt hätte, wäre ich zu beschuldigen; 307 dízelo grand filosófo, non so yo de rebtar: da es aber ein großer Philosoph gesagt hat, kann man mir nichts vorwerfen: 308 de lo que dize el sabio non devemos dubdar, das, was der Weise gesagt hat, sollten wir nicht anzweifeln, 309 ca por obra se prueva el sabio e su fablar. denn durch die Realität beweist sich der Weise und seine Aussage. Kommentare/ Hilfen V.305 plazentera : von lat. placēre ‚gefallen, gefällig sein‘ (vgl. it. piacere ); unmittelbar abgeleitet ist die Form vom Part.Präs.Akt. placens , tis . Das deutsche Fremdwort Plazenta ‚Mutterkuchen‘ hat hiermit nichts zu tun, sondern ist eine direkte Entlehnung des lateinischen Gräzismus placenta , ae , f (< gr. plakous ‚flacher Kuchen‘). V.307 rebtar : Von lat. rapĕre , io , rapui , raptum ‚raffen, ergreifen‘ wurde zunächst ein lateinisches Verbum intensivum raptare gebildet, das sich dann zu asp. rebtar / reptar ‚ergreifen, anklagen‘ entwickelt hat. Dieses Verb hat sich im Neuspanischen nicht fortgesetzt und steht in keinem Zusammenhang mit nsp. reptar ‚kriechen‘ (< lat. repĕre , o , repsi , reptum ‚kriechen‘, daher die deutsche Bezeichnung Reptilien für Kriechtiere). Denkbar ist immerhin, dass wegen der störenden Homonymie das erstgenannte Verb aufgegeben wurde. V.306 dexies’ : Andere Ausgaben notieren dixiese (z.B. Blecua 1983); beides sind Varianten des altspanischen Konjunktivs Imperfekt, der sich formal vom lateinischen Konjunktiv Plusquamperfekt herleitet: lat. dixissem > asp. dixiese > nsp. dijese (‚ich hätte gesagt‘). V.308 dubdar : von lat. dubitare ‚zweifeln‘ (> nsp. dudar ). V.309 ca : Kausale Konjunktion, vermutlich abstammend von lat. quia (‚weil‘); im Neuspanischen nicht mehr gebräuchlich. Eine Verwandtschaft mit fr. car ‚denn‘ (< lat. quarē ‚warum, deshalb‘) ist eher unwahrscheinlich. <?page no="104"?> 2.4 Texte aus dem iberoromanischen Sprachraum 105 Aufgaben a. Was haben fenbra (V.305) und fablar (V.309) aus lautgeschichtlicher Perspektive gemeinsam? b. Erklären Sie, wie es vom klassisch lateinischen Substantiv opus , operis n zum spanischen Substantiv obra (V.309) kommt (vgl. LatRom Kap. 4.4.1). c. se prueva (V.309): Erklären Sie den Wandel von klass. lat. probatur über se prueva zu nsp. se prueba . d. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Im Deutschen sind überwiegend Fremdwörter gefragt, die spanischen Wörter tauchen im Text in ihrer altspanischen Form auf. Latein Deutsch Englisch Französisch Italienisch Spanisch feminist hembra sapiens sage sapiente mundus monde causa kausal chose/ cause debēre Debitum deber Lösungen a. Beide Wörter sind Beispiele dafür, dass ein lateinisches / f/ im Anlaut zunächst zu / h/ aspiriert wird und schließlich im Neuspanischen verstummt, graphisch aber noch in <h> erhalten bleibt: lat. femina ‚Frau‘ > asp. fenbra > nsp. hembra ‚Frau, Weibchen‘. lat. fabulari ‚plaudern‘ > asp. fablar > nsp. hablar ‚sprechen‘ (dagegen port. falar ). b. Im Vulgärlatein wird das klassische Genus Neutrum allmählich aufgegeben. Darüber, ob ein ursprünglich neutrales Substantiv feminin oder maskulin wird, entschied vermutlich diejenige Wortform, die am häufigsten verwendet wurde. Bei opus (‚Werk, Arbeit‘) war offensichtlich die Pluralform opera (‚Werke‘) geläufiger und wurde allmählich als Femininum Singular interpretiert und entsprechend nach der -a-Klasse dekliniert ( opera , ae , f > it. opera , sp. obra , fr. œuvre ). Ganz analog verlief z.B. der Wandel von folium , ii , n ‚Blatt‘ über folia , ae , f. zu it. foglia (daneben aber auch il foglio ‚Blatt Papier‘), sp. hoja , fr. feuille . Die andere Entwicklung nahm corpus , corporis , n, dessen singularische Form als maskulin interpretiert wurde: it. il corpo , sp. el cuerpo , fr. le corps. c. Das synthetische Passiv wird bereits im Vulgärlatein aufgegeben und durch analytische Verfahren mit Hilfsverb ( probatus est ) oder die Reflexivkonstruktion, hier entsprechend se probat , ersetzt (vgl. LatRom Kap. 4.6.3). Der betonte Zwischenvokal / o/ diphthongiert wie im Spanischen üblich zu / u͡ e/ , der Konsonant / b/ wird affriziert, also zum Reibelaut / ß/ , altspanisch <?page no="105"?> 2. Lateinische und romanische Originaltexte mit Erläuterungen und Aufgaben 106 verschriftet als <v>. Im Neuspanischen bleibt es bei der frikativen Aussprache dieses Lauts, er wird aber relatinisierend wieder als <b> verschriftet. Literatur Blecua, Alberto (1983, Hrsg.): Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor. Edición, introducción y notas . Barcelona: Planeta. Bollée, Annegret; Neumann-Holzschuh, Ingrid (2013): Spanische Sprachgeschichte . Stuttgart: Klett. Chiarini, Giorgio (1964, Hrsg.): Juan Ruiz Arcipreste de Hita: Libro de buen amor. Ed. critica. Milano u.a.: Ricciardi. Flasche, Hans (1977): Geschichte der spanischen Literatur. Band 1: Von den Anfängen bis zum fünfzehnten Jahrhundert . Bern: Francke. <?page no="106"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen In diesem Kapitel wird ein Lernwortschatz vorgestellt, dessen Besonderheit ist, dass er die interlinguale Transferierbarkeit vom Lateinischen, das in der Schule gelehrt wird, in ausgewählte romanische Sprachen, namentlich Italienisch, Spanisch, Französisch, sowie Englisch fokussiert. Anders gesagt ist das Auswahlkriterium für die hier aufgeführten Wörter, dass sie im klassischen Latein vorkommen und zugleich Fortsetzer in den genannten modernen Sprachen haben. Relevant ist dabei in den modernen Sprachen vor allem die Form 1 des Wortes, da sie die Verwandtschaft offenbart. 3.1 Erläuterungen zum Lernwortschatz 3.1.1 Lateindidaktischer Hintergrund Ursprünglich entwickelt wurde dieser Wortschatz auf der Basis lateindidaktischer Überlegungen und als sog. Mindestwortschatz (im Folgenden: MW) vorgestellt (Siebel 2017: 285ff). Der MW mit seinen knapp 500 Wörtern 2 ist als Alternative zum gegenwärtig etablierten Lernvokabular der gängigen Lateinlehrwerke intendiert. Das Korpus dieses MW basiert auf einer Schnittmenge: Vom Lateinischen ausgehend sind die Lemmata integriert, die zum Grundwortschatz des Grund- und Aufbauwortschatzes von Klett gehören und zudem unter den 500 wichtigsten Wörtern des sog. Bamberger Wortschatzes 3 zu finden sind, konkret der Wortkunde adeo NORM . Als Referenzwerk für die Romania wurde die Liste zum Erbwortschatz bei EuroComRom (Klein/ Stegmann 2000) herangezogen. Gegenwärtig gehören etwa 1.200 bis 1.250 Wörter zum lateinischen Lernwortschatz der auf dem deutschen Lehrbuchmarkt befindlichen und für den Schulgebrauch zugelassenen Unterrichtswerke. Verfasser lateinischer Lehrwerke orientieren sich bei ihrer Vokabelauswahl hauptsächlich an den folgenden Parametern: Spracherwerbsphase des klassischen Lateins durch Kunsttexte 1 und damit weniger sein semantischer Inhalt. Bei starker Veränderung wird aber die Bedeutung angegeben, um irreführende Assoziationen zu verhindern. 2 Genau umfasst der MW 201 Substantive + 146 Verben + 67 Adjektive + 77 Kleine Wörter = 491 Wörter. 3 Der Bamberger Wortschatz liegt einer Vielzahl von Lateinbüchern zugrunde, namentlich denen aus dem Buchner-Verlag. Er ist stark von den Sachfeldern Militär bzw. Kampf und Krieg geprägt. <?page no="107"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 108 im Lehrbuch, Lektürehäufigkeit bzw. Wortschätze der in der Schule gelesenen Autoren, 4 Kulturwortschatz, römische Grundbegriffe. Ein weiterer Faktor ist zweifelsohne die Bedeutung der Vokabeln in den lateinischen Tochtersprachen; jedoch wird dieser Aspekt nicht als der relevanteste betrachtet. 5 Daher ist der MW ein innovativer Vorstoß innerhalb der Lateindidaktik, da der Aspekt der Verzahnbarkeit mit verwandten Sprachen als ein an sich zentrales Auswahlkriterium bisher wenig berücksichtigt wird. Auch Verfasser lateinischer Wortkunden bedienen sich der oben genannten Kriterien. Während Lateinstudierende weiterhin die aktive Kenntnis des Klett-Grundwortschatzes mit etwa 1.100 Einträgen sowie der dort aufgeführten etwa 300 ‚Kleinen Wörter‘, d.h. Funktionswörter 6 anstreben, kommt diese lehrwerkunabhängige Wortkunde in Schulen vermutlich kaum noch zum Einsatz. Schüler*innen eignen sich zumeist den Lernwortschatz des jeweiligen Lehrwerks an; Studierende in ganz unterschiedlich konzipierten Universitätskursen konzentrieren sich wohl v.a. auf die für ihre Latein-Prüfung relevante Auswahl lateinischer Wörter. 3.1.2 Zweck des Lernwortschatzes Idealerweise sollten Lateinlernende den MW kennen, lernen und auch aktiv beherrschen, damit sie diese Lemmata für die Worterschließung nutzen (vgl. Müller-Lancé 2001: 103) und somit von ihren Lateinkenntnissen ausgehend Mehrsprachigkeit individuell auf- und ausbauen können. Für Romanist*innen, die sich Lateinkenntnisse aneignen, ergibt sich jedoch der umgekehrte Erschließungsbzw. Lernweg. Sie beherrschen bereits eine oder mehrere Sprachen der romanischen Sprachenfamilie aktiv und haben sich diese zudem produktiv und rezeptiv angeeignet. Daher dürften sie im Vorteil 7 sein gegenüber denjenigen, die vom zumeist nur rezeptiv gelernten Latein aus mit dem Lernen romanischer Sprachen beginnen, und dies wahrscheinlich zu einem eher frühen Zeitpunkt, an dem sie vielleicht nur Grundkenntnisse in einer modernen Fremdsprache (oft Englisch) mitbringen. Die drei an Lemmata reichen und für den interlingualen Transfer wichtigen Wortarten - Substantiv, Adjektiv, Verb - werden in den nächsten drei Unterkapiteln aufgeführt, jeweils in alphabetischer Reihenfolge. Die Substantive erscheinen mit der Angabe des Genus im Lateinischen (m) (f) oder (n) sowie den 4 Zudem wird gefordert, das Lernvokabular so auszuwählen, dass es repräsentativ ist für lateinischsprachige Literatur bis zur Neuzeit, vgl. Freund/ Schröttel (2003: 204f). 5 Zu aktuellen Überlegungen, die die Revision eines lernerorientiert ausgewählten lateinischen Lernwortschatzes betreffen, vgl. Siebel (2017: 286f; 322f). 6 Dazu mehr unten in Kap. 3.1.2 und 3.2.4. 7 bezüglich der Technik des Segmentierens und auch des Inferierens von Bedeutungen, kurz des interlingualen Transferierens. <?page no="108"?> 3.2 Lernwortschatz 109 Formen Genitiv Singular (wichtig für die Bildung der weiteren Kasus) und Akkusativ Singular (wichtig für die Fortsetzungen in den romanischen Sprachen). Bei den Adjektiven sind die Nominativ-Endungen der verschiedenen Genera angegeben, woraus sich die Deklination ableiten lässt. 8 Die sog. Stammformen von Verben werden nur dann genannt, wenn sie relevant sind, um die morphologische Gestalt der Fortsetzer nachvollziehen zu können. Schließlich gehört eine Auswahl sog. Kleiner Wörter zum Lernwortschatz. 9 Dieser Begriff wird hier als summarischer Begriff aus dem Grund- und Aufbauwortschatz Latein (GWS, Klett) übernommen. Zwar ist er linguistisch unpräzise, aber für didaktische Zwecke hilfreich und etabliert. Zur Gruppe der ‚Kleinen Wörter‘ gehören dort gleichermaßen Nomina wie Partikeln, konkret: flektierte Pronomina wie Personalia, Possessiva, Demonstrativa, Relativa, Interrogativa, Indefinita und auch nicht-flektierte Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Interjektionen sowie Zahlwörter. 10 3.1.3 Bedeutungsangaben beim Lernwortschatz Alle lateinischen Einträge sind direkt mit deutschen Bedeutungsangaben versehen. Bei den modernen Sprachen ist dies nicht durchgängig der Fall; hier finden sich Angaben, wenn die Bedeutungen in einer Zeile deutlich von der beim lateinischen Wort gegebenen abweichen. Gerade bei komplexeren lateinischen Begriffen sind diese ausgewählten, knappen Bedeutungsangaben nur als erste Orientierung gedacht; für ausführlichere Informationen ist es unumgänglich, einschlägige Wörterbücher zu konsultieren, um das gesamte semantische Spektrum zu überblicken. 3.2 Lernwortschatz Die im Lernwortschatz genannten Fortsetzer im Italienischen, Spanischen, Französischen und Englischen sind zumeist der synoptisch angelegten Lateinischen Wortkunde für Alt- und Neusprachler entnommen. 11 Folgende Symbole werden wie dort auch hier in den Tabellen verwendet: 8 Vgl. LatRom Kap. 4.3.2 zur Deklination lateinischer Adjektive. 9 Diese Funktionswörter haben „ihrer Frequenz nach fast durchweg Grundwortschatz- Rang“ (Hermes 2 2014: 9). 10 Vgl. LatRom , den Beginn des Kap. 4.2 zur Einteilung in die drei Wortklassen Nomina, Verben, Partikeln. 11 Mader ( 4 2008): Diese stark auf den interlingualen Sprachenvergleich mit Italienisch, Spanisch, Französisch, Englisch und Deutsch abzielende Wortkunde enthält knapp 1.600 Lemmata. <?page no="109"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 110 » 1. Weiterwirkung eines anderen lateinischen Wortes: ignis » focus; pulcher » bellus 2. Weiterwirkung nur einer bestimmten Bedeutung: altus, -a, -um ‚hoch, tief‘ » ‚hoch‘ [ ] In [eckigen Klammern] wird eine ergänzende bzw. alternative Wortangabe geliefert: 1. lateinische Wörter, die nicht zum GWS gehören, aber wichtige Fortsetzer haben wie [casa, -ae f.] ‚Hütte‘; 2. romanische Wörter aus einem anderen etymologischen Zusammenhang: So erscheint in der Zeile zu lat. celer z.B. ital. celere mit der Ergänzung ital. [rapido, -a] . ( ) In (runden Klammern) erscheinen hier die Angaben von Genera (m) (f) (n), Numeri (Sg.) (Pl.) sowie Wortklassen (Adj.) (Adv.) (Subst.) 12 (Verb). - Ein bedeutet, dass in der Lateinischen Wortkunde für Alt- und Neusprachler zwar das lateinische Wort erscheint, aber kein Fortsetzer derselben Wortklasse in den modernen Sprachen genannt wird oder sich anderweitig nachweisen lässt. Fw: Hinter diesem Hinweis steht kursiv ein Fremdwort im Deutschen, das sich vom Wort im klassischen Latein herleiten lässt. Zudem erscheinen in den folgenden Tabellen recte gesetzt Wörter, die nicht auf das lateinische Ursprungswort zurückzuführen sind, aber semantisch bzw. funktional in die jeweilige Zeile gehören. Dies ist häufig in der letzten, für Englisch reservierten Spalte der Fall, da der englische Wortschatz in seiner Sprachgeschichte nicht nur romanisch, sondern auch stark germanisch beeinflusst wurde. 12 Vereinzelt wird diese Angabe weiter gekürzt, damit sie in die Tabellenzelle passt. <?page no="110"?> 3.2 Lernwortschatz 111 3.2.1 Substantive 131415161718 13 14 15 16 17 18 Latein Italienisch Spanisch Französisch Englisch A adventus (m) -ūs, -tum ‚Ankunft » Advent ‘ aedēs (f) aedis, aedem ‚Tempel, Haus ‘ āēr (m) āēris, āērem ‚Luft‘ Fw: Aeroaetās (f) aetātis, aetātem ‚Lebens(alter), Zeitalter ‘ ager (m) agrī, agrum ‚Acker, Feld ‘ amīcitia (f) amīcitiae, -am ‚Freundschaft ‘ amīca (f) amīcae, -am ‚Freundin ‘ amīcus (m) amīcī, -um ‚Freund ‘ amor (m) amōris, -em ‚Liebe ‘ anima (f) animae, -am ‚Seele ‘ animal (n) animālis, animal ‚Tier ‘ animus (m) animī, -um ‚ Geist, Sinn; Mut ‘ annus (m) annī, annum ‚Jahr ‘ aqua (f) aquae, aquam , Wasser ‘ arbor (f) arboris, arborem , Baum ‘ arma (Pl. n) armōrum, arma ‚Waffen ‘ l’Avvento (m) edificare ‚erbauen‘ l’aria (f) l’aeroporto (m) l’età (f) [ il campo ] l’amicizia (f) l’amica l’amico l’amore (m) l’anima (f) l’animale (m) l’animo (m) l’anno (m) l’acqua (f) l’albero (m) l’arma (f) (Sg.) el Adviento edificar el aire el aeropuerto la edad [ el campo ] la amistad la amiga el amigo el amor el alma/ ánima el animal el animo el año el agua (f! ) el árbol el arma (f) (Sg.) l’Avent (m) édifier l’air (m) l’aéroport (m) l’âge (m) [ le champ ] l’amitié (f) l’amie l’ami l’amour (m) l’âme (f) l’animal (m) l’an (m) / année (f) l’eau (f) l’arbre (m) l’arme (f) (Sg.) Advent edifying , erbaulich’ air airport age field amity / friendship friend (f) friend (m) love soul animal year water tree arms (Pl.) <?page no="111"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 112 ars (f) artis, artem ‚ Kunst, Fertigkeit ‘ auctōritās (f) -tātis, -em ‚ Ansehen, Einfluss‘ aurum (n) aurī, aurum ‚Gold‘ auxilium (n) auxiliī, -um ‚Hilfe‘ l’arte (f) l’autorità (f) l’oro (m) l’ausilio (m) ausiliare , Hilfs-‘ (Adj.) el arte (m) (Pl. f) la autoridad el oro el auxilio l’art (m) l’autorité (f) l’or (m) auxiliaire , Hilfs-‘ art authority gold auxiliary , Hilfs-‘ B bellum (n) bellī, bellum ‚Krieg‘ la ribellione la rebelión la rébellion rebellion C caelum (n) caelī, caelum ‚Himmel‘ campus (m) campī, -um ,Feld, Ebene, Land‘ caput (n) capitis, caput Fw: ‚Hauptstadt ‘ Fw: Kapitän Fw: Chef [ casa, -ae f . ] ‚Hütte‘ cāsus (m) cāsūs, cāsum ‚Fall; Zufall ‘ castellum (n) -ī, -um ‚ Befestigung » Schloss‘ causa (f) causae, causam ‚ Streitsache, Rechtssache; Ursache‘ cīvis (m/ f) cīvis, cīvem ‚ Bürger, Bürgerin‘ cīvitās (f) cīvitātis, -em ‚ Bürgerrecht; Bürgerschaft, Staat » Stadt‘ il cielo il campo la campagna il capo [ la testa ] la capitale il capitano il capo la casa ‚Haus‘ il caso il castello la cosa , Sache‘ la causa il cittadino, la cittadina la città el cielo el campo la campaña la cabeza la capital el capitán el jefe la casa ‚Haus‘ el caso ,Fall‘ el castillo la cosa ,Sache‘ la causa el ciudadano, la -na la ciudad le ciel le champ la campagne [ la tête ] la capitale le capitaine le chef la case ‚Hütte‘ le cas ,Fall‘ le château la chose ,Sache‘ la cause le citoyen, la -ne la cité sky / heaven camp [ country ] head capital captain chief case ,Fall‘ castle cause citizen city <?page no="112"?> 3.2 Lernwortschatz 113 classis (f) classis, -em , Flotte, Klasse‘ Fw: Klasse cōnsilium (n) cōnsiliī, -um , Beratung; Rat, Entschluss‘ cōnsul (m) cōnsulis, -em ,Konsul‘ cōpia (f) cōpiae, cōpiam ,Menge, Vorrat‘ Fw: Kopie corpus (n) corporis, corpus ,Körper‘ cornū (n) cornūs, cornū ,Horn, Heeresflügel‘ crimen (n) criminis, crimen ,Vorwurf; Schuld, Verbrechen‘ cūra (f) cūrae, cūram ,Sorgfalt, Fürsorge‘ Fw: Kur la classe il consiglio il console la copia ,Menge‘ la copia ‚Kopie‘ il corpo il corno ,Horn‘ il crimine la cura la cura la clase el consejo el cónsul la copia ,Menge‘ la copia ‚Kopie‘ el cuerpo el cuerno el crimen la cura la classe le conseil le consul la copie le corps la corne le crime la cure class counsel consul copy corpse ,Leiche‘ horn crime cure D dēns (m) dentis, dentem ‚Zahn‘ deus (m) deī, deum ‚Gott‘ diēs (m) diēī, diem , Tag‘ diēs (f) 13 diēī, diem ‚Termin‘ dolor (m) dolōris, dolōrem ‚Schmerz‘ domina (f) dominae, -am ‚Herrin » Frau‘ dominus (m) dominī, -num ‚Herr‘ il dente Dio il giorno ( l’appuntamento , m) il dolore la donna el diente Dios el día ( la cita ) el dolor doña + Vorname don + Vorname la dent Dieu le jour ( la date ) la douleur la dame; madame tooth deity ‚Gottheit‘ ; God day ( date ) [ pain ] madam - 13 Die Verwendung von diēs mit femininem Genus ist seltener und auf den Singular beschränkt (Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995 § 34). <?page no="113"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 114 domus (f) domūs, domum ‚Haus‘ Fw: Dom dux (m) ducis, ducem ‚Führer, Feldherr » Herzog‘ il duomo il duca; Duce el domo ‚Kuppel‘ [ la catedral ] el duque le dôme ‚Kuppel; Dom‘[ cathédrale ] le duc dome ‚Kuppel‘ dome [ cathedral ] duke E equus (m) equī, equum ,Pferd‘ caballus (m) caballī, caballum ,Pferd‘ exemplum (n) -ī, -um ‚Beispiel‘ exercitus (m) -ūs, -um ‚Heer‘ l’equitazione (f) ,Reitsport‘ il cavallo l’esempio (m) l’esercito (m) la equitación el caballo el ejemplo (m) el ejército l’équitation (f) le cheval l’exemple (m) [ l’armée (f)] equitation horse example [ army ] F factum 14 (n) factī, factum ‚Tat(sache); Ereignis‘ fāma (f) fāmae, fāmam ‚Gerücht, Ruf, Ruhm‘ fātum (n) fātī, fātum ‚Götterspruch, Schicksal‘ Fw: fatal ferrum (n) ferrī, ferrum ‚Eisen; Schwert‘ fidēs (f) fideī, fidem ‚Treue, Glauben, Vertrauen‘ Fw: perfide fīlia (f) fīliae, fīliam ‚Tochter‘ fīlius (m) fīliī, fīlium ‚Sohn‘ il fatto la fama il fato fatale (Adj.) il ferro la fede perfido, -a (Adj.) la figlia il figlio el hecho la fama el hado fatal el hierro la fe pérfido, -a la hija el hijo 15 le fait - [ infâme ,ehrlos‘] fatal, -e le fer la foi perfide la fille + ‚Mädchen‘ le fils fact fame fate fatal iron ferr ( e ) ous (Adj.) faith perfidious daughter son 14 Vgl. LatRom Kap. 3.2.2 für die Entwicklung des / kt/ -Nexus in der Westromania sp. hecho , fr. fait < lat. factum und in der Ostromania it. fatto < lat. factum. 15 Vgl. LatRom Kap. 3.2.2 für die Entwicklung sp. hijo < lat. fīlium . <?page no="114"?> 3.2 Lernwortschatz 115 fīnis (m) fīnis, fīnem ‚Grenze, Ende, Ziel‘ flamma (f) flammae, -am ‚Flamme‘ flūmen (n) flūminis, flūmen ‚Fluss, Strom‘ fōrma (f) fōrmae, -am ‚Gestalt, Form‘ fortūna (f) fortūnae, -am ‚Schicksal, Glück‘ frāter (m) frātris, frātrem ‚Bruder‘ frūmentum (n) -ī, -um ‚Getreide‘ fuga (f) fugae, fugam ‚Flucht‘ il fine ‚Ziel, Zweck‘ la fine ‚Ende‘ la fiamma il fiume la forma la fortuna il fratello fraterno, -a (Adj.) il frumento ‚Weizen‘ la fuga el fin ‚Ende, Ziel, Zweck‘ la llama [ el río ] la forma la fortuna [ el hermano ] fraternal la fuga, la huída la fin ‚Ende, Ziel, Zweck‘ la flamme [ la rivière ] la forme la fortune le frère fraternel, -le le froment ,Weizen‘ la fuite fine ‚Geldstrafe‘ flame [ river ] form fortune brother fraternal flight G gēns (f) gentis, gentem ‚Stamm, Volk; Geschlecht » Leute‘ genus (n) generis, genus ,Geschlecht; Gattung, Art‘ Fw: generell glōria (f) glōriae, -am ‚Ruhm‘ Fw: glorifizieren grātia (f) grātiae, -am ‚Anmut; Gunst, Dank » Gnade‘ la gente il genere generale (Adj.) la gloria glorificare la grazia la gente el género general la gloria glorificar la gracia les gens (m) (f) le genre général, -e la gloire glorifier la grâce [ people ] [ gender ] general glory to glorify grace H homō (m) hominis, -em ‚Mensch‘ honōs (m) honōris, -em ‚Ehrenamt » Ehre‘ l’uomo l’onore el hombre 16 el honor l’homme 17 l’honneur man honour 16 Für die relatinisierte Schreibung mit <h> im Anlaut vgl. LatRom Kap. 3.2.2. 17 Für die relatinisierte Schreibung mit <h> im Anlaut vgl. LatRom Kap. 3.2.2. <?page no="115"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 116 hostis (m) hostis, hostem ‚Fremder, Feind‘ hostilis , -e (Adj.) ,feindlich‘ l’oste (m) ,Gastwirt‘ ostile (Adj.) el hostelero ,Gastwirt‘ hostil l’hôte (m) ,Gast, Gastgeber‘ hostile host ,Gastgeber‘ hostile I ignis » focus (m) focī, -um ‚Feuer‘ imperātor (m) -is, -em ‚Oberbefehlshaber, Feldherr » Kaiser‘ imperium (n) imperiī, -um ‚Befehl(sgewalt), Herrschaft, Reich‘ impetus (m) impetūs, -um ‚Drang, Schwung, Angriff‘ ingenium (n) ingeniī, -um ‚Anlage, Begabung‘ Fw: Ingenieur iniūria (f) iniūriae, -am ‚Unrecht‘ īnsidiae (Pl. f) -ārum, -ās ‚Hinterhalt, Anschlag‘ invidia (f) invidiae, -am ‚Neid, Hass‘ iter (n) itineris, iter ‚Reise, Marsch; Weg, Reiseroute‘ iūdex (m) iūdicis, iūdicem ‚Richter‘ iūdicium (n) iūdiciī, -um ‚Urteil, Gericht‘ iūs (n) iūris, iūs ‚Recht‘ Fw: Jurisdiktion , Jura iuvenis (m) -is, -em ‚junger Mann‘ il fuoco l’imperatore l’impero (m) l’impeto (m) l’ingegno (m) l’ingegnere (m) l’ingiuria (f) ‚Beleidigung‘ l’insidia, ,Hinterhalt‘ insidioso, -a (Adj.) l’invidia (f) l’itinerario (m) il giudice il giudizio la giurisdizione il/ la giovane el fuego el emperador el imperio el ímpetu el ingenio el ingeniero la injuria ‚Beleidigung‘ la insidia ,Hinterlist‘ insidioso, -a la envidia el itinerario el juez el juicio la jurisdicción el/ la joven le feu l’empereur l’empire (m) impétueux, -euse l’ingénieur (m) l’injure (f) ‚Beleidigung‘ insidieux, -euse l’envie (f) l’itinéraire (m) le juge le jugement la jurisdiction jeune (Adj.) ‚jung‘ fire emperor empire impetus engine ‚Maschine‘ engineer injury ‚Verletzung‘ insidious envy itinerary judge judg ( e ) ment jurisdiction young (Adj.) L labor (m) labōris, -em ‚Anstrengung, Arbeit, Mühe » Arbeit‘ il lavoro la labor [ el trabajo ] le labour ‚Feldarbeit‘ [ le travail ] labour work <?page no="116"?> 3.2 Lernwortschatz 117 lacrima (f) lacrimae, -am ‚Träne‘ laus (f) laudis, laudem ‚Lob, Ruhm‘ lēgātus (m) lēgātī, lēgātum ‚Gesandter; Legat‘ legiō (f) legiōnis, legiōnem ‚Legion‘ lēx (f) lēgis, lēgem ‚Gesetz‘ Fw: legitim Fw: legal liber (m) librī, librum ‚Buch‘ lībertās (f) lībertātis, -em ‚Freiheit‘ lingua (f) linguae, linguam ‚Zunge, Sprache, Sprechweise‘ littera (f) -ae, -am ‚Buchstabe‘ litterae (Pl. f), litterārum, -ās ‚Brief; Literatur; Wissenschaft‘ lītus (n) lītoris, lītorem ‚Ufer, Strand, Küstengebiet‘ Fw: Lido locus (m) locī, locum ‚Ort, Platz, Stelle‘ Fw: Lokal , lokal lūx (f) lūcis, lūcem ‚Licht‘ la lacrima la lode il legato la legione la legge legittimo, -a legale il libro la libertà la lingua il linguaggio la lettera le lettere (Pl.) 18 ‚Geisteswissensch.‘ il lido, il litorale il luogo [ il posto ] locale la luce la lágrima el legado la legión la ley legítimo, -a legal el libro la libertad la lengua el lenguaje la letra las letras (Pl.) el litoral el lugar [ el sitio ] local la luz la larme le légat la légion la loi légitime légal, -e le livre la liberté la langue le langage la lettre les lettres (Pl.) le littoral le lieu [ la place ] local, -e tear laud ‚Lob(gesang)‘ legate legion law legitimate legal book liberty tongue , language language letter letters (Pl.) littoral [ place ] spot local light M māgnitūdō (f) -inis, -em ‚Größe‘ malum (n) malī, malum ‚Übel, Leid‘ manus (f) manūs, manum ‚Hand‘ Fw: Manier la magnitudine il male la mano la maniera la magnitud el mal la mano la manera la magnitude le mal la main la manière magnitude evil to manage ‚handhaben‘ Fw: manner 18 Vgl. LatRom Kap. 4.3.1 zu lateinischen Sustantiven, die im Plural besondere Bedeutungen haben, die sich von der Singularbedeutung deutlich unterscheiden können. <?page no="117"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 118 mare (n) maris, mare ‚Meer‘ māter (f) mātris, mātrem ‚Mutter‘ memoria (f) memoriae, -am ‚Erinnerung, Gedächtnis‘ mēns (f) mentis, -em ‚Geist, Verstand‘ Fw: mental metus (m) metūs, metum ‚Furcht‘ mīles (m) mīlitis, mīlitem ‚Soldat‘ modus (m) modī, -um ‚Maß, Art‘ Fw: Modalität Fw: Mode mōns (m) montis, -em ‚Berg, Gebirge‘ mors (f) mortis, mortem ‚Tod‘ mōs (m) mōris, mōrem ‚Sitte, Brauch, Gewohnheit‘ Fw: Moral , moralisch mulier (f) mulieris, -em ‚Frau, Ehefrau‘ multitūdō (f) multitūdinis, -em ‚Menge, Vielzahl‘ mūnus (n) mūneris, mūnus ‚Aufgabe, Amt; Geschenk‘ il mare marino, -a (Adj.) la madre materno, -a (Adj.) la memoria la mente mentale (Adj.) [ la paura ] il militare [ soldato ] il modo [ la misura ] la modalità la moda il monte la montagna la morte morale la moglie la moltitudine remunerare ,belohnen‘ el/ la mar marino, -a la madre materno, -a la memoria la mente mental el miedo el militar [ soldado ] el modo [ la medida ] la modalidad la moda el monte la montaña la muerte moral la mujer la multitud remunerar ,entlohnen‘ la mer marin, -e la mère maternel, -le la mémoire [ l’esprit (m)] mental, -e [ la peur ] [ le soldat ] le mode [ la mesure ] la modalité la mode le mont la montagne la mort les mœurs (f) (Pl.) moral, -e [ la femme ] la multitude rémunérer ,entlohnen‘ sea marine mother maternal memory mind mental fear [ soldier ] mode [ measure ] modality mode [ fashion ] mount ( ain ) mountains death moral woman, wife multitude to remunerate ,vergüten‘ <?page no="118"?> 3.2 Lernwortschatz 119 » communitas (f) communitātis , em ‚Gemeinschaft‘ mūrus (m) mūrī, mūrum ,Mauer‘ la comunità il muro la comunidad el muro la communauté le mur community [ wall ] N nāvis (f) nāvis, nāvem ‚Schiff‘ nātūra (f) nātūrae, -am ‚Natur, Wesen‘ nōmen (n) nōminis, nōmen ‚Name‘ Fw: Nomen , Pronomen nox (f) noctis, noctem ‚Nacht‘ numerus (m) numerī, -um ‚Zahl, Anzahl‘ la nave la natura naturale (Adj.) il nome la notte il numero la nave [ el barco ] la naturaleza natural el nombre la noche el número le navire [ le bateau ] la nature naturel, -le le nom la nuit le nombre le numéro ship nature natural name noun , Substantiv‘ night number O oculus (m) oculī, oculum ‚Auge‘ officium (n) officiī, -um ‚Dienst, Pflicht, Amt‘ Fw: offiziell opera (f) operae, operam ‚Mühe‘ Fw: Oper opēs (Pl. f) opum, opēs ‚Machtmittel, Reichtum‘ Fw: opulent opus (n) operis, opus ‚Werk‘ Fw: Opus ōrātiō (f) ōrātiōnis, -em ‚Rede‘ orbis (f) orbis, orbem ‚Kreis‘ Fw: Orbit ōrdō (f) ōrdinis, ordinem ‚Reihe, Ordnung » Befehl‘ l’occhio (m) l’ufficio (m) ufficiale (Adj.) l’opera (f) ‚Arbeit, Oper‘ opulento, -a (Adj.) l’orazione (f) ‚Rede, Gebet‘ l’orbita (f) l’ordine (m) el ojo el oficio oficial la obra ‚Werk‘ la ópera ‚Oper‘ opulento, -a el opus la oración ‚Rede, Gebet‘ la órbita el/ la orden l’œil, les yeux (m) l’office (m) officiel, -le l’œuvre (f) ‚Werk‘ l’opéra (f) ‚Oper‘ opulent, -e l’opus (m) l’oraison (f) ‚Rede, Gebet‘ l’orbite (f) l’ordre (m) eye office official work opera opulent opus oration ‚feierl. Rede‘ orbit order - <?page no="119"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 120 ōs (n) ōris, ōs ‚Mund, Gesicht‘ Fw: oral, ‚mündlich‘ ōtium (n) ōtiī, ōtium ‚ ‚freie Zeit, Muße‘ negōtium (n) ‚Geschäft, Aufgabe‘ orale (Adj.) l’ozio (m) il negozio , Geschäft, Handel, Laden‘ oral (Adj.) el ocio el negocio oral, -e (Adj.) le négoce oral (Adj.) to negotiate ,handeln‘ P parēns (m/ f) parentis, -em ‚Vater, Mutter » Verwandter‘ parentēs (Pl.) ‚Eltern‘ pars (f) partis, partem ‚Teil, Seite‘ passus (m) passūs, passum ‚Schritt‘ Fw: Pass pater (m) patris, patrem ‚Vater‘ paternus, -a, -um ,väterlich‘ patria (f) patriae, patriam ‚Vaterland, Heimatland‘ pāx (f) pācis, pācem ‚Friede‘ pectus (n) pectoris, pectus ‚Brust‘ pecūnia (f) pecūniae, -am ‚Geld, Vermögen‘ Fw: pekuniär perīculum (n) perīculī, -um ‚Gefahr‘ pēs (m) pēdis, pēdem ‚Fuß‘ poena (f) poenae, -am ‚Strafe‘ populus (m) populī, -um ‚Volk‘ Fw: Population porta (f) portae, portam ‚Tor, Tür‘ portus (m) -ūs, -um ,Hafen‘ il/ la parente [ i genitori ] la parte il passo il passaporto il padre paterno, -a la patria la pace il petto [ il denaro ] pecuniario, -a (Adj.) il pericolo il piede la pena il popolo la popolazione la porta il porto el/ la pariente [ los padres ] la parte el paso el pasaporte el padre paterno, -a la patria la paz el pecho [ el dinero ] pecuniario, -a el peligro el pie la pena el pueblo la población la puerta el puerto le/ la parent, -e les parents la part/ partie le pas le passeport le père paternel, -le la patrie la paix la poitrine [ l’argent ] pécuniaire le péril [ le danger ] le pied la peine le people la population la porte le port parent ,Elternteil‘ [ relative ] parents part pace ‚Gang(art)’ pass father paternal motherland peace pectoral ‚Brust-‘ [ money ] pecuniary peril [ danger ] foot pain people population port, door port , harbour <?page no="120"?> 3.2 Lernwortschatz 121 potestās (f) potestātis, -em ‚Amtsgewalt, Macht, Möglichkeit‘ praesidium (n) -sidiī, -um ‚Schutz, Besatzung‘ Fw: Präsident pretium (n) pretiī, pretium ‚Wert; Preis, Lohn‘ prīnceps (m) prīncipis, -em ‚erster, führender Mann‘ Fw: Prinz prōvincia (f) -ae, -am ‚Amtsbereich, Provinz‘ Fw: provinziell puer (m) puerī, puerum ‚Junge, Kind‘ la potestà/ podestà il presidio ,Schutz‘ il presidente il prezzo ‚Preis‘ il pregio ‚Wert‘ il principe la provincia provinciale (Adj.) puerile (Adj.) la potestad el presidio ,Festung, Gefängnis‘ el presidente el precio ‚Preis‘ el príncipe la provincia provincial pueril - le président le prix ‚Preis, Siegespreis‘ le prince la province/ Provence provincial, -e puéril, -e presidio ,Militärposten‘ president price prize ‚Siegespreis‘ prince province provincial puerile Q - R ratiō (f) ratiōnis, ratiōnem ‚Berechnung, Überlegung; Vernunft; Art und Weise; Theorie‘ Fw: Ration rēgīna (f) rēgīnae, -am ‚Königin‘ regiō (f) regiōnis, regiōnem ,Richtung, Gegend' rēgnum (n) rēgnī, rēgnum ‚Königtum, Königreich‘ religiō (f) religiōnis, -em ‚ Gottesverehrung; Bedenken ‘ rēs (f) reī, rem ‚Sache, Ding‘ rēs pūblica (f) reī pūblicae, rem pūblicam Fw: Republik ‚Staat‘ la ragione la razione la regina la regione il regno la religione [ la cosa ] [ lo stato ] la repubblica la razón la ración la reina la región el reino la religión [ la cosa ] [ el estado ] la república la raison la ration la reine la région le règne la religion [ la chose ] [ l’État ] la république reason ration queen region Reign Religion thing [ state ] republic <?page no="121"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 122 rēx (m) rēgis, rēgem ‚König‘ il re el rey le roi king S salūs (f) salūtis, salūtem ‚Heil, Wohl; Rettung; Gruß‘ Fw: Salut sanguis (m) sanguinis, -em ‚Blut‘ scelus (n) sceleris, scelus ‚Verbrechen, Frevel‘ senātus (m) senātūs, -um ‚Senat, Senatsversammlung‘ senex (m) senis, senem ‚Greis; alt‘ senilis, e, is (Adj.) > Fw: senil sententia (f) -ae, -am ‚Meinung, Satz; Urteil‘ Fw: Sentenz servus (m) servī, servum ‚Sklave‘ Fw: servil sīgnum (n) sīgnī, sīgnum ‚Zeichen, Feldzeichen; Bild‘ Fw: Signum, Signal silva (f) silvae, silvam ‚Wald‘ socius (m) sociī, socium ‚Gefährte, Bundesgenosse‘ Fw: sozial sōl (m) sōlis, sōlem ‚Sonne‘ somnus (m) somnī, -um ‚Schlaf‘ somnium (n) somnī, -um ‚Traum‘ la salute ‚Gesundheit‘ il saluto ‚Gruß‘ il sangue scellerato, -a (Adj.) il senato senile (Adj.) la sentenza il servo [ lo schiavo ] servile il segno segnale la selva [ la foresta/ il bosco ] il socio sociale il sole il sonno il sogno la salud el saludo ‚Gruß‘ la sangre - [ criminal ] el senado senil la sentencia [ el esclavo ] servil el signo la señal la selva [ el bosque ] el socio social el sol el sueño el sueño le salut - le sang scélérat, -e le sénat sénile la sentence [ l’esclave ] servile le signe le signal - [ la forêt/ le bois ] social, -e le soleil le sommeil le songe salute salute ‚Gruß, Salut‘ blood - [ criminal ] senate senile sentence [ slave ] servile sign signal - [ forest ] wood(s) social sun sleep dream <?page no="122"?> 3.2 Lernwortschatz 123 spēs (f) speī, spem ‚Hoffnung, Erwartung‘ sperare ,hoffen‘ » vlat. sperantia stadium (n) stadiī, stadium ‚Stadion, Rennbahn‘ supplicium (n) suppliciī, supplicium ‚Bittgebet, Dankgebet; Strafe; Hinrichtung‘ la speranza lo stadio il supplizio la esperanza el estadio el suplicio l’espérance (f)/ l’espoir (m) le stade le supplice hope stadium - T templum (n) templī, -um ‚heiliger Bezirk, Tempel‘ tempus (n) temporis, tempus ‚Zeit; Lage, Umstände‘ terra (f) terrae, terram ‚Erde, Land, Gebiet‘ Fw: Terrain , Territorium testis (f) testis, testem ‚Zeuge‘ » testimonium ,Zeugnis‘ » testamentum Fw: Testament il tempio il tempo la terra il terreno/ territorio il testimone il teste (veraltet) (,Zeuge‘) il testamento el templo el tiempo la tierra el terreno/ territorio el testigo ,Zeuge‘ el testimonio ,Zeugnis‘ el testamento le temple le temps la terre le terrain/ territoire le témoin (,Zeuge‘) la testament temple tense ‚Tempus‘ terrestrial (Adj.) territory witness testament U unda (f) undae, undam ‚Welle, Woge‘ urbs (f) urbis, urbem ‚Stadt‘ FW: urban Urbanisierung ūsus (m) ūsūs, ūsum ‚Gebrauch, Erfahrung, Nutzen‘ l’onda (f) l'urbe (f, veraltet) urbano, -a urbanizzazione l’uso (m) la onda la urbe ‚Großstadt‘ urbano, -a urbanización el uso l’onde (f) urbain, -e urbanisation l’usage ( m ) wave urban urbanisation use ‚Gebrauch, Nutzen‘ <?page no="123"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 124 uxor (f) uxōris, uxōrem ‚Ehefrau, Gattin‘ [ la moglie ] [ la mujer ] [ la femme ] wife V ventus (m) ventī, ventum ‚Wind‘ verbum (n) verbī, verbum ‚Wort » Verb‘ via (f) viae, viam ‚Weg, Straße‘ victor (m) victōris, -em ‚Sieger‘ Fw: Victor (Eigenname) victōria (f) victōriae, -am ‚Sieg‘ vir (m) virī, virum ‚Mann‘ Fw: viril virgō (f) virginis, virginem ‚Mädchen, Jungfrau‘ virtūs (f) virtūtis, virtūtem ‚Tapferkeit, Tüchtigkeit, Tugend‘ vīta (f) vītae, vītam ‚Leben‘ Fw: vital vōx (f) vōcis, vōcem ‚Stimme‘ vulnus (n) vulneris, vulnus ‚Wunde‘ vultus (m) vultūs, vultum ‚Miene, Gesichtsausdruck‘ il vento il verbo la via [ il vincitore ] Vittorio la vittoria [ l’uomo (m)] virile (Adj.) la vergine la virtù ‚Tugend, Fähigkeit‘ la vita vitale la voce vulnerabile (Adj.) il volto ‚ Gesicht‘ el viento el verbo la vía [ el vencedor ] Víctor la victoria [ el hombre ] viril la virgen la virtud ‚Tugend, Fähigkeit‘ la vida vital la voz vulnerable le vent le verbe la voie [ le vainqueur ] Victor, Victeur la victoire [ l’homme (m)] viril, -e la vierge la vertu ‚Tugend, Wirksamkeit‘ la vie vital, -e la voix vulnérable wind word ; verb way victor , winner Victor victory man virile virgin virtue ‚Tugend, Wirksamkeit‘ life vital voice vulnerable - <?page no="124"?> 3.2 Lernwortschatz 125 Im Hinblick auf das Erschließen durch Segmentieren bietet die Synopse der Substantive wenig - es gibt nur ein Kompositum, lat. adventus , das sich gut herleiten und auch in seiner Bedeutung bestimmen lässt, wenn das Simplex venīre und die wichtigen lateinischen Präfixe (siehe unten Kap. 3.2.4) bekannt sind. Bedeutungswandel im Sinne von Bedeutungsverengung ist bei lat. casus eingetreten: Während der Fortsetzer im Italienischen wie im Lateinischen ‚Fall‘ und ‚Zufall‘ bedeutet, entfällt die zweitgenannte Bedeutung im Spanischen (ersetzt durch la casualidad ), Französischen (ersetzt durch le hasard ) und Englischen. Für die Bedeutung ‚Sturz‘ wird frz. la chute , sp. la caída und it. la caduta verwendet. Anhand der jeweils zwei auf lat. causa zurückgehenden Wörter im Italienischen, Spanischen und Französischen kann das linguistische Phänomen der Dublette veranschaulicht werden. Bei solchen modernsprachlichen Wortpaaren wie frz. la chose ‚Sache‘ / la cause ‚Ursache‘ hat lat. causa ‚Rechtssache, Streitsache, Ursache‘ früh als Erbwort und später erneut als Lehnwort 19 in die romanische Sprache Eingang gefunden. Die jüngere Entlehnung ist dem lateinischen Ursprung deshalb meist ähnlicher, weil sie nicht denselben Lautveränderungen unterworfen war wie das ältere Erbwort. Solche lateinischen Wörter aktiv zu beherrschen ist hilfreich für das rezeptive Leseverstehen in verwandten Sprachen. Anhand von lat. caput ‚Kopf‘ wird deutlich, dass für verwandte Konzepte evtl. zwei verschiedene lateinische Wörter aus unterschiedlichen Epochen entlehnt werden: So wird für ‚Hauptstadt‘ frz. la capitale (< klat. caput ), aber für ‚Haupt, Kopf‘ frz. la tête verwendet, abgeleitet von lat. testa , das im (nach-)klassischen Latein ‚Tontopf, Scherbe, Ziegelstein‘ bedeutete. Hier wurde die Form des Kruges mit seinen zwei Henkeln auf den menschlichen Kopf mit zwei (abstehenden) Ohren übertragen (vgl. LatRom Kap. 6.3.1). Die Bezeichnung für ‚Kopf‘ span. cabeza geht auf vulgärlat. capitia zurück, das lat. caput verdrängt hat. An diesen Beispielen wird deutlich, dass im Laufe der sprachlichen Entwicklung viel semantischer Wandel stattfindet. Teils werden dafür bereits früh, im Vulgär- und Spätlatein, Formen herangezogen, die auch im klassischen Latein existieren, aber deren Bedeutung anders interpretiert wird. Dabei spielen Metapher (‚Übertragung‘) und Metonymie (‚Umbenennung‘) eine zentrale Rolle (vgl. LatRom Kap. 6.3.1). Für die Findung neuer Bezeichnungen können bestimmte Konzepte herangezogen werden, die auf grundlegenden Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung beruhen, der Kontiguität sowie der Similarität bzw. des Kontrastes; bei der begrifflichen Innovation kann die ‚Nachbarschaft‘, d.h. die Kontiguität zur Metonymie führen, die Similarität zur Metapher. 19 So wurden viele gelehrte Wörter während der Renaissance im Zuge des Humanismus geprägt und auch im Englischen etabliert. Weitere lexikalische Entlehnungen für Fachsprachen fanden bis ins 18. Jh. statt. <?page no="125"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 126 Betrachtet man allein das Ergebnis des semantischen Wandels, sind v.a. zwei Typen zu nennen: Häufig tritt eine Bedeutungsverengung ein, also eine ‚Spezialisierung‘; die gegenteilige Entwicklung führt zur ‚generalisierenden‘ Bedeutungserweiterung (vgl. LatRom Kap. 6.3.1). Da lat. domus ‚Haus‘ in der Romania (abgesehen von sard. domo ) und im Englischen nicht mit dieser Bedeutung weiterlebt, sondern durch lat. casa ersetzt wird, könnte es aus der Liste gestrichen werden; jedoch gehört die Phrase pro domo im Deutschen zum bildungssprachlichen Wortschatz wie das Verb domestizieren , zudem wird die Bezeichnung für Kaiser Neros domus aurea erklärlich, weshalb domus zum MW gehört. 20 Im Vergleich mit dem MW fehlen in diesem Lernwortschatz: caedēs ‚Mord, Blutbad‘ , facinus ‚Tat, Untat‘ , l ī ber ī (Pl. m) ‚Kinder‘ , obses ‚Geisel‘ , oppidum ‚Stadt, befestigter Platz‘ , praetor ‚Prätor‘ und vīs 21 ‚Gewalt, Kraft‘, da diese Substantive keine Fortsetzer in den modernen Sprachen haben. Ausgespart wurden auch die zu den Militaria gehörenden Substantive aciēs ‚Schärfe, Schlacht(ordnung)‘ , agmen ‚(Heeres)Zug‘ , castra (Pl. n) ‚Lager‘ , eques ‚Reiter, Ritter‘ , equit ā tus ‚Reiterei, Ritterstand‘ , proelium ‚Gefecht, Schlacht‘ , t ē lum ‚Geschoss, Waffe‘. Hingegen hat corn ū Fortsetzer in den vier ausgewählten Sprachen, nämlich als Musikinstrument ‚Horn‘, nicht aber in der Bedeutung von ‚Heeresflügel‘. Ergänzt sind im Hinblick auf die Zielgruppe Romanist*innen produktive Wörter wie lat. āē r, castellum und portus aufgrund der Vielzahl von Fortsetzern in modernen Sprachen. Vermisst werden in dieser Tabelle möglicherweise einige lateinische Substantive wie auctor ‚Urheber, Verfasser‘ oder argentum ‚Silber‘. Sie erscheinen nicht im MW aufgrund der dort festgelegten Kriterien. Alle Leser*innen seien hier um Nachsicht gebeten und dazu aufgefordert, den hier dargelegten, aus der Lateindidaktik stammenden Lernwortschatz nach eigenem Wissen und Wünschen zu erweitern. 3.2.2 Adjektive Für den Lernwortschatz für Romanist*innen wurden einige Anpassungen im Vergleich zum MW vorgenommen. Hat das lateinische Adjektiv keinen romanischen Fortsetzer als Adjektiv, steht wie schon in der vorigen Tabelle ein in der Zeile. Ist stattdessen ein Substantiv oder Verb frequent, wird dieses in der Folgezeile genannt. 20 Hinzuweisen ist bei domus (f) auf seine besonderen grammatischen Merkmale: Das Wort ist eines der wenigen Feminina der u-Deklination und weist Ausnahmen bei der Deklination auf: Sg.: domus - domūs - domuī - domum - domō, Pl.: domūs - domōrum - domibus - domōs - domibus , vgl. auch LatRom Kap. 4.3.2. 21 Im Sg. hat vīs nur die Formen Akk. Sg. vim und Abl. Sg. vī , im Plural ist es regelmäßig: vires, virium, viribus, vires, viribus , vgl. LatRom Kap. 4.3.2 zur i-Deklination. <?page no="126"?> 3.2 Lernwortschatz 127 2223242526272829 22 23 24 25 26 27 28 29 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch A aequus, -a, -um ‚eben; gleich, gerecht‘ alius, -a, -ud ‚ein anderer‘ aliēnus, -a, -um ‚fremd‘ alter, altera, alterum ‚der eine (von zweien), der andere‘ altus, -a, -um ‚hoch, tief‘ amplus, -a, -um ‚weit , geräumig; bedeutend‘ equo, -a alieno, -a altro, -a alto, -a ,hoch, tief‘ ampio, -a - ajeno, -a otro, -a alto, -a ,hoch‘ amplio, -a - - aliéner ‚entfremden‘ autre haut, -e ,hoch‘ ample else ‚sonst, anders‘ alien other ample B barbarus, -a, -um ‚ausländisch, ungebildet‘ bonus, -a, -um ‚gut‘ melior, -ius 22 ‚besser‘ optimus, -a, -um ‚ am besten‘ brevis, -e ‚kurz‘ barbaro, -a buono, -a migliore ottimo, -a il/ la migliore breve bárbaro, -a buen ( o ) , -a mejor óptimo, -a el/ la/ lo mejor breve barbare bon, -ne meilleur, -e le/ la meilleur, -e bref, brève barbarian good better -best brief; short C celer, celeris, celere ‚schnell‘ certus, -a, -um ‚sicher, gewiss‘ cēterī, -ae, -a ‚die übrigen‘ etc. = et cetera clārus, -a, -um ‚hell, klar; berühmt‘ celere [ rapido, -a ] certo, -a eccetera ( ecc. ) chiaro, -a célere [ rápido, -a ] cierto, -a etcétera ( etc. ) claro, -a [ rapide ] [ vite ] certain, -e etc. clair, -e [ rapid ] quick certain etc. clear 22 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus, malus, māgnus, parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. <?page no="127"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 128 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch commūnis, -e ‚gemeinsam, allgemein‘ complūrēs, -a ‚mehrere‘ comune - [ parecchi, parecchie ] común -[ varios, -as ] commun, -e plusieurs common -several, [ various ] D difficilis, -e ‚schwierig‘ dīgnus, -a, -um ‚angemessen; würdig, wert‘ dissimilis, -e ‚unähnlich‘ dulcis, -e ‚süß, angenehm‘ dūrus, -a, -um ‚hart‘ difficile degno, -a dissimile dolce duro, -a dificil digno, -a disímil dulce duro, -a difficile digne - ( dissimilitude ) 23 doux, douce dur, -e difficult worthy dissimilar [sweet] hard E - F facilis, -e ‚leicht (zu tun)‘ fortis, -e ‚stark, mutig; tapfer‘ facile forte fácil fuerte facile fort, -e facile; easy strong G gravis, -e ‚schwer(wiegend); ernst‘ grave grave grave grave H humilis, -e ‚niedrig; demütig‘ umile humilde humble humble I - - - - - L levis, -e ‚leicht, unbedeutend; leichtsinnig‘ līber, libera, liberum ‚frei‘ longus, -a, -um ‚lang‘ lieve libero, -a lungo, -a leve libre [ largo, -a ] libre long, longue levity (Subst.) free long M māgnus, -a, -um ‚groß‘ māior, -ius 24 ‚größer‘ maggiore mayor majeur, -e major; mayor (Subst.) 23 Vgl. LatRom Kap. 4.3.3, Fußnote 34. 24 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus, malus, māgnus, parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. <?page no="128"?> 3.2 Lernwortschatz 129 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch maximus, -a, -um ‚am größten‘ malus, -a, -um ‚schlecht‘ pēior, pēius 25 ‚schlechter‘ pessimus, -a, -um ‚schlechtester‘ Fw: Pessimist mātūrus, -a, -um ‚reif‘ medius, -a, -um ‚mittlerer, mitten » halb‘ miser, -era, -erum ‚elend, unglücklich‘ Fw: miserabel mollis, -e ‚weich, mild‘ multi, -ae, -a ‚viele‘ massimo, -a malo, -a peggiore pessimo, -a pessimista maturo, -a medio, -a misero, -a miserabile molle molti, -e máximo, -a malo, -a peor pesimista maduro, -a medio, -a misero, -a miserable muelle muchos, -as [ maximal ] mal; mauvais, -e pire pésimo, -a pessimiste mûr, -e moyen, -ne le midi (Subst.) la misère (Subst.) miserable mou/ mol, molle [ beaucoup de ] maximum; most bad worse worst pessimist mature mid(dle) misery (Subst.) miserable soft many N neuter, -tra, -trum ‚keiner (von beiden)‘ nōbilis, -e ‚berühmt; adlig, vornehm‘ novus, -a, -um ‚neu‘ nūdus, -a, -um ‚nackt‘ nūllus, -a, -um ‚kein‘ neutro, -a nobile nuovo, -a nudo, -a nullo, -a nulla (Adv.) ‚nichts‘ neutro, -a noble nuevo, -a desnudo, -a nulo, -a neutre noble neuf, neuve; nouveau/ nouvel, -le nu, -e nul, -le neutral noble new naked null (‚null, nichtig‘) O obscūrus, -a, -um ‚dunkel; unklar‘ omnis, -e ‚ganz; jeder, alle‘ ( o ) scuro, -a ogni [ tutto, -a ] oscuro, -a [ todo, -a ] obscur, -e [ tout, -e ] obscure whole, every, each/ all 25 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus, malus, māgnus, parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. <?page no="129"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 130 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch P pār ‚ gleich » gleich, gerade‘ parvus, -a, -um ‚klein‘ minor, minus 26 ‚kleiner‘ minimus, -a, -um ‚kleinster‘ paucus, -a, -um ‚wenig‘ paulum (Adv.) ‚ein wenig‘ plēnus, -a, -um ‚voll‘ plūrimī, -ae, -a ‚ die meisten‘ prīmus, -a, -um ‚erster, vorderster‘ pūblicus, -a, -um ‚öffentlich, staatlich‘ pulcher, -ra, -rum » bellus, -a, -um ‚schön‘ pūrus ,-a, -um ‚rein, klar‘ pari parvo, - (veraltet) minore minimo, -a poco, -a un po’, un poco pieno, -a i più la maggior parte primo, -a pubblico, -a pulcro, -a (veraltet) bel/ bello, -a puro, -a par menor mínimo, -a poco, -a un poco lleno, -a -[ la mayor parte ] primer ( o ) ; primo, -a público, -a bello, -a puro, -a pair, -e mineur, -e minime peu un peu plein, pleine la plupart premier, -ère public, publique beau/ bel, belle pur, -e par (Subst.) ,Gleichheit' minor minimum few a little full -most prime; first public beautiful 27 pure Q - - - - - R reliquus, -a, -um ‚zurückgelassen, übrig‘ rēctus, -a, -um ‚gerade, richtig‘ relitto, -a retto, -a relicto, -a recto, -a le reliquat (Subst.) [ droit, -e ] relict relict (Subst.) right S sānctus, -a, -um ‚heilig; ehrwürdig‘ similis, -e ‚ähnlich‘ sōlus, -a, -um ‚allein, einsam‘ san/ santo, -a simile solo, -a santo, -a símil; semejante solo, -a saint, -e semblable, ( similitude ) 28 seul, -e saint similar sole 26 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus, malus, māgnus, parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. 27 Von frz. beauté ‚Schönheit‘. 28 Vgl. LatRom Kap. 4.3.3, Fußnote 34. <?page no="130"?> 3.2 Lernwortschatz 131 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch summus, -a, -um ‚oberster, höchster‘ superior, -ius ‚höher; überlegen, früher‘ sommo, -a superiore sumo, -a superior le sommet ‚ Gipfel‘ supérieur, -e summit ‚Gipfel‘ superior T tālis, -e ‚so beschaffen, solch ein‘ tantus, -a, -um ‚so groß; so viel‘ tertius, -a, -um ‚dritter‘ tōtus, -a, -um ‚ganz‘ trīstis, -e ‚traurig; unerfreulich‘ tūtus, -a, -um ‚sicher, geschützt‘ Fw: Tutor tale tanto, -a terzo, -a tutto, -a triste ‚traurig‘ tristo 29 » ‚schlecht‘ il tutore (Subst.) tal tanto, -a tercer ( o ) , -a todo, -a triste el tutor (Subst.) tel, -le tant troisième tout, -e triste le tuteur (Subst.) such third whole - tutor (Subst.) U ūllus, -a, -um ‚irgendein‘ ultimus, -a, -um ‚äußerster, letzter‘ ūnus, -a, -um ‚ein, einzig‘ ultimo, -a un ( o ) , una último, -a un ( o ) , una ultime un, une ultimate one V varius, -a, -um ‚mannigfach, verschieden‘ vērus, -a, -um ‚ wirklich, wahr‘ vetus ‚alt‘ vīvus, -a, -um ‚lebend(ig)‘ vario, -a vero, -a vecchio, -a vivo, -a; vivente vario, -a verdadero, -a viejo, -a vivo, -a; viviente varié, -e vrai, -e; véritable vieux/ vieil, -le vif, vive; vivant, -e various very ‚sehr‘ old alive; living 29 Vgl. LatRom Kap. 4.4.1 zum seltenen Fall einer romanischen Dublette, an der deutlich wird, dass das im klassischen Latein zweiendige Adjektiv lat. tristis, -e zunehmend nach der o-Deklination flektiert wurde, die drei Genera unterscheidet: tristus, -a, -um . <?page no="131"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 132 Hat ein lateinisches Adjektiv aus dem MW gar keinen Fortsetzer in den genannten modernen Sprachen, wird es in obiger Tabelle nicht aufgeführt, da es für das interlinguale Erschließen nicht hilfreich ist. Dies trifft zu für plērīque, pleraeque, pleraque ‚die meisten‘. Im Lernwortschatz für Romanist*innen aufgeführt hingegen wird lat. parvus als Antonym zu magnus und deren frequente Fortsetzer der Komparativ- und Superlativformen. Ergänzt sind auch die Komparativ- und Superlativformen inklusive der Fortsetzer zu lat. bonus und malus mit ihren Steigerungsformen. 30 Außerdem erscheinen hier lat. difficilis (zu facilis ) und lat. dissimilis (zu similis ) sowie lat. humilis , deren Grundformen 31 durchweg in den romanischen Sprachen bewahrt sind, zudem das Pronominaladjektiv 32 lat. alter, altera, alterum. Das Adjektiv lat. pulcher ist aufgeführt, obwohl es keine romanischen Fortsetzer hat. Systematisch ist jedoch die Fortsetzung seiner nachklassischen Entsprechung bellus, a, um . 3.2.3 Verben Für den Lernwortschatz für Romanist*innen wurden im Vergleich zum MW wiederum einige Anpassungen vorgenommen. Ist statt des Verbs ein Substantiv oder Adjektiv frequent, wird es in der Folgezeile genannt. Verba Simplicia wie esse, d ū cĕre, facĕre, ferre, ī re, vĕn ī re werden in diesem Lernwortschatz aufgeführt, weil v.a. deren Komposita zahlreiche Fortsetzer in den modernen Sprachen haben; daher wird auch ihre deutsche Grundbedeutung in der lateinischen Spalte genannt. Zudem befinden sich in dieser Tabelle Komposita wie abesse , adīre , adducĕre , convenīre , da sie für den MW ermittelt wurden. Deren Herkunft und auch Bedeutung können oft leicht erschlossen werden, wenn jeweils das Präfix und das Verbum Simplex bekannt sind, wie es bei Romanist*innen der Fall sein wird. 30 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus, malus, māgnus, parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. 31 Vgl. LatRom Kap. 4.3.3 zu den Adjektiven auf ilis . 32 Vgl. zu den Pronominaladjektiven LatRom Kap. 4.3.4 und unten Kap. 3.2.4. <?page no="132"?> 3.2 Lernwortschatz 133 333435363738394041424344454647 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 33 Das Verb it. osare ist zurückzuführen auf die Perfektform von lat. audēre, audēo, ausus sum. Dieses Verb ist ein sog. Semideponens, d.h. seine Bedeutung ist aktiv (‚wagen, ich wage, ich habe gewagt‘), aber die aktiven lat. Formen hat es im Perfektstamm abgelegt, daher die Stammform ausus sum . Von lat. audēre hat eine Monophthongierung stattgefunden zu den Fortsetzern it. osare sowie zu sp. osar , fr. oser . 34 Siehe vorige Fußnote. 35 Siehe vorige Fußnote. 36 Vgl. dazu LatRom Kap. 3.1.3.3, Komposita wie lat. recipĕre haben sich eher mit ihrer ursprünglichen lat. Bedeutung erhalten als das Simplex cap ĕ re . Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch A agĕre ‚(be)treiben, (ver)handeln, tun‘ amāre ‚lieben‘ appellāre ‚anrufen, (be)nennen‘ arbitrārī ‚meinen, entscheiden‘ audēre ‚wagen‘ audīre ‚hören‘ agire amare appellare arbitrare osare 33 udire actuar amar [ llamar ] arbitrar osar 34 oír agir aimer appeler arbitrer oser 35 ouïr (defektiv) [ entendre ] to act to love to call to arbitrate to dare to listen audible (Adj.) B - - - - - C cadĕre ‚fallen‘ accidĕre ‚sich ereignen, zustoßen‘ capĕre 36 ‚fassen, ergreifen‘ accipĕre ‚annehmen, empfangen‘ recipĕre ‚zurücknehmen; aufnehmen‘ cēdĕre ‚gehen; weichen, aufhören‘ accēdĕre ‚herantreten, hinzukommen‘ cadere (2. Silbe betont) accadere l’accidente (Subst.) capire ‚verstehen‘ accettare ricevere cedere accedere l’accesso (Subst.) caer acaecer el accidente caber ‚Platz haben‘ aceptar recibir ceder acceder el acceso [ tomber ] [ arriver ] l’accident accepter recevoir céder accéder l’accès to fall to happen accident to catch ‚fangen‘ to accept to receive to cede to accede access <?page no="133"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 134 37 Die zahlreichen lateinischen Komposita zu ducĕre weisen viele Fortsetzer in den romanischen Sprachen und dem Englischen auf, vgl. Mader, Lateinische Wortkunde , S. 51f. (cog) nōscĕre ‚kennen lernen, erkennen‘ colĕre » cultivāre ‚bebauen, pflegen, verehren‘ (com) putāre ‚meinen, glauben, halten für, (be)rechnen‘ crēdĕre ‚glauben, (an)vertrauen‘ cupĕre ‚begehren‘ conoscere coltivare contare/ computare credere [ desiderare ] conocer cultivar contar/ computar creer [ desear ] connaître cultiver compter croire [ désirer ] to know to cultivate to count/ compute to believe [ to desire ] D dāre ‚geben‘ perdĕre ‚zugrunde richten; verlieren‘ reddĕre ‚zurückgeben; machen zu‘ trādĕre ‚übergeben » verraten‘ dēbēre ‚schulden, müssen, verdanken‘ dēfendĕre ‚verteidigen‘ dīcĕre ‚sagen‘ dolēre ‚Schmerz empfinden‘ dubitāre ‚zweifeln, zögern‘ d ū cĕre ‚führen‘ addūcĕre 37 ‚heranführen, veranlassen » Gründe anführen‘ ēducāre ‚erziehen‘ indūcĕre » intrōdūcere ‚einführen, verleiten » veranlassen‘ dare perdere rendere tradire dovere difendere dire dolere dubitare addurre educare indurre introdurre dar perder rendir traicionar deber defender decir doler dudar aducir educar inducir introducir donner perdre rendre trahir devoir défendre dire [ faire mal ] douter - l’adduction (Subst.) éduquer induire introduire to give to lose to render to betray (to be in) debt to defend to say/ to tell to hurt to doubt to adduce to educate to induce to introduce <?page no="134"?> 3.2 Lernwortschatz 135 38 Das Verb sp. relatar ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. referre, refero, rettulī, relātum . prodūcĕre ‚vor-, weiterführen; hervorbringen‘ redūcĕre ‚zurückführen‘ produrre ridurre producir reducir produire réduire to produce to reduce E esse ‚sein‘ abesse ‚abwesend, entfernt sein‘ exīstimāre ‚schätzen, meinen, beurteilen‘ exspectāre ‚erwarten‘ essere assente (Adj.) stimare aspettare ser ausente estimar expectante (Adj.) être absent, -e estimer expectative (Subst.) expectant, -e (Adj.) to be absent to estimate to expect F facĕre ‚machen, tun‘ ferre ‚tragen, bringen‘ cōnferre ‚zusammentragen, vergleichen‘ īnferre ‚hineintragen, schließen/ folgern‘ referre ‚zurückbringen, berichten‘ fugĕre ‚fliehen, meiden‘ fare [ portare ] conferire inferire riferire fuggire hacer [ llevar (<levare)] conferir inferir referir/ relatar 38 huir faire [ (ap)porter ] conférer inférer référer fuir factory (Subst.) to bear to confer to infer to refer to flee G gerĕre ‚tragen, führen, ausführen‘ gestire, gerire el gerente (Subst.) gérer - <?page no="135"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 136 39 Das stimmhafte intervokalische / b/ entwickelt sich in der ganzen Romania zum labiodentalen Reibelaut / v/ : lat. hab ē re > it. avere , sp. haber , fr. avoir , vgl. LatRom Kap. 3.2.2. 40 Gebräuchlich sind nur einzelne Formen, z.B. ci-gît ,hier ruht‘. H habēre 39 ‚haben, halten‘ prohibēre ‚abhalten, (ver)hindern » verbieten‘ avere proibire [ tener ] haber prohibir avoir prohiber [ interdire ] to have to prohibit / to forbid I iacēre ‚liegen‘ imperāre ‚befehlen‘ Fw: Imperativ intellegĕre ‚wahrnehmen, erkennen, verstehen‘ īre ‚gehen‘ adīre ‚herangehen, aufsuchen‘ perīre ‚zugrunde gehen‘ trānsīre ‚hinübergehen‘ iūdicāre ‚(be)urteilen, entscheiden‘ giacere imperare l’imperativo intelligente (Adj.) adire perire il transito (Subst.) giudicare yacer imperar el imperativo inteligente ir adir perecer el tránsito juzgar gésir 40 l’impératif intelligent, -e j’irai (Futur) périr le transit juger - imperative intelligent - to perish transit to judge L laudāre ‚loben‘ lavāre ‚waschen‘ legĕre ‚(aus-, auf-)lesen‘ levāre ‚erleichtern, heben‘ loquī ‚sprechen, reden‘ lodare lodabile (Adj.) lavare leggere levare la locuzione (Subst.) laudable (Adj.) lavar leer levantar la locución louer louable (Adj.) laver lire lever la locution to laud ‚loben, preisen‘ laudable (Adj.) lavatory (Subst.) lecture (Subst.) to levitate ‚schweben‘ locution <?page no="136"?> 3.2 Lernwortschatz 137 41 Das Verb engl. to promise ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. prōmittere, -ō, prōmīsī, prōmissum. M manēre ‚bleiben, warten auf‘ permanēre ‚fortdauern‘ remanēre ‚zurückbleiben‘ minārī ‚drohen, bedrohen‘ (ad) mirarī ‚sich wundern, bewundern‘ mittĕre ‚(gehen) lassen, schicken‘ committĕre ‚zustande bringen, begehen, anvertrauen‘ prōmittĕre ‚versprechen‘ mōnstrāre ‚zeigen‘ morī ‚sterben‘ movēre ‚bewegen‘ mūtāre ‚ändern, wechseln‘ la mansione (Subst.) permanere permanente (Adj.) rimanere il rimanente (Subst.) minacciare ammirare mettere » ‚legen, setzen, stellen‘ commettere promettere mostrare morire muovere mutare la mansión (Subst.) permanecer permanente (Adj.) el remanente (Subst.) amenazar admirar meter ,hineintun, -legen‘ cometer prometer mostrar morir mover mudar la maison (Subst.) permanent, -e (Adj) rémanent , -e (Adj.) menacer admirer mettre commettre promettre montrer mourir mouvoir muter ,mutieren, jdn. versetzen‘ mansion (Subst.) permanent (Adj.) to remain remnant (Subst.) to menace to admire to put to commit to promise 41 to show to die to move to mutate N nāscī ‚geboren werden‘ negāre ‚verneinen, leugnen‘ nōmināre ‚(be)nennen‘ nūntiāre ‚melden‘ » annūntiāre ‚melden‘ nascere negare nominare annunciare nacer negar nombrar anunciar naître nier nommer annoncer to be born to deny to nominate to announce <?page no="137"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 138 42 Das Verb it. pressare ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. premĕre, -ō, pressī, pressum. 43 Das Verb fr. presser ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. premĕre, -ō, pressī, pressum. 44 Das Verb engl. to press ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. premĕre, -ō, pressī, pressum. O oblīvīscī ‚vergessen‘ > vlat. *oblitare occupāre ‚einnehmen, besetzen‘ ōrāre ‚reden; beten, bitten‘ orīrī ‚sich erheben, entstehen‘ obliare [ dimenticare ] occupare orare ‚beten‘ l’oriente ‚Osten, Morgen‘ olvidar ocupar orar el oriente oublier occuper adorer l’orient to forget ; ( oblivion ) to occupy to orate ‚reden‘ orient P parāre ‚(vor)bereiten, sich anschicken » abwehren‘ pārēre ‚gehorchen‘ appārēre ‚erscheinen, sich zeigen‘ parĕre ‚gebären‘ patī ‚leiden, dulden, zulassen‘ » patiēns ‚geduldig‘ Fw: Patient petĕre ‚zu erreichen suchen: eilen, erbitten; angreifen‘ Fw: Petition placēre ‚gefallen‘ pōnĕre ‚setzen, stellen, legen‘ posse » vlat . potēre ‚können‘ pollicērī ‚versprechen‘ (verdrängt durch prōmittĕre , s.o.) postulāre ‚fordern, verlangen‘ premĕre ‚drücken, pressen‘ parare » ‚abwehren‘ parere ,scheinen‘ apparire partorire patire ‚leiden‘ il/ la paziente la petizione (Subst.) piacere porre potere postulare premere/ pressare 42 parar » ‚abwehren, anhalten‘ parecer ,scheinen‘ aparecer parir padecer el/ la paciente pedir la petición placer poner poder postular ‚sich bewerben‘ [ apretar ] parer » ‚abwehren‘ paraître ,scheinen‘ apparaître pâtir le patient, la patiente la pétition plaire [ poser (< pausare )] pouvoir postuler presser 43 to parry » ‚abwehren‘ to appear - patient petition to please to post ‚aufstellen‘ [to be able to] to postulate to press 44 <?page no="138"?> 3.2 Lernwortschatz 139 45 Das Substantiv it. relitto ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. relinquĕre, -ō, relīquī, relictum. 46 Das Adjektiv sp. relictual ist zurückzuführen auf das PPP zu lat. relinquĕre, -ō, relīquī, relictum. 47 Das Substantiv fr. le reliquat gehört zur Wurzel bzw. zum Wortstock reli ( n ) qu- , wie auch das Substantiv lat. reliquiae (Pl.). pūgnāre ‚kämpfen‘ pugnare pugnace (Adj.) pugnar la pugnacidad (Subst.) pugnace (Adj.) to battle, to fight - Q quaerĕre ‚suchen, fragen‘ quĕrī ‚(be)klagen, sich beklagen‘ chiedere ‚fragen, bitten‘ la querela (Subst.) querer ‚wollen, lieben‘ la querella (Subst.) - la querelle (Subst.) to query ‚(aus-, be-) fragen‘ to quarrel quarrel (Subst.) R relinquĕre ‚zurücklassen, verlassen, hinterlassen‘ reperīre ‚(wieder)finden‘ respondēre ‚antworten‘ rīdēre ‚lachen‘ rogāre ‚fragen, bitten‘ interrogāre ‚(be)fragen » ausfragen‘ rumpĕre ‚brechen, sprengen‘ il relitto (Subst.) 45 il repertorio (Subst.) rispondere ridere interrogare rompere relictual (Adj.) 46 el repertorio responder reir rogar ‚bitten‘ interrogar romper le reliquat (Subst.) 47 le répertoire répondre rire interroger rompre to relinquish repertory to respond to deride ‚verlachen‘ to interrogate to break S salutāre ‚(be)grüßen‘ scīre ‚wissen, verstehen‘ (verdrängt durch sapĕre ‚schmecken,verstehen‘) scrībĕre ‚schreiben‘ sentīre ‚fühlen; meinen‘ sequī ‚folgen‘ (con) servāre ‚erhalten, bewahren‘ salutare sapere scrivere sentire seguire conservare saludar saber escribir sentir seguir conservar saluer savoir écrire sentir suivre conserver to salute [to know] to write to sense t o follow to conserve <?page no="139"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 140 sistĕre ‚zum Stehen bringen, sich stellen‘ assistĕre ‚herantreten, dabeistehen‘ cōnsistĕre ‚sich hinstellen; bestehen aus/ in‘ exsistĕre ‚heraustreten, entstehen‘ resistĕre ‚Widerstand leisten‘ solēre ‚gewohnt sein, pflegen‘ solvĕre ‚lösen; (be)zahlen‘ » exsolvĕre, resolvĕre stāre ‚stehen‘ statuĕre ‚aufstellen; festsetzen, beschließen‘ cōnstituĕre ‚aufstellen; festsetzen, beschließen » ‚gründen, bilden, einsetzen‘ sūmĕre ‚nehmen‘ cōnsūmĕre ‚verbrauchen‘ superāre ‚übertreffen, überwinden; übrig sein‘ assistere consistere esistere resistere solere sciogliere/ risolvere stare ‚stehen, sein‘ statuire costituire consumare superare asistir consistir existir resistir soler soltar/ resolver estar ‚stehen, sein‘ estatuir constituir consumir superar ‚übertreffen‘ sobrar ‚übrig bleiben‘ assister consister exister résister [ être habitué, -e ] résoudre [ être debout ] statuer constituer consumer, consommer - to assist to consist to exist to resist [to be used to] to solve to stand ‚stehen‘ to stay ‚stehen (bleiben)‘ to constitute to consume superable (Adj.) T temperāre ‚mäßigen‘ tendĕre ‚spannen, dehnen‘ temperare tendere templar tender tempérer tendre to temper to tend <?page no="140"?> 3.2 Lernwortschatz 141 contendĕre ‚sich anstrengen; eilen, kämpfen; behaupten‘ intendĕre ‚anspannen, beabsichtigen‘ ostendĕre ‚zeigen, darlegen‘ tenēre ‚haben, halten‘ sustinēre ‚stützen, aushalten‘ timēre ‚fürchten‘ trahĕre ‚ziehen, schleppen‘ contendere ‚streiten‘ intendere ‚verstehen, beabsichtigen‘ ostendere (veraltet) l’ostentazione (Subst.) tenere sostenere temere trarre contender ‚streiten‘ entender ‚verstehen, beabsichtigen‘ la ostentación (Subst.) tener sostener temer traer entendre ‚hören; beabsichtigen‘ l’ostentation (Subst.) tenir soutenir [ avoir peur ] traire ,melken‘ to contend to intend ‚beabsichtigen, meinen‘ ostentation (Subst.) to hold to sustain to fear - U ūtī ‚gebrauchen‘ usare usar/ utilizar user/ utiliser to use V valēre ‚gesund, wert sein, gelten‘ velle ‚wollen‘ » vlat. volēre venire ‚kommen‘ convenīre ‚zusammenkommen, passen‘ invenīre ‚finden, erfinden‘ pervenīre ‚(ans Ziel) gelangen‘ vidēre ‚sehen‘ vidērī ‚gesehen werden, scheinen‘ Fw: Vision vincĕre ‚siegen‘ vīvĕre ‚leben‘ vocāre ‚rufen, nennen‘ convocāre ‚(zusammen)rufen‘ valere volere venire convenire inventare pervenire vedere la visione (Subst.) vincere vivere convocare valer [ querer ] venir convenir inventar ver la visión vencer vivir convocar valoir vouloir venir convenir inventer parvenir voir la vision vaincre vivre convoquer will / to want to come to convene to invent to view vision to vanquish to live to convoke <?page no="141"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 142 Hat ein lateinisches Verb aus dem MW gar keinen Fortsetzer in den genannten modernen Sprachen, ist es für das interlinguale Erschließen nicht hilfreich. Die in dieser Tabelle daher ausgesparten Verben bzw. (defektiven) Verbformen lauten in alphabetischer Reihenfolge: ab ī re ‚weggehen‘ < a/ ab + ī re adesse ‚herangehen, aufsuchen‘ < ad + esse aio 48 ‚ich sage, behaupte‘ āmittĕre ‚wegschicken, verlieren‘ < a/ ab + mittĕre auferre ‚wegtragen, wegbringen‘ < a/ ab + ferre cōgĕre ‚zusammenbringen, zwingen‘ < con + agĕre discēdĕre ‚auseinandergehen, weggehen‘ < dis + cēdĕre emĕre ‚nehmen, kaufen‘ ēripĕre ‚herausreißen, entreißen‘ < ex + rapĕre fierī ‚werden, geschehen, gemacht werden‘ incipĕre ‚anfangen, beginnen‘ < in + capĕre inquam 49 ‚sage ich, sagte ich‘ interficĕre ‚töten‘ < inter + facĕre iubēre ‚befehlen‘ licet ‚es ist erlaubt‘ nescīre ‚nicht wissen‘ < nōn + scīre nolle ‚nicht wollen‘ < nōn + velle ‚wollen‘ oportet ‚es gehört sich, ist in Ordnung‘ proficisci ‚aufbrechen‘ redīre ‚zurückkehren‘ < rē - + īre 3.2.4 Kleine Wörter Die Bedeutungen der in diesem Unterkapitel aufgeführten Funktionswörter zu beherrschen ist aus Gründen der Lernökonomie erstrebenswert, da sie ihrer Frequenz wegen für das interlinguale Erschließen unverzichtbar sind. Viele von ihnen sind zudem indeklinabel, also in Form und Bedeutung stabil. Sie erscheinen in der Reihenfolge Adverbien, Präpositionen/ Präfixe, Pronomina, Zahlwörter. 48 Dieses Verb ist ein Defectivum, d.h. nur einzelne Formen sind gebräuchlich: im Präsens aiō, ais, ait (diese Form gilt auch als Indikativ Perfekt), aiunt ; das Imperfekt ist regelmäßig aiēbam etc. 49 Dieses Verb ist ein Defectivum, d.h. nur einzelne Formen sind gebräuchlich: im Präsens inquam, inquis, inquit, inquiunt , im Futur inquiēs, inquiet , im Perfekt inquiī . <?page no="142"?> 3.2 Lernwortschatz 143 3.2.4.1 Adverbien Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch bene ‚gut‘ melius ‚besser‘ optimē ‚am besten‘ bene meglio [ meglio di tutti ] bien mejor óptimamente bien mieux [ le mieux ] well better best ergo ‚also‘ - - - heri ‚gestern‘ ieri ayer hier yesterday magis ‚mehr‘ [ più ] más [ plus ] more minus ‚weniger‘ meno menos moins less multum 50 ‚viel‘ plūs ‚mehr‘ plūrimum ‚am meisten, das meiste, sehr viel‘ molto più il più, maggiormente mucho más lo más [ beaucoup ] (veraltet: moult ) plus [ le plus ] much more most paulum, (vlat. paucum ) ‚ein wenig‘ un po’, un poco un poco un peu a little satis ‚genug‘ Fw: Satisfaktion assai la soddisfazione la satisfacción assez la satisfaction satisfaction simul ‚zugleich‘ Fw: simultan simultaneo, -a simultáneo, -a simultané, -e simultaneous Das Adverb bene gehört bei EuroComRom zu den 35 häufigsten Präfixen; ergo wird in der deutschen Umgangs-/ Bildungssprache verwendet. Das Adverb heri hat ital., span., frz. Fortsetzer. Die Adverbien minus und plūs setzen sich im Italienischen, Spanischen und Französischen fort und kommen in der Fachsprache der Mathematik vor. Das Adverb satis hat ital., span., frz., engl. Fortsetzer in der Zusammensetzung mit facere , simul lebt weiter in frequenten Adjektiven. 50 Zur Komparation der Adjektive lat. bonus , malus , māgnus , parvus und des Adverbs multum vgl. LatRom Kap. 4.3.3. <?page no="143"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 144 3.2.4.2 Präpositionen bzw. gebundene Morpheme (Präfixe) 51 Präposition/ Präfix Bedeutung als Präposition Bedeutung als Präfix ā / ab / abs ‚von‘ ‚ab-, weg-‘ ad ‚zu, an, bei‘ ‚heran-‚ hinzu-‘ ante ‚vor‘ ‚vor(an)-, voraus-‘ cum ( con-, co- ) ‚mit‘ ‚zusammen-‘ contra ‚gegen‘ ‚entgegen-, wider-‘ dē ‚herab, über‘ ‚herab-, weg-‘ ē / ex ‚aus, heraus‘ ‚heraus-‘ in ‚in, auf, nach‘ ‚hinein-, auf-‘ inter ‚unter, zwischen‘ ‚(da)zwischen-, unter‘ ob ‚entgegen, wegen‘ ‚entgegen-, gegenüber-‘ per ‚(hin)durch‘ ‚durch-, völlig‘ post ‚nach‘ ‚nach-, hintan-‘ praeter ‚vorbei an, außer‘ ‚vorbei-, vorüber-‚ prō ‚vor, für‘ ‚hervor-, fort-, für-‘ sine ‚ohne‘ sub ‚unter‘ ‚(da)runter-, zu Hilfe-‘ super ‚über‘ ‚über-, übrig-‘ Nicht im Klett-Grundwortschatz 52 bei den wichtigsten Präpositionen, Adverbien oder Präfixen, aber bei EuroComRom unter den 35 häufigsten lateinisch basierten Präfixen 53 in der Romania genannt und daher auch zum MW gehörig sind: 51 Vgl. dazu LatRom Kap. 4.2.3. 52 Von den im Klett-Grundwortschatz als wichtige Präpositionen genannten wird im MW auf apud und propter verzichtet, da beide als Präfixe nicht hilfreich sind beim interlingualen Erschließen; sie erscheinen auch nicht bei EuroComRom in der Liste der häufigsten lateinisch basierten Präfixe. 53 Als häufigste, lateinisch basierte Präfixe in der Romania gelten: ā -/ ab -; a -/ ad -; ambi -; ante -; bene -; bi -; circum -; contra -; con / com -; dē -/ dēs -; dis -; extra -; in -/ im -; in -/ ne -; inter- ; intro / a -; multi -; ob -; pen -; per -; post -; prae -; praeter -; prō -; re -; retro -; sēmi -; sine -; sub -; super -; supra -; trāns -; tri -; ultra -; vice -, vgl. Klein/ Stegmann (2000: 140). <?page no="144"?> 3.2 Lernwortschatz 145 Präposition/ Präfix Bedeutung Bedeutung als Präfix dis-/ di- - ‚zer-, ver-, fort-, weg-, auseinander-, un-‘ intra ‚innerhalb, in … hinein‘ prae ‚vor‘ ‚voran-, voraus-‘ re- - ‚zurück-, wieder-‘ retrō ‚hinter‘ ‚zurück-‘ sēmi- - ‚halb-‚‘ supra ‚oberhalb, über … hinaus‘ ‚über-‚ trāns / trā ‚jenseits, hinüber‘ ‚hinüber-‘ ultrā ‚über … hinaus, jenseits‘ ‚jenseits‘ 3.2.4.3 Pronomina (vgl. LatRom Kap. 4.3.4) Die folgenden Tabellen zu Pronomina orientieren sich an den lateinischen Formbeständen. Romanische Entsprechungen werden nur dann aufgeführt, wenn sie die lateinischen Formen fortsetzen. Personalpronomina 54 Im Lateinischen gab es nur Personalpronomina der 1. und 2. Person, fortgesetzt haben sich v.a. deren Nominativ- und Akkusativ-Form. Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch ego (Nom) ‚ich‘ me (Akk) ‚mich‘ io me (betont), mi (unbetont) yo me je me tū (Nom) ‚du‘ tu tú tu tē (Akk) ‚dich‘ te (betont), ti (unbetont) te te nōs (Nom) ‚wir‘ noi nosotros, -as nous nōs (Akk) ‚uns‘ noi (betont), [ ci (unbetont)] nos nous vōs (Nom) ‚ihr‘ voi vosotros, -as vous vōs (Akk) ‚euch‘ voi (betont), [ vi (unbetont)] os vous 54 Vgl. LatRom Kap. 4.3.4 und 4.4.3 zu den Formen der Personalpronomina im klassischen Latein, im späteren Latein und in den romanischen Sprachen. <?page no="145"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 146 Possessivpronomina Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch meus, -a, -um ‚mein‘ mio, mia mi ( mío, mía ) mon, ma tuus, -a, -um ‚dein‘ tuo, tua tu ( tuyo, -ya ) ton, ta suus, a, -um ‚sein‘ suo, sua su ( suyo, -ya ) son, sa noster, -tra, -trum ‚unser‘ nostro, -a nuestro, -a notre, nos (Pl) vester, -tra, -trum ‚euer‘ vostro, -a vuestro, -a votre, vos (Pl) Demonstrativpronomina 55 Latein Italienisch Spanisch Französisch is, ea, id ‚er, sie, es‘ ‚der, die, das‘ - - h ī c, haec, hoc ‚dieser, diese, dieses hier‘ - - ille, illa, illud ‚jener, jene, jenes‘ lo, la quello, quella él, ella aquel, aquella celui-là, celle-là iste, ista, istud ‚dieser, diese, dieses da‘ questo, questa este, esta, esto [ afr. cist, ceste ] ce/ cet, cette tālis, -e ‚so beschaffen, solch ein‘ tale tal tel, -le tantus, -a, -um ‚so groß; so viel‘ tanto, -a tanto, -a tant Determinativpronomina (dazu ausführlicher LatRom Kap. 4.3.4) Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch is, ea, id ‚er, sie, es‘ ‚der, die, das‘ - - ī dem, eadem, idem ‚derselbe, dieselbe, dasselbe‘ - - ipse, ipsa, ipsum ‚selbst‘ esso, essa ese, esa, eso - 55 Vgl. LatRom Kap. 4.4.3 zu den romanischen Objekt- und Demonstrativpronomina. <?page no="146"?> 3.2 Lernwortschatz 147 Relativpronomina Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch qu ī , quae, quod ‚der, die, das‘; ‚welcher, welche, welches‘ chi che que qui que Korrelativpronomina (vgl. LatRom Kap. 4.3.4) Latein Demonstrativ Latein Relativ und interrogativ Italienisch Spanisch Französisch tantus, -a, -um ‚so groß‘ quantus, -a, -um ‚wie groß (? )‘ tanto/ quanto tanto/ cuanto tant tantum (subst.) ‚so viel‘ quantum ‚wie viel (? )‘ tanto/ quanto tanto/ cuanto (quant à) 56 tālis, -e ‚so beschaffen‘ quālis, -e ‚wie beschaffen (? )‘ tale/ quale tal/ cual tel/ quel tot (undekl.) ‚so viele‘ quot (undekl.) ‚wie viele (? )‘ - - - Interrogativpronomina (vgl. LatRom Kap. 4.3.4) Lateinisch substantivisch Italienisch Spanisch Französisch qu is? quid? ‚wer? was? ‘ chi? che? ¿quién? ¿qué? qui? que? qui est-ce qui? qu’est-ce qui? cūius? ‚wessen? ‘ di chi? ¿cuyo? de qui? cūi? ‚wem? ‘ a chi? ¿a quién? à qui? quem? quid? ‚wen? was? ‘ chi? che? ¿a quién? ¿qué? qui? que? qui est-ce que? qu’est-ce que? ā quō? ‚von wem? ‘ cum quō? ‚mit wem? ‘ da chi? con chi? ¿de quién? ¿con quién? de qui? avec qui? 56 Lat. quantum hat sich im Französischen nur in der Konstruktion quant à (‚was … betrifft‘) erhalten, wo es substantivisch gebraucht wird. <?page no="147"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 148 Indefinitpronomina (dazu ausführlicher LatRom Kap. 4.3.4) Gleichsam als Gegenteil zu den Demonstrativ- und Determinativpronomina fungieren die wörtlich ‚unbestimmten‘ (lat. indēfīnītus ) Pronomina. Von der Vielzahl der im klassischen Latein vorhandenen werden hier nur einige Formen aufgeführt, da sie zu den wenigen fortgesetzten Formen gehören, die sich v.a. im Spanischen erhalten haben. Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch aliquī, -quae, -quod (Nom) 57 aliquem (Akk) ‚irgendein‘ alguién quīvīs, quaevīs, quodvīs ‚jeder/ jede/ jedes beliebige‘ quienquiera ‚wer auch immer‘ quīlibet, quaelibet, quodlibet ‚jeder/ jede/ jedes beliebige‘ quienquiera ‚wer auch immer‘ - Die Synopse zu den Formen von ‚niemand‘ bzw. ‚nichts‘ ist folgende: Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch nēmō ‚niemand‘ nihil ‚nichts‘ nessuno niente nadie ninguno, -a nada ne … personne ne ... rien Wie in LatRom Kap. 4.3.4 zu den Pronomina dargelegt, verläuft die Grenze zwischen den adjektivisch gebrauchten Indefinitpronomina und den eigentlichen Pronominaladjektiven fließend. In der Tabelle zu den Adjektiven (oben in Kap. 3.2.2) wurden bereits alius, -a, -ud ‚ein anderer‘, alter, -era, -erum ‚der eine (von beiden), sōlus, -a, -um ‚allein‘, tōtus, -a, -um ‚ganz‘, ūnus, -a, -um ‚einer, ein einziger‘ genannt, da sie aufgrund ihrer Bedeutung nahe am ‚Eigenschaftswort‘ sind. Hier seien ergänzt: uter, utra, utrum ‚welcher von beiden‘, uterque, utraque, utrumque ‚jeder von beiden‘ und neuter, -tra, -trum ‚keiner (von beiden)‘ sowie ūllus, -a, -um ‚irgendeiner‘, nullus, -a, -um ‚keiner‘ und teils deren Fortsetzer: 57 Das Pronomen lat. aliquī , quae , quod wird adjektivisch gebraucht im Gegensatz zum substantivisch gebrauchten aliquis , aliquid ‚irgendein‘. <?page no="148"?> 3.2 Lernwortschatz 149 Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch neuter-tra, -trum ‚keiner (von beiden)‘ neutro, -a neutro, -a neutre (Adj.) nūllus, -a, -um ‚kein‘ nullo, -a ‚nichtig, ungültig‘ nulla (Adv.) ‚nichts‘ nulo, -a ‚nichtig, ungültig‘ nul, -le ‚nichtig, ungültig‘ 3.2.4.4 Zahlwörter 58 Zahl Lateinisch Italienisch Spanisch Französisch Englisch 1 ū nus, -a, -uno uno, -a uno, -a un, -e one 2 duo, duae, duo due dos deux two 3 tr ē s, tria tre tres trois three 4 quattuor quattro cuatro quatre four 5 qu ī nque cinque cinco cinq five 6 sex sei seis six six 7 septem sette siete sept seven 8 oct ō otto ocho huit eight 9 novem nove nueve neuf nine 10 decem dieci diez dix ten 11 ū ndecim undici once onze eleven 12 duodecim dodici doce douze twelve 20 v ī gint ī venti veinte vingt twenty 100 centum cento cien/ ciento cent hundred 1000 mī lle mille mil mille thousand Literaturangaben Freund, Stefan; Schröttel, Wolfram (2003): Non quot, sed qualia. Wortschatzstatistische Überlegungen zum Ausgangscorpus einer lateinischen Wortkunde. Forum Classicum 4, 200-205. Klein, Horst G.; Stegmann, Tilbert (2000): EuroComRom - die sieben Siebe. Romanische Sprachen sofort lesen können . Aachen: Shaker. Müller-Lancé, Johannes (2001): Thesen zur Zukunft des Lateinunterrichts aus der Sicht eines romanistischen Linguisten. Forum Classicum 2, 100-106. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (2012): Praktische Grammatik der italienischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. 58 Vgl. LatRom Kap. 4.3.5. Bei den englischen Zahlwörtern two , three und seven besteht zwar keine direkte Fortsetzung der lateinischen Entsprechungen, aber eine indirekte Verwandtschaft zu diesen über indogermanische Vorstufen. <?page no="149"?> 3. Lernwortschatz für Romanist*innen 150 Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchner. Siebel, Katrin (2017): Mehrsprachigkeit und Lateinunterricht. Überlegungen zum lateinischen Lernwortschatz . Göttingen: Bonn University Press (Verlag V & R unipress). Wortkunden Hermes, Eberhard ( 2 2014): Grund- und Aufbauwortschatz Latein . Leipzig/ Stuttgart/ Düsseldorf: Klett. Mader, Michael ( 4 2008). Lateinische Wortkunde für Alt- und Neusprachler. Der lateinische Grundwortschatz im Italienischen, Spanischen, Französischen und Englischen . Stuttgart: Kohlhammer. Utz, Clement (2006): adeo NORM. Das lateinische Basis-Vokabular . Bamberg: Buchner. <?page no="150"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 4.1 Allgemeine Vorbemerkungen Die bisherigen Kapitel unseres Übungsbuchs richteten sich primär an Lernende. Dieses vierte und letzte Kapitel hingegen ist in erster Linie für Lehrende gedacht, die erprobtes Material für einen universitären Lateinkurs suchen, der sich speziell an Romanist*innen wendet. Latein für Romanistik-Studierende , so lautet der Titel der Pflichtveranstaltung, die jedes Herbstsemester an der Universität Mannheim angeboten wird. An 14 Terminen werden im zweistündigen Unterricht (90 Minuten) wesentliche Inhalte aus dem Lehr- und Arbeitsbuch Latein für Romanist*innen (kurz: LatRom ) behandelt. An einem 15. Termin wird eine Abschlussklausur geschrieben. Die Auswahl des Stoffes lässt sich dabei in drei Teile gliedern: In einem ersten Teil (Kap. 4.4.1 bis 4.4.4) werden Grundlagen des klassischen Lateins vermittelt. Angesprochen werden hierbei vor allem diejenigen Studierenden, die in ihrer Schulzeit keinen Lateinunterricht hatten. Die ausgewählten Inhalte können jedoch lediglich als Einführung in die Funktionsweise des klassischen Lateins verstanden werden. Eine echte Übersetzungskompetenz wird nicht erlangt, zumal der Schwerpunkt dieses ersten Teils auf der Formenlehre und weniger auf der Syntax liegt. Mit häuslichen Übersetzungsaufgaben wird jedoch die Arbeit mit dem lateinisch-deutschen Wörterbuch und das Übersetzen leichter lateinischer Texte trainiert. Der zweite Teil der Veranstaltung (Kap. 4.4.5 bis 4.4.8) widmet sich dem Thema Vulgärlatein. Schwerpunkt ist dabei die historische Laut- und Formenlehre sowie der lexikalische Wandel. Damit schafft dieser Teil der Veranstaltung erste Grundlagen für etymologisches Arbeiten und fördert das Verständnis für sprachliche Konvergenzen und Divergenzen innerhalb der Romania. Auf Veränderungsprozesse im Bereich der Syntax sowie auf externe Sprachgeschichte kann allerdings nur sporadisch eingegangen werden. Im dritten Teil mit dem Titel „Was Latein- Lernende sonst noch wissen sollten“ (Kap. 4.4.9) werden vor allem allgemeinbildende Themen aus dem Lateinunterricht an Schulen (z.B. antike Mythologie) sowie weitere sprachliche Besonderheiten (z.B. altgriechische Prä- und Suffixe; romanische Bezeichnungen für die Wochentage) gestreift, die ebenfalls in Latein für Romanist*innen behandelt werden. <?page no="151"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 152 4.2 Umgang mit der Handreichung Die vorliegende Handreichung für Unterrichtende stellt einerseits eine Auswahl von Inhalten aus Latein für Romanist*innen dar und ist damit nur eine - subjektiv zusammengestellte, aber erfolgreich erprobte - „Zusammenfassung der Zusammenfassung“ für einen einsemestrigen Kurs von 14 Unterrichtseinheiten à zwei Stunden, andererseits bietet sie Arbeitsblätter und Übungstexte, die über das Übungsmaterial in Latein für Romanist*innen hinausgehen. Die Inhalte dieses Kurses ersetzen weder das umfassende Lehr- und Arbeitsbuch, auf das stets verwiesen wird, noch einen intensiven Lateinkurs, dessen Ziel die Übersetzungskompetenz klassischer lateinischer Texte ist. Es wird lediglich ein praktischer Vorschlag gemacht, wenn in kürzester Zeit Lateinkenntnisse erworben und für ein Romanistik-Studium fruchtbar gemacht werden sollen. Je nach Rahmenbedingungen - zum Beispiel, wenn die Inhalte auf zwei Semester verteilt werden können - lassen sich der Handreichung weitere Themen aus dem Lehr- und Arbeitsbuch hinzufügen. Die Einteilung der Handreichung in Teil 1 „Klassisches Latein“ und Teil 2 „Vulgärlatein“ ließe sich dabei leicht auf zwei Semester übertragen. Auch die Bereiche der Syntax und der externen Sprachgeschichte könnten dann beleuchtet werden. Jeweils im Anschluss an die Arbeitsblätter werden ergänzende Lernziele und weiterführende Erklärungen in den „Hinweisen für die Lehrperson“ genannt. Offen bleibt der Umgang mit dem lateinischen Wortschatz. Reicht die Arbeit mit dem Wörterbuch aus oder soll ein lateinischer Minimalwortschatz (vgl. Kapitel 3 in diesem Buch) auswendig gelernt werden? Letzteres würde bedeuten, dass in der Abschlussklausur nur die Vokabeln angegeben werden, die nicht zum definierten Minimalwortschatz gehören. 4.3 Zur Heterogenität der Lerngruppe Die Lerngruppe ist in vielfacher Hinsicht heterogen. Da es sich in Mannheim bei „Latein für Romanistik-Studierende“ um eine propädeutische Veranstaltung ohne ECTS-Punkte handelt, setzt sich die Lerngruppe meist aus Studierenden des ersten oder zweiten Semesters zusammen, die bereits Lateinkenntnisse aus der Schule mitbringen und solchen, die keinen Lateinunterricht hatten. Der erste Teil der Handreichung („Klassisches Latein“) stellt daher für die einen eine Wiederholung bekannter Inhalte dar, für andere ist er der Einstieg in eine neue Sprache. Erst der zweite Teil („Vulgärlatein“) ist für alle inhaltlich neu. Bei einem zweisemestrigen Angebot (s.o.) könnte man daher Studierende mit Lateinkenntnissen von Teil 1 entpflichten. Des Weiteren haben einige Studierende bereits die Einführung in die romanische Sprachwissenschaft absolviert, andere nicht. Begriffe wie „Morphem“, <?page no="152"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 153 „intervokalische Plosiva“, „Asterisk“, „diastratisch“, „analytisch“, „synthetisch“, „Ost- und Westromania“ usw. müssen daher stellenweise erst erklärt werden. Beim Verweis auf die romanischen Sprachen und beim Sprachvergleich ist zu beachten, dass die Sprachkenntnisse der Studierenden quantitativ und qualitativ unterschiedlich sind. Am häufigsten werden in Mannheim die Lehramtsfächer Spanisch und/ oder Französisch studiert, Italianist*innen stellen eine Minderheit dar. Eine zweite romanische Sprache wird zum Teil erst im Laufe des Studiums erlernt. Portugiesische oder rumänische Sprachkenntnisse sind selten. Um so mehr sollten die Inhalte der Veranstaltung auch im Sinne einer (romanischen) Mehrsprachigkeitsdidaktik vermittelt werden. Bei der Erstellung der Abschlussklausur sind die Aufgaben so zu konzipieren, dass sie die einzelnen romanischen Sprachen der Lerngruppe abdecken. Schließlich sei zur Heterogenität der Lerngruppe angemerkt, dass die klassische grammatische Terminologie aus dem Schulunterricht nicht immer abrufbar ist. So scheint es beispielsweise sinnvoll, bei den Übersetzungsaufgaben auf die Funktionen von Satzgliedern und ggf. auf terminologische Ungenauigkeiten explizit einzugehen (z.B. Subjekt nicht Substantiv, Genitivattribut statt sehr seltenem Genitivobjekt, adverbiale Bestimmung nicht einfach Ablativ, Prädikat nicht Verb u.ä.) oder bei der Bestimmung von Verbformen Begriffe wie „Modus“ oder „Diathese“ zu wiederholen. 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden Auf den folgenden Seiten werden die Inhalte der einsemestrigen Veranstaltung mit Arbeitsblättern für die Studierenden und kurzen Hinweisen für die Lehrperson wiedergegeben. Die eingerahmten Textfelder (Arbeitsblätter) ergeben das Skript für die universitäre Lehrveranstaltung. Lösungen zu bestimmten Aufgaben finden sich im letzten Kapitel der Handreichung (Kap. 4.4.9). <?page no="153"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 154 4.4.1 Erster lateinischer Text und klassische Aussprache des Lateinischen (s. LatRom Kap. 3.1.2) Arbeitsblatt 1: Eine Alltagsszene bei Claudia Claudia cum parentibus Romae habitat. Quinta hora tres amici veniunt et flores apportant. Mater amicis et aquam et panem et olivas servit. Olivae bonae sunt, sed panis siccus est. Pater intrat. Vinum dulce bibit et cantat. Tota familia ridet. Nunc pater dormit. Frater dicit: „Mihi placet arenam visitare et bestias videre.” Claudia respondet: „Arenam non amo. Bestiae horribiles sunt! ” Frater tristis est et clamat: „Claudia est bestia! ” Mater dicit: „Silentium! Melius est ad balnea ire. Vos invito.” Filia et filius contenti sunt. Hinweise für die Lehrperson: Die Studierenden sollen mit Hilfe Ihrer (romanischen) Fremdsprachenkenntnisse Inhalte des lateinischen Textes zunächst grob - danach detaillierter - verstehen können (Leseverstehen; Einzel- oder Partnerarbeit möglich; anschließend Besprechung im Plenum). Behandlung von Konvergenzen und Divergenzen des romanischen Wortschatzes z.B. le pain, il pane, el pan , aber fr les parents (vgl. eng. parents ), it. genitori ( parenti = ‚Verwandte‘), sp. los padres . Thematisierung von Sinn und Zweck der Beschäftigung mit der lateinischen Sprache; Bedeutsamkeit der Veranstaltung für die Studierenden. Lautes Vorlesen des Textes und Behandlung der Aussprache: a, e, i, o, u existieren als kurze und lange Vokale; da kurze und lange Vokale bedeutungsunterscheidend sind, stellen sie jeweils Phoneme des klassischen Lateins dar. Beweis: Minimalpaaranalyse, z.B.: langes a: mālum = ‚der Apfel‘ vs. kurzes a: mălum = ‚das Übel‘; langes o : ōs = ‚der Mund‘ vs. kurzes o: ŏs = ‚der Knochen‘; langes e: vēnit = ‚er kam‘ vs. kurzes e: vĕnit = ‚er kommt‘; Aussprache von / c/ (vgl. griech. Kikero); allgemeine Betonungsregel (paenultima-Gesetz). <?page no="154"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 155 4.4.2 Einführung in die Nominalmorphologie (s. LatRom Kap. 4.3) Arbeitsblatt 2: Deklination von Substantiven Verbformen: dare , vidēre , aperire , placet Substantive: amicus , cultellus , amica , cista , nox , donum Eigennamen: Marcus , Cornelia 1. Marcus Corneliam videt. 2. Corneliam Marcus videt. 3. Marcum Cornelia videt. 4. Cornelia Marco cistam dat. 5. Corneliae Marcus cistam dat. 6. Amica cistam amici aperit. 7. Cistam cultello aperit. 8. Cistam nocte aperit. Donum videt. Donum placet. Hinweise für die Lehrperson: Die Studierenden sollen zunächst mit Hilfe Ihrer (romanischen) Fremdsprachenkenntnisse den Wortschatz klären. Anschließend sollen für die Sätze 1-3 die Satzglieder bestimmt werden (Subjekt, Prädikat, Akkusativobjekt) und die Sätze übersetzt werden (vorherige Erläuterung: Verbendung -t = 3.P. Sg); Feststellung, dass das Lateinische eine postdeterminierende Sprache ist und die Satzstellung im Lateinischen daher frei (aber nicht willkürlich) ist. Sätze 4-6 beinhalten weitere Satzglieder: Dativobjekt und Genitivattribut; Einführung in die Endungen der a- und o-Deklination Singular exemplarisch für das gesamte Deklinationssystem (Vergleich mit deutscher Sprache). Satz 7: Ablativ als Kasus der adverbialen Bestimmung; aperit = ‚sie öffnet‘; Phänomen Subjekt im Prädikat/ Latein als pro-drop Sprache (vgl. Italienisch, Spanisch vs. Französisch, Deutsch). Satz 8: Thematisierung der 3. Deklination mit Problematik der Stammveränderung ( nox/ nocte ) und des unterschiedlichen Genus (Verweis auf Wörterbucheinträge); Existenz des Neutrums mit formgleichem Nominativ/ Akkusativ Plural auf -a. Die Studierenden lernen die Endungen der a-Deklination, der o-Deklination maskulin und neutrum sowie der konsonantischen Deklination (exemplarisch für die 3. Deklination) auswendig; auf die -e und -u -Deklination wird nicht eingegangen; Lerntabellen/ Übersichten in LatRom Kap. 4.3.2. <?page no="155"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 156 Arbeitsblatt 3: Übungen 1. Bestimmen Sie Deklinationsklasse, ggf. Genus und Bedeutung folgender Substantive, die zunächst im Nominativ Singular angegeben sind: annus, iustitia, opinio, miseria, director, admiratio, murus, nomen, monumentum 2. Bestimmen Sie nun den Kasus und Numerus: anno, iustitiam, opiniones, miseria, directorum, admirationis, muris, nomine, monumentorum 3. Setzen Sie mit Hilfe eines Wörterbuches folgende Nominative der 3. Deklination in den Akkusativ Singular. Notieren Sie auch das Genus. Vergleichen Sie danach die Ergebnisse mit den entsprechenden Substantiven Ihrer romanischen Sprache: pars, leo, pons, nox, finis. Hinweise für die Lehrperson: Zu Aufgabe 3: Akkusativ als Universalkasus, der für die Herleitung romanischer Nominalformen (meist) ausschlaggebend ist (besonders bei Wortstammveränderung in der 3. Deklination deutlich); häufige Genusübernahme aus dem Lateinischen (aber zahlreiche Ausnahmen und Divergenzen z.B. fr. la fin vs sp. el fin sowie it. il/ la fine mit Bedeutungsunterschied). Ggf. kurze Einführung in die lat.-dt. Wörterbucharbeit bezüglich lateinischer Substantive (Schwierigkeiten beim Nachschlagen aufgrund von Stammveränderung; Angaben beim Nomen). <?page no="156"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 157 Arbeitsblatt 4: Adjektive • Adjektive der a- und o-Deklination z.B. necessarius, -a, -um • Adjektive der 3. Deklination z.B. excellens ( -nt- ) Die Adjektive stimmen in Kasus, Numerus und Genus mit ihrem Bezugswort überein (KNG-Kongruenz). Beispiel: pars (f.) necessaria / excellens partis necessariae / excellentis parti necessariae / excellenti partem necessariam / excellentem parte necessaria / excellenti Aufgabe: Setzen Sie folgende Ausdrücke in den Akkusativ Singular und Plural: serva felix (Stammauslaut: -c- ) , dux ( -c- ) gloriosus, mulier mea (Anm.: meus, tuus, suus etc. = Possessivadjektive) Hinweise für die Lehrperson: Die Adjektive der i-Deklination werden vereinfachend als Adjektive der 3. Deklination dargestellt und die besonderen Endungen (Ablativ Singular auf i und Genitiv Plural auf ium ) kurz erwähnt. Auf die Besonderheiten 2-endiger und 3-endiger Adjektive sowie auf die Formen des Neutrums wird hier nicht eingegangen. Im Anschluss an das Thema Adjektive wird noch kurz auf die Bildung der Adverbien eingegangen: z.B. splendidus: splendide = ‚auf glanzvolle Weise/ glanzvoll‘; bonus: bene = ‚gut‘; sapiens: sapienter = ‚auf kluge Weise/ klug‘; fortis: fortiter = ‚auf tapfere Weise/ tapfer‘. <?page no="157"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 158 Arbeitsblatt 5: Übersetzung und weiterführende Aufgaben Übersetzung: Hodie tempestas bona est et sol lucet. Marcus et Iulia gaudent. Cantant et rident. Valeria, mater Marci et Iuliae, per fenestram spectat et liberos in aula ludere videt. Contenta est. Pater venit et uxorem interrogat: „Ubi est Syrus? “ Uxor respondet: „Syrus in agro sedule et constanter laborat. Syrus servus bonus et fortis est.“ Pater contentus est. Gaium amicum visitat et in tabernam invitat, ubi duo pocula vini bibunt. Post tres horas tabernam relinquunt et contenti domum contendunt. Aufgaben: 1. Setzen Sie folgende Formen in den Plural: respondet, laborat 2. Setzen Sie folgende Form in den Singular: gaudent 3. Setzen Sie folgenden Satz in den Plural: Servus bonus et fortis est. 4. Bestimmen Sie Kasus und Funktion von „ vini “ 5. Bestimmen Sie den unterstrichenen Satzteil: Valeria, mater Marci et Iuliae, 6. Bestimmen Sie die Wortart von „ ubi “ in Z.3 und „ ubi “ in Z.6 7. Erklären Sie den Gebrauch von „ contenta “ in Z3 und „ contenti “ in Z.7. 8. Wortschatzübung: Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Lat. Franz. Ital. Span. Port. hodie tempestas fenestra ridēre bibere spectare laborare <?page no="158"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 159 Arbeitsblatt 6: Steigerung von Adjektiven z.B. fortis - fortior - fortissimus, -a timidus - timidior - timidissimus, -a Sonderformen: parvus (‚klein‘) - minor - minimus,-a magnus (‚groß‘) - maior - maximus,-a bonus (‚gut‘) - melior - optimus,-a malus (‚schlecht‘) - peior - pessimus,-a Aufgabe: Inwieweit finden sich die lateinischen Komparativ- und Superlativendungen sowie die Sonderformen in Ihrer romanischen Sprache in Bezug auf Grammatik und/ oder Lexik wieder? Hinweise für die Lehrperson: Zur Aufgabe: z.B. it. una giornata bellissima / ottima , fr. la minorité / la majorité , sp. mejor que , un problema dificilísimo , port. uma mulher lindíssima , a velocidade máxima . Die Formen des Neutrums ( fortius - fortissimum ) werden aus Zeitgründen nicht behandelt. <?page no="159"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 160 Arbeitsblatt 7: Das Pronomen eine Auswahl an Formen Personalpronomina Nom. ego tu nos vos Dat. mihi tibi nobis vobis Akk. me te nos vos Aufgabe: Welche dieser Formen finden Sie in Ihrer romanischen Sprache wieder? Demonstrativa Nom. Sg. hic haec Nom. Sg. iste ista Akk. Sg. istum istam Nom. Sg. ille illa Akk. Sg. illum illam Akk. Pl. illos illas Aufgabe: Mit welchen Demonstrativa können Sie in Ihrer romanischen Sprache Nähe, mittlere Distanz und Ferne ausdrücken? Relativpronomina Nom. Sg. qui quae Gen. Sg. cuius cuius Dat. Sg. cui cui Akk. Sg. quem quam Aufgabe: Welche der vorliegenden Relativpronomina sind in Ihrer romanischen Sprache noch vorhanden? Wie werden sie verwendet? Interrogativpronomina: Quis? Quid? Cuius? Cui? Quem? Hinweise für die Lehrperson: Zu den Aufgaben: z.B. fr. il me / vous regarde , sp. este / ese / aquel coche ; it. questa / codesta (selten)/ quella macchina ; fr. cette voiture-là ; sp. que/ cuyo ; ¿Quien? ; it. che (aber: chi cerca trova ), cui ; fr. qui (Subjekt), que (Objekt); port. que , quem , cujo ; Quem? <?page no="160"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 161 Arbeitsblatt 8 1. Übersetzen Sie die Fabel. Dum corvus caseum de fenestra raptum comedit, vulpes illum inter folia arboris altae videt et dicit: „O quantum decoris in corpore et vultu tuo est! Nulla avis pulchrior est. Te admiror! Etiam(-ne) vox tua tam splendida est? “ Ille statim vocem suam demonstrat. Itaque ore caseum emittit, quem vulpes dentibus avidissimis celeriter accipit. Vulpes ridet, sed corvus stultus lacrimas maximas fundit. Z.1: raptum = Partizip Perfekt Passiv von rapĕre ; Z.3: admiror = ‚ich bewundere ‘ Aufgaben zum Übersetzungstext: 1 . „ caseum“ , „ corpore“ , „ vultu“ , „ dentibus“ : Wie lautet jeweils der Nominativ Singular? Welcher Kasus liegt jeweils vor? Was ist auffallend an der Form „ vultu“ ? 2. Welche Wortart liegt bei „ celeriter “ vor? 3. Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. corvus caseus comedĕre vulpes folium arbor corpus vultus vox dens lacrima avis 4. Viele lateinische Fabeln wurden von dem römischen Dichter Phaedrus verfasst. Wie heißt sein Vorgänger, der berühmte griechische Fabeldichter? Zu welcher Epoche der französischen Literaturgeschichte gehören die Fabeln von Jean de la Fontaine? Hinweise für die Lehrperson: Lösungen zu Aufgabe 3 und 4 siehe Kap. 4.4.10. <?page no="161"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 162 4.4.3 Einführung in die Verbalmorphologie (s. LatRom Kap. 4.5) Hinweise für die Lehrperson: Kurze Wiederholung grammatischer Termini: Person, Numerus, Modus, Tempus, Diathese. Kurze Erwähnung der 5 Konjugationsklassen: a (-āre), e (-ēre), i (ī re), gem. (-ĕre,-io), konsonantische (-ĕre,-o); Infinitive der e-Konjugation erkennt man daran, dass sie auf den Arbeitsblättern - außer in den Texten - mit einem Längezeichen markiert werden, z.B. monēre . Hinweis auf exemplarische Behandlung der Verbalmorphologie anhand der e- Konjugation am Beispiel von tenēre . Kurze Einführung in die Wörterbucharbeit bezüglich Verben (1.P.Sg oder Infinitiv/ Stämme). Arbeitsblatt 9: Beispiele für die e-Konjugation I) tenēre, teneo = sog. Präsensstamm Personenzeichen Aktiv: -o/ -s/ -t/ -mus/ -tis/ -nt (1. P. Sg. manchmal auch -m) Personenzeichen Passiv: -or/ -ris/ -tur/ -mur/ -mini/ -ntur (1. P. Sg. manchmal auch -r) z.B. tene-t tene-tur tene-ba-t (ba =Tempuszeichen Imperfekt Indikativ) tene-ba-tur tene-bi-t (bi = Tempuszeichen Futur in der a- und e-Konjugation) tene-bi-tur tene-a-t (a = Moduszeichen Konjunktiv Präsens außer a-Konjug.) tene-a-tur <?page no="162"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 163 II) tenēre, teneo, tenui = Perfektstamm z.B. für Indikativ Perfekt Aktiv mit folgenden Endungen -i/ -isti/ -it/ -imus/ -istis/ -ērunt z.B. Marcus Corneliam tenuit . = ‚Marcus hielt Cornelia fest.‘ Regelmäßige Bildung des Perfektstamms: are zu avi ; ēre zu ui ; ire zu ivi , z.B. audire , audiv-i,-isti usw. z.B. für Indikativ Plusquamperfekt Aktiv mit folgenden Endungen -eram/ -eras/ -erat/ -eramus/ -eratis/ -erant z.B. Marcus fures tenuerat . = ‚Marcus hatte die Diebe festgehalten.‘ III) tenēre, tenui, tentum = PPP oder Supinum z.B. für Indikativ Perfekt Passiv = PPP + sum/ es/ est/ sumus/ estis/ sunt z.B. Cornelia a Marco tenta est . = ‚Cornelia wurde von Marcus festgehalten.‘ (wörtl. ‚ist festgehalten worden.‘) Regelmäßige Bildung des PPP: are zu atum ; ēre zu etum ; ire zu itum z.B. audire auditum ( vgl. ital. cantare-cantato ; span. salir-salido ) z.B. für Indikativ Plusquamperfekt Passiv = PPP + eram, eras, erat usw. z.B. Fures a Marco tenti erant . = ‚Die Diebe waren von Marcus festgehalten worden.‘ Hinweise für die Lehrperson: Ggf. zu klären: Lateinisches Perfekt und lateinisches Imperfekt werden in Erzähltexten mit dem deutschen Präteritum wiedergegeben. Die unterschiedlichen Aspekte der beiden Zeiten (perfektiv vs. imperfektiv, vgl. romanische Sprachen) kommen daher im Deutschen meist nicht zum Ausdruck. Ggf. thematisieren: Unterschied zwischen passé simple/ indefinido/ passato remoto/ pretérito perfeito simples (direkt aus klassischem, lateinischem Perfekt) und den (aus dem Vulgärlatein stammenden) zusammengesetzten Perfektformen (passé composé, perfecto, passato prossimo, pretérito perfeito composto). <?page no="163"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 164 Arbeitsblatt 10: Übungen zur Konjugation 1. laudare, laudavi, laudatum = loben dissentire, dissensi, dissensum = nicht zustimmen monēre, monui, monitum = ermahnen Übersetzen Sie: Marcus… laudabat, laudat, laudabit, laudavit, laudatur, laudatus est, dissentit, dissensit, monitus est, monuit, monebatur, monebitur, monuerat 2. Übersetzen Sie mit Hilfe eines Wörterbuches folgende Formen: misit, divisit, ducamus, duximus, ridemus, riserunt, ridebamus, dederunt, audivit, audit 3. Erklären Sie, welche lateinische PPP-Form (mit Angabe des Infinitivs) jeweils zugrunde liegt. z.B. lat. auctor (‚Schöpfer‘) von auctum (PPP von augēre ‚vermehren‘) lat. victor, lat. scriptor, lat. rector, fr. le tracteur it. il motore, sp. la presión, port. um actor; dt. das Visum, dt. die Defensive, dt. der Advent, eng. to delete, eng. a fact 4. Wie lauten die entsprechenden lateinischen Formen von tenēre? sp. cantaban, comiste, tengas it. cantiamo, misero, credevamo fr. vous tenez, ils chantèrent, vous vendîtes port. viveste, cantavam, partamos <?page no="164"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 165 Arbeitsblatt 11 1. Übersetzen Sie den Text. Achten Sie auf die verschiedenen Tempora. Aliquando Hercules adulescentulus in trivio sedebat et de recta via vitae cogitabat. Subito duae feminae appropinquaverunt. Quamquam Hercules non interrogaverat, altera statim dixit: „Quid dubitas? Ego tibi rectam viam monstrabo. Si mecum (= cum me) ibis***, divitiis gaudiisque non carebis. Ita semper beatus eris*.“ Tum Hercules interrogavit: „Quis es? “ Femina respondit: „Inimici Vitium me apellant; ab amicis Voluptas vocor.“ Altera diu tacuerat. Nunc autem dixit: „Alteram viam tibi monstrabo. Quamquam aspera et ardua est, tamen recta est. Vita tua laboriosa et molesta erit*, si mecum ibis; sed gloriam aeternam habebis. Praemium dei sine cura et labore non dant. Si incolas terrarum a monstris liberaveris** et e magnis periculis servaveris**, gloria tibi erit* et deis amicus eris*. Ego sum Virtus.“ Non diu Hercules cogitabat. Asperam et arduam viam rectam esse iudicavit. Hinweise: Bei den mit * gekennzeichneten Verbformen handelt es sich um Futurformen von esse . Bei den mit ** gekennzeichneten Verbformen handelt es sich um Formen des Futur II. Regel: Steht im Hauptsatz Futur I, so steht im Nebensatz bei Vorzeitigkeit Futur II . *** ibis ist eine Form von ire = ,gehen'. Aufgaben: 1. Erläutern Sie den Gebrauch der Imperfekt- und Perfektformen. 2. Welche Bedeutung hat das Suffix osus (im Text: „ laboriosa “)? 3. Bestimmen Sie die im Text vorkommenden Nebensätze. 4. Vergleichen Sie lat. subito mit it. subito und lat. laborare mit fr. labourer . 5. Nennen Sie romanische Fortsetzer von lat. periculum . 6. Der Text enthält ein Adjektiv, von dem sich in seiner femininen Form ein Mädchenname ableitet. Welches? 7. Was versteht man heutzutage unter einer Herkulestat ? Erklären Sie auch folgende Begriffe im deutschen Sprachgebrauch: Sisyphusarbeit, Damokleschwert, Pyrrhussieg, Odyssee . 8. dei = ‚die Götter‘: Welche antiken Götter kennen Sie mit ihren griechischen und/ oder römischen Namen sowie ihren Funktionen und typischen Darstellungsmerkmalen (Attributen)? (vgl. auch LatRom Kap. 6.4.1) <?page no="165"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 166 Arbeitsblatt 12: Auswahl an unregelmäßigen Verbformen Das unregelmäßige Verb esse (‚sein‘) Ind. Präsens: sum, es, est, sumus, estis, sunt Ind. Imperfekt: eram, eras, erat, eramus, eratis, erant Ind. Perfekt: fui, fuisti, fuit, fuimus, fuistis, fuerunt Das unregelmäßige Verb posse (‚können‘): pot/ pos (‚fähig‘) + esse Ind. Präsens: possum, potes, potest, possumus, potestis, possunt Das unregelmäßige Verb ire (‚gehen‘) Ind. Präsens: eo, is, it, imus, itis, eunt Das unregelmäßige Verb velle (‚wollen‘) Ind. Präsens: volo, vis, vult, volumus, vultis, volunt Das unregelmäßige Verb „ ferre “ (‚tragen‘) Ind. Präsens: fero, fers, fert, ferimus, fertis, ferunt Übersetzen Sie. Achten Sie auf die unregelmäßigen Verben: Mane Marcus in silva est. Cistam fert, nam fungos colligere vult. Sed fungos invenire non potest. Meridie ad lacum it, ubi pisces videt. Manibus pisces capere studet, sed pisces celeriores sunt. Vespere domum sine fungis, sine piscibus redit et cunctis dicit: „Dies horribilis fuit.“ Arbeitsblatt 13 Übersetzen Sie den Text: Daedalus cum Icaro filio diu in Creta insula, ubi Minos regnat, in exilio vivit. Ibi regi labyrinthum construere debet. Opere perfecto Daedalus in patriam redire vult. Sed Minos dicit: „Insulam relinquere non potes, in insula remanere debes.“ Daedalus regem neque precibus movere neque clam fugere potest. Itaque novam rem invenit: pennas cum filio colligit et in turri castelli regii deponit. Etiam lignum et ceram comparat. His rebus alas ad volandum aptas facit. <?page no="166"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 167 Hodie dies fugae est. Pater et filius de turri saliunt et per aerem volant. Iam insula retro iacet. At filius plenus audaciae praecepta patris neglegit, iter medium relinquit, soli appropinquat. Sol ceram, quae pennas ligat, mollit et alas solvit. Itaque Icarus in mare cadit. Pater filium mortuum in insula sepelit et tristis in patriam redit. Aufgaben: 1. Welche Konstruktion liegt in „ opere perfecto “ vor? Geben Sie ein entsprechendes Beispiel aus einer romanischen Sprache an. 2. Welche Form liegt bei „ volandum “ vor? 3. Die Stelle an der Ikarus abgestürzt ist wurde in der Antike ikarisches Meer genannt. Wie nennt man eine Erzählung, die eine Realität religiös/ mythologisch erklärt? 4. Füllen Sie, soweit möglich, die freien Felder mit Wörtern aus, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, aber durchaus anderen Wortarten angehören dürfen. a) Verben: Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. vivere regnare construere dicere remanēre movēre fugere invenire colligere deponere facere volare <?page no="167"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 168 iacēre ligare cadere sepelire b) Adjektive: Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. novus aptus plenus mortuus c) Substantive: Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. insula exilium penna turris lignum patria ala sol cera Hinweis für die Lehrperson: Lösungen zu den Aufgaben siehe Kap.4.4.10. <?page no="168"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 169 4.4.4 Einführung in die Wortbildungslehre (s. LatRom Kap. 4.2) Hinweise für die Lehrperson: Behandlung ausgewählter Suffixe z.B. -tio, -tas, -tor, -trix, -ulus, -bilis, -icus, -osus Behandlung ausgewählter Präfixe z.B. a(b)-, ad-, ante-, circum-, con-, de-, dis-, e-, in-, inter-, ob-, per-, prae-, pro-, re-, sub-, trans- Arbeitsblatt 14: Aufgaben 1. Erschließen Sie die deutsche Bedeutung: cedere = ‚ gehen ‘ procedere = ponere = ‚ setzen ‘ componere, deponere = plac ē re = ‚ gefallen ‘ displicere = legere = ‚ sammeln ‘ colligere = ferre = ‚ tragen ‘ praeferre, transferre = migrare = ‚ wandern ‘ remigrare, immigrare = venire = ‚ kommen ‘ intervenire = verus = ‚ wahr ‘ veritas = iustus = ‚ gerecht ‘ iustitia = imperare = ‚ herrschen ‘ imperator, imperatrix = credere = ‚ glauben ‘ incredibilis = gloria = ‚ Ruhm ‘ gloriosus = 2. Welche lateinischen Präfixe/ Suffixe liegen zugrunde? frz. une actrice fameuse , élire , accéder , innovation span. anteceder , abstenerse , sinceridad , salvación it. direttore , impossibile , trasmettere , amministrazione port. retroceder , vendedor , contradizer , desleal Hinweis für die Lehrperson: Achtung: Konvergenzen und Divergenzen innerhalb der Romania z.B. lat. invitare zu fr. invitation , sp . invitación aber zu it. invito; port. convite . <?page no="169"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 170 4.4.5 Allgemeine Bemerkungen zum Vulgärlatein (s. LatRom Kap. 2.4) Hinweise für die Lehrperson: Kurze Einführung in die Thematik z.B.: sogenanntes Vulgärlatein, „vulgär“ nicht im heutigen Sinne, gesprochenes Latein; Nähesprache vs. Distanzsprache; diatopisch, diaphasisch, diastratisch und diachronisch markiert ( sermo cotidianus , familiaris , plebeius , vulgaris , rusticus , peregrinus ); von der klassischen Schriftnorm abweichend; Entwicklung/ Ausgliederung zu den romanischen Varietäten, Strata- Theorie nach Ascoli, vom Substandard zum Standard (Franzisch, Florentinisch, Kastilisch, Galicisch); Quellen des sog. Vulgärlateins inkl. Problematik, Rekonstruktionsmethode (*Asterisk). Möglicherweise können bestimmte Inhalte - auch das folgende Kapitel - als (teilweise) bekannt vorausgesetzt werden, wenn die Lerngruppe bereits an einer Einführungsveranstaltung in die romanische Sprachwissenschaft teilgenommen hat. Hierzu sollte die Lehrperson die Inhalte der Einführungsveranstaltung kennen. 4.4.6 Phonetische Prozesse im Vulgärlatein (s. LatRom Kap. 3.2) Arbeitsblatt 15: Auswahl an lautlichen Veränderungen Auslautendes -m und -t verstummen monumentu (m) zu monumentu : vgl. it. monumento vgl. fr . monument (mit Schwund des Endsilbenvokals) Aber bei wenigen Einsilbern bleibt m erhalten, z.B. cum zu it. con ; quem zu port. quem ama (t) zu ama : vgl. sp. ama vgl. fr. aime (auslautendes - a wird im Französischen zu e ) hwird nicht mehr aspiriert honore ( m ) zu it. onore (aber auch etymologisierende Schreibweisen vorhanden: sp. el honor , fr. l’honneur ) Monophthongierung lateinischer Diphthonge oe, ae → e z.B. poena ( m ) → vlat. pena vgl. port. pena <?page no="170"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 171 au → o z.B . auru(m) → vlat * oru vgl. sp. oro ; port. ouro (au zu ou) Quantitätenkollaps ῑ ῐ ē ĕ ā ă ŏ ō ŭ ū | V | | | V | i e e a o o u [e] [ Ɛ ] [ Ɔ ] [o] Diphthongierungsprozesse in den romanischen Sprachen Diphthongierungen zum Französischen (vereinfacht) offenes e, betont, in offener Silbe: zu ie, z.B. lat. pedem (Akk.), fr. pied; geschlossenes e betont, in offener Silbe: zu ei, dann oi z.B. lat. vῐa(m), *vea, afr. veie , fr. voie ; o betont, in offener Silbe: zu eu z.B. lat. gŭla(m) , *go-la , fr. gueule; o betont, in geschlossener Silbe: zu ou z.B. lat. ŭrsu(m), *or-su , fr. ours außerdem: a betont, in offener Silbe: zu e, dann a, z.B. lat. cla-ru(m) , cle-r(u), fr. clair; des Weiteren: -or zu nfr. (o)eur, z.B. lat. cor - fr. cœur ; lat. senator - fr. sénateur Diphthongierungen zum Italienischen offenes e betont, in offener Silbe: zu ie, z.B. lat. hĕri , * he-ri , it. ieri offenes o betont, in offener Silbe: zu uo, z.B. lat . fŏcu(m) , * fo-cu , it. fuoco Diphthongierungen zum Spanischen offenes e betont: zu ie, z.B. lat. tĕrra(m) zu sp. tierra offenes o betont: zu ue, z.B. lat. mŏrte(m) zu sp. muerte Quantitäten ī ĭ + ē ĕ ā + ă ŏ ō + ŭ ū Qualitäten i e [e] e [Ɛ] a o [Ɔ ] o [o] u Spanisch betonte Silbe ie ue Italienisch betonte+ offene Silbe ie uo Französisch betonte+ offene Silbe ei/ oi ie ai (unbetontes a wird zu e) eu (in geschlossener Silbe zu ou) <?page no="171"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 172 Auslautregel lat. -u zu sp./ port./ it. -o; fr. Apokope (z.B. lat. muru ( m ) zu fr. mur ) lat. -a zu sp./ port./ it. -a; fr. -e (z.B. lat. porta zu fr . porte ) Synkopierungen (Wegfall unbetonter Zwischenvokale) lat. vir-i-de ( m ) zu vir-de ( m ) z.B. port. verde prothetisches i/ e bei s + Konsonant (eher Westromania) z.B. lat. schŏla ( m ) zu vlat. scola zu it. scuola aber mit prothetischem e zu sp. escuela , fr . école , port. escola (fr. mit Schwund des -s-) -nszu -s-: lat. spo ( n ) sa ( m ) zu vlat. sposa zu it. sposa , fr. épouse , sp./ port. esposa ; mögliche Nasalierung in klassischer Zeit vgl. consul in Inschriften: COS Palatalisierungen (Beispiele) klat. vlat. Lat. Ital. Span. Franz. Port. -ti- -tsnatione(m) ratione(m) platea(m) nazione ragione piazza nación razón plaza nation raison place naç-o raz-o praça -li- -ljmeliore(m) filia(m) migliore figlia mejor hija meilleur fille melhor filha -ne- -ni- -njvinea(m) seniore(m) vigna signore viña señor vigne seigneur vinha senhor c+e,i ts centu(m) cento ciento cent cento/ cem Westromanische Entwicklungen vs. ostromanische Entwicklungen Intervokalische Verschlusslaute (p,t,k) sonorisieren zu b,d,g (Spanisch) bzw. können schwinden (Französisch). In der Ostromania bleiben sie in der Regel erhalten (Italienisch). z.B. vlat . focu ( m ): it . fuoco sp. f uego , port. fogo fr. feu z.B. vlat. sapere : it. sapere sp./ port. saber fr. savoir Besonderheiten z.B. lat. audire - port. ouvir , lat. arbore - port. árvore ; lat. lacum - it. lago <?page no="172"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 173 Auslautendes -s nur in der Westromania (im Frz. nur graphisch! ) z.B. lat. tenes : sp. tienes fr. tiens (it. tieni ) z.B. lat. amicas : sp. amigas fr. amies (it. amiche ) Phonetische Prozesse nach romanischen Sprachen sortiert Latein Italienisch plclflplacet claru(m) flamma(m) piace chiaro fiamma -ctnocte(m) notte Latein Spanisch pl-, clplenu(m) clave(m) lleno llave ffacere hacer i(j), -li- -xiuvene(m), filiu(m) exemplum joven, hijo ejemplo -ctocto ocho Graphisch bedeutsam: lat. frequente(m) zu sp. frecuente ; lat. eloquentia(m) zu sp. elocuencia Latein Französisch cacantare chanter Vok+s hospitalem hôpital -ctfactu(m) fait Latein Portugiesisch plclplorare clave(m) chorar chave Schwund des intervokalischen -n- und -lcolore salire venire manu(m) cor (f.) sair vir m-o -ctfactum feito <?page no="173"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 174 Weitere phonetische Prozesse (allgemein) Assimilation Anpassung eines Lautes an den benachbarten septem it. sette Dissimilation „Ungleichmachung“ zweier identischer Laute in einem Wort peregrinus fr. pèlerin Rhotazismus Wandel eines Konsonanten zu / r/ Valesius Valerius Metathese Lautvertauschung formaticu(m) semper fr. fromage span. siempre Apokope Tilgung(en) am Wortende voc(e)m sp. voz Synkope Tilgung(en) im Wort bon(ita)tem fr. bonté Prokope Tilgung(en) am Wortanfang (e)vangelium it. vangelo Degeminierung Reduktion von Doppelkonsonanten flamma(m) sp. llama Hinweise für die Lehrperson: Weitere Übungen zu den Lautgesetzen finden sich in LatRom Kap. 3.4 und in Kapitel 2 dieses Buches. Zusätzliche Themen: Zur Problematik Graphie vs. lautliche Entwicklung/ Aussprache; etymologische Schreibweise/ Relatinisierungsprozesse in der Sprachgeschichte; Phänomen von Abschreibfehlern, Änderungen, Hyperkorrektismen in der Textüberlieferung. <?page no="174"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 175 Arbeitsblatt 16: Übungen zum Lautwandel 1. Vollziehen Sie die lautlichen Entwicklungen in Schritten nach: lat. caballus zu fr. cheval lat. credere zu fr. croire lat. filius zu sp. hijo lat. status zu sp. estado lat. mittere zu it. mettere lat. transcurrere zu it. trascorrere lat. plenus zu port. cheio lat. nox zu port. noite 2. Benennen Sie den phonetischen Prozess: lat. dictare it. dettare vlt. rabia (statt: kl. rabies ) - port. raiva lat. mos - Genitiv: moris lat. virtute ( m ) - virtù lat. venenum - it. veleno 3. Ordnen Sie, soweit es Ihnen möglich ist, die folgenden Wörter den jeweiligen Sprachen in einer Tabelle zu (bei den lateinischen Substantiven und Adjektiven ist der Schlusskonsonant des Akkusativs nicht angegeben): puerta, pede, veine, pie, estrecho, voar, escribir, cheio, dolore, llover, ridere, moneda, chiamare, plorare, stretto, pé, pluie, blanco, llorar, nuez, sinu, dolore, pecho, cair, volare, escrever, cadere, bien, plenu, caer, plomb, pectu, chiave, dor, noce, rire, branco, bem, familia, sein, uovo, pleurer, ovu, oito, ovo, huevo, reir, cheveu, família, capillu, chuva, clave, piede, clamare, cabello, chama, fiamma, noix, capello, cabelo, pied, schola Latein Franz. Span. Ital. Port. puerta pede(m) usw. 4. Ergänzen Sie anschließend, soweit es Ihnen möglich ist, die Tabelle und beschreiben Sie - vom Lateinischen ausgehend - die lautlichen Prozesse. Hinweise für die Lehrperson: Aufgabe 3 u. 4 auch als Einstieg in die historische Lautlehre verwendbar; Lösungen dazu in Kap. 4.4.10. (s.u.) <?page no="175"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 176 Arbeitsblatt 17: Übersetzungstext Asterix und Obelix Gallia a Romanis occupata est. Sed Romani sciunt non totam Galliam victam esse. Vicus quidam Romanis resistit. Isti Galli fortissimi sunt et semper ad Romanos aggrediendos parati sunt. Nam Druida illis potionem magicam facit. Sed Obelix, qui inseparabilis amicus Asterigis est, potionem magicam a Druida factam bibere non debet. Caesar optat, ut Romani Druidam capere possint. Putat: „Si milites mei potionem magicam haberent, Gallos vincere possent.“ Hodie milites Romani druidam in silva herbas colligentem inveniunt … Aufgaben: 1. Wie heißt der Infinitiv Präsens Aktiv zu „ victam“ ? 2. Welches französische (und englische) Wort leitet sich von „ potione ( m )” ab? Mit welcher Bedeutungsveränderung? Was ist bezüglich des Genus zu bemerken? 3. Welche Satzkonstruktion liegt bei „ potionem magicam a Druida factam“ und „ druidam in silva herbas colligentem“ vor? Setzen Sie die unterstrichenen Teile in den Plural. 4. Um welchen Typ von Konditionalsatz handelt es sich bei „ Si milites mei potionem magicam haberent, Gallos vincere possent .“ Nach welchen grammatischen Regeln werden in Ihrer romanischen Sprache Konditionalsätze gebildet (Modus- und Tempusgebrauch im Vorder- und Hauptsatz)? 5. Nennen Sie die romanischen Ergebnisse von lat. „ bibere“ und „ debēre“ . <?page no="176"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 177 4.4.7 Morphosyntaktische Prozesse im Vulgärlatein (s. LatRom Kap. 4.4 und Kap. 4.6) Arbeitsblatt 18: Auswahl an morphosyntaktischen Veränderungen 1. Zur Nominalmorphologie: Vereinfachung/ Reduktion der fünf Deklinationsklassen zu dreien u-Dekl. → o-Dekl. ( senatus , ūs , m → senatus, -i, m ) e-Dekl. → a-Dekl. ( materies, -ei, f → materia, -ae, f ) Es bleiben: o-, a- und dritte Deklination Anmerkung zu den Deklinationsklassen in den romanischen Sprachen: Ital.: -o, -a, -e (lat. 3.Dekl.); Span./ Port.: -o, -a, -sonstige Endungen (lat. 3.Dekl.); Franz.: Endung auf -Kons. (meist von lat. o-Dekl.), -e (meist von lat. a-Dekl.), sonstige Endungen (meist von lat. 3.Dekl.) Verlust des Neutrums lat. vinum (n.Sg.)→ vlat. vinu (m.Sg.) vgl. it . il vino aber: lat. folium → folia (n.Pl.) → vlat. folia (f.Sg.) vgl. sp. hoja Interessant: lat. brachium zu it . il braccio , aber Plural: it. le braccia Kasusreduktion/ Verwendung von Präpositionen Akkusativform als Universalkasus Subjekt oder Objekt durch SVO markiert* Nom. casa mons vlat. casa, monte** Gen. casae montis vlat. de casa, de monte Dat. casae monti vlat. ad casa, ad monte Akk. casa(m) monte(m) vlat. casa, monte Abl. casa monte vlat. in casa, in monte von der Postzur Prädetermination, von der Synthese zur Analyse *teilromanische Besonderheit: vlat. Video ad fratrem vgl. sp. Veo al hermano . (südit. dial. chiama a Luigi , rum . iubesc pe Andrea ) **Aber: vom Nominativ abgeleitete Formen z.B. sp. Dios ( deus ); it. uomo ( homo ); fr. soeur ( soror ) Analytische Bildung des Komparativs: vlat. nobile ( m ) - magis nobile bzw. plus nobile ille / illa als Vorläufer des bestimmten Artikels und des Pronomens der 3. Person Singular z.B. lat. il -( le ) zu sp. el , it. il - aber: lat. ( il ) lum zu it. lo , port. O <?page no="177"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 178 Neue Demonstrativa: z.B. ecce+illa = (ec)ce+illa = cilla zu it. quella , fr . celle(-ci) z.B. *acce+illa = ac(ce)+illa = acilla zu sp. aquella ; port. aquela z.B. ecce+ista = (ec)ce+ista = cista zu it. questa , fr. cette (afrz . ceste ) 2. Zur Verbalmorphologie: Bildung analytischer Verbformen z.B. Futur I Aktiv Klat. Cras laborabo . (‚morgen werde ich arbeiten‘) Vlat. De mane laborare habeo . → Grammatikalisierung der Periphrase Infinitiv + habēre vgl. fr.: Demain je travaillerai (= travailler + ai ) z.B. Indikativ Perfekt Aktiv Klat. Librum legi. (‚ich habe ein Buch gelesen/ ich las ein Buch‘) Vlat. Librum lectum habeo. / Librum habeo lectum . → Grammatikalisierung der Periphrase habēre +PPP vgl. sp.: He leído el libro . Anmerkungen: Das klassische Perfekt lebt jedoch in den Formen des passato remoto / passé simple/ preterido indefinido/ pretérito perfeito simples fort. Diatopische Divergenzen im Vulgärlateinischen sind anzunehmen: Hispanien: * habeo venitu ( he venido ), Italien/ Gallien: * sum venutu ( sono venuto , je suis venu ) 3. Weitere Veränderungen: Adverbienbildung Klat.: Adverbienbildung mit e bzw. -( i ) ter Vlat.: Ablativ von mens,-tis (f.) = ‚Geist‘ (‚Weise‘) + Adjektiv (weibliche Form, da mens feminin) z.B. vlat. lenta mente = ‚auf langsame Art/ Weise‘ → Grammatikalisierung der Periphrase Adjektiv + mens vgl. it./ sp./ port . lentamente , frz. lentement Hinweise für die Lehrperson: Bei ausreichender Zeit: Entwicklung der klassischen Konjugationsklassen zu den romanischen Fortsetzern ( LatRom Kap. 4.6.1) z.B. lat. cantare zu fr. chanter; lat. scribere zu fr. écrire, sp. escribir, port. escrever. <?page no="178"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 179 Arbeitsblatt 19: Konstruierte Textbeispiele zum Vulgärlatein Übersetzen Sie folgende Geschichte: Asinu saccu plenu de sale transportans fluviu transit. Subito in aqua cadit. Sal se solvit . Et quando asinu denuo se erigere potet et se plus levis sentit, multu laetu est. Paulo post asinu denuo ad fluviu stat sed nunc cum saccu de spongias plenu. Iocu repetere in animo habet et consulto in aqua cadit. Spongiae cum aqua se implent et multu graves sunt. Asinu se erigere non iam potet et fluctu illu submergit. Übersetzen Sie die konstruierten Dialoge: A: De unde venis? B: De casa de fratellu. Nunc ad mercatu vado. Si voles, etiam tibi pane et lacte comp(a)rare poteo. A: Gratia tibi ago, sed vaccae et caprae meae multu lacte bonu dan(t). Etiam satis pane (h)abeo. *A: Hodie quinque horas cum caballu in agro laboratu (h)abeo. Fratellu meu etiamnunc in agro sta(t) laborando. B: Vita nostra dura es(t). De mane multas horas in (h)orto laborare (h)abeo. *A: Aqua in lacu/ lagu ad nandum/ natandum valde frigda fui(t). B: Sic. Et fui(t) ventu forte... Iam dolore in gula/ gola sentio. *A: Ubi Marcus es(t)? B: Ille (h)odie in civitate adripa(t). Causa rapida mente finire queri(t). *A: Quis totu formaticu et totas pessicas manducatu (h)abe(t)? B: Nemo! Non sapis quod mures in casa (h)abemus? *A: Nec comprehendo passum. B: Per quid non magistra interrogas? A: Magistra multu severa es(t). Mi(hi) non place(t) interrogare (il)la. B: Crede mi(hi). Magistru nostru magis/ plus severu es(t) quam ista. Benennen Sie mindestens zehn vulgärlateinische Phänomene aus den vorliegenden Texten. <?page no="179"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 180 4.4.8 Zum lateinischen Wortschatz (s. LatRom Kap. 6.1-6.4) Arbeitsblatt 20: Einflüsse und Entwicklungen in der Lexik 1. Griechischer Einfluss auf den lateinischen Wortschatz seit der Antike bis zum Christentum (teils gelehrt, teils volkstümlich) z.B. gr. theatron lat. theatrum → sp. el teatro gr. barbaros lat. barbarus → fr. le barbare gr. ecclesia lat. ecclesia / vlat. * clesa → sp. la iglesia / it. la chiesa gr. theios vlat. thius → it. lo zio (lat. avunculus → fr. oncle ) gr. parabolé lat. parabola (‚Gleichnis‘)→ vlat. Verb: parabolare (‚sprechen‘) → fr. parler 2. Keltischer und germanischer Einfluss zur Zeit der Römer in wenigen lateinischen Vokabeln z.B. kelt.-lat. carrus → sp. carro kelt.-lat. cerevisia → sp. cerveza kelt.-lat. camisia → fr. chemise germ.-lat. burgus → it. borgo 3. Auswahl an Besonderheiten des vulgärlateinischen Wortschatzes 3.1 verbum → verbum compositum edere → comedere (‚aufessen‘) z.B. sp. u. port. comer initiare → * cominitiare z.B. it. cominciare , fr. commencer , sp. comenzar , port. começar 3.2 unregelmäßiges Verb ersetzt durch regelmäßiges Verb ferre → portare z.B. fr. porter ire → vadere z.B. port. vamos (aber Infinitiv ir ; Phänomen des Synkretismus) posse → potere z.B. sp. poder velle → volere z.B. it. volere <?page no="180"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 181 3.3. kurzes Wort ersetzt durch längeres/ lautstärkeres vir → lat. homine ( m ), z.B. port. homem , fr. homme , sp. hombre , it. uomo (< lat. homo ) res → lat. causa , z.B. it. cosa , sp. cosa , port. coisa , fr. chose urbs → lat. civitate ( m ), z.B. it. città , sp. ciudad . port. cidade 3.4. Verwendung (affektiver) Diminutivformen frater → lat. fratellu , vgl. z.B it. fratello auris → auricula , vgl. z.B. fr. oreille , it. orecchio , sp. oreja , port. orelha apis → apicula , vgl. z.B. fr. abeille , sp. abeja , port. abelha (aber it. ape ) 3.5. Bedeutungserweiterungen (Generalisierung) casa (‚Hütte/ Häuschen‘) zu ‚Haus‘ (it., sp., port.) 3.6. Bedeutungsverengungen (Spezialisierung) laborare (‚arbeiten‘) zu fr. labourer (‚pflügen‘) 3.7. Bedeutungsverschiebung lat. mittere (‚schicken‘) zu it. mettere u. fr. mettre (‚setzen, stellen, legen‘); sp. und port. meter (‚hineintun, hineinstecken‘) lat. coxa (‚Hüfte‘) zu it. coscia , fr. cuisse (‚Oberschenkel‘) lat. bucca (‚Backe‘) zu fr. bouche , it. bocca , sp./ port. boca (‚Mund‘) lat. testa (‚Tonkrug‘) für caput (‚Kopf‘), z.B. it. testa , fr. tête , aber port. testa (‚Stirn‘) 3.8. Gebrauch von Ellipsen ( caseu ) formaticu zu it. formaggio , fr. fromage 3.9. Gebrauch expressiver Wörter lat. edere → manducare (‚kauen, beißen‘) zu it. mangiare , fr. manger (‚essen‘) lat. caballus (‚Arbeitspferd, Gaul‘) zu sp. caballo , port. cavalo , it. cavallo , fr. cheval (‚Pferd‘) Hinweise für die Lehrperson: Möglicher Exkurs: Romanische Sprachgeographie und Sprachatlanten <?page no="181"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 182 4.4.9 Was Latein-Lernende sonst noch wissen sollten (z.T. LatRom Kap. 6.4) Arbeitsblatt 21: Was Latein-Lernende sonst noch wissen sollten 1. Exkurs Mythologie und Religion in der Antike: die Griechisch-Römische Götterwelt vgl. auch Arbeitsblatt 11/ Aufgabe 8 2. Romanische Bezeichnungen für die Wochentage Mo Lunae dies z.B. frz. lundi Di Martis dies z.B. ital. martedì Mi Mercuri dies z.B. span. miércoles Do Iovis dies z.B. ital. giovedì Fr Veneris dies z.B. frz. vendredi Sa sa(mb)batum z.B. span. sábado So dominica dies z.B. ital. domenica 3. Literaturwissenschaftlicher Exkurs: Das antike Epos: Anmerkungen zur „Ilias“, „Odyssee“ und „Aeneis“ 4. Exkurs: Ovids Metamorphosen - Rezeption in Literatur, Musik und Bildender Kunst am Beispiel von „Pyramus und Thisbe“ (Shakespeare), „Orpheus und Eurydike“ (Offenbach) und „Apoll und Daphne“ (Bernini) 5. Altgriechische Präfixe und Suffixe (Aufgabe: Setzen Sie die deutsche Bedeutung ein) hyper- = : hyperventilieren -itis = : Arthritis hypo- = : Hypotenuse -logos = : Psychologie auto- = : Autodidakt -phil = : hydrophil dia- = : diachronisch -phob = : xenophob meta- = : Metaphysik -theka = : Bibliothek poly- = : polygam mikro- = : Mikroskop makro- = : Makrookönomie 6. Lateinische Kardinalzahlen/ Ordinalzahlen: unus, duo, tres, quattuor, quinque, sex, septem, octo, novem, decem (‚1- 10‘) primus, secundus, tertius, quartus, quintus, sextus, septimus, octavus, nonus, decimus (‚1. - 10.‘) <?page no="182"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 183 7. Lateinische Zitate / Wendungen (vgl. LatRom Kap. 6.4.5) carpe diem = nutze den Tag cogito, ergo sum = ich denke, also bin ich homo homini lupus = der Mensch ist dem Menschen ein Wolf in dubio pro reo = im Zweifel für den Angeklagten in medias res = mitten in die Thematik hinein / gleich zur Sache kommen in vino veritas = im Wein liegt die Wahrheit mens sana in corpore sano = ein gesunder Geist in einem gesunden Körper non scholae, sed vitae discimus = nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir si tacuisses, philosophus mansisses = wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein weiser Mann geblieben ultima ratio = die letzte Möglichkeit, das letzte Mittel variatio delectat = Abwechslung erfreut veni, vidi, vici = ich kam, sah und siegte 8. Aufgabe: Erklären Sie die lateinischen Abkürzungen: cf., etc., e.g., i.e., ibid., p.s., vs. 9. Korrekter Gebrauch des Artikels bei Fachbegriffen lateinischer Herkunft Aufgabe: Wie lautet der bestimmte Artikel im Deutschen? Das lateinische Genus verrät es Ihnen. Aquädukt, Primat, Plebs, Prinzipat, Klientel, Traktat, Korpus, Viadukt, Libido, Virus, Opus, Zölibat, Antibiotik… (+Plural), Kasus (+Plural) Hinweise für die Lehrperson: zu 2: Besonderheit der portugiesischen Wochenbezeichnungen: So: domingo , Mo: segunda feira (zweiter Tag der Woche), Di: terça feira , Mi: quarta-feira , Do: quinta-feira , Fr: sexta-feira , Sa: sábado ; vgl. Mittellatein: feria = ‚Wochentag, Markt‘ (fr. foire , it. fiera ) zu 5: Suffix -logos: Interessant, dass dieses Suffix nicht von allen romanischen Sprachen in gleichem Maße übernommen wird, z.B.: ‚Hals-Nasen-Ohren-Arzt‘: sp. otorrinolaringólogo , fr. oto-rhino-laryngologiste , port. otorrinolaringologista , it. otorinolaringoiatra . Zu 9: Bei der Übernahme von lat. medizinischen Begriffen ins Deutsche ist die ursprüngliche Betonung von der vorletzten Silbe auf die drittletzte Silbe verlagert worden: statt: Libído - Líbido , statt: Vagína - Vágina , statt: Trachéa - Tráchea , statt. Diabetes mellítus - Diabetes méllitus . <?page no="183"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 184 4.4.10 Lösungshinweise zu den Arbeitsblättern Zu Arbeitsblatt 5: Lat. Franz. Ital. Span. Port. hodie aujourd‘hui oggi hoy hoje tempestas tempête tempesta tempestad tempestade fenestra fenêtre finestra (ventana) (janela) ridere rire ridere reír rir(-se) bibere boire bere beber beber spectare (regarder) (guardare) (mirar) (olhar) laborare (travailler) lavorare (trabajar) (trabalhar) Hinweise für die Lehrperson (exemplarischer Exkurs zur Wortgeschichte): Zu HODIE : frz . aujourd’hui wörtl.: ‚am Tag von heute‘ . Zu FENESTRA : janela kommt von vlat. januella (‚kleine Tür‘, Deminutiv von lat. janua ‚Tür‘); ventana ist eine Ableitung von ventus (‚Wind‘, vgl. eng. Window ‚Windauge‘); das ursprüngliche Wort hiniestra (lat. fenestra ) kollidierte mit iniest(r)a (lat. genesta = ‚Ginster‘) und wurde durch ventana ersetzt, und an die Stelle von iniest(r)a trat retama (aus dem Arabischen). Zu SPECTARE: Sp. mirar kommt von lat. mirari (‚sich wundern/ bewundern‘); port. olhar ist abgeleitet von olho (lat. oc ( u ) lu ‚Auge‘); guardare und regarder sind germanischen Ursprungs. Zu ARBEITEN: frz. labourer bedeutet ‚pflügen‘ (Bedeutungsverengung); travailler, trabajar, trabalhar liegt erschlossenes * tripaliare zugrunde mit der Bedeutung ‚quälen/ leiden‘ (besonders auf Gebärende bezogen; vgl fr. salle de travail (‚Kreißsaal‘); auch englisch travel ist davon abgeleitet. Das ist nicht verwunderlich. Das Reisen war in früherer Zeit oft eine mühsame und manchmal schmerzliche Angelegenheit. <?page no="184"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 185 Zu Arbeitsblatt 8: Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. corvus corbeau corvo cuervo corvo caseus cheese cacio queso queijo comedere comer comer vulpes volpe vulpeja ‚Füchsin‘ 1 folium feuille foglia/ foglio hoja folha arbor arbre albero arbol árvore corpus corps corpo cuerpo corpo vultus volto vox voice voix voce voz voz dens dentist dent dente diente dente lacrima larme lacrima lágrima lágrima avis oiseau uccello ave ave Oiseau und uccello gehen auf die lateinische Diminutivform * avicellu zurück. Aufgabe 4: Äsop; französische Klassik Zu Arbeitsblatt 13 : 1. ablativus absolutus; z.B. la guerre finie/ finita la guerra/ terminada la guerra/ terminada a guerra 2. Gerundium 3. Aition / Aitiologie 4. Tabelle: a) Verben Lat. Engl. Franz. Ital. Span. Port. vivere vivre vivere vivir viver regnare to reign régner regnare reinar reinar construere to construct construire costruire construir construir debēre devoir dovere deber dever dicere dire dire decir dizer 1 Die Bezeichnung für den männlichen Fuchs oder den Fuchs als Spezies lautet im Spanischen zorro . <?page no="185"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 186 remanēre to remain rimanere permanecer permanecer movēre to move mouvoir muovere mover mover fugere fuir fuggire huir fugir invenire to invent inventer inventare inventar inventar colligere to collect cueillir cogliere coger colher deponere to deposit déposer deporre deponer depor facere faire fare hacer fazer salire salire salir sair volare voler volare volar voar iacēre gésir giacere yacer jazer ligare lier legare ligar ligar cadere cadere caer cair sepelire ensevelir seppellire sepultar sepultar b) Adjektive: Lateinisch Englisch Franz. Ital. Span. Port. novus neuf nuovo nuevo novo aptus apte atto apto apto plenus plein pieno lleno cheio mortuus mort morto muerto morto c) Substantive: Lateinisch Englisch Franz. Ital. Span. Port. insula isle île/ ile isola isla ilha exilium exile exil esilio exilio exílio penna pen penne penna pena turris tower tour torre torre torre lignum legno patria patrie patria patria pátria ala aile ala ala ala* sol soleil sole sol sol cera cire cera cera cera *port. ala ‚Flügel von Gebäuden‘, sonst asa <?page no="186"?> 4.4 Unterrichtsinhalte und Skript für die Studierenden 187 Zu Arbeitsblatt 16: Lat. Franz. Ital. Span. Port. porta porte porta puerta porta pede pied piede pie pé vena veine vena vena veia strictu étroit stretto estrecho estreito scribere écrire scrivere escribir escrever volare voler volare volar voar plenu plein pieno lleno cheio dolore douleur dolore dolor dor plovere* pleuvoir piovere llover chover ridere rire ridere reir rir moneta monnaie moneta moneda moeda clamare chiamare llamar chamar plorare pleurer (piangere) llorar chorar pluvia pluie pioggia lluvia chuva blancu* blanc bianco blanco branco nuce noix noce nuez noz sinu sein seno seno seio pectu poitrine petto pecho peito cadere (tomber) cadere caer cair bene bien bene bien bem plumbu plomb piombo plomo chumbo clave clef/ clé chiave llave chave familia famille famiglia familia família ovu œuf uovo huevo ovu octo huit otto ocho oito capillu cheveu capello cabello cabelo flamma flamme fiamma llama chama manu main mano mano m-o schola école scuola escuela escola <?page no="187"?> 4. Handreichung für einen universitären Kurs 188 Literatur Kiesler, Reinhard ( 2 2018): Einführung in die Problematik des Vulgärlateins . Aktualisiert und erweitert von Volker Noll. Tübingen: Niemeyer. Klein, Horst G; Stegmann, Tilbert (2000): EuroComRom - die sieben Siebe. Romanische Sprachen sofort lesen können . Aachen: Shaker. Pinkster, Harm; Kroon, Caroline (2006): Latein - eine Einführung . Aus dem Niederländischen übersetzt von Roland Hoffmann. Heidelberg: Winter. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (2011): Praktische Grammatik der spanischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (2012): Praktische Grammatik der italienischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (2013): Praktische Grammatik der portugiesischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. Reumuth, Wolfgang; Winkelmann, Otto (2020): Praktische Grammatik der französischen Sprache . Wilhelmsfeld: Egert. Rheinfelder, Hans ( 5 1976/ 2 1976): Altfranzösische Grammatik . 2 Bde. München: Hueber. Rubenbauer, Hans; Hofmann, Johannes B. ( 12 1995): Lateinische Grammatik . Neubearbeitet von Richard Heine. Bamberg: Buchner. <?page no="188"?> Das Referenzwerk Latein für Romanist*innen vermi�elt Einblicke in Struktur und Entwicklung der lateinischen Sprache. Für den Au�au ver�e�er Lateinkompetenzen bietet dieser Ergänzungsband zusätzlich Texte, an denen diese Einsichten erprobt werden können, und Aufgaben, um die gramma�schen Kenntnisse zu üben. Weiterhin enthält der Band Hinweise für Lehrende und vor allem ein ak�v zu lernendes, für die romanischen Sprachen fruchtbares Wortschatzinventar. ISBN 978-3-8233-8419-9