Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen
Wie L2-Kenntnisse des Englischen, Französischen und Lateinischen den L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beeinflussen
0215
2021
978-3-8233-9435-8
978-3-8233-8435-9
Gunter Narr Verlag
Lukas Eibensteiner
Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dem schulischen Drittpracherwerb des Spanischen und untersucht, wie die spanischen Vergangenheitstempora erworben werden und inwiefern sprachliche Vorkenntnisse diesen Erwerbsprozess beeinflussen. Eine mit mehr als hundert Schüler*innen durchgeführte empirische Untersuchung liefert Evidenz dafür, dass vor allem Englisch- und Französischvorkenntnisse einen positiven Einfluss haben, allerdings in unterschiedlichen semantischen Kontexten. Der Autor plädiert daher für einen sprachvernetzenden Unterricht, der sich an den Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik orientiert.
9783823394358/Zusatzmaterial.html
<?page no="0"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 17 Lukas Eibensteiner Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen Wie L2-Kenntnisse des Englischen, Französischen und Lateinischen den L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beein ussen <?page no="1"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Herausgegeben von Daniel Reimann (Duisburg-Essen) und Andrea Rössler (Hannover) Band 17 <?page no="2"?> Lukas Eibensteiner Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen Wie L2-Kenntnisse des Englischen, Französischen und Lateinischen den L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beeinflussen <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2197-6384 ISBN 978-3-8233-8435-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9435-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0250-6 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="4"?> Inhalt Danksagung und Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Tempus und Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive . . . . . . . . . 15 2.1.1 Lexikalischer Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1.2 Grammatikalischer Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.1.3 Unterscheidung von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2 Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.3 Tempus und Aspekt im Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.3.1 Das Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3.2 Das Englische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.3 Das Lateinische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.4 Die romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.3.5 Konklusion: Tempus und Aspekt aus einer sprachvergleichenden Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit- und Drittspracherwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Kognitivistische Ansätze der Zweitspracherwerbsforschung . . . . . . 59 3.2 Die Rolle von explizitem und implizitem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs . . . . . . . . . 65 3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb . . . . . . . . . . . . . . 68 3.5 Konklusion: L2- ≠ L3-Erwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.1 Transfer als kognitiver Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.2.1 Der Einfluss von genetischer Verwandtschaft, sprachstruktureller Ähnlichkeit und (Psycho-)Typologie . . . 75 4.2.2 Der Einfluss von Form-Bedeutungs-Paaren . . . . . . . . . . . . . . . . 80 <?page no="5"?> 6 Inhalt 4.2.3 Der Einfluss von Sprachniveau, recency of use und weiteren Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.3 Transfermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.3.1 Holistische Mehrsprachigkeitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.3.2 L2-Status-Faktor-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.3.3 Generativistische Transfermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.3.4 Modelle des konzeptuellen Transfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.4 Konklusion: Transfer als komplexes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5 Der Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Zweit- und Drittspracherwerb des Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1.1 Semantische Ansätze: Lexical Aspect Hypothesis und Default Past Tense Hypothesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1.2 Diskursive Ansätze: Die Diskurshypothese . . . . . . . . . . . . . . . 111 5.1.3 Syntaktische Ansätze: Über den Erwerb von syntaktischen Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.1.4 Kognitive Ansätze: Frequenz, Salienz und Prototypikalität . . . 118 5.1.5 Zwischenfazit: Interaktion diverser Variablen . . . . . . . . . . . . . 121 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.2.1 L1-Transfer in Studien zum Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . 122 5.2.2 L1-/ L2-Transfer in Studien zum Drittspracherwerb . . . . . . . 127 5.3 Konklusion: L2-Einfluss als kaum berücksichtigte Variable - Darstellung der Forschungsdesiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6 Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.1.1 Theoretische Annahmen der Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 6.1.2 Hypothesenblock 1: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.1.3 Hypothesenblock 2: Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6.1.4 Hypothesenblock 3: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.2 Untersuchungsmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6.2.1 Pilotstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6.2.2 C-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 6.2.3 Bildgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6.2.4 Semantische Interpretationsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 <?page no="6"?> Inhalt 7 6.2.5 Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.2.6 Reflexionsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.3 Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.3.1 Gruppierungsvariable Aspektwissen Englisch . . . . . . . . . . . . . . 178 6.3.2 Gruppierungsvariable Schulische Sprachenfolge . . . . . . . . . . . 181 6.3.3 Gruppierungsvariable Aspektwissen Französisch . . . . . . . . . . . 183 6.3.4 Muttersprachliche Kontrollgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.4 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.5.1 C-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 6.5.2 Bildgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 6.5.3 Semantische Interpretationsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.5.4 Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.5.5 Reflexionsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7 Darstellung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch . . . . . . . . . . . . . . . 208 7.1.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten . . . . . . . 208 7.1.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.1.3 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch: Ein Fokus auf Gruppe A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 7.1.4 Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe A) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 7.2.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten . . . . . . . 230 7.2.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 7.2.3 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch: Ein Fokus auf Gruppe B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 7.2.4 Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe B) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 7.3.1 Explizites Regelwissen: Welche Faustregeln verwenden Lernende, um über (im-)perfektiven Aspekt zu sprechen? . . . 259 7.3.2 Nützlichkeit von Sprachvergleichen: Welche Sprachen empfinden die Lernenden als hilfreich und welche Sprachvergleiche stellen sie an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 <?page no="7"?> 8 Inhalt 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 8.1 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 8.1.1 Ergebnisse des quantitativen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 8.1.2 Ergebnisse des qualitativen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen den Zweitsprachen Englisch und Französisch und der Drittsprache Spanisch . . . . . . . . 297 8.2.1 Die Extended Default Past Tense Hypothesis . . . . . . . . . . . . . . . . 298 8.2.2 Der Einfluss von sprachstruktureller Nähe und Sprachtypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 8.3 Der Einfluss von lexikalischem Aspekt und Prototypikalität . . . . . 311 8.4 Ausblicke auf das Lateinische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 8.5 Limitationen und zukünftige Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.5.1 Theoretische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.5.2 Methodische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 8.5.3 Herausforderungen im Hinblick auf das Sampling . . . . . . . . 317 8.5.4 Zusätzliche Möglichkeiten für zukünftige Studien . . . . . . . . 318 8.6 Didaktische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 8.7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 9 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 9.1 Print . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 9.2 Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Anhang mit ausgewählten Untersuchungsmaterialien (online auf ) <?page no="8"?> Danksagung und Widmung Die vorliegende Monographie wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Sie wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Menschen nicht möglich gewesen. An erster Stelle möchte ich meinen beiden Betreuern danken, die mich in den letzten Jahren begleitet haben und mir immer mit gutem Rat zur Seite gestanden sind. Lieber Peter, dank dir konnte ich in einem vertrauten Umfeld meine ersten wissenschaftlichen Schritte tätigen. Dir verdanke ich auch die Stoßrichtung gen Mehrsprachigkeitsdidaktik und Drittspracherwerb sowie meine Liebe zu den kleineren romanischen Sprachen. Dafür möchte ich dir vielmals danken! Lieber Hannes, du hast mich in meiner Zeit in Mannheim wissenschaftlich großgezogen. Du hast mich bei meinen ersten Tagungen begleitet, meine ersten PowerPoint-Folien und Artikel Korrektur gelesen sowie meine ersten methodischen Entwürfe kritisch begutachtet und mit mir diskutiert. Du hast all meine Projekte ständig wertgeschätzt und bestmöglich gefördert. Dir verdanke ich meine psycholinguistische und empirische Ausrichtung sowie die Möglichkeit, mich wissenschaftlich voll entfalten zu können. Du hast mich in allen Belangen unterstützt und bist immer für mich da gewesen. Dafür bin ich dir zu unendlichem Dank verpflichtet! Darüber hinaus möchte ich allen Kolleg*innen danken, die mit mir Fragen diskutiert haben, die mich im Rahmen dieser Arbeit beschäftigt haben. Auch dem Research und Study Centre und dem Romanischen Seminar der Universität Mannheim sowie den dort tätigen wissenschaftlichen Hilfskräften danke ich für ihre Unterstützung. Des Weiteren sei allen Lehrer*innen und Schüler*innen, ohne die die vorliegende Arbeit nicht hätte durchgeführt werden können, mein Dank ausgesprochen. ¡Muchas gracias! Schließlich möchte ich mich noch bei meiner Familie bedanken, die mir in all den Jahren eine unglaubliche Stütze war. Ihr habt mich in all meinen Entscheidungen unterstützt und seid mir in allen Lebenslagen zur Seite gestanden. Das Vertrauen, das ich euch entgegenbringe, und der Rückhalt, den ich bei euch habe, sind unbezahlbar. Ich danke euch für die unendliche Liebe, die ihr mir Tag für Tag entgegenbringt. Euch soll diese Arbeit gewidmet sein. <?page no="10"?> 1 Einleitung In Deutschland haben im Schuljahr 2018/ 19 fast 500.000 Schülerinnen und Schüler 1 allein an allgemeinbildenden Schulen fremdsprachlichen Unterricht im Fach Spanisch erhalten (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Spanisch ist damit nach Englisch, Französisch und Latein diejenige Fremdsprache, die in dieser Schulform am meisten unterrichtet wird - Tendenz steigend. An deutschen Schulen wird Spanisch in der Regel als Dritt- oder Viertsprache angeboten (vgl. Bär 2012: 37). Dies bedeutet, dass Spanischlernende nicht bei null anfangen, sondern auf zahlreiche sprachliche Wissensressourcen zurückgreifen können. „Es wäre [daher] in höchstem Maße unvernünftig und unökonomisch, diese Wissensressourcen nicht im Fremdsprachenunterricht zu verwerten - ignorieren läßt sich vorhandenes Sprachwissen ohnehin nicht“ (Müller-Lancé 2006b: 462). Die Didaktiken der romanischen Sprachen plädieren deshalb nicht umsonst für eine Implementierung sprachvernetzender Ansätze in den Fremdsprachenunterricht (vgl. Fernández Ammann et al. 2015; Leitzke-Ungerer et al. 2012; Meißner/ Reinfried 1998a; Klein/ Stegmann 1999; Reimann 2016; Rückl 2016). Mehrsprachigkeitsdidaktische Lehrwerke (vgl. Holzinger et al. 2012) und die Integration solcher Ansätze in die meisten Lehrpläne (vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz 2012) sind diesbezüglich wichtige Meilensteine, auch wenn weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen. Ein wesentliches Merkmal dieser sprachvernetzenden Ansätze stellt das Ziel dar, das Transferpotential der Lernenden optimal zu nutzen. Obwohl es Studien im Bereich der romanistischen Fremdsprachendidaktik gibt, die sich unter anderem mit Transfer befassen (vgl. beispielsweise Bär 2009), findet sich kaum Grundlagenforschung, die Transferphänomene zwischen den im deutschsprachigen Raum häufigsten Schulfremdsprachen aus einer (psycho-)linguistischen Perspektive untersucht. Diesem Forschungsdesiderat wird sich das vorliegende Werk widmen. Die Unterscheidung der beiden spanischen Vergangenheitstempora perfecto simple und imperfecto stellt ein großes Problem für deutschsprachige Lernende des Spanischen dar. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es die 1 Im Folgenden werden der Lesbarkeit halber keine gegenderten Personenbezeichnungen verwendet. Alle personenbezogenen formal maskulinen Formen schließen jedoch stets beide Geschlechter ein sowie auch Menschen, die sich in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zugeordnet wissen wollen. <?page no="11"?> 12 1 Einleitung Opposition von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Deutschen nicht gibt. Obwohl zahlreiche Untersuchungen vorhanden sind, die sich mit dem Zweitspracherwerb dieser beiden Tempora beschäftigt haben (vgl. Comajoan 2014; Salaberry 2008), finden sich kaum Studien, die explizit deutschsprachige Lernende oder den schulischen Kontext erforschen (vgl. Hinger 2016, 2017 und Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016, 2017, 2019 für zwei Ausnahmen). Darüber hinaus gibt es keine Studien, welche das Spanische als Drittsprache fokussieren und den Einfluss von sprachlichem Vorwissen auf den Erwerb des perfecto simple und des imperfecto analysieren. Gerade dieses sprachliche Vorwissen stellt aber eine große Hilfe beim Erwerb des Spanischen dar. Während es im Deutschen die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nicht gibt, können die Lernenden prinzipiell sowohl auf das Englische ( progressive -Form) als auch auf das Französische ( passé composé , passé simple , imparfait ) oder das Lateinische (Perfekt, Imperfekt) zurückgreifen. Inwiefern germanophone Spanischlerner von diesem Vorwissen beeinflusst werden bzw. es für den Erwerb der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto nutzen können, stellt die Leitfrage der vorliegenden Arbeit dar. Zur Beantwortung dieser übergeordneten Forschungsfrage werden quantitative und qualitative Methoden trianguliert. Das Untersuchungssetting beinhaltet einen C-Test, mündliche Sprachproduktionsdaten, semantische Interpretationsaufgaben in drei Sprachen, einen Fragebogen sowie eine stimulated-recall- Reflexionsaufgabe. Die Studie wurde mit 109 germanophonen, schulischen Lernenden des Spanischen als Drittsprache (L3) durchgeführt. Die Ergebnisse der Untersuchung deuten darauf hin, dass der sogenannte L2-Status sowie sprachstrukturelle und typologische Faktoren für die Wahl der Transferbasis entscheidend sind. Da zwischen dem Deutschen und dem Spanischen hinsichtlich der Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv keine sprachstrukturellen Ähnlichkeiten bestehen, transferieren die Lernenden ihr aspektuelles Wissen aus einer Zweitsprache (L2), das heißt aus dem Englischen oder dem Französischen. Dieses Resultat, dass im L3-Erwerb primär das L2-System transferiert wird bzw. dass typologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, steht im Einklang mit zahlreichen Studien und Modellen, wie beispielsweise dem Rollen-Funktions-Modell (vgl. Williams/ Hammarberg 1998), dem L2-Status- Faktor-Modell (vgl. Bardel/ Falk 2007) oder dem Typological Primacy Model (vgl. Rothman 2010a). Diese gängigen Transfermodelle werden mit der Default Past Tense Hypothesis von Salaberry (2000, 2008), die den L2-Erwerb von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen beschreibt, verknüpft. Die Verzahnung von Salaberrys Hypothese mit den Transfermodellen ermöglicht eine Ausweitung derselben, wodurch sie den Bedürfnissen des L3-Erwerbs gerecht wird. Diese erweiterte Form wird als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet. <?page no="12"?> 1 Einleitung 13 Für die Fremdsprachendidaktik bedeuten diese Ergebnisse einerseits, dass das gesamte sprachliche Repertoire der Lernenden ausgeschöpft werden sollte und dass sprachliches Vorwissen vor allem dann zu positivem Transfer führt, wenn sprachstrukturelle Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen vorhanden sind. Diese in der Theorie durchaus schon lange vorhandenen Annahmen werden durch die empirische Evidenz der vorliegenden Studie untermauert. Die Arbeit gliedert sich neben der Einleitung in sieben weitere Kapitel, von denen die ersten vier theoretischer Natur sind. Die letzten drei befassen sich mit dem Untersuchungsdesign, den Ergebnissen und der Interpretation derselben. In Kapitel 2 werden einige Grundbegriffe der Tempus- und Aspektforschung eingeführt und mithilfe von Beispielen veranschaulicht. Dies betrifft vor allem die Abgrenzung von lexikalischem/ grammatikalischem Aspekt und Tempus. Im Anschluss werden die Vergangenheitssysteme der in der vorliegenden Arbeit behandelten Einzelsprachen näher erläutert. Es wird zuerst auf die beiden germanischen Sprachen, Deutsch und Englisch, eingegangen, bevor im Anschluss daran das Lateinische beschrieben wird. Im letzten Teil des Kapitels werden die romanischen Sprachen, Französisch und Spanisch, dargestellt. Kapitel 3 beschreibt grundlegende Begrifflichkeiten der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung. Es wird auf die Explizit-implizit-Debatte eingegangen und die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman (2001) und Paradis (2009) werden vorgestellt. Darauffolgend wird in Anlehnung an das Faktorenmodell von Hufeisen (2000) dargelegt, warum sich der Erwerb einer Zweitvon jenem einer Drittsprache unterscheidet. Kapitel 4 beschäftigt sich mit Transfereffekten im Zweit- und Drittspracherwerb und geht dabei auf verschiedene Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Sprachtypologie, die Psychotypologie oder das Sprachniveau ein. In der Folge werden unterschiedliche Transfermodelle erörtert. Zu diesen zählen sowohl holistische Mehrsprachigkeitsmodelle (vgl. Herdina/ Jessner 2002) als auch Transfermodelle aus dem Bereich der kognitiven Linguistik (vgl. Jarvis 2011) sowie der generativistischen Zweit- und Drittspracherwerbsforschung (vgl. Flynn et al. 2004). Des Weiteren werden die L2-Status-Faktor-Modelle beschrieben (vgl. Bardel/ Falk 2007). Studien, die sich mit dem Erwerb von perfektiv/ imperfektiv in einer Zweit-/ Drittsprache beschäftigen, werden schließlich in Kapitel 5 behandelt. Im ersten Teil werden unterschiedliche Hypothesen besprochen (z. B. Lexical Aspect Hypothesis (vgl. Andersen 1986), Default Past Tense Hypothesis (vgl. Salaberry 2000)) und es wird auf Untersuchungen eingegangen, die empirische Evidenz für die entsprechenden Hypothesen liefern. Der zweite Teil beschäftigt sich mit L1- und L2-Transfer im Bereich des L3-Erwerbs von perfektivem und imperfektivem Aspekt. <?page no="13"?> 14 1 Einleitung Mit Kapitel 6 beginnt der empirische Teil der Arbeit. Es geht zuerst auf die Forschungsfragen und Hypothesen der Hauptstudie ein. Im Anschluss daran wird das Untersuchungsmaterial vorgestellt und kritisch diskutiert, worauf eine Charakterisierung der Probanden folgt. Am Ende steht eine kurze Beschreibung der Vorgehensweise sowie der Datenkodierung und -auswertung. In Kapitel 7, das sich in einen quantitativen und einen qualitativen Abschnitt untergliedert, werden schließlich die Ergebnisse der Hauptstudie präsentiert. Im quantitativen Teil wird der Einfluss des englischen und französischen Aspektwissens sowie der schulischen Sprachenfolge auf den Erwerb von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen dargestellt. Im qualitativen Teil werden die Aussagen der Lernenden bezüglich expliziten Regelwissens als auch im Hinblick auf eine sprachvergleichende Herangehensweise analysiert. Schließlich werden in Kapitel 8 die Ergebnisse zusammengefasst und unter Rückgriff auf die bestehende Forschungsliteratur diskutiert. Am Ende des Kapitels steht eine Auflistung der Limitationen der Studie und es werden Handreichungen für zukünftige Untersuchungen gegeben. Ein Abschnitt zu didaktischen Implikationen sowie ein kurzes Fazit beschließen die vorliegende Arbeit. <?page no="14"?> 2 Tempus und Aspekt Die (Zeit-)Linguistik beschäftigt sich mit der Frage, wie das physikalische Phänomen der Zeit versprachlicht werden kann. Laut Klein (2009b: 40-41) greifen die diversen Einzelsprachen dafür auf sechs Möglichkeiten zurück: Tempus, (grammatikalischer) Aspekt, lexikalischer Aspekt, Temporaladverbien, Temporalpartikeln und Diskursprinzipien. Die nachstehenden Ausführungen fokussieren die ersten drei Möglichkeiten und konzentrieren sich dabei primär auf die temporale Domäne der Vergangenheit und die aspektuelle Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile: Zuerst werden die Unterschiede zwischen lexikalischem und grammatikalischem Aspekt diskutiert. Im Anschluss wird ein System zur Tempusanalyse vorgestellt (vgl. Klein 1994), das schließlich dazu verwendet wird, die Vergangenheitsformen des Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen zu beschreiben und voneinander abzugrenzen. 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 2.1.1 Lexikalischer Aspekt Beim lexikalischen Aspekt (en. lexical aspect ) handelt es sich um die inhärente Semantik des Verbs und dessen Argumente. 2 In Anlehnung an Vendler (1957) spricht man von vier sogenannten Zeitschemata (en. time schemata ) oder Aspektklassen, die mithilfe folgender Taxonomie zusammengefasst werden können: 2 In der vorliegenden Arbeit wird eine breite Definition von lexikalischem Aspekt gewählt und es wird im Unterschied zu Filip (2012: 724-726) terminologisch nicht zwischen lexikalischem Aspekt (nur Verb) und Aspektklasse (en. aspectual class ; Verb + Argumente) unterschieden. Diese beiden Termini werden demnach gleichbedeutend verwendet. <?page no="15"?> 16 2 Tempus und Aspekt Aspektklassen dynamisch telisch durativ Beispiel Zustände (en. states) - - + sein Aktivitäten (en. activities) + - + (Lieder) singen Accomplishments 3 + + + ein Lied singen Achievements + + den Gipfel erreichen Tab. 1: Klassifikation lexikalischer Aspektklassen (in Anlehnung an Vendler 1957) Diese Taxonomie beruht im Wesentlichen auf drei aspektuellen Unterschieden: (1) Zustandswechsel (statisch vs. dynamisch), (2) inhärente(s) Ende/ Limit/ Grenze (telisch vs. atelisch) und (3) zeitliche Ausdehnung (punktuell vs. durativ) (vgl. Filip 2012). Diese drei aspektuellen Unterschiede werden im Folgenden voneinander abgegrenzt: (1) Der wesentliche Unterschied zwischen statischen und dynamischen Prädikaten liegt darin, dass die Semantik eines Zustands keinen Zustandswechsel nach sich zieht, jene einer Aktivität hingegen schon (vgl. ebd.: 728). Laut Comrie (1976: 48-51) müssen dynamische Prädikate einer ständigen Zufuhr von Energie unterliegen, um fortgesetzt zu werden. Wenn beispielsweise eine Person keine Energie aufwendet, um die Aktivität des Singens aufrechtzuerhalten, wird die Handlung abrupt ein Ende nehmen. Zustände hingegen benötigen Energie, um in den Zustand gebracht zu werden. Haben sie diesen aber erreicht, verweilen sie darin und benötigen keine Energie für die Aufrechterhaltung desselben (z. B. das Buch, das ins Regal gestellt wird, bleibt dort stehen - es ist/ verweilt in dem Regal): With a state, unless something happens to change that state, then the state will continue […]. With a dynamic situation, […] the situation will only continue if it is continually subject to a new input of energy (ebd.: 49). (2) Der wesentliche Unterschied zwischen telischen und atelischen Prädikaten liegt darin, dass die Semantik von telischen Prädikaten einen inhärenten Endpunkt besitzt. Sie beschreiben also Aktionen, die sich in Richtung eines Endpunktes bewegen und erst dann wahr sind, wenn dieser erreicht wurde. Atelische Situationen hingegen sind schon in dem Moment wahr, in dem sie beginnen (vgl. Garey 1957: 106). Diesen Unterschied veranschaulicht Comrie 3 Da die Übersetzung der beiden englischen Begrifflichkeiten accomplishments und achievements nur bedingt möglich ist, werden die englischen Termini verwendet. <?page no="16"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 17 (1976: 44-48) anhand der Sätze John singt und John singt ein Lied . Obwohl beide Prädikate eine gewisse Dauer ausdrücken und dynamisch sind, gibt es einen wichtigen Unterschied hinsichtlich der Telizität. Egal zu welchem Zeitpunkt John mit dem Singen aufhört, ist die Aussage, dass er gesungen hat, wahr, was auf die Atelizität des Prädikats zurückzuführen ist. Beim zweiten Satz hingegen ist dies nicht der Fall. Wenn John das Singen eines Liedes in der Mitte abbricht und beispielsweise noch die letzte Strophe fehlt, ist die Aussage, dass John ein Lied gesungen hat, nicht wahr, sondern nur dann, wenn John das Lied (inkl. der letzten Strophe) tatsächlich fertig gesungen hat. Dies ist auf den inhärenten Endpunkt von telischen Prädikaten wie bei ein Lied singen zurückzuführen. Wie dieses Beispiel zeigt, interagiert die Semantik der Verben mit den Argumenten derselben. Das atelischen Verb singen in John singt erhält erst durch das Hinzufügen des Akkusativobjektes ein Lied einen inhärenten Endpunkt (= das Ende des Liedes) und wird somit zu einem telischen Prädikat (vgl. auch Comrie 1976: 45). Die Aspektklasse hängt allerdings nicht nur von der Präsenz oder Nichtpräsenz eines Objekts ab, sondern auch davon, ob es sich um eine gequantelte oder eine kumulative Nominalphrase handelt (vgl. Krifka 1989). 4 Beispielsweise wird ein Prädikat als telisch interpretiert, wenn die Nominalphrase gequantelt ist und als atelisch, wenn sie kumulativ ist: (1) John singt ein Lied. (gequantelt → telisch) (2) John singt Lieder. (kumulativ → atelisch) (3) Der dritte aspektuelle Unterschied, auf dem die oben genannte Taxonomie beruht, ist derjenige zwischen Durativität und Punktualität. Im Gegensatz zu punktuellen Prädikaten nehmen durative eine gewisse Zeitspanne ein: [D]urativity simply refers to the fact that the given situation lasts for a certain period of time […], [whereas] punctuality […] means the quality of a situation that does not last in time (Comrie 1976: 41-42). Die oben diskutierte Verbalphrase ein Lied singen drückt eindeutig eine gewisse zeitliche Ausdehnung aus, weshalb ihr das Merkmal [+ durativ] zukommt und sie in der Vendlerschen Taxonomie den accomplishments zugeordnet wird. 4 Krifka (1989: 228) beschreibt die kumulative und gequantelte Nominalreferenz folgendermaßen: „Wenn auf zwei Entitäten das Prädikat Äpfel […] angewendet werden kann, dann kann dies auch auf die Zusammenfassung angewendet werden (kurz: Äpfel und Äpfel ergibt wieder Äpfel; […]). Dies ist bei Ausdrücken wie drei Äpfel […] nicht der Fall: wenn dieses Prädikat auf zwei Entitäten angewendet werden kann, so ist es auf deren Zusammenfassung nicht mehr anwendbar (drei Äpfel und drei Äpfel ergeben mehr als drei Äpfel […]).“ Ersteres bezeichnet er als kumulative, Letzteres als gequantelte Nominalreferenz. <?page no="17"?> 18 2 Tempus und Aspekt Achievements unterscheiden sich insofern von dieser Kategorie, als sie durch das Merkmal [+ punktuell] zu charakterisieren sind. Dies trifft prinzipiell auf das in Tabelle 1 genannte Prädikat den Gipfel erreichen zu. Das Problem, das mit der Opposition durativ/ punktuell einhergeht, ist, dass eigentlich jede Handlung eine gewisse Dauer hat. Comrie (1976: 41-44) veranschaulicht dies folgendermaßen: Wenn man sich einen Film ansieht, in welchem eine Person hustet, und diese Szene in Zeitlupe abspielt, dann wird das vermeintlich punktuelle Verb husten in die Länge gezogen und dadurch durativ. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die Semantik der Punktualität nur schwer zu fassen ist. Aufgrund dieser Problematik, und in Anlehnung an zahlreiche dreiteilige Taxonomien, werden in der vorliegenden Arbeit die Kategorien der accomplishments und achievements zusammengefasst und unter den Begriff der telics subsumiert (vgl. De Swart 1998; Klein 1994; Salaberry 2011; Verkuyl 1999; für einen Überblick vgl. Tatevosov 2002: 320-321): Aspektklassen dynamisch telisch Zustände (statisch) - - Aktivitäten (aktivisch) + - Telics (telisch) + + Tab. 2: Dreigliedrige Einteilung von lexikalischem Aspekt Nachdem in diesem Kapitel über lexikalischen Aspekt gesprochen und dieser in Zustände, Aktivitäten und telics eingeteilt wurde, wird das nächste Kapitel von der grammatischen Kategorie des Aspekts handeln. 2.1.2 Grammatikalischer Aspekt Im Unterschied zum lexikalischen Aspekt handelt es sich bei Tempus und Aspekt 5 um grammatikalische Kategorien des Verbs. Tempus wird als grammatikalisierte Zeitreferenz verstanden, die das Ereignis, über das gesprochen wird, zu einer anderen Zeit, meist dem Jetzt des Sprechens, in Bezug setzt (vgl. Comrie 1976: 1-2; Comrie 1985: 9). Im Unterschied zur Kategorie Tempus wird Aspekt oft metaphorisch als ein Scheinwerfer, der die entsprechende Situation fokussiert, dargestellt. Dies ist mit der auf Holt (1943: 6) basierenden und von Comrie (1976: 3; Hervorhebung durch den Verfasser) leicht überarbeiteten Definition gemeint, dass es sich bei Aspekt um die unterschiedlichen Möglichkeiten 5 Aspekt wird auch als grammatikalischer Aspekt oder viewpoint aspect bezeichnet (vgl. Smith 1997). <?page no="18"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 19 handelt, die interne temporale Beschaffenheit einer Situation zu betrachten: „[A]spects are different ways of viewing the internal temporal constituency of a situation“. Auch Klein (1994: 16; Hervorhebung durch den Verfasser) spricht von unterschiedlichen Perspektiven, die ein Sprecher einnehmen kann, um eine Situation zu beschreiben: „[Aspects are] different perspectives which a speaker can take and express with regard to the temporal course of some event, action, process“. Beide Definitionen betonen, dass Aspekt mit der Perspektivnahme des Sprechers zu tun hat und daher bis zu einem gewissen Grad subjektiv ist (vgl. Baudot 2004: 31; Comrie 1976: 4; Lindschouw 2017: 412; Salaberry 2008: 22-25). Tempus und Aspekt bilden demnach den grammatischen Kern der funktionalsemantischen Kategorien der Temporalität bzw. jener der Aspektualität. Eine funktional-semantische Kategorie wird nicht nur durch morphologische oder syntaktische, sondern auch mithilfe von „wortbildenden und lexikalischen Mitteln[,] […] durch die Kombination all dieser Mittel oder kontextuell ausgedrückt“ (Haßler 2016: 7). Es ist wichtig, diese Trennung zwischen einer grammatischen und einer funktional-semantischen Kategorie vorzunehmen. Beispielsweise haben Sprachen, die keinen Aspekt im Sinne einer grammatischen Kategorie besitzen, trotzdem die Möglichkeit, aspektuelle Unterscheidungen mithilfe von beispielsweise lexikalischen Mitteln auszudrücken. Im Hinblick auf die grammatische Kategorie des Aspekts wird üblicherweise zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterschieden. Perfektive Verbformen stellen die Situation in ihrer Totalität dar without reference to its internal temporal constituency: the whole of the situation is presented as a single unanalyzable whole, with beginning, middle, and end rolled into one (Comrie 1976: 3). Demnach wird durch die Verwendung perfektiver Verbformen die Handlung als ein begrenztes Ganzes betrachtet, deren Anfang und Ende in die Perspektive des Sprechers mit eingeschlossen sind (vgl. Dahl 1985: 78; Smith 1997). Im Russischen beispielsweise wird der perfektive Aspekt mithilfe von Präfixen markiert (vgl. Klein 2009b: 55-56; De Swart 2012: 756-758): (3) Ivan na-pisa-l pis’mo. Ivan PERF.schreiben.PAST Brief. ‚Ivan schrieb einen Brief (fertig).‘ In Beispiel 3 wird durch das Anfügen des Präfixes { na -} das Schreiben des Briefes als in sich abgeschlossenes Ganzes betrachtet, was impliziert, dass der Brief fertig geschrieben wurde. Bei Sprachen, die einen perfektiven Aspekt besitzen, ist es nicht möglich, diese Abgeschlossenheit kontextuell zu negieren. <?page no="19"?> 20 2 Tempus und Aspekt Beispielsweise macht die kontextuelle Vorgabe, dass Lucas auch in der Gegenwart noch krank ist, den spanischen Beispielsatz ungrammatisch: (4) *Lucas estuvo enfermo y todavía lo está. (Beispielsatz aus Salaberry 2008: 48) Mithilfe solcher Vorgaben, die einen Kontext etablieren, der bis zur Gegenwart andauert, kann überprüft werden, ob eine Sprache einen perfektiven Aspekt besitzt. Diese Herangehensweise, die mithilfe eines sogenannten conjunction test durchgeführt wird, findet in der Aspektforschung häufig Anwendung (vgl. Smith 1997: 194). Imperfektiver Aspekt hingegen „make[s] explicit reference to the internal temporal structure of a situation, viewing a situation from within“ (Comrie 1976: 24). Er ist unbegrenzt und Anfang und Ende der Handlung werden nicht fokussiert (vgl. Bybee/ Dahl 1989: 55; Smith 2012: 2588), wodurch der Eindruck entsteht, die Situation werde „von innen“ betrachtet. In Beispielsatz 5 wird die Handlung durch die Verwendung der imperfektiven Verbform pisal als nicht abgeschlossen dargestellt. Es bleibt somit unklar, ob Ivan den Brief fertig geschrieben hat oder nicht: (5) Ivan pisa-l pis’mo. Ivan schreiben(IMP).PAST Brief. ‚Ivan war dabei, einen Brief zu schreiben.‘ In Anlehnung an Comrie (1976: 25) kann der imperfektive Teil der Opposition weiter in eine habituelle, kontinuative und progressive Komponente unterteilt werden: Abb. 1: Taxonomie aspektueller Oppositionen (vgl. Comrie 1976: 25) <?page no="20"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 21 Die Semantik der Habitualität bezieht sich auf regelmäßige, sich wiederholende Situationen (vgl. Bertinetto/ Lenci 2012: 852), die eine charakteristische Eigenschaft einer Zeitspanne wiederspiegeln (vgl. Comrie 1976: 27-28). 6 Demnach beschreibt Habitualität eine Situation which is characteristic of an extended period of time, so extended in fact that the situation referred to is viewed […] as a characteristic feature of a whole period (ebd.). Die Frage, was eine charakteristische Eigenschaft ist, lässt Comrie offen und verweist darauf, dass es sich dabei um keine linguistische, sondern um eine konzeptuelle Frage handelt. Die Zeitspanne, in welcher die betrachtete Situation wiederholt wird, ist an sich unbegrenzt, weshalb die Einteilung der Habitualität als Subkategorie der Imperfektivität prinzipiell gerechtfertigt ist (vgl. Carlson 2012: 835). Vom Begriff der Habitualität müssen diejenigen der Generizität und Iterativität abgegrenzt werden. Eine generische Lesart entsteht, wenn der Satz als Subjekt eine generische Nominalphrase besitzt, die sich nicht auf einzelne Individuen oder bestimmte Gruppen von Individuen bezieht, sondern auf die Klasse an sich. Carlson (2012: 830-831) veranschaulicht den Unterschied zwischen einer generischen und einer habituellen Lesart anhand von zwei Beispielsätzen, die ins Deutsche übersetzt wurden und im Folgenden in leicht veränderter Form dargestellt werden. Bezieht sich die Nominalphrase auf einen bestimmten Löwen (= ein einzelnes Individuum, beispielsweise im Tiergarten Schönbrunn), dann entsteht eine habituelle Interpretation (Beispielsatz 6); verweist sie auf die gesamte Spezies der Löwen, kommt dem Satz eine generische Lesart zu (Beispielsatz 7). Wie die beiden Beispielsätze veranschaulichen, wird die jeweilige Interpretation vom Kontext evoziert bzw. erst durch diesen deutlich: (6) Der Löwe im Tiergarten Schönbrunn brüllt für gewöhnlich. (7) Löwen brüllen. Iterativität hingegen bezieht sich auf die Wiederholung spezifischer Sachverhalte, die als in sich abgeschlossenes Ganzes betrachtet werden (vgl. Bertinetto/ 6 Auch hier muss zwischen der grammatikalischen Kategorie des habituellen Aspekts und der funktional-semantischen Kategorie der Habitualität unterschieden werden. Eine Sprache besitzt einen habituellen Aspekt, wenn sie über grammatikalische Mittel verfügt, die entsprechende Semantik auszudrücken. Laut Thieroff (2000: 295-296) trifft dies nur auf sehr wenige Sprachen der Welt zu. Lexikalische Ausdrücke (z. B. für gewöhnlich etwas tun ) sind demnach nicht Teil der grammatikalischen Kategorie des habituellen Aspekts (vgl. Carlson 2012: 832). Sie tragen aber sehr wohl dazu bei, das funktionalsemantische Konzept der Habitualität auszudrücken. <?page no="21"?> 22 2 Tempus und Aspekt Lenci 2012: 854-860). Man kann das Konzept der Iterativität anhand des folgenden Satzes veranschaulichen: (8) El lector se levantó, tosió cinco veces y dijo… Beim fünfmaligen Husten handelt es sich um einen räumlich und zeitlich spezifischen Sachverhalt, der als begrenzte und in sich abgeschlossene Situation interpretiert wird. Iterativität bezeichnet demnach eine bestimmte Iteration, die in einem begrenzten zeitlichen Rahmen stattfindet. In Sprachen, die über eine aspektuelle Opposition von perfektiv/ imperfektiv verfügen, wird die iterative Semantik daher üblicherweise mithilfe von perfektiven Verbformen ausgedrückt (vgl. Salaberry 2008: 49). In Comries Gliederung wird der habituellen Subkategorie die kontinuative 7 gegenübergestellt, welche Comrie (1976: 26) als Imperfektivität, die keine Habitualität ist, definiert. Kontinuität wird überdies in eine progressive und eine nicht progressive Komponente untergliedert, wobei erstere als die Kombination von progressiver und nicht statischer Bedeutung definiert wird (vgl. ebd.: 35). Im Allgemeinen wird eine Situation als progressiv bezeichnet, wenn die entsprechende Handlung zu einem bestimmten (Referenz-)Zeitpunkt als im Verlauf befindlich dargestellt und ihr dynamischer Charakter betont wird (vgl. Bybee/ Dahl 1989: 55; Mair 2012: 803-807; für weitere Informationen zum Begriff des Referenzzeitpunktes siehe Kapitel 2.2). Dieser Referenzzeitpunkt kann durativ oder punktuell sein. Wenn eine Sprache über eine entsprechende Progressivperiphrase verfügt, wird Ersteres auch als duratives, Letzteres als fokussierendes Progressiv bezeichnet (vgl. Bertinetto et al. 2000: 527). Im Unterschied zum durativen Progressiv, bei welchem die Handlung während eines länger andauernden Zeitintervalls als im Verlauf befindlich dargestellt wird (z. B. from 2 to 4 ), greift das fokussierende Progressiv einen bestimmten Zeitpunkt heraus (z. B. at 7 p.m. ): (9) At 7 p. m. I was still working. (fokussierend) (10) From 2 to 4 I was reading a book. (durativ) (Beispielsätze aus Declerck 2006: 33) 7 Die Übersetzung des englischen Terminus continuousness ins Deutsche ist nicht unproblematisch, da sowohl die beiden Termini ‚Kontinuität‘/ ‚kontinuativ‘ als auch ‚Kontinuierlichkeit‘/ ‚kontinuierlich‘ denkbar wären. Haßler (2016: 206-207) beispielsweise verwendet beide Termini. In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Kontinuität und kontinuativ bevorzugt. Sie weisen allerdings eine gewisse Ähnlichkeit zu einer Lesart des (zusammengesetzten) Perfekts auf ([+ Gegenwartsbezug]). Es sei deshalb an dieser Stelle betont, dass sich die beiden Begriffe explizit nicht auf eine Lesart des Perfekts, sondern auf einen semantischen Bestandteil des Imperfekts beziehen. <?page no="22"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 23 Die Comriesche Definition, dass Progressivität die Kombination von progressiver mit nicht statischer Bedeutung ist, ist insofern problematisch, als sich die Sprachen der Welt dahingehend unterscheiden, in welchen Kontexten bzw. mit welchen Verben eine progressive Form angewandt werden kann (vgl. Bertinetto et al. 2000: 537; Bertinetto 2000: 583-585; Comrie 1976: 35; Mair 2012: 812-813). Bestimmte Verben besitzen die Möglichkeit, sowohl als statisch als auch als dynamisch interpretiert zu werden. Als Beispiel nennt Comrie (1976: 35) die Verwendung der Progressivperiphrase mit Verben der (passiven) Sinneswahrnehmung (en. verbs of inert perception ). Während im Englischen eine Kombination dieser Verben mit einer Progressivperiphrase in den meisten Fällen seltsam klingt, ist dies im Spanischen problemlos möglich: (11) ? I am seeing you there under the table. (12) Te estoy viendo debajo de la mesa. Trotz solcher sprachspezifischen Unterschiede gilt diese Restriktion bezüglich statischer Prädikate als definitorisches Merkmal von Progressivität (vgl. ebd.: 12; Deo 2012: 165; Mair 2012: 806). Damit unterscheidet sie sich von der kontinuativen Semantik, welcher bezüglich der Kombination mit lexikalischem Aspekt keine Einschränkungen unterliegen (vgl. Comrie 1976: 25; Mair 2012: 806). Darüber hinaus ist bei der Kontinuität der (Referenz-)Zeitpunkt durativ (vgl. García Fernández 2004: 43; Pérez Saldanya 2004: 215-216; Real Academia Española 2009: 1689). Ein Überblick über die beiden gerade besprochenen Semantiken findet sich in Tabelle 3: Progressivität Kontinuität fokalisierend durativ Kombination mit lexikalischem Aspekt nicht statisch nicht statisch frei Referenzzeitintervall punktuell durativ durativ Tab. 3: Abgrenzung von Progressivität und Kontinuität Auch wenn es aus typologischer Sicht sinnvoll erscheinen mag, die Semantiken des progressiven und kontinuativen Aspekts getrennt zu behandeln (vgl. Mair 2012: 806-807), ist eine solche Trennung bei Sprachen, die nicht über unterschiedliche Marker, sondern beispielsweise nur über ein Imperfekt verfügen, schwierig (vgl. Arche 2014: 811). Es sei deshalb an dieser Stelle schon vorweggenommen, dass im empirischen Teil der Arbeit die Restriktionen bezüglich der Kombinierbarkeit mit lexikalischem Aspekt herangezogen werden, <?page no="23"?> 24 2 Tempus und Aspekt um Progressivität und Kontinuität voneinander abzugrenzen. Eine Handlung, die als unbegrenzt betrachtet wird, nicht habituell ist und in Kombination mit nicht statischen Prädikaten auftritt, wird als progressiv bezeichnet; wird sie ausschließlich mit statischen Prädikaten kombiniert, wird von (nicht progressiver) Kontinuität gesprochen. 8 2.1.3 Unterscheidung von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt Das Verhältnis von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt ist Mittelpunkt zahlreicher Debatten. Vertreter des unidimensionalen Ansatzes nehmen an, dass grammatikalischer und lexikalischer Aspekt auf semantischer Ebene dasselbe ausdrücken (vgl. De Swart 1998; Verkuyl 1972, 1999). Befürworter des bidimensionalen Ansatzes hingegen sind der Meinung, dass lexikalischer und grammatikalischer Aspekt getrennt betrachtet werden müssen und unterschiedliche aspektuelle Informationen kodieren (vgl. Depraetere 1995; Smith 1997, 2012). Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Positionen geliefert. Depraetere (1995) nimmt das imperfective paradoxon (vgl. Dowty 1979: 133- 138) als Ausgangspunkt, um die Wichtigkeit der Unterscheidung von (A-)Telizität und (Un-)Begrenztheit (en. (un)boundedness ) zu betonen. Sie definiert beide Konzepte folgendermaßen: (A)telicity has to do with whether or not a situation is described as having an inherent or intended endpoint; (un)boundedness relates to whether or not a situation is described as having reached a temporal boundary (Depraetere 1995: 2-3). Demnach kann eine Situation als begrenzt oder unbegrenzt dargestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob sie einen inhärenten Endpunkt besitzt. Das Prädikat write a nursery rhyme in Beispielsatz 13 ist zwar telisch, wird aber durch die Verwendung der progressive -Form als unbegrenzt dargestellt: 8 Diese Einteilung greift eigentlich zu kurz, weil sie die Kontinuität auf die Kombinierbarkeit mit statischen Prädikaten beschränkt, obwohl diese mit allen lexikalischen Aspektklassen verwendet werden kann. Es ist allerdings fraglich, inwiefern sich - semantisch gesehen - die durative Progressivität von der Kontinuität unterscheidet, außer dass letztere zusätzlich zu dynamischen Prädikaten auch mit statischen auftreten kann. Die Unterscheidung wird also im Wesentlichen nur beibehalten, um den Unterschied zwischen Prädikaten, die mit einer Progressivperiphrasen auftreten können (= dynamische), und solchen die dies normalerweise nicht tun (= statische), zu betonen (vgl. Arche 2014: 811). Diese Tatsache kann zur Rechtfertigung der oben getroffenen Entscheidung herangezogen werden. <?page no="24"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 25 (13) She is writing a nursery rhyme. (telisch, unbegrenzt) (Beispielsatz aus Depraetere 1995: 3) Auch Smith (2012: 2581) unterscheidet zwei Arten aspektueller Information, die zwar miteinander interagieren, aber voneinander unabhängig sind. Die Situation selbst hat ihre inhärente Semantik, welche durch den grammatikalischen Aspekt semantisch sichtbar gemacht werden kann. Grammatikalischer Aspekt operiert gewissermaßen auf der inhärenten Semantik der Verbalphrase. Im Gegensatz zu Vendlers (1957) Zeitschemata verwendet Smith eine fünfteilige Gliederung und spricht von sogenannten Situationstypen, 9 die vom Verb und dessen Argumenten bestimmt werden. Die aspektuelle Grundbedeutung dieser Situationstypen kann durch zusätzliche Information, wie beispielsweise Adverbien oder grammatikalische Morpheme, geändert werden (vgl. Smith 2012: 2585-2586). 10 Dieses Phänomen, das in der Literatur als situation type shift oder coercion bezeichnet wird, wird nach einem kurzen Überblick über Vertreter des unidimensionalen Ansatzes näher beschrieben. Diese sind der Meinung, dass grammatikalischem und lexikalischem Aspekt dieselben aspektuellen Konzepte zugrunde liegen (vgl. De Swart 1998; Verkuyl 1972, 1999). Im Unterschied zu Depraetere (1995) unterscheiden sie also beispielsweise nicht zwischen (A-)Telizität und (Un-)Begrenztheit. Verkuyl (1999) geht von zwei aspektuellen Grundbedeutungen aus, die er als durativ und terminativ bezeichnet. 11 Für die aspektuelle Interpretation eines Satzes schlägt er eine kompositionelle Analyse vor. Ein Verb kann prinzipiell den Wert [+/ - ADD TO] haben, je nachdem ob es statisch [- ADD TO] oder dynamisch [+ ADD TO] ist. Im ersten Schritt verbindet sich das Verb mit seinen Argumenten, die wiederum die Werte für eine spezifische oder unspezifische Quantität ausdrücken, das heißt, die Werte [+/ - SQA] haben können. Ist das Verb statisch, so ist der [SQA]-Wert der Argumente belanglos und der aspektuelle Wert des Satzes bleibt durativ. Wenn das Verb hingegen dynamisch ist, hängt die Interpretation von den entsprechenden [SQA]-Werten ab. Damit ein Satz als terminativ interpretiert werden kann, müssen sowohl [ADD TO]als auch [SQA]-Werte positiv sein. Dies wird von Verkuyl (1999: 131) als plus principle bezeichnet. Aus dieser kompositionellen Analyse ergeben sich drei grundlegende aspektuelle Kategorien, die in Tabelle 4 zusammengefasst sind: 9 Smith (1997: 17-38) fügt der Klassifikation von Vendler noch die Kategorie des semelfaktiven Situationstyps hinzu. In ihrem Ansatz haben Semelfaktiva die semantischen Merkmale [+ dynamisch], [telisch] und [durativ] (vgl. Smith 1997: 20). 10 Für Beispiele, welche die Interaktion von lexikalischem Aspekt und Adverbien veranschaulichen, siehe Remberger (2016: 216-217). 11 Die Begriffe durativ/ terminativ können im weitesten Sinne mit der oben eingeführten Unterscheidung von imperfektiv/ perfektiv gleichgesetzt werden. <?page no="25"?> 26 2 Tempus und Aspekt Nominalphrase [+/ - SQA] [- SQA] [+ SQA] Zustand Prozess Ereignis Verb [- ADD TO] [+ ADD TO] [+ ADD TO] Tab. 4: Dreiteilige Klassifikation der Aspektkategorien nach Verkuyl (1999: 131) De Swart (1998: 351) übernimmt eine solche dreiteilige Taxonomie und unterscheidet ebenfalls zwischen den Aspektklassen der Zustände (statisch, atelisch), der Prozesse (dynamisch, atelisch) und der Ereignisse (dynamisch, telisch). Auf den Eventualitäten (= ein Überbegriff für unterschiedliche Situationen), aus denen sich durch eine entsprechende Klassifizierung die drei Aspektklassen ergeben, operieren Tempus- und Aspektoperatoren, und zwar in der Reihenfolge, die durch die nachstehende syntaktische Struktur wiedergegeben wird: [Tempus [Aspekt* [Eventualitätsbeschreibung]]] (vgl. De Swart 2012: 765). 12 Prinzipiell reicht die Aspektklasse der Eventualitätsbeschreibung aus, um die Aspektualität eines Satzes adäquat zu interpretieren. Folglich sind in den Sätzen 14 und 15 keine Aspekt-Operatoren notwendig. Der Vergangenheits-Operator PAST und die Aspektklasse allein sind ausreichend, um die Situation adäquat zu deuten (vgl. De Swart 1998: 352-353): (14) Anne was ill. (Zustand, unbegrenzt) [PAST [Anne be ill]] (15) Anne wrote a letter. (Ereignis, begrenzt) [PAST [Anne write a letter]] Aspekt-Operatoren kommen dann zum Einsatz, wenn die in der Aspektklasse kodierte aspektuelle Information neu interpretiert werden muss. Wenn der Sprecher die Information in Satz 15 beispielsweise in einer progressiven Lesart darstellen möchte, muss der inhärente Endpunkt der Situation aufgehoben werden. Die dafür notwendige Änderung der Aspektklasse wird durch den Aspekt- Operator PROG durchgeführt. Er erzeugt einen Wechsel von einem Ereignis zu einem Prozess: (16) Anne was writing a letter. [PAST [PROG [Anne write a letter]]] 12 Als Beispiel für Aspekt-Operatoren im Englischen nennt sie das Perfekt, die progressive Morphologie oder durative Adverbien. Der Asterisk in der syntaktischen Struktur bedeutet, dass keine, eine oder mehrere Operationen ausgeführt werde können. <?page no="26"?> 2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive 27 Solche aspectual shifts können entweder durch explizite Aspekt-Operatoren oder durch einen kontextuell erzwungenen Re-Interpretationsprozess vonstattengehen. Letzteres nennt De Swart coercion : The view of coercion as an eventuality description modifier implies that coercion is of the same semantic type as an aspectual operator […]. The main difference between grammatical operators and coercion is that coercion is syntactically and morphologically invisible : it is governed by implicit contextual reinterpretation mechanisms triggered by the need to resolve aspectual conflicts (De Swart 1998: 360; Hervorhebung durch den Verfasser). Im Unterschied zu Aspekt-Operatoren ist dieser als coercion bezeichnete kontextuell erzwungene Re-Interpretationsprozess syntaktisch und morphologisch unsichtbar. Um ihn in der syntaktischen Struktur sichtbar zu machen, führt De Swart unterschiedliche coercion -Operatoren ein (z. B. C eh ), deren Funktionsweise anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht wird: (17) John played the sonata for eight hours. [PAST [FOR eight hours [C eh [ John play the sonata]]]] Die Beschreibung der Situation John play the sonata , bei der es sich um die Aspektklasse Ereignis handelt, führt durch die Verbindung mit der Adverbialphrase for eight hours zu einem Konflikt aspektueller Werte, da for- Adverbialphrasen nur mit den Aspektklassen der Zustände oder der Prozesse kombiniert werden können (vgl. ebd.: 356). Durch die Verwendung des coercion -Operators C eh wird die Aspektklasse Ereignis zu einer homogenen Situation 13 uminterpretiert, was die Verbindung mit der Adverbialphrase for eight hours möglich macht. Salaberry (2008: 63) kritisiert an De Swarts Argumentation, dass nicht ganz klar ist, warum es sich in Beispiel 17 um einen impliziten coercion -Prozess (C eh ) und nicht um die Anwendung eines expliziten Aspekt-Operators ( for eight hours ) handeln sollte. Trotz dieses durchaus berechtigten Einwandes stellt De Swarts Analyse insofern einen wichtigen Beitrag dar, als sie eine Lösung für die Interaktion von lexikalischen, grammatikalischen sowie pragmatischen Elementen vorschlägt und die Wichtigkeit des Kontextes für die aspektuelle Interpretation eines Satzes betont. Die Kernaussage dieses Kapitels ist, dass grammatikalischer und lexikalischer Aspekt miteinander interagieren. Im Laufe der Arbeit wird diesbezüglich von prototypischen und nicht prototypischen Kombinationen gesprochen. Der semantische Prototyp von telischen Prädikaten wie auch von perfektivem 13 Das Merkmal der Homogenität trifft laut De Swart (1998: 351) auf Zustände und Prozesse, das heißt auf atelische Prädikate zu. <?page no="27"?> 28 2 Tempus und Aspekt Aspekt ist, dass sie Situationen gewissermaßen begrenzen. Bei statischen Prädikaten und imperfektivem Aspekt ist genau das Gegenteil der Fall. In diesen beiden Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt wird demnach ein sehr ähnlicher semantischer Prototyp sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatikalischer Ebene ausgedrückt. Man spricht daher auch von prototypischen Kombinationen. Im Falle der Kombination von statischen Prädikaten und perfektivem Aspekt bzw. von telischen Prädikaten und imperfektivem Aspekt trifft Gegenteiliges zu und man spricht von nicht prototypischen Kombinationen (vgl. McManus 2011: 17, 2013): statisch telisch perfektiv nicht prototypisch prototypisch imperfektiv prototypisch nicht prototypisch Tab. 5: Prototypische und nicht prototypische Kontexte Im nächsten Kapitel wird ein System vorgestellt, das es ermöglicht, Tempus- und Aspektsysteme durch die Analyse der internen temporalen Beschaffenheit von Situationen zu beschreiben. Solche Systeme werden üblicherweise als zeitrelational bezeichnet (en. time-relational approaches ; vgl. Gvozdanovic 2012: 784-791). 2.2 Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994) Das Kleinsche System baut auf jenem von Reichenbach (1947) auf. Im Zentrum von Reichenbachs Überlegungen steht das Jetzt des Sprechens, der Sprechzeitpunkt (en. point of speech , abgekürzt als S), also ein deiktisches „an der Sprechsituation orientiertes Zeitintervall“ (Vater 2007: 32). 14 Vom Sprechzeitpunkt ausgehend, ist es dem Subjekt möglich, zeitliche Referenz zu einem Ereignis, das versprachlicht werden soll, herzustellen. Dieses findet zu einem bestimmten Zeitpunkt, dem Ereigniszeitpunkt, statt (en. point of event , abgekürzt als E). Prinzipiell ist es allein mit diesen beiden Zeitpunkten möglich, die temporalen Relationen der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit darzustellen: 14 Die Reichenbachsche Terminologie der Zeitpunkte ist insofern nicht unproblematisch, als sowohl das Jetzt des Sprechens als auch jegliche Situation, über die gesprochen wird, eine gewisse zeitliche Ausdehnung besitzt und somit nicht punktueller Natur sein kann. Von Zeitpunkten zu sprechen, ist also strenggenommen nicht korrekt. Dennoch wird auch in dieser Arbeit, wenn von einem Zeitintervall mit einer sehr geringen zeitlichen Ausdehnung gesprochen wird, der Begriff des Zeitpunktes übernommen. <?page no="28"?> 2.2 Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994) 29 • Vorzeitigkeit: [E < S] (E vor S) • Gleichzeitigkeit: [E = S] (E gleichzeitig mit S) • Nachzeitigkeit: [S < E] (S vor E) Formen, deren Semantiken durch diese grundlegenden Relationen beschrieben werden können, werden auch als absolute Tempora (vgl. Comrie 1985: 36) oder basic tenses (vgl. Klein 2009b: 43) bezeichnet. Zur Darstellung jener Tempora, die keine direkte Relation zum Sprechzeitpunkt herstellen, führt Reichenbach einen weiteren zeitlichen Bezugspunkt ein, den Referenzzeitpunkt (en. reference point , abgekürzt als R). 15 Dieser kann im selben Satz festgelegt oder durch den Kontext gegeben sein. Er wird beispielsweise benötigt, wenn man über ein Ereignis sprechen will, das vor einem Ereignis stattgefunden hat, das wiederum vor dem deiktischen Zentrum liegt. Als Beispiel kann das deutsche Plusquamperfekt in Beispielsatz 18 genannt werden (vgl. Heinold 2015: 80): (18) Peter: „Maria hatte die Fenster schon geputzt, als ich heimkam .“ [E < R < S] Die Fettmarkierung von Peter verweist darauf, dass es einen Sprechzeitpunkt gibt, zu welchem Peter die Äußerung tätigt. Die Tätigkeit (E), über die gesprochen wird (Maria Fenster putzen), findet in der Vergangenheit statt und liegt somit vor dem Sprechzeitpunkt. Zwischen dem Sprechzeitpunkt und dem Ereigniszeitpunkt liegt aber noch ein weiteres Ereignis ( ich heimkommen ), das durch den Referenzzeitpunkt dargestellt wird (kursiv). Diese Relation (E < R < S) kann auf einer Zeitachse folgendermaßen dargestellt werden: Abb. 2: Die temporale Relation des Plusquamperfekts Das für diese Arbeit relevanteste Problem des Reichenbachschen Systems ist, dass es die aspektuelle Opposition von perfektiv und imperfektiv nicht befriedigend 15 Ein Aspekt, der an Reichenbach häufig kritisiert wird, ist, dass er den Referenzzeitpunkt als obligatorisch ansieht, das heißt, dass auch die Darstellung der absoluten Tempora mithilfe aller drei Zeitpunkte erfolgt (vgl. Comrie 1985, der diese Herangehensweise nicht übernimmt). <?page no="29"?> 30 2 Tempus und Aspekt ausdrücken kann (vgl. Haßler 2016: 19; für weitere Kritikpunkte vgl. Klein 2009b: 45; Stowell 2012: 187-189). In seinem System werden beispielsweise sowohl das spanische imperfecto als auch das perfecto simple gleichermaßen beschrieben: (19) Ayer fui al colegio. E = R < S (20) Ayer iba al colegio. E = R < S Das Tempussystem von Klein (1994, 2009a, b) baut auf jenem von Reichenbach auf. Dadurch, dass Klein nicht von Zeitpunkten, sondern von Zeitspannen spricht (vgl. Klein 2009a: 22), lassen sich aspektuelle Relationen darstellen. Um diese Zeitspannen zu benennen, verwendet Klein zwar andere Begrifflichkeiten, die aber durchaus gewisse konzeptuelle Ähnlichkeiten zu den Zeitpunkten Reichenbachs aufweisen: Reichenbach (1947) Klein (1994) Sprechzeitpunkt Zeit der Äußerung (en. time of utterance , TU) Ereigniszeitpunkt Zeit der Situation/ Situationszeit (en. time of situation , TSit) Referenzzeitpunkt Topikzeit (en. topic time , TT) Tab. 6: Gegenüberstellung von Reichenbach (1947) und Klein (1994) Klein (1994: 36-48) veranschaulicht das Zusammenspiel der drei Zeitspannen anhand der folgenden Situation: Ein Richter fragt einen Zeugen, was er beim Betreten eines Raumes, in welchem ein toter Mann auf dem Boden lag, gesehen hat. Darauf antwortet dieser das Folgende: (21) A man was lying on the floor. - - - - - [-] - - - - - < TU Durch eine sogenannte questio (= die Frage des Richters) , die entweder explizit gestellt wird oder implizit durch den jeweiligen Kontext vorgegeben ist, wird die Topikzeit festgelegt (dargestellt durch die eckigen Klammern [ ] in Beispielsatz 21). Sie fokussiert jene Zeitspanne, über die tatsächlich eine Aussage gemacht wird. Klein (1994: 4) beschreibt sie folgendermaßen: „[The topic time] is the time span to which the speaker’s claim on this occasion is confined.“ In Beispielsatz 21 bezieht sie sich demnach auf diejenige Zeitspanne, zu welcher der Raum be- <?page no="30"?> 2.2 Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994) 31 treten wurde. Die Situationszeit hingegen nimmt auf die Zeitspanne von a man lie on the floor Bezug (dargestellt durch - - - - - -). Sie ist nicht auf die relativ kurze Zeitspanne der Topikzeit beschränkt. Der Mann lag auf dem Boden, sowohl bevor der Zeuge den Raum betreten hat als auch danach. Beispielsatz 21 stellt exemplarisch dar, dass die Topikzeit in der Situationszeit eingeschlossen ist und vor der Zeit der Äußerung liegt (= die Aussage vor Gericht). Es ist die Relation von TSit und TT, welche es ermöglicht, aspektuelle Informationen darzustellen: „Aspects are ways to relate the time of situation to the topic time: TT can precede TSit, it can follow it, it can contain it, or be partly or fully contained in it“ (ebd.: 99). Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, wie TT und TSit zueinander in Bezug treten können. TT kann wie in Beispielsatz 21 vollständig in TSit enthalten sein (= TT incl TSit). Die damit einhergehende Unbegrenztheit von TSit im Hinblick auf TT erzeugt die für die Beschreibung des imperfektiven Aspekts so bekannte Innenperspektive (vgl. ebd.: 108). Eine zweite Möglichkeit ist, dass TT (nur teilweise) in TSit enthalten ist (= TT at TSit). Klein (1994: 102-103) veranschaulicht diese TSit-TT-Relation anhand desselben Beispiels. Allerdings bittet der Richter den Zeugen nun, alle Ereignisse zu schildern, die er zwischen zwei und fünf Uhr erlebt hat. In dieser dreistündigen Zeitspanne, bei welcher es sich um die Topikzeit handelt, ist es durchaus möglich, dass eine Freundin des Zeugen, Mary, um halb drei eingeschlafen und um halb fünf wieder aufgewacht ist. In diesem Fall ist TSit vollständig in TT enthalten. Laut Klein stellt diese Relation den perfektiven Aspekt dar, da Anfang und Ende der Handlung in der TT und somit in der Perspektive des Sprechers eingeschlossen sind: (22) Mary slept. [ - - - - - - - - ] Klein (1994: 108) hält fest, dass es sich bei all den verschiedenen Beziehungen zwischen TSit und TT um rein temporale Relationen handelt, welche die eher metaphorische Beschreibung der Begrenztheit fassen können: These definitions are strictly in terms of temporal relations. But it appears that they neatly reflect the intuitions behind more metaphorical characterizations such as ‘seen from the inside’ or ‘completed’. In the case of the IMPERFECTIVE, for example, the time for which an assertion is made falls entirely within the time of the situation; this gives the impression that the situation is, so to speak, seen from its inside. Die Beziehung zwischen TT und TSit eignet sich demnach, um perfektiven und imperfektiven Aspekt darzustellen. Im Unterschied dazu beschreibt die Relation zwischen TT und TU die genuin temporalen Eigenschaften der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit. In den genannten Beispielen liegt TT vor TU, weshalb die <?page no="31"?> 32 2 Tempus und Aspekt Situation als in der Vergangenheit liegend interpretiert wird. Wenn sich TT simultan zu TU befindet, wird eine gegenwärtige Situation beschrieben; wird sie nach TU situiert, handelt es sich um die Zukunft. Bevor im nächsten Kapitel darauf eingegangen wird, wie perfektive und imperfektive Aspektualität in den für diese Arbeit wichtigen Einzelsprachen ausgedrückt wird, ist es sinnvoll, die wesentlichen Inhalte der letzten beiden Kapitel noch einmal zusammenzufassen. Hinsichtlich des lexikalischen Aspekts wird eine dreiteilige Klassifikation verwendet, die auf den folgenden Begrifflichkeiten beruht: • Zustände: [dynamisch], [telisch] • Aktivitäten: [+ dynamisch], [telisch] • Telics : [+ dynamisch], [+ telisch] Bezüglich des grammatikalischen Aspekts wird zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterschieden (begrenzt vs. unbegrenzt), wobei letzterer in eine habituelle, eine kontinuative und eine progressive Komponente unterteilt wird. Zur Beschreibung der Tempussysteme der Einzelsprachen wird auf das Kleinsche Systems zurückgegriffen. Diesbezüglich werden die Begrifflichkeiten der Äußerungszeit (TU; auch Sprechzeitpunkt), der Situationszeit (TSit) und der Topikzeit (TT; auch Referenzzeit) übernommen. Temporale Unterschiede werden durch die Relation von TU und TT ausgedrückt, aspektuelle durch die Beziehung von TT und TSit. Vorzeitigkeit wird demnach als TT vor TU beschrieben. Perfektiver Aspekt wird durch die Inklusion von TSit in TT (oder graphisch durch [- - - - - ]) dargestellt; imperfektiver durch das Enthaltensein von TT in TSit (oder graphisch durch - - - [- - -] - - -). Da Klein hauptsächlich zwischen perfektiv und imperfektiv unterscheidet, werden im Folgenden die Semantiken der Kontinuität und Habitualtität nicht mithilfe seines Systems erläutert. 16 Eine stark simplifizierte Darstellung des Aspektualitätsverständnisses der vorliegenden Arbeit findet sich in Abbildung 3: 16 Jedoch sei darauf verwiesen, dass Habitualität von Klein durchaus berücksichtigt wird, wenn auch nur in sehr begrenztem Umfang (vgl. Klein 1994: 47-48, 206-208). <?page no="32"?> 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 33 Abb. 3: Darstellung des Aspektualitätsverständnisses der vorliegenden Arbeit Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie das Deutsche, das Englische, das Lateinische, das Französische und das Spanische die Opposition von perfektiv/ imperfektiv versprachlichen. 2.3 Tempus und Aspekt im Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen In diesem Kapitel wird analysiert, wie die in dieser Arbeit behandelten Einzelsprachen die aspektuelle Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv ausdrücken. Der Fokus liegt dabei auf der temporalen Domäne der Vorzeitigkeit und der grammatischen Kategorie des Aspekts. In manchen Fällen wird aber auch auf lexikalische und pragmatische Ausdrucksmittel eingegangen. Wenn eine Sprache zwei (teilweise) bedeutungsgleiche Formen besitzt, um (Im-)perfektivität auszudrücken, werden beide Formen beschrieben (z. B. im Französischen bei passé simple und passé composé ). Da weder das Plusquamperfekt noch „echte“ Perfekt-Konstruktionen (z. B. das englische present perfect oder das spanische perfecto compuesto ) im empirischen Teil der Arbeit untersucht werden, wird nicht weiter auf diese Formen eingegangen. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: Nachdem zuerst auf das Deutsche und das Englische eingegangen wird, werden im Anschluss daran das Lateinische sowie die beiden romanischen Sprachen, Französisch und Spanisch, beschrieben. <?page no="33"?> 34 2 Tempus und Aspekt 2.3.1 Das Deutsche Dieses Kapitel startet mit einem kurzen Überblick über die beiden deutschen Vergangenheitsformen, das Perfekt und das Präteritum. Darauffolgend wird argumentiert, dass ihre Semantik weitgehend bedeutungsgleich ist und dass die wenigen Unterschiede pragmatischer oder stilistischer Natur sind. Schließlich wird auf diverse Möglichkeiten des Deutschen eingegangen, Aspektualität auszudrücken. Beim Präteritum (z. B. sie machte ) handelt es sich um ein Vergangenheitstempus, „[das] eine Situation einem Referenzintervall zu[ordnet], das vor dem Sprechereignis liegt“ (Vater 2007: 53). In der Kleinschen Terminologie heißt dies, dass sich die Topikzeit (TT) vor der Zeit der Äußerung (TU) befindet (vgl. auch Rothstein 2007: 36-39). 17 Im Unterschied zum Präteritum ist die Topikzeit beim Perfekt (z. B. sie hat gemacht ) variabel in Bezug auf die Äußerungszeit (vgl. Vater 2007: 64). Ihre Lokalisierung vor der Äußerungszeit stellt die Standardinterpretation des Perfekts dar, dennoch kann durch die Situierung von TT simultan zu TU der so oft diskutierte Gegenwartsbezug erzeugt werden. Ob TT vor oder simultan zu TU lokalisiert wird und damit die Frage, ob eine perfektische 18 oder eine vorzeitige 17 Eine Beschreibung des deutschen Tempussystems, die nicht auf einem zeitreferenziellen Prinzip à la Reichenbach oder Klein aufbaut, präsentiert Weinrich (2003: 219-222). Die Grundlage für seine Analyse ist die diskursive Funktion der deutschen Tempora. Er differenziert zwischen Tempus-Registern und Tempus-Perspektiven. Erstere unterteilt er in Tempora der besprochenen (z. B. Perfekt) und Tempora der erzählten Welt (z. B. Präteritum). Sie unterscheiden sich durch das semantische Merkmal [+ Aufschub], das den Tempora der erzählten Welt zukommt, und [+ Bereitschaft], das für jene der besprochenen Welt zutrifft. Das Merkmal [+ Bereitschaft] bedeutet, dass der Hörer eine gespannte Rezeptionshaltung einnehmen soll. Die geäußerten Prädikationen sind ernst zu nehmen und der Hörer kann sich darauf einstellen, dass sie auch für ihn Gültigkeit haben. Wenn Tempora der erzählten Welt verwendet werden, soll er hingegen eine entspannte Rezeptionshaltung einnehmen. Die Prädikationen haben auch hier feste Geltung, jedoch wird der Hörer um Aufschub der Argumentationspflicht gebeten. Laut Weinrich (2003: 198- 207) ist dies notwendig, da eine Erzählung Zeit benötigt, um sich zu entfalten. Bezüglich der Tempus-Perspektive, die er als „eine Kategorie der Einstellung, mit der die Geltungsweise einer Prädikation zeitlich festgelegt wird“ (ebd.: 207), definiert, unterscheidet er eine Neutral-Perspektive (z. B. Präteritum), bei der die zeitliche Perspektive keine Rolle spielt und eine Differenz-Perspektive (Rück- und Voraus-Perspektive; z. B. Perfekt). Das Präteritum definiert er damit als ein Neutral-Tempus, das als Leit-Tempus der erzählten Welt das Merkmal [+ Aufschub] besitzt, aufgrund dessen es sich besonders gut eignet, den Hintergrund in Erzählungen darzustellen. 18 Thieroff (1992: 169) unterscheidet zwischen einem perfektischen und einem nicht perfektischen Perfekt. In der vorliegenden Arbeit wird unter ersterem ein Perfekt verstanden, das einen gewissen Bezug zum Sprechzeitpunkt herstellt (siehe Thieroff 1992: 172-186 für eine ausführliche Darstellung). Semantisch könnte man es mit dem Merkmal <?page no="34"?> Lesart in den Vordergrund rückt, hängt nicht von grammatikalischen, sondern von pragmatischen Verfahren ab (für eine ausführliche Analyse vgl. Klein 1999, 2000; Musan 1999; Welke 2005, 2010). Daraus folgt, dass das Perfekt „in seiner denotativen Bedeutung vollkommen synonym zum Präteritum“ ist (Welke 2010: 20). Seine Grundbedeutung ist demzufolge die eines Vergangenheitstempus, was dadurch deutlich wird, dass es in den meisten Fällen nicht in Opposition zum Präteritum tritt, sondern mit ihm ausgetauscht werden kann. Diese weitgehende Austauschbarkeit beider Formen ist ein Zeichen dafür, dass das Deutsche keine obligatorischen, vollständig grammatikalisierten Mittel besitzt, um zwischen perfektiv und imperfektiv zu unterscheiden. Das Deutsche wird somit als Nicht-Aspektsprache gehandhabt (vgl. Andersson 2004; Ballweg 2004; Baudot 2004; Behrens et al. 2013; Bohnemeyer/ Swift 2004; Schwenk 2012; Thieroff 1992; Zifonun et al. 1997). Im Hinblick auf die Perfektivität zeigt sich dies insofern, als durch das Hinzufügen eines gegenwärtigen Kontextes Sätze im Perfekt und im Präteritum nicht ungrammatisch werden (siehe conjunction test in Kapitel 2.1.2; Beispiele in Anlehnung an Smith 1997: 194): (23) Letzten Sommer haben sie ein Haus gebaut. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen. (24) Letzten Sommer bauten sie ein Haus. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen. Sowohl die Verwendung des Perfekts (Beispielsatz 23) als auch jene des Präteritums (Beispielsatz 24) impliziert nicht, dass das Haus fertig gebaut wurde. Beide Sätze sind somit akzeptabel, was zeigt, dass die Begrenztheit nicht Teil der Semantik der beiden Tempora ist, sondern sich aus dem Kontext ergibt. Auch die Analyse mithilfe des Kleinschen (1994) Tempussystems veranschaulicht, dass es zwischen Präteritum und Perfekt keine aspektuelle Unterscheidung im Sinne der Opposition perfektiv/ imperfektiv gibt. Zur Illustration wird auf die in Kapitel 2.2 genannten Beispiele in etwas modifizierter Form eingegangen. Durch die questio des Richters wird ein Topikzeit-Intervall etabliert, zu dem die Situationszeit (TSit) in Bezug gesetzt wird. Ist die Topikzeit in der Situationszeit eingeschlossen, wird der imperfektive Aspekt dargestellt; ist TSit jedoch in TT enthalten, der perfektive (vgl. ebd.: 108). Beispielsweise könnte der Richter fragen, was der Zeuge zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, was einem Topikzeit-Intervall von drei Stunden gleichkommen würde. Der Zeuge könnte das Folgende antworten: [+ Gegenwartsbezug] charakterisieren. Das nicht perfektische Perfekt hingegen kann einen solchen Gegenwartsbezug nicht ausdrücken. 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 35 <?page no="35"?> 36 2 Tempus und Aspekt (25) Ich habe einen Kaffee mit Freunden getrunken. [ - - ] (26) Ich trank einen Kaffee mit Freunden. [ - - ] Im Anschluss könnte der Richter vom Zeugen wissen wollen, was dieser beim Betreten des Raumes, in dem sich der Tote befand, gesehen hat. In diesem Fall ist TT punktueller Natur und TSit ist nicht auf das kurze Zeitintervall von TT beschränkt. Auf die Frage antwortet der Zeuge Folgendes: (27) Ein Mann ist auf dem Boden gelegen. - - - - [-] - - - - (28) Ein Mann lag auf dem Boden. - - - - [-] - - - - In Sprachen, die über eine aspektuelle Unterscheidung verfügen, müsste für die Relation zwischen Topik- und Situationszeit in den Beispielsätzen 25 und 26 perfektive Morphologie, in den Beispielsätze 27 und 28 hingegen imperfektive Morphologie verwendet werden. Die Beispiele demonstrieren, dass sowohl das Perfekt als auch das Präteritum für dieselben aspektuellen Nuancen verwendet werden kann, und beweisen somit zusätzlich zum conjunction test , dass es im Deutschen keinen Aspekt im Sinne einer grammatischen Kategorie gibt. Für die Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv greift das Deutsche auf nicht grammatische Mittel zurück (z. B. lexikalische oder pragmatische). Beispielsweise argumentieren Bohnemeyer und Swift (2004; vgl. auch Ballweg 2004), dass die aspektuelle Interpretation in aspektlosen Sprachen von der Telizität der Prädikate abhängt: [T]here are languages - e.g. German […] - in which the aspectual reference of clauses or verb phrases […] depends on the telicity of the event predicates they encode (Bohnemeyer/ Swift 2004: 264). Diesbezüglich führen sie den Begriff der „telicity-dependent aspectual reference“ ein (ebd.: 266). Wird die aspektuelle Information nicht morphologisch markiert, wird den Sätzen basierend auf der Telizität der Prädikate ein Aspekt- Operator zugeordnet: By telicity-dependent aspectual reference, we mean the phenomenon that clauses or verbal projections not overtly marked for viewpoint aspect are assigned semantic viewpoint aspectual operators on the basis of the telicity of their event predicates (ebd.). <?page no="36"?> Daraus ergibt sich, dass Sätze mit atelischem Prädikat (z. B. die partitive Konstruktion an einem Brief schreiben in Beispiel 29) imperfektiv und Sätze mit telischem Prädikat (Beispiel 30) perfektiv interpretiert werden: (29) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie an einem Brief. (imperfektiv) (30) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. (perfektiv) (Beispielsätze aus ebd.: 268) Die Standardinterpretation von Satz 29 ist dementsprechend, dass Mary schon an einem Brief geschrieben hat, bevor der Raum betreten wurde. Beispielsatz 30 hingegen wird dermaßen interpretiert, dass Mary in dem Moment, in dem der Raum betreten wurde, begonnen hat, einen Brief zu schreiben. Bohnemeyer und Swift betonen, dass diese Deutungen nicht die einzig gültigen sind, sondern dass sie lediglich die Standardinterpretation der entsprechenden Sätze darstellen. Demnach handelt es sich um eine pragmatische Implikatur, woraus sich ergibt, dass durch einen anderen Kontext eine andere Interpretation erzeugt werden kann: (31) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. Überrascht blickte sie auf, legte den Stift zur Seite, und lächelte mich an. (Beispielsatz aus ebd.: 269) Da in allen angeführten Beispielen prinzipiell beide Lesarten möglich sind, greift das Deutsche meist zusätzlich auf lexikalische Mittel zurück (z. B. Verbalperiphrasen), um die entsprechende Interpretation deutlich zu machen. Durch inchoative Verben wie beginnen kann beispielsweise die perfektive Lesart hervorgehoben werden: (32) Als ich Marys Büro betrat, begann sie, einen Brief zu schreiben. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Präfixen. In Beispielsatz 33 wird beispielsweise durch das Präfix {aus-} die Perfektivität der Handlung betont: (33) Johann hat das Glas Wasser ausgetrunken. Progressivität hingegen wird unter anderem durch die Verwendung von Adverbien wie gerade akzentuiert (vgl. Ebert 2000: 631; Heinold 2015: 63-64): (34) Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie gerade an einem Brief. Das Adverbium gerade kann mit allen Tempora und Aspekten (auch mit Progressiv-Konstruktionen) kombiniert werden und ist als rein lexikalische Ausdrucksweise von Progressivität zu verstehen (vgl. Ebert 2000: 631). Darüber 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 37 <?page no="37"?> 38 2 Tempus und Aspekt hinaus ist es möglich, gerade als lexikalische Modifizierung zur Disambiguierung zweideutiger Sätze einzusetzen. In Beispielsatz 36 wird das Adverb verwendet, um die Ambiguität des Satzes zwischen einer habituellen und einer progressiven Lesart aufzuheben (vgl. Heinold 2015: 64): (35) Ich rauche. (habituell oder progressiv) (36) Ich rauche gerade. (progressiv) Eine weitere Möglichkeit, den dynamischen Charakter einer Handlung zu betonen, ist die Verwendung von dabei + sein (finit) + zu (vgl. Ebert 2000: 607). Diese Periphrase ist, anders als beispielsweise die am -Periphrase, auch in der Standardsprache verwendbar (vgl. Ballweg 2004: 78): (37) Als ich Marys Büro betrat, war sie dabei, an einem Brief zu schreiben. Die am -Periphrase (auch ,rheinische Verlaufsform‘) wird mithilfe von sein (finit) + am + substantivierter Infinitiv gebildet (vgl. Ebert 2000: 607). Sie wird in der Literatur auch als deutsches Progressiv bezeichnet und „kennzeichnet […] den entsprechenden Prozeß als im Verlauf befindlich, es liegt also eine Binnenperspektive vor, Grenzen werden nicht sichtbar“ (Zifonun et al. 1997: 1877). Die Frage, ob diese Form bereits vollständig grammatikalisiert ist, wird in der Literatur intensiv diskutiert (vgl. Heinold 2015: 60-66). Das obere Ende des Spektrums nimmt Thiel (2008: 13) ein, die das deutsche Progressiv „in verschiedenen sprachlichen Registern und geografischen Regionen“ nachgewiesen und eine Liste sprachnormierender Instanzen erstellt hat, welche die am -Periphrase anerkennen. Auch Van Pottelberge (2005: 171) argumentiert, dass die rheinische Verlaufsform „unbestreitbar zu den systematisch bildbaren Einheiten der Grammatik [gehört] und […] in diesem Sinne eine grammatikalisierte Verbform [ist]“. In seiner Darstellung erkennt er aber an, dass der Funktionsbereich der Periphrase insofern relativ eingeschränkt ist, als ihr Gebrauch nicht obligatorisch und in der deutschen Standardsprache nicht sehr häufig ist. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Ballweg (2004: 78), der erwartet, „dass bei fortschreitendem Grammatikalisierungsprozess das Deutsche der Zukunft über ein [vollständig grammatikalisiertes] Progressiv verfügen wird“. Auch wenn Behrens, Flecken und Carroll (2013) dem am -Progressiv eine systematische Bildung nicht absprechen, können sie anhand ihrer empirischen Studie zeigen, dass L1-Sprecher des Deutschen die Periphrase kaum aktiv produzieren. Daraus schließen sie, dass die Progressivperiphrase keine grammatikalische Option im Standarddeutschen ist (vgl. Behrens et al. 2013: 126; vgl. auch Mair 2012: 804 für eine ähnliche Sichtweise). Ebert (2000: 606) und Ballweg (2004: 78) stellen außerdem fest, dass die rheinische Verlaufsform hauptsächlich in informalen Kontexten und in der gesprochenen <?page no="38"?> Sprache verwendet wird. Schließlich sei an dieser Stelle erwähnt, dass es noch weitere Periphrasen gibt, wie beispielsweise beim + substantivierter Infinitiv + sein oder im + substantivierter Infinitiv + sein , die allerdings eine wesentlich eingeschränktere Verwendung aufweisen (vgl. Ebert 2000: 630-631). Auch Habitualität wird im Deutschen nicht mithilfe grammatischer Mittel markiert. Typisch ist die Verwendung von Adverbien wie immer oder für gewöhnlich (vgl. Heinold 2015: 66) oder des infinitivregierenden Verbs pflegen (vgl. Barz et al. 2009: 410; Dahl 1985: 96). Aufgrund des geringen Stellenwerts wird der Ausdruck von Habitualität in deutschen Grammatiken normalerweise nicht oder nur bedingt besprochen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Deutsche über keine grammatikalischen Mittel verfügt, um aspektuelle Unterschiede auszudrücken. Um zwischen Perfektivität und Imperfektivität zu unterscheiden, greift es auf pragmatische oder lexikalische Ausdrucksmittel wie Adverbien oder nicht vollständig grammatikalisierte Periphrasen zurück. Im nächsten Kapitel wird auf das Englische eingegangen und es wird dargelegt, wie Aspektualität in dieser Sprache ausgedrückt wird. 2.3.2 Das Englische Im Unterschied zum Deutschen besitzt das Englische eine vollständig grammatikalisierte und obligatorische aspektuelle Opposition zwischen progressiv und nicht progressiv. Sie findet sich auf allen Zeitstufen und kommt durch die Unterscheidung zwischen der periphrastischen Konstruktion be + V-ing und den entsprechenden nicht progressiven Formen zum Ausdruck (vgl. Bertinetto et al. 2000; Comrie 1976: 32-40; Dahl 1985: 90-95; Declerck 2006: 32-34; Hewson 2012: 514; Mair 2012). Im Folgenden wird die temporale Domäne der Vorzeitigkeit fokussiert und es wird mithilfe des Kleinschen Systems der Unterschied zwischen past progressive und simple past herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird unter Zuhilfenahme des conjunction tests gezeigt, dass es sich beim englischen simple past um keine genuin perfektive Verbform handelt und schließlich wird darauf eingegangen, welche Ausdrucksmittel das Englische verwendet, um habituelle Semantik auszudrücken. Mithilfe des Kleinschen Systems und der in Kapitel 2.2 etablierten questio kann die progressive Semantik dargestellt werden. Als Antwort auf die Frage, was der Zeuge beim Betreten des Raumes gesehen hat, könnte dieser das Folgende antworten: (38) My friend was talking to a man. ( progressive -Form) - - - - [-] - - - - 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 39 <?page no="39"?> 40 2 Tempus und Aspekt Die progressive -Form in Beispielsatz 38 fokussiert dasjenige Zeitintervall, zu dem der Raum betreten wurde (= Topikzeit). Das Sprechen des Freundes (= Situationszeit) ist nicht auf das kurze Zeitintervall der Topikzeit beschränkt. TT ist somit in TSit enthalten, woraus sich die progressive Lesart ergibt. Stellt der Richter die questio allerdings etwas anders und fragt, was der Zeuge während seines Aufenthaltes in dem Raum getan hat, ist die folgende Antwort möglich: (39) I talked to a friend. ( simple past ) [ - - ] Die Zeit, die der Zeuge in dem Raum verbringt (= Topikzeit), hat eine längere Zeitdauer als das Gespräch mit dem Freund (= Situationszeit). TSit ist somit in TT enthalten, woraus sich laut Klein (1994) die Abgeschlossenheit des simple past ergibt. Aus der bisherigen Darstellung könnte man schließen, dass die Opposition von simple past und past progressive mit der Opposition von perfektiv und imperfektiv vergleichbar ist. Dies ist aber in zweierlei Hinsicht problematisch (vgl. Comrie 1976: 7): Auf der einen Seite kann das simple past problemlos Habitualität ausdrücken (vgl. Tagliamonte/ Lawrence 2000); auf der anderen Seite erzeugt es nur mit nicht statischen Verben eine perfektive Lesart; mit statischen ist die Interpretation offen (vgl. Smith 1997: 170-171). Dies äußert sich insofern, als eine kontextuelle Negierung der perfektiven Lesart mit statischen Verben möglich ist (Beispielsatz 41), wohingegen sie mit nicht statischen (Beispielsatz 40) einen ungrammatischen Satz erzeugt: (40) *Lucas finished the manuscript and he is still finishing it. (41) Lucas was sick, and he still is sick. (Beispielsätze aus Salaberry 2008: 48) Dass die perfektive Lesart des simple past in Kombination mit statischen Prädikaten kontextuell negiert werden kann, bedeutet, dass sie von der Semantik der Verben abhängt. Dies lässt darauf schließen, dass das englische simple past keine genuin perfektive Verbform ist und dass es sich um einen Tempus- und nicht um einen Aspekt-Marker handelt: „[T]he English Simple Past is not regarded as an aspectual marker but a tense marker, [as] it conveys the meaning of perfectivity […] in a pragmatically ‘cancellable way’“ (Salaberry 2008: 48). De Swart (2012: 761) spricht deshalb von einer aspektneutralen Form: [W]e can view the Simple Past as an aspectually neutral tense, which just locates the state or event introduced by the predicate-argument structure in the past […]. <?page no="40"?> The neutral interpretation accounts more easily for stative descriptions […], or the habitual interpretation […]. Die aspektuelle Unterscheidung im Englischen beläuft sich also nicht auf perfektiv/ imperfektiv, sondern auf progressiv/ nicht progressiv. Die englische progressive -Form hat mehrere Lesarten: Sie kann sowohl mit einer fokussierenden/ punktuellen als auch mit einer durativen Referenzzeit kombiniert werden (vgl. Bertinetto 2000: 565-566; Declerck 2006: 33). Dies zeigt sich beispielsweise durch die Verwendung von adverbialen Ergänzungen, die ein Geschehen zeitlich limitieren: (42) At 7 p. m. I was still working. (fokussierend) - - - - - [-] - - - - - - (43) From 2 to 4 I was reading a book. (durativ) - - - [ - - - - ] - - - - (Beispielsätze in Anlehnung an Declerck 2006: 33) In Kapitel 2.1.2 wurde darauf eingegangen, dass progressiver Aspekt normalerweise nicht mit statischen Prädikaten verwendet werden kann. Dies trifft auch auf die englische progressive -Form zu. Daraus resultiert, dass sie nur in Kombination mit dem simple past auftreten können, was wiederum bedeutet, dass Kontinuität im Englischen, so wie sie in der vorliegenden Arbeit definiert wird, anders als beispielsweise im Französischen und Spanischen, durch das simple past ausgedrückt wird (vgl. Domínguez et al. 2017: 437). Es gibt allerdings einige Ausnahmen: Statische Verben können in bestimmten Kontexten als Aktivitäts- Verben interpretiert werden, wodurch die Kombination mit der progressive - Form zulässig wird (vgl. Comrie 1976: 36; Smith 1997: 171; vgl. Bertinetto 2000: 584 für eine andere Interpretation): (44) Fred is being silly. (= Fred is acting in a silly manner.) (Beispielsatz aus Comrie 1976: 36) Habituelle Ereignisse in der Vergangenheit werden im Englischen durch das simple past oder mithilfe der beiden Auxiliarverben would und used to ausgedrückt (vgl. Binnick 2005: 339; Declerck 2006: 34-35; Tagliamonte/ Lawrence 2000): [In the past] the auxiliars would and used to are the only […] expressions of habitual aspect […] in English. Otherwise, habitual meaning is normally expressed by a nonprogressive verb form, often in combination with a repetitive adverb like habitually, usually, normally, etc. (Declerck 2006: 34-35). 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 41 <?page no="41"?> 42 2 Tempus und Aspekt Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Englischen, Habitualität auszudrücken, werden in den beiden Beispielsätzen 45 und 46 veranschaulicht: (45) He would often come/ used to come and talk to her when he had finished working. (46) As a child, I usually/ often/ always met with Harry. (Beispielsatz 45 aus Declerck 2006: 34) Das simple past kann als Habitualitäts-Marker ausgeschlossen werden, da es zusätzliche lexikalische oder pragmatische Mittel benötigt, um eine habituelle Lesart zu erzeugen (vgl. Binnick 2005: 352; Carlson 2012: 831-835). Dennoch ist es jene Form, die im gesprochenen Englisch am häufigsten zum Ausdruck von habitueller Semantik verwendet wird (ca. 70 %; vgl. Tagliamonte/ Lawrence 2000: 330). Bezüglich used to und would , die laut der Studie von Tagliamonte und Lawrence eine niedrigere Frequenz aufweisen als das simple past (ca. 19 % bzw. 6 %), herrscht eine widersprüchliche Meinung in der Literatur. Einige Autoren sehen die used-to -Periphrase als Habitualitäts-Marker an (vgl. Comrie 1976: 25; Declerck 2006: 34-35), andere widersprechen dieser Position und argumentieren, dass nur would als ein solcher fungiert (vgl. Binnick 2005). Aufgrund der geringen Frequenz, der fehlenden Obligatorität und der Tatsache, dass primär das simple past verwendet wird, um die habituelle Semantik auszudrücken, kann im Englischen nicht von einer vollständig grammatikalisierten Kategorie des habituellen Aspekts gesprochen werden. In der temporalen Domäne der Vorzeitigkeit findet sich die aspektuelle Opposition zwischen dem simple past und der Progressivperiphrase be + V-ing , die im Unterschied zum Imperfekt, wie es sich im Lateinischen und den romanischen Sprachen vorfindet, nicht mit statischen Prädikaten kombiniert werden kann. Überhaupt handelt es sich beim progressiven Aspekt um eine Subkategorie des imperfektiven, weshalb ein Vergleich nur im Bereich der progressiven Semantik mit nicht statischen Prädikaten möglich ist. In den folgenden Kapiteln wird dargestellt, wie die Opposition perfektiv/ imperfektiv im Lateinischen und den romanischen Sprachen versprachlicht wird. 2.3.3 Das Lateinische Im Unterschied zum Deutschen und zum Englischen besitzt das Lateinische als erste hier behandelte Sprache die aspektuelle Opposition von perfektiv/ imperfektiv. Jede der drei lateinischen Zeitstufen kann prinzipiell in perfectum und infectum unterteilt werden (vgl. Hewson 2012: 507-509; Maiden 2011: 175; Salvi 2011: 327), allerdings findet sich die Opposition zwischen dem perfektiven Perfekt ( laudavit ) und dem Imperfekt ( laudabat ) wie in den romanischen Sprachen <?page no="42"?> nur auf der Zeitebene der Vergangenheit. Alle anderen aspektuellen Unterscheidungen gehen mit einer unterschiedlichen Lokalisierung auf der Zeitachse einher (vgl. Salvi 2011: 327-328) und werden typischerweise als retrobzw. prospektiver Aspekt beschrieben, je nachdem ob sich TSit vor oder nach TT befindet (vgl. Klein 1994: 103-104). Das lateinische Perfekt weist sowohl einen perfektiven als auch einen perfektischen Wert auf (vgl. Harris 1982: 46-49; Müller-Lancé 2006a: 171-172). Letzterer wird mithilfe des sogenannten resultativen oder präsentischen Perfekts ausgedrückt. Dieses „bezeichnet einen Zustand, der in der Vergangenheit begonnen hat und in der Gegenwart noch andauert“ (Menge 2000: 186; vgl. auch Kühner/ Stegmann 1966: 124-126). Das perfektive Perfekt, das für die Belange der vorliegenden Arbeit von Relevanz ist, kann auch als aoristisches oder historisches Perfekt bezeichnet werden. Priscian (8, 52-53; zit. n. Pinkster 1988: 338) 19 beschreibt die Unterscheidung zwischen perfektivem Perfekt und Imperfekt folgendermaßen: si incipiam in praeterito versum scribere et imperfectum eum […] relinquam tunc utor praeterito imperfecto dicens ‚scribebam versum‘; […] continuo enim scripto ad finem versu dico ‚scripsi versum‘. 20 Der perfektive Charakter des lateinischen Perfekts äußert sich dadurch, dass eine Handlung als geschehen, als in einem Moment zusammengedrängt bzw. als abgeschlossen dargestellt wird. Das Ereignis wird vom Sprecher gewissermaßen mit einem Blick überschaut. Das perfektive Perfekt eignet sich daher ideal dafür, den Handlungsstrang voranzutreiben. Daraus folgend wird argumentiert, dass es in narrativen Texten „die Hauptereignisse und Haupttatsachen an[führt], das Imperfekt hingegen […] die gleichzeitigen Nebenhandlungen und begleitenden Umstände veranschaulichend dar[stellt]“ (Kühner/ Stegmann 1966: 127; vgl. auch Pinkster 1988: 360-363). Diese narrative Funktion der „Beschreibung und Schilderung von währenden Zuständen der Vergangenheit, [aber auch] […] der Darstellung von Sitten und Gewohnheiten“ (Kühner/ Stegmann 1966: 122) ergibt sich aus der Semantik des Imperfekts, die Handlungen in ihrem Verlauf, ihrer Entwicklung beschreibt und als nicht abgeschlossen darstellt (vgl. Haßler 2016: 107-109; Menge 2000: 184-186). Die eben dargestellte Unterscheidung zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt wird in den romanischen Sprachen beibehalten (vgl. Salvi 2011: 328). 19 Priscian (o. J.): Institutiones Grammaticae. Liber octavus. De verbo , 52-53. 20 Übersetzung durch Pinkster (1988: 338): „Wenn ich in der Vergangenheit mit dem Schreiben eines Verses beginne und ihn unvollendet lasse, dann verwende ich das Imperfekt und sage ‚scribebam versum‘; wenn ich ihn aber in einem Zug zu Ende geschrieben habe, sage ich ‚scripsi versum‘.“ 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 43 <?page no="43"?> 44 2 Tempus und Aspekt Es gibt aber auch eine für die vorliegende Arbeit besonders wichtige Innovation: Vermutlich durch die Doppelsemantik des lateinischen Perfekts angetrieben (vgl. Harris 1982: 46-49), entwickelt sich im Vulgärlatein der klassischen Periode eine Konstruktion (z. B. habeo litteras scriptas ), welche sich in den romanischen Sprachen als zusammengesetztes Perfekt durchsetzt (vgl. Pulgram 1984; Müller-Lancé 2006a: 171-174). Ursprünglich übernimmt diese periphrastische Form den perfektischen Charakter des lateinischen Perfekts (vgl. Salvi 2011: 329). Allerdings ist auch zu erwähnen, dass in einigen romanischen Sprachen (beispielsweise dem Französischen oder dem Standarditalienischen) die zusammengesetzte Form immer weiter in die Domäne des synthetischen Perfektivums vordringt und dieses vor allem aus der mündlichen Domäne langsam verdrängt oder bereits verdrängt hat (vgl. Bertinetto/ Bianchi 2003: 570; Lindschouw 2017: 398; Pulgram 1987: 387). Inwiefern sich das lateinische Vergangenheitssystem im Französischen und im Spanischen erhalten hat, wird in Kapitel 2.3.4 näher erörtert. Zuvor wird aber noch auf die panromanische Beschreibung des Verbalsystems der romanischen Sprachen von Coseriu (1976) eingegangen. 2.3.4 Die romanischen Sprachen Das folgende Kapitel stellt zuerst kurz das romanische System der Verbalkategorien von Coseriu (1976) vor. Im Anschluss werden diesbezüglich die für die vorliegende Arbeit relevanten romanischen Sprachen, das Französische und das Spanische, näher beschrieben und es wird darauf eingegangen, wie die Opposition perfektiv/ imperfektiv ausgedrückt wird. Die romanischen Sprachen weisen im Hinblick auf den perfektiven Part der aspektuellen Opposition eine relativ hohe innerromanische Variation auf. In den konservativeren Sprachen (z. B. Spanisch oder Katalanisch) existiert weiterhin ein perfektisches Perfekt ( perfecto compuesto oder perfet compost ); in den innovativeren hingegen (Italienisch oder Französisch) hat die analytische Form ( passato prossimo oder passé composé ) die synthetische ( passato remoto oder passé simple ) weitgehend aus der Alltagssprache bzw. aus der mündlichen Domäne verdrängt (vgl. Lindschouw 2017: 398). Aufgrund der Entwicklung der modernen romanischen Sprachen aus dem Lateinischen kann man aber auch panromanische Tendenzen feststellen (vgl. Oesterreicher 1996). Beispielsweise kann das romanische Imperfekt, wenn man einige wenige Ausnahmen außer Acht lässt, als panromanische Form beschrieben werden (vgl. Haßler 2016: 107). Coseriu (1976: 91) schlägt ein System vor, das er selbst als „romanisch“ bezeichnet und das auf alle romanischen Sprachen anwendbar ist, was allerdings nicht bedeutet, dass man <?page no="44"?> in allen romanischen Sprachen genau dieselben Oppositionen feststellen [kann], noch daß in jedem Fall zwischen den romanischen Verbalformen eine völlige Übereinstimmung, eine Korrespondenz eins zu eins besteht. Aber die Grundlage der Organisation des Verbs ist in allen romanischen Sprachen ziemlich dieselbe und das berechtigt uns, von einem romanischen ‚Verbalsystem‘ nicht nur historisch, sondern auch synchronisch zu sprechen. Laut Coseriu (1976: 92) weist das romanische Verb eine doppelte zeitliche Struktur auf. Er unterscheidet eine aktuelle und eine inaktuelle Zeitebene. Erstere kommt dem „Vordergrund [gleich], der der Zeitlinie entspricht, die durch das Präsens geht […].“ Die inaktuelle Ebene hingegen wird durch Handlungen dargestellt, die einen parallelen Hintergrund bilden. Ihr Zentrum ist das Imperfekt. Neben diesen beiden Zeitebenen führt Coseriu (1976: 93) die sogenannte Perspektive ein, welche „der Stellung des Sprechers im Verhältnis zur Verbalhandlung“ entspricht. Sie stimmt demnach in etwa mit der Relation von Topik- und Situationszeit im Kleinschen System überein. Daraus ergeben sich für jede Zeitebene drei Zeiträume (parallel, retro- und prospektiv). Der Sprecher kann eine parallele Perspektive einnehmen, wodurch die Handlung in ihrem Verlauf betrachtet wird. Dies entspricht im weitesten Sinne der Kleinschen Relation von TT incl TSit (graphische Darstellung: - - - [ - - - ] - - -) und wird von Coseriu (1976: 94) als kursiv bezeichnet. Der Sprecher kann die Handlung aber auch aus einer nicht parallelen Perspektive betrachten (retro- oder prospektiv), bei welcher die Handlung „außerhalb ihres Ablaufs als Ganzes betrachtet“ wird. Dies kommt der Kleinschen Relation von TT at TSit gleich und wird von Coseriu (1976: 94) als komplexiv bezeichnet. Jeder in der primären Perspektive abgegrenzte Zeitraum kann in der sekundären Perspektive nach denselben Prinzipien noch einmal aufgeteilt werden. Prinzipiell wäre auch eine tertiäre Perspektive möglich (z. B. die formes surcomposées im Französischen wie j’ai eu fait ; vgl. ebd.: 96). Diese wird allerdings nur selten realisiert und wird in der folgenden Darstellung aufgrund der besseren Anschaulichkeit weggelassen: 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 45 <?page no="45"?> 46 2 Tempus und Aspekt Zeitebene Perspektive Vergangenheit retrospektiv Gegenwart parallel Zukunft prospektiv aktuell primär sp. hice fr. je fis sp. hago fr. je fais sp. haré fr. je ferai sekundär sp. he hecho fr. j’ai fait sp. voy a hacer fr. je vais faire inaktuell primär sp. hacía fr. je faisais sp. haría fr. je ferais sekundär sp. había hecho fr. j’avais fait sp. habré hecho fr. j’allais faire Tab. 7: Das spanische und französische Verbalsystem (in Anlehnung an Coseriu 1976: 92-96; vgl. auch Dessì Schmid 2014: 33) Es handelt sich bei Coseriu also um ein dreistufiges System, das aus einem Grundsystem (d. h. den Zeitebenen und der primären Perspektive) besteht, das die einfachen Tempora beschreibt. Im System der sekundären Perspektive werden die periphrastischen Formen dargestellt und schließlich spricht er von einem System, das die Bestimmung spezieller aspektiver Werte für jeden Zeitpunkt betrifft. Dieses umfasst die Kategorien der Dauer, der Wiederholung, der Vollendung, des Resultats, der Schau und der Phase (vgl. Coseriu 1976: 115). Da das dritte System formal den verschiedenen romanischen Periphrasen entspricht und diese in der vorliegenden Arbeit bis auf wenige Ausnahmen nicht weiter behandelt werden, wird es nicht näher beschrieben (für einen Überblick vgl. ebd.: 96-108). Coseriu versucht, diskursive Erklärungsansätze (d. h. die Unterscheidung zwischen aktueller und inaktueller Zeitebene) mit zeitrelationalen (d. h. der primären und sekundären Perspektive) zu verbinden. Dieses Zusammendenken der beiden Ansätze und die Beschreibung der zahlreichen aspektiven Werte führen dazu, dass Coserius System relativ schwer zu fassen ist (vgl. Coseriu 1976: 33; Haßler 2016: 189). Dennoch wird seine Beschreibung vor allem in der deutschsprachigen Romanistik weiterhin viel rezipiert. 2.3.4.1 Das Französische In diesem Kapitel wird die Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv im Französischen dargestellt. Da sowohl das passé composé als auch das passé simple zum imparfait in Opposition treten, werden die drei Formen kurz beschrieben und voneinander abgegrenzt. Im Anschluss wird sowohl der conjunction test durchgeführt als auch das Kleinsche System auf das Französische angewandt. <?page no="46"?> Am Ende des Kapitels wird auf die Periphrase être en train de und die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die habituelle Semantik eingegangen. Das Französische kennt die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nur in der Vergangenheit (vgl. Chevalier et al. 1988: 339-348; Dethloff/ Wagner: 2014: 253-257, 263-268; Garey 1957; Mitko 2000; Smith 1997: 193-226; Viguier 2012). Der imperfektive Aspekt wird mithilfe des imparfait ausgedrückt; das passé simple und das passé composé bilden „den perfektiven Pol der Aspektopposition“ (Mitko 2000: 193). Ersteres wird für Ereignisse verwendet, die keinen Bezug zum Sprechzeitpunkt aufweisen. Es stellt eine Handlung als in sich abgeschlossenes Ganzes und als vergangen dar: Le passé simple […] exprime un fait complètement achevé à un moment déterminé du passé, sans considération du contact que ce fait, en lui-même ou par ses conséquences, peut avoir avec le présent (Grevisse 1986: 1292). Das passé simple „ist auf den schriftlichen Bereich beschränkt und eignet sich besonders gut zum Einsatz im narrativen Bereich, wo es die Ereignisse in der Handlungssequenz darstellt“ (Mitko 2000: 193). Aber auch in Bereichen der mündlichen Kommunikation, in welchen eine konzeptionelle Schriftlichkeit vorliegt, kann es verwendet werden (z. B. in Radiobeiträgen oder im Fernsehen). Das passé composé hingegen „wird im Distanzwie im Nähebereich verwendet und ist heute […] ambivalent zwischen einem Perfekt und einem Perfektivum der Vergangenheit“ (ebd.). Im klassischen Französisch wurde es für Handlungen gebraucht, die nicht vollständig vergangen waren bzw. einen gewissen Bezug zum Sprechzeitpunkt hatten. Heute ist diese ursprüngliche Differenzierung weitgehend verschwunden und sowohl das passé composé als auch das passé simple werden als bedeutungsgleich angesehen. Ähnlich wie beim deutschen Perfekt hängt beim passé composé die Relation zwischen der Topik- und der Äußerungszeit und damit die Frage, ob die perfektische oder die perfektive Lesart zu Tage tritt, vom kontextuellen Umfeld ab (vgl. ebd.: 89). In Beispielsatz 47 wird die Topikzeit durch die Ergänzung je n’ai plus faim maintenant simultan zum Sprechzeitpunkt gesetzt, wodurch die Perfekt-Lesart erzeugt wird. In 48 und 49 hingegen ist die Topikzeit wegen des Adverbiums hier vom Sprechzeitpunkt losgelöst und es setzt die perfektive Lesart ein: (47) J’ai déjà mangé; je n’ai plus faim maintenant. - - - - - - - < [ TU ] (Beispielsatz aus Smith 1997: 209) (48) Hier il a mangé une pizza. [- - - - - - ] < TU 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 47 <?page no="47"?> 48 2 Tempus und Aspekt (49) Hier il mangea une pizza. [- - - - - - ] < TU In seiner perfektiven Variante stellt das passé composé eine Handlung als begrenzt und als in sich abgeschlossen dar und tritt (gemeinsam mit dem passé simple ) in Opposition zum imparfait (vgl. Mitko 2000: 85-87). Die Verwendung als Perfektivum ist wesentlich häufiger und hat somit einen höheren Stellenwert im französischen Verbalsystem (vgl. ebd.: 167). Dass die Perfektivität Teil der Semantik der zusammengesetzten Form ist, wird durch den conjunction test bestätigt. Ein Kontext, der die Situation bis in die Gegenwart andauern lässt, erzeugt eine unlogische Lesart. Dies trifft sowohl auf telische (Beispielsatz 50) als auch auf statische Prädikate zu (Beispielsatz 51): (50) *L’été passé ils ont construit une cabine ; peut-être qu’ils la construisent encore. (51) *Jean a été malade hier soir et il est malade maintenant. (Beispiele aus Smith 1997: 194-195) Das imparfait hingegen betrachtet das Ereignis als unvollendet und betont dessen Unbegrenztheit: „L’imparfait montre un fait en train de se dérouler dans une portion du passé, mais sans faire voir le début ni la fin du fait“ (Grevisse 1986: 1290). Diese Unbegrenztheit ist dafür verantwortlich, dass das Imperfekt für eine korrekte Interpretation eines sprachlichen oder kontextuellen Ankers bedarf. Es handelt sich somit um ein primär anaphorisches Tempus (vgl. Mitko 2000: 120; Smith 1997: 204; Viguier 2012: 99-100). Diese Unbegrenztheit, aus der sich die Unfähigkeit ergibt, die für die Interpretation notwendigen Konturen sichtbar zu machen, zwingt den Sprecher, eine Innenperspektive einzunehmen. Die Fähigkeit der perfektiven Verbformen hingegen, die Grenzen sichtbar zu machen, ermöglicht es einerseits als Anker für das Imperfekt zu dienen und erzeugt andererseits ein Zurücktreten vom Sachverhalt (eine Außenperspektive), wodurch die Situation in den Vordergrund tritt und als Ganzes sichtbar wird. Daraus ergibt sich auch die „textlinguistische Funktion der Markierung von ‚Vordergrund‘ und ‚Hintergrund‘ einer Erzählung [und] ist damit die Folge der aspektuellen Struktur der Verbformen“ (Mitko 2000: 120; Hervorhebung im Original). Mithilfe des Kleinschen Systems können das passé composé und das imparfait folgendermaßen voneinander abgegrenzt werden (vgl. auch Mitko 2000: 83-87). Zur Veranschaulichung wird auf die in Kapitel 2.2 genannten Beispiele in etwas modifizierter Weise eingegangen. Der Richter fragt beispielsweise, was der Zeuge zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, woraus sich ein Topikzeit-Intervall von drei Stunden ergibt. Der Zeuge könnte das Folgende antworten: <?page no="48"?> (52) J’ai pris un café avec des amis. [ - - ] Die Situationszeit ist in der Topikzeit enthalten, wodurch die Grenzen der Handlung sichtbar werden. Der Sachverhalt wird somit als (abgeschlossenes) Ganzes betrachtet. Fragt die questio des Richters allerdings danach, was der Zeuge beim Betreten des Raumes gesehen hat, wird das Topikzeit-Intervall auf einen kurzen Moment reduziert. Der Zeuge könnte antworten: (53) Un homme mangeait. - - - - - [ - ] - - - - - In diesem Beispiel ist die Topikin der Situationszeit enthalten, woraus sich die für das Imperfekt so charakteristische Innenperspektive ergibt. Die Handlung wird dadurch als im Verlauf befindlich interpretiert und es tritt die progressive Lesart zutage, welche im Französischen auch mithilfe der Periphrase être en train de ausgedrückt werden kann (vgl. Bertinetto 2000: 561; Chevalier et al. 1998: 332; Dahl 1985: 90; Momma in Druck): (54) Il est en train de se ruiner. (Beispielsatz aus Smith 1997: 200) Die Konstruktion weist typische Merkmale einer Progressivperiphrase auf. Beispielsweise kann sie weder mit statischen Prädikaten noch mit perfektiven Tempora verwendet werden (vgl. Smith 1997: 200-201). Obwohl sie systematisch gebildet werden kann, wird sie aufgrund ihrer geringen Frequenz (vgl. Dahl 1985: 90) und der Fakultativität nicht als grammatische Option im Standardfranzösischen angesehen (vgl. Smith 1997: 201). Das imparfait besitzt darüber hinaus die Fähigkeit, Habitualität auszudrücken (Beispielsatz 55). Zusätzlich dazu können im Französischen aber auch Periphrasen - wie in Beispielsatz 56 avoir l’habitude de - zur Versprachlichung dieser Semantik benutzt werden (vgl. McManus 2011: 39-40): (55) Quand nous étions à Strasbourg, nous allions tous les jours au lac. (56) Quand nous étions à Strasbourg, nous avions l’habitude d’aller tous les jours au lac. Abgesehen von diesen Grundbedeutungen besitzt das imparfait noch zahlreiche modale Nebenbedeutungen, auf die nicht näher eingegangen wird, da sie für die vorliegende Studie nicht von Relevanz sind (für eine ausführliche Übersicht vgl. Dethloff/ Wagner 2014: 266-268; Grevisse 1986: 1292; Viguier 2012: 108-115). 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 49 <?page no="49"?> 50 2 Tempus und Aspekt In diesem Kapitel wurde dargestellt, wie das Französische die Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv, die es aus dem Lateinischen übernommen hat, ausdrückt. Im Gegensatz zum Spanischen hat das analytische Perfekt, das passé composé , die synthetische Form, das passé simple , weitgehend aus dem gesprochenen Französischen verdrängt. In seiner perfektiven Lesart drückt es den perfektiven Aspekt aus und tritt somit in Opposition zum imparfait . Im nächsten Kapitel wird dargestellt, wie die aspektuelle Opposition im Spanischen versprachlicht wird. 2.3.4.2 Das Spanische Wie das Französische kennt das Spanische die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nur in der Vergangenheit. Der perfektive Aspekt wird mithilfe des perfecto simple , der imperfektive mithilfe des imperfecto ausgedrückt (vgl. Alarcos Llorach 1978: 78-81; Real Academia Española 1974: 462, 2009: 1688-1690; Zagona 2012). Das perfecto compuesto kann, anders als im Französischen, nicht als reines Vergangenheitstempus fungieren, da seine Semantik eine Loslösung der Topikzeit von der Äußerungszeit nicht zulässt: (57) *He llegado ayer. [- - - - - -] < TU Wenn die Situation nicht am Tag des Sprechzeitpunktes stattfindet, benötigt das spanische Perfekt eine kontextuelle Spezifizierung (z. B. y por eso estoy cansado ), die einen Gegenwartsbezug herstellt: 21 (58) He tenido un viaje largo y por eso estoy cansado. Dieser Gegenwartsbezug unterscheidet es vom perfecto simple . Die Real Academia Española (2009: 1688) definiert Letzteres als „una forma aspectualmente PERFEC- TIVA. Focaliza la situación en su totalidad y expresa, por tanto, que la acción descrita llega a su término“. Dass die Perfektivität Teil der Semantik dieser Form ist, wird durch den conjunction test bestätigt. Dies trifft wie im Französischen, aber im Unterschied zum Englischen, sowohl auf telische (Beispielsatz 59) als auch auf statische Prädikate zu (Beispielsatz 60): 21 Dahl (1983: 112-113) spricht diesbezüglich von einer ‚heute-/ gestern-Regel‘, die die Verwendung des perfecto compuesto für Handlungen, die am Tag des Sprechzeitpunktes stattgefunden haben, erklärt. Diese Regel trifft allerdings nur auf einige Varietäten des Spanischen zu. Es sei außerdem angemerkt, dass eine Kombination von z. B. ayer und dem perfecto compuesto in wenigen Fällen durchaus möglich ist (z. B. wenn die Auswirkungen der gestrigen Handlung noch in der Gegenwart zu spüren sind). <?page no="50"?> (59) *El verano pasado construyeron una casa; puede ser que aún la estén construyendo. (60) *Juan estuvo enfermo ayer y aún lo está. (Beispielsätze in Anlehnung an Smith 1997: 194) Die Verwendung der perfektiven Verbform construyeron impliziert, dass das Bauen des Hauses abgeschlossen wurde. Die Information, dass man noch immer dabei ist, zu bauen, tritt in Konflikt mit dieser Abgeschlossenheit und ist der Grund für die mangelnde Grammatikalität des Satzes. Dieselbe Argumentation trifft auch auf Beispielsatz 60 zu. Das imperfecto hingegen „presenta la acción en su curso, sin referencia a su inicio o su fin“ (Real Academia Española 2009: 1688). Per definitionem beschreibt es eine Situation, ohne die temporalen Anfangs- und Endpunkte zu fokussieren. Diese Unbegrenztheit führt wie auch beim französischen imparfait dazu, dass es einen Rahmen braucht, in den es sich integrieren kann: [S]i se tiene en cuenta que el IMP, como pasado imperfectivo, codifica la instrucción de situar en el pasado una situación no delimitada, y que una situación sin límites temporales requiere un marco en el que integrarse para poder ser situada y ordenada temporalmente con respecto a otros eventos, entonces el carácter anafórico es un efecto producido por una propiedad más básica, semántica, que es la imperfectividad (Leonetti 2004: 489; Hervorhebung durch den Verfasser). Die Imperfektivität ist demnach der Grund dafür, dass die Form einen Ankerpunkt braucht (vgl. ebd.: 482). Dieser kann laut Leonetti (2004: 483-487) explizit vorgegeben sein oder durch pragmatische Verfahren sowie das Weltwissen erzeugt werden. Durch die Argumentation, dass das Imperfekt einen Ankerpunkt braucht, weil es imperfektiv ist, versucht Leonetti gewissermaßen, die Position der Vertreter eines zeitrelationalen Ansatzes (vgl. Rojo 1974; Rojo/ Veiga 1999) mit jener der boundary -Vertreter 22 (vgl. Hernández Alonso 1984; García Fernández 2004) zu vereinen. Die Analyse des perfecto simple und des imperfecto mithilfe des Kleinschen Systems kann durch die schon bekannten Beispiele aus Kapitel 2.2 veranschaulicht werden. So fragt der Richter den Zeugen, was er zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, worauf dieser antwortet: 22 Boundary -Vertreter nehmen an, dass die Opposition von perfektiv/ imperfektiv nur bedingt durch eine Beschreibung von zeitlichen Relationen erklärt werden kann. Die größere Erklärungskraft liege darin, dass perfektiver Aspekt Handlungen als begrenzt, imperfektiver Aspekt sie hingegen als unbegrenzt darstellt (siehe Kapitel 2.1.2). 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 51 <?page no="51"?> 52 2 Tempus und Aspekt (61) Tomé un café con mis amigos. [ - - ] Die Situationszeit von tomar un café ist in der Topikzeit (= zwischen 14 und 17 Uhr) enthalten, wodurch der perfektive Aspekt dargestellt wird. Wenn der Richter allerdings fragen würde, was der Zeuge beim Betreten des Raumes gesehen hat, wird das Topikzeit-Intervall verkürzt. Der Zeuge antwortet: (62) Entré sin hacer ruido. Miguel preparaba la comida. - - - - - [ - ] - - - - - In diesem Fall ist die Topikzeit in der Situationszeit inkludiert. Anfang und Ende der Handlung ( preparar la comida ) sind nicht in der Perspektive des Sprechers eingeschlossen. Durch die Einnahme dieser Binnenperspektive wird die Aktion als im Verlauf befindlich interpretiert. Diese progressive Lesart definiert Pérez Saldanya (2004: 216) folgendermaßen: „La acepción progresiva […] se caracteriza por presentar una situación en curso y por focalizar un punto del desarrollo de esta situación“. Durch die Fokussierung eines punktuellen Referenzzeitintervalls tritt in Beispielsatz 62 eine fokalisierende Lesart zu Tage. Das spanische imperfecto kann aber auch mit einem durativen Referenzzeitintervall kombiniert werden. 23 Beispielsweise kann der Richter den Zeugen bitten, die Situation während eines Gesprächs mit Luis (= Topikzeit) zu beschreiben. Der folgende Satz wäre als Antwort möglich: (63) Durante la conversación con Luis, un hombre no paraba de mirarme. - - - - [ - - - - ] - - - - Die durative Topikzeit in Beispielsatz 63 hat zwar eine größere zeitliche Ausdehnung als in 62, ist aber noch immer in der Situationszeit eingeschlossen, weshalb eine imperfektive, durativ-progressive Lesart eintritt. Diese Semantik kann außerdem durch weitere Periphrasen zum Ausdruck gebracht werden (z. B. ir + gerundio , andar + gerundio oder continuar + gerundio ; vgl. Martínez- Atienza 2004: 355). Im Spanischen kann die progressive Bedeutung sowohl mit dem imperfecto als auch mit der Periphrase estar + gerundio ausgedrückt werden (vgl. Arche 2014: 801; Pérez Saldanya 2004: 216; Real Academia Española 2009: 1688; Martínez-Atienza 2004: 354). Die gerundio -Periphrasen stellen eine Handlung in ihrem Verlauf dar und betonen somit den prozesshaften Charakter derselben: 23 In der spanischsprachigen Literatur wird diese Lesart häufig kontinuativ genannt (vgl. z. B. García Fernández 2004: 43; Pérez Saldanya 2004: 216). Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Arbeit diese Lesart als durative Progressivität bezeichnet wird (siehe Kapitel 2.1.2). <?page no="52"?> „[El gerundio] presenta una visión de la acción en su desarrollo, una visión de la acción en curso“ (Yllera 1999: 3402). Diese verlaufsartige Semantik ergibt sich daraus, dass sich die Periphrase aus einem schon realisierten und einem noch zu realisierenden Teil zusammensetzt. Diese Idee findet sich schon bei Guillaume (1929: 15-17), wird von Alarcos Llorach (1978: 57-59) auf das spanische Gerundium angewandt und schließlich von Yllera (1999: 3394) in die Gramática descriptiva del español übernommen. 24 Wie auch in anderen romanischen Sprachen weitet sich die Verwendung der Periphrase im Spanischen auf andere semantische Bereiche aus. Beispielsweise ist ein Wechsel von der prototypischen, fokalisierenden hin zu einer durativen Lesart erkennbar (vgl. García Fernández 2009: 259). Darauf deutet die Verwendung im nächsten Beispielsatz hin, in welchem auf ein unbegrenztes, duratives Zeitintervall Bezug genommen wird: (64) ¡Siempre te estás quejando! (Beispielsatz aus Yllera 1999: 3405) In den Kapiteln zum Deutschen, Englischen und Französischen wurde dargelegt, dass die entsprechenden Progressivperiphrasen nicht mit statischen Prädikaten kombiniert werden können. Dies trifft prinzipiell auch auf die spanische Periphrase zu (vgl. Yllera 1999: 3409). Kommt es trotzdem zu einer solchen Kombination, erfolgt eine Dynamisierung des Prädikats: (65) Estás siendo tonto. (Beispielsatz aus García Fernández 2009: 266) In Bezug auf die Vergangenheit kann estar sowohl mit perfektiver als auch mit imperfektiver Morphologie vorkommen. Tritt es mit imperfektiver Morphologie auf, kann es prinzipiell mit der progressiven Lesart des imperfecto ausgetauscht werden (vgl. Arche 2014: 801; Real Academia Española 2009: 1688, 1756; Yllera 1999: 3403): (66) Cuando sonó el teléfono, Eugenio se levantaba de la cama. (67) Cuando sonó el teléfono, Eugenio se estaba levantando de la cama. (Beispielsätze aus Real Academia Española 2009: 1756) Wird das Hilfsverb mit perfektiver Morphologie verwendet, drückt die Periphrase ein Ereignis aus, das in seinem Verlauf dargestellt wird und während einer begrenzten Zeitspanne anhält: „Con estar en tiempo perfectivo […], la 24 Eine interessante Analyse findet sich auch bei García Fernández (2009), der die Semantik auf eine Sequenzialisierung des Ereignisses in Zustandsketten, von denen dann ein Zustand fokussiert wird, zurückführt. 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 53 <?page no="53"?> 54 2 Tempus und Aspekt perífrasis indica una acción vista en su transcurso cuyo desarrollo ‘permanece’ durante un tiempo“ (Yllera 1999: 3405; Hervorhebung im Original). Wie auch im Französischen kann das spanische Imperfekt Habitualität ausdrücken. Diese Semantik bezieht sich auf eine Situation „[que] se repite de manera más o menos regular un número indeterminado de veces durante el intervalo de tiempo que se toma como referencia“ (Pérez Saldanya 2004: 216). Die habituelle Lesart zeigt somit an, dass eine Handlung nicht ein Mal, sondern eine unbegrenzte Anzahl von Malen stattfindet: (68) Cuando era pequeño, las clases en el colegio empezaban a las ocho de la mañana. Habitualität kann außerdem mit periphrastischen oder lexikalischen Mitteln ausgedrückt werden, beispielsweise soler + Infinitiv oder tener la costumbre de + Infinitiv, aber auch mittels Adverbien wie habitualmente , generalmente oder siempre (vgl. Real Academia Española 2009: 1688; Martínez-Atienza 2004: 346). Abgesehen von diesen Grundbedeutungen hat das imperfecto noch zahlreiche modale Nebenbedeutungen, auf die nicht näher eingegangen wird, da sie für die vorliegende Arbeit nicht von Relevanz sind (für eine genauere Darstellung vgl. García Fernández 2004: 90-94; Fernández Ramírez/ Bosque 1986: 269-276). In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass sowohl das Spanische als auch das Französische und das Lateinische in der Vergangenheit zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterscheiden, dafür aber teilweise andere Formen verwenden. Im nächsten Kapitel werden die fünf Sprachen gegenübergestellt und es wird veranschaulicht, inwiefern sie sich bezüglich der Opposition perfektiv/ imperfektiv unterscheiden. 2.3.5 Konklusion: Tempus und Aspekt aus einer sprachvergleichenden Perspektive In diesem Kapitel wird zusammengefasst, wie das Deutsche, das Englische, das Lateinische, das Französische und das Spanische die für diese Arbeit relevanten semantischen Konzepte versprachlichen, und inwiefern es Einschränkungen bezüglich der Kombination mit lexikalischem Aspekt gibt (siehe Tabelle 8). Weder das englische present perfect noch das spanische perfecto compuesto werden in die Tabelle aufgenommen, da sie nicht Teil der Opposition perfektiv/ imperfektiv sind. Aus diesem Grund werden sie auch im Laufe der Arbeit nicht weiter thematisiert. Beim Präteritum und beim Perfekt handelt es sich um zwei Formen, deren Grundbedeutung keine aspektuelle Information beinhaltet. Sie können mit allen lexikalischen Aspektklassen kombiniert werden. Das englische simple past wurde als aspektneutrale Form beschrieben und drückt damit primär temporale <?page no="54"?> Vorzeitigkeit aus. Es kann ebenfalls mit allen lexikalischen Aspektklassen verbunden werden. Das past progressive hingegen kann nur mit nicht statischen Prädikaten kombiniert werden und drückt primär Progressivität aus. Die Unterscheidung zwischen perfektiv/ imperfektiv findet sich sowohl im Lateinischen als auch im Französischen und Spanischen. Die entsprechenden perfektiven Formen (das lateinische Perfekt, das passé simple/ passé composé und das perfecto simple ), besitzen das semantische Merkmal [+ perfektiv]. Der andere Teil der Opposition, der imperfektive Aspekt, drückt sowohl die habituelle als auch die kontinuative und die progressive Semantik aus. Alle Formen können mit allen lexikalischen Aspektklassen verbunden werden und unterliegen keinen Einschränkungen. Die Progressivperiphrasen être en train de und estar + gerundio drücken wie die englische Periphrase primär progressive Bedeutung aus und können nur mit nicht statischen Prädikaten kombiniert werden. In Tabelle 8 findet sich eine zusammenfassende Darstellung, in der beschrieben wird, welche aspektuellen Grundbedeutungen Bestandteil der entsprechenden Formen sind. Darüber hinaus wird auf die möglichen Kombinationen mit den drei lexikalischen Aspektklassen eingegangen und jeweils ein veranschaulichendes Beispiel geliefert: 25 25 Die überblicksartige Darstellung der Tempus- und Aspektsysteme der fünf in der vorliegenden Arbeit behandelten Einzelsprachen geht naturgemäß mit einer starken Simplifizierung einher. So werden beispielsweise weder die englischen Habitualitätsnoch die deutschen Progressivperiphrasen in die Übersicht aufgenommen. Es sei an dieser Stelle deshalb betont, dass die Tabelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern lediglich einen Überblick über die in der empirischen Studie verwendeten Formen liefern soll. 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 55 <?page no="55"?> 56 2 Tempus und Aspekt Sprache Form Aspektuelle Semantik Komb. lexikal. Aspekt Beispiele Deutsch Präteritum/ Perfekt [+ STA] Ich war/ bin gewesen [+ AKT] Ich sang/ habe gesungen [+ TEL] Ich überquerte/ habe überquert Englisch simple past [+ STA] I was [+ AKT] I sang [+ TEL] I crossed past progressive [+ PROG] [+ AKT] I was singing [+ TEL] I was crossing Latein Perfekt [+ PERF] [+ STA] fui [+ AKT] cantavi [+ TEL] transivi Imperfekt [+ HAB] [+ KONT] [+ PROG] [+ STA] eram [+ AKT] cantabam [+ TEL] transibam <?page no="56"?> Sprache Form Aspektuelle Semantik Komb. lexikal. Aspekt Beispiele Französisch passé simple/ passé composé [+ PERF] [+ STA] Je fus/ j’ai été [+ AKT] Je chantai/ j’ai chanté [+ TEL] Je traversai/ j’ai traversé imparfait [+ HAB] [+ KONT] [+ PROG] [+ STA] J’étais [+ AKT] Je chantais [+ TEL] Je traversais être en train de [+ PROG] [+ AKT] J’étais en train de chanter [+ TEL] J’étais en train de traverser Spanisch perfecto simple [+ PERF] [+ STA] Fui [+ AKT] Canté [+ TEL] Crucé imperfecto [+ HAB] [+ KONT] [+ PROG] [+ STA] Era [+ AKT] Cantaba [+ TEL] Cruzaba estar + gerundio [+ PROG] [+ AKT] Estaba/ estuve cantando [+ TEL] Estaba/ estuve cruzando Tab. 8: Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 2.3 Tempus und Aspekt in den Einzelsprachen 57 <?page no="58"?> 3 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit- und Drittspracherwerbs Nachdem in Kapitel 2 die sprachlichen Phänomene beschrieben wurden, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, wird in diesem Kapitel auf die Grundlagen der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung eingegangen. Aufgrund der Fülle an Theorien, Modellen und Hypothesen ist es nicht möglich, alle detailliert zu betrachten. In den nachfolgenden Unterkapiteln werden daher nur diejenigen Aspekte behandelt, die für ein Verständnis des vorliegenden Werkes wichtig sind. Es wird zuerst ein kurzer Überblick über kognitivistische Ansätze der Zweitspracherwerbsforschung gegeben. Danach werden die Begrifflichkeiten des expliziten und impliziten Lernens bzw. des expliziten und impliziten Wissens voneinander abgegrenzt. In Kapitel 3.3 wird eine Beziehung zwischen diesen Lernprozessen und den deklarativ-prozeduralen Modellen von Ullman (2001) und Paradis (2009) hergestellt. Im Anschluss daran wird dargelegt, warum es wichtig ist, zwischen dem Erwerb einer L2 und jenem einer L3 zu unterscheiden. Die Argumentation beruht im Wesentlichen auf dem Faktorenmodell von Hufeisen (2000). 3.1 Kognitivistische Ansätze der Zweitspracherwerbsforschung Unter dem allgemeinen Terminus der kognitiven Zweitspracherwerbsforschung werden in der vorliegenden Arbeit alle Ansätze zusammengefasst, die nicht davon ausgehen, dass Spracherwerb auf einem angeborenen genetischen Modul beruht. Dementsprechend ist der Erwerb von Sprache untrennbar mit allgemeinen kognitiven (Lern-)Prozessen verbunden (für einen Überblick über die unterschiedlichen Strömungen vgl. VanPatten/ Williams 2015 oder Schmidt 2010). Diese Prozesse, die sowohl dem L1sowie dem L2-/ L3-Erwerb als auch sprachunabhängigen Lernvorgängen zugrunde liegen, können basierend auf neurobiologischen Erkenntnissen relativ gut nachgezeichnet werden. Ein Reiz trifft über die unterschiedlichen Sinne auf die entsprechenden Rezeptoren, welche die Informationen an die Neuronen weiterleiten. Dort wird er durch die Dendriten aufgenommen und über das Axon, an dessen Ende sich die Synapsen befinden, an das nächste Neuron weitergeleitet. Diese Informationsweiterleitung erfolgt dadurch, dass das Neuron durch den Reiz aktiviert wird, wodurch ein Ladungs- <?page no="59"?> 60 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs unterschied entsteht, der im Anschluss in Form eines elektrischen Impulses mithilfe von Neurotransmittern an das nächste Neuron weitergegeben wird. Durch ein derartiges Eintreffen von Reizen werden die Synapsen aufgebaut. Dabei spricht gleicher Input die gleichen Neuronengruppen an, die dadurch eine stabile Verbindung eingehen und die Wissensbestände im Cortex als neuronale Netzwerke speichern. „Lernen heißt also […], dass zwischen bestimmten Neuronen - aufgrund von wiederholten Reizen - eine feste Verbindung mithilfe der Synapsen aufgebaut wird“ (Grein 2013: 14; für einen einführenden Überblick vgl. ebd.: 8-18). Im Hinblick auf das Sprachlernen bedeutet dies, dass wiederkehrende sprachliche Strukturen als solche registriert werden, was zu einer Stabilisierung und Automatisierung in der Verarbeitung führt (vgl. Behrens 2009: 433-435). Dieser von Vertretern gebrauchsbasierter Ansätze (en. usage-based approaches ; für einen allgemeinen Überblick vgl. Behrens 2009; Cadierno/ Hijazo-Gascón 2014; Ellis 2005, 2013, 2015; Ellis et al. 2015; Ellis/ Wulff 2015) auch als entrenchment bezeichnete Prozess wird von der Frequenz einer sprachlichen Struktur beeinflusst (auch Form-Bedeutungs-Paar oder Konstruktion; vgl. Goldberg 1998; Goldberg/ Suttle 2010): Je häufiger eine Konstruktion im Input auftritt, desto stärker bildet sich die neuronale Bahnung aus, was gleichzeitig bedeutet, dass die Konstruktion leichter gelernt und im Gedächtnis abgespeichert wird. Des Weiteren steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Prototyp fungiert und beim Lernen neuer Konstruktionen als Musterbeispiel herangezogen wird (vgl. Ellis et al. 2015: 166-169; Ellis/ Wulff 2015: 418-421). Diese prototypischen Musterbeispiele (z. B. {ed } in wanted für [+ vorzeitig]) dienen als Ausgangspunkt für das Lernen neuer Konstruktionen (z. B. worked , lived etc.), wobei letztere kontinuierlich mit den prototypischen Musterbeispielen abgeglichen werden: Die formalen und funktionalen Elemente, die sich nicht wiederholen, werden herausgefiltert, während die rekurrenten Elemente als Teil der Kategorie erkannt und als solche abgespeichert werden (vgl. Behrens 2009: 433-435). Durch diesen Vorgang kann die Funktionsweise abstrakter Regeln gelernt werden (z. B. {ed } als Marker für Vorzeitigkeit). Für das Lernen einer sprachlichen Struktur spielen neben der Frequenz auch deren Salienz und Redundanz eine wesentliche Rolle. Beispielsweise werden saliente Konstruktionen schneller gelernt als nicht saliente. Häufig sind auch Erwerbsschwierigkeiten auf eine niedrige Salienz zurückzuführen (vgl. Ellis/ Wulff 2015: 420). Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise ein grammatisches Phänomen mit einer anderen salienteren Form in Konflikt tritt und darauffolgend vom Lernenden als redundant wahrgenommen wird. Eine solche Kombination von niedriger Salienz und Redundanz kann sogar dazu führen, dass eine Konstruktion überhaupt nicht erworben wird (vgl. ebd.). Ein Beispiel für diesen <?page no="60"?> 3.1 Kognitivistische Ansätze der Zweitspracherwerbsforschung 61 Vorgang sind Erwerbsschwierigkeiten bezüglich der Flexionsmorphologie, die vor allem dann auftreten, wenn die Morpheme von sehr salienten Adverbien begleitet werden. Im Hinblick auf den Erwerb von Tempus und Aspekt könnte eine Fokussierung von temporalen Adverbien beispielsweise dazu führen, dass Lernende die entsprechende Morphologie nicht ausreichend beachten und sie dementsprechend langsamer oder im Extremfall gar nicht erwerben. Prinzipiell sind diese allgemeinen Lernprozesse sowohl für den Erwerb einer L1 als auch für den einer L2 ähnlich. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass im L2-Erwerb das Sprachsystem der L1 schon vorhanden ist. Dieses wird während des Erwerbs der L1 auf die Bedürfnisse und die Systematizität der entsprechenden Sprache eingestellt. Beispielsweise fokussieren L1-Sprecher einer Aspektsprache eher die unterschiedlichen Phasen einer Handlung im Verlauf, wohingegen Sprecher einer Nicht-Aspektsprache primär die Endpunkte derselben betrachten (vgl. Bylund/ Athanasopoulos 2015: 4; siehe Kapitel 5.2.1). Diese Aufmerksamkeitsprozesse werden im L1-Erwerb gelernt, weshalb Ellis (2015: 12) auch von gelernter Aufmerksamkeit spricht. Die Aufgabe des L2-Lerners ist es nun, die Aufmerksamkeitsstrukturen der L1 an das L2-System anzupassen (vgl. auch Slobins 1996 thinking-for-speaking -Hypothese in Kapitel 4.3.4): Learning a language, then, means learning these various attention-directing mechanisms, which requires L1 learners to develop an attentional system in the first place, and L2 learners to reconfigure the attentional biases of having acquired their first language (Ellis/ Wulff 2015: 422). Explizites/ bewusstes Wissen kann förderlich sein, Unterschiede zwischen dem L1- und dem L2-System ins Bewusstsein zu rufen, was beim Neu-Lernen der genannten Aufmerksamkeitsprozesse helfen kann. Laut Ellis (2005: 324) ist dies gerade für den Erwerb von nicht salienten und nicht prototypischen Konstruktionen hilfreich. Schmidt (2001: 23) geht sogar davon aus, dass eine derartige bewusste Wahrnehmung eine notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Erwerb einer L2 ist. In der Forschungsliteratur ist dies allerdings durchaus umstritten. Schmidt (1990: 131-133) unterscheidet diesbezüglich drei Grade von Bewusstheit (en. awareness ): Wahrnehmen (en. perception ), Bemerken (en. noticing ) und Verstehen (en. understanding ; vgl. auch Schmidt 2001: 5). Die Wahrnehmung eines Reizes kann durchaus unbewusst stattfinden, wohingegen das Bemerken mit einem gewissen Grad an Bewusstheit verbunden ist, auch wenn dies nicht zwangsläufig mit der Fähigkeit einhergeht, das Bemerkte zu verbalisieren (vgl. Schmidt 1990: 131-133). Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung, da im Laufe der vorliegenden Arbeit immer wieder von Wahrnehmung gesprochen <?page no="61"?> wird. Es sei deshalb noch einmal betont, dass Wahrnehmung sowohl unbewusst als auch bewusst stattfinden kann. Der dritte von Schmidt genannte Bewusstheitsgrad bezieht sich auf das Verstehen im Sinne eines metasprachlichen Bewusstseins. Dieser Prozess baut auf jenem des Bemerkens auf und ist die Grundvoraussetzung für die Analyse, den Vergleich und die Reflexion über Sprache, was schlussendlich zu dem expliziten Verständnis einer abstrakten Regel und damit zu einem ausgeprägten metasprachlichen Bewusstsein führt. Laut Schmidt (2010: 721-726) kann der Prozess des Verstehens das Lernen eines sprachlichen Phänomens zwar erleichtern, ist aber im Unterschied zum Vorgang des Bemerkens nicht unbedingt erforderlich. Sollte das Bemerken tatsächlich eine notwendige Voraussetzung für Lernen sein, würde dies bedeuten, dass es kein rein implizites Lernen gibt und immer ein minimaler Grad an Bewusstheit vorausgesetzt werden muss (vgl. Ellis 2009: 7; Paciorek/ Williams 2015 für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung). Ob die bloße Wahrnehmung eines Reizes ausreicht oder ob ein bewusstes Bemerken notwendig ist, kann zum heutigen Stand der Forschung noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Im nächsten Kapitel wird ein Überblick gegeben, inwiefern explizites/ bewusstes Wissen tatsächlich für den erfolgreichen Erwerb einer L2 (oder einer L3) notwendig ist. 3.2 Die Rolle von explizitem und implizitem Wissen Vor ungefähr vierzig Jahren hat Stephen Krashen (z. B. 1982: 10-11) die Unterscheidung zwischen explizitem Lernen und implizitem Erwerben in die Zweitspracherwerbsforschung eingeführt. 26 Die damit einhergehende Frage, inwiefern explizites und implizites Wissen miteinander interagieren, und ob ersteres für den vollständigen Erwerb einer Sprache notwendig ist, hat seither zu zahlreichen Debatten geführt. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick gegeben. Im Allgemeinen wird implizites Lernen als unbewusster Prozess beschrieben, für dessen Aktivierung kein Rückgriff auf zentrale Aufmerksamkeitsprozesse notwendig ist. Es handelt sich um einen automatisierten Prozess, der natürlich stattfindet und normalerweise nicht verbalisiert werden kann. Explizites Lernen hingegen bezieht sich auf das Lernen von Faktenwissen und beansprucht das Arbeitsgedächtnis in hohem Maße. Es findet bewusst und kontrolliert statt und 26 Im Laufe der Arbeit wird zwar zwischen den beiden Aneignungsprozessen unterschieden, die Termini Lernen und Erwerben werden allerdings, wenn nicht explizit erwähnt, bedeutungsgleich verwendet. Eine solche Gleichsetzung ist in weiten Teilen der Zweitspracherwerbsliteratur zu finden (vgl. Ellis/ Wulff 2015: 409; Hammarberg 2017: 7; für einen anderen Ansatz vgl. Paradis 2009). 62 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="62"?> 3.2 Die Rolle von explizitem und implizitem Wissen 63 kann daher im Regelfall verbalisiert werden (vgl. Ellis 2009: 3; Leow 2015: 47-48; Hulstijn 2005: 131-132; VanPatten/ Rothman 2015: 100-101). Des Weiteren wird in der Literatur zwischen implizitem und explizitem Wissen unterschieden. Diese beiden Wissenskomponenten stellen gewissermaßen die Resultate der entsprechenden Lernprozesse dar (vgl. Ellis 2009: 6). Ellis (2009: 10-16) unterscheidet sie folgendermaßen: Implizites Wissen ist unbewusst, weshalb eine explizite Verbalisierung - ähnlich wie beim entsprechenden Lernprozess - oft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist. Es kann daher nicht durch Forschungsmethoden, die eine Verbalisierung des Gelernten voraussetzen, sichtbar gemacht werden, sondern ist nur im tatsächlichen Sprachverhalten der Lernenden beobachtbar. Es ist prozedural, wird dementsprechend vorwiegend im prozeduralen Gedächtnissystem gespeichert und kann relativ einfach durch Rückgriff auf automatisierte Verarbeitungsstrategien aktiviert werden. Das prozedurale Gedächtnissystem und damit einhergehend implizites Wissen scheinen einer sensitiven Periode zu unterliegen. Es ist daher wahrscheinlich, dass implizites sprachliches Wissen ab einem bestimmten Alter nicht mehr vollständig erworben werden kann (eine ausführliche Darstellung findet sich in Kapitel 3.3). Im Gegensatz zu impliziten Wissensrepräsentationen ist explizites Wissen bewusst. Damit geht einher, dass der Lernende beispielsweise die einer sprachlichen Konstruktion zugrunde liegende Regel kennt und im Normalfall in der Lage ist, sie zu verbalisieren. Es besteht aus Faktenwissen über die entsprechende Sprache, ist im deklarativen Gedächtnissystem gespeichert und unterscheidet sich prinzipiell nicht von Faktenwissen anderer Art. Der Zugriff auf explizites Wissen erfolgt intentional und wird durch kontrollierte Aufmerksamkeitsprozesse gesteuert. Es ist bis ins hohe Alter vollständig lernbar und unterliegt keiner kritischen bzw. sensiblen Phase (vgl. Ellis 2009: 10-16). Die Frage, inwieweit explizite und implizite Wissenskomponenten miteinander interagieren, hat zu weitreichenden Debatten in der Zweitspracherwerbsforschung geführt. Daraus haben sich im Wesentlichen drei Positionen entwickelt, die im Folgenden kurz beschrieben werden: (1) Krashens (1981: 1-2) Monitor-Theorie nimmt an, dass erwachsene L2-Lerner über zwei voneinander unabhängige Systeme verfügen, nämlich eines für explizites und eines für implizites Wissen. Darüber hinaus geht Krashen davon aus, dass explizites Wissen lediglich den vom impliziten System produzierten Output modifizieren kann, aber keinen Einfluss auf das implizite System an sich hat. Anders formuliert: Es kontrolliert die Sprachproduktion auf der Performanz-Ebene, hat aber keinen Einfluss auf die Kompetenz (vgl. Krashen 1982: 16). Diese Annahme, dass explizites nicht in implizites Wissen transformiert werden kann, wird in der Literatur als non-interface -Position bezeichnet (vgl. Hulstijn 2015: 35-36; <?page no="63"?> VanPatten 2016). Es sprechen einige Beobachtungen für diese Auffassung: Auf Basis neurolinguistischer Erkenntnisse kann argumentiert werden, dass Wissen eines Gehirnareals (vor allem des Hippocampus) nicht eins zu eins in Wissen eines anderen Gehirnareals (Frontallappen) transformiert werden kann (vgl. Hulstijn 2015: 36; Ullman 2001, 2015, 2016; Paradis 2009; siehe Kapitel 3.3). Allerdings können durch Übung eines sprachlichen Phänomens unter Berücksichtigung von explizitem Wissen implizite Repräsentationen in anderen Gehirnarealen entstehen. Explizites und implizites Lernen können also simultan stattfinden: What is quite conceivable, however, is that through extensive practice with instances representing a certain grammatical regularity, guided by a declarative, conscious knowledge of that regularity, an implicit representation of it […] gradually emerges elsewhere in the brain (Hulstijn 2015: 36). (2) Vertretern einer weak-interface- Position zufolge können sich beide Wissensarten nicht nur gleichzeitig aufbauen; sie argumentieren vielmehr, dass explizites Wissen unter bestimmten Voraussetzungen sogar nützlich beim Aufbau impliziter Wissensrepräsentationen sein kann. Beispielsweise vermutet Pienemann (1998: 250-263, 2015: 137) in seiner Lehrbarkeitshypothese (en. teachability hypothesis ) einen solchen positiven Einfluss unter der Voraussetzung, dass der Spracherwerbsprozessor jene Entwicklungsstufe erreicht hat, in welcher er fähig ist, das entsprechende sprachliche Phänomen zu verarbeiten (vgl. auch Pienemann/ Lenzing 2015). Im Wortlaut Pienemanns heißt dies, „that instruction [i.e., explicit knowledge] will result in acquisition if it focuses on structures from ‘the next stage’“ (Pienemann 1998: 250). Auch Rod Ellis (2009: 22) vertritt die Ansicht, dass explizites Wissen einen indirekten Einfluss auf den Erwerb von implizitem Wissen hat. Sein Kollege, Nick Ellis (1994: 16), schlägt diesbezüglich vor, dass Regelwissen einen top down -Einfluss auf die Wahrnehmung sprachlicher Formen haben kann. Durch bewusste Aufmerksamkeitssteuerung können sprachliche Phänomene salient gemacht werden, wodurch sie vom Lernenden leichter bemerkt werden (en. noticing ), was wiederum deren Erwerb positiv beeinflusst (siehe Kapitel 3.1). (3) Schließlich nehmen Vertreter der strong-interface- Position an, dass explizites Regelwissen durch Übung direkt in implizites Wissen transformiert werden kann (vgl. DeKeyser 2003, 2015, 2017). Der wesentliche Unterschied zur weak-interface -Position besteht darin, dass Vertreter der starken Version von einem direkten Kausalzusammenhang zwischen den beiden Wissensarten ausgehen (vgl. Hulstijn 2015: 36). Anders als Paradis (2009: 16), der Prozeduralisierung eben gerade nicht als die Transformation von explizitem Regelwissen in implizites Wissen begreift, versteht DeKeyser (2017: 17; Hervorhebung durch 64 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="64"?> 3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs 65 den Verfasser) Prozeduralisierung als „[t]he process of creating procedural knowledge by incorporating elements of declarative knowledge into broader preexisting procedural rules.” Allein die beiden Ansätze von Paradis und DeKeyser veranschaulichen, dass bezüglich dieser Fragestellung kein Konsens in der Zweitspracherwerbsliteratur besteht. Eine Beantwortung ist vermutlich auch nur mithilfe neurolinguistischer Studien möglich. Aus diesem Grund wird im nächsten Kapitel dargestellt, inwiefern explizite und implizite Lernprozesse bzw. die entsprechenden Wissensrepräsentationen bestimmten Gedächtnissystemen zugeordnet werden können. 3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs Bevor in diesem Kapitel auf zwei Zweitspracherwerbsmodelle eingegangen wird, deren Annahmen auf neurolinguistischen Erkenntnissen beruhen, werden im Folgenden das deklarative und das nichtdeklarative Gedächtnissystem voneinander unterschieden. Aufbauend auf den grundlegenden Arbeiten von Atkinson und Shiffrin (1968) wird das Langzeitgedächtnis grob in ein deklaratives und ein nichtdeklaratives System unterteilt (vgl. Gruber 2018: 39-61). Bezüglich des deklarativen Systems werden das episodische und das semantische Gedächtnis unterschieden. Ersteres speichert beispielsweise persönliche Ereignisse, wohingegen das semantische Gedächtnis unter anderem Welt- und Faktenwissen aufbewahrt (vgl. Tulving 1972). Ein wesentliches Charakteristikum des deklarativen Gedächtnisses ist, dass die entsprechenden Inhalte bewusst abgerufen werden können. Ullman (2015: 137-138, 152-154, 2016: 956) und Paradis (2009: 12) betonen allerdings, dass es darüber hinaus auch implizite Wissensrepräsentationen beinhalten kann. Es besitzt außerdem die Fähigkeit, viele unterschiedliche Wissensarten innerhalb kürzester Zeit zu lernen. Oftmals reicht dafür schon ein einmaliges Auftreten eines Reizes aus; eine wiederholte Darbietung trägt allerdings zu dessen verstärkten Speicherung bei (vgl. Ullman 2016: 955-956). Das nichtdeklarative Gedächtnis „beschreibt den Teil des Langzeitgedächtnisses, bei dem die Wiedergabe von Gedächtnisinhalten unbewusst, automatisch und ohne Willensanstrengung erfolgt“ (Gruber 2018: 49). Ein bewusstes Abrufen von Informationen ist nicht möglich. Ein Teil des nichtdeklarativen Gedächtnisses ist das prozedurale Gedächtnis, dem das Lernen von motorischen und kognitiven Fähigkeiten zugeordnet wird (vgl. ebd.: 40). Im Gegensatz zum deklarativen Gedächtnis benötigt es eine wiederholte Darbietung eines Reizes, um Wissensrepräsentationen aufzubauen. Daraus folgt, dass einerseits <?page no="65"?> das Lernen langsamer erfolgt, dass aber andererseits das schon gelernte Wissen schneller und automatisierter abgerufen werden kann als im deklarativen System. Obwohl beide Gedächtnissysteme miteinander interagieren, können ihnen unterschiedliche neuronale Aktivitäten zugewiesen werden. Aufgaben, die das deklarative Gedächtnis beanspruchen, aktivieren beispielsweise Bereiche im medialen Teil des Temporallappens (v. a. im Hippocampus). Das prozedurale Gedächtnis hingegen zeigt primär Aktivitäten in den Basalganglien und im Cerebellum (Brodmann-Areal 6 und 44; vgl. Ullman 2016: 954-956). Ullman (2016: 956-958) geht davon aus, dass im Grunde beide Systeme über ähnliche Fähigkeiten verfügen und sich damit einhergehend prinzipiell ähnliches Wissen aneignen können. Dank der schnellen Lernfähigkeit wird gerade am Anfang eines Lernprozesses auf das deklarative System zurückgegriffen, bis sich durch mehrmalige Darbietung eines Reizes auch Repräsentationen im prozeduralen System ausbilden. Das Wissen im deklarativen System scheint dabei intakt zu bleiben. Als Vertreter der non-interface -Position verstehen Ullman (2016) und Paradis (2009) Prozeduralisierung nicht als die Transformation von explizitem in implizites Wissen, sondern als die simultane Herausbildung von implizitem Wissen in einem anderen Gehirnareal. Dies führt dazu, dass immer mehr auf das implizite/ prozeduralisierte und immer weniger auf das explizite Wissen zurückgegriffen wird: Proceduralization could not refer to the transformation of particular explicitly known rules into implicit computational procedures, but only to the gradual replacement of the use of explicit knowledge […] by the use of implicit competence newly (and independently) acquired through repeated use […]. Acquisition is not […] the proceduralization of explicit knowledge because an implicit procedure does not constitute the faster and faster application of an explicit rule; it operates on the basis of principles of a different type (Paradis 2009: 16; Hervorhebung durch den Verfasser). Die eben dargestellten neurobiologischen Grundannahmen werden von den deklarativ-prozeduralen Modellen von Ullman (2001, 2015, 2016) und Paradis (2004, 2009) übernommen und auf den L1- und L2-Erwerb angewandt. Im Folgenden wird das Modell von Ullman im Detail dargestellt und auf jenes von Paradis nur an jenen Stellen eingegangen, an denen sich die beiden Modelle unterscheiden. Ullman (2015: 140, 2016: 958) geht im Hinblick auf den L1- und den L2-Erwerb davon aus, dass jede Art von idiosynkratischem Sprachwissen mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Dies betrifft beispielsweise einfache Inhaltswörter inklusive deren (phonologischer) Form, Bedeutung, zugrunde liegender grammatikalischer Informationen sowie deren Form-Bedeutungs- 66 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="66"?> 3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs 67 mappings. 27 Außerdem werden auch unregelmäßige morphologische Formen, Redewendungen etc. in diesem System gespeichert (vgl. Ullman 2016: 958). An dieser Stelle unterscheiden sich die Modelle insofern, als Paradis (2009: 12-22) den Unterschied zwischen Lexikon und Vokabular betont (für überblicksartige Darstellungen zum mentalen Lexikon vgl. Levelt et al. 1999: 4; Müller-Lancé 2003; Raupach 1997: 21): Ersteres bezieht sich - so Paradis - auf die impliziten grammatikalischen Eigenschaften der lexikalischen Items (= lemma-stratum bei Levelt et al. 1999: 4), und somit explizit nicht auf die Form- Bedeutungs-Assoziationen, die er Vokabular nennt (= form - und conceptualstratum ; vgl. ebd.). Laut Paradis (2009: 12) werden die grammatikalischen Eigenschaften des Lexikons im L1-Erwerb mithilfe des prozeduralen, das Vokabular sowohl im L1als auch im L2-Erwerb durch das deklarative System erworben. Beide Modelle haben Vor- und Nachteile: Paradis kann die Unterscheidung zwischen explizit/ implizit bzw. deklarativ/ prozedural aufrechterhalten und muss im Gegensatz zu Ullman nicht erklären, warum die implizite grammatische Information des lemma-stratum im deklarativen System abgespeichert sein sollte. Ullmans Modell hat allerdings den Vorteil, dass es die einzelnen Strata eines lexikalischen Eintrags des mentalen Lexikons - aufgrund der vermeintlich unterschiedlichen Speicherung im deklarativen bzw. im prozeduralen Gedächtnis - nicht getrennt voneinander behandeln muss. Im Allgemeinen schreibt Ullman (2016: 958-959) dem deklarativen System eine enorme Bandbreite an Lernmöglichkeiten zu, sodass im Prinzip nicht nur idiosynkratisches Wissen, sondern auch regelbasierte Aspekte einer Sprache mithilfe dieses Systems (implizit oder explizit) gelernt werden können. Laut Ullman (2015: 141) hängt jede Art von implizitem und probabilistischem Lernen (z. B. Sequenzlernen) sowohl im L1als auch im L2-Erwerb prinzipiell vom prozeduralen System ab. Allerdings unterliegt das prozedurale System einer sensiblen Phase (vgl. Grotjahn 2005; Herschensohn 2013; Johnson/ Newport 1989 für einen allgemeinen Überblick zum Faktor Alter ), sodass laut Ullman (2001: 108-111) ein wesentlicher Unterschied zwischen dem L1- und dem L2-Erwerb darin besteht, dass Grammatik vor der Pubertät mithilfe des prozeduralen Systems gelernt wird, wohingegen sich Spracherwerb ab dem frühen Erwachsenenalter durch einen stärkeren Rückgriff auf das deklarative System auszeichnet (vgl. auch Paradis 2009: X): Whereas earlier learners rely largely on procedural memory for grammatical computations, later learners tend to shift to declarative memory for the same ‘grammatical’ 27 Im Laufe der Arbeit wird der englische Terminus des mappings mit den deutschen Begrifflichkeiten Assoziation , Verbindung oder Paar übersetzt. Bezüglich des Verbs to map werden die deutschen Verben assoziieren oder verbinden verwendet. <?page no="67"?> functions, which are moreover learned and processed differently than in earlier learners. Thus processing of linguistic forms that are computed grammatically by procedural memory in L1 is expected to be dependent to a greater extent upon declarative memory in L2 (Ullman 2001: 109). Dieser stärkere Rückgriff auf das deklarative System im L2-Erwerb hat laut Ullman zwei Auswirkungen: (1) Durch den fehlenden Zugriff auf das prozedurale System werden die sprachlichen Formen memoriert und wie andere Lexeme im mentalen Lexikon gespeichert. Nur durch die Fähigkeit des deklarativen Gedächtnisses, Muster von auswendiggelernten Formen auf neue zu übertragen, entsteht Produktivität in der L2. (2) Einige grammatikalische Regeln können zwar mithilfe des deklarativen Gedächtnisses gelernt werden, unterscheiden sich aber möglicherweise wesentlich von den L1-Regeln. Sowohl Ullman (2001: 110) als auch Paradis (2009: XI) nehmen jedoch an, dass mit höherem Sprachniveau in der L2 der Zugriff auf das prozedurale System erhöht werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass laut den beiden deklarativ-prozeduralen Modellen jede Art von idiosynkratischem Wissen sowohl im L1als auch im L2-Erwerb mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Regelbasierte Aspekte und probabilistisches Lernen beruhen hingegen vermehrt auf dem prozeduralen System, das allerdings einer sensitiven Periode zu unterliegen scheint, was dazu führt, dass L2-Lerner ab dem frühen Erwachsenenalter vermehrt auf das deklarative System zurückgreifen. Dies kann den Mangel des prozeduralen Systems zwar bis zu einem gewissen Grad kompensieren, aber nicht vollständig ausgleichen. 3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb In den letzten Kapiteln wurde bis auf wenige Ausnahmen immer vom L1- und vom L2-, aber nur selten vom L3-Erwerb gesprochen. Lange Zeit sah man keine Notwendigkeit, zwischen dem Erwerb einer L2 und jenem einer L3 zu unterscheiden. Sharwood Smith (1994: 7; Hervorhebung im Original) beispielsweise definiert eine Zweitsprache folgendermaßen: ‘Second’ language will normally stand as a cover term for any language other than the first language learned by a given learner or group of learners […] irrespective of the number of other non-native languages possessed by the learner . 68 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="68"?> 3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb 69 Der Terminus Zweitsprache 28 (L2) wurde (und wird) als Begriff verwendet, der alle Sprachen miteinschließt, die sich ein Individuum nach dem Erwerb einer L1 aneignet (vgl. Hammarberg 2010: 92-93). Die fehlende terminologische Differenzierung lässt darauf schließen, dass die zugrunde liegenden Prozesse beim Erwerb einer L2 und jenem einer L3 als nicht unbedingt unterschiedlich angesehen wurden (bzw. werden) (vgl. Jessner 2006: 14). Diese Ansicht wird von der sich in den 1990er-Jahren herausbildenden Drittspracherwerbsforschung kritisch hinterfragt. Anlass dafür sind mehrere Studien, die zeigen, dass sich bi- und multilinguale Personen von monolingualen unterscheiden (für einen neueren Überblick vgl. Cenoz 2013: 74-77; De Angelis 2007: 115-120; Hirosh/ Degani 2018; Jessner 2014: 180-181; Jessner/ Megens/ Graus 2016: 193-194; Peukert 2015: 1; Ruiz de Zarobe/ Ruiz de Zarobe 2015: 398). Ein wesentlicher Unterschied ist beispielsweise, dass multilinguale Lerner auf mehrere Transferbasen zurückgreifen können. Außerdem haben sie „eine nachweislich höhere Bewusstheit in Bezug auf die Sprache(n) selbst als auch auf die eigene Mehrsprachigkeit und auf das eigene Lernen inklusive der eigenen Lernstrategien“ (Hufeisen 2003: 97). Hufeisen (2000: 209-214, 2010) versucht, diese Unterschiede im sogenannten Faktorenmodell 29 herauszuarbeiten. Mit jeder neu gelernten Sprache werden weitere Faktoren, die den Erwerb beeinflussen, in das Modell integriert. Die wesentlichen Aspekte werden im Folgenden kurz angesprochen. Das Faktorenmodell geht davon aus, dass die L1-Aneignung vor allem von neurophysiologischen Faktoren wie beispielsweise der generellen Spracherwerbsfähigkeit und von bestimmten lernerexternen Faktoren wie der Lernumwelt oder dem Input abhängt. Gemäß Hufeisen (2010: 202-203) kommen beim Lernen einer L2 weitere Einflussfaktoren hinzu: • Zusätzliche lernerexterne Faktoren wie Art und Umfgang des Inputs • Emotionale Faktoren wie Motivation oder (Lern-)Angst • Kognitive Faktoren wie das metasprachliche Bewusstsein oder diverse Lernstrategien • Linguistische bzw. sprachliche Faktoren (die L1 als erste Transferbasis) Nun gibt es aber laut Hufeisen auch zwischen dem Lernen einer L3 und jenem einer L2 qualitative und quantitative Unterschiede. Zu der eben genannten Liste fügen sich beim L3-Lernen noch weitere Faktoren hinzu, zu denen unter anderem der Komplex der sogenannten ‚Fremdsprachenspezifischen Faktoren‘ 28 Der Begriff der Zweitsprache (L2) wird in dieser Arbeit mit jenem der Fremdsprache gleichgesetzt. 29 Für eine ausführliche Diskussion des Faktorenmodells und den Vorschlag einer erweiterten Version ( Extended Factor Model ) sei auf Hammarberg (2017) verwiesen. <?page no="69"?> zählt, den Hufeisen (2010: 201; Hervorhebung im Original) folgendermaßen beschreibt: Sprachlernerfahrungen sind vorhanden, eventuell ein expliziertes und anwendbares Wissen darüber, wie an den neuen Sprachlernprozess erfolgversprechend herangegangen werden kann, eine vermutlich größere Gelassenheit gegenüber dem (wieder einmal) Neuen und Fremden. […] Diese […] Fremdsprachenspezifischen Faktoren […], die sich erst ab einer L2 einstellen und entwickeln, aber mit dem Lernen einer L3 wirksam werden können[, machen] […] den wesentlichen Unterschied zwischen dem Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 aus […]. Wie Abbildung 4 veranschaulicht, handelt es sich bei den fremsprachenspezifischen Faktoren beispielsweise um individuelle Fremdsprachenlernerfahrungen sowie um Fremdsprachenlernstrategien als auch um die Lernersprachen bzw. interlanguages (vgl. Selinker 1972) der bereits gelernten Sprachen, sei es die L2 im L3-Erwerb oder die L3, L4, Lx im L4-, L5-, Lx-Erwerb: GSEducationalVersion Fremdsprachenspezifische Faktoren: Individuelle Fremdsprachenlernerfahrungen und Fremdsprachenlernstrategien (z.B. interlinguale Vergleichs-, Transfer- und Rückbezugsfähigkeit), Interlanguages der vorgängigen Fremdsprachen, Interlanguage der jeweiligen Zielfremdsprache, ... Kognitive Faktoren: Sprachbewusstsein, metalinguistisches Bewusstsein, Lernbewusstsein, Lerntyp, Wissen um den eigenen Lerntyp, Lernstrategien, individuelle Lernerfahrungen, ... Emotionale Faktoren: Motivation, (Lern)Angst, Einschätzung der eigenen Sprachliteralität, empfundene Nähe/ Distanz zwischen den Sprachen, Einstellung(en) zu den Sprachen, zu den zielsprachigen Kulturen, zum Sprachenlernen, individuelle Lebenserfahrungen, Lerntyp, ... Lernerexterne Faktoren: Lernumwelt(en), Art und Umfang des Inputs, L1-Lerntradition(en), kulturelles Erbe, ... Neurophysiologische Faktoren: Generelle Spracherwerbsfähigkeit, Alter, ... Linguistische Faktoren: L1, L2 L3 Abb. 4: Lernen einer L3 im Faktorenmodell - fremdsprachenspezifische Faktoren (vgl. Hufeisen 2010: 204) Im Unterschied zum L2-Erwerb, in welchem nur auf eine Sprache, die L1, zurückgegriffen werden kann, haben die L3-Lernenden zusätzlich noch mindestens eine weitere Sprache, die sie als Transferbasis nutzen können. Wie in Kapitel 3.3 dargestellt, beruht das Lernen einer L2 stärker auf dem deklarativen Gedächtnissystem als das Lernen einer L1. Damit geht einher, dass in einer L2 im Normalfall ein sowohl quantitativ als auch qualitativ stärker ausgeprägtes 70 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="70"?> 3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb 71 explizites Wissen vorhanden ist. Obwohl sich das L2-/ L3-Lernen im Hinblick auf den Rückgriff auf das deklarative Gedächtnissystem gleicht, unterscheidet es sich dadurch, dass auf ein zusätzliches Sprachsystem (jenes der L2) zugegriffen werden kann, welches naturgemäß viel explizites Wissen bereitstellt. Die eben dargelegten Unterschiede zwischen dem L1-, dem L2- und dem L3- Erwerb machen es notwendig, die Begrifflichkeiten der Erst-, Zweit- und Drittsprache voneinander abzugrenzen. Die häufige Praxis, alle Sprachen, die nach der L1 gelernt wurden, unter dem Terminus Zweitsprache zu subsumieren, greift zu kurz, da sie den im Faktorenmodell dargestellten Unterschieden nicht gerecht wird (vgl. Hammarberg 2010: 92-93). Oftmals wird für die Unterscheidung zwischen den gelernten Sprachen eine rein chronologische Darstellung herangezogen. Die erste gelernte Sprache wird als L1, die zweite als L2, die dritte als L3 usw. bezeichnet (vgl. Hammarberg 2010: 93). Diese Vorgehensweise ist insofern problematisch, als es häufig schwierig ist, eine chronologische Auflistung vorzunehmen, zumal Spracherwerb oftmals simultan stattfindet (vgl. Hammarberg 2010: 93-94, 2017: 7-9). Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit eine andere Definition angewendet. Eine Drittsprache wird als jene Sprache definiert, die in der aktuellen Lebenssituation der Lernenden, die bereits über eine oder mehrere Erstbzw. Zweitsprachen verfügen, erworben wird und der keine L1-Erwerbsprozesse zugrunde liegen: [T]he term third language (L3) refers to a non-native language which is currently being used or acquired in a situation where the person already has knowledge of one or more L2s in addition to one or more L1s (Hammarberg 2010: 97; Hervorhebung im Original). Diese Definition ermöglicht es, den L3-Begriff als eine Erweiterung der L2- Kategorie zu verstehen. So kann sich der Terminus L3 beispielsweise in einem Forschungskontext auf jene L2 der Probanden beziehen, die im Rahmen der Studie als Zielsprache im Fokus steht. Laut Hammarberg (2010: 97) hat die Verwendung dieser Terminologie den Vorteil, dass alle Sprachen, denen keine L1-Erwerbsprozesse zugrunde liegen, unter dem traditionellen Begriff der L2 subsumiert werden können und nur die im Fokus stehende Sprache als L3 bezeichnet wird. Termini wie L4, L5 etc. sind nicht nötig, was wiederum eine gewisse terminologische Klarheit schafft. Im Falle der vorliegenden Arbeit handelt es sich somit beim Spanischen um eine Dritt- oder Tertiärsprache (L3). Alle anderen nicht nativen Sprachen werden als Zweit- oder Sekundärsprachen (L2) bezeichnet; es handelt sich dabei um das Englische, das Französische und das Lateinische. <?page no="71"?> 3.5 Konklusion: L2- ≠ L3-Erwerb In den letzten Kapiteln wurde Lernen im Allgemeinen und Sprachlernen im Speziellen als ein auf allgemeinen kognitiven Prozessen beruhender, hochkomplexer und dynamischer Vorgang beschrieben, der von unterschiedlichen Faktoren wie beispielsweise Frequenz, Salienz oder Prototypikalität beeinflusst wird. In Anlehnung an die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman und Paradis wird außerdem davon ausgegangen, dass das Langzeitgedächtnis in ein deklaratives und ein nichtdeklaratives (v. a. prozedurales) System unterteilt werden kann. Diese Modelle nehmen an, dass L2- und L3-Lernen im Unterschied zum L1-Erwerb vermehrt auf dem deklarativen System beruht, vor allem was die Aneignung von grammatikalischen Phänomenen betrifft. Durch den Erwerb einer L2 werden somit unter anderem explizite grammatikalische Wissensrepräsentationen im deklarativen Gedächtnis aufgebaut, die beim Erwerb einer L1 üblicherweise fehlen. Hufeisen betont im Faktorenmodell deshalb, dass sich das Lernen einer L3 von jenem einer L2 unterscheidet, da L3-Lerner neben den fremdsprachenspezifischen Faktoren unter anderem auch auf diese expliziten Wissensrepräsentationen der L2 zurückgreifen können bzw. von diesen beeinflusst werden. Dadurch ist das metasprachliche Bewusstsein von L3-Lernenden besser ausgeprägt, was einen der wesentlichen Unterschiede zwischen multi- und monolingualen Menschen ausmacht. Im Faktorenmodell wird unter anderem darauf eingegangen, dass der L3-Erwerb vom sprachlichen Vorwissen der Lernenden beeinflusst wird. Dieser Einfluss einer Sprache auf eine andere wird traditionellerweise als Transfer bezeichnet. Wie Transfer genau definiert wird, von welchen Faktoren er abhängt und wie er modelliert werden kann, wird im nächsten Kapitel näher beleuchtet. 72 Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit-/ Drittspracherwerbs <?page no="72"?> 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb Der Terminus Transfer stammt nicht wie häufig angenommen aus Lados (1957) Werk Linguistics Across Cultures , sondern ist bereits bei Wilhelm von Humboldt (‚hinübertragen‘, lat. transferre ) oder bei Hugo Schuchardt (‚übertragen‘) zu finden. Die erste englische Verwendung des Terminus transfer findet sich schließlich in einem Artikel von William Dwight Whitney aus dem Jahre 1881 (vgl. Odlin/ Yu 2016: 5-6). Transfer 30 wird in Anlehnung an Odlin (1989: 27) als „the influence resulting from the similarities and differences between the target language and any other language that has been previously (and perhaps imperfectly) acquired“ definiert. Sharwood-Smith (1994: 198; Hervorhebung im Original) beschreibt ihn als „the influence of the mother tongue on the learner’s performance in and / or development of a given target language; by extension, it also means the influence of any ‘other tongue’ known to the learner on that target language “. In Anlehnung an diese beiden Zitate kann Transfer demnach als der Einfluss einer Sprache auf eine andere Sprache definiert werden. Er kann prinzipiell auf allen sprachlichen Ebenen stattfinden und ist oft auf sprachstrukturelle Ähnlichkeiten oder Unterschiede zurückzuführen. Je nachdem, ob er sich positiv oder negativ auf die Zielsprache auswirkt, wird er als positiver oder negativer Transfer bezeichnet. Das Ziel der Transferforschung ist es, zu beschreiben und zu verstehen, wie sich sprachliches Wissen auf die Produktion, das Verständnis und den Erwerb einer Zielsprache auswirkt (vgl. De Angelis 2007: 19). Die nachfolgenden Darstellungen fokussieren primär, wie Transfer den Erwerb einer Zweitbzw. einer Drittsprache beeinflussen kann. Nachdem der Begriff an sich definiert wurde, wird im nächsten Kapitel auf die Anfänge der Transferforschung eingegangen. Im Anschluss werden die wichtigsten Einflussfaktoren diskutiert. Dazu zählen unter anderem die Sprachtypologie oder das Sprachniveau. In Kapitel 4.3 werden schließlich aktuelle Transfermodelle beschrieben und einige Studien diskutiert, die empirische Evidenz für die entsprechenden Modelle liefern. 30 Da die unterschiedlichen Begrifflichkeiten wie beispielsweise Transfer, Interferenz, Entlehnungen etc. teilweise eine gewisse Konnotation haben, wird in der Mitte der 1980er- Jahre der Begriff cross-linguistic influence (CLI) als theorieneutraler Terminus eingeführt (vgl. De Angelis 2007: 19). In der vorliegenden Arbeit wird dennoch, wie auch in weiten Teilen der Forschungsliteratur (vgl. Odlin 2003: 436), der Begriff des Transfers gebraucht und synonym zu cross-linguistic influence verwendet. <?page no="73"?> 74 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb 4.1 Transfer als kognitiver Prozess Jarvis und Pavlenko (2010: 4-8; vgl. auch Jarvis 2016: 18-19) teilen die Transferforschung in vier Phasen ein: Die erste Phase (auch altes Paradigma genannt), die in etwa die Forschung bis in die 1970er-Jahre umfasst (vgl. z. B. Weinreich 1953), betrachtet Transfer vorerst als unabhängige Variable und ist durch die quantitative Analyse unterschiedlicher Transfereffekte gekennzeichnet. Der Fokus liegt meist auf negativem Transfer (sogenannten Interferenzen; vgl. Odlin 2003: 438; Peukert 2015: 1). Vor allem in Europa kommt es spätestens in den 1970er-Jahren zu einem Perspektivenwechsel, der die zweite Phase und damit das neue Paradigma einleitet (vgl. Jarvis 2016: 18; siehe Kapitel 4.2). Dieser Perspektivenwechsel kann unter anderem auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem behavioristischen Lernverständnis im Allgemeinen und der Kontrastivhypothese im Spezifischen zurückgeführt werden. Auf der einen Seite beginnt man, Lernen als einen kognitiven Prozess zu verstehen, auf der anderen kritisiert man die Annahmen der Kontrastivhypothese, dass Transferphänomene durch eine rein sprachstrukturelle Analyse vorhergesagt werden können (vgl. Decke-Cornill/ Küster 2010: 22-23; Königs 2010: 756). Mit diesen Entwicklungen geht eine Tendenz einher, Transfer als kognitiven und kreativen Prozess zu verstehen. Kellerman (1979: 37-40) stellt beispielsweise die These auf, dass die Lernenden immer dann von ihrer L1 Gebrauch machen, wenn ihnen eine Struktur in der Zielsprache fehlt. Demnach handelt es sich um ein vermeintlich bewusstes Vergleichen der Sprachstrukturen der L1 und der L2. Wenn die Lernenden das Gefühl haben, die Sprachstrukturen der L1 sind auf jene der L2 übertragbar, dann ist die Wahrscheinlichkeit für Transfer hoch. Es ist also vor allem die von den Lernenden wahrgenommene Nähe zwischen der L1 und der L2, die sogenannte Psychotypologie (vgl. Kellerman 1983: 114), die Transfer beschränken, aber auch auslösen kann (vgl. Ringbom 1978: 96). 31 Die Qualität dieser subjektiven Wahrnehmung hängt eng mit dem Konzept des metasprachlichen Bewusstseins zusammen (vgl. Kellerman 1983: 116). Dieses kann sich im Laufe des Sprachlernprozesses ändern, womit auch eine Veränderung der subjektiven Wahrnehmung sprachstruktureller Ähnlichkeiten und Unterschiede einhergeht (vgl. Kellerman 1979: 40). Ein weiterer Aspekt, der die Transferabilität beeinflusst, ist die psycholinguistische Markiertheit einer Struktur: 31 Ringbom (2001: 59-60) betont, dass es beim Kellermanschen Konzept der Psychotypologie ursprünglich um die Beziehungen zwischen der L1 und der L2 geht, dass es aber problemlos auf alle im Sprachrepertoire des Lernenden vorhandenen Sprachen ausgeweitet werden kann. <?page no="74"?> 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen 75 If a feature is perceived as infrequent, irregular, semantically or structurally opaque, or in any other way exceptional, what we could […] call ‘psycholinguistically marked’, then its transferability will be inversely proportional to its degree of markedness (Kellerman 1983: 117). Je stärker ein Merkmal psycholinguistisch markiert ist, desto unwahrscheinlicher ist ein Transfer desselben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Lernende psycholinguistisch markierte Merkmale als sprachspezifisch wahrnehmen und deshalb davon ausgehen, dass andere Sprachen im Hinblick auf dieses Phänomen anders funktionieren, und die Ausgangssprache deshalb nicht als nützliche Transferbasis wahrnehmen. Damit einhergehend ist anzunehmen, dass prototypische Merkmale einer Sprache, die ja per definitionem eine niedrige psycholinguistische Markiertheit aufweisen, eher transferiert werden als nicht prototypische. Die eben dargestellten Pionierarbeiten von Kellerman und Ringbom machen Transfer zur abhängigen Variable und versuchen zu erklären, von welchen Faktoren er abhängt. Im nächsten Kapitel werden einige neuere Erkenntnisse dieser zweiten Phase der Transferforschung diskutiert. 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen Die zweite Phase der Transferforschung hat zahlreiche Einflussfaktoren identifiziert, zu denen unter anderem das Sprachbewusstsein, der Kontakt mit einer zielsprachlichen Lernumgebung, die Erwerbsreihenfolge, die Formalität des Kontexts oder das Alter zählen (vgl. De Angelis 2007; Hammarberg 2009; Jarvis/ Pavlenko 2010). Da in der aktuellen Diskussion vor allem Faktoren wie die schon erwähnte (Psycho-)Typologie, sprachstrukturelle Aspekte, das Sprachniveau in der L2 und der L3, die recency of use sowie der sogenannte L2-Status eine Vorrangstellung einnehmen (vgl. Falk/ Bardel 2010: 193), wird ihnen in den nächsten Abschnitten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 4.2.1 Der Einfluss von genetischer Verwandtschaft, sprachstruktureller Ähnlichkeit und (Psycho-)Typologie Da der Terminus Typologie in der Literatur nicht einheitlich verwendet wird, wird im Folgenden das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis dargelegt. 32 In Anlehnung an Falk und Bardel (2010: 193-194) wird zwischen (1) einer 32 De Angelis (2007: 22) spricht beispielsweise von sprachlichem Abstand oder formaler/ sprachstruktureller Ähnlichkeit (vgl. auch Ringbom 2007: 7-9). In Anlehnung an De <?page no="75"?> 76 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb genetischen Sprachverwandtschaft (en. language relatedness) , (2) der Typologie im Sinne der Nähe bzw. Distanz bestimmter Sprachstrukturen und (3) der Psychotypologie nach Kellerman (1983) unterschieden. (1) Sprachen sind genetisch miteinander verwandt, wenn sie sich aus einer gemeinsamen (Ur-)Sprache entwickelt haben; man spricht dann von einer Sprachfamilie mit unterschiedlichen Zweigen. Beispielsweise ist die indogermanische Sprachfamilie als eine genetische Einheit anzusehen. Aber auch Cluster diverser Einzelsprachen, wie beispielsweise die romanischen Sprachen, die sich aus einer Protosprache entwickelt haben und somit einem Zweig der indogermanischen Sprachfamilie zugeordnet werden, können als eine Einheit verstanden werden. In weiten Teilen der Forschungsliteratur wird angenommen, dass Sprachen, die genetisch verwandt sind, eher als Transferbasis herangezogen werden als Sprachen, die nicht verwandt sind (vgl. Cenoz 2001). Diese allgemeine Tendenz darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Transfer durchaus auch aus nicht verwandten Sprachen stattfinden kann (vgl. De Angelis 2007: 23). (2) Unter Typologie verstehen Falk und Bardel (2010: 193-194) in Anlehnung an Croft (2003) Ähnlichkeiten zwischen Sprachen in Bezug auf spezielle Sprachstrukturen, die unabhängig von ihrer Verwandtschaft sind. So sind das Spanische und das Französische als romanische Sprachen genetisch miteinander verwandt, unterscheiden sich aber beispielsweise in Bezug auf die obligatorische Realisierung von Subjektpronomen. Diese können im Spanischen weggelassen werden ([+pro-drop]), wohingegen sie im Französischen obligatorisch realisiert werden müssen ([-pro-drop]). (3) Die von Linguisten beschriebenen objektiven Ähnlichkeiten (vgl. Ringbom 2007: 7-9; Ringbom/ Jarvis 2009: 106-109) unterscheiden sich wesentlich vom Konzept der Psychotypologie, welches sich auf die von den Lernenden wahrgenommene typologische Nähe bezieht (vgl. Kellerman 1983). Darüber hinaus ist zwischen einer wahrgenommenen und einer angenommenen Nähe zu unterscheiden (en. perceived/ assumed similarity ; vgl. Ringbom 2007: 24-26; Jarvis/ Pavlenko 2010: 179). Wenn die Autoren von wahrgenommener Nähe sprechen, meinen sie, dass eine bestimmte Struktur, Bedeutung etc. im Input (bewusst oder unbewusst) wahrgenommen und mit sprachlichem Vorwissen in Verbindung gebracht wird. Bei der angenommenen Nähe hingegen handelt es sich lediglich um eine (bewusste oder unbewusste) Vermutung seitens der Lernenden, dass eine Struktur, die sich in ihrem sprachlichen Repertoire befindet, Angelis (2007: 23) werden diese Begrifflichkeiten und jene der (Sprach-)Typologie gleichbedeutend verwendet. Diese Vereinfachung soll zu einer besseren Verständlichkeit führen. An jenen Stellen, an denen diese Simplifizierung möglicherweise Missverständnisse verursacht, werden explizite Erklärungen gegeben. <?page no="76"?> 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen 77 auch in der Zielsprache vorhanden sein könnte, und zwar unabhängig davon, ob eine solche Struktur tatsächlich wahrgenommen wurde. Aus den Darstellungen der Autoren geht leider nicht klar genug hervor, wie die kognitiven Prozesse des Wahrnehmens und Annehmens genau zu verstehen sind. Es lässt sich vermuten, dass es sich bei beiden Prozessen zumeist um Vorgänge handelt, die eine gewisse Bewusstheit und ein metasprachliches Bewusstsein voraussetzen. Dies ist aber keinesfalls die einzig mögliche Interpretation: Vor allem Forscher aus dem Bereich der generativistischen Zweit-/ Drittspracherwerbsforschung verneinen, dass die bewusste Bewertung von Ähnlichkeiten und Unterschieden auf der sprachlichen Oberflächenstruktur einen Effekt auf Transfer 33 hat: [M]ultilingual transfer selection is not dependent on obvious surface level (dis)similarity, it rejects the notion that conscious psychotypological assessment on the part of the learner brings anything to bear . I would take as coincidental any correlations between the learner’s perceptions and independently measurable assessments of linguistic competence (Rothman 2015: 184-185; Hervorhebung durch den Verfasser). Rothman erklärt weiter: „From a generative perspective, it is reasonable to reject a priori that consciousness would have anything to bear specifically on underlying linguistic representation“ (ebd.: 185; Hervorhebung im Original). Der Autor negiert zwar nicht, dass ein bewusstes Vergleichen von Sprachstrukturen auf der Sprachoberfläche durchgeführt wird, er verneint aber, dass dieses Vergleichen einen Einfluss auf den Transfer syntaktischer Merkmale hat (vgl. ebd.: 181). Laut Ringbom (2007) und Jarvis/ Pavlenko (2010) hängt es von der Qualität der Analyse des neuen Sprachsystems ab, ob sich die wahrgenommene Nähe positiv oder negativ auf das Transferverhalten der Sprachlernenden auswirkt. Nur wenn die wahrgenommene Nähe mit der objektiven Nähe übereinstimmt, ist positiver Transfer die Folge. Bei der Analyse ist es allerdings möglich, dass Lernende objektive Ähnlichkeiten übersehen bzw. falsch interpretieren oder dass sie Hypothesen bezüglich Ähnlichkeiten aufstellen, die aus linguistischer Perspektive nicht existieren (vgl. Jarvis/ Ringbom 2009: 107). Solche Fehlanalysen können somit als ein Hauptgrund für negativen Transfer angesehen werden. In nahverwandten Sprachen starten die Lernenden oft mit der Wahrnehmung formaler Ähnlichkeiten, worauf die Annahme folgt, die Sprachen funktionierten 33 Es sei an dieser Stelle betont, dass der generativen Zweit-/ Drittspracherwerbsforschung ein anderes Transferverständnis zugrunde liegt. Transfer wird in diesem Framework als Transfer von funktionalen, syntaktischen Merkmalen inkl. deren Kategorien sowie deren morphologische, semantische und syntaktische Reflexe verstanden (vgl. Rothman 2015: 181-182). <?page no="77"?> 78 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb auch auf funktional-semantischer Ebene ähnlich. Gibt es allerdings nur wenige sprachstrukturelle Ähnlichkeiten, dann sind es reine Hypothesen, die das Sprachverstehen und die Sprachproduktion leiten: In comprehension of related languages, learners can often start out by perceiving cross-linguistic similarity (i.e. formal similarity) , to elements of a language they already know. A subsequent stage is the assumption of an associated semantic and/ or functional similarity . If no formal similarity can be perceived, the learner will have to make do with merely assuming that the languages work in much the same way (Ringbom 2007: 24-25; Hervorhebung durch den Verfasser). Laut Ringbom und Jarvis (2009: 108) nehmen die Lernenden im L3-Erwerb formale Ähnlichkeiten mit der typologisch nächsten Sprache wahr; im Bereich der Semantik und Pragmatik hingegen habe die L1 eine Vorrangstellung: In cases where learners are learning a third or fourth language, their assumption tends to be that the [target language] TL is semantically and pragmatically similar to the L1 but formally similar to the language (the L1, L2, L3, etc.) that they perceive as being typologically closest to the TL. Gemäß Ringbom und Jarvis (2009: 109-110) sowie Ringbom (2007: 5-7) gibt es drei Möglichkeiten, wie Lernende interlinguale Parallelen wahrnehmen können (für eine Diskussion zum Konzept der Wahrnehmung siehe Kapitel 3.1). Die Autoren unterscheiden Ähnlichkeits-, Kontrast- und zero -Beziehungen (en. similarity , contrast und zero relations ). Diese drei Begrifflichkeiten werden für die vorliegende Arbeit übernommen, auch wenn die zugrunde liegende Konzeption mit derjenigen der Autoren nicht immer identisch ist. (1) In einer Ähnlichkeitsbeziehung nehmen die Lernenden eine Sprachstruktur der Zielsprache als formal und/ oder funktional ähnlich zu einer Form ihres sprachlichen Repertoires wahr. Wenn sie keine funktionale Ähnlichkeit wahrnehmen, wird eine solche zumindest angenommen. Wie im obigen Zitat von Ringbom (2007: 24-25) dargelegt, orientieren sich die Lernenden primär an formalen, das heißt an morphologischen bzw. auch an morpho-phonologischen oder morpho-syntaktischen Kriterien. Es ist anzunehmen, dass sie formal ähnliche Strukturen zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache für die ersten Hypothesen des Sprachlernprozesses heranziehen. Im Hinblick auf das Verbalsystem, das in der vorliegenden Arbeit im Fokus steht, nehmen sie demzufolge sowohl synthetische als auch analytische Formen als ähnlich wahr. Sie bemerken beispielsweise, dass die beiden synthetischen Formen, das simple past und das perfecto simple , formal ähnlich sind, das analytische present perfect und das synthetische perfecto simple hingegen nicht. Lernende differenzieren aber auch innerhalb der beiden Kategorien (= synthetisch/ analytisch) zwischen <?page no="78"?> 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen 79 verschiedenen Formen. Es ist anzunehmen, dass sie den formalen (wie auch funktionalen) Unterschied zwischen der Bildung einer Perfekt- und einer Progressivperiphrase erkennen (z. B. present perfect vs. estar + gerundio ). Diese Ähnlichkeitsanalyse kann theoretisch bis zur Phonem-Ebene fortgeführt werden. Diese theoretischen Überlegungen können anhand der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Progressivperiphrasen im Spanischen und Englischen exemplifiziert werden: Die beiden Periphrasen sind sich insofern formal ähnlich, als es sich um Gerundium-Periphrasen handelt, die mithilfe einer Kopula als Auxiliar gebildet werden ( estar, to be ). Aufgrund dieser formalen Ähnlichkeit nehmen beispielsweise Lernende des Spanischen an, dass die zugrunde liegende Funktion/ Semantik der spanischen Progressivperiphrase Ähnlichkeiten mit der englischen aufweist. Da beide Periphrasen tatsächlich primär progressive Bedeutung ausdrücken (siehe Abschnitt 2.3.2 und 2.3.4.2), führt dies zu einer erfolgreichen Assoziation (en. mapping ) der beiden Formen, was einen positiven semantischen Transfer mit sich bringt. (2) Als Kontrastbeziehungen werden in der vorliegenden Arbeit jene interlingualen Relationen bezeichnet, bei denen sich die formale Seite des sprachlichen Zeichens unterscheidet (z. B. synthetisch vs. analytisch), denen aber eine funktional-semantische Ähnlichkeit zugrunde liegt. Die Lernenden nehmen diesen formalen Unterschied wahr und schließen in der Folge fälschlicherweise darauf, dass zwischen den Sprachen keine funktional-semantische Ähnlichkeit vorliegt. Damit geht einher, dass eine Assoziation zwischen der Form der Ausgangs- und jener der Zielsprache nicht stattfindet und ein vermeintlich positiver semantischer Transfer ausbleibt. Ein Beispiel für eine Kontrastbeziehung ist die funktional-semantische Ähnlichkeit zwischen dem spanischen imperfecto und der englischen progressive - Form im Hinblick auf die progressive Semantik mit dynamischen Verben. Aufgrund der formalen Differenz zwischen dem synthetischen imperfecto und der periphrastischen progressive -Form - und möglicherweise auch aufgrund der komplexen Semantik des Imperfekts - erkennen die Lernenden die zugrunde liegende funktional-semantische Ähnlichkeit nur bedingt, was sich negativ auf die Transferierbarkeit auswirkt. Eine Assoziation der Formen und ein durchaus möglicher semantischer Transfer des Merkmals [+ progressiv] findet nicht statt. (3) Auch bei einer zero - oder near-zero -Beziehung gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ausgangssprache(n) (z. B. sprachliche Universalien), die allerdings aufgrund der abstrakten Natur von einem durchschnittlichen Lernenden vor allem in den Anfangsstadien des Sprachlernens nicht wahrgenommen wird (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 110). Solche zero -Beziehungen finden sich vermehrt in nicht nahverwandten Sprachen. So besteht zwischen <?page no="79"?> 80 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb der englischen progressive -Form und den chinesischen Aspekt-Partikeln zhe / zai (vgl. Klein 2009b: 70) prinzipiell eine zero -Beziehung, die sich allerdings mit steigendem Sprachniveau in eine Kontrastbeziehung verwandeln kann (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 110). Ein weiteres Beispiel für eine zero -Beziehung findet sich zwischen dem Englischen und dem Spanischen im Hinblick auf die kontinuative Semantik (siehe Kapitel 2.1.2). Im Spanischen muss diese mithilfe einer imperfektiven Verbform ausgedrückt werden, im Englischen hingegen durch das aspekt-neutrale simple past . Obwohl beide Sprachen über das Konzept der Kontinuität verfügen, sind die entsprechenden Versprachlichungen so unterschiedlich, dass Lernende diese abstrakte Ähnlichkeit nicht wahrnehmen. Dementsprechend findet sich auch keine zielsprachliche Assoziation zwischen der Form der Ziel- und jener der Ausgangssprache. Da das Verständnis dieser drei Beziehungen für den weiteren Verlauf der Arbeit von großer Bedeutung ist, sind die wichtigsten Merkmale in der nachstehenden Tabelle zusammengefasst: Beziehung Formal Funktional-semantisch Ähnlichkeit + + Kontrast − ~ Zero − − Tab. 9: Ähnlichkeits-, Kontrast-, und zero -Beziehungen (+ steht für Ähnlichkeit wahrgenommen; ~ steht für Ähnlichkeit nicht wahrgenommen, obwohl vorhanden; steht für keine/ kaum Ähnlichkeit und nicht wahrgenommen) Nachdem in diesem Kapitel dargestellt wurde, inwiefern sprachstrukturelle Ähnlichkeiten und die Psychotypologie einen Einfluss auf Transfer haben, werden im nächsten Kapitel zwei unterschiedliche Transfertypen beschrieben. Darüber hinaus wird genauer darauf eingegangen, wie Lernende ziel- und ausgangssprachliche Formen miteinander assoziieren und inwiefern derartige Form-Bedeutungs-Assoziationen (en. form-meaning-mappings ) für den Transfer eines sprachlichen Phänomens von Relevanz sind. 4.2.2 Der Einfluss von Form-Bedeutungs-Paaren Ringbom und Jarvis (2009: 110-114) unterscheiden zwischen Item- und prozeduralem Transfer. Letzterer wird auch als System-Transfer bezeichnet. Die Autoren grenzen die beiden Transfertypen folgendermaßen voneinander ab: Ersterer bezieht sich auf den Transfer einer bestimmten Form (z. B. ein Mor- <?page no="80"?> 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen 81 phem), letzterer hingegen auf jenen eines gesamten Systems von Prinzipien, also beispielsweise auf den Transfer der Funktionsweise, die hinter der regelmäßigen Bildung des englischen simple past steht. Es handelt sich also nicht um den einmaligen Transfer des Morphems {ed }, sondern um den des abstrakten Prinzips Hänge {-ed} an den Verbstamm , das hinter der Bildung des simple past steht. Laut Ringbom und Jarvis (2009: 111) beginnt das Lernen einer neuen sprachlichen Struktur in Form eines Item-Transfers, das heißt, die Lernenden stellen eine Verbindung zwischen einem ziel- und einem ausgangssprachlichen Item her. Für eine solche Form-Bedeutungs-Assoziation gibt es laut Van Patten, Williams und Rott (2004: 5) zwei Möglichkeiten: (1) Die Lerner stoßen auf eine neue Form im Input und aktivieren ihr vorhandenes funktional-semantisches/ konzeptuelles Wissen oder (2) sie entdecken eine neue Bedeutung/ ein neues Konzept und verknüpfen es mit einer bestehenden Form. Gerade im gesteuerten Unterricht, in welchem weiterhin ein starker Fokus auf der sprachlichen Form liegt (vgl. Ellis 2016 für einen Überblicksartikel), wird in Anlehnung an Ringbom (2007: 24-25) angenommen, dass eine neue zielsprachliche Form als ähnlich zu einer Form in der Ausgangssprache wahrgenommen und sie dann mit der Semantik/ dem Konzept der Ausgangssprache assoziiert wird. Laut Ringbom (2007: 5) ist die Herstellung solcher Eins-zu-eins-Verbindungen zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache eine natürliche Tendenz beim Lernen von etwas Neuem. Die Lernenden nehmen an, dass eine Form in der Zielsprache genauso funktioniert wie eine ähnliche Form in der Ausgangssprache und formulieren darauf aufbauend eine entsprechende Sprachlernhypothese, die als ‚L2=L1-Äquivalenz-Hypothese‘ oder für den L3-Erwerb als ‚L3=L1-oder-L2- Äquivalenz-Hypothese‘ bezeichnet werden kann (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 111). Diese theoretischen Prinzipien können anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden. L3-Lerner des Spanischen, die auch Kenntnisse in der L2 Englisch haben, entdecken eine neue sprachliche Form im Input: (69) Estoy saliendo. Durch die bestehende Ähnlichkeitsbeziehung (siehe Kapitel 4.2.1), die zwischen der spanischen und der englischen Progressivperiphrase besteht, ist es ihnen möglich, die beiden Formen miteinander in Bezug zu setzen. Sie nehmen an, dass auch die zugrunde liegende Funktion/ Semantik der beiden Periphrasen ähnlich ist und assoziieren die neue zielsprachliche Form mit der Semantik/ dem Konzept [+ progressiv] der englischen Periphrase. Gerade am Anfang eines solchen Transferprozesses wird allerdings lediglich ein Subset und nicht die gesamte Semantik der Ausgangssprache transferiert (vgl. Andersen 1993: 329-330; siehe Kapitel 5.1.4). Dieses Subset beschränkt sich meist auf die prototypischste <?page no="81"?> 82 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb Bedeutung. Eine weitere Einschränkung ist, dass diese Eins-zu-eins-Verbindung anfänglich auf der Item-Ebene verweilt und noch nicht auf das gesamte zielsprachliche System übertragen wird. Erst durch ausreichend Input, in welchem die spanische Progressivperiphrase mit unterschiedlichen Verben und in diversen Kontexten auftritt, werden die Lernenden feststellen, dass die Periphrase wie im Englischen systematisch gebildet und auf das gesamte spanische Verbalsystem übertragen werden kann. Findet ein solcher Transfer der Prinzipien der Funktionsweise der Progressivperiphrase im Englischen auf das gesamte Sprachsystem des Spanischen statt, handelt es sich um Systembzw. prozeduralen Transfer. Mit dem graduellen Fortschreiten vom Itemzum prozeduralen Transfer werden die Lernenden auch die anfänglich transferierte prototypische Bedeutung ausweiten und peripherere Bedeutungskomponenten in ihre Lernersprache integrieren. Außerdem werden sie feststellen, dass Eins-zu-eins-Verbindungen zwischen Form und Semantik relativ selten sind und dass die meisten Formen mehrere Bedeutungen ausdrücken und umgekehrt (vgl. VanPatten et al. 2004: 3). Diese Fähigkeit, beispielsweise eine Form mit mehreren Bedeutungen zu verknüpfen, wird in Andersens (1990: 53-55) multifunctionality principle beschrieben. Da die funktionalen/ semantischen Systeme zweier Sprachen selten vollständig kongruent sind, führt prozeduraler Transfer des Öfteren zu Interferenzen (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 110-114). Es ist beispielsweise durchaus möglich, dass eine vollständige Übertragung der Semantik der englischen Progressivperiphrase auf die spanische dazu führt, dass die Lernenden letztere auch für in der Zukunft liegende Handlungen verwenden, was im Spanischen nicht möglich ist und folglich zu negativem Transfer führen würde: (70) I am leaving tomorrow. (71) *Mañana estoy saliendo. Allerdings kann man gerade im Bereich von perfektivem und imperfektivem Aspekt davon ausgehen, dass sich Sprachen, die über eine solche aspektuelle Unterscheidung verfügen, auch einen gemeinsamen semantischen Prototyp teilen (vgl. Dahl 2000: 15). Der Transfer desselben sollte demnach gerade in den Anfangsstadien des Spracherwerbs primär positiver Natur sein. <?page no="82"?> 4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen 83 4.2.3 Der Einfluss von Sprachniveau, recency of use und weiteren Faktoren Neben den eben diskutierten Aspekten der genetischen Verwandtschaft und der (Psycho-)Typologie hat die Transferforschung zahlreiche weitere Einflussfaktoren eruiert. So gibt es beispielsweise Untersuchungen, die sich mit dem Einfluss des zielsprachlichen Sprachniveaus beschäftigt haben. Mehrere Autoren nehmen diesbezüglich an, dass es vor allem in den Anfangsstadien des Zweit-/ Drittspracherwerbs vermehrt zu Transferphänomenen kommt, da das Bedürfnis, Wissenslücken in der Zielsprache zu füllen, größer ist als bei fortgeschrittenem Sprachniveau (vgl. De Angelis 2007: 33; Williams/ Hammarberg 1998: 323-324). Bezüglich des L3-Erwerbs spielt auch das Sprachniveau in der L2 eine wichtige Rolle. Bisher gibt es allerdings nur wenige experimentelle Studien, die diese unabhängige Variable systematisch untersucht haben (vgl. De Angelis 2007: 34). Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Studie von Tremblay (2006) dar, in welcher sie den Einfluss des Sprachniveaus in der L2 Französisch auf die Sprachproduktion in der L3 Deutsch untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Einfluss der L2 mit steigendem L2-Niveau zunimmt. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit weiteren empirischen Untersuchungen (vgl. z. B. Aribas/ Cele 2019) und theoretischen Annahmen mehrerer Autoren, die wie Tremblay davon ausgehen, dass ein hohes Sprachniveau in der L2 vermehrt zu Transferphänomenen in der L3 führt (vgl. Hammarberg 2001: 23; Jarvis/ Pavlenko 2010: 201; Sanz et al. 2015: 247). Müller-Lancé (2006b: 461) geht sogar so weit, zu sagen, daß die individuelle Kompetenz in einer Transfersprache viel wichtiger für deren Nutzung ist als ihre Ähnlichkeit zur Zielsprache. Nicht die ähnlichste, sondern die bestbeherrschte Fremdsprache wird also überwiegend für interlinguale Strategien genutzt. Auch Ringbom (2001: 59) misst dem Sprachniveau in der L2 vor allem im Bereich der Grammatik eine große Bedeutung zu. Ein solches führt - so der Autor - vermehrt zu Transfer und ist für prozeduralen Transfer gewissermaßen Voraussetzung. Ringbom und Jarvis (2009: 111) nehmen sogar an, dass nur jene grammatikalischen Strukturen, die gut internalisiert oder vollständig automatisiert in der Lernersprache der L2 vorliegen, in die L3 transferiert werden können. Ein weiterer Faktor, der einen wesentlichen Einfluss auf Transfer haben kann, ist die sogenannte recency of use . Dieser englischsprachige Ausdruck bezieht sich auf die letztmalige Verwendung und den damit einhergehenden Aktivierungsgrad einer Sprache. Laut Hammarberg (2001: 23) hat eine Sprache, die erst kürzlich verwendet wurde, eine hohe recency und wird somit auch leichter als Transferbasis aktiviert. Diesbezüglich zeigen die Ergebnisse einer Studie von Dewaele (1998), dass Lernende unterschiedlicher Sprachenfolgen <?page no="83"?> 84 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb auf verschiedene Transferbasen für die Produktion morpho-phonologisch adaptierter Lexeme zurückgreifen. Er interpretiert diese Gruppenunterschiede im Einklang mit den Annahmen Hammarbergs dahingehend, dass jene Sprache als Transferbasis herangezogen wird, die den höchsten Aktivierungsgrad aufweist (vgl. Dewaele 1998: 488). Neben dem Sprachniveau und der recency of use spielt auch die Formalität des Kontextes eine wesentliche Rolle. Diesbezüglich widmet sich Dewaele (2001) der Frage, ob der Wechsel zwischen einer formellen und einer informellen Situation (mündliche Prüfung vs. angenehme Atmosphäre) einen Einfluss auf Transfer hat. Seine Ergebnisse demonstrieren, dass die Teilnehmer in der informellen Situation dem multilingualen Ende des Kontinuums der Sprachmodi ( language mode hypothesis ; vgl. Grosjean 1992) näher sind und sich dementsprechend eine höhere Anzahl an code-switching -Phänomenen findet als in der formellen Situation (vgl. Dewaele 2001: 79). Transfer scheint also in formellen Situationen seltener stattzufinden als in informellen. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass die Art des Spracherwerbs (d. h. gesteuert vs. natürlich) einen Einfluss auf Transfer haben kann (vgl. Hammarberg 2009: 18). Jarvis und Pavlenko (2010: 206) nehmen beispielsweise an, dass Transfer eher in ungesteuerten Kontexten stattfindet, because classroom learners experience and use the target language in a setting that increases their awareness of the differences between their native and target languages, and encourages them to adhere to the norms of the latter. Diese Annahme steht im Einklang mit Ergebnissen einer Studie von Eibensteiner und Koch (2018). Sie untersuchen die mündliche Sprachproduktion von polyglotten Sprachlernexperten im Vergleich zu schulischen L3-Lernern des Spanischen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass lediglich die polyglotten Probanden das perfecto compuesto in Kontexten verwenden, in denen das perfecto simple verwendet werden sollte. Diese Übergeneralisierung findet sich bei den schulischen Fremdsprachenlernenden nicht. Die Autoren führen dies unter anderem darauf zurück, dass im schulischen Kontext der Fokus vermehrt auf der sprachlichen Korrektheit liegt. Die polyglotten Sprecher hingegen haben eine primär kommunikative Orientierung, was die grammatikalische Korrektheit eher zweitrangig macht (vgl. Eibensteiner/ Koch 2018: 39). Dieses Unterkapitel hat eine überblicksartige Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstands im Hinblick auf verschiedene Einflussfaktoren gegeben. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es noch zahlreiche andere Einflussfaktoren gibt. Dazu zählen unter anderem die Dauer von Auslandsaufenthalten (vgl. De Angelis 2007: 37-38), die Frequenz einer sprachlichen Konstruktion (vgl. Jarvis/ Pavlenko 2010: 183-184) oder Unterschiede in der Sprachverwendung <?page no="84"?> 4.3 Transfermodelle 85 (z. B. mündlicher vs. schriftlicher Sprachgebrauch; vgl. Hammarberg 2009: 18). Auf diese und weitere Faktoren wird nicht näher eingegangen, da sie für die vorliegende Arbeit nicht von großer Relevanz sind. Der viel untersuchte L2-Status, der davon ausgeht, dass im L3-Erwerb vor allem das L2-System transferiert wird, wird in Kapitel 4.3.2 behandelt. Nachdem sich die zweite Phase der Transferforschung mit der Identifizierung der eben beschriebenen Einflussfaktoren beschäftigt hat, versucht die dritte Phase, Transfer zu modellieren und empirisch zu überprüfen (vgl. Jarvis/ Pavlenko 2010: 4-8). Die Forschung in dieser Phase ist stark empirisch orientiert und hat zu unterschiedlichen Transfermodellen geführt, die im nächsten Kapitel dargestellt werden. 4.3 Transfermodelle Nachdem im letzten Kapitel unterschiedliche Einflussfaktoren herausgearbeitet wurden, wird nun auf Modelle eingegangen, die Transfer mehr oder weniger intensiv in ihre Überlegungen integrieren. Es wird versucht, eine Kategorisierung vorzunehmen, deren Grundidee auf der Einteilung von Jarvis (2016: 29) beruht. Im Wesentlichen können vier theoretische Frameworks unterschieden werden: 1. H olistiscHe M eHrspracHigkeitsModelle versuchen primär, individuelle Mehrsprachigkeit bzw. den multilingualen Spracherwerb zu modellieren. Damit geht einher, dass sie sich nicht ausschließlich für Transfer interessieren, dieser aber eine prominente Rolle einnimmt. Multilingualer Spracherwerb wird als komplexer und dynamischer Prozess verstanden, der zu einer mehrsprachigen Kompetenz führt, welche multivon monolingualen Lernenden unterscheidet. Zu dieser Kategorie zählen das multicompetence -Framework von Cook (1992), aber auch das Mehrsprachenverarbeitungsmodell (vgl. z. B. Meißner 2004) sowie das Dynamic Model of Multilingualism von Herdina und Jessner (2002). 2. l2-s tatus -f aktor -M odelle interessieren sich vor allem für die Frage, ob im L3-Erwerb primär die L2 oder die L1 als Transferbasis herangezogen wird. Basierend auf psychound/ oder neurolinguistischen Erkenntnissen (z. B. den Argumenten der deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman 2001 und Paradis 2009) argumentieren sie, dass beim Erwerb einer Drittsprache primär das L2-System transferiert wird. 3. g enerativistiscHe M odelle gehen von der Existenz einer Universalgrammatik aus und verorten sich im weitesten Sinne in der Full Transfer Full Access Hypothesis (vgl. Schwartz/ Sprouse 1996). Zu ihnen zählen gängige L3-Modelle, wie das Typological Primacy Model (vgl. Rothman 2010a) oder das Cumulative <?page no="85"?> 86 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb Enhancement Model (vgl. Flynn et al. 2004), die weit über das generativistische Framework hinaus rezipiert werden. 4. M odelle des konzeptuellen t ransfers sind im Bereich der kognitiven Linguistik angesiedelt und interessieren sich hauptsächlich für den Transfer von mentalen Konzepten. Sie gehen im Wesentlichen auf das sprachliche Relativitätsprinzip zurück (vgl. Whorf 2012). Zu ihnen zählen beispielsweise das thinking-for-speaking -Framework (vgl. Slobin 1991) oder die Conceptual Transfer Hypothesis (vgl. Jarvis 2011). Einige Modelle befinden sich an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Frameworks und sind daher nur schwer zuzuordnen. Die nachfolgenden Betrachtungen sollen eher einen allgemeinen Überblick verschaffen, als eine vollständige Beschreibung und Kategorisierung liefern. Des Weiteren wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es werden nicht alle in der Literatur vorhandenen Modelle diskutiert. Beispielsweise wird auf bekannte Sprachproduktionsmodelle (vgl. u. a. De Bot 2012, 2015) oder Modelle, welche eher soziolinguistisch ausgerichtet sind (vgl. Aronin/ Ó Laoire 2004), nicht weiter eingegangen. 4.3.1 Holistische Mehrsprachigkeitsmodelle 4.3.1.1 Das Dynamic Model of Multilingualism Das psycholinguistische Dynamic Model of Multilingualism (DMM) versucht, die Komplexität der individuellen Mehrsprachigkeit zu modellieren (vgl. Herdina/ Jessner 2002). Multilingualer Spracherwerb wird als ein hochkomplexer, dynamischer und adaptiver Prozess angesehen, der von ständigen Veränderungen und einem nicht linearen Wachstum geprägt ist (vgl. Jessner 2006, 2008a: 272-277, 2008b: 25-26, 2014: 178-180; Jessner et al. 2016b: 159-161). Die Aneignung mehrerer Sprachen hängt von psychologischen und sozialen Faktoren ab, wobei den wahrgenommenen Kommunikationsbedürfnissen (en. perceived communication needs ) eine besondere Rolle zukommt. Sie werden sogar als „driving force“ ( Jessner 2008a: 273) des Spracherwerbs und der Sprachverwendung angesehen. Das DMM geht von der Entwicklung individueller Sprachsysteme aus, die gemeinsam ein holistisches psycholinguistisches System bilden. Der weitere Verlauf sowie die Stabilität der einzelnen interdependenten Sprachsysteme hängen von der Zeit und der Energie des Sprechers ab, die entsprechende(n) Sprache(n) weiterhin zu verwenden. Darüber hinaus spielen Faktoren wie die wahrgenommenen Kommunikationsbedürfnisse, die Anzahl der im System vorhandenen Sprachen, das Alter zu Beginn der Sprachaneignung, das Sprachniveau und die <?page no="86"?> 4.3 Transfermodelle 87 Zeitspanne, über welche das System stabil gehalten werden muss, eine wesentliche Rolle. Wird nicht genug Zeit und Energie investiert, kommt es zu Spracherosion oder sogar zum Sprachverlust: [T]he learner will gradually lose access to knowledge if not enough time and energy is spent on refreshing the knowledge of an L2 or L3 so that positive growth can counteract the negative growth that eventually results in language attrition or gradual language loss ( Jessner 2008a: 274). Der holistische Ansatz ist notwendig, um den dynamischen Interaktionen zwischen den einzelnen Sprachsystemen gerecht zu werden bzw. um den multilingualen Spracherwerb als komplexes System an sich zu verstehen. Obwohl sich das DMM in der dynamischen Systemtheorie, der Chaos- und der Komplexitätstheorie verortet (vgl. z. B. Larsen-Freeman 1997), gibt es gewisse Parallelen zu Cooks (1992) Idee der multicompetence . Auch er will das bi-/ multilinguale System in seiner Gesamtheit begreifen und sieht eine mehrsprachige Person nicht als die Summe mehrerer monolingualer, sondern als Besitzer eines eigenständigen holistischen Systems. Dieses besteht aus zwei oder mehreren Subsystemen und entwickelt dadurch Fähigkeiten, die es sowohl qualitativ als auch quantitativ vom monolingualen System unterscheiden. Jessner (2008a: 275; Hervorhebung durch den Verfasser) definiert diese mehrsprachige Kompetenz, die sowohl im DMM als auch in Cooks Framework eine wesentliche Rolle einnimmt, as the dynamic interaction among the various psycholinguistic systems […] in which the individual languages […] are embedded, crosslinguistic interaction, and what is called the M(ultilingualism) factor . The latter refers to all the effects in multilingual systems that distinguish a multilingual from a monolingual system. Alle Aspekte, die ein multilinguales von einem monolingualen System unterscheiden, sind Bestandteil dieses ‚M(ultilingualismus)-Faktors‘. Neben einer dynamischen Interaktion der psycholinguistischen Systeme und der crosslinguistic interaction , zu der Jessner (2006: 34) Transferphänomene im weitesten Sinne zählt (d. h. inklusive code-switching -Phänomenen und Entlehnungen), nimmt der M-Faktor eine zentrale Rolle in der Definition der mehrsprachigen Kompetenz ein. Neben beispielsweise metakognitiven Lernstrategien ist sein vermutlich wichtigster Bestandteil das metasprachliche Bewusstsein (vergleichbar mit der understanding -Komponente in Schmidts noticing -Hypothese; siehe Kapitel 3.1), das Jessner (2014: 175) sogar als den „key factor of multilingual learning“ bezeichnet (vgl. auch Cenoz 2013: 75-76). Aufgrund des hohen Stellenwertes des metasprachlichen Bewusstseins im DMM wird kurz auf die in der vorliegenden Arbeit verwendete Definition <?page no="87"?> 88 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb eingegangen. Falk, Lindqvist und Bardel (2015: 229) unterscheiden zwischen metasprachlichem Wissen und metasprachlichem Bewusstsein. Ersteres definieren sie als „the conscious knowledge about the linguistic rules of a particular language“. Es handelt es sich somit um explizites Wissen, das auf sprachliche Aspekte beschränkt ist. Metasprachliches Bewusstsein hingegen ist die Fähigkeit des Lerners über sprachliche Phänomene zu reflektieren und diese im Vergleich mit anderen Sprachen zu bearbeiten. Laut Jessner (2006: 59) wirkt sich das metasprachliche Bewusstsein beispielsweise positiv auf die Entwicklung eines multilingualen Monitors aus, welcher die Kontrolle über die sprachlichen Äußerungen übernimmt. Des Weiteren ist er für die Kontrolle bzw. die Aktivierung und Separation der verschiedenen Sprachsysteme verantwortlich, beispielsweise indem er negative Transferphänomene identifiziert und eliminiert. Je mehr Sprachen im System vorhanden sind und je besser das metasprachliche Bewusstsein ausgeprägt ist, desto besser agiert der multilinguale Monitor. Bi- und multilinguale Personen haben aufgrund des stärker ausgeprägten metasprachlichen Bewusstseins außerdem ein höheres Bewusstsein in Bezug auf Formen, Bedeutungen und Regeln einer Sprache. Darüber hinaus beziehen sie Informationen unterschiedlicher Sprachen mit ein und verwenden diese zur Hypothesenbildung in der Zielsprache (vgl. De Angelis 2007: 122). Vertreter des DMM gehen deshalb davon aus, dass sich alle eben genannten Faktoren positiv auf den Lernprozess einer neuen Sprache auswirken (vgl. Jessner 2008a: 275). Das Dynamic Model of Multilingualism hat eine stark psycholinguistische Orientierung. Das Mehrsprachenverarbeitungsmodell (vgl. Meißner 2004), das im nächsten Kapitel behandelt wird, geht ebenfalls davon aus, dass sich eine mehrsprachige Kompetenz positiv auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirkt. Es nimmt eine primär didaktische Perspektive ein und befasst sich mit der Frage, wie die mentalen Dispositionen einer multilingualen Person für das institutionelle Lernen und Lehren weiterer Sprachen zielführend eingesetzt werden können. 4.3.1.2 Das Mehrsprachenverarbeitungsmodell und weitere Ansätze der deutschsprachigen Romanistik Das Mehrsprachenverarbeitungsmodell (auch Gießener Interkomprehensionsmodell; vgl. Meißner 2004) verortet sich im Kontext der Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik der deutschsprachigen romanistischen Forschung (vgl. Bär 2009; Fäcke/ Meißner 2019; Klein/ Stegmann 1999; Meißner/ Reinfried 1998; Meißner 2008; Reimann 2016; Reinfried 1998). Diese didaktische Schule baut „auf einem kognitivistisch-konstruktiven Lernbegriff [auf], in dessen Fokus die Inferenz steht“ (Méron-Minuth 2018: 53; vgl. auch Meißner/ Reinfried 1998: 15-18; Vetter 2008: 104). Inferenz wird dabei unter anderem als die Fähigkeit des Lerners aufgefasst, sein vorhandenes sprachliches Vorwissen für <?page no="88"?> 4.3 Transfermodelle 89 den Transfer in eine neue Sprache zu nutzen (vgl. Méron-Minuth 2018: 53- 54). Wie im Dynamic Model of Multilingualism wird also angenommen, dass Sprachen nicht getrennt, sondern miteinander vernetzt abgespeichert werden (vgl. Bär 2011: 137-138; Müller-Lancé/ Riehl 2002; Müller-Lancé 2013: 17-24, 2017: 57-69). Diese Annahme wird sowohl von psychoals auch von neurolinguistischen Studien empirisch untermauert. Aus einer psycholinguistischen Perspektive führt Cook (1992: 566-571) an, dass die L1 wie auch die L2 auf einem gemeinsamen, übergeordneten mentalen Lexikon beruhen. Laut Cook sind auch code-switching -Phänomene ein Indiz dafür, dass Sprachen nicht getrennt voneinander gespeichert werden. Aus neurolinguistischer Sicht nimmt beispielsweise die subset -Hypothese an (vgl. Paradis 1985: 23-24), dass die einzelnen Sprachen Teil eines übergeordneten Sprachsystems sind, dass aber jede Sprache ein eigenes Subsystem bildet, das getrennt aktiviert oder inhibiert werden kann (vgl. auch Green 1998). Auch neuere neurolinguistische Studien zeigen, dass sich für die L2 und die L3 neuronale Aktivierungen in ähnlichen Hirnarealen finden (vgl. Van den Noort et al. 2014: 195). Die Mehrsprachigkeitsdidaktik baut auf diesen Erkenntnissen auf und plädiert aus einer fremdsprachendidaktischen Perspektive für eine Nutzung des gesamten sprachlichen Repertoires der Lernenden. Im Mehrsprachenverarbeitungsmodell wird der Lernprozess wie folgt beschrieben: Beim Kontakt mit einer neuen Sprache wird nach einer kurzen Phase des ersten Eindrucks der Dekodierungs- und Spracherwerbsapparat aktiviert und der Lernende beginnt, das neue Sprachsystem nach Transferbasen abzusuchen (vgl. Meißner 1998: 46-50). Dabei dekodiert er „nicht nur bedeutungshaltiges lexikalisches Material, sondern [erkennt] auch weitere Regularitäten“ und erstellt eine sogenannte Spontangrammatik: [Diese] spiegelt Identifikations- und interlinguale Korrespondenzmuster, die ein Individuum als Sprachhypothesen zwischen ihm aus unterschiedlichen Sprachen bekannten Schemen und einer neuen lingualen oder semantischen bzw. thematischen kognitiven Entität generiert (Meißner 2004: 43). Demnach nimmt der Lernende sprachstrukturelle Ähnlichkeiten wahr und stellt darauf aufbauend Hypothesen über die Funktion der Zielsprache auf, die er im Anschluss mithilfe des Inputs langsam überprüfen und in seine Lernersprache integrieren bzw. im Mehrsprachenspeicher im Langzeitgedächtnis abspeichern kann. Dieser Mehrsprachenspeicher beinhaltet nicht nur Sprachdaten, sondern auch Lernerfahrungen und einen didaktischen Monitor. Dieser agiert primär bewusst und kann durch kognitives Lernen und das Prinzip der Bewusstmachung (vgl. Bär 2009: 33-36) trainiert werden und so zu einem schnelleren Spracherwerb führen. <?page no="89"?> 90 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb Transfer nimmt im Verständnis dieser Ansätze eine wesentliche Rolle im multilingualen Spracherwerb ein. Die Nutzung aller dem Lernenden zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen soll zum Aufbau einer mehrsprachigen Kompetenz und zu einem schnelleren Erwerb weiterer Sprachen führen. Es werden üblicherweise unterschiedliche Transfermerkmale unterschieden (vgl. Bär 2009: 46-47): 1. Typ: Identifikations- und Produktionstransfer 2. Richtung: pro- und retroaktiver sowie onomasiologischer und semasiologischer Transfer 3. Reichweite: intra- und interlingualer Transfer 4. Kategorien: Form-, Inhalts- und Funktionstransfer sowie pragmatischer und didaktischer Transfer Bezüglich der Wahl der Transferbasis greifen Lernende primär auf eine nahverwandte, mental hinreichend verfügbare Sprache zurück. Reinfried (1998: 33) behauptet sogar, dass es beispielsweise [f]ür einen deutschen Muttersprachler, der zuerst die französische Sprache und anschließend die spanische oder italienische Sprache erlernt, […] nur wenige markierte grammatische Bereiche [gibt], die wegen ihrer Formen- oder Funktionsvielfalt schwierig sind. Wenn L3-Lernende des Spanischen über ein ausreichend hohes Sprachniveau und einen hinreichenden Aktivierungsgrad im Französischen verfügen, sollten sie in den meisten Grammatikbereichen von dieser nahverwandten L2 profitieren können. Dieser Rückgriff auf entsprechende Transferbasen ist ein natürlicher Lernprozess, der durch eine entsprechende mehrsprachigkeitsdidaktische Herangehensweise gefördert werden kann (vgl. z. B. Strathmann 2010). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl das Dynamic Model of Multilingualism als auch das Mehrsprachenverarbeitungsmodell Transfer als Teilkomponente eines größeren Ganzen sehen. Bei den im nächsten Unterkapitel behandelten Modellen hingegen handelt es sich um Transfermodelle im engeren Sinn. Sie basieren auf der Annahme, dass Transfer im L3-Erwerb primär aus der Zweit- und nicht aus der Erstsprache stammt. 4.3.2 L2-Status-Faktor-Modelle Bevor auf Modelle eingegangen wird, die postulieren, dass im Drittspracherwerb primär das L2-System transferiert wird, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es vereinzelt auch Autoren gibt, die der L1 eine Vorrangstellung zuweisen (vgl. Rothman et al. 2019: 121-127). Hermas (2010) beispielsweise untersucht <?page no="90"?> 4.3 Transfermodelle 91 L3-Lernende des Englischen (L1 marokkanisches Arabisch, L2 Französisch) im Hinblick auf die Stellung von Häufigkeitsadverbien. Die Ergebnisse der Studie sprechen im Wesentlichen für einen negativen L1-Transfer und stellen damit empirische Evidenz dar, die gegen eine privilegierte Rolle der L2 spricht. Derartige Ergebnisse sind interessant; laut Rothman, González Alonso und Puig- Mayenco (2019: 121) haben es die Vertreter dieser Position aber bislang verabsäumt, eine detaillierte Erklärung zu liefern, warum Transfer primär aus der L1 kommen sollte. Darüber hinaus gibt es noch verhältnismäßig wenige Studien, die einen solchen Effekt festgestellt haben (vgl. Puig-Mayenco et al. 2020: 43). Im Folgenden werden zwei Modelle vorgestellt, die einen L1-Transfer prinzipiell ausschließen und eine Vorrangstellung der L2 im L3-Erwerb postulieren. 4.3.2.1 Das Rollen-Funktions-Modell Das Rollen-Funktions-Modell von Williams und Hammarberg (1998) baut im Wesentlichen auf einer Studie auf, welche die ersten beiden Jahre des Schwedisch-Lernens von Sarah Williams, der Ko-Autorin, untersucht (vgl. auch Hammarberg 2001). Die Ergebnisse der mündlichen Sprachdaten zeigen, dass der L1 (Englisch) und der L2 (Deutsch) unterschiedliche Rollen im L3-Erwerb zugewiesen werden können: Die L1 übernimmt eine instrumental role und wird für metasprachliche Kommentare, Nebenbemerkungen oder Rückfragen verwendet. Auf die L2 trifft das nicht zu, zumal Transfer aus der L2 gerade in denjenigen Kontexten auftritt, denen keine pragmatische Funktion zugeordnet werden kann (WIPP = without identified pragmatic purpose in der Terminologie der Autoren). Die L2 wird während der L3-Sprachproduktion aktiviert und dient als default supplier , zumal sie beispielsweise lexikalisches Material bei Wortbildungsversuchen zur Verfügung stellt (vgl. Williams/ Hammarberg 1998: 295). Laut den Autoren hängt die Aktivierung dieser default supplier -Sprache von vier Faktoren ab: dem Sprachniveau, der Typologie, der recency und dem L2- Status. Diejenige Sprache, die in diesen vier Bereichen hohe Werte aufweist, wird als default supplier aktiviert (vgl. ebd.: 322). Da Williams sowohl Englisch (ihre L1) als auch Deutsch (die L2) gut beherrscht sowie häufig verwendet und beide Sprachen den germanischen Sprachen zuzuordnen sind, ist der L2-Status das ausschlaggebende Kriterium für die Aktivierung des Deutschen als default supplier . Laut Williams und Hammarberg (1998: 323) ist dies möglicherweise darauf zurückzuführen, dass einer Erstsprache andere Erwerbsmechanismen zugrunde liegen als einer L2 oder einer L3 (siehe auch Kapitel 3.3). Sie argumentieren darüber hinaus, dass Williams ein gewisses Bedürfnis hatte, das Englische zu unterdrücken, da sie das Gefühl hatte, die Verwendung einer L2 wäre eine bessere Lernstrategie für das Lernen einer L3. De Angelis und Selinker (2001: 55-56) sprechen in diesem Zusammenhang von einem Fremdsprachenmodus <?page no="91"?> 92 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb (en. foreign language mode ), der in ähnlicher Form schon bei Meisel (1983) beschrieben wurde. Spätere Studien haben den L2-Status für den Bereich der Lexik im Wesentlichen bestätigt. Sie zeigen aber auch, dass die Rollenzuordnung nicht immer so eindeutig ausfällt, wie dies in der eben beschriebenen Studie der Fall ist. Beispielsweise untersuchen Falk und Lindqvist (2019) vier germanophone Lernende des Schwedischen, die darüber hinaus über L2-Kenntnisse im Englischen verfügen. Im Unterschied zu Williams und Hammarberg stellen sie fest, dass die meisten Lernenden beide Sprachen sowohl für die instrumental als auch für die supplier -Rolle verwenden. Nachdem in diesem Kapitel Untersuchungen dargestellt wurden, die sich primär dem Bereich der Lexik widmen, wird im nächsten Kapitel auf Studien eingegangen, die sich mit grammatikalischen Aspekten befassen und ebenfalls versuchen, den L2-Status als erklärende Variable heranzuziehen. 4.3.2.2 Das L2-Status-Faktor-Modell von Bardel und Falk Neben den Untersuchungen, die einen L2-Status-Effekt im Bereich der Lexik attestieren, legen mehrere Studien auch für die Syntax empirische Evidenz vor (vgl. Bardel/ Falk 2007, 2012; Falk/ Bardel 2010, 2011; Falk et al. 2015). Beispielsweise analysieren Falk und Bardel (2011) in einer auf Grammatikalitätsurteilen basierenden Studie, ob die Stellung von Objektpronomen im L3-Erwerb aus der L1 oder der L2 transferiert wird. Dazu untersuchen sie L3-Lernende des Deutschen, die entweder Französisch als L1 und Englisch als L2, oder Englisch als L1 und Französisch als L2 haben. Die drei Sprachen unterscheiden sich bezüglich der Stellung der Objektpronomina, welche beispielsweise in Hauptsätzen sowohl im Englischen als auch im Deutschen postverbal, im Französischen hingegen präverbal ist (z. B. I see him / Ich sehe ihn vs. Je le vois ). Im Wesentlichen sprechen die Ergebnisse der Studie dafür, dass die Stellung der Objektpronomen aus der L2 und nicht aus der L1 transferiert wird. Als Erklärung für diesen privilegierten Status schlagen die Autorinnen den L2-Status-Faktor vor, den sie unter anderem auf ähnliche Erwerbsmechanismen zwischen der L2 und der L3 zurückführen: [T]he L2 status factor […] is built upon features such as a higher degree of similarity between L2 and L3 than between L1 and L3, regarding age of onset, outcome, learning situation, metalinguistic knowledge, learning strategies and degree of awareness in the language learning process (Falk/ Bardel 2011: 77). In Anlehnung an die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman (2001) und Paradis (2009; siehe Kapitel 3.3) argumentieren Bardel und Falk (2012: 70-74), dass Grammatikerwerb im frühen L1-Erwerb implizit und unter Rückgriff auf <?page no="92"?> 4.3 Transfermodelle 93 das prozedurale Gedächtnis stattfindet, wohingegen im L2- und L3-Erwerb im Erwachsenenalter für die gleichen Erwerbsprozesse vermehrt auf das deklarative System zugegriffen werden muss. Laut den Autorinnen sind es diese ähnlichen kognitiven Verarbeitungsprozesse zwischen einer L2 und einer L3, die dafür verantwortlich sind, dass die L2 eher als Transferbasis für die L3 herangezogen wird als die L1. In Falk, Lindqvist und Bardel (2015) relativieren die Autorinnen den L2- Status-Faktor insofern, als sie auf der einen Seite davon ausgehen, dass eine L2/ L3 soweit automatisiert werden kann, dass sie im Hinblick auf die kognitiven Verarbeitungsprozesse eher einer L1 als einer L2/ L3 gleicht. Auf der anderen Seite kann man sich laut Falk, Lindqvist und Bardel (2015: 228) auch in einer L1 metasprachliches Wissen aneignen, was dazu führt, dass die L1 diesbezüglich eher einer L2/ L3 gleicht. Nach dieser Argumentation kann eine L2 also ihren L2-Status verlieren und die L1 einen solchen erhalten. Aufbauend auf diesen Überlegungen behaupten Falk, Lindqvist und Bardel (2015), dass das L1-Sprachsystem transferiert wird, wenn ein hohes metasprachliches Wissen in dieser Sprache vorhanden ist. Sie untersuchen diese Hypothese anhand der Stellung von attributiven Adjektiven, die sowohl in der L1 der Probanden (Schwedisch), als auch in deren L2 (Englisch) - eine L2, die laut den Autorinnen ihren L2-Status verloren hat - und in deren L3 (Niederländisch) pränominal ist. Als zusätzliche L2 beherrscht jeder Teilnehmer mindestens eine romanische Sprache, in denen die Wortstellung attributiver Adjektive postnominal ist. Neben der Erhebung mündlicher Sprachdaten führen die Autorinnen einen metasprachlichen Test (sieben Fragen über Grammatik) für die L1 und Sprachniveau-Tests für die eben genannten Zweitsprachen durch. Die Ergebnisse zeigen eine signifikante Korrelation zwischen der Adjektiv-Wortstellung in den mündlichen Sprachproduktionen und dem metasprachlichen Test in der L1 (vgl. ebd.: 233). Des Weiteren führt die Gruppe mit dem höheren metasprachlichen Wissen in der L1 die Adjektivstellung in der L3 korrekter durch als die Gruppe mit dem niedrigeren metasprachlichen Wissen. Beide Resultate interpretieren sie als Indiz für einen L1-Transfer. Es bleibt allerdings weitgehend unklar, welchen Einfluss das metasprachliche Wissen in der L2 Englisch hat. Die Autorinnen messen es zwar in der L1 der Lernenden, gehen aber nicht ausreichend auf den Einfluss des Englischen ein. Auch wenn die Teilnehmer in dieser L2 ein sehr hohes Sprachniveau besitzen, erklärt dies nicht, warum damit ein derart radikaler Verlust von explizitem Sprachwissen einhergehen sollte. Trotz der methodischen Unklarheiten stellt diese Studie einen Versuch dar, das L2-Status-Faktor-Modell zu relativieren, indem das metasprachliche Wissen in eine Vorrangstellung gehoben und ein Transfer aus der L1 nicht per se ausgeschlossen wird (vgl. auch Bardel/ Sánchez 2017). <?page no="93"?> 94 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb 4.3.3 Generativistische Transfermodelle Um ein Verständnis der generativistischen Transfermodelle zu gewährleisten, wird kurz auf die Grundprinzipien dieses Frameworks eingegangen. Die generative Spracherwerbsforschung geht davon aus, dass alle Menschen über eine angeborene Sprachfähigkeit verfügen (en. language faculty ), die aus einem kognitiven System - der sogenannten Kompetenz - und einem Performanzsystem besteht (vgl. Chomsky 1959: 55-58, 2015: 1-9; Gabriel/ Müller 2013: 93- 122; Rothman/ Pascual y Cabo 2014; Rothman/ Slabakova 2018). Das kognitive System setzt sich aus einem Berechnungssystem (en. computational system of human language ) und einem Lexikon zusammen. Letzteres enthält alle lexikalischen Items, die wiederum phonologische, semantische und formal-grammatische Informationen beinhalten. Lexikalische Items können in lexikalische und funktionale Kategorien unterschieden werden. Eine funktionale Kategorie beispielsweise besteht aus einem Set von formalen Merkmalen (z. B. Tempus oder Numerus) und der entsprechenden Morphologie (z. B. {ed } oder {s } im Englischen). Diese Merkmale können stark oder schwach bzw. interpretierbar oder nicht interpretierbar sein. Starke Merkmale gehen dabei meist mit einer Realisierung der Morphologie an der sprachlichen Oberflächenstruktur einher, wobei schwache durch eine nicht vorhandene Morphologie gekennzeichnet sind (vgl. Montrul/ Slabakova 2002: 115). Interpretierbare Merkmale besitzen einen semantischen Gehalt, nicht interpretierbare hingegen haben eine rein syntaktische Funktion. Das Berechnungssystem entnimmt dem Lexikon die für die Erzeugung wohlgeformter Laut-Bedeutungs-Paare notwendigen lexikalischen Items und ‚beliefert‘ damit über die beiden externen Schnittstellen (en. interfaces ; artikulatorisch-perzeptuell und konzeptionell-intentional) das Performanzsystem, das daraufhin für die Artikulation und Interpretation der entsprechenden Informationen zuständig ist. Chomsky (2015: 7) nimmt an, dass alle Menschen über ein solches auf wenigen allgemeingültigen Prinzipien beruhendes Berechnungssystem verfügen. Diese Prinzipien werden häufig auch als Universalgrammatik (UG) bezeichnet, wobei es sich weniger um eine Grammatik im eigentlichen Sinne handelt, sondern vielmehr um universale Prinzipien und eine begrenzte Anzahl von Optionen, wie diese Prinzipien funktionieren. Diese sprachspezifischen Optionen werden auch als Parameter bezeichnet. Die Kombination aus Prinzipien und Parametern macht es mithilfe des entsprechenden Inputs möglich, jede beliebige Einzelsprache zu generieren. Der Erwerb einer spezifischen, mentalen Sprache (en. I-language ) wird im generativen Framework demnach als Fixierung der sprachspezifischen Parameter verstanden. <?page no="94"?> 4.3 Transfermodelle 95 Das Hauptziel der generativen Zweit- und Drittspracherwerbsforschung ist es, den Erwerb von sogenannten poverty-of-the-stimulus- Phänomenen nachzuweisen, da ein Erwerb derselben für die Existenz der angeborenen Universalgrammatik spräche. Für den L2-/ L3-Erwerb wirft dies die Frage auf, ob nach einer sensiblen Phase weiterhin auf die UG zugegriffen werden kann. Diesbezüglich gibt es in der Literatur drei Positionen (vgl. Riemer 2010: 802-804; Rothman/ Slabakova 2018: 421): (1) Vertreter der ersten Position postulieren, dass auch nach einer sensiblen Phase ein vollständiger Zugriff auf die UG möglich ist. Beispielsweise geht die Full Transfer Full Access Hypothesis davon aus (vgl. Schwartz/ Sprouse 1996), dass alle Prinzipien und Parameterwerte der L1 in die L2 transferiert werden und somit den Startpunkt (en. initial state ) des L2-Erwerbs darstellen (= full transfer ). Transfer wird im generativistischen Framework als Transfer von funktionalen Merkmalen und Kategorien sowie deren morphologische, semantische und syntaktische Reflexe auf der sprachlichen Oberflächenstruktur verstanden: [T]ransfer [refers to] the composition of functional features and categories as well as their morphological, semantic, and syntactic reflexes from previously acquired languages that are used to form the initial hypotheses of the underlying competence for the target [language] (Rothman 2015: 181-182). Da die Prinzipien und Parameterwerte des L1- und L2-Systems selten vollständig kongruent sind, muss sich der initial state kontinuierlich an die Anforderungen des L2-Systems anpassen. Die Full Transfer Full Access Hypothesis nimmt an, dass ein dafür notwendiger Zugriff auf die Universalgrammatik und damit einhergehend eine erneute Parameterfixierung auch bei erwachsenen L2-Lernenden möglich ist (= full access ). (2) Vertreter der zweiten Position behaupten, dass L2-Lerner zwar die in ihrer L1 vorhandenen Merkmale transferieren können, kritisieren aber den vollständigen Zugriff auf die UG, den die Full Transfer Full Access Hypothesis propagiert. Ein Zugriff auf neue UG-Merkmale sei nur mit Einschränkungen möglich. So nimmt beispielsweise die Interpretability Hypothesis an, dass in der L1 nicht vorhandene Merkmale nur dann durch einen Zugriff auf die UG erworben werden können, wenn es sich um interpretierbare Merkmale handelt. Rein grammatikalische, uninterpretierbare Merkmale können laut dieser Hypothese nicht erworben werden (vgl. Hawkins/ Hattori 2006). (3) Die dritte Position lehnt den Zugriff auf die UG nach einer sensiblen Phase komplett ab, weshalb Lernende auf allgemeine Lernmechanismen zurückgreifen müssen, was oft zu einem nicht UG-konformen Erwerb führt. Die meisten generativistischen L3-Modelle sind im Framework der Full Transfer Full Access Hypothesis anzusiedeln und nehmen an, dass Transfer <?page no="95"?> 96 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb nicht nur aus der L1, sondern auch aus einer L2 kommen kann (vgl. García Mayo/ Rothman 2012: 15-16). Im Folgenden werden die am häufigsten zitierten Modelle dieses Frameworks sowie ausgewählte Beispielstudien diskutiert (vgl. auch Angelovska/ Riehl 2019: 44-46; González Alonso et al. 2017). 4.3.3.1 Das Cumulative Enhancement Model Das Cumulative Enhancement Model (CEM) von Flynn, Foley und Vinnitskaya (2004) besagt, dass das Lernen von Sprachen kumulativ ist und somit alle Sprachen Einfluss auf den Syntaxerwerb in einer L3 haben können. Weder der L1 noch der L2 kommt eine bevorzugte Rolle zu: (1) Language learning is cumulative. All languages known can potentially influence the development of subsequent learning. The learner’s L1 does not play a privileged role in subsequent acquisition. (2) Where appropriate, other languages known can enhance subsequent language acquisition (Flynn et al. 2004: 5). Laut diesem Modell ist Spracherwerb insofern ökonomisch, als nur jene syntaktischen Merkmale transferiert werden, die den nachfolgenden Spracherwerb positiv beeinflussen (vgl. Berkes/ Flynn 2012: 144). Transfer findet Merkmal-für- Merkmal (en. property-by-property ) statt und ist nicht holistischer Natur. Dies bedeutet, dass nicht alle Merkmale eines Sprachsystems (entweder der L1 oder der L2) transferiert werden, sondern dass manche aus der L1, andere hingegen aus der L2 kommen, und zwar abhängig davon, ob der entsprechende Transfer einen positiven Einfluss auf den Aufbau des L3-Systems hat. Da zahlreiche Studien mittlerweile einen negativen Einfluss festgestellt haben, bleibt fraglich, ob das Modell in seiner ursprünglichen Form noch haltbar ist (vgl. Puig-Mayenco et al. 2020: 51). 4.3.3.2 Das Typological Primacy Model Rothmans Typological Primacy Model (TPM) nimmt an, dass dasjenige Sprachsystem transferiert wird, das der Zielsprache (psycho-)typologisch am nächsten steht (vgl. Rothman 2010a, 2010b, 2015): Initial State transfer for multilingualism occurs selectively, depending on the comparative perceived typology of the language pairings involved, or psychotypological proximity. Syntactic properties of the closest (psycho)typological language, either the L1 or L2, constitute the initial state hypotheses in multilingualism, whether or not such transfer constitutes the most economical option (Rothman 2010a: 112). Wie dieses Zitat veranschaulicht, beschränkt Rothman seine Hypothese auf den initial state des Drittspracherwerbs. Er übernimmt das Konzept der Psychotypologie, das er anfangs noch ähnlich wie Kellerman (1983) zu verstehen scheint <?page no="96"?> 4.3 Transfermodelle 97 (vgl. Rothman 2010a: 112). In späteren Überarbeitungen des Modells distanziert er sich allerdings davon, dass eine bewusste Wahrnehmung von sprachlichen Ähnlichkeiten/ Unterschieden einen Einfluss auf Transfer hat (vgl. Rothman 2015: 184-185). Am Anfang des L3-Erwerbs - so der Autor - steht eine systematische, unbewusste Analyse, in welcher der Parser die typologische Nähe aufbauend auf der folgenden Hierarchie feststellt: Lexikon → Phonetik/ Phonologie → funktionale Morphologie → syntaktische Struktur (vgl. Rothman et al. 2015: 4; Rothman et al. 2019: 163). Wenn sich beispielsweise die L3 und die L2 lexikalisch sehr ähnlich sind, ist es wahrscheinlich, dass der Parser die L2 am typologisch nächsten wahrnimmt und demzufolge als Transferbasis heranzieht. Wenn er allerdings die L1 und die L3 als typologisch näher einstuft, dann wird laut diesem Modell das L1-System transferiert. Sobald sich der Parser für eine Sprache entschieden hat, findet ein holistischer Transfer des gesamten Sprachsystems statt. Das Typological Primacy Model nimmt also im Unterschied zum Cumulative Enhancement Model an, dass Transfer nicht Merkmal-für-Merkmal stattfindet, sondern dass am Anfang des L3-Erwerbs alle syntaktischen Merkmale des ausgewählten Sprachsystems transferiert werden und somit das Anfangsstadium des L3-Systems darstellen. Dies bedeutet, dass die syntaktischen Merkmale aus der typologisch nächsten Sprache transferiert werden, auch wenn dies zu negativem Transfer führt und somit nicht die ökonomischste Option darstellt. Transfer kann demnach, anders als im Cumulative Enhancement Model , sowohl positiv als auch negativ sein: [M]ultilingual full transfer will ultimately result in both facilitation and non-facilitation for specific properties depending on whether L3 properties actually share the same or similar mental representations to the selected transferred language (Rothman 2015: 180). Rothman (2010b: 269) betont, dass das Typological Primacy Model nur Voraussagen machen kann, wenn die Typologie in der entsprechenden Sprachenfolge eine Rolle spielt. Ist dies nicht der Fall, ist es möglich, dass das L2-Status-Faktor- oder das Cumulative Enhancement -Modell die besseren Erklärungen liefert (vgl. ebd.). Wenn ein Lernender beispielsweise drei typologisch nahe Sprachen lernt, kann Rothmans Modell im Unterschied zum Cumulative Enhancement Model und zum L2-Status-Faktor-Modell keine Vorhersagen treffen. Das Cumulative Enhancement Model würde einen Transfer jenes syntaktischen Merkmals vorhersagen, das einen positiven Effekt auf den L3-Erwerb hat. Dieses kann sowohl aus der L1 als auch aus der L2 transferiert werden. Das L2-Status-Faktor-Modell hingegen würde annehmen, dass Transfer nur aus der L2 kommt, dafür allerdings positiver oder negativer Natur sein kann. <?page no="97"?> 98 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb 4.3.3.3 Das Scalpel Model und das Linguistic Proximity Model In diesem Kapitel werden zwei generativistische Modelle vorgestellt, die sich in ihren Grundannahmen gleichen, das Scalpel Model (vgl. Slabakova 2017) und das Linguistic Proximity Model (vgl. Westergaard et al. 2017). In Anlehnung an Cooks (1992) multicompetence -Framework wird multilinguale Kompetenz im Scalpel Model als die Entwicklung und das Zusammenspiel mehrerer (Sub-) Grammatiken verstanden, welche nicht getrennt voneinander gespeichert werden, sondern in Relation zueinander stehen (vgl. Slabakova 2017: 656). Allein aus dieser Interdependenz ergibt sich, dass weder die L1 noch die L2 einen privilegierten Status hat und dass folglich beide Sprachsysteme zu Transfer führen können. Des Weiteren übernimmt das Scalpel Model die Annahme des Typological Primacy Model , dass Transfer sowohl negativ als auch positiv sein kann, lehnt aber die Hypothese ab, dass Transfer holistisch ist und im Anfangsstadium des L3-Erwerbs ein gesamtes Sprachsystem transferiert wird. Dieser Unterschied lässt sich durch Slabakovas ablehnende Haltung gegenüber Rothmans Argument (2015: 184) erklären, dass holistischer Transfer ökonomischer sei als Transfer, der Merkmal-für-Merkmal stattfindet. Sie argumentiert, dass der kognitive Aufwand, der für die Inhibition eines gesamten Sprachsystems benötigt wird, extrem hoch ist. Wenn die Inhibition zusätzlich noch zu negativem Transfer aus einem anderen System führt, ist dies sogar in höchstem Maße unökonomisch. Daraus folgend nimmt sie an, dass kein gesamtes Sprachsystem transferiert wird, sondern dass Transfer wie im Cumulative Enhancement Model Merkmal-für-Merkmal stattfindet. Die für den L3-Erwerb relevanten syntaktischen Merkmale werden aus einem L1- oder L2-System mit einer „skalpellartigen“ Präzision herausgefiltert und in das L3-System transferiert: [T]he grammars already acquired act with a scalpel-like precision to extract the L1 or L2 options relevant to the acquisition task at hand. Therefore, transfer is selective and works property by property (Slabakova 2017: 653). Zu negativem Transfer kommt es beispielsweise dann, wenn der Input aufgrund einer sehr niedrigen Frequenz der entsprechenden sprachlichen Struktur nicht die nötige Evidenz liefert (vgl. ebd.: 655). Transfer hängt demnach nicht nur von der L1, der L2 oder der (Psycho-)Typologie ab, sondern wird von vielen zusätzlichen Faktoren, wie beispielsweise der Qualität und Quantität des sprachlichen Inputs oder der Komplexität einer sprachlichen Struktur beeinflusst (vgl. ebd.: 653). Da die Grundannahmen des Linguistic Proximity Model (vgl. Westergaard et al. 2017) dem des Scalpel Model gleichen, wird auf ersteres im Folgenden nicht genauer eingegangen, sondern es werden lediglich die Grundzüge der beiden zusammengefasst: Beide Modelle betonen, dass Transfer aus allen vorhande- <?page no="98"?> 4.3 Transfermodelle 99 nen Sprachsystemen stammen kann. Er ist außerdem nicht holistisch, sondern findet Merkmal-für-Merkmal statt, das heißt, dass jedes einzelne syntaktische Merkmal im Hinblick auf seine Transferabilität analysiert und ggf. transferiert wird. Dies führt dazu, dass er sowohl positiv als auch negativ sein kann (vgl. ebd.: 671). Westergaard, Mitrofanova und Mykhaylyk (2017) überprüfen diese theoretischen Annahmen mithilfe einer Studie, in der sie drei unterschiedliche Sprachenfolgen untersuchen: (1) Norwegisch-russisch bilingual aufwachsende Kinder mit Englisch als L3. (2) Native Speaker des Norwegischen mit Englisch als L2 und (3) russische Muttersprachler mit Englisch als L2. Auf der einen Seite gleichen sich das Russische und das Englische bezüglich der Adverb-Verb- Wortstellung in Deklarativsätzen (= sprachstrukturelle Ähnlichkeit); auf der anderen Seite sind sich das Englische und das Norwegische als germanische Sprachen typologisch näher. Die Autorinnen können damit der Frage nachgehen, ob Transfer eines ganzen Sprachsystems basierend auf typologischer Nähe stattfindet, wie es das Typological Primacy Model vorhersagt, oder ob er Merkmal-für-Merkmal abläuft. Im Wesentlichen liefern die Ergebnisse der Studie Indizien dafür, dass positiver Transfer sowohl aus der L1 als auch aus der L2 stammen kann. Darüber hinaus zeigt sich, dass das Russische einen positiven Einfluss auf den Erwerb des Englischen haben kann, obwohl es zu einer anderen typologischen Gruppe gehört (vgl. ebd.: 676). Darauf aufbauend argumentieren die Autorinnen, dass eine sprachstrukturelle Nähe für den Transfer eines syntaktischen Merkmals wichtiger ist als eine typologische. Die Studie liefert somit ein empirisches Gegenargument zum Typological Primacy Model (vgl. ebd.: 676-677). Die in diesem Kapitel präsentierten generativistischen Modelle liefern empirische Evidenz dafür, dass Transfer von syntaktischen Merkmalen aus einer L1 wie auch aus einer L2 stammen kann. Mit Ausnahme des Cumulative Enhancement Model gehen alle davon aus, dass dieser Transfer sowohl negativer als auch positiver Natur sein kann. Das Scalpel Model und das Linguistic Proximity Model unterscheiden sich vom Typology Primacy Model insofern, als letzteres annimmt, dass der Transfer eines gesamten Sprachsystems vollzogen wird und primär auf typologischen Faktoren beruht. Die anderen beiden Modelle betonen hingegen, dass Transfer Merkmal-für-Merkmal abläuft und eben nicht holistisch ist. <?page no="99"?> 100 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb 4.3.4 Modelle des konzeptuellen Transfers Dieses Kapitel beschäftigt sich mit drei Ansätzen, die der kognitiven Linguistik zugeordnet werden können, und die primär den Transfer von mentalen Konzepten behandeln: das sprachliche Relativitätsprinzip (auch Sapir-Whorf-Hypothese; vgl. Whorf 2012), 34 die thinking-for-speaking -Hypothese (vgl. Slobin 1991) und die Conceptual Transfer Hypothesis (vgl. Jarvis 2011). Im Allgemeinen unterscheiden Jarvis und Pavlenko (2010: 113) zwischen sprachunabhängigen und sprachbezogenen Konzepten. Letztere können in lexikalische und grammatikalische Konzepte unterteilt werden: [L]anguage-mediated concepts are seen as multi-modal mental representations that develop in the process of socialization, sensitize speakers of particular languages to particular conceptual distinctions, and allow them to perform naming, identification, comprehension, and inferencing tasks along similar lines ( Jarvis/ Pavlenko 2010: 115; Hervorhebung im Original). Die Aneignung sprachbezogener Konzepte ist eng mit dem Lernen neuer Wörter verbunden. Beides geschieht durch den Prozess der sprachlichen Sozialisierung, in welchem die perzeptuellen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder mit den sprachspezifischen Anforderungen der Zielsprache interagieren. In diesem Prozess verbessern Kinder ihre Sensitivität für relevante sprachspezifische Phänomene und verlieren sie für nicht relevante Aspekte. Sie lernen gewissermaßen, die Aufmerksamkeit auf bedeutsame Phänomene der Zielsprache zu lenken (vgl. Jarvis/ Pavlenko 2010: 114; siehe Kapitel 3.1). Beispielsweise werden in England aufwachsende Kinder den Unterschied zwischen einer abgeschlossenen und einer Handlung im Verlauf fokussieren, weil die Opposition von progressiv und nicht progressiv in ihrem sprachlichen Umfeld obligatorisch realisiert wird. Die englische Grammatik zwingt sie gewissermaßen, diese Unterscheidung zu treffen. Deutschsprachig aufwachsende Kinder hingegen werden ihre Aufmerksamkeit nicht auf diese Unterscheidung lenken, da es im Deutschen keinen vollständig grammatikalisierten progressiven Aspekt gibt (siehe Kapitel 2.3.1). Ob diese Prozesse das Denken im Allgemeinen oder nur die Denkprozesse während der Sprachproduktion beeinflussen, ist bis heute nicht vollständig geklärt und hat zwei verschiedene Frameworks hervorgerufen: das sprachliche Relativitätsprinzip (vgl. Lucy 2016; Whorf 2012) und die thinking-for-speaking -Hypothese (vgl. Slobin 1991, 1996). 34 In der deutschsprachigen Literatur wird sowohl vom sprachlichen als auch vom linguistischen Relativitätsprinzip gesprochen. In der vorliegenden Arbeit wird die Sapir-Whorf- Hypothese als sprachliches Relativitätsprinzip bezeichnet. <?page no="100"?> 4.3 Transfermodelle 101 Edward Sapir und Benjamin Whorf gelten als die Begründer des sprachlichen Relativitätsprinzips, welches annimmt, dass Sprecher verschiedener Sprachen die Realität unterschiedlich wahrnehmen (vgl. Athanasopoulos et al. 2016: 482; Bylund/ Athanasopoulos 2014: 953): [U]sers of markedly different grammars are pointed by their grammars toward different types of observations and different evaluations of externally similar acts of observation, and hence are not equivalent as observers but must arrive at somewhat different views of the world (Whorf 2012: 282-283; Hervorhebung durch den Verfasser). Slobins (1991, 1996) Überlegungen entstehen durch die Auseinandersetzung mit der im sprachlichen Relativitätsprinzip formulierten und im obigen Zitat wiedergegebenen Annahme. Auch er vertritt die Ansicht, dass Kinder durch das Aufwachsen in einer bestimmten Sprachgemeinschaft mit einer sprachspezifischen Grammatik vertraut gemacht werden und dadurch lernen, die für die entsprechende Sprache wichtigen (grammatikalischen) Aspekte zu fokussieren. Im Unterschied zum sprachlichen Relativitätsprinzip geht Slobin allerdings davon aus, dass die verschiedenen Grammatiken nicht das nonverbale Denken an sich beeinflussen, sondern die Versprachlichung des im Sprachproduktionsprozess zu wählenden Konzepts (vgl. auch Jarvis 2015: 616-617). Im Hinblick auf Levelts (1989) Sprachproduktionsmodell handelt es sich um die präverbale Phase der Konzeptualisierung (vgl. Athanasopoulos/ Bylund 2013: 92), in welcher beispielsweise die Sprecher des Englischen aufgrund ihrer Grammatik gezwungen werden, die Unterscheidung zwischen progressiv und nicht progressiv zu treffen und das entsprechende Konzept zu wählen, wohingegen die deutsche Grammatik nicht denselben Druck ausübt. In dieser Phase werden jene Konzepte aktiviert, die für das Bewältigen der Kommunikationssituation notwendig sind. Es ist die Aufgabe des (kindlichen) Spracherwerbs, diese sprachspezifischen Denkweisen, die während der Sprachproduktion ablaufen, zu lernen: Slobin „ propose[s] that, in acquiring a native language, the child learns particular ways of thinking for speaking “ (Slobin 1991: 12; Hervorhebung im Original). Er interessiert sich demnach für jene Denkprozesse, die vor bzw. während des Sprechens ablaufen. Es geht ihm weniger um den Einfluss von Sprache ( language ) auf die Gedanken an sich ( thought ), sondern um die Auswirkungen, die unterschiedliche Sprachen auf die Denkprozesse ( thinking ) während der Sprachproduktion haben ( speaking ). Dies nennt er thinking-for-speaking . Da dieses thinking-forspeaking im Kindesalter erworben wird, ist es relativ resistent gegenüber Umstrukturierungen im L2-Erwerb (vgl. Slobin 1996: 89). Schwierigkeiten gibt es vor allem bei rein sprachlichen (grammatikalischen) Unterscheidungen (z. B. aspektuellen), da diese in der weltlichen Realität nicht direkt über unsere Sinne <?page no="101"?> 102 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb wahrgenommen werden können, sondern nur über die Auseinandersetzung mit einem sprachlichen System (vgl. ebd.: 91). Der wesentliche Unterschied zwischen dem sprachlichen Relativitätsprinzip und dem thinking-for-speaking -Framework ist demnach, dass ersteres behauptet, Sprache hätte einen Einfluss auf das (nonverbale) Denken und führe zu einer unterschiedlichen Weltsicht. Letzteres hingegen nimmt an, dass sich diese Unterschiede nur auf jene Denkprozesse beziehen, die im Rahmen der mentalen Vorbereitung auf das Sprechen stattfinden: The crucial difference between LR [linguistic relativity] and TFS [thinking-for-speaking] is that the former focuses on effects of linguistic structure on non-verbal behavior and conceptual representation, while the latter focuses on effects of linguistic structure on the cognitive processes involved in speech production (Athanasopoulos/ Bylund 2013: 92). Die Conceptual Transfer Hypothesis (CTH) (vgl. Bylund/ Jarvis 2011; Jarvis 2007, 2011, 2013a, 2013b, 2015) kann gewissermaßen als eine Brücke zwischen der traditionellen Transferforschung und dem sprachlichen Relativitätsprinzip begriffen werden (vgl. Jarvis 2015: 618-619). Sie nimmt an, dass Sprecher verschiedener Sprachen unterschiedliche Konzepte/ Konzeptualisierungen 35 haben und dass diese bei bilingualen Personen oder L2-Lernern transferiert werden können: The Conceptual Transfer Hypothesis (CTH) assumes that speakers of different languages have somewhat differing patterns of conceptual categorization and construal, and that, in the case of bilinguals and second language learners, these types of conceptualization differences have the potential to transfer across languages - or, more precisely, the conceptual distinctions and patterns of conceptualization that they have acquired as speakers of one language can also affect their use of another language (Bylund/ Jarvis 2011: 47; Hervorhebung durch den Verfasser). Die Definition von Odlin (2005: 5), dass konzeptueller Transfer jene Art von sprachlicher Relativität sei, die eine L2 einschließt, trifft den Kern der Conceptual Transfer Hypothesis nicht ausreichend. Diese interessiert sich eben nicht 35 Die Conceptual Transfer Hypothesis schließt sowohl den Transfer von Konzepten (en. concept transfer ) als auch jenen von Konzeptualisierungen (en. conceptualization transfer ) ein (vgl. Jarvis 2007: 52-54). Ersteres bezieht sich auf den Transfer von im Langzeitgedächtnis gespeicherten mentalen Konzepten, wohingegen Letzteres auf den Transfer während der Verarbeitung des konzeptuellen Wissens im Arbeitsgedächtnis Bezug nimmt. Obwohl sich beide Begrifflichkeiten theoretisch unterscheiden, wird in der wissenschaftlichen Praxis nicht immer ausreichend differenziert (vgl. Jarvis 2011: 4). <?page no="102"?> 4.3 Transfermodelle 103 ausschließlich für das durch ein L1-Konzept veränderte L2-Konzept, sondern fragt sich, wie dieses die Sprachproduktion in der L2 beeinflusst: Linguistic relativity begins with language and ends with cognition […]. In contrast, conceptual transfer starts with language and ends, via cognition, with language , hypothesizing that certain instances of CLI [cross-linguistic influences] in a person’s use of one language are influenced by conceptual categories acquired through another language ( Jarvis/ Pavlenko 2010: 115; Hervorhebung durch den Verfasser). Laut Jarvis und Pavlenko werden demgemäß die konzeptuellen Repräsentationen bzw. Konzeptualisierungen eines L2-Sprechers von dessen L1 beeinflusst, was zu Transferphänomenen in der Sprachproduktion der L2 führt. Der Ursprung von Transfer liegt also im Unterschied zu den generativistischen Modellen, die ihn auf die in der Universalgrammatik vorhandenen syntaktischen Merkmale zurückführen (siehe Kapitel 4.3.3), in den unterschiedlichen konzeptuellen Repräsentationen/ Konzeptualisierungen (vgl. Jarvis 2011: 3). Jarvis (2015: 609) räumt allerdings ein, dass es in der Forschungsliteratur derzeit noch keinen Konsens gibt, ob die beobachteten Transferphänomene tatsächlich konzeptueller, semantischer oder sprachstruktureller Natur sind. Er veranschaulicht die unterschiedlichen Möglichkeiten anhand des Beispielsatzes They are sitting on/ in the grass . Finnischsprachige Lernende des Englischen scheinen on the grass , schwedischsprachige in the grass zu bevorzugen. Ob dieser Transfer nun auf tatsächlich unterschiedliche Konzepte/ Konzeptualisierungen der räumlichen Präpositionen (konzeptueller Transfer), auf die unterschiedliche Verknüpfung von Form und Bedeutung (semantischer Transfer) oder auf sprachstrukturelle, obligatorische Realisierungen (linguistischer Transfer) zurückzuführen ist, kann zum heutigen Stand der Forschung eben nur bedingt beantwortet werden. Laut Jarvis (2015: 627) müssen sich zukünftige Studien genau dieser Fragestellung widmen. Die wesentlichen Unterschiede der drei Ansätze lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das sprachliche Relativitätsprinzip und die Conceptual Transfer Hypothesis nehmen an, dass Sprache einen Einfluss auf das (nonverbale) Denken hat. Die Vertreter der Conceptual Transfer Hypothesis interessieren sich vor allem dafür, wie unterschiedliche Konzepte/ Konzeptualisierungen der L1 den Erwerb und die Sprachproduktion in einer Zweitsprache beeinflussen, das heißt, inwiefern sie von einer L1 in eine L2 transferiert werden. Die thinkingfor-speaking -Hypothese hingegen geht davon aus, dass die Grammatik einer Sprache weniger das konzeptuelle Wissen an sich beeinflusst, sondern vielmehr den Konzeptualisierungsvorgang im Sprachproduktionsprozess. Die Aufgabe im Spracherwerb ist es demnach, dieses der Sprachproduktion zugrunde liegende Denken zu lernen. <?page no="103"?> 104 4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb 4.4 Konklusion: Transfer als komplexes Phänomen Transfer wurde als der Einfluss, den eine Sprache auf eine andere Sprache hat, definiert. Transferphänomene hängen von zahlreichen Faktoren ab, von denen die (Psycho-)Typologie, das Sprachniveau, die recency of use und der L2-Status zu jenen zählen, die in der Literatur die größte Aufmerksamkeit erhalten haben. Obwohl es sich um ein sehr komplexes, dynamisches Phänomen handelt, finden sich zahlreiche Versuche, Transfer zu modellieren. Diese reichen vom Dynamic Model of Multilingualism , das Transfer als Teil eines hochkomplexen, dynamischen Prozesses versteht, der durch die Interaktion diverser psycholinguistischer Systeme hervorgerufen wird, bis zu Modellen, die versuchen, Transfer mithilfe einer einzigen Variable zu erklären (z. B. Typological Primacy Model ). Dieser Versuch ist bis heute nicht geglückt und erscheint aufgrund der zahlreichen Faktoren, die erwiesenermaßen einen Einfluss haben, nicht sehr zielführend. Neuere Transfer- und Mehrsprachigkeitsmodelle - auch im generativistischen Framework - sind deshalb von unikausalen Erklärungsansätzen abgerückt (z. B. Scalpel Model ). <?page no="104"?> 5 Der Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Zweit- und Drittspracherwerb des Spanischen Nachdem im letzten Kapitel die grundlegenden Begrifflichkeiten und Modelle der Transferforschung erörtert wurden, wird in diesem Kapitel der Zweit-/ Drittspracherwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt behandelt. Da es diesbezüglich eine hohe Anzahl an Studien gibt, ist es unmöglich, jeden einzelnen Befund detailliert zu diskutieren, weshalb sich die nachfolgende Darstellung auf eine Auswahl viel rezipierter Untersuchungen beschränkt (für einen allgemeinen Überblick vgl. Bardovi-Harlig 2000; Bonilla 2013; Comajoan 2014; Howard/ Leclercq 2017; Salaberry 2000, 2008). In Kapitel 5.1 werden zuerst die Lexical Aspect Hypothesis (vgl. Andersen 1986), die Default Past Tense Hypothesis (vgl. Salaberry 1999, 2000) und die Diskurshypothese (vgl. Bardovi-Harlig 1994) näher beleuchtet. Im Anschluss wird auf einige Studien aus dem Bereich der generativistischen Zweitspracherwerbsforschung und der kognitiven Linguistik eingegangen. Kapitel 5.2 widmet sich schließlich der Frage, inwiefern sprachliches Vorwissen den Tempus-/ Aspekterwerb einer Zweit-/ Drittsprache beeinflusst. Es wird sich zeigen, dass bisher kaum Forschung zum Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch vorhanden ist. 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 5.1.1 Semantische Ansätze: Lexical Aspect Hypothesis und Default Past Tense Hypothesis Die Lexical Aspect Hypothesis (LAH) entstand in einer Auseinandersetzung mit Studien des L1-Erwerbs, die gezeigt haben, dass Kinder beim Erwerb der Vergangenheitsmorphologie von der Verbsemantik beeinflusst werden (vgl. Andersen 1986: 115; Bardovi-Harlig 2012: 483; Wagner 2012). Die meisten Untersuchungen in diesem Framework gehen auf Andersen (1986) zurück, der eine Longitudinalstudie mit einem anglophonen Probanden durchführte, der Spanisch nach seinem Umzug nach Puerto Rico in einem natürlichen Kontext lernte. Auf dieser geringen Datenbasis skizziert Andersen (1986: 131-132) die folgende Sequenz für den Erwerb von perfektiver und imperfektiver Morphologie: <?page no="105"?> 106 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen Abb. 5: Lexical Aspect Hypothesis (dargestellt von González 2013: 176; p = perfecto simple ; i = imperfecto ) Wie Abbildung 5 veranschaulicht, werden Temporalität und Aspektualität in Stufe 1 mithilfe lexikalischer und/ oder pragmatischer Mittel ausgedrückt (vgl. Dietrich et al. 1995: 261-263). Perfektive Morphologie erscheint erst in Stufe 2/ 3, und zwar in Kombination mit achievements , das heißt in prototypischen Kontexten. Diese Verwendung weitet sich in Stufe 5 auf accomplishments und in Stufe 7 auf Aktivitäten aus, bis die Testperson schließlich in Stufe 9 das perfecto simple auch in Kombination mit Zuständen, das heißt in nicht prototypischen Kontexten verwendet. Das imperfecto taucht in Stufe 4 und somit nach dem perfecto simple auf. Es findet sich ebenfalls eine Streuung von prototypischen (Zuständen) zu nicht prototypischen Kontexten (z. B. accomplishments in Stufe 6 und achievements in Stufe 8). Demzufolge behauptet die Lexical Aspect Hypothesis , dass (1) perfektive Morphologie vor imperfektiver auftritt und (2), dass prototypische Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt in der Lernersprache zuerst in Erscheinung treten. Nicht prototypische Kombinationen werden erst in späteren Spracherwerbsstadien produziert, was allerdings nicht meint, dass in fortgeschrittenen Stadien nicht prototypische Verbindungen frequenter sind, sondern lediglich, dass sie erst ab einem bestimmten Sprachniveau auftreten. Folglich kann die LAH widerlegt werden, indem man entweder zeigt, dass imperfektive Morphologie gleichzeitig oder sogar vor perfektiver Morphologie auftritt oder dass bereits in niedrigen Stufen des Spracherwerbs nicht prototypische Konstellationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt produziert werden. Es würde reichen, dies entweder für das perfecto simple oder für das imperfecto zu demonstrieren, da die LAH die anfängliche Orientierung an Prototypen für beide Formen vorhersagt. <?page no="106"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 107 Im Gegensatz zur LAH behauptet Salaberry (1999, 2000), dass anglophone L2-Lernende in den Anfangsstadien des Spanischerwerbs von temporalen und nicht von aspektuellen Unterscheidungen beeinflusst werden und dass das Auftreten der Vergangenheitsmorphologie unabhängig von lexikalischem Aspekt ist (vgl. Salaberry 1999: 157, 2000: 113). Um diese These zu überprüfen, führt Salaberry (1999) eine Longitudinalstudie mit zwanzig Spanischlernern mit unterschiedlichem Sprachniveau durch; als Kontrollgruppe fungieren vier Native Speaker. Seine Ergebnisse, die auf zwei mündlichen Film-Nacherzählungen basieren, zeigen, dass zwar die perfektive Form am häufigsten mit telischen und am seltensten mit statischen Verben genutzt wird, dass das perfecto simple allerdings von Anfang an mit allen lexikalischen Aspektklassen in Erscheinung tritt, und mit statischen Prädikaten sogar häufiger verwendet wird als das imperfecto (vgl. ebd.: 164-166). Da dieser Befund in klarem Kontrast zur LAH steht, stellt Salaberry die Hypothese auf, dass Lerner mit niedrigem Sprachniveau nur bedingt von lexikalischem Aspekt beeinflusst werden und dass sie das perfecto simple als Standardvergangenheitsmarker verwenden: „[T]he lowest level learners appear to be using a single marker of Past tense across lexical aspectual classes: a default Past tense marker “ (ebd.: 167; Hervorhebung durch den Verfasser). Diese der LAH widersprechende Hypothese wird als Default Past Tense Hypothesis (DPTH) bezeichnet und basiert auf folgenden theoretischen Grundannahmen: Das englische simple past ist aspektuell neutral (vgl. De Swart 1998: 368; siehe Kapitel 2.3.2) und markiert daher primär temporale Unterschiede (vgl. Salaberry 2008: 214-218). Unter der Annahme, dass L2-Lerner in den Anfangsstadien des Zweitspracherwerbs dazu tendieren, Tempus- und Aspekt- Marker ihrer Erstsprache zu transferieren, geht Salaberry (2008: 213-224) davon aus, dass anglophone Lernende des Spanischen das simple past mit dem perfecto simple und den aspektuellen Wert der englischen progressive -Form mit jenem des imperfecto gleichsetzen. Da eine Verwendung der progressive -Form mit Zuständen nicht möglich ist (siehe Kapitel 2.3.2), kann diese Gleichsetzung möglicherweise zu der Erwerbshypothese seitens der Lernenden führen, das imperfecto besitze ebenfalls diese Restriktion. Die Konsequenz wäre eine Übergeneralisierung des perfecto simple mit statischen Prädikaten, ein Verhalten, das bereits häufig beobachtet wurde (vgl. ebd.: 217). Aufbauend auf der eben präsentierten empirischen Evidenz modifiziert Salaberry (2000: 172) die von der LAH vorgeschlagene Erwerbssequenz. Er geht davon aus, dass Vergangenheitsreferenz in Stufe 0 ohne Rückgriff auf morphologische Ausdrucksmittel hergestellt wird. In Stufe 1 tritt das perfecto simple mit allen lexikalischen Aspektklassen auf und es wird keine Unterscheidung zwischen perfektiver und imperfektiver Morphologie vorgenommen (= Stufe der temporalen Markierung). Das imperfecto erscheint schließlich in Stufe 2. Es <?page no="107"?> wird anfänglich meist mit Zuständen benutzt, bis es dann in Stufe 3 auch mit dynamischen und telischen Prädikaten auftritt. Erst in Stufe 4 sind die Lernenden fähig, Ereignisse unter Verwendung der entsprechenden Verbalmorphologie mit allen lexikalischen Aspektklassen zu produzieren: Stufen Beschreibung 0 Keine morphologische Markierung 1 Vergangenheitsreferenz wird mit dem perfecto simple markiert 2 Imperfecto tritt mit statischen Prädikaten auf 3 Imperfecto streut zu dynamischen und telischen Prädikaten über 4 Alle Aspektklassen können mit dem perfecto simple oder dem imperfecto verwendet werden Tab. 10: Erwerbssequenz für perfektiven und imperfektiven Aspekt im Spanischen (vgl. Salaberry 2000: 172) Im Folgenden werden exemplarische Studien aus dem Bereich des Zweitspracherwerbs des Spanischen dargestellt, welche versucht haben, die LAH und die DPTH empirisch zu überprüfen (für einen ausführlichen Überblick älterer Forschung vgl. Bardovi-Harlig 2000: 191-275; Salaberry 2000: 76-97, 2008: 130-188). An erster Stelle sei Camps (2002) erwähnt, der eine Studie mit 15 anglophonen Lernenden im zweiten Semester des Spanischstudiums durchführte. Die Ergebnisse einer Frequenzanalyse der in den mündlichen Sprachproduktionsdaten auftretenden Verbformen zeigen, dass das perfecto simple mit allen lexikalischen Aspektklassen auftritt. Für das imperfecto lässt sich hingegen eine Präferenz für die Verwendung mit statischen und aktivischen Prädikaten finden (vgl. ebd.: 190). Interessanterweise veranschaulicht eine target-like-use - Analyse allerdings (siehe Kapitel 6.5.2.2 für eine Beschreibung des Analyseformats), dass die Akkuratheitswerte beider Verbformen mit Zuständen ähnlich hoch sind (vgl. ebd.: 194). Eine derartige Tendenz, die dafür spricht, dass die perfektive Verbform als Standardvergangenheitsmarker mit allen lexikalischen Aspektklassen gebraucht wird, kann auch in einer Folgestudie von Camps (2005) festgestellt werden, in welcher er die schriftlichen Sprachproduktionen von 30 anglophonen L2-Lernenden des Spanischen untersucht. So verwenden die Probanden zum ersten Erhebungszeitpunkt dieser longitudinalen Studie keine imperfektiven Verbformen, wohingegen das perfecto simple mit allen lexikalischen Aspektklassen zu einem sehr hohen Prozentsatz verwendet wird (Auftretenshäufigkeit über 84,1 % für Zustände; vgl. ebd.: 174). Dies ist darauf zurückzuführen, dass dieser Text produziert wurde, bevor das imperfecto explizit 108 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="108"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 109 im Unterricht thematisiert wurde. Erst im Text des zweiten Erhebungszeitpunktes, das heißt, nachdem das imperfecto im Unterricht eingeführt wurde, treten imperfektive Verbformen auf und es lässt sich eine langsame Streuung von Zuständen in Richtung achievements erkennen (vgl. ebd.: 174-175). Interessanterweise interpretiert Camps die Ergebnisse der beiden Studien im Einklang mit der LAH. In den Daten finden sich allerdings insofern eindeutig Indizien, die für die DPTH sprechen, als das perfecto simple von Anfang an mit allen lexikalischen Aspektklassen produziert wird. Dies deutet darauf hin, dass diese Verbform einen höheren Rang in der Lernersprache der Probanden innehat und als default für die Markierung von Vergangenheitsreferenz verwendet wird. Auch in Lubbers-Quesadas (2006) Studie, in welcher mündliche Erzählungen von 30 anglophonen Spanischlernenden elizitiert wurden, findet sich bezüglich des imperfecto eine langsame Streuung von statischen zu telischen Prädikaten; das perfecto simple tritt allerdings vor dem imperfecto auf und wird schon in der Gruppe mit dem niedrigsten Sprachniveau mit allen lexikalischen Aspektklassen verwendet, was die von der DPTH vorhergesagte Tendenz bestätigt (vgl. ebd.: 32). Schließlich sei noch auf ein groß angelegtes Forschungsprojekt verwiesen, in dem sich Domínguez, Tracy-Ventura, Arche, Mitchell und Myles (2013; siehe auch Domínguez 2019a) mit dem Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt bei 60 anglophonen Spanischlernenden beschäftigen, die sie in drei Sprachniveaugruppen einteilen. Als Kontrollgruppe fungieren 15 L1-Sprecher des Spanischen. Der Datensatz besteht aus mündlichen Sprachdaten, die mithilfe von zwei Nacherzählungen und einem halb strukturierten Interview elizitiert wurden, sowie einer semantischen Interpretationsaufgabe, welche aus einem englischen Kontext und je einem spanischen Satz mit dem imperfecto und einem mit dem perfecto simple besteht (siehe Kapitel 6.2.4 für eine genauere Beschreibung des Aufgabenformats). Eine Frequenzanalyse der in den mündlichen Sprachdaten auftretenden Verbformen demonstriert, dass das perfecto simple bereits in der niedrigsten Sprachniveaugruppe mit Zuständen, Aktivitäten und achievements gleichermaßen benutzt wird und dass es sogar öfter mit Zuständen verwendet wird als das imperfecto . Darüber hinaus zeigt sich, dass die durchschnittliche Anzahl von prototypischen Kombinationen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt mit steigendem Sprachniveau zunimmt; ein Befund, der im Übrigen auch von Salaberry (2011) nachgewiesen wird. Die Daten der semantischen Interpretationsaufgabe bestätigen insofern dieses Resultat, als die Verbsemantik keinen Einfluss auf die Wahl der Verbform bei Anfängern hat; nur in perfektiven Kontexten bei (sehr) fortgeschrittenen Lernenden scheint es einen entsprechenden Effekt zu geben. Die Daten der Interpretationsaufgabe machen außerdem deutlich, dass die Teilnehmer der Anfängergruppe das perfecto <?page no="109"?> simple in imperfektiven Kontexten fälschlicherweise korrekter bewerten als das imperfecto . Auch diese Studie liefert somit Befunde, die darauf hindeuten, dass das perfecto simple als Standardvergangenheitsform verwendet wird, weshalb Domínguez, Tracy-Ventura, Arche, Mitchell und Myles (2013: 569) ihre Ergebnisse im Einklang mit der Default Past Tense Hypothesis interpretieren. Im Allgemeinen liefert die bisher präsentierte Forschung zahlreiche Indizien, die für die Default Past Tense Hypothesis sprechen. Die Lernenden werden zwar auch vom lexikalischen Aspekt beeinflusst, aber nicht in der von der Lexical Aspect Hypothesis vorhergesagten Art und Weise. Dies hat dazu geführt, dass neuere Untersuchungen den Einfluss von einzelnen semantischen Merkmalen fokussieren (z. B. [+ durativ] oder [+ telisch]). Aufbauend auf den Ergebnissen von Domínguez, Tracy-Ventura, Arche, Mitchell und Myles (2013: 574), in denen sich zeigt, dass anglophone Lernende des Spanischen das perfecto simple mit [+ dynamisch] und das imperfecto mit [dynamisch] assoziieren, führen González und Quintana Hernández (2018) eine Studie durch, in welcher sie die Ergebnisse schriftlicher Sprachproduktionen von 22 anglophonen mit den Resultaten von 31 niederländischsprechenden Lernenden des Spanischen vergleichen (ca. A2-Niveau). Die Ergebnisse bestätigen, dass die anglophonen Lernenden das perfecto simple mit [+ dynamisch] in Verbindung bringen und dass das semantische Merkmal der Dynamizität den statistisch größten Einfluss auf das Auftreten der Verbalmorphologie hat (vgl. ebd.: 621). Bei niederländischsprechenden Spanischlernenden hingegen hat nicht die Dynamizität, sondern vor allem die Telizität den stärksten Einfluss. Diesen Unterschied führen die Autorinnen auf einen L1-Transfer zurück, was somit im Einklang mit den Grundannahmen der Default Past Tense Hypotesis steht (siehe Kapitel 5.2.1 für eine Diskussion des L1-Einflusses). Auch Quintana Hernández (2019a, 2019b) kommt zu einer ähnlichen Interpretation. Ihre 64 anglophonen Lernenden des Spanischen verwenden das perfecto simple in den schriftlichen Sprachproduktionen primär mit dynamischen und punktuellen Prädikaten, wohingegen Telizität nur bei fortgeschrittenem Anfängerniveau einen Einfluss auf die Wahl der Verbalmorphologie zu haben scheint. Derartige Ergebnisse sind interessant und deuten auf eine Interaktion mehrerer Variablen hin. Zukünftige Studien müssen sich daher der Frage widmen, inwieweit der Einfluss einzelner semantischer Merkmale vom Sprachniveau (vgl. González/ Quintana Hernández 2018: 623), der Erstsprache oder Diskursmerkmalen abhängt (vgl. Quintana Hernández 2019a: 114). Letzteres wird im nächsten Kapitel näher betrachtet. 110 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="110"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 111 5.1.2 Diskursive Ansätze: Die Diskurshypothese Die Diskurshypothese basiert auf Hoppers (1979) Annahme, dass man für ein vollständiges Verständnis von Aspekt/ Aspektualität die Organisationsprinzipien des narrativen Diskurses berücksichtigen muss. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Einteilung von Ereignissen als vorder- oder hintergründig und definiert den Vordergrund als den tatsächlichen Handlungsstrang und den Hintergrund als unterstützendes bzw. beschreibendes Material (für eine ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Definitionen vgl. Comajoan 2013): It is evidently a universal of narrative discourse that in any extended text an overt distinction is made between the language of the actual story line and the language of supportive material which does not itself narrate the main events. I refer to the former - the parts of the narrative which relate events belonging to the skeletal structure of the discourse - as foreground and the latter as background (Hopper 1979: 213). Den Vordergrund konstituierende Ereignisse sind demnach durch das Merkmal der Sequentialität gekennzeichnet und treiben den Handlungsstrang voran (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 230-231). Hintergründige Handlungen hingegen dienen zur Beschreibung und Ausschmückung des tatsächlichen Handlungsstrangs und ermöglichen dadurch ein adäquates Verständnis desselben (vgl. Comajoan 2013: 315-321). Die Diskurshypothese basiert nun auf der Annahme, dass Lernende sich an diesen Diskursprinzipien orientieren und perfektive sowie imperfektive Morphologie verwenden, um vorder- und hintergründige Handlungen voneinander zu unterscheiden (vgl. Bardovi-Harlig 1994: 43). Laut dieser Hypothese treiben Lernende mit einem niedrigen Sprachniveau den Handlungsstrang zuerst mit Präsens- oder perfektiven Formen vorwärts, ohne dabei auf hintergründige Vorgänge einzugehen. Erst mit steigendem Sprachlevel sind sie in der Lage, hintergründige Beschreibungen mithilfe imperfektiver Verbformen zu produzieren (vgl. Comajoan 2014: 242). Im Vergleich zu der großen Anzahl an Studien, die sich mit der LAH und der DPTH beschäftigt haben, gibt es im Bereich des L2-Spanischerwerbs kaum Untersuchungen, die den Fokus auf die Diskursstruktur gelegt haben (vgl. ebd.). Im Folgenden werden daher lediglich zwei exemplarische Studien beschrieben (für eine Diskussion älterer Forschung vgl. Comajoan 2013; Salaberry 2008: 105-112). An erster Stelle sei auf Amenós Pons, Ahern und Guijarro-Fuentes (2017) verwiesen, die auf eine personalisierte Film-Nacherzählung zurückgreifen, um mündliche Sprachdaten von 33 frankophonen Spanischlernenden mit unterschiedlichem Sprachniveau zu elizitieren. Als Kontrollgruppe fungieren neun Native Speaker des Spanischen. Im Wesentlichen zeigen die Ergebnisse, dass Lernenden in den Anfangsstadien des L2-Erwerbs primär das Präsens benutzen, <?page no="111"?> um Vordergrundhandlungen auszudrücken. Erst mit steigendem Sprachniveau wird diese Verbform vom perfecto simple als vordergrundmarkierendes Tempus abgelöst. Das imperfecto wird schon ab einem A2-Niveau für Hintergrundhandlungen verwendet. Ab einem B2-Niveau gebrauchen die Lernenden dafür zusätzlich die Progressivperiphrase mit dem Hilfsverb im Imperfekt. Sowohl das imperfecto als auch das perfecto simple können also einer Diskursfunktion zugeordnet werden, weshalb Amenós Pons, Ahern und Guijarro-Fuentes (2017: 502-503) ihre Ergebnisse im Einklang mit der Diskurshypothese interpretieren (vgl. auch Amenós Pons 2016). In der zweiten hier exemplarisch präsentierten Studie untersucht Salaberry (2011) 286 anglophone Spanischlernende, die er in fünf Sprachniveaugruppen einteilt und mit 149 Native Speakern des Spanischen vergleicht. Die Ergebnisse einer two-choice -Aufgabe, in welcher zwischen den schon konjugierten Formen des imperfecto und des perfecto simple gewählt werden muss, zeigen, dass die Native Speaker im Einklang mit den Annahmen der Diskurshypothese das perfecto simple primär im Vordergrund und das imperfecto im Hintergrund verwenden. Diese Tendenz findet sich auch bei den L2-Lernern, die sich mit steigendem Sprachniveau den Bewertungen der Kontrollgruppe annähern. Dennoch ist das Verhalten zwischen der Kontroll- und den Versuchsgruppe(n) so unterschiedlich, dass Salaberry (2011: 196) es als den wesentlichen Unterschied zwischen L2- Lernern und Native Speakern ansieht. Er führt dies darauf zurück, dass erstere die für die korrekte Interpretation von diskursiven Merkmalen nötige kontextuelle Information (noch) nicht adäquat verarbeiten können (vgl. ebd.: 198). Die Lexical Aspect Hypothesis , die Default Past Tense Hypothesis und die Diskurshypothese werden meist als konkurrierende Ansätze dargestellt. Ayoun und Salaberry (2005: 267-276) betonen jedoch, dass sich die Annahmen der drei Hypothesen nicht widersprechen, sondern dass die ihnen zugrunde liegenden Variablen den L2-Erwerb lediglich zu unterschiedlichen Zeitpunkten beeinflussen. Sie schlagen die folgende Erklärung für die beobachtete Erwerbssequenz vor: In den Anfangsstadien werden die Lernenden vor allem von ihrer L1 beeinflusst und die entsprechenden temporal-aspektuellen Repräsentationen werden transferiert. Für anglophone Lernende bedeutet dies beispielsweise, dass sie primär das temporale Konzept der Vorzeitigkeit transferieren. In einer zweiten Phase nimmt der Einfluss von lexikalischem Aspekt zu. Das Imperfekt tritt dabei zuerst mit Zuständen auf und streut dann über zu aktivischen und telischen Prädikaten. Erst in (sehr) fortgeschrittenen Erwerbsstadien sind die Lernenden in der Lage, langsam die für einen vollständigen Erwerb notwendigen diskursiven Faktoren in ihre Lernersprache zu integrieren (vgl. ebd.: 268). Es sei an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen, dass es sich bei der eben getätigten Zusammenfassung um eine stark vereinfachte Darstellung handelt, da in 112 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="112"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 113 allen Spracherwerbsstadien eine gegenseitige Beeinflussung von L1-Transfer, lexikalischem Aspekt, Diskursmerkmalen und noch weiteren Faktoren besteht (vgl. ebd.). Solche zusätzlichen Einflussfaktoren, wie die syntaktische Struktur, Inputfaktoren oder das sprachliche Vorwissen werden in den nächsten Kapiteln besprochen. 5.1.3 Syntaktische Ansätze: Über den Erwerb von syntaktischen Merkmalen Noam Chomsky (2015) nimmt im Minimalistischen Programm an, dass das Lexikon alle sprachspezifischen lexikalischen Items beinhaltet (= lexikalische und funktionale Kategorien). Funktionale Kategorien bestehen aus einem Set von formalen Merkmalen und den entsprechenden morphologischen Reflexen an der sprachlichen Oberflächenstruktur. Die einzelnen funktionalen Kategorien werden in unterschiedliche Phrasen aufgeteilt (z. B. Tempus- (TP) oder Aspektphrase (AspP)). Wie Abbildung 6 veranschaulicht, befinden sich lexikalischer und grammatikalischer Aspekt in unterschiedlichen Positionen der Derivation. Ersterer ist in der lexikalischen Aspektphrase (lex. Asp.) unterhalb von v P angesiedelt (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017: 11-12), wo die semantischen Merkmale [+/ telisch] überprüft werden. Letzterer bildet seine eigene funktionale Projektion AspP zwischen v P und TP, in welcher die Merkmale [+/ perfektiv] überprüft werden (vgl. auch Montrul 2004: 98-99): Abb. 6: Aspektphrasen (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017: 12) <?page no="113"?> Die generativistische L2-Spracherwerbsforschung beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern auf die entsprechenden syntaktischen Merkmale in der Universalgrammatik (UG) zugegriffen werden kann (siehe auch Kapitel 4.3.3). Die Lernaufgabe im L2-Erwerb ist es demnach, die Merkmalsrepräsentation der neuen Sprache zu lernen. Für germano- oder anglophone Spanischlernende ist dies laut Abbildung 6 das Merkmal [+/ perfektiv], das mit dem perfecto simple und dem imperfecto assoziiert wird (vgl. Montrul/ Slabakova 2002: 122-124). Aufbauend auf diesen theoretischen Annahmen führen Montrul und Slabakova (2002) eine Studie mit 42 leichtfortgeschrittenen und 29 fortgeschrittenen anglophonen Spanischlernenden und einer Kontrollgruppe von 23 L1-Sprechern des Spanischen durch. Die Ergebnisse veranschaulichen, dass die Lernenden in der sentenceconjunction-judgment- Aufgabe 36 zwar in der Lage sind, zwischen perfecto simple und imperfecto mit Zuständen, accomplishments und achievements zu unterscheiden (vgl. ebd.: 133), dass beide Lernergruppen aber Probleme haben, das imperfecto mit achievements zu akzeptieren. Dies ist ein Indiz dafür, dass nicht prototypische Kombinationen schwerer erworben werden. Des Weiteren liefert diese Studie empirische Evidenz dafür, dass der Morphologie-Erwerb jenem der entsprechenden Semantik vorausgeht. Demgemäß haben diejenigen Lernenden, die im Morphologie-Test eine hohe Punktezahl erreichen, weniger Schwierigkeiten die Semantik des perfecto simple von jener des imperfecto zu unterscheiden als Lernende mit einer niedrigen Punktezahl. Obwohl sich Unterschiede zwischen den beiden Lernergruppen und der Kontrollgruppe finden lassen, interpretieren Montrul und Slabakova (2002: 141) die Ergebnisse als positive Evidenz für einen vollständigen Erwerb der entsprechenden syntaktischen Merkmale. Um diese Interpretation empirisch zu festigen, führen Slabakova und Montrul (2003) eine weitere Studie durch, in der sie sowohl die Interpretation des unpersönlichen Subjektpronomens se , das sie als poverty-of-the-stimulus -Phänomen einstufen, als auch die Verwendung von perfecto simple und imperfecto in einmaligen/ perfektiven und habituellen Kontexten fokussieren. 37 Als Probanden dienen ihnen 69 anglophone Spanischlernende (zwei Sprachniveau-Gruppen) und 18 Native Speaker des Spanischen. Die Ergebnisse zeigen, dass das perfecto simple bei leichtfortgeschrittenen Lernenden in allen außer generischen 36 Bei einer sentence-conjunction-judgment- Aufgabe handelt es sich um ein Testformat, das auf Akzeptabilitätsurteilen basiert. So müssen die Probanden beispielsweise bewerten, ob der Satz La clase era a las 10, pero empezó a las 10: 30 eine logische oder unlogische Interpretation erzeugt (vgl. Montrul/ Slabakova 2002: 130-131). 37 Das Imperfekt in Se comía bien en casa de la abuela lässt sowohl eine generische (= Leute im Allgemeinen) als auch eine spezifische (= wir) Lesart zu. Das perfecto simple in Se comió bien en casa de la abuela verlangt hingegen eine spezifische Interpretation (vgl. Slabakova/ Montrul 2003: 173-174). 114 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="114"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 115 Kontexten als erworben gelten kann; mit dem imperfecto tritt genau das Gegenteil ein. Die fortgeschrittenen Lernenden kommen im Allgemeinen auf höhere Akkuratheitswerte. Auch bei ihnen kann allerdings vor allem im Hinblick auf das imperfecto in spezifischen Kontexten nicht von einem vollständigen Erwerb gesprochen werden (vgl. ebd.: 183). Dennoch argumentieren die Autorinnen, dass diese sich die semantischen Eigenschaften der spanischen Tempora erfolgreich angeeignet haben. Dies führen sie darauf zurück, dass es einzelne Lernende gibt, bei denen durchaus von einem vollständigen Erwerb gesprochen werden kann, was darauf hindeutet, dass ein Erwerb prinzipiell möglich ist (vgl. ebd.: 187-192). Die beiden nächsten Studien widmen sich der Frage, ob die Erwerbsart einen Einfluss darauf hat, ob die Lernenden im Erwachsenenalter auf die UG zugreifen können. Diesbezüglich stellt Rothman (2008) den gesteuerten und den natürlichen Spanischerwerb gegenüber. Er vergleicht 20 Spanischlehrer, die mit explizitem Regelwissen vertraut sind, und eine Gruppe von Spanischlernenden (n=20), welche die Sprache in einem natürlichen Setting erworben haben, mit einer Kontrollgruppe von 20 Native Speakern. In beiden Sprachtests findet er signifikante Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen wie auch zwischen den Spanischlehrern und der Kontrollgruppe, aber nicht zwischen den Spanischlernenden und der Kontrollgruppe. Daraus schließt er, dass explizites Regelwissen, wenn es auf nur bedingt korrekten (Faust-)Regeln beruht und/ oder fälschlicherweise übergeneralisiert wird, in manchen Fällen einen negativen Einfluss auf den Spracherwerb haben kann, sogar dann, wenn die Lernenden ein sehr hohes Sprachniveau besitzen. Dies bezeichnet er als Competing Systems Hypothesis . Montrul und Perpiñán (2011) widmen sich einer ähnlichen Fragestellung. Sie untersuchen sechzig anglophone Spanischlerner (= gesteuerter Erwerb) und vergleichen sie mit sechzig bilingualen Herkunftssprechern des Spanischen sowie mit 23 monolingualen Native Speakern. Die Ergebnisse einer sentenceconjunction-judgment- Aufgabe zeigen hauptsächlich signifikante Unterschiede zwischen der Kontroll- und den beiden Versuchsgruppen. Die einzig signifikante Differenz zwischen den Herkunftssprechern und den Spanischlernern findet sich bezüglich der Kombination von Zuständen mit dem imperfecto , das heißt in kontinuativen Kontexten. Während sich die Herkunftssprecher den Bewertungen der L1-Gruppe annähern, tendieren die L2-Lerner dazu, das perfecto simple zu übergeneralisieren (vgl. ebd.: 109-112). Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass die Herkunftssprecher im Bereich der semantischen Unterscheidung von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Vergleich zu den Spanischlernern leichte Vorteile haben, dass aber im Morphologie-Test die L2-Lerner besser abschneiden. Letzteres erklären die Autorinnen dadurch, dass die Spanischlerner <?page no="115"?> während ihrer Schulausbildung möglicherweise vermehrt mit explizitem Regelwissen konfrontiert wurden, was ihnen im Morphologie-Erwerb hilft. Das bei den Herkunftssprechern besser ausgebildete implizite Wissen führt hingegen zu Vorteilen beim Erwerb der Semantik (vgl. ebd.: 122-125). Die Ergebnisse demonstrieren allerdings auch, dass sich beide Lernergruppen von den Muttersprachlern unterscheiden, was auf einen unvollständigen Erwerb hindeutet. Keine der bisher präsentierten Studien konnte eindeutige Beweise für einen vollständigen Erwerb der Opposition perfektiv/ imperfektiv im Spanischen finden. Dies veranlasst Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2016) dazu, 71 germanophone Spanischlernende mit einem Sprachniveau von B1 bis C1/ C2 hinsichtlich dieser Fragestellung zu untersuchen und sie mit einer Kontrollgruppe von 16 Native Speakern des Spanischen zu vergleichen. An erster Stelle zeigen die Ergebnisse eines Lückentextes, dass das perfecto compuesto kaum übergeneralisiert wird, was Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2016: 187) auf ein Ausbleiben von L1-Transfer zurückführen. Darüber hinaus tendieren die Lernenden vor allem im Anfangsstadium des L2-Erwerbs dazu, das perfecto simple sowohl mit telischen als auch mit atelischen Prädikaten zu übergeneralisieren, was als Indiz für die Default Past Tense Hypothesis gewertet werden kann. An zweiter Stelle veranschaulichen die Resultate, die auf Grammatikalitätsurteilen basieren, dass alle drei Lernergruppen zwischen habituellen und punktuellen Ereignissen unterscheiden können und dafür die entsprechende Verbalmorphologie benutzen. Signifikante Unterschiede zwischen den Lernern und der Kontrollgruppe finden sich nur (1) im Hinblick auf Sätze mit einem spezifischen Subjekt und einer perfektiven Verbform (z. B. Ayer probamos un nuevo bar. Se comió muy bien allí ) und (2) in coercion -Kontexten (z. B. Re-Interpretation des statischen Verbs conocer in Nos conocimos en un viaje a Portugal ). Aufgrund dieser Unterschiede argumentieren die Autoren, dass ein vollständiger Erwerb (v. a. von uninterpretierbaren syntaktischen Merkmalen) nicht möglich ist (vgl. ebd.: 192). Für die Unterscheidung zwischen einmaligen/ perfektiven und habituellen Ereignissen kann ein mangelnder UG-Zugriff durch die Verwendung von auf allgemeinen Lernprozessen beruhenden Lernstrategien kompensiert werden. In coercion - Kontexten hingegen ist der Rückgriff auf solche expliziten Lernstrategien nicht ausreichend und Erwerbsschwierigkeiten sind die Folge. Laut den Autoren stellt die Orientierung an lexikalischen Mitteln eine derartige kompensierende Lernstrategie dar. Beispielsweise orientieren sich die deutschsprachigen L2-Lerner des Spanischen an sogenannten Signalwörtern (z. B. Adverbien wie ayer ). Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Deutsche keine grammatikalisierte morphologische Realisierung aspektueller Unterschiede kennt und deshalb auf lexikalische Mittel zurückgreift, um die entsprechenden Semantiken auszudrücken. Diese Orientierung an Signalwörtern ist allerdings - so die Autoren weiter - 116 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="116"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 117 nur eine mögliche kompensierende Lernstrategie: Auch die Lexical Aspect Hypothesis und die Default Past Tense Hypothesis sind nichts anderes als solche auf allgemeinen Lernprozessen beruhende Lernstrategien, die eingesetzt werden, wenn ein Zugriff auf die UG nicht möglich ist (vgl. ebd.: 193). Auch wenn Salaberry nicht dem generativen Framework zugeordnet werden kann, soll seine Studie an dieser Stelle diskutiert werden, weil sie sich ebenfalls mit der Frage des vollständigen Erwerbs befasst. Salaberry (2013) untersucht die Unterscheidung zwischen Habitualität und Iterativität (siehe Kapitel 2.1.2) und stellt die Hypothese auf, dass nur L1-Sprecher des Spanischen das perfecto simple für iterative Handlungen verwenden. Da beide Semantiken eine gewisse Wiederholung ausdrücken, greifen L2-Lerner auf die ihnen für den Ausdruck einer solchen Bedeutung geläufige imperfektive Verbform zurück. Salaberry überprüft diese Annahme anhand von zwanzig sehr fortgeschrittenen anglophonen L2-Lernern des Spanischen und einer 22-köpfigen Kontrollgruppe von Native Speakern. Während sich die beiden Gruppen bezüglich des allgemeinen Aspektwissens 38 nicht unterscheiden, findet Salaberry (2013: 258-260) signifikante Unterschiede hinsichtlich der Semantiken der Habitualität und Iterativität: (1) In habituellen Kontexten tendieren die L2-Lerner im Vergleich zu den Muttersprachlern dazu, das perfecto simple zu übergeneralisieren, wohingegen das imperfecto von beiden Gruppen gleichermaßen angenommen wird. (2) In iterativen Kontexten akzeptieren die natives das perfecto simple eher als die L2- Lerner; bezüglich der Verwendung des imperfecto neigen letztere zur Übergeneralisierung. Diese Differenzen sind ein weiteres Indiz dafür, dass aspektuelle Unterscheidungen nicht vollständig erworben werden können und dies, obwohl laut Salaberry (2013: 260-261) die L1 der Probanden (Englisch) eine ähnliche Unterscheidung kennt. Dass ein positiver L1-Transfer nicht stattgefunden hat, führt der Autor darauf zurück, dass keine Eins-zu-eins-Verbindung von Form und Bedeutung zwischen dem Englischen und dem Spanischen besteht. Demnach ist der Transfer problematisch, weil die morphosyntaktischen Mittel der beiden Sprachen unterschiedlich sind: [T]he concept of iterated eventualities in the L1 is not guaranteed to transfer to the L2, not because the concept itself is problematic, but rather because the morphosyntactic means do not match up (ebd.: 261). Salaberry bringt die Ergebnisse in Einklang mit der Default Past Tense Hypothesis : Die Lernenden interpretieren das perfecto simple als Standardvergangen- 38 In der vorliegenden Studie wird unter Aspektwissen explizites/ implizites Wissen verstanden, das es Sprechern oder Lernenden einer Sprache ermöglicht, aspektuelle Unterscheidungen zu treffen. <?page no="117"?> heitsmarker. Das imperfecto hingegen tritt in spezifischen Kontexten auf und markiert aspektuelle Konzepte (z. B. Habitualität und Progressivität). Die inkorrekte Übergeneralisierung des imperfecto demonstriert daher, dass die Lernenden auch in einem sehr fortgeschrittenen Stadium des L2-Spanischerwerbs das Imperfekt als Aspekt- und das perfecto simple als Tempus-Marker interpretieren. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit - so der Autor - ist ein Bias, der auf den Unterricht zurückzuführen ist. Da das Imperfekt im gesteuerten Spanischunterricht typischerweise als Form für Habitualität eingeführt wird und normalerweise nicht zwischen Iterativität und Habitualität unterschieden wird, kann dies zu der in den Ergebnissen gefundenen Übergeneralisierung auf alle sich wiederholenden Ereignisse in der Vergangenheit führen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass keine der in diesem Kapitel präsentierten Studien ausreichend empirische Evidenz für einen vollständigen Erwerb der Unterscheidung perfektiv/ imperfektiv liefert. Sie zeigen zwar, dass ein Erwerb in Standardkontexten möglich ist (z. B. einmalige vs. habituelle Ereignisse), dass die Lernenden aber in Nicht-Standardkontexten Schwierigkeiten haben (z. B. Iterativität vs. Habitualität, coercion -Kontexte). 5.1.4 Kognitive Ansätze: Frequenz, Salienz und Prototypikalität Kognitive Ansätze führen den Spracherwerb auf allgemeine kognitive Lernprozesse zurück, welche wiederum von der Frequenz, Salienz, Redundanz und Prototypikalität eines Reizes bzw. einer Sprachstruktur beeinflusst werden (vgl. z. B. Ellis 2013; siehe Kapitel 3.1). Comajoan (2014: 243-244) stellt für diesen Forschungsbereich fest, dass es bisher kaum Studien gibt, die sich mit dem Tempus-/ Aspekt-L2-Erwerb des Spanischen beschäftigt haben. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel auf Forschungsbeiträge eingegangen, die sich dem Erwerb unterschiedlicher Zielsprachen gewidmet haben. Wulff, Ellis, Römer, Bardovi-Harlig und Leblanc (2009) fokussieren beispielsweise das Englische und untersuchen, inwiefern die Input-Frequenz den L2- Erwerb einer sprachlichen Konstruktion beeinflusst. Diesbezüglich analysieren die Autoren zwei englischsprachige L1-Korpora und stellten fest, dass das simple past und das present perfect vermehrt mit telischen und die progressive -Form vor allem mit aktivischen Verben auftritt (vgl. ebd.: 362). Auf diesen Ergebnissen aufbauend wurden 20 Native Speaker des Englischen aufgefordert, 86 Verben bezüglich ihrer (A-)Telizität zu bewerten. Diese Bewertungen korrelieren mit den Korpusanalysen: Verben, die in den L1-Korpora häufig mit dem simple past auftreten, werden auch von den natives signifikant telischer bewertet als Verben, die im Korpus häufig mit der progressive -Form erscheinen. Derartige Korrelationen finden sich darüber hinaus mit einem L2-Lerner-Korpus (vgl. 118 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="118"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 119 Bardovi-Harlig 1998), welches sich aus Daten von 37 Englischlernenden zusammensetzt. Darauf aufbauend argumentieren die Autoren, dass L2-Lernende von der Input-Frequenz beeinflusst werden. Dementsprechend lernen sie die progressive -Form zuerst mit atelische und das simple past zuerst mit telischen Verben, da diese Kombinationen im Input sehr frequent sind (vgl. ebd.: 366). Diese Erkenntnis, dass der Input eine natürliche Tendenz zu prototypischen Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt aufweist und die Entwicklung der Lernersprache im L2-Erwerb davon beeinflusst wird, wird auch als Verteilungs-Bias bezeichnet (en. distributional bias hypothesis ; vgl. Andersen/ Shirai 1994: 137-141). Obwohl derartige den Einfluss des Inputs fokussierende Untersuchungen Aufschluss über die Entwicklung in einer L2 geben können, sind sie bisher äußerst rar. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Studie von Daidone (2019) dar. Sie untersucht die Input-Verteilung von perfecto simple - und imperfecto -Formen im Fremdsprachenunterricht des Spanischen. Dazu analysiert die Autorin 24 Unterrichtseinheiten à 50 Minuten und vergleicht die Ergebnisse mit zwei mündlichen Sprachproduktionskorpora von spanischen Native Speakern. Sie stellt fest, dass im Unterrichtskorpus im Unterschied zu den L1-Korpora hauptsächlich perfecto simple -Formen und nicht das imperfecto verwendet werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass telische Prädikate häufig mit perfektiver Morphologie und statische Prädikate mit imperfektiver Morphologie assoziiert werden (vgl. ebd. 55). Derartige prototypische Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt sind nicht nur im mündlichen Input äußerst frequent, sondern auch in schriftlichen Input-Quellen, wie beispielsweise in Spanisch- Lehrwerken (vgl. Eibensteiner 2017: 209-210). Im Einklang mit der oben kurz angesprochenen distributional bias hypothesis gehen gebrauchsbasierte Ansätze des Spracherwerbs davon aus, dass sich Lernende an solchen frequenten und prototypischen Form-Bedeutungs-Paaren orientieren (siehe auch Kapitel 3.1): A frequency-based approach argues that frequency/ prototypicality effects are there from the very get-go, because they determine the sample of language which a learner is likely to experience. […] [V]ery high frequency [exemplars] […] are the ones a learner is going to experience first, and these are the ones that therefore seed the system. If […] the high frequency forms in a construction are also prototypical in meaning, then these are the ones a learner will sample (Ellis 2013: 101). Die Input-Analyse von Daidone (2019) demonstriert, dass perfecto simple - Formen in Unterrichtskontexten wesentlich frequenter auftreten als das imperfecto . Diese Erkenntnis kann erklären, warum Lernende die perfektive Form als Standardvergangenheitsmarker zuerst in ihre Lernersprache integrieren und liefert somit eine Erklärung für die Default Past Tense Hypothesis . Darüber <?page no="119"?> hinaus ist die beobachtete Orientierung an frequenten und prototypischen Musterbeispielen ein möglicher Erklärungsansatz für die Lexical Aspect Hypothesis , der zufolge nicht prototypische Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt schwerer zu erwerben sind als prototypische (für beide Hypothesen siehe Kapitel 5.1.1). Diesbezüglich zeigen neuere Studien, dass prototypische Kombinationen mit steigendem Sprachniveau zunehmen und dass sie bei L1-Sprechern sogar am stärksten ausgeprägt sind (vgl. McManus 2011; Salaberry 2011; Toth 2019). Lernende nähern sich also der Input-Verteilung von L1-Sprechern im Laufe des L2-Erwerbs an. Diese Orientierung der Lernenden an semantischen Prototypen führt Andersen (1993: 327-333) auf vier Prinzipien zurück: das Relevanz-, das Kongruenz-, das Eins-zu-eins- und das subset -Prinzip. Ersteres besagt, dass das relevanteste Morphem als erstes erworben wird. Je wichtiger ein Morphem für die Verbbedeutung ist, desto näher befindet es sich beim Verbstamm (vgl. Bybee 1985). Darauf aufbauend argumentiert Andersen (1993: 328), dass der lexikalische Aspekt relevanter ist als beispielsweise Tempus-Morpheme, weil er dem Verb inhärent ist. Laut Andersen führt dies dazu, dass sich die Lernenden bei der Wahl des Morphems am inhärenten semantischen Gehalt des Verbs orientieren (= Lexical Aspect Hypothesis ). Das Kongruenz-Prinzip (en. congruence principle ) behauptet zudem, dass Lernende jenes grammatikalische Morphem an den Verbstamm anhängen, das mit der inhärenten Semantik des lexikalischen Items kongruent ist. Lernende bevorzugen also semantische Kongruenz (= prototypische Kombinationen) vor semantischer Dissonanz (= nicht prototypische Kombinationen). Laut dem Eins-zu-eins-Prinzip (en. one-to-one principle ) nehmen Lernende in den Anfangsstadien des L2-Erwerbs zudem an, dass jedes Morphem nur eine einzige Bedeutung hat. Außerdem würden sie sich gemäß dem subset -Prinzip zuerst an der grundlegendsten Bedeutung eines Morphems orientieren und somit anfänglich lediglich ein Subset der vollständigen Semantik in ihre Lernersprache integrieren: [L]earners will assign a more conservative form: meaning relation to a morpheme or syntactic structure than fully proficient native adults in such a way that the learner’s form-meaning relation is a logical subset of the proficient adult’s form-meaning relation (Andersen 1993: 329). Beispielsweise kann die anfängliche Verwendung des perfecto simple mit telischen Verben als Subset im Vergleich zu Native Speakern gesehen werden, welche diese Form mit allen lexikalischen Aspektklassen verwenden (vgl. ebd.). Neben der Frequenz und der Prototypikalität haben auch die Salienz und die Redundanz einer Form einen Einfluss auf die Integration in die Lernersprache. Je salienter eine Form ist, desto leichter wird sie wahrgenommen und folglich gelernt (vgl. Ellis 2013: 95-96). Darauf aufbauend argumentieren beispielsweise Sagarra 120 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="120"?> 5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen 121 und Ellis (2013: 263), dass Adverbien salienter sind als die Verbalmorphologie und deshalb leichter gelernt werden. Dazu kommt, dass temporale Adverbien ausreichen, um die Situation auf der Zeitachse zu lokalisieren. Dies macht - so die Autoren weiter - die Verbalmorphologie bis zu einem gewissen Grad redundant. Diese niedrige Salienz und die damit einhergehende häufig wahrgenommene Redundanz können erklären, warum in den beobachteten L2-Erwerbssequenzen erst nach einer Stufe der lexikalischen Ausdrucksweise morphologische Mittel zum Ausdruck von Aspektualität verwendet werden. Darüber hinaus liefern sie eine gute Erklärung für die beobachtete Orientierung der Lernenden an sogenannten Signalwörtern (vgl. z. B. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016). 5.1.5 Zwischenfazit: Interaktion diverser Variablen Die kritische Diskussion der Forschungsliteratur hat veranschaulicht, dass Tempus- und Aspektmorphologie in einer systematischen Erwerbsreihenfolge auftritt (siehe Tabelle 10). Im Allgemeinen drücken Lernende Temporalität bzw. Aspektualität zuerst mithilfe pragmatischer Mittel aus, bis sie anschließend auf lexikalische Ausdrucksweisen und schließlich auf morphologische Mittel zurückgreifen (vgl. Comajoan 2014 für eine Überblick). Zahlreiche Studien veranschaulichen, dass in dieser Stufe der morphologischen Markierung (1) das perfecto simple vor dem imperfecto auftritt und (2) es schon in den Anfangsstadien mit allen lexikalischen Aspektklassen verwendet wird. In der ersten Phase dieser Stufe markieren die Lernenden temporale Unterschiede und werden nur bedingt von lexikalischem Aspekt beeinflusst ( Default Past Tense Hypothesis ; siehe Kapitel 5.1.1). Erst mit dem Auftreten des imperfecto wird der Einfluss der Verbsemantik größer und die von der LAH vorhergesagte Streuung scheint auf das imperfecto zuzutreffen: Es tritt zuerst mit Zuständen auf, bevor es dann auch mit dynamischen und telischen Prädikaten kombiniert wird (siehe Abbildung 5). Der Einfluss von lexikalischem Aspekt nimmt mit steigendem Sprachniveau insofern zu, als prototypische Verbindungen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt frequenter werden und bei Muttersprachlern am häufigsten anzutreffen sind (siehe Kapitel 5.1.4). In einer letzten Phase besteht die Lernaufgabe vor allem darin, Diskursmerkmale in die Lernersprache zu integrieren. Lernende folgen zwar durchaus den Vorhersagen der Diskurshypothese (siehe Kapitel 5.1.2), unterscheiden sich bezüglich der Berücksichtigung diskursiver Merkmale aber deutlich von den Muttersprachlern (vgl. Salaberry 2011). Ein derartiger Unterschied trifft ebenfalls auf sogenannte coercion - und poverty-ofthe-stimulus -Kontexte zu, die vor allem in der generativistischen Zweitspracherwerbsforschung untersucht werden. Allerdings zeigen die diskutierten Studien im Hinblick auf den vollständigen Erwerb kein einheitliches Bild: Während <?page no="121"?> einige Autoren für einen vermeintlich vollständigen Erwerb der entsprechenden syntaktischen Merkmale eintreten (vgl. Montrul/ Slabakova 2002; Slabakova/ Montrul 2003), wird ein solcher von anderen Forschern abgelehnt (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016; Montrul/ Perpiñán 2011; Salaberry 2013). Die Frage, inwiefern sich die Lernenden einem muttersprachlichen Niveau annähern, kann dementsprechend zum heutigen Stand der Forschung noch nicht befriedigend beantwortet werden. Sowohl die Default Past Tense Hypothesis als auch die Studien von Diaubalick/ Guijarro-Fuentes (2016) und Salaberry (2013) verweisen darauf, dass die Lernenden von ihrer L1 beeinflusst werden. Inwiefern sprachliches Vorwissen Auswirkungen auf den Erwerb von Aspekt in einer Zweit- oder Drittsprache hat, wird im nächsten Kapitel näher untersucht. 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 5.2.1 L1-Transfer in Studien zum Zweitspracherwerb Bevor im nächsten Kapitel die wenigen Untersuchungen besprochen werden, die sich explizit dem Drittspracherwerb von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen widmen, wird im Folgenden auf Zweitspracherwerbsstudien eingegangen, die sich mit dem Einfluss aus einer Erstsprache beschäftigen. Wie in Kapitel 4 bereits besprochen, kann Transfer auf unterschiedliche Repräsentationssysteme zurückgeführt werden (vgl. Jarvis 2015: 609-610). Er kann beispielsweise die Konsequenz von unterschiedlichen mentalen Konzepten sein (z. B. Conceptual Transfer Hypothesis ). Dies würde bedeuten, dass deutsche und spanische L1- Sprecher tatsächlich unterschiedliche aspektuelle Konzepte besitzen. Wenn sie über eine Handlung im Verlauf sprechen, hätte dies als Konsequenz, dass sie tatsächlich andere Dinge meinen und die Welt gewissermaßen mit anderen Augen sehen. Im Bereich der kognitiven Linguistik gibt es zahlreiche Studien, deren empirische Evidenz für eine solche Position spricht. So fokussieren beispielsweise Sprecher einer Sprache mit grammatikalischem Aspekt eher eine Sub- Phase einer Handlung im Verlauf, wohingegen Sprecher einer Nicht-Aspektsprache dazu neigen, den Vorgang holistisch zu betrachten und den Endpunkt desselben zu fokussieren (vgl. Bylund/ Athanasopoulos 2015: 4; von Stutterheim et al. 2013: 80). Diese L1-Präferenzen im Hinblick auf die Endpunkt-Enkodierung scheinen von der L1 in die L2 transferiert zu werden (vgl. von Stutterheim et al. 2013: 81). Eine Umstrukturierung in Richtung der L2-Konzeptualisierung ist möglich, hängt aber von Faktoren wie dem Sprachniveau in der L2, der Häufigkeit der L2-Verwendung oder dem Start des L2-Erwerbs ab (vgl. Athanasopoulos et al. 2015: 139; Bylund/ Athanasopoulos 2014: 969-977). 122 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="122"?> 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 123 Die genuin linguistischen Ansätze fokussieren weniger die Konzepte an sich bzw. die Phase der Konzeptualisierung im Sprachproduktionsprozess, sondern interessieren sich dafür, inwiefern unterschiedliche Form-Bedeutungs-Assoziationen zu Transfer führen (semantischer Transfer) bzw. inwieweit obligatorisch realisierte Sprachstrukturen einen Einfluss auf die L2 haben (linguistischer Transfer) (vgl. Jarvis 2015: 609). Im Falle eines semantischen Transfers hätten L1-Sprecher des Deutschen, Englischen und Spanischen dasselbe mentale Konzept einer Handlung im Verlauf, würden aber unterschiedliche Form-Bedeutungs-Paare verwenden, um dieses auszudrücken. Während L1-Sprecher des Deutschen auf lexikalische und pragmatische Mittel angewiesen sind (z. B. die Verwendung von Adverbien wie gerade ), müssen englisch- und spanischsprachige Menschen auf grammatikalische Ausdrucksweisen zurückgreifen (z. B. progressive -Form und imperfecto/ estar + gerundio ). Es wird nun davon ausgegangen, dass die Form-Bedeutungs-Paare der L1 in die L2 transferiert werden und so auf den L2-Erwerb einwirken. Dementsprechend werden beispielsweise germanophone Spanischlernende stärker von temporalen Adverbien beeinflusst als romanischsprachige (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017, 2019); anglophone verwenden einen Standardvergangenheitsmarker (en. default past tense marker ; vgl. Salaberry 2000, 2008; siehe Kapitel 5.1.1) und frankophone übergeneralisieren das perfecto compuesto (vgl. Amenós Pons 2016). Es gibt zahlreiche Studien, die den L1-Einfluss als mögliche Erklärung für ihre Ergebnisse heranziehen (vgl. z. B. Amenós Pons 2016; Amenós Pons et al. 2017; Collins 2002; Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016; Domínguez et al. 2017; González/ Diaubalick 2019, 2020; Salaberry 2000, 2008, 2013). Lange Zeit waren allerdings nur sehr wenige Untersuchungen vorhanden, die ihn als unabhängige Variable systematisch analysiert haben (vgl. Collins 2004; Izquierdo/ Collins 2008). Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren hat sich ein regelrechter Boom entwickelt, der mit einer Fülle an wissenschaftlichen Publikationen einhergegangen ist (vgl. z. B. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017, 2019; Helland Gujord 2013; McManus 2011, 2015). Im Folgenden werden ausgewählte Beispielsstudien beschrieben und diskutiert. An erster Stelle ist die Studie von Collins (2004) zu nennen. Sie untersucht, ob unterschiedliche Erstsprachen einen Einfluss auf den L2-Erwerb des Englischen haben. Dazu analysiert sie die Ergebnisse eines Lückentextes, der von 91 frankophonen und 120 japanischsprachigen Englischlernern ausgefüllt wurde. Es zeigt sich, dass die frankophonen Lernenden das englische Perfekt mit achievements stärker übergeneralisieren als die japanischsprachigen Probanden und somit in dieser Kategorie schlechter abschneiden (vgl. ebd.: 260-261). Dies führt sie auf einen negativen L1-Transfer des französischen passé composé zurück und erklärt <?page no="123"?> dies damit, dass das Japanische im Unterschied zum Französischen kein zusammengesetztes Perfekt besitzt, das fälschlicherweise transferiert werden könnte. In einer weiteren Studie mit einer ähnlichen Fragestellung widmen sich Izquierdo und Collins (2008) dem L1-Einfluss bei 17 hispano- und 15 anglophonen Französischlernern. Eine Frequenzanalyse stellt bezüglich der in einem Lückentext verwendeten Verbformen signifikante Unterschiede fest: Während die anglophonen Französischlernenden perfektive Morphologie mit telischen Prädikaten signifikant häufiger produzieren als die hispanophonen, gebrauchen letztere imperfektive Morphologie mit achievements öfter als die anglophonen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die englischsprachigen Lernenden das passé composé mit achievements akkurater anwenden als die hispanophonen, dass letztere hingegen Vorteile mit imperfektiver Morphologie haben (v. a. mit statischen Prädikaten; vgl. ebd.: 356-360). Die Hispanophonen werden außerdem weniger von lexikalischem Aspekt beeinflusst, was Izquiero und Collins (2008: 363) auf einen positiven Effekt der L1 zurückführen. Die Untersuchung von McManus (2011, 2015) ist von besonderem Interesse, weil sie sich ähnlich wie die vorliegende Arbeit mit deutschsprachigen Lernenden befasst. Der Autor vergleicht 38 anglo- und 37 germanophone Französischlernende mit einer zehnköpfigen französischsprachigen Kontrollgruppe. Die Ergebnisse der mündlichen Nacherzählungen zweier Bildgeschichten demonstrieren, dass die deutschsprachigen Probanden mit niedrigem Sprachniveau das passé composé in perfektiven Kontexten häufiger benutzen als die anglophonen, wohingegen sie das imparfait in habituellen Kontexte weniger verwenden. Die damit einhergehende verhältnismäßig adäquate Verwendung des imparfait seitens der anglophonen Lernenden führt McManus (2015: 69) darauf zurück, dass diese aufgrund der grammatikalisierten aspektuellen Opposition in ihrer L1 eher auf aspektuelle Unterscheidungen achten und diese somit schneller in ihre L2 integrieren können. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen nimmt aber mit steigendem Sprachniveau in der L2 ab, was bedeutet, dass auch deutschsprachige Lernende die aspektuelle Nuance der Habitualität lernen können. Auch Roberts und Liszka (2013) argumentieren, dass L1-Sprecher einer Aspekt-Sprache sensibler für aspektuelle Unterscheidungen in einer L2 sind. In ihrer Studie vergleichen sie 20 frankophone mit 20 germanophonen Lernenden des Englischen und stellen fest, dass erstere länger benötigen, um ungrammatikalische Sätze im simple past und im present perfect zu verarbeiten. Diese höheren Verarbeitungskosten führen sie darauf zurück, dass frankophone Lernende sensibler für aspektuelle Unterscheidungen sind als L1-Sprecher einer Nicht- Aspektsprache und daher mehr Zeit benötigen, Tempus-/ Aspekt-Verletzungen im Satz zu verarbeiten. Die L1 hat somit einen Einfluss auf die Verarbeitung von Tempus- und Aspektphänomenen in einer L2. 124 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="124"?> 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 125 Die bisher diskutierten Studien hatten das Französische oder das Englische als Zielsprache. Die präsentierten Ergebnisse sind interessant, da sie zeigen, dass Lernende, deren L1 über eine grammatikalisierte aspektuelle Opposition verfügt, Vorteile im L2-Erwerb haben. Im Folgenden wird das Spanische als Zielsprache in den Fokus genommen und es wird veranschaulicht, dass auch hier L1-Transfer einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Lernersprache hat. So untersucht Amenós Pons (2016) 33 frankophone Spanischlernende, die eine zielsprachliche Kompetenz zwischen A2 und C1 besitzen (siehe auch Studie von Amenós Pons et al. 2017 in Kapitel 5.1.2). Auf der einen Seite zeigen die Ergebnisse einer mündlichen Film-Nacherzählung eine starke Übergeneralisierung des perfecto compuesto vor allem in den Anfangsstadien des Spracherwerbs. Das perfecto simple ist im Niveau A2 nahezu nicht existent, tritt ab B1 mit dem perfecto compuesto in Konkurrenz, bis es dann ab B2 die Rolle des primären Erzähltempus übernimmt. Auf der anderen Seite wird das imperfecto im A2-Level kaum produziert. In den Niveaus B1 und B2 beginnt es, sich langsam in die Lernersprache zu integrieren und wird ab C1 mit muttersprachlicher Frequenz verwendet. Amenós Pons (2016: 151-153) führt die anfängliche Übergeneralisierung des perfecto compuesto auf einen L1-Transfer aus dem Französischen zurück und interpretiert seine Ergebnisse im Rahmen von Salaberrys Default Past Tense Hypothesis , allerdings mit der Ergänzung, dass in seinen Daten nicht ein Tempus, sondern zwei Tempora als Standardform verwendet werden. Dies ist auf den L1-Einfluss des Französischen zurückzuführen, da in dieser Sprache sowohl das passé simple als auch das passé composé zur Beschreibung von vergangenen, perfektiven Situationen verwendet werden kann. Diese Interpretation wird in einer neueren Studie von Amenós Pons, Ahern und Guijarro-Fuentes (2019) relativiert, da sich eine solche Übergeneralisierung des perfecto compuesto auch bei Lernenden mit Portugiesisch als L1 findet. In diesem Fall kann der Einfluss allerdings nicht auf die L1 zurückgeführt werden, weil das portugiesische pretérito perfeito simples sowohl die Funktion des Perfekts als auch jene des Perfektivums ausdrückt und es sich eben um keine zusammengesetzte Form handelt (vgl. ebd. 196). Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2017) widmen sich der Frage, inwiefern deutsch- (n=61) und romanischsprachige Spanischlernende (n=70) von ihren Erstsprachen beeinflusst werden. Sie vergleichen die unterschiedlichen Lernergruppen mit einer Kontrollgruppe von zwanzig Native Speakern des Spanischen. 39 Die auf Grammatikalitätsurteilen basierenden Ergebnisse veranschaulichen, dass sich die Versuchsgruppen und die Kontrollgruppe in 39 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass alle Probanden angeben, Englischkenntnisse zu besitzen, diese allerdings in der Studie keine weitere Berücksichtigung finden. <?page no="125"?> coercion -Kontexten 40 und mit irreführenden Signalwörtern 41 signifikant unterscheiden: Die romanischsprachigen Lernenden können das aspektuelle Wissen ihrer L1 transferieren und nähern sich somit den Urteilen der muttersprachlichen Kontrollgruppe stärker an als die deutschsprachigen. Da das Deutsche Aspektualität mithilfe lexikalischer Mittel ausdrückt, greifen germanophone Lernende auch in ihrer L2 Spanisch vermehrt auf lexikalische Ausdrucksweisen zurück und orientieren sich an sogenannten Signalwörtern. Dieser negative L1- Effekt ist sozusagen auf die Merkmalsrepräsentation in der L1 zurückzuführen (vgl. auch Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2019). Darüber hinaus erwähnen die Autoren, dass er außerdem auf mögliche Restriktionen bezüglich der Kombinierbarkeit von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt zurückgeführt werden kann. So kann beispielsweise die Unmöglichkeit des Englischen, statische Prädikate mit der progressive -Form zu kombinieren (vgl. ebd.: 36), zu einer Übergeneralisierung des simple past mit Zuständen führen. Im Wesentlichen zeigen die in diesem Kapitel diskutierten Studien, dass die Lernenden beim Erwerb einer L2 von ihrer L1 beeinflusst werden. Ein solcher Effekt findet sich in den Anfangsstadien des L2-Erwerbs sogar in prototypischen Standardkontexten (vgl. Amenós Pons 2016; McManus 2011, 2015; Salaberry 2000). Er kann allerdings durchaus bis in späte Stadien des Spracherwerbs fortwirken (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017, 2019; Salaberry 2013), vor allem dann, wenn es sich um nicht prototypische und wenig frequente Kontexte handelt, die mithilfe von expliziten Lernmechanismen nicht erworben werden können. Bei der Diskussion dieser Studien hat sich aber auch gezeigt, dass vermeintlich vorhandene Vorkenntnisse in den Zweitsprachen der Probanden ignoriert werden, obwohl zahlreiche Untersuchungen im Bereich der Transferforschung einen solchen Einfluss empirisch bestätigen. Beispielsweise ignorieren McManus (2011, 2015) sowie Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2017, 2019), dass ihre germanophonen Probanden über Englischkenntnisse verfügen und das Spanische eigentlich als Drittsprache behandelt hätte werden müssen. Ähnliches trifft vermutlich auf die hispanophonen Lernenden in den Untersuchungen von Amenós Pons (2016) und Izquierdo/ Collins (2008) zu. Im nächsten Kapitel werden jene Studien diskutiert, die das Spanische als L3 untersuchen und den Einfluss der L1 wie auch der L2 berücksichtigen. 40 Bei coercion -Kontexten handelt es sich auch in dieser Studie um statische Verben, deren semantischer Wert sich durch die Verwendung von perfektiver Morphologie ändert (z. B. Conocí a mi mujer en 1970 vs. Conocía la ciudad desde mi último viaje ). 41 Dabei beziehen sich die Autoren auf Adverbien, die im Unterricht als Signalwort für eine bestimmte Verbform gelernt werden (z. B. ayer als Auslöser für das perfecto simple ). 126 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="126"?> 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 127 5.2.2 L1-/ L2-Transfer in Studien zum Drittspracherwerb Aus dem Studienüberblick im letzten Kapitel wurde ersichtlich, dass vermeintliche Drittsprachen als Zweitsprachen behandelt und entsprechende L2-Kenntnisse weitgehend ignoriert werden. Diese Praxis kann beispielsweise durch den Verweis auf Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2017) veranschaulicht werden. Die Autoren erwähnen zwar, dass ihre Probanden über Englischkenntnisse verfügen und dass dies möglicherweise einen Einfluss auf die Ergebnisse gehabt hat, analysieren diesen Einflussfaktor aber nicht weiter (vgl. auch Diaubalick 2019: 337-338). Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Transfermodelle auf die zentrale Rolle der L2 im Drittspracherwerb hinweisen (z. B. L2-Status-Faktor- Modell), muss dieser Umstand kritisiert werden. Die Studie von Diaubalick und Guijarro-Fuentes (2017) stellt allerdings keinen Einzelfall dar, sondern ist vielmehr ein charakteristisches Beispiel für eine weitverbreitete Praxis von „L2“- Studien, die sich unter anderem auch bei Comajoan (2006: 218; Hervorhebung durch den Verfasser) findet: The investigation of multilingual versus L2 acquisition is beyond the scope of this study , but it must be acknowledged that the three participants were multilingual learners at the beginning stages of learning Catalan and that factors named by Hammarberg (2001) for multilingual acquisition must have had an impact on the three learners . All three had a good command of French and Spanish […]. Thus, it would be expected that their knowledge of French and Spanish influenced their acquisition of Catalan . Obwohl sich Comajoan bewusst ist, dass Vorkenntnisse in typologisch nahen Sprachen einen Einfluss auf seine Ergebnisse gehabt haben müssen , beachtet er diese Faktoren nicht weiter. Es macht daher Sinn, seine Untersuchung zu reanalysieren. Er führt eine siebenmonatige Longitudinalstudie mit drei anglophonen Lernenden des Katalanischen durch, die alle über Vorkenntnisse im Spanischen und Französischen verfügen. Zwei der Lernenden haben sogar noch weitere Sprachkenntnisse im Rumänischen, Italienischen, Koreanischen oder Deutschen. Tabelle 11 stellt die Ergebnisse einer Frequenzanalyse der mittels unterschiedlicher Aufgabenformate elizitierten mündlichen Sprachdaten dar. Das einzige Tempus, das zum Zeitpunkt der Erhebung im ersten Semester explizit gelehrt wurde, war das Präsens (vgl. ebd.: 215). Nichtsdestoweniger findet sich bei zwei der drei Probanden eine systematische Verwendung des imperfet (= Imp.) und des passat perifràstic (= Pret.): 42 42 Im Unterschied zum Spanischen wird im Katalanischen primär eine periphrastische Form verwendet, um perfektiven Aspekt auszudrücken. Diese wird durch die Konjugation von anar (‚gehen‘) im Präsens plus Infinitiv gebildet. <?page no="127"?> Zustände Aktivitäten accomplishments achievements Pret. Imp. Pret. Imp. Pret. Imp. Pret. Imp. Daniel 0 1 0 2 0 0 2 0 Barbara 10 9 4 6 11 0 18 2 Robert 4 11 5 2 25 10 31 1 Tab. 11: Frequenzen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt im ersten Semester in Comajoans (2006: 230) Studie Es soll noch einmal betont werden, dass sich die in Tabelle 11 dargestellte Verwendung der Vergangenheitsmorphologie in einer Erwerbsstufe wiederfindet, in welcher die Lernenden noch keinen expliziten Unterricht bezüglich der beiden Tempusformen erhalten haben. Sie müssen also sowohl Form als auch Funktion aus dem Katalanisch-Input des ersten Semesters erschlossen und in ihre Lernersprache integriert haben. Da die Probanden einer Erwerbssequenz folgen, die jener von Lernenden ohne sprachlichen Vorkenntnissen gleicht, ist laut Comjoan nicht klar, ob sie auf ihr sprachliches Vorwissen zurückgegriffen oder ob sie die Opposition von perfektiv/ imperfektiv im Katalanischen neu gelernt haben (Comajoan 2006: 245; Hervorhebung durch den Verfasser): The data from the study raise the question whether these learners were simply figuring out how to inflect morphology in Catalan and were applying the rules of use of perfective and imperfect morphology from Spanish-French, or whether they were relearning how to use perfective-imperfective forms in Catalan . The fact that the three learners knew languages with perfective and imperfective morphology must have facilitated their rate of acquisition of preterite and imperfect Catalan forms and their use, but the evidence presented here suggests that the route of acquisition was similar to that of other beginning learners […]. Dieses Zitat zeigt, dass Comajoan den positiven L2-Einfluss nicht negiert. Man hat allerdings das Gefühl, dass er ihm nicht den nötigen Stellenwert beimisst, und das obwohl theoretische Annahmen aus der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung (siehe Kapitel 3) als auch aus der Transferforschung (siehe Kapitel 4) darauf schließen lassen, dass die sprachlichen Vorkenntnisse in einer romanischen Sprache den Erwerb des katalanischen Vergangenheitssystems positiv beeinflusst haben sollten. Dass die Lernenden einer ähnlichen Erwerbssequenz folgen und entsprechend von lexikalischem Aspekt beeinflusst werden, steht nicht in Kontrast zu dieser Interpretation, zumal ein solcher Einfluss auch bei fortgeschrittenen Lernenden und Native Speakern zu finden ist (vgl. Salaberry 2011). Im Folgenden wird auf die wenigen Studien eingegangen, die 128 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="128"?> 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 129 sich explizit dem L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt gewidmet haben. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es mittlerweile Untersuchungen gibt, die zwar vom Tempus- und Aspekterwerb in einer L3 sprechen, auf den Einfluss der sprachlichen Vorkenntnisse allerdings nur bedingt eingehen (vgl. Comajoan 2019; Lu et al. 2019; Toth 2019). An erster Stelle ist Salaberry (2005) zu nennen, der den Einfluss der L2 Spanisch auf den Erwerb der L3 Portugiesisch bei siebzig anglophonen Lernenden untersucht, die er basierend auf deren Spanischniveau in zwei Versuchsgruppen einteilt und mit einer 16-köpfigen Kontrollgruppe von Native Speakern des Portugiesischen vergleicht. Die Ergebnisse einer two-choice -Aufgabe, in welcher die Lernenden zwischen den schon konjugierten Formen des imperfecto und des perfecto simple wählen müssen, zeigen keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen. Dennoch interpretiert Salaberry (2005: 204) seine Ergebnisse als Indiz für positiven Transfer vom Spanischen ins Portugiesische. Diese Interpretation rechtfertigt er durch einen Vergleich mit anderen Studien, in welchen die Lernenden mit ähnlichem Sprachniveau größere Schwierigkeiten hätten, aspektuelle Entscheidungen zu treffen. Die nächste Studie ist von besonderem Interesse, weil sie den L2-Einfluss systematisch mithilfe unterschiedlicher Versuchsgruppen untersucht. Dazu teilt Foote (2009) die Probanden (N=85) basierend auf ihrem sprachlichen Vorwissen in drei Gruppen ein und vergleicht sie mit einer romanischsprachigen Kontrollgruppe (siehe Tabelle 12). Die drei Versuchsgruppen unterscheiden sich zwar nicht bezüglich der Lernjahre in der Zielsprache, es findet sich aber insofern eine Differenz, als die L2-Gruppe einen niedrigeren Akkuratheitswert in einem Morphologie-Test erreicht als die beiden L3-Gruppen: Gruppe n Lernjahre L2 Lernjahre L3 Morphologie-Test (1) L1 Romanisch 34 - - 94,71 % (L1) (2) L1 Englisch, L2 Romanisch 25 5,42 - 77,07 % (L2) (3) L1 Englisch, L2 Romanisch, L3 Romanisch 14 12,93 5,14 91,43 % (L2) 87,86 % (L3) (4) L1 Romanisch, L2 Englisch, L3 Romanisch 12 12,18 4,96 95,83 % (L1) 86,97 % (L3) Tab. 12: Probanden von Footes (2009: 96, 99) Studie <?page no="129"?> Beim Haupttestinstrument handelt es sich um eine sentence-conjunctionjudgment- Aufgabe (SCJT), 43 in welcher die L2-Gruppe ebenfalls niedrigere Akkuratheitswerte als die beiden L3- und die Kontrollgruppe erreicht, und zwar sowohl mit statischen Prädikaten als auch mit accomplishments und achievements (vgl. ebd.: 100-106) . Da dieser Unterschied aber auf das geringere Morphologie-Wissen der L2-Gruppe zurückgeführt werden kann (siehe Tabelle 12), führt Foote (2009: 107-109) eine weitere Analyse durch, in welcher sie jene Teilnehmer ausschließt, deren Wert im Morphologie-Test unter 75 % liegt, um so den Einfluss des Morphologie-Wissens zu kontrollieren. Die Ergebnisse zeigen eine ähnliche Tendenz (siehe Tabelle 13): Jene Teilnehmer, die auf ihr aspektuelles Vorwissen in einer L1 oder einer L2 zurückgreifen können, erreichen höhere Akkuratheitswerte als die L2-Gruppe, die über keine solche Transferbasis verfügt: Gruppe n Akkuratheitswerte (2) L1 Englisch, L2 Romanisch 14 65 % (3) L1 Englisch, L2 Romanisch, L3 Romanisch 10 86,3 % (4) L1 Romanisch, L2 Englisch, L3 Romanisch 11 81,2 % Tab. 13: Mittlere Akkuratheitswerte der SCJT in Footes (2009: 108) Studie Die Autorin interpretiert dieses Resultat als Indiz für positiven Transfer des semantischen Kontrasts von perfektiv/ imperfektiv aus der typologisch nächsten Sprache, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eine L1 oder eine L2 handelt (vgl. ebd.: 109). Sie verortet sich somit im Framework des Typological Primacy Model (siehe Kapitel 4.3.3.2). Auch Salaberry (in Vorbereitung) stellt in einem theoretischen Artikel zum L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt fest, dass es bisher kaum Studien gibt, die sich diesem Thema gewidmet haben (vgl. auch Fessi 2014). Salaberry nimmt an, dass komplexe, nicht prototypische aspektuelle Nuancen nicht erworben werden können (vgl. auch Montrul und Perpiñán 2011; Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016, 2017, 2019; Salaberry 2013). Dies veranschaulicht er anhand von Abbildung 7, welche ein lineares Wachstum bezüglich der Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv in einem Morphologie-Test (gestrichelte 43 Die Verwendung der imperfektiven Verbform erzeugt eine logische, jene der perfektiven eine unlogische Interpretation ( Le escribía una carta a mi amiga, pero nunca la terminé vs. ? La novelista escribió una novela de fantasía, pero nunca la terminó ; vgl. Foote 2009: 98). 130 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="130"?> 5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen 131 Linie), aber eine stagnierende Erwerbskurve für das perfecto simple in Verbindung mit Iterativität zeigt (= eine nicht prototypische Kombination): Abb. 7: Erwerb von Iterativität (Salaberry in Vorbereitung) Laut Salaberry ist der Erwerb von nicht prototypischen aspektuellen Nuancen nur durch implizite Erwerbsprozesse möglich. Da auf diese weder im L2noch im L3-Erwerb zurückgegriffen werden kann, können nicht prototypische aspektuelle Nuancen nach einer sensiblen Phase nicht mehr erworben werden. Daraus folgt auch, dass L2-Transfer bezüglich solcher komplexen Semantiken ausgeschlossen ist. Hingegen kann eine L2 im Falle von prototypischen Kombinationen durchaus hilfreich sein: The non-linear type of learning apparently associated with complex aspectual concepts [Anm.: non-prototypical] […] may be representative of the type of implicit language knowledge that would not be available for the L3 system through the L2. In contrast, the linear process of learning associated with prototypical meanings of aspect may be readily available through information acquired through the L2. […] In general, it appears that conceptualization patterns from the L1 remain central for the processing of aspectual representation even in advanced stages of acquisition of an L2 (or L3 for that matter) (Salaberry in Vorbereitung). <?page no="131"?> Gerade was komplexe aspektuelle Konzepte betrifft, räumt Salaberry der L1 eine Vorrangstellung ein. Dennoch: Eine L2 kann durchaus einen Einfluss haben, und zwar dann, wenn es sich um prototypische Kontexte handelt, die mithilfe von L2-Prozessen erworben werden können. Eine Studie von Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020) baut auf diesen Annahmen auf. Sie untersucht, welchen Einfluss Prototypikalität auf den Transfer von (im-)perfektiver Semantik von einer romanischen Sprache als L2 in das Spanische als L3 hat. Mithilfe einer two-choice -Aufgabe (vgl. Salaberry 2011), in welcher die Lernenden zwischen dem perfecto simple und dem imperfecto wählen müssen, vergleichen die Autoren die Daten von 73 deutschsprachigen Lernenden des Spanischen mit einer 149-köpfigen muttersprachlichen Kontrollgruppe. Dazu werden die Lernenden, die alle über ein fortgeschrittenes Niveau im Spanischen verfügen, in drei Gruppen eingeteilt: • Keine L2-Kenntnisse in einer romanischen Sprache • Mittlere bis fortgeschrittene L2-Kenntnisse in mindestens einer romanischen Sprache • Sehr fortgeschrittene L2-Kenntnisse in mindestens einer romanischen Sprache Die Ergebnisse zeigen, dass sich diejenigen Lernenden mit einem sehr fortgeschrittenen Niveau in einer romanischen L2 den Bewertungen der Muttersprachler in prototypischen Kontexten annähern. Die beiden anderen Gruppen unterscheiden sich signifikant von der Kontrollgruppe. Bezüglich nicht prototypischer Kontexte findet sich ein anderes Bild: Mit statischen Prädikaten und vordergründigen Handlungen sind keine Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen und der Kontrollgruppe zu erkennen. Hinsichtlich telischer Prädikate und hintergründiger Handlungen findet sich hingegen eine Differenz zwischen allen Lernergruppen und der Kontrollgruppe. Ein positiver Transfer konnte also nur in prototypischen und nicht in nicht prototypischen Kontexten festgestellt werden. Dies scheint Salaberrys Hypothese, dass L2 Transfer nur in prototypischen Kontexten stattfindet (in dieser Studie bezogen auf die Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt), zu bestätigen. Die in diesem Kapitel dargestellten Forschungsergebnisse beweisen, dass sowohl eine L1 als auch eine L2 den Drittspracherwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen kann. Von den vier Studien untersuchen allerdings nur Foote (2009) und Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020) das sprachliche Vorwissen systematisch als unabhängige Variable. Weitere Studien in diesem Bereich mit anderen Sprachenkombinationen und unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen sind daher dringend nötig. 132 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="132"?> 5.3 Konklusion: L2-Einfluss als unberücksichtigte Variable - Forschungsdesiderata 133 5.3 Konklusion: L2-Einfluss als kaum berücksichtigte Variable - Darstellung der Forschungsdesiderata Die im letzten Kapitel diskutierten Studien zeigen dreierlei: 1. Lernende werden beim L2-Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt von ihrer L1 beeinflusst. Dies wirkt sich vor allem in den Anfangsstadien des Zweitspracherwerbs aus, beispielsweise durch die Übergeneralisierung einer bestimmten Form oder durch die Verwendung eines default past tense markers . Es wurde aber auch gezeigt, dass der L1-Einfluss bis in späte Stadien des L2-Erwerbs fortwirken kann, und zwar dann, wenn es sich um nicht prototypische und wenig frequente Kontexte handelt (z. B. coercion -Kontexte), die mithilfe von expliziten Lernmechanismen nicht erworben werden können. 2. Viele Studien sprechen vom Erwerb einer Zweitsprache und behandeln sie als solche, obwohl es sich eigentlich um die Aneignung einer Drittsprache handelt. 3. Zahlreiche Untersuchungen im Bereich der Transferforschung beweisen außerdem, dass sowohl die L1 als auch die L2 einen Einfluss auf den Erwerb einer L3 haben kann (siehe Kapitel 4). Dies trifft auch auf die hier diskutierten Studien zu. Comajoans (2006) Ergebnisse veranschaulichen dies insofern, als seine Lernenden fähig sind, eine Geschichte in der Vergangenheit nachzuerzählen, obwohl sie keinen expliziten Unterricht bezüglich der Vergangenheitstempora in der Zielsprache erhalten haben. Salaberry (2005) führt die erhöhten Erwerbsraten seiner L3-Lerner im Vergleich zu anderen Studien auf einen positiven Transfer vom Spanischen ins Portugiesische zurück. Keine der beiden Untersuchungen vergleicht allerdings das Lernverhalten unterschiedlicher Lernergruppen, um so Transferphänomene systematisch zu analysieren. Die erste Untersuchung, die das sprachliche Vorwissen tatsächlich als unabhängige Variable berücksichtigt, ist jene von Foote (2009). Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass Transfer von imperfektivem Aspekt sowohl aus einer L1 als auch aus einer L2 kommen kann. Auch ihre Studie hat allerdings methodische Schwächen. Foote misst weder das Sprachniveau der Lernenden noch führt sie Tests durch, um das Aspektwissen in den Ausgangssprachen zu messen. Schließlich veranschaulicht die Analyse von Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020), dass L2-Transfer nur in prototypischen Kontexten stattfindet. In nicht prototypischen Kontexten werden die L3-Lerner von ihrer L1 beeinflusst. Dieser Forschungsüberblick stellt dar, dass der Einfluss von sprachlichem Vorwissen auf den L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen bisher kaum untersucht wurde (vgl. Fessi 2014 für eine ähnliche <?page no="133"?> Interpretation des Forschungsstandes). Die wenigen Studien, die sich diesem Thema bis heute gewidmet haben, analysieren den L2-Einfluss meist nicht als unabhängige Variable (für zwei Ausnahme vgl. Diaubalick et al. 2020; Foote 2009). Außerdem fokussieren sie Transfer innerhalb der romanischen Sprachen (z. B. vom Spanischen ins Portugiesische). Eine detaillierte Analyse, welche die Effekte einer nicht nahverwandten L2 auf eine L3 misst, wie beispielsweise von einer germanischen in eine romanische Sprache, findet sich bisher nicht. Des Weiteren werden Transferphänomene in der Regel auf einer sehr allgemeinen Ebene untersucht. Beispielsweise unterscheiden die begutachteten L3-Studien die Subkategorien der Imperfektivität nicht und konzentrieren sich größtenteils auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto ; auch die Progressivperiphrase estar + gerundio wurde bislang kaum berücksichtigt (vgl. z. B. Amenós Pons 2016 für eine Ausnahme). Des Weiteren weisen die begutachteten L3-Studien einige methodische Schwachstellen auf, die in zukünftigen Untersuchungsdesigns berücksichtigt werden sollten: 1. Messung des Sprachniveaus in allen Sprachen mithilfe unabhängiger Sprachtests 2. Messung des Aspektwissens in allen Sprachen 3. Verwendung von kontrollierten/ geschlossenen wie auch offenen Aufgabenformaten (= Möglichkeit der Analyse von Sprachproduktion/ -rezeption) 4. Verwendung von Messinstrumenten, die sowohl explizites als auch implizites Wissen abfragen 5. Triangulation von quantitativen und qualitativen Methoden (z. B. durch Lerner-Befragungen) Schließlich untersuchen die meisten (L3-)Studien anglophone Lernende und somit eine Sprachenkombination, die relativ viel Aufmerksamkeit erlangt hat (vgl. Salaberry 2008: 95). Analysen, die sich mit deutschsprachigen Lernenden beschäftigen, sind rar (für eine Ausnahme vgl. beispielsweise Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017, 2019; Riemer 2000). Die vorliegende Arbeit wird sich den eben aufgezeigten Forschungslücken widmen. Dabei wird der Einfluss von sprachlichem Vorwissen auf den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch im Mittelpunkt stehen. Im empirischen Teil der Arbeit, der sich aus den Kapiteln 6, 7 und 8 zusammensetzt, wird zuerst auf das Untersuchungsdesign eingegangen. Im Anschluss werden die Ergebnisse dargestellt und schließlich, in Kapitel 8, interpretiert und mit der bestehenden Forschungsliteratur diskutiert. 134 Zweit-/ Drittspracherwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen <?page no="134"?> 6 Methodologie Nachdem am Ende des letzten Kapitels die Forschungsdesiderata herausgearbeitet wurden, wird im Folgenden die Konzeption und Durchführung der empirischen Studie, mithilfe derer die Forschungslücken beantwortet werden sollen, näher erläutert. Dazu werden am Anfang die Fragestellungen der Hauptstudie präsentiert und die aus der Theorie abgeleiteten Hypothesen vorgestellt. Im Anschluss wird die Wahl der entsprechenden Testinstrumente theoretisch begründet und es werden die einzelnen Materialien beschrieben und diskutiert. Abschnitt 6.3 geht auf die Teilnehmer der Studie ein. Im Anschluss wird die Vorgehensweise bei der Datenerhebung dargestellt und es werden die Prinzipien der Datenkodierung sowie die entsprechenden Analyseverfahren erläutert. 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen Der in Kapitel 5 dargelegte Forschungsstand zeigt, dass der Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird. Auch beim sprachlichen Vorwissen handelt es sich um einen solchen Einflussfaktor. Obwohl es einige Studien gibt, die einen L1-Transfer festgestellt haben, finden sich bis heute nur wenige Untersuchungen, die sich mit dem Einfluss einer L2 auf eine L3 beschäftigt haben. Die wenigen in Kapitel 5.2.2 vorgestellten Analysen messen allerdings den Einfluss der L2 nicht systematisch. So werden beispielsweise keine spezifischen Tests durchgeführt, um das Aspektwissen in den Zweitsprachen zu messen. Darüber hinaus stehen meist romanische Sprachen im Allgemeinen im Fokus. Mit Ausnahme von Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020) findet sich keine Studie, die sich explizit dem Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt in der L3 Spanisch widmet. Der Einfluss der L2 Englisch auf den Erwerb der L3 Spanisch wird ebenfalls kaum behandelt. Des Weiteren beschäftigen sich die bisher bestehenden Studien meist mit englisch- und nicht mit deutschsprachigen Spanischlernenden. Darüber hinaus wird der schulische Kontext nur selten fokussiert (für eine Ausnahme vgl. Hinger 2016, 2017). Auch die Subkategorien des imperfektiven Aspekts werden nur in den wenigsten Studien im Detail untersucht (für eine Ausnahme vgl. McManus 2011). Diese Forschungslücken veranschaulichen (siehe auch Kapitel 5.3), dass die Untersuchung des L3-Erwerbs von (im-)perfektivem Aspekt mit germanopho- <?page no="135"?> 136 6 Methodologie nen schulischen Lernenden ein regelrechtes Forschungsdesiderat darstellt, dessen sich die empirische Studie dieser Arbeit annimmt. Sie widmet sich daher der im deutschen und österreichischen Schulsystem im Hinblick auf das Spanische am meisten vorhandenen Sprachenfolge und untersucht, welchen Einfluss die L1 Deutsch sowie die Zweitsprachen Englisch, Französisch und Latein auf den L3-Erwerb des Spanischen haben. Zusammenfassend kann das primäre Forschungsinteresse wie folgt formuliert werden: Inwiefern wird der Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen von sprachlichem Vorwissen beeinflusst? Aus dieser übergeordneten Forschungsfrage leiten sich spezifische Hypothesen ab, die in den Kapiteln 6.1.2, 6.1.3 und 6.1.4 erörtert und in Kapitel 7 empirisch überprüft werden. Bevor auf die einzelnen Hypothesen eingegangen wird, werden deren theoretische Annahmen zusammengefasst. 6.1.1 Theoretische Annahmen der Hypothesen Basierend auf der Argumentation im Theorieteil wird angenommen, dass nicht die L1, das Deutsche, sondern eine L2, das heißt das Englische, das Französische oder das Lateinische, als Standardtransferbasis aktiviert wird. Dies ist primär auf die folgenden Gründe zurückzuführen: 1. Sowohl das Lernen einer L2 als auch jenes einer L3 beruht primär auf expliziten Lernprozessen und damit auf dem deklarativen Gedächtnis (siehe Kapitel 3.3). 2. Im L3-Erwerb wird das L1-System geblockt und Lerner bevorzugen eine L2 als Lernstrategie für die L3 (siehe Kapitel 4.3.2). 3. Alle Zweitsprachen der Sprachenfolgen des vorliegenden Werkes sind dem Spanischen typologisch näher als die L1 Deutsch (siehe Abschnitt 2.3 für einen Überblick über die verschiedenen Aspektsysteme der Einzelsprachen; siehe Kapitel 4.2 und 4.3.3 für die Diskussion von typologischer Nähe in der Transferforschung). Dies trifft insofern auf das Französische und das Lateinische zu, als sie genetisch mit dem Spanischen verwandt sind und alle drei über eine aspektuelle Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv verfügen. Aber auch das Englische kann aufgrund des hohen Anteils lateinisch-romanischer Lexik (vgl. Leisi/ Mair 2008: 46) und der grammatikalisierten Unterscheidung zwischen progressiv und nicht progressiv als typologisch näher beschrieben werden als das Deutsche. Daraus ergibt sich Argumentationspunkt Nummer 4. 4. Da das Deutsche keine grammatikalisierte aspektuelle Unterscheidung kennt, ist es unwahrscheinlich, dass die L3-Lernenden des Spanischen auf <?page no="136"?> 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen 137 diese Sprache als Transferbasis zurückgreifen. Dementsprechend sind es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Zweitsprachen (Englisch, Französisch, Latein) und dem Spanischen, von welchen die Lernenden bei der Aneignung von perfektiv und imperfektiv im Spanischen beeinflusst werden. 5. Unter Berücksichtigung der Subkategorien des imperfektiven Aspekts ergeben sich vier semantische Kontexte (perfektiv, progressiv, kontinuativ und habituell), die im Spanischen durch drei Formen ( perfecto simple , imperfecto und estar + gerundio ) ausgedrückt werden. Wenn eine morphologische und eine funktional-semantische Ähnlichkeit zwischen einer L2 und der L3 Spanisch besteht, dann sollte dies eine Assoziation zwischen der L3- und der L2-Form begünstigen, was zu positivem Transfer der entsprechenden Merkmale führen sollte. Dies ist in sogenannten Ähnlichkeitsbeziehungen der Fall, wie beispielsweise zwischen be + V-ing und estar + gerundio (siehe Kapitel 4.2.1). Wenn sich allerdings die Sprachen formal unterscheiden, wird die Assoziation zwischen der L3- und der L2-Form erschwert und ein positiver Transfer der zugrunde liegenden funktional-semantischen Ähnlichkeiten ist eher unwahrscheinlich. Dies trifft auf Kontrastbeziehungen zu, wie beispielsweise zwischen der Progressivperiphrase im Englischen und dem synthetischen imperfecto im Spanischen im Hinblick auf Progressivität. In near-zero -Beziehungen, in welchen die Versprachlichungen zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache so unterschiedlich sind, dass die Lernenden eine möglicherweise vorhandene abstrakte funktional-semantische Ähnlichkeit nicht wahrnehmen (z. B. die Verwendung von simple past/ imperfecto in kontinuativen Kontexten), ist positiver Transfer ebenfalls unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Wenn die Lernenden trotz einer notwendigen Umstrukturierung die L3-Form direkt mit jener der L2 assoziieren, resultiert daraus negativer Transfer. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn sie im Hinblick auf die kontinuative Semantik fälschlicherweise das spanische perfecto simple mit dem englischen simple past assoziieren, obwohl im Spanischen das imperfecto verwendet werden müsste. Daraus leitet sich eine übergeordnete Annahme ab, und zwar dass die Zweitsprachen Englisch, Französisch und Latein dann einen positiven Einfluss auf die Aneignung von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch haben, wenn eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den entsprechenden Sprachen besteht. In Kontrast- oder in near-zero- Beziehungen, in welchen eine Umstrukturierung von Form-Bedeutungs-Verbindungen notwendig ist, wird sich kein positiver Transfer zeigen. In diesen Kontexten ist negativer Transfer wahrscheinlich. <?page no="137"?> 138 6 Methodologie Basierend auf den Sprachbeschreibungen in Kapitel 2.3 wird in den nächsten drei Abschnitten herausgearbeitet, in welchen semantischen Kontexten Ähnlichkeits-, Kontrast- und near-zero -Beziehungen zwischen den Zweitsprachen und der L3 bestehen. Auf diesem strukturellen Sprachvergleich bauen die nachfolgenden Hypothesen auf, die in Hypothesenblocks zusammengefasst sind und ebenfalls in den nächsten drei Kapiteln vorgestellt werden. 6.1.2 Hypothesenblock 1: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch Die Hypothesen 1a bis 1e stellen Annahmen darüber auf, wie das Aspektwissen in der L2 Englisch den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch beeinflusst. Zwischen den beiden Sprachen finden sich zwei Ähnlichkeitsbeziehungen: Im Hinblick auf die perfektive Semantik besteht sie zwischen simple past und perfecto simple , da es sich um zwei synthetische Formen handelt, die beide in den jeweiligen Sprachen verwendet werden, um Perfektivität auszudrücken. 44 Hinsichtlich der progressiven Semantik findet sie sich zwischen be + V-ing und estar + gerundio . Es existieren außerdem zwei Kontrastbeziehungen , und zwar zwischen be + V-ing und dem progressiven Bedeutungsbestandteil des imperfecto sowie zwischen used to / would + Infinitiv und dem habituellen Bedeutungsbestandteil des spanischen Imperfekts. Schließlich besteht eine near-zero- Beziehung zwischen dem simple past und dem kontinuativen wie auch dem habituellen Bedeutungsbestandteil des imperfecto . Während Kontinuität und Habitualität Teil der Semantik des imperfecto sind, handelt es sich bezüglich des simple past um Lesarten, die sich aus dem Kontext ergeben. Die Form-Bedeutungs-Assoziationen und die entsprechenden Relationen sind in Tabelle 14 zusammengefasst: 44 Das englische simple past wurde im Theorieteil als aspekt-neutrale Form beschrieben, weshalb die Zuordnung des Merkmals [+ perfektiv] in Tabelle 14 irreführend ist. Da das simple past allerdings mit aktivischen und telischen Prädikaten durchaus eine perfektive Lesart erzeugt, wird in Anlehnung an Andersen (2002: 89-90) davon ausgegangen, dass das simple past und das perfecto simple einen ähnlichen semantischen Prototyp haben, der entsprechend transferiert werden kann und einen positiven Einfluss in perfektiven Kontexten hat. In nicht prototypischen perfektiven Kontexten, die allerdings in dieser Studie nicht ausreichend behandelt werden, sollte sich durchaus negativer Transfer finden. <?page no="138"?> 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen 139 Englisch Kondition (semantischer Kontext) Spanisch Beziehung simple past [+ perfektiv] perfecto simple Ähnlichkeit be + V-ing [+ progressiv] estar + gerundio Ähnlichkeit imperfecto Kontrast simple past [+ kontinuativ] imperfecto near-zero used to/ would [+ habituell] imperfecto Kontrast simple past near-zero Tab. 14: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch und Spanisch Die Kernaussage des ersten Hypothesenblocks ist, dass das L2-Aspektwissen des Englischen (unabhängige Variable) einen positiven Einfluss auf den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch hat (abhängige Variablen), und zwar vor allem dann, wenn eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der L2 und der L3 vorliegt. Daraus leiten sich die folgenden Hypothesen 45 ab: 1a Aspektwissen im Englischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb des perfecto simple in perfektiven Kontexten. 1b Aspektwissen im Englischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb von estar + gerundio in progressiven Kontexten. 1c Aspektwissen im Englischen hat keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in progressiven Kontexten. 1d Aspektwissen im Englischen hat keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in kontinuativen Kontexten. 1e Aspektwissen im Englischen hat keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in habituellen Kontexten. 45 Prinzipiell liegen jedem statistischen Test eine Null- und eine Alternativhypothese zugrunde. Da im Ergebnisteil zahlreiche unterschiedliche statistische Tests durchgeführt werden, würde eine solche Vorgehensweise mit einer Formulierung von über 100 Hypothesen einhergehen, was die Leserlichkeit enorm reduzieren würde. Außerdem ist eine solche Herangehensweise in der Spracherwerbsforschung eher untypisch (vgl. Albert/ Marx 2014: 25), weshalb auch in der vorliegenden Arbeit davon abgesehen wird. <?page no="139"?> 140 6 Methodologie 6.1.3 Hypothesenblock 2: Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge In den Hypothesen 2a bis 2e wird der Fokus auf die unterschiedlichen schulischen Sprachenfolgen gelegt und es werden Annahmen darüber aufgestellt, wie diese den Erwerb von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen beeinflussen. Dazu werden Lernende, die nur über L2-Kenntnisse im Englischen verfügen (Gruppe A), mit solchen verglichen, die darüber hinaus noch L2-Französisch- (Gruppe B) oder L2-Lateinkenntnisse (Gruppe C) besitzen (siehe Kapitel 6.3.2 für eine Beschreibung der Teilnehmer). Den Hypothesen dieses Blocks liegt die Annahme zugrunde, dass die Probanden der Gruppen B und C im Allgemeinen einen Vorteil beim Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen haben, weil sie im Unterschied zu denjenigen der Gruppe A auf Vorkenntnisse in Sprachen zurückgreifen können, die über eine grammatikalisierte Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv verfügen. Da auf den Einfluss des Englischen schon in Hypothesenblock 1 eingegangen wurde, werden im Folgenden primär Effekte von Französisch- und Lateinkenntnissen besprochen. In Hypothesenblock 2 wird ebenfalls angenommen, dass sich positiver Transfer vor allem in Ähnlichkeitsbeziehungen findet. Der in Tabelle 15 dargestellte Sprachvergleich zeigt, dass sich eine solche Relation zwischen dem französischen imparfait und dem spanischen imperfecto hinsichtlich der progressiven, der kontinuativen und der habituellen Semantik findet. Dasselbe trifft auf das lateinische Imperfekt zu (siehe Tabelle 16). In perfektiven Kontexten ist das Bild etwas komplexer, da sich theoretisch alle Zweitsprachen als Transferbasen anbieten: Die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Englisch und Spanisch wurde schon in Abschnitt 6.1.2 herausgearbeitet. Bezüglich der L2 Französisch können Spanischlernende theoretisch sowohl auf das passé simple als auch auf das passé composé zurückgreifen, allerdings sind beide Formen kein optimaler Transferkandidat. Zwar spricht die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen passé simple und perfecto simple für eine entsprechende Form-Bedeutungs-Assoziation und einen damit einhergehenden positiven Transfer. Dagegen kann allerdings angeführt werden, dass das passé simple im gesprochenen Französisch eine sekundäre Rolle einnimmt, nicht die Standardvergangenheitsform ist, und daher auch im Französischunterricht passive Kompetenzen im Vordergrund stehen. Sogar wenn deshalb das passé composé als Transferbasis gewählt werden sollte, ist ein positiver Einfluss des Französischen eher unwahrscheinlich, da zwischen dieser Form und dem perfecto simple eine Kontrastbeziehung besteht. Es ist daher durchaus möglich, dass die Lernenden der Gruppe B trotz ihrer Französischkenntnisse auf ihre zweite L2, das Englische, ausweichen. Im Hinblick auf Lernende mit Lateinkenntnissen könnte <?page no="140"?> 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen 141 die bestehende Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem synthetischen Perfekt ( cantavi ) und dem perfecto simple Vorteile mit sich bringen. Beim Lateinischen handelt es sich allerdings um eine primär passiv gelernte Sprache, was dazu führen könnte, dass die Lernenden eine aktiv gelernte L2, das Englische, als Transferbasis bevorzugen. Da in perfektiven Kontexten durch die vorhandenen Englischkenntnisse eine Transferbasis für alle Lernergruppen gegeben ist (die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen simple past und perfecto simple ), kann angenommen werden, dass Transfer primär aus dieser Sprache kommt. Französisch- und Lateinkenntnisse sollten also zu keinen sichtbaren Gruppenunterschieden führen. Bezüglich der Assoziation der progressiven Semantik mit estar + gerundio eignet sich das Lateinische nicht als Transferbasis, weil es über keine Progressivperiphrase verfügt und zwischen dem lateinischen Imperfekt und estar + gerundio eine Kontrastbeziehung besteht. Lernende mit Französischkenntnissen können hingegen auf être en train de zurückgreifen, was zu einem positiven Effekt führen sollte. Eine Ähnlichkeitsbeziehung findet sich aber durchaus für alle drei Gruppen (für das Französische sogar zwei), da theoretisch alle auf das Englische zurückgreifen können. Demnach sollte sich ein positiver Einfluss für sämtliche Gruppen finden, der allerdings auf unterschiedlichen Transferquellen beruht ( être en train de für Gruppe B; be + V-ing für Gruppe A und C). Die Form- Bedeutungs-Paare für das Französische und das Lateinische sind in Tabelle 15 und 16 dargestellt: Französisch Kondition (semantischer Kontext) Spanisch Beziehung passé composé [+ perfektiv] perfecto simple Kontrast passé simple Ähnlichkeit être en train de [+ progressiv] estar + gerundio Ähnlichkeit imparfait imperfecto imparfait [+ kontinuativ] imperfecto Ähnlichkeit imparfait [+ habituell] imperfecto Ähnlichkeit Tab. 15: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Französisch und Spanisch <?page no="141"?> 142 6 Methodologie Latein Kondition (semantischer Kontext) Spanisch Beziehung Perfekt [+ perfektiv] perfecto simple Ähnlichkeit Imperfekt [+ progressiv] estar + gerundio Kontrast imperfecto Ähnlichkeit Imperfekt [+ kontinuativ] imperfecto Ähnlichkeit Imperfekt [+ habituell] imperfecto Ähnlichkeit Tab. 16: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Latein und Spanisch Für den Einfluss der schulischen Sprachenfolge ergeben sich die folgenden Subhypothesen, die für zusätzliche Französisch-/ Lateinkenntnisse aufgeschlüsselt sind und immer in Kontrast zu jener Gruppe zu sehen sind, die nur über Englischkenntnisse verfügt: 2a (i) L2-Kenntnisse des Französischen haben keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des perfecto simple in perfektiven Kontexten. (ii) L2-Kenntnisse des Lateinischen haben keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des perfecto simple in perfektiven Kontexten. 2b (i) L2-Kenntnisse des Französischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb von estar + gerundio in progressiven Kontexten. (ii) L2-Kenntnisse des Lateinischen haben keinen positiven Einfluss auf den Erwerb von estar + gerundio in progressiven Kontexten. 2c (i) L2-Kenntnisse des Französischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in progressiven Kontexten. (ii) L2-Kenntnisse des Lateinischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in progressiven Kontexten. 2d (i) L2-Kenntnisse des Französischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in kontinuativen Kontexten. (ii) L2-Kenntnisse des Lateinischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in kontinuativen Kontexten. 2e (i) L2-Kenntnisse des Französischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in habituellen Kontexten. (ii) L2-Kenntnisse des Lateinischen haben einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in habituellen Kontexten. <?page no="142"?> 6.1 Forschungsfragen und Hypothesen 143 6.1.4 Hypothesenblock 3: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch Die Hypothesen 3a bis 3e beziehen sich nur auf Lernende, welche sowohl über Französischals auch über Englischkenntnisse verfügen (= Gruppe B; siehe Kapitel 6.3.3 für die Beschreibung der Gruppeneinteilung). Sie legen den Fokus auf das Aspektwissen im Französischen, interessieren sich aber auch für die Frage, in welchen Kontexten primär auf welche L2 zurückgegriffen wird. Prinzipiell wird angenommen, dass das Französische dann transferiert wird, wenn zwischen dieser Sprache und dem Spanischen, aber nicht zwischen dem Englischen und dem Spanischen eine Ähnlichkeitsbeziehung herrscht. Dies trifft auf die Verbindung des imperfecto mit der progressiven, kontinuativen und habituellen Bedeutung zu, die auch im Französischen mithilfe des imparfait ausgedrückt wird. Wie in Hypothesenblock 2 schon erwähnt, werden die Lernende hinsichtlich der perfektiven Semantik primär auf ihre Englischkenntnisse zurückgreifen, da das Standardvergangenheitstempus im Französischen ( passé composé ) im Unterschied zum Spanischen eine analytische Form ist und es sich somit um eine Kontrastbeziehung handelt. Zwischen dem englischen simple past und dem perfecto simple besteht hingegen eine Ähnlichkeitsbeziehung, die einen positiven Transfer ermöglicht. Hinsichtlich einer Assoziation der progressiven Semantik mit estar + gerundio können die Probanden hingegen sowohl auf ihre Englischals auch auf ihre Französischkenntnisse zurückgreifen, was theoretisch zu einem positiven Einfluss beider Sprachen führen sollte. Es können die folgenden Hypothesen formuliert werden: 3a Aspektwissen im Französischen hat keinen positiven Einfluss auf den Erwerb des perfecto simple in perfektiven Kontexten. 3b Apektwissen im Französischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb von estar + gerundio in progressiven Kontexten. 3c Aspektwissen im Französischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in progressiven Kontexten. 3d Aspektwissen im Französischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in kontinuativen Kontexten. 3e Aspektwissen im Französischen hat einen positiven Einfluss auf den Erwerb des imperfecto in habituellen Kontexten. Im nächsten Kapitel wird dargelegt, mit welchen Testmaterialien gearbeitet wurde, um die den Hypothesen zugrunde liegenden Konstrukte zu operationalisieren. <?page no="143"?> 144 6 Methodologie 6.2 Untersuchungsmaterial Bevor die einzelnen Testmaterialien beschrieben und diskutiert werden, wird ein Überblick über die wichtigsten Testgütekriterien gegeben. Im Allgemeinen sind bei der Testerstellung die Hauptgütekriterien der Objektivität, Validität und Reliabilität zu beachten (vgl. Albert/ Marx 2014: 27-33; Révész 2012). „Objektivität bezieht sich darauf, ob die Erhebung, Auswertung und Interpretation der Ergebnisse durch die Forscherin beeinflusst wurde“ (Albert/ Marx 2014: 30). Validität hingegen bezeichnet, inwiefern ein Test das misst, was er zu messen vorgibt (vgl. ebd.: 31). Mackey und Gass (2005: 106-128) nennen mehrere Validitätstypen, wie zum Beispiel die Inhalts- und die Konstruktvalidität, die kriterienorientierte oder die interne Validität. Ersteres bezieht sich auf die inhaltliche Vollständigkeit des Tests, das heißt die adäquate Repräsentation aller möglichen Ausprägungen eines Konstruktes. Ein Test hat demnach eine niedrige Inhaltsvalidität, wenn er beispielsweise das Konstrukt des grammatikalischen Aspekts untersuchen möchte, aber nur perfektive Verbformen beinhaltet und imperfektive außer Acht lässt. Des Weiteren muss überprüft werden, ob das Konstrukt adäquat gemessen wird (= Konstruktvalidität). Diese Frage hängt eng mit dem theoretischen Framework der Studie zusammen. So sehen Vertreter des Generativismus dekontextualisierte Grammatikalitätsurteile als ein adäquates Messinstrument für sprachliche Kompetenz an und lehnen freie Sprachproduktionsdaten meist ab, wohingegen Anhänger nicht generativistischer Ansätze eine diametral entgegengesetzte Position einnehmen. Von einer hohen kriterienorientierten Validität wird gesprochen, wenn ein Test mit anderen im Forschungsfeld etablierten Tests vergleichbar ist. Beispielsweise sind C-Tests in der Zweitspracherwerbsliteratur als Messinstrument für das allgemeine Sprachniveau weitgehend anerkannt. Schließlich bezieht sich die interne Validität auf die Frage, „inwiefern die Ergebnisse das abbilden, was sie abbilden sollen - und ob sie von weiteren Faktoren (Störfaktoren) beeinflusst worden sind“ (Albert/ Marx 2014: 31). So ist es zum Beispiel wichtig, möglichst viele Kontrollvariablen zu erheben, um den Einfluss derselben zu kontrollieren und im Idealfall ausschließen zu können. Im Allgemeinen ist das Gütekriterium der internen Validität gefährdet, wenn ein Test sehr lange und ermüdend ist bzw. wenn die Lernenden vorab erfahren, worum es in der Studie geht und so die Möglichkeit haben, sich entsprechend darauf vorzubereiten, was deren natürliches Verhalten möglicherweise beeinflusst (vgl. Albert/ Marx 2014: 31; Mackey/ Gass 2005: 116-119). Deshalb ist es wichtig, die Aufmerksamkeit der Probanden vom eigentlichen Ziel der Studie abzulenken, was unter anderem mithilfe von Distraktoren geschehen kann (siehe Kapitel 6.2.4). <?page no="144"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 145 Neben der Validität eines Tests ist auch dessen Reliabilität von Bedeutung. Es geht dabei um die Frage, „ob das Messverfahren, das, was gemessen werden soll, exakt erfasst und ob die Daten, die damit gewonnen wurden, zuverlässig ausgewertet sind“ (Albert/ Marx 2014: 29). Die Testzuverlässigkeit kann mithilfe von Testwiederholungen, Paralleltests oder einer internen Konsistenzprüfung (z. B. Cronbachs Alpha 46 ) überprüft werden. Bezüglich der Datenauswertung ist es wichtig, die Bewerterzuverlässigkeit zu berücksichtigen, indem man „mindestens zwei unabhängige, kompetente Auswertungen der Ergebnisse machen [lässt]“ (ebd.). Im Wesentlichen kann davon ausgegangen werden, dass die ausgewählten Testverfahren adäquat sind, wenn (1) die eben genannten Kriterien bei der Erstellung beachtet werden, (2) vergleichbare Daten aus anderen Studien zu ähnlichen Ergebnissen kommen (Replikation) und (3) die Verwendung von verschiedenen Methoden innerhalb der Untersuchung zu den gleichen Ergebnissen führen (Methodentriangulation) (vgl. Chaudron 2003: 801). Nach dieser kurzen Einführung zu den Testgütekriterien wird im Folgenden zuerst auf die Pilotierung der Testmaterialien eingegangen. Im Anschluss werden die Testinstrumente der Hauptstudie beschrieben und ihre Vor- und Nachteile diskutiert. Darauf aufbauend wird die Wahl der entsprechenden Aufgaben begründet und dargestellt, wie sie für die empirische Studie aufbereitet wurden. 6.2.1 Pilotstudie 47 Das Ziel einer Pilotstudie ist es, Testverfahren, Untersuchungsmaterialien und Methoden zu testen und diese ggf. zu überarbeiten. Dadurch sollen Probleme schon vor der Hauptstudie eruiert und behoben werden (vgl. Mackey/ Gass 2005: 43). Die Pilotstudie der vorliegenden Arbeit wurde im März 2016 an einem österreichischen Gymnasium im regulären Spanischunterricht einer 10. (n=14) und einer 12. Klasse (n=10) durchgeführt. Das Untersuchungssetting bestand aus einem Eingangsfragebogen (u. a. sprachenbiographische und demographische Daten), zwei mündlichen Sprachproduktionsaufgaben (einem kurzen Dialog über persönliche Erlebnisse sowie der monologischen, mündlichen Nacherzählung einer Bildgeschichte mit dem Titel Tus vacaciones 48 ) und einer 46 Cronbachs Alpha bezeichnet das Ausmaß, in dem die einzelnen Items einer Skala miteinander in Beziehung stehen. Seine Werte können theoretisch von minus unendlich bis 1 liegen. Werte zwischen ca. 0,7 und 0,9 gelten als ideal. 47 Ausgewählte Ergebnisse wurden bereits in Eibensteiner/ Koch (2018) publiziert. 48 Die Geschichte Tus vacaciones (im Original Las hermanas ) wurde vom Spanish-Learner- Language-Oral-Corpora -Forschungsteam entworfen und mit der Erlaubnis von Laura Domínguez für die vorliegende Studie (sowohl Pilotals auch Hauptstudie) in leicht adaptierter Fassung verwendet. Für eine genaue Beschreibung der Bildgeschichte siehe Kapitel 6.2.3.1. <?page no="145"?> 146 6 Methodologie semantischen Interpretationsaufgabe (en. semantic interpretation task , SIT), welche das Aspektwissen im Spanischen testete. Da sich eine genaue Darstellung des Untersuchungsmaterials der Hauptstudie in den Kapiteln 6.2.2 bis 6.2.6 findet, wird an dieser Stelle nur auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Forschungssetting der Pilot- und jenem der Hauptstudie eingegangen. In der Pilotstudie wurden die Lernenden aufgrund der in der Zielsprache erhaltenen Unterrichtsstunden in zwei Sprachniveaugruppen eingeteilt. Diese Vorgehensweise wurde in Anlehnung an das Spanish-Learner-Language-Oral- Corpora -Team gewählt (SPLLOC; vgl. Domínguez 2019b). Sie erschien aber für die Hauptstudie aufgrund der großen Leistungsunterschiede innerhalb der Klassen, die in der Pilotstudie festgestellt wurden, nicht ausreichend. Deshalb wurde zusätzlich zu dieser Einteilung noch ein C-Test erstellt, um das Sprachniveau im Spanischen zu messen (siehe Kapitel 6.2.2 für eine Präsentation des Testinstruments). Der in der Pilotstudie durchgeführte Dialog wurde in Anlehnung an das Untersuchungssetting des SPLLOC - Teams und McManus (2011) durch eine zweite Nacherzählung einer Bildgeschichte ( Nati y Pancho ) 49 ersetzt (für eine detaillierte Beschreibung siehe Kapitel 6.2.3). Diese Entscheidung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die meisten Probanden aufgrund der geringen Vorbereitungszeit nicht in der Lage waren, einen verständlichen Dialog zu führen. Außerdem handelt es sich bei einem Dialog um eine sehr offene Aufgabenstellung, was zu einer verhältnismäßig geringen Vergleichbarkeit innerhalb der Stichprobe - aber auch mit anderen Studien - führt. Die Nacherzählung einer Bildgeschichte kann insofern besser kontrolliert werden, als eine klare Erzählstruktur vorgegeben ist, an der sich alle Studienteilnehmer gleichermaßen orientieren müssen. Da sich in der Pilotstudie zeigte, dass die Probanden Schwierigkeiten hatten, komplett spontansprachliche Daten zu produzieren, wurde in der Hauptstudie die Vorbereitungszeit für die Nacherzählung von Tus vacaciones und Nati y Pancho auf sechs bis acht Minuten erhöht. Als weitere Hilfestellung bekamen die Lernenden eine vorgefertigte Tabelle, in welche sie einzelne Stichwörter eintragen durften. Außerdem wurden sie durch eine kurze Wortliste lexikalisch vorentlastet. Im Unterschied zur Pilotstudie wurden die Bildgeschichten der Hauptstudie nicht dem Nachbarn im Sinne einer Partnerarbeit erzählt, sondern monologisch in das vor den Teilnehmern liegende Diktiergerät gesprochen. Eine solche Durchführung als Einzelarbeit hat den Nachteil, dass es sich nur bedingt um 49 Diese Bildgeschichte basiert auf Jonathan Langleys (2000) Erzählung Missing und wurde für die Bedarfe der vorliegenden Studie überarbeitet. <?page no="146"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 147 eine authentische Unterrichtssituation handelt und dass das Sprechen in das Aufnahmegerät möglicherweise eine unangenehme Situation für viele Teilnehmer darstellt. Diese Änderung war aber notwendig, weil sich in der Pilotstudie zeigte, dass sich die Lernenden durch das gegenseitige Erzählen beeinflussten (beispielsweise durch Rückfragen im Hinblick auf Grammatik und Lexik). Einer Sprechblockade, welche möglicherweise durch die Testsituation herbeigeführt hätte werden können, wurde durch die Schaffung einer möglichst angenehmen Unterrichtsatmosphäre entgegengewirkt. Die in der Pilotstudie verwendete semantische Interpretationsaufgabe für das spanische Aspektwissen wurde intensiv überarbeitet. So wurde der Test beispielsweise um einige zusätzliche Items ergänzt (z. B. progressive Kontexte mit estar + gerundio ) und die Likert-Skala von -1 bis +1 auf -2 bis +2 verlängert (für eine Diskussion der Vor- und Nachteile siehe Kapitel 6.2.4). Um den Einfluss des L2-Wissens besser messen zu können, wurden neben der spanischen Interpretationsaufgabe äquivalente Tests für das Englische und das Französische entwickelt (siehe Kapitel 6.2.4 für eine genaue Beschreibung). Da das Lateinische nicht im Fokus der Hauptstudie steht und nur als zusätzliche Vergleichssprache angesehen wird, wurde keine entsprechende Aufgabe erstellt. Auch der Fragebogen der Pilotstudie wurde vor der Verwendung in der Hauptstudie hinsichtlich mehrerer Aspekte überarbeitet. Es handelte sich dabei auf der einen Seite um eine Änderung der Art (geschlossen, halboffen, offen) und der Formulierung einzelner Fragen sowie um eine Erweiterung der Fragenbatterie (siehe Abschnitt 6.2.5 für eine Darstellung). Auf der anderen Seite musste der Fragenkatalog aufgrund der zeitlichen Vorgaben (die Untersuchungsdauer durfte vier Unterrichtseinheiten nicht überschreiten) teilweise gekürzt werden. Außerdem wurde der Fragebogen in der Hauptstudie im Unterschied zur Pilotstudie am Ende der Untersuchung ausgeteilt, um die Probanden durch die gestellten Fragen nicht zu beeinflussen. Schließlich sollten zusätzlich zu den quantifizierbaren Daten noch qualitative Daten erhoben werden. Hierfür wurde eine stimulated-recall -Reflexionsaufgabe gewählt, in welcher jeweils zwei Teilnehmer auf Deutsch über sechs Sätze der spanischen Interpretationsaufgabe nachdenken und die Reflexionen in das Diktiergerät sprechen mussten. Die Lernenden erhielten einige Leitfragen, an denen sie sich orientieren konnten (für eine genauere Beschreibung der Aufgabe und eine Diskussion der Kriterien, nach welchen die Teilnehmer ausgewählt wurden, siehe Abschnitt 6.2.6). Nachdem in diesem Kapitel das Untersuchungssetting der Pilotstudie beschrieben und die entsprechenden Änderungen im Hinblick auf die Hauptstudie dargelegt wurden, werden in den nächsten Kapiteln die einzelnen Testinstrumente der Hauptstudie vorgestellt und diskutiert. <?page no="147"?> 148 6 Methodologie 6.2.2 C-Test Die Sprachkompetenz in der Zielsprache stellt einen Faktor dar, der den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt wesentlich beeinflusst. Lernende mit einem hohen Spanischniveau werden demnach korrekter zwischen perfecto simple und imperfecto unterscheiden als Lernende mit einem niedrigen zielsprachlichen Niveau. Es ist daher wichtig, diese Variable zu kontrollieren. Da sich in der Pilotstudie zeigte, dass die in Spanisch erhaltenen Unterrichtsstunden kein ausreichend valides Maß für die zielsprachliche Kompetenzmessung darstellen (siehe Kapitel 6.2.1), wurde in der Hauptstudie ein C-Test durchgeführt. Dabei handelt es sich um ein ökonomisches und reliables Verfahren zur globalen Feststellung der allgemeinen Kompetenz in Fremd-, Zweit- und Erstsprachen. Er […] ist insbesondere dann erfolgreich einsetzbar, wenn das Ziel eine vom vorangehenden Unterricht bzw. von der individuellen Lerngeschichte weitgehend unabhängige globale Sprachstandsfeststellung ist (Grotjahn 2002: 211; Hervorhebung durch den Verfasser). Bei einem C-Test geht es eben nicht darum, das Wissen der Lernenden im Hinblick auf ein bestimmtes sprachliches Phänomen zu testen. Im Gegenteil: Er wird üblicherweise dafür eingesetzt, einen allgemeinen, globalen Überblick über die zielsprachliche Gesamtkompetenz zu erlangen. Laut Klein-Braley (1997) beruht das C-Test-Format (1) auf einer Variante des cloze -Prinzips und (2) auf dem theoretischen Prinzip der reduzierten Redundanz. Letzteres nimmt an, dass eine Sprache eine Vielzahl redundanter Informationen enthält, welche durch eine Streichung - beispielsweise ganzer Wörter oder Wortendungen - reduziert werden kann. Native Speaker sind trotzdem noch in der Lage, die sprachlichen Aussagen problemlos zu verstehen und die Informationslücken mithilfe ihrer Sprachkompetenz zu füllen. Je nach Sprachniveau haben L2-Lerner mit dieser Informationsreduktion Schwierigkeiten, die aber mit steigendem Sprachlevel abnehmen (vgl. Klein-Braley/ Raatz 1984: 134). Das Prinzip der reduzierten Redundanz wird im klassischen cloze -Prinzip durch die Löschung ganzer Wörter umgesetzt. Klein-Braley (1997: 63-66) kritisiert diesen Ansatz und plädiert für die Tilgung einzelner Wortteile („we damage parts of words“; ebd.: 64). Im Folgenden wird beschrieben, wie diese beiden Prinzipien bei der Konstruktion eines C-Tests eingesetzt werden. Normalerweise werden vier bis sechs kurze Texte unterschiedlicher Thematik gewählt, die dann durch „the rule of 2“ manipuliert werden, das heißt, dass ab dem zweiten Wort des zweiten Satzes die zweite Hälfte jedes zweiten Wortes getilgt wird (vgl. Klein-Braley/ Raatz 1984: 136). Es wird empfohlen, pro Text die gleiche Anzahl an Tilgungen vorzunehmen (ca. 20 bis 25). Für die kontextuelle <?page no="148"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 149 Orientierung ist es ratsam, an den Textenden ein kurzes unversehrtes Textstück stehenzulassen. Die ausgewählten Texte werden in aufsteigender Schwierigkeit angeordnet, und für jede exakte Rekonstruktion eines Wortes wird ein Punkt vergeben. Sie sollten „inhaltsneutral sein, kein Spezialvokabular enthalten, kein Spezialwissen verlangen, soweit wie möglich authentisch sein, eine Sinneinheit bilden und zudem möglichst zielgruppenadäquat sein“ (Grotjahn 2002: 215). C-Tests sind meist sehr reliabel (Cronbachs Alpha zwischen 0,80 und 0,90), haben eine sehr hohe Durchführungsobjektivität und erlauben auch eine äußerst objektive Auswertung. Des Weiteren handelt es sich um ein ökonomisches Testverfahren, das in weniger als einer halben Stunde durchgeführt werden kann. Außerdem korrelieren C-Test-Ergebnisse mit einer erstaunlich hohen Anzahl an Außenkriterien (z. B. Schulnoten, Lehrerurteilen etc.), 50 was als Indiz für eine hohe Validität gewertet wird (vgl. ebd.: 214-215). Um den C-Test der vorliegenden Untersuchung zu einem hohen Maße an die Bedürfnisse der Probanden anzupassen, wurde kein vorgefertigter Test verwendet, sondern ein eigener mithilfe des C-Testcreators 1.2 von Lucy Georges (2020) erstellt. Er wurde mit zwei Native Speakern und zwei Lernenden des Spanischen, die ein ähnliches Sprachniveau wie die Zielgruppe hatten, pilotiert. Eine solche Pilotierung ist wichtig, um die Schwierigkeit des Gesamttests einschätzen zu können (vgl. Grotjahn 2002: 216). Beide L1-Sprecher erreichten mehr als 90 % korrekter Antworten, was Grotjahn als Schwellenwert für die Adäquatheit eines Tests festlegt (vgl. ebd.). Das Feedback der beiden Spanischlernenden war insofern wichtig, als sie auf Schwierigkeiten bezüglich der Testkonstruktion hinwiesen (z. B. Tilgung von Eigennamen), die dadurch vor der Durchführung in der Hauptstudie behoben werden konnten. Auch bezüglich der Textauswahl wurde ein besonderes Augenmerk auf die Lerneradäquatheit gelegt. Aus diesem Grund wurden Texte aus dem Lehrwerk c aMinos neu (a1, a2, B1) ausgewählt (vgl. Görrissen et al. 2009, 2010a, 2010b). 51 Dies hat den Vorteil, dass deren Schwierigkeitsgrad - sowohl lexikalischer als auch grammatikalischer Natur - mit dem Sprachniveau der Lernenden übereinstimmt. Sie haben eine Länge von 76 bis hundert Wörter, sind der Schwierigkeit nach angeordnet und handeln von den folgenden Themen: (1) Pedro Almodóvar, un artista de primera fila (c aMinos neu a1: 117), (2) Pals, un pueblo antiguo reconstruido en Cataluña (c aMinos neu a2: 14), (3) El pintor colombiano Fernando 50 Dies trifft auch auf die Daten der vorliegenden Studie zu: Es findet sich eine hochsignifikante Korrelation zwischen den C-Test-Ergebnissen und den Schulnoten (r = -0,437, p < 0,001) sowie den in Spanisch erhaltenen Lernstunden (r = 0,401, p < 0,001). 51 Das Lehrwerk c aMinos neu wurde in keiner der Klassen verwendet, wodurch mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass die Texte für alle Probanden gleichermaßen unbekannt waren. <?page no="149"?> 150 6 Methodologie Botero (c aMinos neu a2: 28), (4) El lenguaje no verbal (c aMinos neu A2: 83), (5) La fiebre de los SMS (c aMinos neu B1: 11). Jeder Text beinhaltet 25 Tilgungen, was zu einer Gesamtpunktezahl von 125 führt. Für die Markierung der Lücken wurde eine gestrichelte Linie mit einem Strich pro getilgten Buchstaben gewählt. Laut Grotjahn (2002: 212) kann diese Variante zwar einen negativen Effekt auf die Reliabilität beispielsweise durch die Induzierung von Buchstabenzählen haben. Sie macht den C-Test jedoch leichter und berücksichtigt somit, dass die Schüler mit dem Testformat nicht vertraut sind. 6.2.3 Bildgeschichten Im Folgenden wird zuerst kurz darauf eingegangen, warum sich Bildgeschichten zur Elizitierung von mündlichen Sprachdaten eignen. Im Anschluss daran werden die in der empirischen Untersuchung verwendeten Bildgeschichten näher beschrieben. Im Allgemeinen dienen offene Aufgabenformate, zu denen die Nacherzählung einer Bildgeschichte zählt, dazu, natürliche und authentische Sprachdaten zu elizitieren: Open-ended tasks are designed to encourage learners and native speakers to produce the kind of language that they produce naturally, that is, to tell stories and recount events, to describe and to argue, to predict and hypothesize, and to have conversations (Bardovi-Harlig 2013: 219). Es gibt unterschiedliche Typen offener Aufgabenformate, zu denen unter anderem Interviews, Konversationen oder Erzählungen gehören. In Anlehnung an Dahl (1983: 116) kann eine Erzählung als Text definiert werden, in welchem der Sprecher eine Serie von realen oder fiktiven Ereignissen in chronologischer Reihenfolge wiedergibt. Sie orientieren sich typischerweise an der Vergangenheit, sind monologischer Natur und können oral oder schriftlich, persönlich, unpersönlich oder personalisiert, in der ersten oder dritten Person sowie spontan oder elizitiert sein (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 230). Erzählungen besitzen eine interne Struktur der Ereignisanordnung, die meist als vorder- und hintergründig klassifiziert wird. Dabei wird der Vordergrund als tatsächlicher Handlungsstrang und der Hintergrund als unterstützendes/ beschreibendes Material definiert (vgl. Hopper 1979; siehe Diskurs-Hypothese in Kapitel 5.1.2). Aufgrund dieser internen Struktur der Ereignisanordnung eignen sich Erzählungen in besonderem Maße, perfektive und imperfektive Verbformen zu elizitieren, weshalb sie häufig in der Tempus- und Aspekt-Zweitspracherwerbsforschung verwendet werden. Bardovi-Harlig (2013: 233-238) unterscheidet zwischen in natürlichen Gesprächssituationen auftretenden und elizitierten Erzählungen. Im Allgemeinen <?page no="150"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 151 haben natürlich erhobene Daten den Vorteil, dass es sich um authentische Beispiele der Lernersprache handelt. Allerdings bringen sie den Nachteil mit sich, dass sie aufgrund der Spontanität und des damit einhergehenden unvorhersehbaren Verlaufs kaum kontrollierbar sind und daher eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse nur bedingt gegeben ist. Außerdem ist es möglich, dass die Lernenden eine im Fokus der Forschung stehende Struktur nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß produzieren, was eine Untersuchung derselben erschwert (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 238; Chaudron 2003: 766-772). Aus diesen Gründen verwenden zahlreiche Studien elizitierte Nacherzählungen (vgl. Mackey/ Gass 2005: 87-89 für einen allgemeinen Überblick). Obwohl auch hier keine absolute Kontrolle über die lernersprachliche Produktion gewonnen werden kann (vgl. Chaudron 2003: 773), ermöglichen es elizitierte Nacherzählungen, die Bandbreite natürlicher Kommunikationssituationen besser zu kontrollieren und somit auf die Bedürfnisse einer Studie abzustimmen. So können beispielsweise spezifische sprachliche Phänomene durch Bilder oder prompts elizitiert werden. Ein zweiter Vorteil ist, dass elizitierte Daten durch die Hinzufügung von Übersetzungen, spezifischen Arbeitsanweisungen oder lexikalischen Entlastungen für so gut wie alle Sprachniveaustufen eingesetzt werden können (vgl. ebd.: 772-773). Elizitierte Erzählungen können persönlich, unpersönlich oder personalisiert sein (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 238-248). Bei einer persönlichen Erzählung handelt es sich um die Wiedergabe von etwas persönlich Erlebtem in der 1. Person. Sie können beispielsweise mithilfe von prompts , emotion cards oder Bildern/ Filmen in Kombination mit der Frage, ob die Lernenden bereits ein ähnliches Ereignis erlebt haben, relativ einfach elizitiert werden. Sie haben den Vorteil, dass sie normalerweise viele hintergründige Handlungen und eine hohe Anzahl an Verbalmorphologie beinhalten und außerdem aufgrund des persönlichen Bezuges motivierend sind. Da eine Erzählstruktur nur bedingt vorgegeben werden kann, sind sie allerdings im Vergleich zu unpersönlichen oder personalisierten Nacherzählungen nur schwer zu kontrollieren (vgl. ebd.: 238-242). Bei unpersönlichen Erzählungen hingegen kann durch die Verwendung von beispielsweise Filmen oder Bildergeschichten relativ einfach eine Erzählstruktur vorgegeben werden. Dies hat einerseits den Vorteil, dass die einzelnen Nacherzählungen vergleichbar sind; andererseits können spezifische Stimuli ausgewählt werden, die beispielsweise bei der Elizitierung gewünschter sprachlicher Phänomene helfen (vgl. Bardovi-Harlig 2000: 199-200). Es ist auf diese beiden Vorteile zurückzuführen, dass eine Fülle an Studien Film- oder Bildgeschichten als Stimuli für mündliche unpersönliche Nacherzählungen gewählt haben (vgl. beispielsweise Comajoan 2006; Domínguez et al. 2013; Salaberry 2000). Die Geschichte kann dabei sowohl einem Forscher als auch einem Kommilitonen <?page no="151"?> 152 6 Methodologie erzählt werden. Auch eine Selbstaufnahme ohne Gesprächspartner ist denkbar (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 244). Schließlich versuchen personalisierte Erzählungen, die Vorteile der beiden oben genannten Erzähltypen zu kombinieren. Die Aufgabe des Lernenden ist es, in die Rolle des Protagonisten zu schlüpfen und dessen Ereignisse aus der Ich-Perspektive zu schildern. Die Vorteile von unpersönlichen Erzählungen (z. B. eine hohe Vergleichbarkeit) treffen auch auf diesen Erzähltyp zu. Zusätzlich zeichnen sich personalisierte im Vergleich zu unpersönlichen Erzählungen durch eine höhere Anzahl an hintergründigen Handlungen aus (vgl. ebd.: 246), was möglicherweise auf den Perspektivwechsel von der 3. Person Singular in die 1. Person Singular zurückzuführen ist. In der vorliegenden Studie dienen zwei Bildgeschichten ( Tus vacaciones und Nati y Pancho ) als Impuls für zwei mündliche, monologische Nacherzählungen. Sie werden neben der spanischen Interpretationsaufgabe (siehe Kapitel 6.2.4.1) dazu verwendet, den Erwerb der Opposition von perfektiv/ imperfektiv zu operationalisieren. Es ist daher wichtig, dass durch die Bildgeschichten Vergangenheitskontexte elizitiert werden, die wiederum perfektive, progressive, kontinuative und habituelle Kontexte beinhalten. Im Hinblick auf die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen (siehe Kapitel 3.2) stellt sich die Frage, welche Wissensart durch dieses Aufgabenformat gemessen wird. In Anlehnung an Ellis (2005: 162), dessen Erkenntnisse auf einer empirischen Studie beruhen, wird angenommen, dass mündliche Nacherzählungen primär implizites Wissen messen. Als Impuls für die Nacherzählungen wurden Bildgeschichten und keine Filmausschnitte gewählt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die mündliche Wiedergabe eines Filmauszuges einen erhöhten Rückgriff auf kognitive Ressourcen beansprucht, da zusätzlich zur eigentlichen Nacherzählung die entsprechenden Inhalte des Filmausschnittes memoriert und aus dem Gedächtnis abgerufen werden müssen (vgl. Comajoan 2005: 71). Der mögliche Rückgriff auf die Bildgeschichte während des Erzählens entlastet die Lernenden und entspricht außerdem eher der didaktisch-methodischen Herangehensweise im schulischen Kontext. An zweiter Stelle stehen praktische Überlegungen: Die schulischen Klassenzimmer sind meistens nicht mit Computern und Beamern ausgestattet, was die Nutzung eines Filmsegments erschwert. Der Einsatz von Bildgeschichten ermöglicht es außerdem, die für die Studie relevanten sprachliche Ausdrücke zu elizitieren. Dies wird unter anderem durch den Gebrauch von prompts , wie zum Beispiel Adverbialphrasen, möglich (vgl. Bardovi-Harlig 2013: 244). Die Wahl einer personalisierten ( Tus vacaciones ) und einer unpersönlichen Nacherzählung ( Nati y Pancho ) ergibt sich aus den oben genannten Gründen: Beide zeichnen sich - im Gegensatz zu persönlichen Nacherzählungen - durch <?page no="152"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 153 eine bessere Kontrolle über die Narrationsstruktur aus, was mit einer erhöhten Vergleichbarkeit - auch mit anderen Studien - einhergeht. Außerdem ermöglichen sie es, spezifische sprachliche Phänomene einfacher zu elizitieren, als dies mit der persönlichen Variante der Fall wäre. Die Verwendung einer personalisierten Nacherzählung hat außerdem den Vorteil, eine hohe Anzahl hintergründiger Handlungen zu elizitieren. Dies sollte zudem mit einer starken Verwendung von imperfektiven Formen einhergehen. Um sicherzugehen, dass mithilfe der beiden Bildgeschichten ausreichend imperfektive Verbformen produziert werden, wurde Tus vacaciones dermaßen abgeändert, dass die Teilnehmer in die Rolle des rothaarigen Mädchens schlüpfen und die Geschichte aus der Perspektive des Mädchens in der 1. Person nacherzählen müssen. Im Folgenden werden die beiden Bildgeschichten näher beschrieben und es wird dargelegt, wie sie bearbeitet wurden, um die für die empirische Untersuchung notwendigen Kontexte zu elizitieren. Die Originalversionen von Tus vacaciones und Nati y Pancho wurden nur minimal abgeändert, um eine Vergleichbarkeit mit anderen Studien, welche die gleichen Testmaterialien verwenden, zu gewährleisten (vgl. Domínguez et al. 2013; McManus 2011). 6.2.3.1 Tus vacaciones Die Geschichte Tus vacaciones besteht aus 14 Seiten mit insgesamt 26 unterschiedlichen Bildern und handelt von zwei Freundinnen, die gemeinsam in Urlaub fahren. Ihr Inhalt ist in Tabelle 17 zusammengefasst; ausgewählte Bilder sind in Abbildung 8 wiedergegeben: Seite Inhalt 1 Im Sommer 2014 befanden sich Sarah und ihre Freundin am Flughafen, um nach Madrid zu fliegen. Sarah telefonierte und die Ich-Erzählerin las in einem Stadtführer. 2 In Madrid besichtigten sie die Stadt und besuchten unter anderem das Stadion von Real Madrid (Santiago Bernabeu) und die Puerta de Alcalá. Außerdem aßen sie Tapas und tranken Wein. 3 In Madrid entschieden sie sich, einen Zug nach Barcelona zu nehmen. Im Zug begannen sie, über ihre Kindheit nachzudenken und darüber zu sprechen. 4 In ihrer Kindheit waren sie sehr unterschiedlich. 5 Am Wochenende las die Ich-Erzählerin für gewöhnlich ein Buch, schrieb ein Märchen oder zeichnete ein Bild. 6 Unter der Woche stand sie früh auf und beendete ihre Hausaufgaben früh. <?page no="153"?> 154 6 Methodologie 7 Im Gegensatz zur Ich-Erzählerin spielte Sarah am Wochenende normalerweise Fußball und ging mit ihren Freunden ins Kino, um einen Film zu sehen. 8 Unter der Woche fuhr sie mit dem Fahrrad in die Schule und kam oft zu spät. 9 Sie machte ihre Hausaufgaben spät und schlief daher auch oft sehr spät ein. 10 Plötzlich gab es einen crash im Zug und die beiden Freundinnen wussten nicht, was passiert war. 11 Auf einmal tropfte Wasser auf den Kopf der Ich-Erzählerin und Sarah lachte. 12 Daraufhin bat Sarah den Schaffner um Hilfe und dieser bot ihnen zwei neue Plätze an. 13 Sarah und die Ich-Erzählerin beruhigten sich und freuten sich über die neuen Plätze. 14 Als sie in Barcelona ankamen, aßen sie Pizza und dachten noch einmal an die Geschehnisse im Zug und lachten. Tab. 17: Zusammenfassung des Inhalts von Tus vacaciones 1 Tus vacaciones Verano del 2014 Sarah Yo Das bist Du! 2 En MADRID (visitar) la ciudad k (comer) tapas (beber) vino 3 Después decidisteis ir a Barcelona (coger) el tren (hablar) sobre vuestra niñez 4 De pequeñas, (ser) muy diferentes 1996 Abb. 8: Ausgewählte Bilder aus Tus vacaciones <?page no="154"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 155 Wie in Abbildung 8 ersichtlich, sind die einzelnen Bilder mit prompts versehen, welche dazu dienen, perfektive und imperfektive Kontexte zu elizitieren. Auf der ersten Seite wird ein Vergangenheitskontext (Sommer 2014) etabliert. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, da sonst die Gefahr besteht, dass die Lernenden die Bildgeschichte im Präsens nacherzählen. Im Anschluss wird durch die Abfolge der Bilder sowie durch prompts , wie beispielsweise En Madrid oder Después decidisteis ir a Barcelona , der Handlungsstrang vorangetrieben, was zur Produktion von perfektiven Verbformen führen sollte. Danach wird durch eine Rückschau in die Kindheit der beiden Freundinnen, welche durch prompts wie beispielsweise De pequeñas, (ser) muy diferentes erzeugt wird, ein habitueller Kontext etabliert, der schließlich durch ein plötzlich eintretendes Ereignis ( De repente en el tren… ) unterbrochen wird. Es folgen einmalige, den Handlungsstrang vorantreibende Ereignisse (siehe Beschreibung der Bildgeschichte in Tabelle 17). Die prompts dienen außerdem dazu, nicht prototypische Kombinationen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt zu elizitieren. Beispielsweise wird durch die Vorgabe von de repente en el tren… eine einmalige, abgeschlossene und den Handlungsstrang vorantreibende Situation erzeugt, weshalb eine perfektive Verbform verwendet werden muss. Darauf folgt die Verbalphrase (haber) un gran revuelo , deren Verb trotz des statischen Charakters aufgrund des vorher etablierten Kontexts im perfecto simple konjugiert werden muss (vgl. McManus 2011: 116-120 für eine ähnliche Beschreibung der Bildgeschichte). 6.2.3.2 Nati y Pancho Die Geschichte Nati y Pancho besteht aus 14 Seiten mit insgesamt 40 unterschiedlichen Bildern und handelt von einem Mädchen (Nati) und ihrer Katze (Pancho). Eine Zusammenfassung des Inhalts findet sich in Tabelle 18; ausgewählte Bilder sind in Abbildung 9 dargestellt: Seite Inhalt 1 Die Titelseite zeigt Nati und Pancho im Freien. Pancho sitzt auf einer roten Mauer und Nati streichelt ihn. Es wird ein zeitlicher Rahmen etabliert (Sommer 2014). 2 Im Sommer 2014 machte Nati für gewöhnlich Puzzles, sie zeichnete, fuhr mit einem Tandem-Fahrrad mit einem Freund und las ihren Stofftieren eine Geschichte vor. 3 Pancho versuchte für gewöhnlich, Schmetterlinge zu fangen. Er lag häufig in der Sonne und schlief in seinem Körbchen. <?page no="155"?> 156 6 Methodologie 4 Eines Tages (20.08.2014) verließ er das Haus und machte einen Spaziergang. Er lauerte einem Marienkäfer auf und saß auf einer Mauer. 5 Während des Spaziergangs wurde er plötzlich von einem wilden Hund attackiert. Pancho hatte Angst, weshalb er schnell davonlief und auf einen Baum kletterte. 6 Währenddessen stellte Nati fest, dass Pancho verschwunden war und sie begann, ihn zu suchen. 7 Sie suchte ihn in seinem Körbchen, hinter der Waschmaschine, in der Küche hinter dem Gemüsekorb, in diversen leeren Boxen und hinter dem Sofa. Außerdem suchte sie ihn im Garten, doch er war nicht zu finden. 8 Währenddessen saß Pancho auf dem Baum und fing Vögel. Nati sah Pancho und versuchte, ihn zu fangen. Da Nati aber als Feuerwehrfrau verkleidet war, erkannte Pancho sie nicht und floh, indem er von einem Baum zum anderen sprang. Vom zweiten Baum aus sprang er auf eine Mauer, wo er schließlich flüchtete. 9 Nati war verzweifelt und wusste nicht, was sie tun sollte. 10 Plötzlich hatte sie eine Idee und ging nach Hause. Dort nahm sie eine Menge Futter, um Pancho eine Spur zu legen. 11 Sie legte die Spur von der Haustür bis zu Panchos Korb, wo sie mit einer Wasserschüssel auf ihn wartete. 12 Plötzlich bekam Pancho Hunger, weshalb er sich entschied, nach Hause zu gehen. Auf dem Nachhauseweg begann es plötzlich zu regnen. 13 Beim Betreten des Hauses fand Pancho eine Menge Futter auf dem Boden. Er folgte der Spur, die bis zu seinem Korb führte. 14 Am Ende der Spur fand er Nati in seinem Korb liegen. Er weckte sie auf und sie freute sich sehr, ihn zu sehen. Tab. 18: Zusammenfassung des Inhalts von Nati y Pancho <?page no="156"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 157 1 En verano del 2014 Nati Pancho 2 Todos los días la misma rutina… Nati... Der übliche Tagesablauf von Nati im Sommer 2014 3 Todos los días Pancho... Der übliche Tagesablauf von Pancho im Sommer 2014 4 Un día, exactamente el 20.08.2014... Ein Spaziergang von Pancho Abb. 9: Ausgewählte Bilder aus Nati y Pancho Der Ablauf der Bildgeschichte und die verwendeten prompts elizitieren sowohl einmalige, perfektive Ereignisse als auch progressive (Inzidenzschema) 52 und habituelle Kontexte. Eine Auflistung der prompts und deren Funktion findet sich in Tabelle 19: Prompts Funktion En verano del 2014 Etablierung eines Vergangenheitskontexts Todos los días la misma rutina… Todos los días Pancho… Elizitierung von habituellen Ereignissen Un día, exactamente el 20.08.2014 Elizitierung von einmaligen, perfektiven Ereignissen 52 Das Inzidenzschema geht auf Pollak (1960) zurück, der es folgendermaßen beschreibt: „Imparfait und Passé simple werden bekanntlich oft in der Weise kontrastiert, daß ein Zustand als gegeben oder eine Handlung als im Verlauf befindlich dargestellt wird (Imparfait), und nun eine Handlung ‚inzidiert‘ (Passé simple)“ (ebd.: 129). Dieses Schema ermöglicht es relativ einfach, eine progressive mit einer perfektiven Handlung zu kontrastieren, weshalb es oft in Schulbüchern zur Erklärung der Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv eingesetzt wird (vgl. Eibensteiner 2017: 208). <?page no="157"?> 158 6 Methodologie Während des Spaziergangs… 53 Elizitierung des Inzidenzschemas (progressives Ereignis) En el árbol… Mientras Nati… Pancho… Elizitierung des Inzidenzschemas (progressives Ereignis) De repente… una idea En casa… Elizitierung eines plötzlich eintretenden, perfektiven Ereignisses Auf dem Nachhauseweg… lluvia… Elizitierung eines progressiven Kontextes Beim Reingehen… cuando… Elizitierung des Inzidenzschemas (progressives Ereignis) Tab. 19: Prompts und deren Funktion in Nati y Pancho 6.2.4 Semantische Interpretationsaufgaben Neben der Nacherzählung von Bildgeschichten werden in der vorliegenden Studie auch geschlossene Aufgabenformate wie beispielsweise Grammatikalitätsurteile oder semantische Interpretationsaufgaben verwendet, um die Konstrukte der Untersuchung zu operationalisieren. Zu Beginn dieses Kapitels wird auf die Vor- und Nachteile der entsprechenden Tests eingegangen; im Anschluss daran werden die drei in dieser Arbeit verwendeten Interpretationsaufgaben beschrieben. Forscher im Bereich der generativistischen Zweitspracherwerbsforschung plädieren für die Verwendung von Grammatikalitätsurteilen, 54 weil dadurch ein direkter Zugriff auf die Kompetenz der Sprecher möglich sei. Fehler auf der Ebene der Performanz können besser ausgeschlossen werden, da die Sätze nicht produziert, sondern lediglich interpretiert werden müssen (vgl. Ionin 2012: 30). Im Gegensatz dazu betont Ellis (2005), dass mit Grammatikalitätsurteilen prinzipiell explizites Wissen abgefragt wird, vor allem dann, wenn sie ohne Zeitdruck durchgeführt werden. Die entscheidende Frage ist daher, inwieweit dieses explizite, metasprachliche Wissen etwas über die zugrunde liegende implizite Sprachkompetenz im Sinne Chomskys aussagt (vgl. Odlin 2016: 243). Studien im Bereich der generativistischen Zweitspracherwerbsforschung versuchen daher, 53 Da der Gebrauch spanischer prompts in manchen Fällen die Verwendung imperfektiver Verbformen vorweggenommen hätte, wurde auf die deutsche Übersetzung ausgewichen (z. B. Während des Spaziergangs statt mientras Pancho daba un paseo) . 54 Mackey und Gass (2005: 49) verweisen darauf, dass die Termini Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile häufig gleichbedeutend verwendet werden. Diese Herangehensweise wird in der vorliegenden Arbeit übernommen. <?page no="158"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 159 den Zugriff auf explizites Wissen beispielsweise durch die Verwendung von Distraktoren oder Zeitdruck zu reduzieren (vgl. Ionin 2012: 37-39). Grammatikalitätsurteile bestehen typischerweise aus dekontextualisierten grammatischen und ungrammatischen Sätzen, welche von den Probanden hinsichtlich ihrer Akzeptabilität bewerten werden müssen. Darüber hinaus existieren Testformate, die Sätze kontextualisiert präsentieren. Diese Vorgehensweise eignet sich vor allem dann, wenn der Fokus der Studie auf Assoziationen zwischen Form und Bedeutung abzielt (vgl. ebd.). Beispielsweise wird in truthvalue judgement tasks mithilfe einer kurzen Geschichte, eines Bildes oder eines Filmausschnittes ein Kontext vorgegeben. Im Anschluss müssen die Lernenden entscheiden, ob der mit dem Impuls präsentierte Beispielsatz eine wahrheitsgetreue Beschreibung desselben liefert. Semantische Interpretationsaufgaben (en. semantic interpretation task , SIT) bestehen im Unterschied zu den truthvalue judgement tasks typischerweise aus einem kurzen, einleitenden Text und zwei Sätzen, welche von den Lernenden im Hinblick auf ihre (grammatikalischdiskursive) Akzeptabilität unter Bezugnahme des entsprechenden Kontexts bewerten werden müssen. Dieses Aufgabenformat ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, da es beispielsweise im Bereich der generativistischen Zweit-/ Drittspracherwerbsforschung häufig verwendet wird, um den Erwerb von grammatikalischem Aspekt zu untersuchen (vgl. ebd.). Grammatikalitätsurteile und damit auch semantische Interpretationsaufgaben können jedoch, je nach Forschungsfrage und -design, auch in anderen Forschungsparadigmen benutzt werden (vgl. Mackey/ Gass 2005: 55). Im Sinne einer Methodentriangulation bietet es sich an, semantische Interpretationsaufgaben ergänzend zu Sprachproduktionsdaten einzusetzen. Beispielsweise ist es trotz der oben genannten Möglichkeiten (z. B. prompts ) teilweise nicht zu verhindern, dass Lernende in offenen Aufgabenformaten Vermeidungsstrategien anwenden und gewisse sprachliche Strukturen umgehen. Des Weiteren ist es oft schwierig, wenig frequente oder sehr komplexe Sprachstrukturen, wie beispielsweise nicht prototypische Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt, zu elizitieren. Der Vorteil, den der Einsatz von geschlossenen Aufgabenformaten mit sich bringt, ist, dass die Studienteilnehmer gezwungen werden können, eine Bewertung bezüglich der Angemessenheit einer beliebigen sprachlichen Struktur abzugeben, das heißt auch bezüglich wenig frequenter sprachlicher Konstruktionen (vgl. ebd.: 49). Darüber hinaus ist es laut Mackey und Gass (2005: 49-50) wichtig, zu untersuchen, was die Lernenden nicht können. Beispielsweise kann es sein, dass sie den Satz La casa de su abuela está en Madrid in den mündlichen Sprachdaten produzieren, gleichzeitig aber *La casa de su abuela es en Madrid in dem geschlossenen Aufgabenformat akzeptieren. Wäre die Unterscheidung von ser <?page no="159"?> 160 6 Methodologie und estar wirklich Teil ihrer Lernersprache, würden sie die falsche Verwendung von ser im zweiten Satz ablehnen. Ob Lernende derartige ungrammatische Sätze tatsächlich zurückweisen, kann mithilfe von Sprachproduktionsdaten allein nur schwer herausgefunden werden, weshalb geschlossene Aufgabenformate eine passende Ergänzung darstellen. Um ein vollständiges Bild der Lernersprache zu bekommen, ist die eben angesprochene Methodentriangulation unabdingbar. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Studie ergänzend zu den Nacherzählungen der Bildgeschichten noch Daten mithilfe von semantischen Interpretationsaufgaben für das Englische, das Französische und das Spanische erhoben. Bei der Konstruktion solcher Aufgaben müssen einige Aspekte bedacht werden, die im Folgenden in Anlehnung an Ionin (2012: 39-46) dargestellt werden. Um dem Gütekriterium der Inhaltsvalidität gerecht zu werden (siehe Kapitel 6.2), wird die Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv inklusive der Subkategorien des imperfektiven Aspekts vollständig durch die Konditionen der entsprechenden Interpretationsaufgabe abgebildet. Die Konditionen beziehen sich immer auf Kontexte der Vergangenheit. Sie wurden basierend auf den grammatikalisierten aspektuellen Oppositionen der jeweiligen Sprachen erstellt. Die französische und die spanische Interpretationsaufgabe setzen sich dementsprechend aus perfektiven, progressiven, kontinuativen und habituellen Kontexten zusammen. Die englische Aufgabe hingegen besteht nur aus den Bedingungen nicht progressiv und progressiv , was sich aus den unterschiedlichen Ausdrucksmitteln dieser Sprache ergibt. Im Allgemeinen wurden für jede Kondition mehrere Items erstellt, die sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden (vergleichbare Länge der Kontexte und Sätze, ähnliche lexikalische und syntaktische Komplexität; eine Darstellung und Diskussion sprachspezifischer Items findet sich in den Kapiteln 6.2.4.1, 6.2.4.2 und 6.2.4.3). Ein Item besteht aus einem deutschen Kontext und zwei fremdsprachlichen Sätzen. Der Kontext dient dazu, eine Situation zu erzeugen, die nur durch einen der beiden fremdsprachlichen Sätze adäquat beschrieben werden kann. Er wurde auf Deutsch formuliert, um das Verständnis auch für Probanden mit einem niedrigen Sprachniveau zu sichern. Die Problematik, dass ein in der L1 der Lernenden formulierter Kontext einen Einfluss auf deren Bewertungen haben könnte, ist uns durchaus bewusst. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass eine entsprechende Formulierung in der Zielsprache einen noch stärkeren Einfluss auf die Wahl der Probanden haben und zusätzlich dazu möglicherweise Verständnisschwierigkeiten erzeugen könnte (für eine ähnliche Argumentation vgl. Domínguez et al. 2013: 570). Die Möglichkeiten, ein Akzeptabilitätsurteil abzugeben, reichen von einer zweistufigen Ja-/ Neinbis zu einer mehrstufigen Likert-Skala. In der <?page no="160"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 161 Forschungsliteratur gibt es bisher keine einheitliche Meinung, welche Skala zu bevorzugen ist (vgl. Mackey/ Gass 2005: 54-55). In der vorliegenden Arbeit wurde - wie auch in der ursprünglichen Fassung des Spanish-Learner-Language- Oral-Corpora -Forschungsteams (vgl. Domínguez 2019b) - eine fünfstufige Likert-Skala gewählt (von -2 ganz sicHer falscH bis +2 ganz sicHer ricHtig ). McManus (2011: 125) kritisiert daran, dass es nicht klar ist, worin der Unterschied zwischen -2 und -1 bzw. zwischen +1 und +2 besteht. Die Nuancierung einer fünfstufigen Likert-Skala ermöglicht aber, die Bewertungssicherheit der Lernenden zu berücksichtigen. So hat jemand, der einen Satz mit +1 bewertet, ihn zwar korrekt interpretiert, ist sich aber im Unterschied zu jemandem, der ihn mit +2 einstuft, unsicherer in der Wahl. Des Weiteren betont Ionin (2012: 42), dass eine solche mehrstufige Likert-Skala vor allem dann von Vorteil ist, wenn es sich um keine klaren, sondern eher um subtile grammatikalische Unterschiede handelt, wie dies beispielsweise bei Aspektphänomenen der Fall ist. Die Null wurde in Anlehnung an McManus (2011: 124) mit i cH HaBe keine a Hnung betitelt. Die Teilnehmer wurden gebeten, sie nur in Ausnahmefällen zu wählen. Nachdem die einzelnen Items erstellt wurden, muss man sich überlegen, wie sie bei der Durchführung der Studie präsentiert werden sollen. Zu beachten ist vor allem, dass die Reihenfolge variiert und dass die Anzahl der Items nicht zu hoch ist, sodass möglichen Müdigkeitseffekten entgegengewirkt werden kann und die Ergebnisse der Studie nicht beeinflusst werden (vgl. Mackey/ Gass 2005: 50-52). Des Weiteren muss über die Handhabung von Distraktoren reflektiert werden. Ihre Integration hat den Vorteil, dass die Lernenden vom eigentlichen Untersuchungsziel abgelenkt werden (vgl. ebd.). Durch eine große Anzahl wird der Test außerdem weniger explizit (vgl. Ionin 2012: 41), weshalb gerade im Bereich der generativistischen Forschung relativ viele Distraktoren eingesetzt werden. In der vorliegenden Studie fiel die Entscheidung gegen eine hohe Anzahl. Dies ist auf zwei Gründe zurückzuführen: (1) Es hätte zu wesentlich mehr Testitems geführt, was die Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne der Teilnehmer möglicherweise überstrapaziert hätte. (2) Die Studiendauer durfte vier Unterrichtsstunden nicht überschreiten. Eine höhere Distraktorenanzahl hätte die Dauer der Untersuchung verlängert, was eine Durchführung im vorgegebenen Rahmen unmöglich gemacht hätte. Außerdem bestand ihre Hauptfunktion darin, zu messen, ob die Lernenden die Interpretationsaufgabe verstanden und sie konzentriert durchgeführt haben, was auch mit einer Anzahl von nur wenigen Distraktoren bewerkstelligt werden konnte. Wenn sich beispielsweise zeigen würde, dass die Mittelwerte der Distraktor-Items sehr niedrig ausfallen, würde dies darauf hindeuten, dass die Lernenden die Aufgabe nicht verstanden oder unkonzentriert gearbeitet haben. Dies ist nicht der Fall. Im Folgenden werden die semantischen Interpretationsaufgaben für das <?page no="161"?> 162 6 Methodologie Englische, das Französische und das Spanische näher beschrieben und ausgewählte Beispielitems diskutiert. 6.2.4.1 Interpretationsaufgabe Spanisch Die spanische Interpretationsaufgabe dient genauso wie die Nacherzählung der Bildgeschichten dazu, das spanische Aspektwissen und damit einhergehend die entsprechenden abhängigen Variablen zu operationalisieren. Sie setzt sich aus 35 Items zusammen, die jeweils aus einem deutschen Kontext und zwei spanischen Sätzen bestehen. 55 Sie gliedert sich in fünf Konditionen, in denen mit Ausnahme der Kondition (B) immer das perfecto simple mit dem imperfecto kontrastiert wird. Die entsprechenden Bedingungen ergeben sich aus den in der empirischen Studie untersuchten Semantiken. Sie können in (A) perfektive, (B) progressive ( perfecto simple vs. estar + gerundio ), (C) progressive ( perfecto simple vs. imperfecto ), (D) kontinuative und (E) habituelle Kontexte eingeteilt werden. Bei fünf Items handelt es sich um Distraktoren. Eine genaue Auflistung findet sich in Tabelle 20, welche ebenfalls die Bewertungen einer muttersprachlichen Kontrollgruppe 56 beinhaltet: 55 Die Interpretationsaufgabe des Spanischen orientiert sich an der im Rahmen des Forschungsprojektes des Spanish-Learner-Language-Oral-Corpora -Projektes entworfenen Aufgabe (vgl. Domínguez 2019b) und integriert darüber hinaus vereinzelt Sätze aus früheren Studien (vgl. Montrul/ Slabakova 2002; Salaberry 2011). Einige weitere Items wurden speziell für die Bedürfnisse der vorliegenden Studie erstellt. 56 Die muttersprachliche Kontrollgruppe setzt sich aus sechs Native Speakern des Spanischen zusammen und wurde eingesetzt, um zu testen, ob die Items der spanischen Interpretationsaufgabe adäquat konstruiert sind. In der Tabelle handelt es sich um Werte einer fünfstufigen Likert-Skala. Die Teilnehmer konnten bis zu vier Punkte erreichen. Bewertungen von über 2 deuten auf eine korrekte Konstruktion der entsprechenden Items hin. Eine genaue Beschreibung der Kontrollgruppe findet sich in Kapitel 6.3.4. <?page no="162"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 163 Kondition/ Semantischer Kontext Lexikalischer Aspekt Verbalphrase Bewertungen Kontrollgruppe (A) Perfektiv Telisch Enviar mi solicitud de trabajo 2,3 Construir la casa 3,8 Cruzar la calle 1,2 Aktivisch Beber en la fiesta 3,5 Nadar en el lago 2,5 Llorar 1,3 Statisch Quedarse en mi casa 4,0 Tener una hija 3,5 Estar todo el día en casa 2,8 Ser a las 8 y media 2,7 (B) Progressiv mit estar + gerundio Telisch Nadar diez largos 3,3 Morirse de cáncer 4,0 Hacer una tarta 3,8 Aktivisch Cocinar 2,7 Tocar el piano 2,8 Conducir el coche 3,2 (C) Progressiv mit dem imperfecto Telisch Construir una casa 1,2 Cruzar la calle 2,7 Escribir una carta 2,7 Aktivisch Llover 3,0 Leer 3,0 Hablar con Toni 3,5 (D) Kontinuativ Statisch Ser a las siete 3,5 Estar aquella columna 3,3 Saber la verdad 3,3 Costar 80.000 € 2,3 <?page no="163"?> 164 6 Methodologie Kondition/ Semantischer Kontext Lexikalischer Aspekt Verbalphrase Bewertungen Kontrollgruppe (E) Habituell Telisch Levantarse a las 6 3,8 Ir a casa de Anna 2,7 Aktivisch Comer con sus amigos 3,2 Jugar al fútbol 2,7 Distraktoren Ir al cine 3,8 Quedar a las 8 2,2 Tener tiempo 2,7 Construir muñecos de nieve 4,0 Hacer deporte 3,8 Tab. 20: Items der Interpretationsaufgabe Spanisch Um die Funktionsweise der Interpretationsaufgabe deutlich zu machen, wird im Folgenden ein Item pro Kondition erklärt. Bei Item Nummer (15) handelt es sich um Bedingung (A) perfektiv : (15) Meine Schwester und ich sind letztes Wochenende zum Bodensee gefahren, um dort zu schwimmen. Wir waren das ganze Wochenende dort und haben das kalte Wasser genossen. Mi hermana y yo nadamos en el lago. −2 −1 0 1 2 Mi hermana y yo nadábamos en el lago. −2 −1 0 1 2 Der Kontext in Item (15) etabliert einen abgeschlossenen Zeitraum (letztes Wochenende), der vor dem Sprechzeitpunkt liegt. Die Situation (das Schwimmen) wird als abgeschlossenes Ganzes betrachtet und ist in dem vom Sprecher fokussierten Zeitraum eingeschlossen. Dadurch wird eine perfektive Lesart erzeugt, was mit der Verwendung der perfektiven Verbform und der Ablehnung der imperfektiven einhergeht. <?page no="164"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 165 Bei Item (2) handelt es sich um ein Beispiel aus der Kategorie (B) progressiv , in welcher das perfecto simple mit estar + gerundio kontrastiert wird: (2) Im Schwimmbecken war ich dabei, zehn Bahnen zu schwimmen. Nach fünf Bahnen hatte ich aber keine Kraft mehr und ich musste eine Pause machen. Nadé diez largos. −2 −1 0 1 2 Estaba nadando diez largos. −2 −1 0 1 2 Die perfektive Form nadé impliziert, dass die zehn Bahnen tatsächlich geschwommen wurden. Estaba nadando hingegen sagt nichts über das Ende der Handlung (= das Schwimmen der zehnten Länge) aus und fokussiert den Prozess des Schwimmens, wodurch dieser als im Verlauf befindlich dargestellt wird. Dies ermöglicht es, dass die Person das Schwimmen nach fünf Bahnen beendet und die Aussage Estaba nadando diez largos trotzdem korrekt ist. Beim nächsten Item (1) handelt es sich ebenfalls um einen progressiven Kontext; es wird allerdings das perfecto simple mit dem imperfecto kontrastiert (Kondition C): (1) Am Sonntag hat mir Mario geholfen, ein Baumhaus zu bauen. Kurz bevor wir fertig waren, ist ein Sturm aufgezogen, der es uns unmöglich gemacht hat, den Bau zu beenden. Construimos una casa en el árbol, pero la tormenta nos interrumpió. −2 −1 0 1 2 Construíamos una casa en el árbol, pero la tormenta nos interrumpió. −2 −1 0 1 2 Item (1) schildert das Bauen eines Baumhauses, das nicht beendet wurde, weil ein Sturm aufgezogen ist. Die Verwendung der perfektiven Form in Construimos una casa en el árbol impliziert, dass der Bau tatsächlich beendet wurde, weshalb die perfektive Verbform den Kontext nicht adäquat wiedergibt. Im zweiten Satz hingegen wird durch die Verwendung der imperfektiven Form die Unabgeschlossenheit des Hausbauens nicht ausgeschlossen, da das Imperfekt eine Handlung per se als unbegrenzt betrachtet. Der Kontext wird dementsprechend angemessen beschrieben. <?page no="165"?> 166 6 Methodologie Beim nächsten Item, Nummer (3), handelt es sich um ein Beispiel für Kondition (D) kontinuativ : (3) Der Film sollte eigentlich um 7 Uhr starten. Doch wie immer hat er erst nach einer halben Stunde Werbung begonnen. La película fue a las 7, pero empezó a las 7 y media. −2 −1 0 1 2 La película era a las 7, pero empezó a las 7 y media. −2 −1 0 1 2 Das perfektive fue würde implizieren, dass der Film tatsächlich um sieben Uhr startete. Da aber der Kontext angibt, dass er erst um halb 8 begonnen hat, ist das imperfektive era die adäquate Form, da sie einen verspäteten Start nicht ausschließt. Letztendlich befasst sich Item (5) mit der Bedingung (E), in der die habituelle Semantik behandelt wird: (5) Als Harry ein Teenager war, ist er für gewöhnlich mit seinen Freunden in den Park gegangen, um zu picknicken. Harry comió con sus amigos en el parque. −2 −1 0 1 2 Harry comía con sus amigos en el parque. −2 −1 0 1 2 In diesem Beispiel muss durch den Kontext eine gewohnheitsmäßige Handlung imaginiert werden. Die perfektive Verbform comió würde fälschlicherweise auf ein spezifisches, einmaliges Picknicken Bezug nehmen, wohingegen comía die Gewohnheitsmäßigkeit der Handlung ausdrückt. 6.2.4.2 Interpretationsaufgabe Französisch Der Aufbau der französischen Interpretationsaufgabe orientiert sich an den Prinzipien der spanischen. Im Unterschied zur spanischen dient sie allerdings dazu, die unabhängige Variable Aspektwissen Französisch zu operationalisieren. Sie besteht nur aus vier Konditionen, da der Progressivperiphrase être en train de aufgrund der verhältnismäßig geringen Frequenz und der damit einhergehenden niedrigen Stellung im französischen Verbalsystem keine eigene Kondition zugeordnet wurde. Daraus ergibt sich auch die etwas geringere Anzahl von nur 26 Items, von denen vier Distraktoren sind. Die französische Interpretationsaufgabe wird eingesetzt, um die Unterscheidung zwischen passé composé und imparfait zu messen. Da das passé simple im heutigen Französisch weitgehend vom passé composé verdrängt wurde (siehe <?page no="166"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 167 Kapitel 2.3.4.1) und auch im Französischunterricht primär die analytische Form gelernt wird, wird im Einklang mit weiteren Studien (vgl. McManus 2011) die französische Aspektopposition durch die zusammengesetzte Form in Kontrast zum imparfait operationalisiert. Eine Auflistung der Konditionen und der entsprechenden Verbalphrasen findet sich in der nachstehenden Tabelle: Kondition/ Semantischer Kontext Lexikalischer Aspekt Verbalphrase Perfektiv Telisch Traverser le parking Rénover la salle de bain Finir mes devoirs Aktivisch Faire du vélo Crier Pleurer Statisch Être toute la journée à la maison Couter 150 € Avoir un fils Progressiv Telisch Monter l’armoire Monter la montagne Écrire un message Aktivisch Parler avec mon amie Briller Manger Kontinuativ Statisch Couter 700 € Être à la maison Savoir la vérité Habituell Telisch Se coucher à 21 heures Aller à la bibliothèque Aktivisch Disputer avec sa sœur Jouer au tennis Distraktoren Aimer bien jouer au football Ne faire rien Voir ‹ Allied › Manger ‹ Milchschnitten › Tab. 21: Items der Interpretationsaufgabe Französisch <?page no="167"?> 168 6 Methodologie Da die Funktionsweise der französischen Interpretationsaufgabe jener der spanischen gleicht, werden nur zwei Beispielsätze näher besprochen. Im ersten Beispiel, Nummer (8), handelt es sich um ein Item, in welchem die perfektive Verbform zu wählen ist: (8) Mein Papa hat den Parkplatz mit seinem Auto überquert. Nachdem er den Parkplatz überquert hatte, bog er links ab. Mon père a traversé le parking et il a tourné à gauche. −2 −1 0 1 2 Mon père traversait le parking et il a tourné à gauche. −2 −1 0 1 2 Der deutsche Kontext beschreibt eine Situation, in welcher der Vater nach links abgebogen ist, nachdem er den Parkplatz überquert hatte. Da die Handlung des Überquerens abgeschlossen ist, muss eine perfektive Verbform gewählt werden. Das Imperfekt würde ausdrücken, dass er nach links abgebogen ist, während er über den Parkplatz gefahren ist. Da der situative Rahmen diese Lesart nicht ermöglicht, muss die imperfektive Verbform abgelehnt werden. Beim nächsten Item (22) handelt es sich um ein Beispiel für einen progressiven Kontext: (22) Letzte Woche bin ich zu einem Klassentreffen gegangen. Ich bin zu spät gekommen. Als ich dort ankam, waren meine Schulkollegen schon am Essen. Mes camarades d’école ont mangé. −2 −1 0 1 2 Mes camarades d’école mangeaient. −2 −1 0 1 2 Diese Situation handelt von einer Person, die zu spät zum Essen gekommen ist. Als sie am entsprechenden Ort eintraf, waren die Schulkollegen schon dabei, zu essen. Die Handlung des Essens setzt also nicht mit der Ankunft der Person ein, sondern war schon im Gange, als sie erschien. Dies ist ein klassisches Beispiel für das sogenannte Inzidenzschema, das die Verwendung eines imperfektiven Tempus für die sich schon im Verlauf befindliche Handlung fordert. 6.2.4.3 Interpretationsaufgabe Englisch Die englische Interpretationsaufgabe hat bis auf den Unterschied, dass sie zur Messung des Aspektwissens in der L2 Englisch eingesetzt wird, die gleiche Funktionsweise wie die französische. Sie operationalisiert also ebenfalls eine unabhängige Variable. Da das Englische kein Imperfekt besitzt und die einzig vollständig grammatikalisierte aspektuelle Opposition jene zwischen progressiv <?page no="168"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 169 und nicht progressiv ist, wurden nur Items für die Unterscheidung zwischen der past progressive -Form und dem simple past erstellt. Daraus folgt, dass die habituelle Semantik nicht in der englischen Interpretationsaufgabe vertreten ist. Statische Prädikate wurden aufgrund der Schwierigkeit, sie mit der Progressivperiphrase zu kombinieren, ebenfalls nicht in die Aufgabe eingeschlossen. Daraus resultiert, dass die Semantik der Kontinuität nicht operationalisiert wurde. Insgesamt ergibt sich daraus eine Anzahl von insgesamt 15 Items, von denen drei Distraktoren sind: Kondition/ Semantischer Kontext Lexikalischer Aspekt Verbalphrase Nicht progressiv Telisch To build the bridge To post a message To land Aktivisch To swim in the lake To drink Progressiv Telisch To write an e-mail To build a house of cards To cross the river Aktivisch To dance To snow To run To talk with a friend Distraktoren To wake up late To drink wine To buy new shoes Tab. 22: Items der Interpretationsaufgabe Englisch <?page no="169"?> 170 6 Methodologie Die zwei Konditionen der englischen Interpretationsaufgabe werden im Folgenden kurz dargestellt. Item (5) ist ein Beispiel für einen nicht progressiven Kontext: (5) Ich wollte eine Nachricht auf Facebook posten. Ich habe sie fertig geschrieben und auf „senden“ geklickt. I posted a message. −2 −1 0 1 2 I was posting a message. −2 −1 0 1 2 In Item (5) wird das Schreiben der Facebook-Nachricht als abgeschlossen beschrieben, weshalb das simple past verwendet werden muss. Der Gebrauch der Progressivperiphrase würde implizieren, dass die Handlung des Abschickens nicht vollzogen wurde und die Person demnach noch dabei ist, die Nachricht zu schreiben. Das nächste Item (13) ist hingegen ein Beispiel für die progressive Bedingung: (13) Der Schwimmer war dabei, den Fluss zu überqueren, jedoch war die Strömung zu stark und er ist ertrunken. The swimmer crossed the river. −2 −1 0 1 2 The swimmer was crossing the river. −2 −1 0 1 2 Da der Schwimmer in Item (13) nicht in der Lage war, den Fluss zu überqueren, muss die Progressivperiphrase verwendet werden, da durch das simple past die Abgeschlossenheit des Überquerens betont werden würde, was zur Folge hätte, dass die Person im Beispielsatz nicht ertrunken wäre. In diesem Kapitel wurden die Prinzipien der drei Interpretationsaufgaben vorgestellt und die Vor- und Nachteile des entsprechenden Aufgabenformats diskutiert. Im nächsten Abschnitt wird der Aufbau des sprachenbiographischen Fragebogens näher beleuchtet. 6.2.5 Fragebogen Zweit- und Drittspracherwerbsstudien verwenden üblicherweise sogenannte sprachbiographische Fragebögen (en. language background questionnaires ), um zusätzliche Informationen über die Teilnehmer zu erhalten (für einen allgemeinen Überblick zur Fragebogenerstellung vgl. Dörnyei 2003; Dörnyei/ Csizér 2012: <?page no="170"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 171 74-83; Mackey/ Gass 2005: 92-96). Diese Daten dienen einerseits dazu, die Stichprobe zu beschreiben, andererseits können Störvariablen erhoben, dargelegt und im Optimalfall kontrolliert werden. Typischerweise enthalten Fragebögen der L2-/ L3-Forschung Fragen zur Demographie, zum sozioökonomischen Status und zur Sprachbiographie im Hinblick auf Erst-, Zweit- und Drittsprache(n). Dadurch möchte man nähere Informationen beispielsweise zum Beginn der Sprachaneignung, zur Sprachverwendung, zum Sprachniveau, zu den sprachlichen Fertigkeiten oder zur Erwerbsart gewinnen (vgl. Sabourin et al. 2016). Fragebögen, die sich insbesondere für Transferphänomene und mehrsprachige Lernstrategien interessieren, erheben zusätzlich noch Daten zur Verwendung und Nützlichkeit von sprachlichen Vorkenntnissen (vgl. Müller-Lancé 2006b). Die Fragebögen der vorliegenden Studie orientieren sich an den eben dargestellten Handreichungen. Da drei verschiedene Sprachenfolgen untersucht werden, ist die Bereitstellung von drei unterschiedlichen Fragebögen notwendig, um spezifische Informationen zu den jeweiligen Zweitsprachen zu erhalten. Die Fragebögen haben dieselbe Kernstruktur, die sich aus den folgenden Frageblöcken zusammensetzt: 1. Demographische Daten (Alter, Geschlecht, Geburtsbundesland 57 ) 2. Schulnoten (Biologie, Deutsch, Englisch, Französisch oder Latein, Geschichte und Mathematik) 58 3. Fragen zu zusätzlichen Sprachkenntnissen und zur Sprachverwendung in den Zweitsprachen 4. Eine offene Frage zum Lernprozess der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto (z. B. Nennung von Lernstrategien oder explizitem Regelwissen) 5. Halboffene und geschlossene Fragen, welche die Nützlichkeit von Sprachvergleichen abfragen (z. B. bezüglich der Hilfe des Englischen, Französischen oder Lateinischen bei der Bildung/ Verwendung von estar + gerundio ) 57 Da im Norden Deutschlands das Präteritum im gesprochenen Deutsch häufiger verwendet wird als im Süden (zum Präteritumschwund vgl. Fischer 2018), wird das Geburtsbundesland erhoben, um den möglichen Einfluss diatopischer Varietäten hinsichtlich der L1 zu kontrollieren. 58 Aufgrund zeitlicher Restriktionen war es nicht möglich, einen umfassenden Test des Arbeitsgedächtnisses oder des phonologischen Bewusstseins durchzuführen (für Beispiele und Quellen vgl. Hopp et al. 2018), weshalb die Probanden nach den Schulnoten der oben genannten Fächer gefragt wurden. Obwohl Schulnoten solche Tests nicht ersetzen können und stark von weiteren Faktoren beeinflusst werden (z. B. sozioökonomischer Status der Eltern), können sie doch als Richtwert für den Gesamtlernerfolg der Schülerinnen und Schüler herangezogen werden. Sie sind weiterhin einer der stärksten Prädiktoren für den universitären Studienerfolg und spiegeln Fähigkeiten und Fertigkeiten, „wie z. B. kognitive Leistungsfähigkeit, Lernbereitschaft, Leistungsmotivation, Fleiß und sprachliche Ausdrucksfähigkeit“ wider (vgl. Trapmann et al. 2007: 24). <?page no="171"?> 172 6 Methodologie 6. Eine halboffene Frage zur sprachvergleichenden Herangehensweise im Spanischunterricht 7. Fragen bezüglich weiterer Erstsprachen (z. B. Nennung von Sprachvergleichen mit der L1 oder von explizitem Regelwissen in der L1) 59 Alle drei Fragebögen beinhalten die eben genannten Frageblöcke sowie Fragen zum Englischen. Die Fragebögen für diejenigen Lernenden, die außer Englischnoch Französisch- oder Lateinkenntnisse haben, beziehen zusätzlich noch Aspekte dieser beiden Sprachen mit ein, weshalb sich die Frageblöcke (3) und (5) etwas voneinander unterscheiden. 6.2.6 Reflexionsaufgabe Zahlreiche Autoren plädieren für einen mixed-methods -Ansatz, der als „die Kombination von Elementen eines qualitativen und eines quantitativen Forschungsansatzes innerhalb einer Untersuchung“ definiert wird (Schreier/ Odag 2010: 263). Eine solche Herangehensweise kann (1) zu einem tieferen Verständnis des untersuchten Phänomens beitragen, (2) zu einer stärkeren Aussagekraft der Ergebnisse führen und (3) eine größere Leserschaft ansprechen (vgl. Salaberry et al. 2013: 437; vgl. Kuckartz 2014 für allgemeine Informationen). Trotz der eben genannten Vorteile haben bisher nur wenige Studien im Bereich der Tempus- und Aspekt-Zweitspracherwerbsforschung einen mixed-methods - Ansatz eingesetzt (vgl. Salaberry et al. 2013: 439), weshalb die primär quantitativ ausgelegte Studie der vorliegenden Arbeit um einen qualitativen Teil erweitert wird. Letzterer dient demnach dazu, die quantitativen Ergebnisse zu ergänzen, mögliche Schwächen auszugleichen und die Argumentation zu stärken. Auch im qualitativen Forschungsparadigma gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Datenerhebung, wie zum Beispiel Unterrichtsbeobachtungen oder Lerntagebücher (vgl. Friedman 2012; Mackey/ Gass 2005: 167-178). In der Zweitspracherwerbsforschung werden besonders häufig intro- und retrospektive Verfahren eingesetzt, um die mentalen Prozesse der Lernenden zu eruieren (vgl. Konrad 2010: 476; Mackey/ Gass 2005: 77). Typischerweise kommen Lautdenkprotokolle zum Einsatz, in welchen die Probanden gefragt werden, worüber sie während des Lösens einer Aufgabe nachdenken (vgl. Mackey/ Gass 2005: 77-85). 59 Für die vorliegende Arbeit wurden alle zweisprachig aufgewachsenen Probanden ausgeschlossen, da zusätzliche Erstsprachen eine nur schwer kontrollierbare Störvariable darstellen. Diese Frage wurde im Hinblick auf spätere Datenanalysen gestellt, in welchen der Einfluss von Herkunfts-/ Familiensprachen untersucht werden kann. Die Teilnehmer mussten diese Frage nur dann ausfüllen, wenn sie eine andere Erstsprache als Deutsch oder zusätzlich zum Deutschen noch eine weitere Erstsprache besaßen. <?page no="172"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 173 Die theoretische Grundannahme hierbei ist, dass die im Arbeitsgedächtnis verarbeiteten Informationen durch Verbalisierung beobachtbar gemacht werden können. Dies ist allerdings umstritten. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Gedanken tatsächlich ausgesprochen werden. Darüber hinaus ist es möglich, dass die explizite Äußerung während des Problemlösungsprozesses zu einer Veränderung der kognitiven Leistungen führt (vgl. Konrad 2010: 486). Trotz der eben genannten Kritikpunkte stellen Lautdenkprotokolle ein weitverbreitetes und akzeptiertes Datenerhebungsverfahren dar. Obwohl Lautdenkprotokolle häufig simultan zum Problemlösungsprozess durchgeführt werden, können sie problemlos nach der Bearbeitung aller Aufgaben eingesetzt werden. In diesem Falle spricht man von sogenannten retrospektiven Protokollen, die unmittelbar danach, aber auch mit einer größeren zeitlichen Verzögerung realisiert werden können (vgl. ebd.: 481-482). Wenn es sich um einen zeitlichen Abstand von einigen Stunden oder sogar Tagen handelt, arbeitet man oft mit Impulsen, beispielsweise mit Videos oder Lernprodukten, um die mentalen Vorgänge während des Problemlösungsprozesses wieder in Erinnerung zu rufen. Dieses Vorgehen wird in der Literatur als stimulated-recall -Verfahren bezeichnet. Obwohl ein längerer zeitlicher Abstand prinzipiell möglich ist, sollten solche stimulated-recall -Aufgaben möglichst bald nach der eigentlichen Testung durchgeführt werden, damit das Arbeits- und nicht das Langzeitgedächtnis aktiviert wird. Für eine derartige Re-Aktivierung ist außerdem ein ausreichend starker Impuls notwendig (z. B. Text- oder Bildmaterial). Da viele Probanden mit dem Verfahren des Lauten Denkens nicht vertraut sind, ist es ratsam, sie vor der Durchführung der eigentlichen Studie ausreichend zu schulen. Oft genügen diesbezüglich aber schon wenige Anweisungen (vgl. Mackey/ Gass 2005: 78-79). Lautdenkprotokolle können sowohl in Einzelals auch in Partner- oder Gruppenarbeit realisiert werden. Ein Dialog in Partnerarbeit hat den Vorteil, dass sich die Lernenden - im Unterschied zur Durchführung in Einzelarbeit - in einer natürlichen und authentischen Unterrichtssituation befinden (vgl. Konrad 2010: 482). Aus diesem Grund wurde die Reflexionsaufgabe der vorliegenden Studie mithilfe dieser Sozialform abgewickelt. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Lernenden, die übrigens nach dem Zufallsprinzip in 2er-Gruppen eingeteilt wurden, ausführlicher über die entsprechenden Beispielsätze sprechen als in Einzelarbeit. Von einer Umsetzung in 3er- oder 4er- Gruppen wurde abgesehen, da dies möglicherweise zu Komplikationen bei der Transkription geführt hätte. Je mehr Teilnehmer an einem Gespräch beteiligt sind, desto schwieriger wird es, die Stimmen der unterschiedlichen Testpersonen zuzuordnen. Dies stellt schon mit zwei Teilnehmern eine gewisse Herausforderung dar und ist in 3er- oder 4er-Gruppen ohne Videoaufzeichnung kaum möglich. Es sei an dieser Stelle außerdem betont, dass die Reflexionsaufgabe auf <?page no="173"?> 174 6 Methodologie Deutsch durchgeführt wurde, um den Lernenden die Möglichkeit zu geben, die entsprechenden metasprachlichen Kommentare in ihrer L1 zu äußern. Dadurch wird außerdem der Schwierigkeit einer Formulierung in der Zielsprache präventiv entgegengewirkt. Als Impuls dienen sechs Sätze aus der spanischen Interpretationsaufgabe, welche die Lernenden dazu motivieren sollen, über die Vorgehensweise während des Ausfüllens derselben nachzudenken. Die Auswahl der Sätze basiert im Wesentlichen auf den semantischen Kontexten, die im quantitativen Teil der Arbeit im Fokus stehen. Das Distraktor-Item, in welchem das perfecto simple mit dem perfecto compuesto kontrastiert wird, wurde als Beispielsatz aufgenommen, um Erklärungen bezüglich einer möglichen Übergeneralisierung des perfecto compuesto zu gewinnen. In Tabelle 23 sind die einzelnen Beispielsätze (inkl. deutschem Kontext und Antwortmöglichkeiten) sowie deren Zuordnung zu den entsprechenden Konditionen wiedergegeben: Kondition/ Semantischer Kontext Item (A) Perfektiv Beispielsatz B: Ich bin zu einem Freund auf der anderen Seite der Straße gelaufen. Nachdem ich auf der anderen Seite der Straße angekommen war, hat mich ein Radfahrer überfahren. 1) Crucé la calle y me atropelló un ciclista. 2) Cruzaba la calle y me atropelló un ciclista. Beispielsatz F: Henry ist Bauarbeiter. Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut. 1) Henry construyó la casa. 2) Henry construía la casa. (B) Progressiv mit estar + gerundio Beispielsatz C: Ein Freund hat mich zu einem Konzert eingeladen. Wir sind leider zu spät gekommen. Der Pianist war schon am Spielen. 1) El pianista tocó el piano. 2) El pianista estaba tocando el piano. (C) Progressiv mit imperfecto Beispielsatz A: Ich war dabei, auf die andere Straßenseite zu gehen. Ich bin jedoch nicht angekommen, weil mich mitten auf der Straße ein Auto angefahren hat. 1) Crucé la calle. 2) Cruzaba la calle. <?page no="174"?> 6.2 Untersuchungsmaterial 175 (E) Habituell Beispielsatz E: Als Kind bin ich für gewöhnlich um 6 Uhr in der Früh aufgestanden. 1) De pequeño me levanté a las 6. 2) De pequeño me levantaba a las 6. Distraktor ( perfecto compuesto ) Beispielsatz D: Gestern habe ich mich mit vielen Freunden zum Essen getroffen. 1) Quedamos a las 8. 2) Hemos quedado a las 8. Tab. 23: Beispielsätze der stimulated-recall -Reflexionsaufgabe Als weitere Hilfestellung bekommen die Lernenden drei Leitfragen, an denen sie sich orientieren können. Diese sollten sie zusätzlich dazu animieren, über ihre Sprachverwendung zu reflektieren: 1. Wie bist Du zu Deiner Wahl gekommen? Warum hast Du Dich für diese oder jene Zeitform entschieden? 2. Was ist Dir leichtgefallen? Was hat Dir Schwierigkeiten bereitet? 3. Haben Dir andere Sprachen bei Deiner Entscheidung geholfen? Hat Dir vielleicht die Sprache, die Du mit Deiner Familie sprichst, geholfen? Oder vielleicht das Englische, Französische oder das Lateinische? Wenn ja, wie haben sie Dir geholfen? Frage 1 dient dazu, die Lernenden zum Nachdenken anzuregen, warum sie in der spanischen Interpretationsaufgabe eine entsprechende Tempusform gewählt haben. Dies sollte zu Aushandlungsprozessen zwischen den beiden Lernenden führen, was einen Zugriff auf die mentalen Abläufe bzw. auf das explizite Wissen notwendig macht. In Frage 2 sollten sich die Lernenden mit Aspekten auseinandersetzen, die ihnen während des Ausfüllens des Spanischtests leichtbzw. schwergefallen sind. Schließlich wird in Frage 3 der Fokus auf die Nützlichkeit anderer Sprachen bei der Unterscheidung von perfecto simple , imperfecto und estar + gerundio gelenkt. Der Fokus liegt damit noch immer auf dem Entscheidungsfindungsprozess in der spanischen Interpretationsaufgabe, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass sich die Aussagen primär auf diesen Test beziehen. Verallgemeinerungen auf andere Sprachlernsituationen sind daher nur bedingt möglich. Frage 3 zielt außerdem darauf ab, die Lernenden zu motivieren, das Spanische mit anderen Sprachen zu vergleichen, was im Idealfall zur Nennung konkreter Sprachvergleiche führt. <?page no="175"?> 176 6 Methodologie 6.3 Probanden In diesem Kapitel werden die Teilnehmer der empirischen Studie näher beschrieben. Zu Beginn wird dargelegt, inwiefern bei der Zusammenstellung der Stichprobe Kriterien der externen Validität berücksichtigt wurden. Außerdem werden einige allgemeine Informationen gegeben. Die Auswahl aus der Grundgesamtheit erfolgte zufällig (en. random sampling ; vgl. Mackey/ Gass 2005: 119-123), zumal die teilnehmenden Gymnasien nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden. Insgesamt konnten acht Schulen aus dem süddeutschen und österreichischen Sprachraum gewonnen werden. Dabei handelt es sich um 178 Schülerinnen und Schülern, die von zehn unterschiedlichen Lehrpersonen unterrichtet wurden. Albert und Marx (2014: 31-32) kritisieren, dass sprachwissenschaftliche Studien häufig dazu neigen, die Ergebnisse auf Bereiche auszuweiten, über die aufgrund der Datenbasis eigentlich keine Rückschlüsse gezogen werden können. Um diesem Kritikpunkt Rechnung zu tragen, sei an dieser Stelle betont, dass sich die Repräsentativität der erhobenen Daten auf jugendliche Lernende beschränkt, die ein Gymnasium im süddeutschen und österreichischen Sprachraum besuchen. Rückschlüsse auf eine größere Population sind dennoch möglich und im Bereich der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung durchaus üblich. Sie sind aber nicht unproblematisch und bedürfen einer präzisen Interpretation. Die Teilnahme an der Studie war, im Einklang mit ethischen Vorgaben, freiwillig (vgl. beispielsweise Mackey/ Gass 2005: 25-41). Alle Teilnehmer sowie deren Eltern wurden vorab schriftlich über den Untersuchungsablauf informiert und mussten im Falle einer Einwilligung ihr Einverständnis schriftlich erteilen. Nach Abschluss der Studie wurden die Teilnehmer über die genauen Vorgehensweisen aufgeklärt und durften Rückfragen stellen. 69 Probanden wurden aus der Studie ausgeschlossen, da sie entweder nicht alle Testmaterialien ausfüllten oder Deutsch nicht ihre einzige L1 war. 60 Die Endstichprobe beläuft sich daher auf 109 monolingual deutschsprachig 60 Vor der Konzeption jeder Studie müssen Kriterien festgelegt werden, nach denen die Teilnehmer ausgewählt werden. Da die vorliegende Arbeit Erkenntnisse über deutschsprachige Lernende des Spanischen und über den Einfluss des Deutschen sowie möglicher Zweitsprachen gewinnen möchte, wurden alle Teilnehmer ausgeschlossen, deren L1 nicht Deutsch war bzw. die darüber hinaus noch eine weitere L1 hatten. Des Weiteren sind Herkunftssprecher dadurch, dass sie über zwei Erstsprachen verfügen nur bedingt mit monolingual aufwachsenden vergleichbar. Die Integration dieser Probanden wäre also mit einer zusätzlichen Forschungsfrage einhergegangen. Da diese Thematik von großer Aktualität und Relevanz ist, wurden die entsprechenden Daten erhoben und können in späteren Studien ausgewertet werden. Sie werden aber in der vorliegenden Arbeit nicht weiter betrachtet. <?page no="176"?> 6.3 Probanden 177 aufwachsende Schülerinnen und Schüler, von denen 36 männlich und 73 weiblich sind. Ihr Alter beträgt zwischen 14 und 19 Jahren (x̄ = 16,0; σ = 1,5). 61 Alle Probanden lernen Spanisch als L3. Sie besuchen den schulischen Spanischunterricht zwischen dem 2. und 5. Lernjahr und besitzen daher in etwa ein Niveau zwischen A2 und C1, wobei die Mehrheit zwischen einem B1- und B2-Level einzustufen ist. Die Lehrpersonen wurden im Vorfeld gefragt, ob die Lernenden über Vorkenntnisse bezüglich der aspektuellen Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto verfügen. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren beide Tempora bereits im Unterricht behandelt worden. Die Schüler hatten bzw. haben daher Wissen sowohl im Bereich der Morphologie als auch der Tempusfunktionen. Alle Teilnehmer besitzen außerdem ein verhältnismäßig hohes Sprachniveau in der L2 Englisch. Darüber hinaus gibt es Lernende, die zusätzlich zu Englisch noch Kenntnisse im Französisch und Lateinischen haben (für eine genaue Beschreibung der Einteilung in die Gruppen A, B und C siehe Kapitel 6.3.2). 62 In den nächsten drei Kapiteln werden die Lernenden im Hinblick auf die unabhängigen Variablen Aspektwissen Englisch , schulische Sprachenfolge und Aspektwissen Französisch gruppiert und es werden mögliche Einflussfaktoren angeführt, die trotz einer Erhebung zahlreicher Störvariablen nicht ausreichend kontrolliert werden konnten. 61 An dieser Stelle wird kurz auf einige mathematische Kürzel eingegangen: x̄ = Mittelwert, σ = Standardabweichung, p = Signifikanzwert (< 0,05 deutet auf einen signifikanten Unterschied hin). 62 Ein paar Probanden besitzen zusätzlich zu den traditionellen Schulfremdsprachen noch weitere L2-Kenntnisse, die sie sich durch Zusatzunterricht oder autodidaktisch angeeignet haben. Dies betrifft das Russische (n=7), das Koreanische (n=2), das Niederländische (n=1) und das Italienische (n=2). Ein Ausschluss dieser Probanden hätte die Gesamtstichprobe um 12 Teilnehmer reduziert, weshalb davon abgesehen wurde. Eine solche Vorgehensweise ist im Bereich der Drittspracherwerbsforschung durchaus üblich (vgl. beispielsweise Williams/ Hammarberg 1998) und basiert auf den folgenden Annahmen: Mit Ausnahme des Italienischen sind alle anderen Sprachen vom Spanischen genetisch weiter entfernt als das Englische, das Französische oder das Lateinische. Allein diese Tatsache macht es unwahrscheinlich, dass Transfer aus den oben genannten Sprachen stattfindet (vgl. De Angelis 2007: 26-33). Durch Lehrergespräche konnte außerdem eruiert werden, dass alle Teilnehmer ein sehr geringes Sprachniveau in den oben genannten Zweitsprachen haben, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass deren Einfluss relativ gering ist. Dennoch muss festgehalten werden, dass das russische Aspektsystem (siehe Kapitel 2.1.2), aber auch die Progressivperiphrase des Niederländischen (vgl. Bertinetto et al. 2000) sowie die Unterscheidung zwischen imperfetto und passato prossimo / passato remoto im Italienischen einen Einfluss auf die Ergebnisse haben könnten. Derartige Effekte können durch Re-Analysen des vorhandenen Datenmaterials bzw. mithilfe zukünftiger Studien genauer untersucht werden. <?page no="177"?> 178 6 Methodologie 6.3.1 Gruppierungsvariable Aspektwissen Englisch 6.3.1.1 Gesamtstichprobe In den einführenden Worten des Kapitels 6.3 wurde die Gesamtstichprobe beschrieben. Für die Analysen des Hypothesenblocks 1 (siehe Kapitel 6.1.2) müssen die 109 germanophonen Spanischlernenden in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen im Englischen eingeteilt werden. Erstere wird im Laufe der Arbeit als HAE-, letztere als NAE-Gruppe bezeichnet. Die Einordnung basiert auf den Ergebnissen der englischen Interpretationsaufgabe: Alle Teilnehmer mit einem Wert über dem Median (= 2,1) wurden in die HAE-, alle mit einem Wert darunter in die NAE-Gruppe eingeteilt. Der Unterschied bezüglich des Aspektwissens im Englischen ist hochsignifikant (t(107) = -14,804, p = < 0,001; eine kurze statistische Einführung findet sich unter anderem in Kapitel 6.5.2.2). Hinsichtlich der erhobenen Kontrollvariablen (siehe Tabelle 24) geben die Lernenden beider Gruppen im Allgemeinen an, das Englische ein paar Mal pro Woche außerhalb der Schule zu verwenden (Likert-Skala von 0 bis 3 ( nie bis jeden t ag )). Des Weiteren wurden sie gefragt, ob ihnen das Englische bei der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto und bei der Bildung und Verwendung von estar + gerundio geholfen hat (Likert-Skala von 0 bis 3 ( nicHt HilfreicH bis seHr HilfreicH )). Diese drei Skalen wurden zu einer Variable Einstellung Nützlichkeit Englisch zusammengefasst (Cronbachs Alpha: 0,623). Im Durchschnitt schätzen die Probanden beider Gruppen das Englische als eher wenig hilfreich ein. Darüber hinaus geben sie an, dass in ihrem Spanischunterricht in manchen Unterrichtsstunden Sprachvergleiche angestellt werden (Likert-Skala von 0 bis 3 ( nie bis in jeder u nterricHtsstunde )). Die Ergebnisse des C-Tests bestätigen auch, dass sich die NAE- und die HAE-Gruppe bezüglich der Spanischkenntnisse nicht signifikant unterscheiden. Durch Gespräche mit den Lehrpersonen konnten als zusätzliche Kriterien noch das Lernjahr und die Spanischstunden pro Woche eruiert werden. 63 Diesbezüglich lässt sich ebenfalls keine signifikante Differenz erkennen. Lediglich im Hinblick auf den Notendurchschnitt unterscheiden sich die beiden Gruppen signifikant (t(107) = 2,232, p = 0,028). Um zu analysieren, inwiefern dieser die abhängigen Variablen beeinflusst, wurden Korrelationen berechnet, die in den meisten Fällen signifikant ausfallen. Diese Ergebnisse sind wie folgt zu interpretieren: Je niedriger der Notendurchschnitt der Lernenden ist, desto korrekter können sie zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen unterscheiden. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, 63 Bei den Lernstunden handelt es sich um Schätzwerte. Es wurde von 40 Schulwochen pro Jahr ausgegangen, die dann mit dem Erhebungszeitraum und den Spanischstunden pro Woche abgeglichen wurden. <?page no="178"?> 6.3 Probanden 179 dass Schulnoten als starker Prädiktor für die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit gehandhabt werden (vgl. Trapmann et al. 2007). Da dieser Einflussfaktor nicht ausreichend kontrolliert werden kann, muss ihm bei der Interpretation der Ergebnisse eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, vor allem dann, wenn die Vorteile der HAE-Gruppe möglicherweise auf eine höher ausgeprägte allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit zurückzuführen sind. 64 Eine Zusammenfassung der erhobenen Kontrollvariablen findet sich in Tabelle 24: Gruppencharakteristika Niedriges Aspektwissen Englisch (NAE) Hohes Aspektwissen Englisch (HAE) p-Wert Anzahl 54 55 - Alter x̄ = 15,9 σ = 1,6 x̄ = 16,0 σ = 1,4 = 0,651 Notendurchschnitt x̄ = 2,5 σ = 0,7 x̄ = 2,2 σ = 0,7 = 0,028 Verwendung Englisch x̄ = 2,0 σ = 0,9 x̄ = 2,3 σ = 0,8 = 0,132 Einstellung Nützlichkeit Englisch x̄ = 1,2 σ = 0,7 x̄ = 1,4 σ = 0,8 = 0,335 Sprachvergleich Spanischunterricht x̄ = 1,2 σ = 0,5 x̄ = 1,1 σ = 0,6 = 0,273 C-Test x̄ = 68,2 σ = 13,2 x̄ = 71,3 σ = 16,1 = 0,271 Lernstunden x̄ = 334,4 σ = 93,8 x̄ = 362,9 σ = 101,2 = 0,131 Aspektwissen Englisch x̄ = 1,2 σ = 0,7 x̄ = 2,9 σ = 0,5 < 0,001 Aspektwissen Französisch 65 x̄ = 1,1 σ = 0,9 x̄ = 1,1 σ = 0,9 = 0,934 Tab. 24: Teilnehmer der Gesamtstichprobe eingeteilt nach Aspektwissen Englisch 64 Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass sich die Lernenden der Gruppe A, die ebenfalls in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen eingeteilt wurden, bezüglich des Notendurschnittes nicht signifikant unterscheiden. Wenn deren Ergebnisse jenen der Gesamtstichprobe ähneln, ist dies ein Indiz dafür, dass die Unterschiede in den Spanischtests nicht auf den Notendurchschnitt, sondern auf die unabhängige Variable Aspektwissen Englisch zurückzuführen sind. 65 Diese Variable bezieht sich nur auf die 37 Teilnehmer der Gruppe B, welche die französische Interpretationsaufgabe ausgefüllt haben. Wie die Tabelle zeigt, unterscheiden sich die HAE- und die NAE-Gruppe bezüglich des Aspektwissens im Französischen nicht. <?page no="179"?> 180 6 Methodologie 6.3.1.2 Gruppe A Einige Analysen werden nur mit Lernenden der Gruppe A durchgeführt (n=35), da sie - abgesehen vom Englischen - über keine weiteren L2-Kenntnisse verfügen. Auch sie wurden basierend auf den Ergebnissen in der englischen Interpretationsaufgabe in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem englischem Aspektwissen eingeteilt. Um sie terminologisch von der Gesamtstichprobe zu unterscheiden, bekommen die Akronyme NAE und HAE den Zusatz A , der darauf verweisen soll, dass es sich um Probanden der Gruppe A handelt. In Tabelle 25 sind die erhobenen Kontrollvariablen aufgelistet. Abgesehen vom Aspektwissen im Englischen unterscheiden sich die Gruppen nur im Hinblick auf die im Spanischunterricht durchgeführten Sprachvergleiche. Diesbezüglich geben die Lernenden der NAE-A-Gruppe an, dass eine solche Herangehensweise häufiger zum Einsatz komme. 66 Im Gegensatz zur Gesamtstichprobe unterscheiden sie sich nicht bezüglich des Notendurchschnitts: Gruppencharakteristika Niedriges Aspektwissen Englisch Gruppe A (NAE-A) Hohes Aspektwissen Englisch Gruppe A (HAE-A) p-Wert Anzahl 19 16 - Alter x̄ = 17,5 σ = 1,0 x̄ = 17,5 σ = 0,9 = 0,934 Notendurchschnitt x̄ = 2,7 σ = 0,8 x̄ = 2,4 σ = 0,7 = 0,254 Verwendung Englisch x̄ = 2,2 σ = 0,9 x̄ = 2,6 σ = 0,6 = 0,139 Einstellung Nützlichkeit Englisch x̄ = 1,1 σ = 0,6 x̄ = 1,4 σ = 0,9 = 0,231 Sprachvergleich Spanischunterricht x̄ = 1,1 σ = 0,2 x̄ = 0,8 σ = 0,5 = 0,023 (Welch) C-Test x̄ = 70,7 σ = 12,4 x̄ = 75,4 σ = 17,7 = 0,365 Lernstunden x̄ = 363,2 σ = 49,6 x̄ = 368,8 σ = 47,9 = 0,738 Aspektwissen Englisch x̄ = 1,2 σ = 0,7 x̄ = 2,9 σ = 0,5 < 0,001 Tab. 25: Teilnehmer der Gruppe A eingeteilt nach Aspektwissen Englisch 66 Es handelt sich dabei um die subjektive Wahrnehmung der Lernenden. Ob diese Einschätzung tatsächlich der Realität entspricht, kann basierend auf den vorliegenden Daten nicht beurteilt werden. <?page no="180"?> 6.3 Probanden 181 Im nächsten Kapitel werden die Lernenden nicht hinsichtlich ihres Aspektwissens im Englischen eingeteilt, sondern es wird die schulische Sprachenfolge als Gruppierungsvariable verwendet. 6.3.2 Gruppierungsvariable Schulische Sprachenfolge Der zweite Hypothesenkomplex (siehe Kapitel 6.1.3) fokussiert den Einfluss der schulischen Sprachenfolge im Hinblick auf den Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen. Um dies zu untersuchen, wurden die Probanden in drei Gruppen eingeteilt: Gruppe A , deren Lernende außer Englischkeine weiteren sprachlichen Vorkenntnisse haben (n=35); Gruppe B , in welcher sie zusätzlich zu Englischnoch Französischkenntnisse besitzen (n=39) und Gruppe C , in der sie über Englisch- und Lateinkenntnisse verfügen (n=35). Tabelle 26 listet die erhobenen Kontrollvariablen auf. Ihr lässt sich entnehmen, dass die Teilnehmer aus Gruppe A signifikant älter sind als jene der Gruppen B und C (ANOVA: F(2, 106) = 62,084, p < 0,001). Auch wenn eine mittlere Differenz von etwas mehr als zwei Jahren durchaus entwicklungspsychologische Unterschiede mit sich bringen kann, dürfte der Einfluss auf den Aspekterwerb gering sein. Dies wird beispielsweise dadurch bestätigt, dass sich keine einzige signifikante Korrelation zwischen dem Faktor Alter und den abhängigen Variablen findet. Auch in Bezug auf den Notendurchschnitt unterscheiden sich die drei Gruppen signifikant (Welch-Test: p = 0,008). Ein Post-Hoc Games-Howell-Test demonstriert allerdings, dass die Differenz lediglich zwischen Gruppe A und B signifikant ist. Wie auch in der Gesamtstichprobe im Hinblick auf die Gruppierungsvariable Aspektwissen Englisch kann dieser Faktor nicht ausreichend kontrolliert werden, weshalb er im Interpretationskapitel berücksichtigt werden muss. Wenn Gruppe B in den Spanischtests zu besseren Ergebnissen kommt als Gruppe A, könnte dies teilweise auf den höheren Notendurchschnitt der letztgenannten Gruppe zurückzuführen sein. Bezüglich der Frage, wie häufig das Englische außerhalb der Schule verwendet wird, differieren die Gruppen nicht signifikant (ANOVA: F(2, 106) = 1,315, p = 0,273). Die Lernenden geben an, es im Durchschnitt ein paar Mal pro Woche zu verwenden. Des Weiteren schätzen sie diese Sprache als eher wenig hilfreich ein. Die Gruppenunterschiede sind diesbezüglich nicht signifikant (ANOVA: F(2, 106) = 2,430, p = 0,093). Dennoch lässt sich eine Tendenz erkennen, dass Lernende der Gruppe C das Englische als hilfreicher bewerten als diejenigen der anderen beiden Gruppen. <?page no="181"?> 182 6 Methodologie Im Hinblick auf die Frage, wie häufig Sprachvergleiche im Spanischunterricht durchgeführt werden, lassen sich signifikante Unterschiede feststellen (Welch-Test: p < 0,001). Laut einem Games-Howell-Post-Hoc-Test finden sie sich zwischen Gruppe A und B wie auch zwischen A und C, aber nicht zwischen B und C. Dies bedeutet, dass den Angaben der Lernenden zufolge weniger Sprachvergleiche im Spanischunterricht der Gruppe A durchgeführt werden als in jenem von Gruppe B und C. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in Gruppe B und C sowohl auf das Englische als auch auf das Französische bzw. das Lateinische zurückgegriffen werden kann. Auch diese Variable muss dementsprechend bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. In Bezug auf das Sprachniveau demonstrieren die Ergebnisse des C-Tests, dass Gruppe C etwas schlechter abschneidet als Gruppe A und B. Die Unterschiede sind allerdings statistisch nicht signifikant (ANOVA: F(2, 106) = 2,866, p = 0,061). Auch hinsichtlich der Lernstunden finden sich keine signifikanten Differenzen (Welch-Test: p = 0,184). Diese beiden Befunde sind von besonderer Bedeutung, da sie zeigen, dass das Sprachniveau im Spanischen über die Gruppen hinweg konstant ist, weshalb ein unkontrollierter Einfluss dieser Variable ausgeschlossen werden kann. Um mögliche Gruppenunterschiede in den Spanischtests tatsächlich auf die verschiedenen schulischen Sprachenfolgen zurückführen zu können, ist es außerdem wichtig, das Aspektwissen im Englischen, über das alle Teilnehmer verfügen, zu kontrollieren. Die Ergebnisse einer ANOVA veranschaulichen diesbezüglich, dass keine signifikanten Unterschiede vorliegen (F(2, 106) = 0,289, p = 0,750). Der Einfluss des Aspektwissens im Englischen ist somit über die Gruppen hinweg vergleichbar und kann als kontrolliert gelten. Die eben beschriebenen Variablen werden in Tabelle 26 noch einmal zusammengefasst: Gruppencharakteristika Gruppe A Gruppe B Gruppe C p-Wert Anzahl 35 39 35 - Alter x̄ = 17,5 σ = 0,9 x̄ = 15,1 σ = 1,0 x̄ = 15,4 σ = 1,1 < 0,001 Notendurchschnitt x̄ = 2,6 σ = 0,8 x̄ = 2,1 σ = 0,5 x̄ = 2,4 σ = 0,7 = 0,008 (Welch) Verwendung Englisch x̄ = 2,3 σ = 0,8 x̄ = 2,1 σ = 0,9 x̄ = 2,0 σ = 0,9 = 0,273 Einstellung Nützlichkeit Englisch x̄ = 1,2 σ = 0,8 x̄ = 1,1 σ = 0,7 x̄ = 1,5 σ = 0,8 = 0,093 Sprachvergleich Spanischunterricht x̄ = 0,9 σ = 0,4 x̄ = 1,4 σ = 0,6 x̄ = 1,2 σ = 0,5 < 0,001 (Welch) <?page no="182"?> 6.3 Probanden 183 Gruppencharakteristika Gruppe A Gruppe B Gruppe C p-Wert C-Test x̄ = 72,9 σ = 15,0 x̄ = 71,2 σ = 15,6 x̄ = 65,0 σ = 12,6 = 0,061 Lernstunden x̄ = 365,7 σ = 48,2 x̄ = 326,2 σ = 121,9 x̄ = 357,1 σ = 103,7 = 0,184 (Welch) Aspektwissen Englisch x̄ = 2,0 σ = 1,0 x̄ = 2,2 σ = 1,0 x̄ = 2,0 σ = 1,1 = 0,750 Tab. 26: Teilnehmer der Gruppen A, B und C 6.3.3 Gruppierungsvariable Aspektwissen Französisch Für die Analysen des Hypothesenblocks 3 (siehe Kapitel 6.1.4) werden die Teilnehmer der Gruppe B 67 in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen im Französischen eingeteilt. Sie werden im Laufe der Arbeit auch als HAF- und NAF-Gruppe bezeichnet. Abgesehen von der Gruppierungsvariable Aspektwissen Französisch finden sich keine signifikanten Unterschiede (siehe Tabelle 27). Dennoch muss festgehalten werden, dass die Mittelwertunterschiede für die Variablen Alter , C-Test-Ergebnisse und Aspektwissen Englisch der Signifikanzgrenze von p < 0,05 nahekommen. Die Lernenden der HAF-Gruppe sind demnach älter, erreichen etwas höhere Ergebnisse im C-Test und besitzen ein höheres Aspektwissen im Englischen. Diesen Unterschieden wird insofern Rechnung getragen, als sie in ausgewählten statistischen Analysen mitberücksichtigt werden. In Tabelle 27 finden sich die entsprechenden Gruppencharakteristika: Gruppencharakteristika Niedriges Aspektwissen Französisch (NAF) Hohes Aspektwissen Französisch (HAF) p-Wert Anzahl 19 18 - Alter x̄ = 14,8 σ = 0,9 x̄ = 15,4 σ = 1,2 = 0,079 Notendurchschnitt x̄ = 2,2 σ = 0,4 x̄ = 2,0 σ = 0,6 = 0,226 (Welch) Verwendung Englisch x̄ = 1,9 σ = 0,9 x̄ = 2,2 σ = 1,0 = 0,297 67 Zwei der 39 Probanden konnten aus Zeitmangel die französische Interpretationsaufgabe nicht ausfüllen, weshalb sich die Teilnehmeranzahl auf 37 reduziert. <?page no="183"?> 184 6 Methodologie Gruppencharakteristika Niedriges Aspektwissen Französisch (NAF) Hohes Aspektwissen Französisch (HAF) p-Wert Einstellung Nützlichkeit Englisch x̄ = 1,0 σ = 0,7 x̄ = 1,3 σ = 0,7 = 0,132 Verwendung Französisch x̄ = 0,7 σ = 0,6 x̄ = 0,8 σ = 1,1 = 0,741 (Welch) Einstellung Nützlichkeit Französisch x̄ = 1,0 σ = 0,6 x̄ = 1,2 σ = 0,6 = 0,240 Sprachvergleich Spanischunterricht x̄ = 1,3 σ = 0,6 x̄ = 1,4 σ = 0,6 = 0,711 C-Test x̄ = 67,2 σ = 13,5 x̄ = 75,9 σ = 17,5 = 0,099 Lernstunden x̄ = 303,2 σ = 118,0 x̄ = 351,1 σ = 131,3 = 0,250 Aspektwissen Englisch x̄ = 1,9 σ = 1,1 x̄ = 2,5 σ = 0,7 = 0,055 Aspektwissen Französisch x̄ = 0,4 σ = 0,5 x̄ = 1,9 σ = 0,5 < 0,001 Tab. 27: Teilnehmer der Gruppe B eingeteilt nach Aspektwissen Französisch 6.3.4 Muttersprachliche Kontrollgruppe Um die Interpretationsaufgabe im Spanischen zu evaluieren, wurden zusätzlich Daten einer kleinen (bilingualen) Kontrollgruppe erhoben (n=6). Diese setzt sich aus Native Speakern des Spanischen zusammen, die ein relativ hohes Deutschniveau besitzen (> B2). 68 Bei den vier weiblichen und zwei männlichen Probanden handelt es sich um Universitätsstudierende, die in unterschiedlichen spanischsprachigen Ländern geboren wurden (Argentinien, Dominikanische Republik, Paraguay, Spanien). 68 Dies war notwendig, da nur so sichergestellt werden konnte, dass die deutschen Kontexte der Interpretationsaufgabe adäquat verstanden wurden. Wir sind uns bewusst, dass die Zweisprachigkeit einen Einfluss auf die Bewertungen gehabt haben könnte. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, die spanische Interpretationsaufgabe für die Kontrollgruppe zu ändern und die Kontexte auf Spanisch bereitzustellen. Dies hätte aber das Testformat in erheblichem Maß verändert und wäre damit ein vermutlich größerer Einflussfaktor gewesen. Es wurden daher bilinguale Probanden bevorzugt. <?page no="184"?> 6.4 Vorgehensweise 185 Die Bewertungen der Kontrollgruppe finden sich in Tabelle 20 auf den Seiten 163 bis 164. Mit Ausnahme von drei Items erreichen die Native Speaker Werte von über 2, in den meisten Fällen sogar über 3. Dies zeigt, dass sie - wie erwartet - zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterscheiden können, und demonstriert, dass das Aufgabenformat an sich adäquat konstruiert wurde. 69 6.4 Vorgehensweise Im Allgemeinen ist hinsichtlich der Vorgehensweise bei der Realisierung einer Untersuchung darauf zu achten, dass etwaige Einflussfaktoren bestmöglich kontrolliert werden (z. B. gleiche Arbeitsanweisungen und Bedingungen für alle Teilnehmer; Kenntnisnahme des Hawthorne-Effekts etc.; vgl. Mackey/ Gass 2005: 114-115). Bis auf einen Ausnahmefall wurde die Studie an zwei Tagen in zwei Doppelstunden des regulären Spanischunterrichts durchgeführt. 70 Der Untersuchungsablauf unterschied sich für die drei Sprachenfolgen nur minimal. In der Phase, in welcher die Lernenden der Gruppe B die Interpretationsaufgabe für Französisch ausfüllten, hatten die Probanden der Gruppen A und C eine kurze Pause und wurden von der Lehrperson betreut. Der Ablauf für die Sprachenfolge von Gruppe B ist in Tabelle 28 und 29 wiedergegeben: Aufgabe Zeit (in Min.) Einführung und Besprechung der Einverständniserklärung; Fragerunde 15 C-Test 20 Interpretationsaufgabe (Englisch) 15 Interpretationsaufgabe (Französisch) 20 Nacherzählung Bildgeschichte (Durchgang 1) 20 Tab. 28: Ablauf der Studie (Tag 1) 69 Da alle Interpretationsaufgaben auf denselben Prinzipien beruhen, wurde von einer eigenen Kontrollgruppe für die englische und die französische Fassung abgesehen. Beide Tests wurden allerdings in enger Zusammenarbeit mit entsprechenden L1-Sprechern konstruiert und im Anschluss pilotiert. Die Ergebnisse sind vergleichbar mit jenen der spanischen Interpretationsaufgabe. 70 In einer Klasse musste die Studie an drei Tagen realisiert werden (d. h. in einer Doppel- und zwei Einzelstunden). <?page no="185"?> 186 6 Methodologie Aufgabe Zeit (in Min.) Interpretationsaufgabe (Spanisch) 30 Nacherzählung Bildgeschichte (Durchgang 2) 20 Fragebogen 15 Reflexionsaufgabe 15 Nachbesprechung 10 Tab. 29: Ablauf der Studie (Tag 2) Zu Beginn wurden die Einverständniserklärungen besprochen, welche allgemeine Informationen zur Studie beinhalteten. Sie wurden schon vorab von den entsprechenden Lehrpersonen ausgeteilt und an den Untersuchungsleiter am ersten Tag unterschrieben zurückgegeben. Des Weiteren hatten die Schüler die Möglichkeit, sich über die genaue Vorgehensweise zu informieren und allgemeine Fragen zu klären. Im Anschluss an diese Einführung wurde mit der Durchführung des C-Tests begonnen, wofür die Schüler zwanzig Minuten Zeit bekamen. Ihnen wurde das allgemeine Prinzip erklärt und anhand eines Beispiels veranschaulicht. Der C- Test wurde in Einzelarbeit durchgeführt. Es folgte eine kurze Pause. Anschließend wurde die allgemeine Funktionsweise der Interpretationsaufgaben anhand der englischen Version erklärt und mithilfe eines Beispiels veranschaulicht. Darauf aufbauend wurde die semantische Interpretationsaufgabe des Englischen in einer zehnminütigen Einzelarbeit realisiert. In Gruppe B wurde im Anschluss die Interpretationsaufgabe für Französisch durchgeführt. Da dieser Test etwas länger war, bekamen die Lernenden zwanzig Minuten Zeit. Währenddessen hatten die anderen beiden Gruppen eine kurze Pause. Um möglichen Müdigkeitseffekten entgegenzuwirken, wurde darauffolgend mit dem ersten Durchgang der Nacherzählung der Bildgeschichten gestartet. Die Vorgehensweise war für beide Bildgeschichten identisch. Die Schüler mussten in Einzelarbeit in das vor ihnen liegende Diktiergerät sprechen. Dafür wurde ihnen ein separater Arbeitsplatz zugewiesen, der mithilfe von Trennwänden zu einem geschützten Arbeitsbereich umgestaltet wurde. Um den Lärmpegel möglichst gering zu halten, wurden die Lernenden im gesamten Klassenzimmer, bzw. bei großen Klassen sogar in zwei Klassenräume, aufgeteilt. Die Teilnehmer bekamen sechs bis acht Minuten Zeit, um sich auf die Nacherzählung vorzubereiten. Zur lexikalischen Vorentlastung wurden Wortschatzlisten mit den wichtigsten Wörtern bereitgestellt. Außerdem durften sie ein Wörterbuch <?page no="186"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 187 verwenden und einzelne Wörter in eine dafür vorgefertigte Tabelle eintragen. Sie erhielten die Anweisung, die Bildgeschichte in der Vergangenheit nachzuerzählen. Diese Vorgabe sollte eine Nacherzählung im Präsens verhindern, eine Problematik, die in anderen Studien festgestellt wurde. Bei Tus vacaciones wurde ihnen zusätzlich der Auftrag erteilt, die Bildgeschichte aus der Perspektive des rothaarigen Mädchens ( yo ) nachzuerzählen. Nach dem Abschluss dieses ersten Durchganges war der erste Testtag abgeschlossen. Der zweite Testtag startete mit der Interpretationsaufgabe des Spanischen. Die Aufgabe wurde in Einzelarbeit durchgeführt, wofür die Lernenden dreißig Minuten Zeit bekamen. Durch die Bearbeitung an einem anderen Tag wurde eine Beeinflussung, die möglicherweise durch das Ausfüllen der beiden vorangegangenen Interpretationsaufgaben entstehen hätte können, möglichst gering gehalten. Im Anschluss an die Interpretationsaufgabe wurde der zweite Durchgang der Nacherzählung der Bildgeschichten durchgeführt. Der Ablauf ist mit dem oben dargestellten identisch. Es folgte das Ausfüllen des Fragebogens, was ebenfalls in Einzelarbeit stattfand. Dafür war kein Zeitlimit vorgesehen; die meisten Probanden brauchten zwischen zehn und fünfzehn Minuten. Um das Testverhalten der Probanden nicht zu beeinflussen, wurde der Fragebogen nach dem anderen Testmaterial ausgeteilt. Am Ende der Untersuchung stand die Reflexionsaufgabe, die in Partnerarbeit und auf Deutsch durchgeführt wurde. Jedes Team bekam ein Diktiergerät und wurde angehalten, die aus der spanischen Interpretationsaufgabe ausgewählten Sätze unter Berücksichtigung der Leitfragen zu diskutieren. Nach der Durchführung der Studie wurde den Schülern noch etwas Zeit eingeräumt, in welcher über die Vorgehensweise der Studie gesprochen wurde. 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren Die in Kapitel 6.2 besprochenen Testgütekriterien sind auch im Hinblick auf die Datenkodierung zu berücksichtigen. Beispielsweise sind Daten dann valide kodiert, wenn die gewählten Kategorien und Verfahren eine adäquate Interpretation des entsprechenden Konstrukts zulassen (vgl. Révesz 2012: 204). Von reliabel kodierten Daten spricht man, wenn sie systematisch und konsistent kategorisiert werden. Eine höhere Reliabilität kann unter anderem dadurch erreicht werden, dass mehrere Forscher dieselben Daten kodieren und kategorisieren (Interbewerter-Reliabilität) bzw. ein Forscher dies zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten tut (Intrabewerter-Reliabilität) (vgl. Chaudron 2003: 800; Mackey/ <?page no="187"?> 188 6 Methodologie Gass 2005: 128-129). Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie die einzelnen Testformate ausgewertet und analysiert wurden. 6.5.1 C-Test Der C-Test dieser empirischen Untersuchung besteht aus fünf Texten mit einer Länge von 76 bis 100 Wörtern, wobei jeder Text 25 Tilgungen beinhaltet. Für jede korrekte Antwort wurde ein Punkt gegeben (Akzentuierungsfehler wurden als vollständige Fehler gewertet). Dies führte zu einer Gesamtpunktezahl von 125. Die erreichten Punkte wurden auf dem Original notiert und im Anschluss in das Statistikprogramm SPSS 24 übertragen. 6.5.2 Bildgeschichten Die mündlichen Sprachdaten wurden mithilfe von Diktiergeräten aufgenommen und im Anschluss unter Berücksichtigung der CHAT-Transkriptionskonventionen des CHILDES-Projektes transkribiert (vgl. MacWhinney 2000). Danach wurden sie mittels MAXQDA 11 kodiert und für die statistische Auswertung in SPSS 24 übertragen. Eine genaue Beschreibung der Vorgehensweise bei der Datenkodierung findet sich in Kapitel 6.5.2.1. Informationen zur Datenauswertung und eine kurze statistische Einführung wird in Kapitel 6.5.2.2 bereitgestellt. 6.5.2.1 Datenkodierung Die beiden Bildgeschichten wurden nach lexikalischem und grammatikalischem Aspekt kodiert (siehe Tabelle 31 auf Seite 191). Für die Kategorisierung der Verbalphrasen in statische, aktivische und telische Prädikate wurden die von Shirai (2013) vorgeschlagenen Tests herangezogen. Zu Beginn plädiert Shirai (2013: 280-284) dafür, den Kontext des Satzes aufmerksam zu lesen. Im Anschluss daran wird das Prädikat im Infinitiv dargestellt und es werden die folgenden Tests durchgeführt (siehe Kapitel 2.1.1 für eine allgemeine Einführung zum lexikalischen Aspekt): 1. Im ersten Schritt wird eruiert, ob es sich um ein statisches oder ein dynamisches Prädikat handelt. Shirai (2013: 283, 295-296) argumentiert, dass erstere über keine habituelle Lesart im Präsens verfügen. Dies hängt damit zusammen, dass Zuständen die Subintervall-Eigenschaft zukommt, welche von Nicolay (2007: 74) folgendermaßen beschrieben wird: „Wenn ein Zustand während einer gewissen Zeitspanne herrscht, dann ist er zu jedem einzelnen Zeitpunkt dieser Zeitspanne vollständig gegeben“. Da die einzelnen Phasen eines Zustandes identisch sind, können sie nicht iteriert werden, <?page no="188"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 189 weshalb keine habituelle Interpretation möglich ist. Hat ein Prädikat eine habituelle Lesart im Präsens, handelt es sich demnach um eine Situation der die Eigenschaft [+dynamisch] zukommt und es wird mit dem zweiten Test fortgefahren. 2. Diesbezüglich geht es um die Frage, ob es sich um ein telisches oder ein atelisches/ aktivisches Prädikat handelt. Telics sind nur dann wahr, wenn der inhärente Endpunkt der Situation erreicht wurde, Aktivitäten hingegen schon ab dem Zeitpunkt, zu dem sie starten. Dies veranschaulicht Shirai anhand des folgenden Tests: Wenn man in der Mitte des Tuns von V aufhört, V zu tun, hat man dann V getan? Wenn beispielsweise Pablo in der Mitte des Zeichnens aufhört, zu zeichnen, hat er dann gezeichnet? Da die Wahrheitskondition der Verbalphrase Pablo zeichnen schon mit dem Start der Handlung erfüllt ist, kann die Frage bejaht werden. Demnach handelt es sich um ein atelisches Prädikat, das im Laufe der Arbeit in Anlehnung an die Vendlersche Kategorie der Aktivitäten auch als aktivisch bezeichnet wird. Derselbe Test verhält sich mit der Verbalphrase Pablo einen Kreis zeichnen anders: Wenn Pablo in der Mitte des Zeichnens eines Kreises aufhört, zu zeichnen, hat Pablo dann den Kreis (zu Ende) gezeichnet? Aufgrund des inhärenten Endpunkts dieser Verbalphrase muss die Frage verneint werden. Demnach handelt es sich um ein telisches Prädikat, das bei Vendler (1957) noch in accomplishments und achievements unterteilt wird. Da in der vorliegenden Arbeit eine dreigliedrige Einteilung des lexikalischen Aspekts verwendet wird, werden die letztgenannten lexikalischen Aspektklassen zu telics zusammengefasst (für eine Darstellung des Tests zur Unterscheidung von accomplishments und achievements vgl. Shirai 2013: 291-295). Um den oben genannten Kriterien der Inter- und Intrabewerterzuverlässigkeit gerecht zu werden (vgl. Albert/ Marx 2014: 29; Mackey/ Gass 2005: 128-129; Polio 2012: 147), wurde jede Verbalphrase vom Verfasser der vorliegenden Arbeit zwei Mal zu unterschiedlichen Zeitpunkten sowie von einem unabhängigen Experten kodiert. Fälle, in denen sich die Kodierungen unterschieden, wurden im Anschluss besprochen und man entschied sich für eine gemeinsame Lösung. Eine Auswahl der von den Schülern verwendeten Verbalphrasen findet sich in Tabelle 30: <?page no="189"?> 190 6 Methodologie Verbalphrase Lexikalischer Aspekt acostarse muy tarde telisch beber vino aktivisch cambiarse de asiento telisch comer una pizza telisch creer statisch despertarse temprano telisch divertirse por la tarde aktivisch encantar statisch escribir un cuento telisch estar statisch gustar statisch Tab. 30: Kodierung der Verbalphrasen nach lexikalischem Aspekt Nachdem die Verbalphrasen in statische, aktivische und telische Prädikate eingeteilt wurden, mussten sie einem funktional-semantischen Kontext, in den meisten Fällen entweder einem perfektiven oder einem imperfektiven, zugeordnet werden. Eine solche Einteilung hängt eng mit dem Konzept der Obligatorität zusammen. Obligatorische Kontexte werden als Kontexte definiert, in denen die Verwendung einer bestimmten Form erwartet wird. Diese Annahmen orientieren sich typischerweise am Sprachverhalten von Native Speakern. Es wird demnach jene Form vermutet, die von L1-Sprechern unter denselben Bedingungen höchstwahrscheinlich produziert werden würde. Wird eine nicht erwartete Form produziert, spricht man von Fehlern (vgl. Lennon 1991: 182). Da es allerdings sprachliche Situationen gibt, in denen sich auch L1-Sprecher uneinig sind, erscheint es eher angebracht, von präferierten und nicht präferierten Formen zu sprechen. Für die Identifizierung von perfektiven und imperfektiven Kontexten wurde das Kriterium der Begrenztheit herangezogen ( conjunction test ; siehe Kapitel 2.1.2). Wird eine Situation als ein in sich abgeschlossenes Ganzes betrachtet, wenn also Anfang und Ende in der vom Sprecher gewählten Perspektive eingeschlossen sind, wurde der entsprechende Kontext als perfektiv kodiert. Werden hingegen die Grenzen derselben nicht fokussiert und wird die interne temporale Zusammensetzung betont, wurde der Kontext als imperfektiv kodiert. Des Weiteren wurden die Subkategorien des imperfektiven Aspekts berücksichtigt: Eine Handlung wurde als imperfektiv-progressiv kategorisiert, <?page no="190"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 191 wenn ihre Grenzen nicht fokussiert werden, sie im Verlauf präsentiert wird und mit telischen oder aktivischen Prädikaten auftritt. Dieselbe Beschreibung trifft auf imperfektiv-kontinuative Situationen zu, allerdings in Kombination mit statischen Prädikaten. Als imperfektiv-habituell werden jene Handlungen bezeichnet, die eine gewohnheitsmäßige Repetition darstellen. Konnte aufgrund dieser semantischen Kriterien keine eindeutige Einteilung vorgenommen werden, wurde zusätzlich auf diskursive Kriterien zurückgegriffen. In diesem Fall wurden jene Handlungen, die den Handlungsstrang vorantreiben, als perfektiv, jene, die einen beschreibenden Hintergrund bilden, als imperfektiv kodiert. Wenn trotz der eben dargestellten Prinzipien keine klare Zuordnung zu einem funktional-semantischen Kontext möglich war, wurde die von der Testperson verwendete Verbform als akkurat kategorisiert. Auch bezüglich des grammatikalischen Aspekts wurden alle Verbformen vom Verfasser der vorliegenden Arbeit zwei Mal zu unterschiedlichen Zeitpunkten sowie von einer unabhängigen Expertin, deren L1 das peninsulare Spanisch war, kodiert. Eine Zusammenfassung findet sich in der nachstehenden Tabelle: Lexikalischer Aspekt Kodierungskriterien (Test nach Shirai 2013) Statisch - Habituelle Lesart im Präsens? → Nein Aktivisch - Wenn man in der Mitte des Tuns von V aufhört, V zu tun, hat man V dann getan? → Ja Telisch - → Nein Grammatikalischer Aspekt Kodierungskriterien (conjunction test und narrativer Diskurs) Perfektiv - Begrenztheit der Handlung - Diskursiv (den Handlungsstrang vorantreibend) Imperfektiv - Unbegrenztheit der Handlung - Diskursiv (beschreibender Hintergrund) Progressiv - Unbegrenztheit + aktivisches/ telisches Prädikat Kontinuativ - Unbegrenztheit + statisches Prädikat Habituell - Gewohnheitsmäßige Repetition Tab. 31: Kodierraster (lexikalischer und grammatikalischer Aspekt) Die vorliegende Arbeit interessiert sich für semantischen Transfer von aspektuellen Eigenschaften, weshalb morphologischer Transfer keine weitere Beachtung findet. Bei der Datenkodierung wurde die Morphologie nur insofern berücksichtigt, als sie wichtig für die Zuordnung einer Verbform zu einem <?page no="191"?> 192 6 Methodologie entsprechenden funktional-semantischen Kontext war. Wenn die Lernenden eine korrekte Verbform verwendeten, war eine solche Zuteilung unproblematisch. Schwierigkeiten ergaben sich bei Fehlern im Bereich der Morphologie, wie zum Beispiel bei Personenfehlern (Beispiel 72) oder der regelmäßigen Bildung eines unregelmäßigen Verbs (Beispiel 73): 71 (72) y nati (.) busqué [: buscó] [*] pancho (Korpus A 423: 19) (73) y decí [: dijo] [*] que necesi^tamos [necesitábamos] [*] ayuda (Korpus A 108: 34-35) Bei solchen Morphologie-Fehlern wurden die einzelnen Morpheme genau analysiert und es wurde entschieden, ob die Verben trotzdem einem funktionalsemantischen Kontext zugeordnet werden konnten. So konnte die Verbform busqué in Beispielsatz 72 - trotz der Verwendung der 1. Person - funktional klar dem perfecto simple zugeordnet werden. Auch in Satz Nummer 73, in welchem Teilnehmerin 108 das 1.-Person-Singular-Morphem des perfecto simple der ir - Konjugation {í } an den Verbstamm { dec -} anhängt und dabei nicht berücksichtigt, dass es sich bei decir um ein unregelmäßiges Verb handelt, konnte das Verb als perfektive Verbform kodiert werden. 72 Die eben genannten Beispiele haben gemein, dass sie trotz der Morphologie- Fehler einem funktional-semantischen Kontext zugeordnet werden können. Es gibt aber auch Fälle, in welchen eine Klassifikation basierend auf morphologischen Kriterien nur schwer möglich ist. Man beachte die Verbform hablamos in Beispielsatz 74: (74) después &um [x 2] fuemos [: fuimos] [*] a: Barcelona.(.) &um (.) cogemos [: cogimos] [*] el tren, (.) habla^mos sobre vuestra niñ [/ / ] niñez. de pequeñas (.) &um (.) eras [: éramos] [*] muy diferentes. (Korpus A 807: 6-8) 71 Die korrekte Form findet sich in den eckigen Klammern. Der Asterisk in Klammer verweist darauf, dass es sich um einen Fehler handelt. Es sei außerdem an dieser Stelle betont, dass es im Folgenden lediglich darum geht, darzustellen, warum die Zuordnung fehlerhafter Verben zu einem funktional-semantischen Kontext zulässig ist. Das einzige Ziel ist es also, das Analyseverfahren transparent und nachvollziehbar zu machen. 72 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Testperson darüber hinaus die 1. mit der 3. Person verwechselt. <?page no="192"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 193 Hablamos wurde dem perfecto simple zugeteilt, obwohl es für die 1. Person Plural des Präsens und die 1. Person Plural des perfecto simple des Indikativs verwendet wird. In solchen ambigen Fällen wurden die Verbformen unter Einbeziehung der Systematizität der Lernersprache kodiert. Da die Lernenden explizit die Anweisung bekamen, die Bildgeschichte in der Vergangenheit nachzuerzählen, kann prinzipiell davon ausgegangen werden, dass sie die Intention hatten, eine Vergangenheitsform zu produzieren. Es würde also sowohl der Systematizität der jeweiligen Lernersprache als auch der Arbeitsanweisung widersprechen, anzunehmen, dass die Lernenden eine andere Tempusform produzieren wollten. Befinden sich darüber hinaus mehrere perfektive Verbformen ( fuimos, eras im Beispiel) im unmittelbaren Umfeld der ambigen Form, ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um das perfecto simple handelt. Würde sie von mehreren Verbformen im Präsens umgeben werden, was auf das genannte Beispiel nicht zutrifft, müsste man überlegen, ob eine Zuordnung zum Präsens nicht adäquater wäre. Im Allgemeinen wurden Verbformen aber nur dann als Präsens, Futur, Konditional oder dergleichen kategorisiert, wenn es klare morphologische Indizien dafür gab. Dies trifft beispielsweise auf die Verbform cogemos in Beispiel 74 zu. Trotz der morphologischen Ähnlichkeit zu cogimos ( perfecto simple ) und der Tatsache, dass die Testperson möglicherweise eine perfecto-simple -Form bilden wollte, muss die Form morphologisch eindeutig dem Präsens zugeordnet werden und wurde dementsprechend auch als solche kodiert. Neben dem morphologischen Kodierungsprinzip und der Systematizität der Lernersprachen wurde für die Zuordnung zu einem funktional-semantischen Kontext auch auf den Wortakzent geachtet und damit auf das sogenannte phonetisch-phonologische Kodierungsprinzip zurückgegriffen. Die Funktionsweise wird anhand der nächsten beiden Beispielsätze veranschaulicht: (75) encontrá [: encontró] [*] en un gato (Korpus A 514: 1) (76) encontra [= keine Kodierung, da kein phonetisch-phonologisches Prinzip anwendbar] la comida en atrás y +… (Korpus A 526: 30) Da in Beispiel 75 die letzte Silbe betont wird, wie dies beim perfecto simple üblich ist, und der Lernende normalerweise das perfecto simple in seinen Nacherzählungen verwendet, wurde die Verbform als perfektiv kodiert. Wenn die letzte Silbe allerdings nicht betont wird und sich zahlreiche unterschiedliche Verbformen in der entsprechenden Nacherzählung finden, war eine Zuteilung zu einem funktionalen Kontext nicht möglich, weshalb die Verbform aus der Untersuchung ausgeschlossen werden musste (Beispiel 76). <?page no="193"?> 194 6 Methodologie Im Allgemeinen wurden alle Verbformen ausgeschlossen, in denen eine objektive Beurteilung aufgrund morphologischer, lernersprachlicher oder phonetisch-phonologischer Kriterien nicht gewährleistet war (insgesamt 254 Verbalphrasen). Dies trifft neben Beispielsatz 76 auch auf Nummer 77 zu: (77) (..) un perro está interrupta los dos (Korpus A 202: 9) Theoretisch kann die Form interrupta zwar noch dem Verb interrumpir zugeordnet werden, eine Kategorisierung als perfektive oder imperfektive Verbform ist allerdings nicht mehr möglich. Darüber hinaus wurden jene Sätze, die semantisch oder pragmatisch unklar waren, und daher nicht adäquat interpretiert werden konnten, nicht in das Korpus miteinbezogen: (78) y: durante nato &um es^cuchó [= semantisch unklar] pancho (.) y escuchó [= semantisch unklar] (.) debujo de [/ ] de la sofa y en el jardín (Korpus A 920: 13-14) Basierend auf den eben dargestellten Kriterien wurden alle Verbformen der beiden Bildgeschichten mithilfe der Software MAXQDA 11 nach lexikalischem Aspekt kodiert und einem funktional-semantischen Kontext zugeordnet. MAXQDA erstellt automatisch Frequenzlisten, die für die quantitative Analyse in SPSS 24 übertragen wurden. Die Vorgangsweise bei der quantitativen Auswertung wird im nächsten Kapitel beschrieben. 6.5.2.2 Datenauswertung Die Analyseverfahren bauen auf einer formfokussierenden funktionalen Analyse auf, die von den Verbformen ausgeht und untersucht, in welchen funktional-semantischen Kontexten sie auftreten. 73 Im ersten Analyseschritt werden demnach die Auftretenshäufigkeiten der unterschiedlichen Verbformen für jeden funktional-semantischen Kontext ausgezählt und zwischen den verschiedenen Lernergruppen, die je nach Hypothesenblock variieren, verglichen. Im Anschluss daran werden die Verbformen in präferierte und nicht präferierte Formen eingeteilt. Das für diesen Analyseschritt verwendete statistische Testverfahren nennt sich Chi²-Test. Mithilfe von Chi²-Tests kann der Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen berechnet werden. Wenn der 73 In der englischsprachigen Literatur finden sich die Begrifflichkeiten form-oriented approach (vgl. Bardovi-Harlig 2000: 93) und form-to-function approach (vgl. Ellis/ Barkhuizen 2005: 113-115). Da es im Deutschen keine passende Übersetzung gibt, wird der Begriff der formfokussierenden funktionalen Analyse eingeführt. <?page no="194"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 195 Chi²-Wert hoch ist und der p-Wert unter 0,05 liegt, kann davon ausgegangen werden, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Variablen besteht. Im Unterschied zu Korrelationen kann aber keine Stärke des Zusammenhangs angegeben werden, sondern nur, ob ein solcher besteht oder nicht. In einem zweiten Schritt werden Akkuratheitswerte berechnet, das heißt, es werden im Unterschied zum ersten Analyseverfahren nicht die Auftretenshäufigkeiten der Verbformen pro Gruppe, sondern Akkuratheitswerte pro Teilnehmer ermittelt, die im Übrigen in Prozentwerten angegeben werden. Diesbezüglich gibt es zwei gängige Berechnungsverfahren (vgl. Ellis/ Barkhuizen 2005: 73-92): Die obligatory-occasion- Analyse (OOA) und die target-like-use- Analyse (TLUA). Erstere eruiert obligatorische Kontexte und untersucht, ob die präferierten Formen darin auftreten. Dazu wird die folgende Formel verwendet: Akkuratheitswert = Anzahl korrekter Verwendungen in obligatorischen Kontexten Gesamtzahl obligatorischer Kontexte × 100 Akkuratheitswert = Anzahl korrekter Verwendungen in obligatorischen Kontexten (Gesamtzahl obligatorischer Kontexte + Anzahl Verwendung in nicht obligatorischen Kontexten) × 100 An dieser Herangehensweise wird vor allem kritisiert, dass sie die Übergeneralisierung eines Morphems nicht berücksichtigt. Verwendet ein Lernender beispielsweise zehn perfektive Verbformen in allen zehn perfektiven Kontexten und zusätzlich drei in imperfektiven Kontexten, erreicht er trotzdem einen Akkuratheitswert von 100 %. Dieser Übergeneralisierung, die in der OOA ignoriert wird, wird in der auf Pica (1984: 71) zurückgehenden target-like-use- Analyse Beachtung geschenkt. Die entsprechende Formel lautet: Akkuratheitswert = Anzahl korrekter Verwendungen in obligatorischen Kontexten Gesamtzahl obligatorischer Kontexte × 100 Akkuratheitswert = Anzahl korrekter Verwendungen in obligatorischen Kontexten (Gesamtzahl obligatorischer Kontexte + Anzahl Verwendung in nicht obligatorischen Kontexten) × 100 Analysiert man das oben genannte Beispiel mithilfe der TLUA, werden die drei übergeneralisierten Verbformen einberechnet und der Lernende kommt lediglich auf einen Akkuratheitswert von 77 %. Shirai (2007: 57) kritisiert an beiden Herangehensweisen, dass sie einem monolingualen Bias unterliegen. Da man von obligatorischen Kontexten ausgeht und dafür die L1-Norm heranzieht, wird die Lernersprache nicht als eigenständiges System, sondern immer im Vergleich zu den L1-Normen betrachtet. Diesem Bias kann man laut Shirai nur entkommen, wenn man alle Verwendungen eines Morphems berücksichtigt und entsprechend analysiert. Dies spricht allerdings nicht gegen die Verwendung einer obligatory-occasion- Analyse (vgl. ebd.: 58), sondern verweist eher darauf, dass die Daten mithilfe unterschiedlicher Analyseverfahren beleuchtet werden sollen. <?page no="195"?> 196 6 Methodologie Die vorliegende Arbeit versucht, diesem Einwand durch die quantitative und qualitative Auswertung der Daten mithilfe von Frequenz-, obligatory-occasion- und target-like-use- Analysen sowie durch die Verwendung unterschiedlicher statistischer Tests gerecht zu werden. Trotz der eben genannten Kritikpunkte zählt die OOA zu einem sehr weitverbreiteten Analyseverfahren und wird daher auch in der vorliegenden Arbeit das Hauptanalyseverfahren sein. Lediglich im Falle eines drastischen Unterschieds der beiden Berechnungsmethoden wird zusätzlich auch das Ergebnis der TLUA dargestellt und interpretiert. Im Unterschied zum Zählen von Auftretenshäufigkeiten hat die Berechnung von Akkuratheitswerten den Vorteil, dass es sich um eine intervallskalierte Variable handelt und so potentere statistische Analysen durchgeführt werden können. Basierend auf den Mittelwerten, die aus den Akkuratheitswerten berechnet werden, werden vor allem zwei statistische Tests angewandt: (1) Wenn die Variable nur zwei Ausprägungen hat (z. B. hohes Aspektwissen im Englischen ja/ nein) werden Zweistichproben-t-Tests durchgeführt, welche überprüfen, ob sich die Mittelwerte der Gruppen statistisch signifikant unterscheiden. (2) Wenn die Variable mehr als zwei Ausprägungen hat (z. B. Gruppe A, B und C), werden einfaktorielle Varianzanalysen (auch ANOVAS genannt) verwendet (für nähere Informationen zu den statistischen Tests vgl. Bühl 2016 oder Duller 2013). 6.5.2.3 Allgemeine Beschreibung des Korpus Damit die Hypothesen mit den Sprachproduktionsdaten getestet werden können, ist eine ausreichende Verwendung von perfektiven und imperfektiven Formen in den entsprechenden semantischen Kontexten notwendig. Um dies zu überprüfen, wurde eine Frequenzanalyse durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden. Die Lernenden produzieren insgesamt 5.964 kategorisierbare Verbformen (x̄ = 54,7 Tokens pro Teilnehmer): 74 Das perfecto simple tritt zu 46,0 % auf (2.675 Tokens), dicht gefolgt vom imperfecto mit 36,0 % (2.094 Tokens). Es findet sich aber auch das Präsens (11,7 %; 682 Tokens), das perfecto compuesto (2,4 %; 137 Tokens) und vereinzelt die Progressivperiphrase estar + gerundio (0,3 %; 15 Tokens). Alle anderen Verbformen wurden unter die Kategorie Sonstiges subsumiert (3,7 %; 217 Tokens). Dass das perfecto compuesto in nur 2,4 % der Fälle verwendet wird, ist ein interessanter Fund, da eine Übergeneralisierung des periphrastischen 74 In der gesamten Stichprobe kommen insgesamt 144 nicht (im-)perfektive Kontexte vor (2,4 % der gesamten Tokens). Es handelt sich beispielsweise um Kontexte, in denen das Präsens oder das Plusquamperfekt zu verwenden wäre. Da sie für die Beantwortung der Forschungsfragen nicht von Relevanz sind, werden sie nicht weiter behandelt. <?page no="196"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 197 Perfekts aufgrund der morphologischen Nähe zum Deutschen oder Französischen durchaus möglich gewesen wäre. Die eben genannten Formen verteilen sich wie folgt auf die entsprechenden semantischen Kontexte: Es handelt sich um 48,6 % perfektive und 51,4 % imperfektive Kontexte, von denen sich 3,8 % auf progressive, 18,3 % auf kontinuative und 29,2 % auf habituelle Kontexte aufteilen. Demnach ist für drei der fünf Konditionen eine ausreichend hohe Anzahl vorhanden, um die Hypothesen mithilfe der Sprachproduktionsdaten zu testen. Es finden sich allerdings nur 3,8 % progressive Kontexte, in welchen neben mehreren anderen Formen 125-mal das imperfecto und lediglich 15-mal die Progressivperiphrase verwendet wird. Die Konsequenz dieser geringen Frequenz ist, dass die Hypothesen, die sich auf die progressive Semantik beziehen, mithilfe der Sprachproduktionsdaten nicht getestet werden können. Eine Überprüfung mithilfe der Interpretationsaufgabe, die unter anderem in das Untersuchungssetting integriert wurde, um solchen Vermeidungsstrategien der Lernenden entgegenzuwirken, ist allerdings möglich. 6.5.3 Semantische Interpretationsaufgaben Die Prinzipien der Datenauswertung sind sowohl für die Interpretationsaufgabe des Englischen, des Französischen und des Spanischen identisch, weshalb im Folgenden die genaue Vorgehensweise nur anhand von perfektiven Kontexten der spanischen Version exemplarisch veranschaulicht wird. Da der vorgegebene situative Rahmen eine perfektive Lesart erzeugt, muss für eine korrekte Antwort die perfektive Verbform im ersten Satz mit Werten von +1/ +2 angenommen und die imperfektive im zweiten Satz mit -1/ -2 abgelehnt werden. Für jede korrekte Antwort bekommen die Lernenden einen bzw. zwei Punkt(e), für jede falsche einen bzw. zwei Minuspunkt(e). Ein Wert von +2 bedeutet im Normalfall, dass der Proband den ungrammatischen Satz mit einer Bewertung von -1 korrekterweise ablehnt und den korrekten Satz mit +1 annimmt. Dies weist darauf hin, dass er zwischen den beiden Formen problemlos unterscheiden kann. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Werte zwischen 3 und 4 keine höhere grammatikalische Korrektheit ausdrücken als jene zwischen 2 und 3; sie zeigen nur das subjektive Empfinden des Probanden auf, den Satz als korrekt oder als sehr korrekt einzustufen. Eine Bewertung von 0 deutet darauf hin, dass der Teilnehmer nicht zwischen der perfektiven und der imperfektiven Verbform unterscheiden kann. Werte unter 0 würden sogar heißen, dass dazu tendiert wird, das perfecto simple fälschlicherweise abzulehnen und das imperfecto anzunehmen. Dies ist allerdings im vorliegenden Datensatz nur äußerst selten der Fall. Diese Berechnung wird für jedes einzelne Item pro Interpreta- <?page no="197"?> 198 6 Methodologie tionsaufgabe durchgeführt. Im Anschluss werden die Items nach lexikalischem Aspekt und semantischem Kontext gruppiert und es werden die entsprechenden Mittelwerte berechnet (siehe Kapitel 6.2.4.1, 6.2.4.2 und 6.2.4.3 für eine genaue Beschreibung der einzelnen Interpretationsaufgaben). Außerdem wird der Mittelwert aller Items berechnet und je nach Sprache als Variable Aspektwissen Spanisch , Aspektwissen Englisch oder Aspektwissen Französisch kodiert. Mit den Daten der Interpretationsaufgabe werden drei statistische Verfahren realisiert: 75 (1) Die Durchführung von Zweistichproben-t-Tests dient dazu, die Mittelwerte der entsprechenden Lernergruppen zu vergleichen und im Hinblick auf statistisch signifikante Unterschiede zu testen. (2) Um zu eruieren, ob ein Zusammenhang zwischen den Variablen besteht, werden Korrelationen nach Pearson berechnet. Der Korrelationskoeffizient r liegt zwischen -1 und +1 und gibt die Stärke des Zusammenhangs an. Je näher der Wert an -1/ +1 rückt, desto stärker ist der negative/ positive Zusammenhang (vgl. Bühl 2016: 425-438). Damit unterscheidet sich die Pearson-Korrelation wesentlich vom Chi²-Test, der nur angeben kann, ob ein Zusammenhang besteht, aber nicht dessen Stärke. (3) Im Unterschied zur Korrelationsrechnung kann eine lineare Regression die Art des Zusammenhangs angeben bzw. den Wert einer abhängigen Variable aus den Werten unabhängiger Variablen vorhersagen (vgl. ebd.: 439-526). Diese Analyse wird vor allem an jenen Stellen durchgeführt, an denen es interessant ist, zu sehen, ob beispielsweise die Variable Aspektwissen Englisch oder Aspektwissen Französisch die abhängige Variable besser erklären kann. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass die Lernenden für einige Berechnungen in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen in Englisch/ Französisch eingeteilt wurden (Akronyme: HAE/ HAF und NAE/ NAF). Hierzu wurde der Median des Gesamttestergebnisses der entsprechenden Interpretationsaufgabe berechnet (Median Aspektwissen Englisch = 2,1; Median Aspektwissen Französisch = 1,2). Alle Teilnehmer, die über dem Median lagen, wurden in die Gruppe mit hohem Aspektwissen eingeteilt (für eine Beschreibung der Teilnehmer siehe Kapitel 6.3). 75 Bei Likert-Skalen handelt es sich eigentlich um ordinalskalierte Daten, weshalb Berechnungen „von Mittelwerten und andere Verfahren, die Intervallskalenniveau verlangen, nicht ganz korrekt, wenn auch gebräuchlich [sind]“ (Albert/ Marx 2012: 111). Wir sind uns dieser Problematik bewusst, orientieren uns aber an den Standards der Zweit-/ Drittspracherwerbsforschung, wo ein solches Datenauswertungsverfahren durchaus üblich ist. <?page no="198"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 199 6.5.4 Fragebogen Der Fragebogen dient im Wesentlichen dazu, grundsätzliche Informationen über die Probanden zu erhalten und einige Störvariablen zu erheben. Für die Auswertung wurden die Antworten der geschlossenen Fragen in SPSS eingetragen. Für die Ergebnispräsentation, die sich hauptsächlich in Kapitel 6.3 findet, wurden die Mittelwerte berechnet und es wurde mithilfe von Zweistichprobent-Tests und ANOVAS getestet, ob sich diese signifikant unterscheiden. 6.5.5 Reflexionsaufgabe An der Reflexionsaufgabe nahmen 103 der insgesamt 109 Probanden teil. 76 Die daraus entstandenen metasprachlichen Daten wurden mithilfe von Diktiergeräten aufgenommen und in Anlehnung an Fuß und Karbach (2014) transkribiert. Die mittels MAXQDA durchgeführte Auswertung erfolgte in Anlehnung an die Prinzipien der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016), die im Folgenden beschrieben werden. Im ersten Schritt, der initiierenden Textarbeit, empfiehlt Kuckartz, die Transkripte sorgfältig zu lesen, um so einen Gesamtüberblick über die Daten zu bekommen. Im Zuge dessen wurden Memos und eine systematische Zusammenfassung zu jedem einzelnen Teilnehmer erstellt (vgl. ebd.: 56-63). Im Anschluss an diese erste Phase wurde damit begonnen, Kategorien induktiv am Material zu bilden (vgl. ebd.: 63-97). Ziel war es, im Laufe der Datenanalyse thematische Kategorien zu erstellen, die einerseits möglichst nahe an den wissenschaftlichen Begrifflichkeiten liegen (z. B. Nennung der konkreten Funktion einer Form), andererseits den laienhaften Charakter der Lerneraussagen wiedergeben. Als Kodiereinheit wurden Sinneinheiten gewählt, sodass beispielsweise komplexe Aussagen auch außerhalb des Kontextes verständlich sind. Dies kann von der Kodierung eines einzigen Begriffes bis hin zu mehreren Sätzen reichen. Darauffolgend wurde mit der sequentiellen Bearbeitung und Kategorienbildung direkt am Text begonnen. Durch Ordnung und Systematisierung, beispielsweise durch die Zusammenfassung von ähnlichen Aussagen zu übergeordneten Einheiten, bildeten sich immer allgemeinere, abstrakte Kategorien heraus. Um dem Kriterium der Intrabewerter-Reliabilität gerecht zu werden (vgl. Mackey/ Gass 2005: 128-129), wurde eine solche Kategorienbildung zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt. Erst am Ende des vollständigen Datendurchlaufs und des Vergleichs mit der Kodierung des ersten Zeitpunktes 76 Der Verlust von sechs Teilnehmern ist darauf zurückzuführen, dass die Aufgabe in einer kleinen Gruppe aus Zeitgründen nicht durchgeführt werden konnte. <?page no="199"?> 200 6 Methodologie wurde das Kategoriensystem endgültig festgelegt. Aus den sechs Großkategorien, die wiederum aus zahlreichen Unterkategorien bestehen, wurden zwei Großkategorien-Cluster - Explizites Regelwissen und Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche - gebildet. Der Cluster Explizites Regelwissen setzt sich aus den Reflexionen über das Sprachlernverhalten der Lernenden in der spanischen Interpretationsaufgabe zusammen. Er beinhaltet im Wesentlichen alle Aussagen, die sich auf explizites Regelwissen beziehen, ohne dass dieses Wissen mit anderen Sprachen in Bezug gesetzt wird. Daraus ergeben sich vier Großkategorien ((A) perfecto simple , (B) imperfecto , (C) estar + gerundio und (D) Signalwörter ), in denen die Lernenden primär Regeln zu den entsprechenden spanischen Tempusformen thematisieren. Es findet sich aber auch eine sehr allgemeine Großkategorie, in der auf sogenannte Signalwörter verwiesen wird. 77 Im Folgenden wird überblicksartig beschrieben, nach welchen Kriterien die Textpassagen ausgewählt und den entsprechenden Kategorien zugeteilt wurden. Eine Übersicht ist in Tabelle 32 gegeben. Großkategorie (A) perfecto simple besteht aus fünf Unterkategorien. In die Kategorie (A1) Abgeschlossenheit/ Begrenztheit wurden alle Aussagen eingeteilt, die auf die Abgeschlossenheit oder Begrenztheit einer Handlung Bezug nehmen. Die Kategorie (A2) Handlungen/ Handlungsabläufe bezieht sich auf Aussagen, die dem diskursiven Erklärungsansatz zugeordnet werden können. Sie beinhaltet primär Kommentare zu Handlungsabläufen oder zu einmaligen, neuen oder punktuellen Handlungen/ Aktionen. Unter (A3) Bestimmte Zeitangaben/ Zeitpunkte wurden alle Aussagen subsumiert, in denen die Teilnehmer eine genaue Zeitangabe nennen oder über konkrete Zeitpunkte sprechen (z. B. ayer, a las seis de la tarde ). Des Weiteren finden sich noch die Kategorien (A4) Temporale Erklärungsansätze (z. B. etwas ist vor langer Zeit passiert) und (A5) Verwechslung mit IMP-Regeln (z. B. wenn ein Proband erklärt, dass die Unabgeschlossenheit einer Handlung ein Zeichen für das perfecto simple sei). Die Großkategorie (B) imperfecto setzt sich aus sieben Subkategorien zusammen: Die Kategorien (B1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität sowie (B2) Rahmenhandlungen/ Hintergründe/ Beschreibungen sind das Pendant zu (A1) und (A2). Erstere bezieht sich auf Aussagen, die thematisieren, dass etwas nicht vollendet/ abgeschlossen ist bzw. sich gerade im Verlauf befindet. (B2) beinhaltet Äußerungen, die zu den diskursiven Erklärungsansätzen zu zählen sind. Diesbezüglich wird beispielsweise die Verwendung des imperfecto 77 Da in der Angabe der Reflexionsaufgabe auch ein Beispielsatz vorhanden ist, der das perfecto compuesto beinhaltet, finden sich einige Aussagen zu dieser Form. Das zusammengesetzte Perfekt wird allerdings in dieser Arbeit nicht näher betrachtet, weshalb auf Äußerungen zu dieser Form nicht näher eingegangen wird. <?page no="200"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 201 bei hintergründigen Rahmenhandlungen und bei Beschreibungen in der Vergangenheit angesprochen. Kategorie (B3) Habitualität fasst Aussagen bezüglich gewohnheitsmäßiger Handlungen zusammen (z. B. regelmäßige Handlungsabläufe in der Kindheit). In (B4) Zustand wird thematisiert, dass das imperfecto mit Zuständen benutzt wird; (B5) Durativität befasst sich mit Kommentaren, die davon sprechen, dass es bei Handlungen mit einer gewissen zeitlichen Ausdehnung verwendet wird. Wenn allerdings von langen Handlungen im Kontext des Inzidenzschemas gesprochen wird, dann wurden diese als Teil der progressiven Semantik unter (B1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität kategorisiert. Schließlich finden sich noch die Kategorien (B6) Temporale Erklärungsansätze und (B7) Verwechslung mit Regeln einer anderen Form , denen dieselben Kategorisierungsprinzipien zugrunde liegen wie den oben genannten Kategorien (A4) und (A5). Im Unterschied zur Großkategorie (B) imperfecto nehmen die Lernenden in (C) estar + gerundio Bezug auf die spanische Progressivperiphrase. Aus der Tatsache, dass beide Verbformen zum Ausdruck von Progressivität verwendet werden, resultieren viele vergleichbare Aussagen. Die entsprechenden Kodierungsprinzipien und die daraus resultierenden Kategorien sind naturgemäß ebenfalls ähnlich, weshalb an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen wird (siehe Tabelle 32 für einen Überblick). Jegliche Aussagen über Signalwörter befinden sich in Kategorie (D) Signalwörter . Diesbezüglich thematisieren die Lernenden, dass sie diese als Lernstrategie verwenden, beispielsweise indem sie explizit auf das Lexem Signalwort verweisen und betonen, dass sie ihnen beim Lernen der aspektuellen Unterscheidung geholfen haben (Kategorie (D1) Signalwörter als Lernstrategie ). Es gibt aber auch Probanden, die erklären, dass sie nicht auf entsprechende Lexeme geachtet haben (Kategorie (D2) Nicht auf Signalwörter geachtet ). In Tabelle 32 findet sich eine Übersicht zu den Kategorien des Großkategorien-Clusters Explizites Regelwissen : <?page no="201"?> 202 6 Methodologie (A) Perfecto simple (B) Imperfecto (C) Estar + gerundio (D) Signalwörter (A1) Abgeschlossenheit/ Begrenztheit (B1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität (C1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität (D1) Signalwörter als Lernstrategie (A2) Handlungen/ Handlungsabläufe (A2a) Einmalige Handlung (A2b) Neue Handlung (A2c) Kurzzeitige/ punktuelle Handlung (B2) Rahmenhandlungen/ Hintergründe/ Beschreibungen (C2) Durativität (D2) Nicht auf Signalwörter geachtet (A3) Bestimmte Zeitangaben/ Zeitpunkte (B3) Habitualität (C3) Zustand (A4) Temporale Erklärungsansätze (B4) Zustand (C4) Undefinierte Zeitspanne (A5) Verwechslung mit IMP-Regeln (B5) Durativität (C5) Verwechslung mit Regeln einer anderen Form (B6) Temporale Erklärungsansätze (B7) Verwechslung mit Regeln einer anderen Form Tab. 32: Kategorien des Großkategorien-Clusters Explizites Regelwissen <?page no="202"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 203 Der zweite Großkategorien-Cluster Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche besteht im Wesentlichen aus Aussagen über die (Un-)Nützlichkeit von sprachlichem Vorwissen. Er setzt sich aus den Kategorien (E) Andere Sprachen helfen und (F) Andere Sprachen helfen nicht oder wenig zusammen, die wiederum unterschiedliche Subkategorien zu den einzelnen Sprachen in sich schließen (siehe Tabelle 33). So enthält Kategorie (E) Subkategorien für Englisch (E1), Französisch (E2), Latein (E3), Deutsch (E4) und Italienisch (E5). Auch diese setzen sich wiederum aus mehreren Subcodes zusammen. Beispielsweise beinhalten die Kategorien (E1) bis (E5) häufig konkrete Sprachvergleiche, in denen unter anderem ein Vergleich von Tempusfunktionen oder -formen durchgeführt wird (siehe z. B. Kategorie (E1c) Vergleich der Tempusfunktionen und -formen ). Als konkreter Sprachvergleich werden im Folgenden Aussagen definiert, die entweder einen expliziten Vergleich zweier Formen aufweisen oder die entsprechenden Funktionen miteinander vergleichen. In den Daten finden sich aber auch Kommentare, die einen geringeren Grad an metasprachlichem Bewusstsein voraussetzen, in denen beispielsweise lediglich thematisiert wird, dass sich die Grammatiken zweier Sprachen ähneln (z. B. Kategorie (E1b) Ähnliche Grammatik(regeln) ). Da in der Arbeitsanweisung der Reflexionsaufgabe konkret nach Hilfestellungen anderer Sprachen gefragt wird, kann davon ausgegangen werden, dass, wenn die Lernenden einen Sprachvergleich anstellen, sie diesen auch als nützlich empfinden. In den Daten finden sich allerdings auch Äußerungen, die zeigen, dass Sprachvergleiche bzw. andere Sprachen nicht immer als hilfreich angesehen werden. Wenn dies während der Dialoge der Reflexionsaufgabe explizit thematisiert wurde, wurden die Aussagen in Kategorie (F) Andere Sprachen helfen nicht oder wenig eingeteilt, welche auch wieder hinsichtlich der einzelnen Sprachen aufgeschlüsselt ist (siehe Tabelle 33). In dieser Kategorie finden sich teilweise explizite Begründungen, warum andere Sprachen nicht hilfreich sind. Diesbezüglich reichen die entsprechenden Subcodes von der Thematisierung von Schwierigkeiten in den Zweitsprachen (z. B. (F1b) Schwierigkeiten im Englischen ) bis zu Kommentaren, in denen betont wird, dass man sich beim Lernen des Spanischen auf die Regeln der Zielsprache konzentrierte (z. B. Subkategorie (F1e) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert ). Des Weiteren gibt es Lernende, die darauf eingehen, dass sie eine sprachvergleichende Herangehensweise nicht verinnerlicht hätten (z. B. Subkategorie (F1c) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht ). Eine Zusammenfassung der entsprechenden Kategorien und deren Subcodes findet sich in der nachstehenden Tabelle: <?page no="203"?> 204 6 Methodologie (E) Andere Sprachen helfen (F) Andere Sprachen helfen nicht oder wenig (E1) Englisch (E1a) Keine Spezifikation (E1b) Ähnliche Grammatik(regeln) (E1c) Vergleich der Tempusfunktionen und -formen (F1) Englisch (F1a) Kein Grund (F1b) Schwierigkeiten im Englischen (F1c) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht (F1d) Lehrer hat Spanisch und Englisch nicht verglichen (F1e) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert (F1f) Andere Formenbildung (E2) Französisch (E2a) Keine Spezifikation (E2b) Ähnliche Grammatik(regeln) (E2c) Signalwörter (E2d) Formenbildung (E2e) Vergleich der Tempusfunktionen und -formen (F2) Französisch (F2a) Kein Grund (F2b) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert (F2c) Ähnlichkeit zu passé composé und imparfait aber schon vergessen (F2d) Ähnliche Regeln führen zu Verwirrung (E3) Latein (E3a) Keine Spezifikation (E3b) Ähnliche Tempusverwendung (E3c) Formenbildung (F3) Latein (F3a) Kein Grund (F3b) Ähnlichkeiten sind keine Hilfe (F3c) Verwendung bringt nichts (F3d) Schwierigkeiten im Lateinischen (F3e) Reine Übersetzung (E4) Deutsch (E4a) Keine Spezifikation (E4b) Ähnliche Grammatik(regeln) (E4c) Übersetzung (E4d) Deutscher Kontext (F4) Deutsch (F4a) Kein Grund (F4b) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht (F4c) Deutsches Perfekt sei IMP (E5) Italienisch (E5a) Ähnliche Grammatik(regeln) Tab. 33: Kategorien des Großkategorien-Clusters Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche <?page no="204"?> 6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren 205 Kapitel 6 hat das Untersuchungssetting der empirischen Studie beschrieben. Es wurden die einzelnen Hypothesen präsentiert, das Untersuchungsmaterial dargestellt und die Studienteilnehmer sowie die konkrete Vorgehensweise beschrieben. Am Ende wurden die Kodierungs- und Auswertungsprinzipien detailliert erörtern. Im nächsten Kapitel werden die einzelnen Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Analyse dargestellt. <?page no="206"?> 7 Darstellung der Ergebnisse Kapitel 7 stellt die Ergebnisse der empirischen Studie dar. Wie in den Kapiteln 6.2.3 und 6.2.4.1 dargestellt, werden die abhängigen Variablen durch die Nacherzählungen der Bildgeschichten sowie durch die spanische semantische Interpretationsaufgabe operationalisiert. Die Operationalisierung der unabhängigen Variablen basiert auf den semantischen Interpretationsaufgaben für Englisch und Französisch sowie auf der Einteilung der Teilnehmer basierend auf ihrem sprachlichen Vorwissen (siehe Abschnitt 6.2.4.2 und 6.2.4.3). Während die unabhängigen Variablen je nach Hypothesenblock wechseln, bleiben die abhängigen Variablen gleich: Unabhängige Variablen Abhängige Variablen (auch Konditionen genannt) Aspektwissen Englisch Aspektwissen Französisch Schulische Sprachenfolge (A) PS in perfektiven Kontexten (B) GER in progressiven Kontexten (C) IMP in progressiven Kontexten (D) IMP in kontinuativen Kontexten (E) IMP in habituellen Kontexten Tab. 34: Zusammenfassung der Variablen der Hauptstudie Kapitel 7.1 behandelt den Hypothesenblock 1 und konzentriert sich auf den Einfluss der unabhängigen Variable Aspektwissen Englisch (siehe Abschnitt 6.1.2). Da alle Lernenden über L2-Kenntnisse im Englischen verfügen, wird die Datenanalyse sowohl mit der Gesamtstichprobe als auch mit jener Gruppe von Spanischlernenden durchgeführt, die außer dieser Sprache über keine weiteren L2-Kenntnisse verfügt (Gruppe A). Am Ende dieses Unterkapitels steht eine qualitative Analyse von ausgewählten Probanden, in welcher die Daten des Fragebogens und der Reflexionsaufgabe genauer betrachtet werden. In Kapitel 7.2 werden die Lernenden basierend auf ihrem sprachlichen Vorwissen in drei Gruppen eingeteilt: • Gruppe A: Deutsch, Englisch und Spanisch • Gruppe B: Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch • Gruppe C: Deutsch, Englisch, Latein und Spanisch <?page no="207"?> 208 7 Darstellung der Ergebnisse Im Unterschied zu Gruppe A verfügt Gruppe B zusätzlich zu Englisch noch über Kompetenzen in einer zweiten L2, dem Französischen; Gruppe C hingegen besitzt neben Englischauch noch Lateinkenntnisse. Der Einfluss dieser sprachlichen Gruppenunterschiede stellt die unabhängige Variable dar. Kapitel 7.2 beinhaltet außerdem das Unterkapitel 7.2.3, in welchem Gruppe B detailliert analysiert wird. Die unabhängige Variable Aspektwissen Französisch steht diesbezüglich im Fokus, wobei in einzelnen Analysen auch auf den Einfluss des Aspektwissens im Englischen eingegangen wird. Am Ende dieses Abschnitts findet sich wieder eine qualitative Darstellung einzelner Probanden. In Kapitel 7.3 folgt eine detaillierte qualitative Analyse unter Berücksichtigung der gesamten Stichprobe. Dabei wird auf explizites Regelwissen, auf interlinguales Wissen und auf konkrete Sprachvergleiche eingegangen. 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch Dieses Kapitel fokussiert die Gesamtstichprobe (N=109), die basierend auf den Ergebnissen in der englischen Interpretationsaufgabe in eine Gruppe mit niedrigem und eine mit hohem Aspektwissen im Englischen eingeteilt wurde (= NAE- und HAE-Gruppe; siehe Kapitel 6.3.1.1). Die Kernaussagen der Hypothesen 1a und 1b sind, dass die unabhängige Variable Aspektwissen Englisch einen positiven Einfluss auf die beiden abhängigen Variablen perfecto simple in perfektiven Kontexten und estar + gerundio in progressiven Kontexten hat. In progressiven Kontexten unter Verwendung des imperfecto sowie in kontinuativen und habituellen Kontexten wird kein positiver Einfluss vorhergesagt (Hypothesen 1c bis 1e; siehe Abschnitt 6.1.2 für eine Auflistung aller Hypothesen). 7.1.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten In diesem Kapitel werden zur Operationalisierung der abhängigen Variablen die Sprachproduktionsdaten herangezogen. Für die Analyse werden die folgenden statistischen Verfahren durchgeführt: Im ersten Schritt wird mithilfe von Chi²- Tests geprüft, ob zwischen dem Aspektwissen im Englischen und der Auftretenshäufigkeit der Verbformen in den entsprechenden semantischen Kontexten ein Zusammenhang besteht. Im Anschluss werden die Akkuratheitswerte, die in Prozent angegeben werden, mithilfe einer obligatory-occasion- und einer targetlike-use- Analyse berechnet (siehe Abschnitt 6.5.2.2). Wenn sich zwischen den beiden Berechnungsverfahren keine signifikanten Unterschiede ergeben, wird im Folgenden nur die obligatory-occasion- Analyse dargestellt. Durch den Einsatz <?page no="208"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 209 von t-Tests werden die Akkuratheitswerte der NAE- und der HAE-Gruppe auf statistisch signifikante Unterschiede überprüft. Hypothese 1a besagt, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss auf den Erwerb des perfecto simple in perfektiven Kontexten hat. Im Hinblick auf die Frequenzanalyse sollte die HAE-Gruppe PS-Formen häufiger und alle anderen Formen seltener produzieren als die NAE-Gruppe. Auf deskriptiver Ebene veranschaulicht Abbildung 10, dass beide Gruppe das perfecto simple zu einem relativ hohen Prozentsatz verwenden und dass die HAE-Gruppe diese Form öfter produziert als die NAE-Gruppe. Bezüglich des imperfecto ist genau das Gegenteil der Fall: Es wird von der NAE-Gruppe in 16,3 % der Fälle übergeneralisiert, von der HAE-Gruppe jedoch nur zu 8,9 %. Alle weiteren Formen werden in vergleichbarem Maße verwendet: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 1 Abb. 1: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) PS PC IMP GER PRES SONST NAE 65,5% 2,8% 16,3% 0,0% 10,6% 4,9% HAE 74,3% 2,1% 8,9% 0,0% 11,7% 3,0% 0% 20% 40% 60% 80% Häufigkeiten Abb. 10: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) Für die erste statistische Analyse werden alle Tempusformen mit Ausnahme des perfecto simple zu einer Kategorie nicht präferierte Formen zusammengefasst. Dieses Verfahren ermöglicht es, den korrekten Gebrauch des perfecto simple mit der inkorrekten Verwendung aller anderen Formen zu vergleichen. Wie das Ergebnis eines Chi²-Tests zeigt, 78 ist der Unterschied zwischen den beobachteten Häufigkeiten der Verbformen und den zu erwartenden signifikant 78 Da es sich um zwei dichotome Variablen handelt, wurde ein Exakter Test nach Fisher durchgeführt. Da sich die Signifikanzwerte nicht wesentlich von jenen des Chi²-Tests unterscheiden, werden die Werte des Chi²-Tests angegeben. Auch wenn diese Vorgehensweise nicht ganz korrekt ist, wird diese Simplifikation aufgrund einer besseren Lesbarkeit in Kauf genommen und bezüglich aller Berechnungen mit dem Chi²-Test mit dichotomen Variablen angewandt. <?page no="209"?> 210 7 Darstellung der Ergebnisse (Chi²(1) = 26,179, p < 0,001), was als starker Zusammenhang zwischen den Variablen interpretiert werden kann. Wie Abbildung 10 veranschaulicht, bedeutet dies im Wesentlichen, dass ein hohes Aspektwissen im Englischen dazu führt, dass das perfecto simple in perfektiven Kontexten häufiger und das imperfecto seltener verwendet wird. Im nächsten Analyseschritt werden die Akkuratheitswerte des perfecto simple berechnet und die jeweiligen Mittelwerte der beiden Gruppen miteinander verglichen. Aus Abbildung 11 lässt sich entnehmen, dass der Mittelwert der HAE- Gruppe höher ist als jener der NAE-Gruppe. Die Ergebnisse eines t-Tests liegen nur minimal über dem vorgegebenen Schwellenwert für eine statistische Signifikanz (d. h. p-Wert von unter 0,05), weshalb davon ausgegangen werden kann, dass sich beide Gruppen insofern wesentlich voneinander unterscheiden, als die HAE-Gruppe das perfecto simple in perfektiven Kontexten akkurater anwendet als die NAE-Gruppe (t(107) = -1,978, p = 0,051): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 2: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE- Gruppe) 63,8% 72,9% 0% 20% 40% 60% 80% 100% NAE HAE Akkuratheitswerte Abb. 11: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) Im Folgenden wird analysiert, mit welchen lexikalischen Aspektklassen das perfecto simple in perfektiven Kontexten auftritt. Aus Abbildung 12 geht hervor, dass beide Gruppen mehr telische als aktivische und statische Prädikate verwenden. Sie tendieren demnach eher dazu, prototypische (d. h. perfektiv + telisch) als nicht prototypische (d. h. perfektiv + statisch) Kombinationen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt zu produzieren. Des Weiteren zeigt sich, dass die Frequenzen pro lexikalischer Aspektklasse relativ gleich sind, woraus sich ableiten lässt, dass das Aspektwissen im Englischen keinen Einfluss auf die Kombination von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt hat: <?page no="210"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 211 44% 34% 22% 43% 36% 21% 0% 20% 40% 60% telisch aktivisch statisch Häufigkeiten NAE HAE Abb. 12: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAE- und HAE-Gruppe) Da das Verständnis dieser Vorgehensweise für die restlichen Analysen von großer Bedeutung ist, werden die wichtigsten Schritte und Ergebnisse noch einmal zusammengefasst: Es wurde gezeigt, dass (1) die HAE-Gruppe perfectosimple -Formen in perfektiven Kontexten häufiger produziert als die NAE-Gruppe (statistisches Verfahren: Chi²-Test), dass (2) auch deren Akkuratheitswerte höher sind (statistisches Verfahren: t-Test) und dass (3) das Aspektwissen im Englischen keinen Einfluss auf die Verwendung des perfecto simple mit telischen, aktivischen oder statischen Prädikaten hat. Im Folgenden wird auf die Hypothesen 1b bis 1e eingegangen. Da estar + gerundio im gesamten Sample nur 15-mal verwendet wird, kann Hypothese 1b (GER in progressiven Kontexten) anhand der Sprachproduktionsdaten nicht überprüft werden. Dasselbe trifft auf Hypothese 1c zu (IMP in progressiven Kontexten). Zwar werden insgesamt 125 imperfecto -Formen in progressiven Kontexten produziert, wenn man aber bedenkt, dass die Gesamtstichprobe aus 109 Probanden besteht, stellt man schnell fest, dass die Anzahl in beiden Konditionen zu gering ist, um valide Aussage zu treffen. Da die Hypothesen 1d und 1e davon ausgehen, dass kein Unterschied zwischen den Gruppen vorliegt, wird die Ergebnispräsentation kurz gehalten. Bezüglich Hypothese 1d (IMP in kontinuativen Kontexten) findet sich kein Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Auftretenshäufigkeit der Verbformen (Chi²(1) = 2,338, p = 0,126). Auch die Akkuratheitswerte unterscheiden sich nicht signifikant (NAE: x̄ = 62,0 %; HAE: x̄ = 59,8 %; t(107) = 0,433, p = 0,666). Für Hypothese 1e (IMP in habituellen Kontexten) ist das Bild ähnlich: Auch hier findet sich weder ein Zusammenhang im Hinblick auf die Auftretenshäufig- <?page no="211"?> 212 7 Darstellung der Ergebnisse keit der Verbformen und der Gruppenzugehörigkeit (Chi²(1) = 2,189, p = 0,139), noch unterscheiden sich die Akkuratheitswerte (NAE: x̄ = 58,4 %; HAE: x̄ = 54,7 %; t(107) = 0,511, p = 0,611). In summa haben die statistischen Verfahren gezeigt, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss auf die Verwendung des perfecto simple in perfektiven Kontexten hat. Ein derartiger Einfluss auf die Kombination von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt findet sich nicht. Für das Imperfekt tritt ein positiver Effekt weder in kontinuativen noch in habituellen Kontexten auf. Sowohl Hypothese 1a als auch 1d und 1e können daher bestätigt werden. Aufgrund der geringen Frequenzen können keine Aussagen über progressive Kontexte, weder mit dem Imperfekt noch mit estar + gerundio , getroffen werden. Für die Beantwortung der entsprechenden Hypothesen muss daher auf die Daten der Interpretationsaufgaben zurückgegriffen werden. Die dafür notwendigen Analysen werden im nächsten Kapitel durchgeführt. 7.1.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe In diesem Kapitel werden ebenfalls die Hypothesen 1a bis 1e fokussiert, allerdings mit dem Unterschied, dass die abhängigen Variablen nicht mithilfe der Sprachproduktionsdaten, sondern mittels der spanischen Interpretationsaufgabe operationalisiert werden. Da die Lernenden in diesem Testformat gezwungen werden, eine Wahl zwischen perfecto simple und imperfecto/ estar + gerundio zu treffen, ist auch die Testung der Hypothese 1b und 1c möglich. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Daten der Interpretationsaufgabe nicht durch Frequenzen oder Akkuratheitswerte, sondern mithilfe einer Likert-Skala beschrieben werden. 79 Für die statistische Auswertung werden t-Tests durchgeführt und Pearson-Korrelationen berechnet. Bezüglich der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in perfektiven Kontexten (Hypothese 1a) lässt sich eine ähnliche Tendenz wie in den Sprachproduktionsdaten erkennen, in welchen die Lernenden mittlere Akkuratheitswerte erzielen (63,8 % vs. 72,9 %; siehe Abbildung 11). Die niedrigen bis mittleren Mittelwerte in der Interpretationsaufgabe von 0,9 und 1,3 veranschaulichen, dass vor allem die NAE-Gruppe Schwierigkeiten mit der Unterscheidung 79 Zur Erinnerung: Für jede korrekte Antwort werden Punkte vergeben. Wenn ein Lernender das perfecto simple in einem perfektiven Kontext mit +1 annimmt und das imperfecto mit -1 ablehnt, bekommt er insgesamt 2 Punkte. Ein Mittelwert von +2 heißt demnach, dass die Testperson korrekt zwischen den beiden Formen unterscheiden kann. Werte zwischen +2 und +4 deuten zusätzlich darauf hin, dass sich der Lernende besonders sicher in seiner Entscheidung ist (siehe Kapitel 6.5.3 für eine genaue Beschreibung der Vorgehensweise). <?page no="212"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 213 der beiden Verbformen hat. Der Mittelwertunterschied ist signifikant (t(107) = -2,024, p = 0,046): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 4 Abb. 4: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) 0,9 1,3 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 NAE HAE Likert-Skala Abb. 13: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) Obwohl die Berechnung einer Pearson-Korrelation zu keinem signifikanten Ergebnis führt (r = 0,166, p = 0,084), kann aufgrund der in Abbildung 13 dargestellten Mittelwertunterschiede darauf geschlossen werden, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss in dieser Kondition hat. Im nächsten Schritt werden die einzelnen lexikalischen Aspektklassen berücksichtigt. Aus Abbildung 14 geht hervor, dass die Lernenden der NAE-Gruppe die höchsten Mittelwerte mit statischen Prädikaten erreichen. Der Unterschied zur HAE-Gruppe, die nur einen minimal höheren Wert erreicht, ist nicht signifikant (t(107) = -0,832, p = 0,407). Dies ist ein Indiz dafür, dass das Aspektwissen im Englischen in dieser nicht prototypischen Kombination von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt keinen positiven Einfluss hat. Mit telischen Prädikaten kommt die NAE-Gruppe auf ähnlich hohe Mittelwerte wie mit statischen. In diesem Fall erreicht die HAE-Gruppe allerdings signifikant höhere Werte (t(107) = -2,604, p = 0,011). Dies spricht dafür, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss in dieser prototypischen Kombination hat. Die größten Schwierigkeiten haben beide Gruppen mit aktivischen Prädikaten. Auch hier finden sich zwar leichte Vorteile der HAE-Gruppe, diese sind aber nicht signifikant (t(107) = -1,091, p = 0,278). Dass ein Transfer des englischen Aspektwissens primär in prototypischen Kontexten stattfindet, wird außerdem dadurch bestätigt, dass sich nur mit telischen Prädikaten eine signifikante Korrelation findet (telisch: r = 0,226, p = 0,018; aktivisch: r = 0,028, p = 0,774; statisch: 0,238, p = 0,114): <?page no="213"?> 214 7 Darstellung der Ergebnisse 0,9 0,5 1,1 1,8 0,9 1,3 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 telisch aktivisch statisch Likert-Skala NAE HAE Abb. 14: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE- und NAE-Gruppe) Bezüglich Hypothese 1b verweisen die hohen Mittelwerte in Abbildung 15 darauf, dass beide Gruppen zwischen perfecto simple und estar + gerundio in progressiven Kontexten unterscheiden können. Darüber hinaus zeigt sich, dass Lernende der HAE-Gruppe signifikant höhere Mittelwerte erzielen als jene der NAE-Gruppe (t(107) = -2,042, p = 0,044): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 6: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE- und NAE-Gruppe) 1,7 2,3 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 NAE HAE Likert-Skala Abb. 15: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE- und NAE-Gruppe) <?page no="214"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 215 Dieser positive Einfluss des Englischen wird durch eine Pearson-Korrelation zusätzlich bestätigt (r = 0,281, p = 0,003). Ein höheres Aspektwissen im Englischen geht demnach mit einer korrekteren Unterscheidung von perfecto simple und estar + gerundio in progressiven Kontexten einher. Im nächsten Analyseschritt werden die lexikalischen Aspektklassen berücksichtigt. Abbildung 16 veranschaulicht, dass die Mittelwerte beider Gruppen mit aktivischen Prädikaten höher liegen als mit telischen. Dies ist ein interessanter Unterschied im Vergleich zu den perfektiven Kontexten, in welchen die Werte mit aktivischen Prädikaten am niedrigsten waren. Pearson-Korrelationen zeigen, dass das Aspektwissen im Englischen sowohl mit telischen (r = 0,245, p = 0,010) als auch mit aktivischen Prädikaten (r = 0,244, p = 0,011) einen positiven Einfluss hat. Hinsichtlich des Vergleichs der Mittelwerte findet sich ein solcher Effekt allerdings nur für telische Prädikate (t(107) = -1.983, p = 0,05): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 7 Abb. 7: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE- und NAE-Gruppe) 1,3 2,2 1,9 2,7 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 telisch aktivisch Likert-Skala NAE HAE Abb. 16: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE- und NAE-Gruppe) Um zu zeigen, dass das Aspektwissen im Englischen keinen Einfluss auf die anderen Konditionen hat, werden die statistischen Tests auch für die Hypothesen 1c, 1d und 1e durchgeführt sowie kurz und prägnant dargestellt. Bezüglich Hypothese 1c weisen die niedrigen Mittelwerte von 0,4 und 0,9 darauf hin, dass sowohl die NAEals auch die HAE-Gruppe Schwierigkeiten haben, das perfecto simple und das imperfecto in progressiven Kontexten zu unterscheiden. Dies steht insofern im Einklang mit den Ergebnissen der Sprachproduktionsdaten, als die Lernenden beim Nacherzählen der Bildgeschichten kaum progressive Kontexte produzieren und diese Form gewissermaßen vermeiden. Das englische Aspektwissen scheint zwar einen leicht positiven Einfluss zu haben, dieser ist allerdings statistisch nicht signifikant (t(107) = -1,492, p = 0,139). Eine Pearson- <?page no="215"?> 216 7 Darstellung der Ergebnisse Korrelation kommt zu ähnlichen, wenn auch weniger eindeutigen Ergebnissen (r = 0,163, p = 0,091). Auch im Hinblick auf Hypothese 1d zeigen die niedrigen Mittelwerte (NAE: x̄ = 0,6; HAE: x̄ = 0,9), dass die Lernenden bei der Unterscheidung des imperfecto und des perfecto simple in kontinuativen Kontexten Schwierigkeiten haben. Dies steht ebenfalls im Einklang mit den niedrigen Akkuratheitswerten in den Sprachproduktionsdaten (NAE: x̄ = 62,0 %; HAE: x̄ = 59,8 %). Die Mittelwerte der Interpretationsaufgabe unterscheiden sich nicht signifikant (Welch-Test: p = 0,270) und auch eine Pearson-Korrelation findet keinen signifikanten Zusammenhang zwischen den Variablen (r = 0,102, p = 0,291). Beides verweist darauf, dass die Lernenden in kontinuativen Kontexten Schwierigkeiten haben und dass das Aspektwissen im Englischen keinen positiven Einfluss hat. Für die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in habituellen Kontexten (Hypothese 1e) sieht das Bild etwas anders aus: Auf deskriptiver Ebene zeigt sich auf der einen Seite, dass beide Gruppen relativ hohe Mittelwerte erreichen (NAE: x̄ = 1,6; HAE: x̄ = 2,1), was darauf hindeutet, dass die Lernenden in dieser Kondition weniger Schwierigkeiten haben als in progressiven und kontinuativen Kontexten. Die niedrigen Akkuratheitswerte in den Sprachproduktionsdaten (NAE: x̄ = 58,4 %; HAE: x̄ = 54,7 %) lassen allerdings eine Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der beiden Aufgabentypen erkennen. Auf der anderen Seite finden sich auch in dieser Kondition leichte, allerdings statistisch nicht signifikante Vorteile der HAEgegenüber der NAE-Gruppe (t(107) = -1,362, p = 0,176). Auch eine Pearson-Korrelation findet einen gewissen, allerdings statistisch nicht signifikanten Zusammenhang (r = 0,178, p = 0,064). Die Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass das Aspektwissen im Englischen einen leichten positiven Effekt auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in habituellen Kontexten in der spanischen Interpretationsaufgabe hat. Im Wesentlichen haben die Analysen gezeigt, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss sowohl auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in perfektiven als auch auf jene von estar + gerundio und perfecto simple in progressiven Kontexten hat. Dieser ist in perfektiven Kontexten primär auf telische Prädikate beschränkt. In allen anderen Konditionen lässt sich zwar auch eine leichte positive Tendenz entdecken, keiner der statistischen Tests ergibt allerdings signifikante Ergebnisse. Somit können alle fünf Subhypothesen bestätigt werden. <?page no="216"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 217 7.1.3 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch: Ein Fokus auf Gruppe A Im Folgenden werden exakt die gleichen Fragestellungen behandelt, wie in den Kapiteln 7.1.1 und 7.1.2. Der einzige Unterschied besteht darin, dass nicht die Gesamtstichprobe, sondern die Lernenden aus Gruppe A analysiert werden (n=35). Eine derartige Analyse kann insofern zusätzliche empirische Evidenz liefern, als die Teilnehmer außer Englisch keine weiteren L2-Kenntnisse besitzen. Dies ist eine wesentliche Differenz im Vergleich zur Gesamtstichprobe, in welcher neben Englisch noch Französisch- und Lateinkenntnisse vorhanden sind. Da diese zusätzlichen L2-Kenntnisse zwar kontrolliert, aber nicht komplett ausgeschlossen werden können, ist die Analyse dieses Abschnitts von Interesse. Außerdem unterscheiden sich die Subgruppen in Gruppe A im Unterschied zur Gesamtstichprobe nicht bezüglich des Notendurchschnitts. Der Einfluss dieser Störvariable kann daher für die nachstehenden Berechnungen ausgeschlossen werden. Wie in den vorherigen Kapiteln werden die Lernenden basierend auf den Ergebnissen in der englischen Interpretationsaufgabe in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen im Englischen eingeteilt. In der Gesamtstichprobe wurden die Akronyme NAE und HAE verwendet, die im Folgenden unter Bezugnahme auf Gruppe A als NAE-Abzw. HAE-A-Gruppe bezeichnet werden. 7.1.3.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten Die Vorgehensweise in diesem Unterkapitel gleicht jener in Kapitel 7.1.1 und zwar sowohl im Hinblick auf die Operationalisierung der abhängigen Variablen mithilfe der Sprachproduktionsdaten als auch hinsichtlich der statistischen Tests (Chi²- und t-Tests). Im Folgenden werden die Hypothesen 1a bis 1e überprüft. Bezüglich Hypothese 1a veranschaulicht die in Abbildung 17 dargestellte Frequenzanalyse, dass beide Gruppen das perfecto simple in perfektiven Kontexten zu einem hohen Prozentsatz verwenden. Dieser liegt mit 70,5 % für die NAE-A- und mit 82,2 % für die HAE-A-Gruppe noch wesentlich über jenen der Gesamtstichprobe. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen finden sich vor allem in der Verwendung des perfecto simple und des perfecto compuesto . Während die HAE-A-Gruppe das perfecto simple häufiger verwendet, ist der Prozentsatz bezüglich des perfecto compuesto , des imperfecto , aber auch des Präsens in der NAE-A-Gruppe höher. Ein Chi²-Test bestätigt, dass ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Aspektwissen im Englischen und der Auftretenshäufigkeit der Verbformen besteht (Chi²(1) = 17,233, p < 0,001). <?page no="217"?> 218 7 Darstellung der Ergebnisse Ein höheres englisches Aspektwissen führt demnach zu der schon erwähnten häufigeren Verwendung des perfecto simple in perfektiven Kontexten: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 8 Abb. 8: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) PS PC IMP GER PRES SONST NAE-A 70,5% 5,5% 10,1% 0,0% 9,4% 4,6% HAE-A 82,2% 0,0% 8,2% 0,0% 7,7% 2,0% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häuifkeiten Abb. 17: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) Hinsichtlich der Akkuratheitswerte lässt sich aus Abbildung 18 entnehmen, dass die Lernenden mit einem hohen englischen Aspektwissen zu höheren Werten kommen als jene mit einem niedrigen. Der Unterschied erreicht allerdings keine statistische Signifikanz (t(33) = -1,632, p = 0,112): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 9: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) 70,6% 81,8% 0% 20% 40% 60% 80% 100% NAE-A HAE-A Akkuratheitswerte Abb. 18: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) Im nächsten Schritt werden die Auftretenshäufigkeiten hinsichtlich der einzelnen lexikalischen Aspektklassen aufgeschlüsselt. Wie auch in der Gesamtstichprobe verwenden beide Gruppen mehr telische als aktivische und statische Prädikate. Abbildung 19 veranschaulicht, dass sich für die einzelnen lexikalischen <?page no="218"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 219 Aspektklassen kein Unterschied zwischen der NAE-A- und der HAE-A-Gruppe findet. Daraus kann man schließen, dass der Grad an Aspektwissen im Englischen keinen Einfluss darauf hat, wie häufig das perfecto simple mit telischen, aktivischen und statischen Prädikaten verwendet wird: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 10 Abb. 10: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) 44% 37% 18% 44% 35% 21% 0% 20% 40% 60% 80% 100% telisch aktivisch statisch Häufigkeiten NAE-A HAE-A Abb. 19: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) Da in Gruppe A insgesamt nur 44 progressive Kontexte produziert wurden, lassen sich für das imperfecto und estar + gerundio keine validen Aussagen hinsichtlich der progressiven Semantik treffen, weshalb weder Hypothese 1b noch 1c überprüft werden können. Beide Annahmen werden allerdings in Kapitel 7.1.3.2 mithilfe der Daten der Interpretationsaufgabe getestet. In kontinuativen Kontexten (Hypothese 1d) findet sich kein Zusammenhang bezüglich der Auftretenshäufigkeit der Verbformen und dem Aspektwissen im Englischen (Chi²(1) = 1,939, p = 0,164). Dieser Befund wird durch die Akkuratheitswerte bestätigt; diesbezüglich erreicht die NAE-Asogar leicht höhere Werte als die HAE-A-Gruppe (NAE-A: x̄ = 66,0 %; HAE-A: x̄ = 58,7 %; t(33) = 0,795, p = 0,432). Auch in habituellen Kontexten (Hypothese 1e) ist das Ergebnis eines Chi²- Tests nicht signifikant und deutet somit darauf hin, dass kein Zusammenhang zwischen den Variablen besteht (Chi²(1) < 0,001, p = 0,998). Die Akkuratheitswerte unterscheiden sich ebenfalls nicht wesentlich (NAE-A: x̄ = 52,3 %; HAE-A: x̄ = 51,4 %; t(33) = 0,07, p = 0,945). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass signifikante Unterschiede zwischen der NAE-A- und der HAE-A-Gruppe nur in perfektiven Kontexten vorhanden sind. Die Tendenzen der statistischen Tests gleichen somit jenen der Gesamtstichprobe. Für die Hypothesentestung mit den Daten der Gruppe A bedeutet <?page no="219"?> 220 7 Darstellung der Ergebnisse dies, dass die Hypothese 1a teilweise sowie die Hypothesen 1d und 1e vollständig bestätigt werden können; 1b und 1c konnten nicht überprüft werden. 7.1.3.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe 80 Im Unterschied zum letzten Kapitel werden im Folgenden die abhängigen Variablen wie in Kapitel 7.1.2 mithilfe der Daten der spanischen Interpretationsaufgabe operationalisiert. Für die statistische Überprüfung der Hypothesen 1a bis 1e werden t-Tests und Pearson-Korrelationen durchgeführt. Bezüglich Hypothese 1a geben die Mittelwerte in Abbildung 20 an, dass die Lernenden der HAE-A-Gruppe korrekter zwischen perfecto simple und imperfecto in perfektiven Kontexten unterscheiden können als jene der NAE-A-Gruppe (t(33) = -2,458, p = 0,019): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 11 Abb. 11: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) 0,7 1,7 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 NAE-A HAE-A Likert-Skala Abb. 20: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) Obwohl die Berechnung einer Pearson-Korrelation zu keinem signifikanten Ergebnis führt (r = 0,272, p = 0,113), zeigen die großen Mittelwertunterschiede in Abbildung 20, dass das englische Aspektwissen durchaus einen positiven Einfluss in dieser Kondition hat. Im nächsten Schritt wird die Analyse für die einzelnen lexikalischen Aspektklassen durchgeführt. Es zeigt sich zunächst, dass beide Gruppen die höchsten Mittelwerte mit telischen und die niedrigsten mit aktivischen Prädikaten erreichen. Darüber hinaus veranschaulicht Abbildung 21, dass das Aspektwissen im Englischen einen positiven Einfluss auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in perfektiven Kontexten mit allen lexikalischen Aspektklassen 80 Teile dieses Kapitels wurden bereits in Eibensteiner (2019) publiziert. Die Datengrundlage und Analysemethoden unterscheiden sich nur minimal. <?page no="220"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 221 hat. Dieser Effekt ist allerdings nur für telische Prädikate signifikant, was für einen positiven Transfer primär in prototypischen Kontexten spricht (telisch: t(33) = -2,089, p = 0,044; aktivisch: t(33) = -1,489, p = 0,146; statisch: t(33) = -1,824, p = 0,077). Es finden sich auch vermeintlich positive lineare Korrelationen mit telischen und statischen Prädikaten, die allerdings nicht signifikant ausfallen (telisch: r = 0,238, p = 0,169; aktivisch: r = 0,064, p = 0,716; statisch: r = 0,296, p = 0,084). Dennoch zeigt sich im Unterschied zu den Sprachproduktionsdaten, dass ein gewisser positiver Effekt des englischen Aspektwissens mit allen lexikalischen Aspektklassen besteht: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 12 Abb. 12: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) 0,9 0,6 0,7 2,1 1,5 1,7 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch statisch Likert-Skala NAE-A HAE-A Abb. 21: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) Bezüglich Hypothese 1b stellen die relativ hohen Mittelwerte dar, dass keine der beiden Gruppen Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von perfecto simple und estar + gerundio in progressiven Kontexten hat (siehe Abbildung 22). Obwohl der Unterschied nicht signifikant ist (t(33) = -0,702, p = 0,488), kann der höhere Mittelwert der HAE-A-Gruppe, dadurch dass sich auch in der Gesamtstichprobe eine ähnliche Tendenz findet und eine Pearson-Korrelation signifikant ausfällt (r = 0,416, p = 0,013), als empirische Evidenz für den positiven Einfluss des englischen Aspektwissens in dieser Kondition interpretiert werden: <?page no="221"?> 222 7 Darstellung der Ergebnisse 13 Abb. 13: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) 1,8 2,2 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 NAE-A HAE-A Likert-Skala Abb. 22: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) Im Hinblick auf die lexikalischen Aspektklassen unterscheiden sich die Mittelwerte der NAE-A- und der HAE-A-Gruppe zwar nicht signifikant (telisch: t(33) = -0,805, p = 0,426; aktivisch: t(33) = -0,451, p = 0,655); die berechneten Korrelationen weisen allerdings durchaus auf einen positiven Einfluss hin, und zwar sowohl für telische (r = 0,344, p = 0,043) als auch für aktivische Prädikate (r = 0,399, p = 0,018): 1,4 2,3 1,9 2,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch Likert-Skala NAE-A HAE-A Abb. 23: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) Im Folgenden werden diejenigen Konditionen fokussiert, in denen kein Effekt des englischen Aspektwissens vorhergesagt wurde. Bezüglich Hypothese 1c <?page no="222"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 223 (IMP in progressiven Kontexten), findet sich kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen (NAE-A: x̄ = 0,5; HAE-A: x̄ = 0,3; t(33) = 0,352, p = 0,727). Da sich auch keine signifikante Korrelation vorfinden lässt (r = 0,072, p = 0,683), kann Hypothese 1c bestätigt werden. Auch im Hinblick auf Hypothese 1d (IMP in kontinuativen Kontexten) ist keine signifikante Differenz vorzufinden (NAE-A: x̄ = 0,7; HAE-A: x̄ = 0,5). Weder die Mittelwertunterschiede (t(33) = 0,351, p = 0,270) noch eine Pearson-Korrelation sind statistisch signifikant (r = 0,086, p = 0,625), weshalb auch diese Hypothese, die ja von keinem Einfluss ausgeht, angenommen werden kann. Für Hypothese 1e (IMP in habituellen Kontexten) zeigt sich ein etwas anderes Bild: Auf deskriptiver Ebene unterscheidet die HAE-A- (x̄ = 2,2) das PS vom IMP korrekter als die NAE-A-Gruppe (x̄ = 1,5). Diese Differenz ist zwar nicht signifikant (t(33) = -0,957, p = 0,346), zeigt aber doch eine klare Tendenz, dass das englische Aspektwissen einen positiven Einfluss in habituellen Kontexten hat. Eine Pearson-Korrelation deutet ebenfalls auf einen gewissen, allerdings statistisch nicht signifikanten Zusammenhang hin (r = 0,265, p = 0,124). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass auch in der Subgruppe A ein gewisser positiver Einfluss des englischen Aspektwissens in perfektiven und progressiven Kontexten (mit estar + gerundio ) zu erkennen ist. Während in der perfektiven Kondition der Effekt mit telischen Prädikaten besonders stark ausgeprägt ist, findet er sich in progressiven Kontexten sowohl mit telischen als auch mit aktivischen Prädikaten. In allen anderen Konditionen unterscheiden sich die Gruppen nicht signifikant und es finden sich auch keine signifikanten Korrelationen. 81 Für die Daten der Interpretationsaufgaben können folglich alle Hypothesen angenommen werden. 7.1.4 Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe A) Die qualitative Darstellung von Teilnehmern aus Gruppe A greift die beiden mit den höchsten und die drei 82 mit den niedrigsten Werten in der spanischen Interpretationsaufgabe heraus und analysiert deren Ergebnisse unter Berücksichtigung der Daten des Fragebogens und der Reflexionsaufgabe. Es wird mit der Darstellung der Probanden mit den niedrigsten Werten begonnen. 81 Allerdings muss erwähnt werden, dass sich die Mittelwerte in habituellen Kontexten doch sichtbar voneinander unterscheiden, was auf einen vermeintlich positiven Einfluss des Englischen in dieser Kondition hinweist. 82 Da zwei Probanden den gleichen Wert hatten, wurden beide in die Analyse aufgenommen. <?page no="223"?> 224 7 Darstellung der Ergebnisse Teilnehmerin 820 ist weiblich, 16 Jahre alt und in Österreich geboren. Die Testperson hat ca. 300 Unterrichtsstunden in Spanisch erhalten und beim C-Test 41 Punkte erreicht. Sie gehört daher zu jenen Teilnehmern mit einem verhältnismäßig sehr geringen Spanischniveau. Ihr Notendurchschnitt von 3,4 lässt zusätzlich darauf schließen, dass sie auch in anderen Fächern Schwierigkeiten hat. Die Testperson gibt an, das Englische ein paar Mal pro Woche zu verwenden. Sie empfindet diese Sprache als wenig hilfreich, und zwar sowohl was Bildung und Verwendung von estar + gerundio betrifft als auch hinsichtlich der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto . Dies erwähnt sie auch in der Reflexionsaufgabe: 821: Ä: : : hm, haben dir andere Sprachen bei deiner Entscheidung geholfen? 820: Nicht wirklich. 821: Und wieso nicht? 820: Weil ich mich jetzt nicht wirklich in Englisch leichttue, das bringt mir dann auch nichts. […] 820: Haben dir andere Sprachen bei deiner Entscheidung geholfen? 821: Nein, Englisch bringt ja bei mir überhaupt nix. (Korpus B 821_820: 13-17, 33-34) Da ihr Aspektwissen im Englischen relativ gering ist (x̄ = 0,3), erscheint es unwahrscheinlich, dass es einen positiven Einfluss auf den Spanischerwerb hat. Beim Lernen der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto gibt die Testperson an, die Regeln auswendig gelernt zu haben. Es finden sich aber weder im Fragebogen noch in der Reflexionsaufgabe Aussagen, die auf ein Vorhandensein von explizitem Wissen im Spanischen schließen lassen. Teilnehmerin 821 ist ebenfalls weiblich, 17 Jahre alt und in Österreich geboren. Auch diese Schülerin hat ca. 300 Unterrichtsstunden in Spanisch erhalten, schneidet allerdings beim C-Test etwas besser ab als ihre Mitschülerin (74 Punkte). Ein Notendurchschnitt von 3,6 spricht aber auch bei ihr dafür, dass sie in anderen Unterrichtsfächern Schwierigkeiten hat. Sie gibt an, das Englische ein paar Mal pro Woche zu verwenden, findet diese Sprache aber nicht hilfreich und kreuzt dementsprechend in allen Fragen den geringsten Wert auf der Likert- Skala an. Auch in der Reflexionsaufgabe sagt sie, dass ihr Englisch ja überhaupt nichts bringe (Korpus B 821_820: 33-34; siehe Zitat oben). Das Aspektwissen im Englischen ist ebenfalls gering (x̄ = -0,3), weshalb diesbezüglich ein positiver Einfluss nur bedingt zu erwarten ist. Im Hinblick auf die Frage zum expliziten <?page no="224"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 225 Regelwissen bzw. zu den verwendeten Lernstrategien schreibt diese Lernende, dass sie vor Schularbeiten immer youtube -Videos geschaut und Übungen durchgeführt habe. Eine Nennung von expliziten Regeln findet sich auch bei ihr weder im Fragebogen noch in der Reflexionsaufgabe. Teilnehmer 928 ist männlich, 19 Jahre alt und in Österreich geboren. Dieser Lernende hat ca. 400 Unterrichtsstunden in Spanisch erhalten, erreicht allerdings beim C-Test nur einen relativ geringen Wert (57 Punkte). Der Notendurchschnitt von 3,5 zeigt, dass es sich auch hier um einen Schüler mit Schwierigkeiten in mehreren Gegenständen handelt. Der Lernende gibt an, das Englische ein paar Mal pro Woche zu gebrauchen. Er findet diese Sprache aber in keiner der gestellten Fragen hilfreich und wählt daher in allen Fragen den geringsten Wert auf der Likert-Skala. Andere Sprachen im Allgemeinen und das Englische im Spezifischen würden zwar beim Lernen von Vokabeln helfen, aber nicht bei der Unterscheidung der Tempora: 928: ‚Haben Dir andere Sprachen bei Deiner Entscheidung geholfen? Hat Dir vielleicht die Sprache, die Du mit Deiner Familie sprichst, geholfen? Oder vielleicht das Englische, Französische oder das Lateinische? Wenn ja, wie haben sie Dir geholfen? ‘ 927: Hauptsächlich bei Vokabeln. 928: Ja voll. Also mit den Zeiten, das hilft gar nicht. 927: Ähm ja, eigentlich alle Sprachen, Englisch, Französisch, Latein, Italienisch. Aber nur bei Vokabeln. Bei Satzstellungen nicht. (Korpus B 927_928: 27-33) Interessanterweise ist das Aspektwissen im Englischen dieses Teilnehmers sehr hoch (x̄ = 2,8). Dennoch kann er nicht von dem vorhandenen Wissen profitieren, wie die niedrigen Testwerte in der spanischen Interpretationsaufgabe bestätigen. Eine Nennung von expliziten Regeln findet sich lediglich in der Reflexionsaufgabe und da auch nur in sehr begrenztem Umfang. Der Teilnehmer stimmt beispielsweise zu, dass das imperfecto für längere vergangene Zustände verwendet werde (Korpus B 927_928: 15-16) und erkennt, dass in Beispielsatz D der Reflexionsaufgabe die perfektive Verbform verwendet werden muss, weil es sich um eine abgeschlossene Handlung handelt (siehe Tabelle 23 auf den Seiten 174 bis 175 für eine Auflistung der Beispielsätze). Nachdem drei Lernende beschrieben wurden, die Schwierigkeiten haben, perfektiven und imperfektiven Aspekt im Spanischen zu unterscheiden, werden im Folgenden zwei Probanden analysiert, die sich am anderen Ende des Testspektrums befinden. Teilnehmerin 818 ist weiblich, 17 Jahre alt und in Österreich <?page no="225"?> 226 7 Darstellung der Ergebnisse geboren. Auch diese Testperson hat ca. 300 Unterrichtsstunden in Spanisch erhalten, liegt aber mit ihren C-Test-Ergebnissen im Mittelfeld des Samples (76 Punkte). Der Notendurchschnitt von 2,4 zeigt, dass es sich um eine durchschnittlich gute Schülerin handelt, die angibt, das Englische jeden Tag auch außerhalb der Schule zu verwenden. Sie findet diese Sprache im Hinblick auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto hilfreich; in Bezug auf die Bildung und Verwendung von estar + gerundio sogar sehr hilfreich. Auch in der Reflexionsaufgabe gibt sie an, dass ihr Englisch geholfen habe, weil die „englischen Zeiten, gerade die Vergangenheiten“ doch recht ähnlich seien; allerdings nur „vom Sinn her“ und nicht im Hinblick auf die Formen (Korpus B 818_819: 51-53). Sie betont außerdem, dass man sich die Verwendung der Tempora nicht eins zu eins vom Englischen „abschauen“ könne. Es seien Ähnlichkeiten, die im Übrigen auch mit dem Deutschen bestünden, aber eben keine Äquivalenzen: Hm, es kommt wieder darauf an, was. Also es ist jetzt nicht so, dass ich jetzt einfach beim Englischen abschauen kann und dann weiß, welche Zeit und -ich dann halt immer sehe und wieda mit der Grammatik jetzt sehe, weil es eben nicht ganz gleich ist, aber es sind halt einfach irgendwie ähnliche Sachen. Ich meine, es sind dann auch teilweise Sachen im Spanischen, die mit dem Deutschen Ähnlichkeiten haben, aber nur Ähnlichkeiten. (Korpus B 818_819: 61-66) Auch wenn kaum konkrete Form- oder Funktionsvergleiche angestellt werden, 83 zeigt dieses Zitat, dass es sich um eine Lernende handelt, die das Spanische mit all ihren sprachlichen Ressourcen, auch mit dem Deutschen, vergleicht. Sie verfügt außerdem über ein sehr hohes Aspektwissen im Englischen (x̄ = 3,7), was es ihr erleichtert, Parallelen zu dieser Sprache zu erkennen. In der Reflexionsaufgabe werden in der Diskussion mit ihrer Nachbarin vor allem drei Faustregeln herausgearbeitet: die der Abgeschlossenheit für das perfecto simple , jene der Handlung im Verlauf für estar + gerundio und jene der ausgedehnten Zeitspanne (Durativität) für das imperfecto . Gerade die letzte Regel könnte einen negativen Einfluss auf die Performanz der Lernenden haben: 819: ‚Ich war dabei, auf die andere Seite der Straße zu gehen. Ich bin jedoch nicht angekommen, weil mich mitten auf der Straße ein Auto angefahren hat.‘ (lacht) Ja, das ist unpraktisch. 818: Ja, ich weiß nicht- 83 Es findet sich nur ein konkreter Vergleich zwischen der past simple - und der present perfect -Form (Fragebogen 818). <?page no="226"?> 7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch 227 819: Das Erste, oder [Anm.: perfecto simple ]? 818: Ich weiß nicht, ich habe irgendwie sobeim Ersten habe ich mir so gedacht, so --hm wegen der Zeit, habe ich mir so gedacht, das hört sich so an, als hätte er die Straße ganz überquert, also dass er dann auf der anderen Straßenseite angekommen wäre. Und das ist ja nicht eingetroffen, weil er ist ja mittendrin von einem Auto angefahren worden. 819: Ja. Weil heißt das andere nicht [Anm.: imperfecto ], dass er da immer über die Straße geht, dass er da, weiß ich nicht, 3 Jahre lang? 818: Ja, das ist eben auch komisch. Ich weiß nicht, für mich klingt beides nicht ganz richtig. 819: Ja. Käse. (Korpus B 818_819: 71-85) Auf der einen Seite erkennen die Probanden, dass der Mann im Beispiel nicht auf der anderen Seite der Straße angekommen ist, weshalb das PS nicht korrekt sein kann. Auf der anderen Seite greifen sie auf eine Faustregel zurück, die besagt, dass das IMP bei zeitlich ausgedehnten Zeitspannen verwendet werden müsse. Da der Mann nicht „3 Jahre lang“ über die Straße geht, scheint auch diese Antwortmöglichkeit nicht korrekt zu sein, weshalb sie schließlich zu keiner Lösung kommen. Im Fragebogen verweist die Lernende vor allem auf die Signalwörter der beiden Tempora. Diese seien beim imperfecto „immer unspezifischer als für das indefinido “ (Fragebogen 818). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Probandin 818 im Unterschied zu den ersten drei Lernenden ein relativ ausgeprägtes Regelwissen im Spanischen hat, auch wenn die formulierten (Faust-)Regeln nicht immer unproblematisch sind. Teilnehmer 911 ist männlich, 18 Jahre alt und in Österreich geboren. Er hat ca. 400 Unterrichtsstunden in Spanisch erhalten und liegt mit seinen C-Test-Ergebnissen im oberen Bereich des Samples (95 Punkte). Auch der Notendurchschnitt von 1,4 zeigt, dass es sich um einen sehr guten Schüler handelt. Laut seinen Angaben verwende er das Englische ein paar Mal pro Woche. Er sagt außerdem, dass ihm diese Sprache vor allem im Hinblick auf die Bildung und Verwendung von estar + gerundio helfe. Bezüglich der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto sei sie hingegen überhaupt nicht nützlich. Auch in der Reflexionsaufgabe verweist der Lernende auf Parallelen zwischen der englischen und der spanischen Progressivperiphrase: <?page no="227"?> 228 7 Darstellung der Ergebnisse 914: Haben dir andere Sprachen bei deiner Entscheidung geholfen? Nein, eigentlich nicht. 911: Äh ja, Englisch. Weil bei den if-sentences hatte man ein bisschen das Gefühl, dass man da mit den Zeiten […] [Anm.: unverständlich]. 914: Ja, beziehungsweise ich finde, wenn man eine längere Handlung und eine kürzere Handlung hat. 911: Ja, voll. Wenn die längere durch eine kürzere unterbrochen wird. 914: Ja, Englisch. (Korpus B 911_914: 44-51) Die Lernenden vergleichen die Semantik des Spanischen mit jener des Englischen, indem sie auf das Inzidenzschema verweisen. Ein solcher Sprachvergleich wird sicherlich dadurch begünstigt, dass Proband 911 ein relativ hohes Aspektwissen im Englischen hat (x̄ = 2,6) und diese Sprache somit als Transferbasis nutzen kann. In der Reflexionsaufgabe verweist er auf zahlreiche Regeln und bespricht die einzelnen Beispielsätze sehr detailliert, was veranschaulicht, dass er ein hochausgeprägtes explizites Wissen besitzt. Gleich zu Beginn der Reflexionsaufgabe erklärt der Teilnehmer, dass er sich gefragt habe, „[…] ob es sich jetzt um eine Handlung handelt oder ob es um eine Beschreibung geht oder um äh -eine Situation, die sich immer wieder wiederholt“ (Korpus B 911_914: 5-7). Die Unterscheidung zwischen einer Handlung/ Aktion und einer Beschreibung findet sich auch im Fragebogen und ist im Bereich der diskursiven Erklärungsansätze anzusiedeln. Diese Faustregel wird um jene der gewohnheitsmäßigen Handlung für das IMP und jene der abgeschlossenen Handlung für das PS ergänzt (Korpus B 911_914: 19-20). Interessanterweise ist sich der Teilnehmer bezüglich Beispielsatz C der Reflexionsaufgabe (siehe Tabelle 23) nicht sehr sicher. Er plädiert zwar zuerst korrekterweise für die Verwendung der Progressivperiphrase (der zweite Satz im Beispiel), lässt sich aber dann durch den Einwurf seiner Partnerin, dass es sich ja um eine abgeschlossene Handlung handle, verunsichern: 911: ,Ein Freund hat mich zu einem Konzert eingeladen. Wir sind leider zu spät angekommen. Der Pianist war schon am Spielen.‘ Ä: : : hm -ich glaube -ich glaube, das ist das Zweite. 914: O. K. Weil- 911: Obwohl es eigentlich wieder dasselbe ist, dass er schon gespielt hat. 914: Aber ist das nicht schon abgeschlossen? -- Oder nicht? <?page no="228"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 229 911: Ich weiß nicht, ob es - 914: Ich glaube, dass das schon abgeschlossen ist, oder? 911: Ja. Ähm, ,El pianista estaba tocando‘. (Korpus B 911_914: 22-30) Im Wesentlichen zeigen die Ergebnisse der qualitativen Analyse, dass die Lernenden, die zu niedrigen Werten in der spanischen Interpretationsaufgabe kommen, ein niedriges bis mittleres Sprachniveau im Spanischen haben. Auch der Notendurchschnitt liegt im unteren Spektrum. Des Weiteren empfinden sie das Englische als nicht hilfreich, stellen keine Sprachvergleiche an und nennen kaum explizite Regeln. Im Gegensatz dazu verfügen die gut abschneidenden Lernenden über ein mittleres bis hohes Sprachniveau im Spanischen und über einen mittleren bis guten allgemeinen Notendurchschnitt. Das Englische schätzen sie als hilfreich ein, sie stellen Sprachvergleiche an und können auf explizites Regelwissen zurückgreifen. 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge Im Unterschied zu Kapitel 7.1 steht im Folgenden die unabhängige Variable Schulische Sprachenfolge im Fokus der Analyse. Wie bereits erwähnt, werden die Lernenden dazu in drei Gruppen eingeteilt (siehe Kapitel 6.3.2 für eine detaillierte Beschreibung). Gruppe A (n=35) kann nur eine L2, das Englische, als Transferbasis heranziehen; Gruppe B (n=39) verfügt zusätzlich dazu noch über L2-Kenntnisse im Französischen und Gruppe C (n=35) hat Vorkenntnisse sowohl im Englischen als auch im Lateinischen. Die Frage, welchen Einfluss diese unterschiedlichen Sprachenfolgen auf den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch haben, steht im Zentrum der nachfolgenden Analyse. Darüber hinaus wird in Abschnitt 7.2.3 der Einfluss des französischen Aspektwissens in den Blick genommen. Dazu werden die aus Gruppe B hervorgegangenen Daten detailliert analysiert und die entsprechenden Probanden werden unter anderem in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem französischem Aspektwissen eingeteilt. Am Ende dieses Unterkapitels steht, wie auch in Kapitel 7.1.4, eine qualitative Darstellung einzelner Probanden. Dabei werden die Daten aus den entsprechenden Fragebögen und Reflexionsaufgaben fokussiert. Wie im gesamten Verlauf der Arbeit werden die abhängigen Variablen mithilfe der Nacherzählung der Bildgeschichten und der spanischen Interpretationsaufgabe operationalisiert. <?page no="229"?> 230 7 Darstellung der Ergebnisse 7.2.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten Wie in Kapitel 7.1 werden auch in diesem Abschnitt verschiedene statistische Analysen durchgeführt. Im ersten Schritt werden die Auftretenshäufigkeiten der Verbformen in den diversen semantischen Kontexten dargestellt. Mithilfe von Chi²-Tests wird gemessen, ob sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Auftretenshäufigkeit finden lässt. Im zweiten Schritt werden die Akkuratheitsraten pro Teilnehmer berechnet. Unter Zuhilfenahme von einfaktoriellen Varianzanalysen (ANOVAs) mit dem Faktor Schulische Sprachenfolge (d. h. die Unterschiede zwischen Gruppe A, B und C bezüglich der Sprachenfolge) wird überprüft, ob sich die drei Gruppen signifikant voneinander unterscheiden. Im Folgenden werden die Annahmen des Hypothesenblocks 2 überprüft (siehe Kapitel 6.1.3 für eine entsprechende Auflistung). Hypothese 2a geht davon aus, dass sich kein positiver Einfluss von Französischbzw. von Lateinkenntnissen bezüglich des Erwerbs des perfecto simple findet. Abbildung 24 zeigt eine hohe Verwendung dieser Verbform in allen drei Gruppen. Diese steigt von 65,7 % in Gruppe C, über 68,6 % in Gruppe B auf 76,3 % in Gruppe A an. Die beiden Formen, die am stärksten übergeneralisiert werden, sind das imperfecto und das Präsens, wobei diese Übergeneralisierung in Gruppe A am wenigsten ausgeprägt ist. Darüber hinaus verwendet Gruppe B das perfecto compuesto etwas seltener als die anderen beiden: Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 15: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) PS PC IMP GER PRES SONST Gruppe A 76,3% 2,7% 9,1% 0% 8,6% 3,3% Gruppe B 68,6% 0,6% 14,1% 0% 13,0% 3,7% Gruppe C 65,7% 4,1% 13,8% 0% 11,7% 4,7% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 24: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) Die Ergebnisse eines Chi²-Tests zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Auftretenshäufigkeit von präferierten perfecto-simple -Formen und nicht präferierten anderen Formen gibt (Chi²(2) = 26,126, p < 0,001). Wie Abbildung 24 darstellt, ist dies vor allem auf die häufigere Verwendung des perfecto simple seitens Gruppe A zurückzuführen sowie auf deren geringere Produktion des imperfecto und des Präsens. <?page no="230"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 231 Bezüglich der Akkuratheitswerte lässt sich aus Abbildung 25 ablesen, dass Lernende der Gruppe A zu höheren Werten kommen als jene der Gruppen B und C. Obwohl die entsprechenden Mittelwertunterschiede nicht signifikant sind (ANOVA: F(2, 106) = 2,688, p = 0,073), bestätigt sich die Tendenz der oben durchgeführten Frequenzanalyse: Probanden, die außer Englisch über keine weiteren sprachlichen Vorkenntnisse verfügen, wenden das PS akkurater an als jene der anderen beiden Gruppen: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 16 Abb. 16: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) 75,7% 67,2% 62,6% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Gruppe A Gruppe B Gruppe C Akkuratheitswerte Abb. 25: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) Hinsichtlich Hypothese 2b (GER in progressiven Kontexten) und 2c (IMP in progressiven Kontexten) findet sich dasselbe Problem wie in Kapitel 7.1 vor, nämlich dass aufgrund der geringen Anzahl progressiver Kontexte eine (statistische) Analyse nicht möglich ist. Die beiden Hypothesen können daher nicht mit den Sprachproduktionsdaten überprüft werden. Hypothese 2d geht davon aus, dass sich sowohl Französischals auch Lateinkenntnisse positiv auf den Erwerb des imperfecto in kontinuativen Kontexten auswirken. Abbildung 26 veranschaulicht diesbezüglich, dass die Lernenden der drei Gruppen hauptsächlich auf das imperfecto zurückgreifen und das Präsens wie auch das perfecto simple in etwa gleichem Maße übergeneralisieren. Der einzig sichtbare Unterschied äußert sich in einer etwas geringeren Übergeneralisierung des PS in Gruppe B. Diese Differenz ist allerdings statistisch gesehen nicht relevant (Chi²(2) = 1,167, p = 0,558). Die sprachlichen Vorkenntnisse haben demnach keinen Einfluss auf die Auftretenshäufigkeit der unterschiedlichen Verbformen in kontinuativen Kontexten: <?page no="231"?> 232 7 Darstellung der Ergebnisse Musterdatei NFA_Basis_A.dot 17 Abb. 17: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) PS PC IMP GER PRES SONST Gruppe A 17,4% 0,0% 62,7% 0,0% 19,4% 0,6% Gruppe B 12,2% 0,0% 62,4% 0,0% 22,0% 3,4% Gruppe C 18,9% 0,7% 59,0% 0,0% 19,9% 1,6% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 26: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) Wenn man sich die Akkuratheitswerte für diese Kondition ansieht, stellt man fest, dass jene von Gruppe C etwas unter jenen von Gruppe A und B liegen. Auch diese Unterschiede sind allerdings statistisch nicht signifikant (F(2,106) = 1,150, p = 0,320): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 18: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) 62,6% 64,1% 55,5% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Gruppe A Gruppe B Gruppe C Akkuratheitswerte Abb. 27: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) Schließlich wird in Hypothese 2e angenommen, dass Französisch- und Lateinkenntnisse einen positiven Einfluss in habituellen Kontexten haben. Wie Abbildung 28 veranschaulicht, verwenden die Lernenden aller Gruppen primär das imperfecto , wobei sich zeigt, dass Gruppe B diese Form verhältnismäßig etwas häufiger anwendet. Des Weiteren wird das perfecto simple im Allgemeinen zu einem relativ hohen Prozentsatz übergeneralisiert: Gruppe A produziert diese Form in 33,9 % der Fälle, Gruppe B und C immerhin noch zu 24,2 % und 27,2 %. Teilweise wird auch das Präsens verwendet, und zwar in absteigender <?page no="232"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 233 Reihenfolge von Gruppe C, über Gruppe B zu Gruppe A. Ein Chi²-Test bestätigt, dass ein Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Auftretenshäufigkeit des imperfecto in Kontrast zu allen anderen Tempusformen besteht (Chi²(2) = 23,173, p < 0,001). Wie bereits oben erwähnt, ist dies darauf zurückzuführen, dass Lernende der Gruppe B diese Verbform etwas öfter und das perfecto simple etwas seltener produzieren. Daraus lässt sich ableiten, dass Französischkenntnisse durchaus einen positiven Einfluss in habituellen Kontexten haben: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 19 Abb. 19: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) PS PC IMP GER PRES SONST Gruppe A 33,9% 6,0% 51,2% 0% 4,0% 4,8% Gruppe B 24,2% 0,6% 63,9% 0% 8,1% 3,3% Gruppe C 27,2% 3,8% 52,9% 0% 11,0% 5,2% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 28: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) Hinsichtlich der Akkuratheitswerte finden sich keine signifikanten Unterschiede (F(2,106) = 1,040, p = 0,357). Dennoch kann man Abbildung 29 entnehmen, dass Lernende der Gruppe B zu höheren Werten kommen als jene der Gruppen A und C, was ein weiteres Indiz für den positiven Einfluss von Französischkenntnissen in habituellen Kontexten darstellt: Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 20: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) 51,9% 63,6% 53,3% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Gruppe A Gruppe B Gruppe C Akkuratheitswerte Abb. 29: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) <?page no="233"?> 234 7 Darstellung der Ergebnisse Die Ergebnisse dieses Kapitels können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Prinzipiell kann Hypothese 2a angenommen werden, da sich keine Vorteile von Französisch- und Lateinkenntnissen in perfektiven Kontexten zeigen. Allerdings findet sich eine klare Tendenz zur häufigeren und korrekteren Verwendung des perfecto simple seitens Gruppe A. Dies deutet darauf hin, dass diese Lernenden möglicherweise Vorteile beim Rückgriff auf die englische Transferbasis haben. 2. Hypothese 2b und 2c konnten aufgrund der geringen Auftretenshäufigkeiten nicht überprüft werden. 3. Im Hinblick auf Hypothese 2d (IMP in kontinuativen Kontexten) unterscheiden sich die Gruppen weder bezüglich der Auftretenshäufigkeit der Verbformen noch hinsichtlich der Akkuratheitswerte, weshalb diese Hypothese abgelehnt werden muss. 4. Schließlich deuten die häufigere Verwendung und die höheren Akkuratheitswerte des imperfecto auf einen positiven Einfluss von Französischkenntnissen in habituellen Kontexten hin. Hypothese 2e kann somit angenommen werden. 7.2.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe In diesem Kapitel werden ebenfalls die Annahmen des Hypothesenblocks 2 überprüft, allerdings mit dem Unterschied, dass die abhängigen Variablen mithilfe der spanischen Interpretationsaufgabe operationalisiert werden. In Hypothese 2a wird angenommen, dass weder Französischnoch Lateinkenntnisse einen positiven Effekt in perfektiven Kontexten haben, weshalb davon auszugehen ist, dass keine Differenz zwischen den Gruppen zu finden ist, da alle auf das Englische als Transferbasis zurückgreifen können. Da sich alle Mittelwerte rund um 1 gruppieren und eine einfaktorielle Varianzanalyse keine signifikanten Unterschiede feststellt (ANOVA: F(2,106) = 0,264, p = 0,768), kann Hypothese 2a basierend auf den Daten der Interpretationsaufgabe - statistisch betrachtet - bestätigt werden. Wenn man sich die in Abbildung 30 wiedergegebenen Mittelwerte genauer ansieht, zeigt sich rein deskriptiv eine ähnliche Tendenz wie in den Sprachproduktionsdaten, nämlich dass Gruppe A in dieser Kondition leichte Vorteile hat: <?page no="234"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 235 21 Abb. 21: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) 1,2 1,1 1,0 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 30: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) Bezüglich Hypothese 2b, die annimmt, dass sich Französischaber nicht Lateinkenntnisse positiv auf den Erwerb von estar + gerundio in progressiven Kontexten auswirken, veranschaulicht Abbildung 31, dass die Mittelwerte aller Lernergruppen relativ hoch sind. Dies lässt darauf schließen, dass diese Form- Bedeutungs-Kombination zu einem hohen Grad in die Lernersprache integriert ist. Die Unterschiede zwischen den drei Gruppen sind nicht signifikant (ANOVA: F(2,106) = 0,402, p = 0,670). Ein positiver Transfer, der auf die schlichte Sprachenfolge zurückzuführen ist, lässt sich daher nicht feststellen: Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 22: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) 2,0 1,9 2,2 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 31: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) Hypothese 2c geht davon aus, dass sich sowohl Französischals auch Lateinkenntnisse positiv auf den Erwerb des imperfecto in progressiven Kontexten auswirken. Die niedrigen Mittelwerte in Abbildung 32, insbesondere von Gruppe A und C, veranschaulichen, dass diese Form-Bedeutungs-Kombination noch nicht <?page no="235"?> 236 7 Darstellung der Ergebnisse vollständig in die Lernersprache integriert ist. Obwohl Lernende mit Französischkenntnissen in dieser Kondition leichte Vorteile haben, kann dieser Unterschied statistisch nicht untermauert werden (ANOVA: F(2,106) = 1,488, p = 0,231): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 23 Abb. 23: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) 0,4 1,0 0,6 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 32: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) Auch bezüglich Hypothese 1d zeigen die relativ niedrigen Mittelwerte, dass die Unterscheidung zwischen PS und IMP in kontinuativen Kontexten den Lernenden Schwierigkeiten bereitet (siehe Abbildung 33). Die Probanden der Gruppe B schneiden etwas besser ab als jene der Gruppen A und C, weshalb auf einer rein deskriptiven Ebene argumentiert werden kann, dass sich Französischkenntnisse positiv in dieser Kondition auswirken. Die Unterschiede sind allerdings nicht signifikant (ANOVA: F(2,106) = 1,331, p = 0,269): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 24: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) 0,6 1,1 0,6 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 33: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) <?page no="236"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 237 Schließlich wird das imperfecto in habituellen Kontexten, im Vergleich zu progressiven und kontinuativen, relativ korrekt angewendet. Es finden sich allerdings keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen, was darauf hindeutet, dass weder Französischnoch Lateinkenntnisse einen positiven Einfluss in dieser Kondition haben (ANOVA 84 : F(2, 106) = 0,046, p = 0,955): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 25 Abb. 25: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) 1,8 1,9 1,8 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 34: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) Hinsichtlich der Ergebnisse der Interpretationsaufgabe lässt sich zusammenfassend sagen, dass statistisch gesehen, nur Hypothese 2a bestätigt werden kann, da sie die einzige ist, in welcher kein Vorteil der schulischen Sprachenfolge vorhergesagt wurde und sich tatsächlich kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen findet. Obwohl sich auf einer rein deskriptiven Basis leichte Vorteile von Gruppe B gegenüber Gruppe A und C sowohl in progressiven als auch in kontinuativen Kontexten finden, müssen die entsprechenden Hypothesen 2c und 2d aufgrund der nicht vorhandenen statistischen Signifikanz abgelehnt werden. Auch hinsichtlich der Hypothesen 2b (GER in progressiven Kontexten) und 2e (IMP in habituellen Kontexten) finden sich keine signifikanten Unterschiede, weshalb auch diese beiden Annahmen mit den Daten der Interpretationsaufgabe nicht verifiziert werden können. Im nächsten Kapitel wird der Einfluss des Aspektwissens im Französischen detailliert untersucht. 84 Ein Levene-Test auf Varianzhomogenität kommt zu einem signifikanten Ergebnis (p < 0,001), weshalb für die statistische Analyse zusätzlich der robustere Welch-Test angewandt wurde, der allerdings zu sehr ähnlichen Werten führt (p = 0,947). <?page no="237"?> 238 7 Darstellung der Ergebnisse 7.2.3 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch: Ein Fokus auf Gruppe B Dieses Kapitel fokussiert die Annahmen des dritten Hypothesenblocks (für eine Auflistung siehe Kapitel 6.1.4). Dazu werden die Lernenden der Gruppe B untersucht, die zusätzlich zum Englischen noch Vorkenntnisse im Französischen haben. Es wird der Einfluss der unabhängigen Variable Aspektwissen Französisch gemessen, welche mithilfe der französischen Interpretationsaufgabe operationalisiert wurde (siehe Kapitel 6.2.4.2). Da diese Gruppe aber über Aspektwissen im Englischen und im Französischen verfügt, werden in manchen Analysen beide Variablen berücksichtigt. Für einige Berechnungen werden die Probanden in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem Aspektwissen im Französischen eingeteilt (HAF- und NAF-Gruppe). Dies erfolgt auf Basis des Medians (= 1,2): Alle Teilnehmer, die über diesem liegen, werden in die HAF-, alle anderen in die NAF-Gruppe eingeordnet (siehe Kapitel 6.3.3). Es soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass alle Lernenden, ähnlich wie im Spanischen, über ein eher grundlegendes Aspektwissen im Französischen verfügen. Dies zeigt sich anhand der Mittelwerte der Interpretationsaufgabe des Französischen (x̄ = 1,1), des Englischen (x̄ = 2,1) und des Spanischen (x̄ = 1,2). 7.2.3.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten dargestellt. Für die Hypothesentestung werden die schon bekannten Analyseverfahren durchgeführt (Chi²-Tests für die Auftretenshäufigkeiten und t-Tests für die Akkuratheitswerte). Hypothese 3a nimmt an, dass positiver Transfer in perfektiven Kontexten primär aus dem Englischen und nicht aus dem Französischen kommt. Das Aspektwissen im Französischen sollte demnach keinen bzw. im Vergleich zum Englischen nur einen geringen Einfluss haben. Eine Frequenzanalyse - dargestellt in Abbildung 35 - veranschaulicht, dass die HAF-Gruppe das perfecto simple etwas häufiger verwendet als die NAF-Gruppe. Bezüglich des Präsens findet sich eine ähnliche Tendenz. Das imperfecto hingegen wird von der NAF-Gruppe stärker übergeneralisiert. Ein Chi²-Test bestätigt, dass die eben genannten Unterschiede signifikant sind, was bedeutet, dass ein Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Auftretenshäufigkeit der Verbformen besteht (Chi²(1) = 5,971, p = 0,015): <?page no="238"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 239 Musterdatei NFA_Basis_A.dot 26 Abb. 26: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) PS PC IMP GER PRES SONST NAF 65,6% 0,8% 17,9% 0% 11,1% 4,6% HAF 72,8% 0,4% 8,5% 0% 15,3% 3,0% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 35: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) Diese Tendenz, dass die HAF-Gruppe das PS in perfektiven Kontexten angemessener verwendet, wird durch die in Abbildung 36 dargestellten höheren Akkuratheitswerte bestätigt. Dieser Unterschied ist allerdings statistisch nicht signifikant (t-Test: t(35) = -1,145, p = 0,260): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 27: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) 64,3% 72,2% 0% 20% 40% 60% 80% 100% NAF HAF Akkuratheitswerte Abb. 36: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Berechnet man die Akkuratheitswerte nicht mit einer obligatory-occasion -, sondern mit einer target-like-use -Analyse, dann kommen beide Gruppen auf niedrigere Mittelwerte (NAF: x̄ = 49,1 %; HAF: x̄ = 65,0 %), die sich allerdings signifikant voneinander unterscheiden (t(35) = -2,646, p = 0,012). Dieses Ergebnis deutet auf eine stärkere Übergeneralisierung des perfecto simple in nicht perfektiven Kontexten seitens der NAF-Gruppe hin (siehe vor allem Abbildung 38 und 40 auf den Seiten 241 und 242). Eine solche Übergeneralisierung wird <?page no="239"?> 240 7 Darstellung der Ergebnisse durch die target-like-use -Analyse sichtbar und erklärt, warum bei dieser Berechnungsmethode die Unterschiede signifikant ausfallen. Bevor mit den anderen semantischen Kontexten fortgefahren wird, wird auf die Verwendung des perfecto simple in perfektiven Kontexten unter Berücksichtigung des lexikalischen Aspekts eingegangen. Aus Abbildung 37 geht hervor, dass beide Gruppen mehr telische als aktivische und statische Prädikate verwenden. Da sich kein Unterschied zwischen der NAF- und der HAF-Gruppe findet, kann man daraus schließen, dass der Grad an Aspektwissen im Französischen keinen Einfluss auf die Kombination von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt in perfektiven Kontexten hat: 43% 36% 21% 45% 35% 20% 0% 20% 40% 60% 80% telisch aktivisch statisch Häufigkeiten NAF HAF Abb. 37: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) Die Problematik, dass die Lernenden relativ wenig progressive Kontexte produzieren, findet sich naturgemäß auch in Gruppe B, weshalb die Hypothesen 3b ( estar + gerundio in progressiven Kontexten) und 3c (IMP in progressiven Kontexten) mithilfe der Sprachproduktionsdaten unter Verwendung statistischer Verfahren nicht überprüft werden können. Hypothese 3d nimmt an, dass ein hohes Aspektwissen im Französischen zu Vorteilen bezüglich des Erwerbs des imperfecto in kontinuativen Kontexten führt. Abbildung 38 stellt diesbezüglich dar, dass in beiden Gruppen hauptsächlich das imperfecto verwendet wird. Die NAF-Gruppe übergeneralisiert sowohl das perfecto simple als auch das Präsens in gleichem Maße. Die HAF-Gruppe hingegen hat eine klare Tendenz, das Präsens und nicht das perfecto simple zu übergeneralisieren. Ein Chi²-Test findet keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und den Auftretenshäufigkeiten der <?page no="240"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 241 Verbformen (Chi²(1) = 1,397, p = 0,237). Das Aspektwissen im Französischen hat somit keinen Einfluss auf die Verwendung des imperfecto in kontinuativen Kontexten: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 29 Abb. 29: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) PS PC IMP GER PRES SONST NAF 19,0% 0% 59,2% 0% 17,9% 3,8% HAF 7,3% 0% 65,1% 0% 24,3% 3,4% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 38: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) Im nächsten Schritt werden die Akkuratheitswerte berechnet. Wenn man die obligatory-occasion -Analyse anwendet, finden sich kaum Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (t-Test: t(35) = -0,984, p = 0,332): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 30: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) 60,1% 67,9% 0% 20% 40% 60% 80% 100% NAF HAF Akkuratheitswerte Abb. 39: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Interessanterweise lassen sich mit der Berechnungsmethode der target-like-use - Analyse durchaus Differenzen ausmachen und der Mittelwertunterschied zwischen 42,9 % und 55,8 % ist fast signifikant (t(35) = -2,029, p = 0,050). Dies deutet <?page no="241"?> 242 7 Darstellung der Ergebnisse auf eine Übergeneralisierung des imperfecto seitens der NAF-Gruppe hin, das heißt, sie wenden es in perfektiven Kontexten häufiger an als die HAF-Gruppe (siehe Abbildung 35). Auch in habituellen Kontexten (Hypothese 3e) wird in beiden Gruppen hauptsächlich das imperfecto verwendet. Aus Abbildung 40 lässt sich außerdem ablesen, dass die HAFdas Imperfekt häufiger gebraucht als die NAF-Gruppe. Letztere übergeneralisiert dafür das perfecto simple stärker, wohingegen beide Gruppen das Präsens in gleichem Maße benutzen. Ein Chi²-Test gibt an, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der präferierten Verwendung des imperfecto in Kontrast zu allen anderen Verbformen vorhanden ist (Chi²(1) = 22,440, p < 0,001). Dies lässt auf einen positiven Einfluss des französischen Aspektwissens in der habituellen Kondition schließen: Musterdatei NFA_Basis_A.dot 31 Abb. 31: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) PS PC IMP GER PRES SONST NAF 34,5% 1,0% 53,6% 0% 8,7% 2,3% HAF 15,1% 0,3% 72,0% 0% 7,9% 4,6% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Häufigkeiten Abb. 40: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) Berechnet man die Akkuratheitswerte pro Gruppe mithilfe der obligatoryoccasion -Analyse und vergleicht die Mittelwerte, findet man zwar auf deskriptiver Basis einen deutlich sichtbaren Vorteil der HAF-Gruppe, der aber statistisch nicht signifikant ist (t(35) = -1,614, p = 0,116): <?page no="242"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 243 32 Abb. 32: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) 52,6% 72,5% 0% 20% 40% 60% 80% 100% NAF HAF Akkuratheitswerte Abb. 41: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Rechnet man allerdings mit der target-like-use -Analyse sind die Unterschiede zwischen den Gruppen durchaus signifikant (t(35) = -2,188, p = 0,035; NAF: 40,9 %; HAF: 64,6 %). Dieser Signifikanzunterschied ist, wie schon in der kontinuativen Kondition, auf die stärkere Übergeneralisierung von IMP-Formen in perfektiven Kontexten seitens der NAF-Gruppe zurückzuführen (siehe Abbildung 35). Abbildung 42 stellt dar, inwiefern die Lernenden dazu tendieren, das imperfecto in habituellen Kontexten mit einer bestimmten lexikalischen Aspektklasse zu produzieren. Beide Lernergruppen verwenden telische Prädikate häufiger als aktivische. Ein Einfluss des französischen Aspektwissens lässt sich nicht erkennen: 72% 28% 66% 34% 0% 20% 40% 60% 80% 100% telisch aktivisch Häufigkeiten NAF HAF Abb. 42: Frequenzanalyse des IMP in habituellen Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) <?page no="243"?> 244 7 Darstellung der Ergebnisse Die Ergebnisse dieses Kapitels können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. In perfektiven Kontexten benutzt die HAFdas PS häufiger und alle anderen Formen seltener als die NAF-Gruppe, was in logischer Konsequenz auch zu höheren Akkuratheitswerten führt. Da Hypothese 3a davon ausgeht, dass primär das englische und nicht das französische Aspektwissen einen positiven Einfluss hat, die Analysen aber einen positiven Effekt des Französischen feststellen, muss Hypothese 3a abgelehnt werden. 2. Die Hypothesen 3b und 3c konnten aufgrund der zu geringen Auftretenshäufigkeit progressiver Kontexte in den mündlichen Sprachdaten nicht überprüft werden. 3. In kontinuativen Kontexten finden sich mit Ausnahme der Akkuratheitswerte der target-like-use -Analyse keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Es zeigt sich daher kein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens, weshalb Hypothese 3d abgelehnt werden muss. 4. Bezüglich habitueller Kontexte unterscheiden sich die beiden Gruppen sowohl im Hinblick auf die Auftretenshäufigkeiten als auch hinsichtlich der Akkuratheitswerte. Dies deutet auf einen positiven Einfluss des französischen Aspektwissens hin. Hypothese 3e kann somit angenommen werden. 7.2.3.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe Auch in diesem Kapitel werden die Hypothesen 3a bis 3e fokussiert, allerdings mit dem Unterschied, dass die abhängigen Variablen mithilfe der spanischen Interpretationsaufgabe operationalisiert werden. Dies ermöglicht es, auch die Hypothesen 3b und 3c zu testen. Für die statistische Auswertung werden t-Tests und Pearson-Korrelationen durchgeführt. Darüber hinaus wird eine multiple lineare Regressionsanalyse realisiert, die vor allem dazu dient, vorherzusagen, welche der in das Modell integrierten Variablen die jeweilige abhängige Variable am besten erklären können. Sie ermöglicht es beispielsweise, Rückschlüsse darüber zu geben, ob das Aspektwissen im Englischen oder jenes im Französischen einen größeren Einfluss auf den Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen hat. Da sich die Teilnehmer von Gruppe B im Hinblick auf das Alter und die C-Test-Ergebnisse unterscheiden (siehe Kapitel 6.3.3), werden diese beiden Variablen zusätzlich zu den Variablen Aspektwissen Englisch und Aspektwissen Französisch in das Modell aufgenommen. Da das Alter in keinem der berechneten Modelle einen signifikanten Wert erzielt, wird dieser Faktor in den nachfolgenden Berechnungen nicht weiter berücksichtigt. <?page no="244"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 245 Hinsichtlich der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto in perfektiven Kontexten (Hypothese 3a) zeigt Abbildung 43, dass die Bewertungen der HAFetwas über jenen der NAF-Gruppe liegen. Die Unterschiede sind allerdings statistisch nicht signifikant (t(35) = -1,203, p = 0,237): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 34 Abb. 34: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) 0,9 1,3 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 NAF HAF Likert-Skala Abb. 43: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Die in Abbildung 43 dargestellte Tendenz wird durch eine signifikante Korrelation zwischen dem französischen Aspektwissen und den Bewertungen im Spanischtest statistisch untermauert (Pearson: r = 0,341, p = 0,039). Deshalb kann entgegen der eigentlichen Annahme davon ausgegangen werden, dass das Aspektwissen im Französischen einen positiven Einfluss in dieser Kondition hat. Das Gesamtmodell einer multiplen linearen Regressionsanalyse ist ebenfalls signifikant (F(3,33) = 5,615, p = 0,003; korr. R² = 0,278) 85 und bestätigt daher die eben dargestellte Tendenz. Zwei der drei Variablen haben einen signifikanten Einfluss auf die Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten. Dies wird durch signifikante Regressionskoeffizienten 86 für die C-Test- Ergebnisse (B = -0,027, p = 0,007) und das Aspektwissen Französisch (B = 0,463, p = 0,012) veranschaulicht. Der Regressionskoeffizient der C-Test-Ergebnisse von -0,027 bedeutet, dass Lernende mit einem höheren Sprachniveau größere Schwierigkeiten haben, das perfecto simple vom imperfecto in der spanischen Interpretationsaufgabe zu unterscheiden: Wenn die Ergebnisse des C-Tests um einen Punkt steigen, dann sinken jene im Spanischtest um 0,027. Dieser Befund 85 Das korrigierte R² gibt an, dass 27,8 % der Streuung erklärt werden können, was für Zweit-/ Drittspracherwerbsstudien ein relativ hoher Wert ist. 86 Der Regressionskoeffizient B misst den Einfluss der unabhängigen Variable auf die Zielvariable. <?page no="245"?> 246 7 Darstellung der Ergebnisse ist bemerkenswert und bedarf einer genauen Interpretation, die in Kapitel 8 gegeben wird. Des Weiteren ist der Regressionskoeffizient von 0,463 für das Aspektwissen im Französischen signifikant: Wenn dieses um einen Punkt steigt, dann nimmt auch der Mittelwert der spanischen Interpretationsaufgabe um 0,463 Einheiten zu. Der Regressionskoeffizient für das Englische zeigt ebenfalls einen positiven Zusammenhang an; dieser ist allerdings statistisch nicht signifikant (B = 0,230, p = 0,140). Im Gegensatz zur Annahme in Hypothese 3a hat das französische Aspektwissen also einen stärkeren Einfluss als das englische. Im nächsten Schritt wird die Analyse für die einzelnen lexikalischen Aspektklassen durchgeführt. Die höchsten Mittelwerte der NAF-Gruppe finden sich mit telischen Prädikaten. Dies trifft auch auf die HAF-Gruppe zu, in welcher sie allerdings sowohl mit telischen als auch mit statischen Prädikaten verhältnismäßig hoch sind. Mit aktivischen Prädikaten erreichen beide Gruppen nur relativ niedrige Werte. Im Allgemeinen schneidet die HAF-Gruppe mit allen lexikalischen Aspektklassen besser ab als die NAF-Gruppe. Wie die Resultate der t-Tests belegen, ist jedoch keiner der Unterschiede statistisch signifikant (telisch: t(35) = -0,817, p = 0,419; aktivisch: t(35) = -0,653, p = 0,518; statisch: t(35) = -1,020, p = 0,315): 1,3 0,4 1,0 1,7 0,8 1,4 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch statisch Likert-Skala NAF HAF Abb. 44: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) Dieser positive Einfluss des französischen Aspektwissens wird für statische Prädikate auch statistisch untermauert, zumal die Berechnung einer Pearson- Korrelation signifikante Werte ergibt (r = 0,383, p = 0,019). Für telische (r = 0,144, p = 0,395) und aktivische Prädikate (r = 0,165, p = 0,329) findet sich kein solcher Effekt. <?page no="246"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 247 Im nächsten Schritt wird Hypothese 3b überprüft (GER in progressiven Kontexten). Im Allgemeinen zeigt sich, dass beide Gruppen verhältnismäßig hohe Werte erreichen, dass aber jene der HAFsignifikant höher sind als jene der NAF-Gruppe (t(35) = -2,466, p = 0,019): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 36 Abb. 36: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (NAF-und HAF-Gruppe) 1,4 2,5 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 NAF HAF Likert-Skala Abb. 45: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Dieser positive Effekt des Aspektwissens im Französischen wird durch eine signifikante Korrelation bestätigt (Pearson: r = 0,463, p = 0,004). Eine multiple lineare Regressionsanalyse veranschaulicht außerdem (Gesamtmodell: F(3,33) = 4,062, p = 0,015; korr. R² = 0,203), dass nur die Variable Aspektwissen Französisch , und nicht die Variablen C-Test-Ergebnisse oder Aspektwissen Englisch , einen signifikanten Einfluss hat (Regressionskoeffizient B = 0,632, p = 0,014). Lernende mit einem hohen Aspektwissen im Französischen unterscheiden demnach korrekter zwischen PS und GER in progressiven Kontexten als Lernende mit einem niedrigen. Der Regressionskoeffizient der Variable Aspektwissen Englisch ist nicht signifikant, woraus man schließen kann, dass in diesem Kontext primär auf das Französische ( être en train de ) zurückgegriffen wird. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen lexikalischen Aspektklassen veranschaulicht Abbildung 46, dass beide Gruppen mit aktivischen Prädikaten höhere Mittelwerte erreichen als mit telischen. Des Weiteren zeigt sich, dass das Aspektwissen im Französischen mit beiden lexikalischen Aspektklassen einen positiven Einfluss hat. Dieser ist allerdings nur mit aktivischen Prädikaten statistisch signifikant (telisch: t(35) = -1,667, p = 0,104; aktivisch: t(35) = -2,492, p = 0,018). Dies trifft auch auf die berechneten Pearson-Korrelationen zu (telisch: r = 0,288, p = 0,084; aktivisch: r = 0,511, p = 0,001): <?page no="247"?> 248 7 Darstellung der Ergebnisse 1,1 1,8 2,0 3,0 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch Likert-Skala NAF HAF Abb. 46: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) Im Folgenden wird Hypothese 3c untersucht, die einen positiven Einfluss des französischen Aspektwissens in progressiven Kontexten vorhersagt (PS vs. IMP). Abbildung 47 stellt diesbezüglich dar, dass die HAFzwar einen höheren Mittelwert erreicht als die NAF-Gruppe, dass der Unterschied allerdings nicht signifikant ist (t(35) = -1,053, p = 0,300): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 38: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (NAF-und HAF-Gruppe) 0,8 1,2 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 NAF HAF Likert-Skala Abb. 47: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Die in Abbildung 47 erkennbare Tendenz, dass das Aspektwissen im Französischen einen positiven Einfluss hat, wird durch die Ergebnisse einer Pearson- Korrelation bestätigt, welche einen positiven linearen Zusammenhang feststellt <?page no="248"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 249 (r = 0,364, p = 0,027). Integriert man die Variablen C-Test-Ergebnisse , Aspektwissen Englisch und Aspektwissen Französisch in das Gesamtmodell einer multiplen linearen Regressionsanalyse, ist dieses nicht signifikant (F(3,33) = 2,080, p = 0,122; korr. R² = 0,083). Führt man die Analyse nur mit der Variable Aspektwissen Französisch durch, zeigt sich naturgemäß ein signifikant positiver Einfluss (Gesamtmodell: F(1,35) = 5,355, p = 0,027). Im nächsten Schritt werden die unterschiedlichen lexikalischen Aspektklassen berücksichtigt. Auch wenn der Unterschied nicht signifikant ist, veranschaulicht Abbildung 48, dass die NAF-Gruppe bezüglich der Kombination des imperfecto mit telischen Prädikaten größere Schwierigkeiten hat als die HAF-Gruppe (t(35) = -1,260, p = 0,216). Im Hinblick auf aktivische Prädikate findet sich kein sichtbarer Unterschied (t(35) = -0,255, p = 0,800): 0,3 1,2 1,2 1,3 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch Likert-Skala NAF HAF Abb. 48: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) Dennoch resultiert aus der Berechnung einer Pearson-Korrelation, dass gerade mit aktivischen Prädikaten ein fast signifikanter Zusammenhang besteht (telisch: r = 0,241, p = 0,150; aktivisch: r = 0,296, p = 0,076). Dies deutet darauf hin, dass ein höheres Aspektwissen im Französischen bis zu einem gewissen Grad durchaus zu einer korrekteren Unterscheidung zwischen perfecto simple und imperfecto in progressiven Kontexten mit aktivischen Prädikaten führt. Bezüglich Hypothese 3d, welche annimmt, dass sich das Aspektwissen im Französischen positiv auf die Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten auswirkt, findet sich ein leichter, allerdings statistisch nicht signifikanter Vorteil der HAFgegenüber der NAF-Gruppe (t(35) = -1,253, p = 0,218): <?page no="249"?> 250 7 Darstellung der Ergebnisse 40 Abb. 40: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) 0,8 1,3 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 NAF HAF Likert-Skala Abb. 49: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) Im Unterschied zu den bisher dargestellten Kontexten ergeben auch die berechneten Pearson-Korrelationen keinen signifikanten Wert (r = 0,207, p = 0,220), was darauf hindeutet, dass der Einfluss des französischen Aspektwissens in dieser Kondition vergleichsweise gering zu sein scheint. Auch die Berechnung einer multiplen linearen Regressionsanalyse führt zu keinem signifikanten Ergebnis (F(3,33) = 2,249, p = 0,101; korr. R² = 0,094). Bezüglich Hypothese 3e (IMP in habituellen Kontexten) findet sich ein großer Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Die HAF-Gruppe erreicht einen Mittelwert von 2,80, der jenen der NAF-Gruppe von 1,2 um mehr als das Doppelte übersteigt (t(35) = -3,057, p = 0,004): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 41: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (NAF-und HAF-Gruppe) 1,2 2,8 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 NAF HAF Likert-Skala Abb. 50: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) <?page no="250"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 251 In logischer Konsequenz findet sich auch eine starke Korrelation (r = 0,622, p < 0,001). Eine lineare Regressionsanalyse zeigt ebenfalls ein signifikantes Ergebnis (F(3,33) = 9,530, p < 0,001; korr. R² = 0,415). Die Effekte sind ähnlich wie in progressiven Kontexten: Je mehr Aspektwissen die Probanden im Französischen haben, desto korrekter können sie zwischen IMP und PS in habituellen Kontexten unterscheiden (Regressionskoeffizient B = 1,104, p < 0,001). Weder für die C- Test-Ergebnisse (B = 0,028, p = 0,059) noch für das Aspektwissen im Englischen (B = 0,253, p = 0,285) findet sich ein positiver Einfluss. Im Wesentlichen wird dadurch bestätigt, dass Lernende dieser Gruppe primär auf das Französische als Transferbasis zurückgreifen. In habituellen Kontexten hat das Aspektwissen im Französischen mit beiden lexikalischen Aspektklassen einen positiven Einfluss. Der Unterschied zwischen der HAF- und der NAF-Gruppe ist jedoch nur für telische Prädikate statistisch signifikant (Welch-Test: p = 0,001); für aktivische liegt er knapp über der Signifikanzgrenze (t(35) = -1,751, p = 0,089). Des Weiteren veranschaulicht Abbildung 51, dass die NAF-Gruppe weniger Schwierigkeiten mit aktivischen Prädikaten hat als mit telischen. Interessanterweise trifft auf die HAF-Gruppe das genaue Gegenteil zu. Dass das französische Aspektwissen vor allem mit telischen Prädikaten einen positiven Einfluss hat, wird zusätzlich dadurch bestätigt, dass diese Korrelation stärker ist (r = 0,662, p < 0,001) als jene mit aktivischen Prädikaten (r = 0,459, p = 0,004): 0,9 1,5 3,1 2,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 telisch aktivisch Likert-Skala NAF HAF Abb. 51: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) <?page no="251"?> 252 7 Darstellung der Ergebnisse Die Ergebnisse dieses Kapitels lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. In perfektiven Kontexten äußert sich der positive Einfluss des Aspektwissens im Französischen durch höhere Mittelwerte der HAF-Gruppe und eine positive Korrelation. Es finden sich sichtbare Vorteile hinsichtlich aller lexikalischer Aspektklassen, insbesondere aber im Hinblick auf statische Prädikate. Eine multiple lineare Regressionsanalyse zeigt zudem, dass unter Berücksichtigung der Variablen Aspektwissen Englisch , Aspektwissen Französisch und C-Test-Ergebnisse das englische Aspektwissen keinen signifikant positiven Einfluss hat, das französische hingegen schon. Wie in den Sprachproduktionsdaten muss auch mit den Daten der Interpretationsaufgabe Hypothese 3a abgelehnt werden, da sich ein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens und nicht des englischen zeigt. 2. Hinsichtlich Hypothese 3b (GER in progressiven Kontexten) decken alle drei statistischen Analysen einen signifikanten Effekt des französischen Aspektwissens auf. Dieser scheint für aktivische Prädikate besonders stark ausgeprägt zu sein. Für das englische Aspektwissen findet sich allerdings kein signifikanter Einfluss. So kann zwar Hypothese 3b, die einen positiven Transfer des Französischen vorhersagt, angenommen werden; die im Hypothesenblock 3 genannten theoretischen Überlegungen, die davon ausgehen, dass das Englische und das Französische positive Auswirkungen haben, müssen allerdings insofern revidiert werden, als das französische Aspektwissen eine Vorrangstellung einzunehmen scheint. 3. Bezüglich Hypothese 3c (IMP in progressiven Kontexten) findet sich auf deskriptiver Basis ein Vorteil der HAFgegenüber der NAF-Gruppe. Dieser wird durch eine signifikante Korrelation und einen signifikanten Regressionskoeffizienten in der linearen Regressionsanalyse bestätigt. Letzteres Analyseverfahren findet keinen signifikanten positiven Einfluss des Englischen. Hypothese 3c kann somit bestätigt werden. 4. Auch in kontinuativen Kontexten zeigt sich ein leichter, allerdings statistisch nicht signifikanter Vorteil der HAFgegenüber der NAF-Gruppe. Da sich auch keine signifikante Korrelation findet, muss Hypothese 3d abgelehnt werden. 5. Die Analysen der Hypothese 3e veranschaulichen einen starken Effekt des französischen Aspektwissens in der habituellen Kondition. Dieser trifft sowohl auf telische als auch auf aktivische Prädikate zu. Diese Hypothese kann somit angenommen werden. <?page no="252"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 253 7.2.4 Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe B) Die qualitative Darstellung von Teilnehmern aus Gruppe B greift die zwei Probanden mit den höchsten und die zwei mit den niedrigsten Werten in der spanischen Interpretationsaufgabe heraus und analysiert deren Antworten im Fragebogen und in der Reflexionsaufgabe. Wie unter 7.1.4 wird mit der Darstellung der beiden Lernenden mit der niedrigsten Punktezahl begonnen. Teilnehmer 410 ist 14 Jahre alt, männlich und gibt an, in Mexiko geboren zu sein. Allerdings ist seine L1 nicht das Spanische und auch zuhause spricht er nur Deutsch. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um eine Person mit Migrationshintergrund handelt. 87 Obwohl die Testperson bezüglich der in Spanisch erhaltenen Unterrichtsstunden im unteren Drittel des Samples anzutreffen ist (~ 240 Stunden), liegen ihre C-Test-Ergebnisse im mittleren Bereich (80 Punkte). Ein Notendurchschnitt von 2,7 lässt allerdings darauf schließen, dass dieser Lernende in anderen Schulfächern Schwierigkeiten hat. Er schreibt, dass er das Englische ein paar Mal pro Monat auch außerhalb der Schule benutze; das Französische hingegen verwende er nie außerhalb des Schulkontextes. Die erstgenannte Sprache wird im Hinblick auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto als nützlich eingestuft, aber nicht hinsichtlich der Bildung und Verwendung von estar + gerundio . Dies deutet auf eine mangelhafte Einschätzung der Nützlichkeit dieser Sprache hin. Bezüglich des Französischen kreuzt die Testperson dieselben Werte an, was sprachstrukturell betrachtet mehr Sinn macht. Beim Lernen der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto hat sich der Lernende an zwei Faustregeln orientiert: Ich habe es mir so gemerkt, dass [es sich] beim indefinido [um] eine abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit [handelt], und [dass] das imperfecto [bei] ein[er] Zeitspanne in der Vergangenheit benutzt werden muss. (Fragebogen 410) Die Perfektivität als eine Semantik zu charakterisieren, die Abgeschlossenheit ausdrückt, ist prinzipiell nicht falsch, birgt aber die Gefahr, dass Lernende nicht zwischen temporaler und aspektualer Abgeschlossenheit unterscheiden können. Problematischer ist sicher die oftmals auch in Lehrbüchern verwendete Faustregel, Imperfektivität hätte mit einer lang andauernden Zeitspanne zu 87 Theoretisch wäre es auch möglich, dass es sich um ein Kind von zwei deutschsprachigen Eltern handelt, die zur Geburt des Kindes in Mexiko gelebt haben, und kurz nach der Geburt nach Deutschland zurückgekommen sind. Diese Person wurde aus dem Sample nicht ausgeschlossen, da das Kriterium für einen Ausschluss eine zusätzliche L1 war. Da diese Testperson nur eine L1 hatte (Deutsch), wurde sie in die Stichprobe aufgenommen. <?page no="253"?> 254 7 Darstellung der Ergebnisse tun. Imperfektivität sagt allerdings nichts über die zeitliche Ausdehnung einer Situation aus, sondern bezieht sich auf die Betrachtung derselben als etwas Nicht-Abgeschlossenes. In der Reflexionsaufgabe verhält sich der Teilnehmer äußerst passiv und stimmt seinem Partner auch bei problematischen Aussagen zu. Er selbst erkennt bei der Besprechung von Beispielsatz E (siehe Tabelle 23 in Kapitel 6.2.6 für eine Beschreibung), dass das imperfecto „etwas, das früher regelmäßig war“, beschreibe (Korpus B 410_411: 41). Abgesehen davon, scheint er das spanische imperfecto mit dem deutschen Perfekt gleichzusetzen, das er im Übrigen ebenfalls als imperfecto bezeichnet: ,Henry ist Bauarbeiter. Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut.‘ […] Ähm, ich glaube, es ist ,Henry construía la casa‘, weil da steht ,Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut‘ und das ist ja auch imperfecto mit hat und gebaut und deswegen glaube ich, dass es imperfecto ist. (Korpus B 410_411: 42-47) Dieser Vergleich mit dem Deutschen ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Testperson weder im Englischen noch im Französischen über ein ausreichend ausgeprägtes Aspektwissen verfügt (x̄ Englisch = 0,8; x̄ Französisch = 0,3), um auf diese beiden Sprachen zurückzugreifen. Die starke Vereinfachung der grammatikalischen Regeln und der Eins-zu-eins-Vergleich des deutschen Perfekts mit dem spanischen Imperfekt sind ein Indiz für fälschlich angeeignetes explizites Wissen, das womöglich zu den eher niedrigen Bewertungen in der spanischen Interpretationsaufgabe führt. Teilnehmerin 421 ist weiblich, in Deutschland geboren und 15 Jahre alt. Sowohl im Hinblick auf ihre C-Test-Ergebnisse (55 Punkte) als auch bezüglich der in Spanisch erhaltenen Unterrichtsstunden (~ 240h) liegt sie im unteren Spektrum des Samples. Ein Notendurchschnitt von 2,8 lässt zusätzlich darauf schließen, dass die Lernende auch in anderen Gegenständen Schwierigkeiten hat. Sie gibt an, das Englische ein paar Mal pro Woche, das Französische hingegen nur ein paar Mal pro Monat zu verwenden. Keine der beiden Sprachen helfe ihr bei der Bildung/ Verwendung der im Fragebogen genannten spanischen Verbformen. Diese Haltung bestätigt sich durch eine Aussage in der Reflexionsaufgabe, in welcher sie sagt, dass ihr andere Sprachen „eigentlich fast gar nicht“ geholfen hätten (Korpus B 421_423: 21-22). Des Weiteren könne sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie beim Lernen der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto vorgegangen sei. Ihr explizites Regelwissen in der Zielsprache scheint also sehr gering bis überhaupt nicht vorhanden zu sein. <?page no="254"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 255 Im Folgenden werden zwei Probanden analysiert, die in der spanischen Interpretationsaufgabe sehr hohe Werte erreichen. Teilnehmerin 510 ist weiblich, in Deutschland geboren und 15 Jahre alt. Im Hinblick auf ihre C-Test-Ergebnisse (76 Punkte) befindet sie sich im Mittelfeld der Stichprobe. Berücksichtigt man die in Spanisch erhaltenen Lernstunden (~ 240h), so scheint die Lernende zu den besseren innerhalb dieser Gruppe zu gehören. Ein Notendurchschnitt von 2,2 lässt darauf schließen, dass sie weder zu den leistungsstarken noch zu den leistungsschwachen Schülern gehört. Sie gibt an, das Englische jeden Tag auch außerhalb der Schule zu verwenden; Französisch benutze sie hingegen jenseits des Schulkontextes kaum. Zusätzlich zu Deutsch-, Englisch-, Französisch- und Spanischkenntnissen besitzt sie noch Grundkenntnisse im Niederländischen und im Koreanischen, was auf eine hohe Motivation schließen lässt, Sprachen zu lernen. Das Englische findet sie im Hinblick auf die Bildung und Verwendung der estar + gerundio -Periphrase nützlich. Allerdings misst sie dieser Sprache im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen perfecto simple und imperfecto keine Nützlichkeit bei. Das Französische hingegen helfe ihr bei der Abgrenzung von perfecto simple und imperfecto . Bezüglich der Bildung und Verwendung von estar + gerundio sei diese Sprache nur wenig bis überhaupt nicht hilfreich. Sowohl im Fragebogen als auch in der Reflexionsaufgabe gibt die Lernende an, auf das Französische zu rekurrieren: „Ich hab’ mich einfach am Französischen orientiert, weil da hatte ich das Sprachgefühl schon ein wenig und konnte es einfach auf ’s Spanische übertragen“ (Fragebogen 510). Auch in der Reflexionsaufgabe teilt sie mit, dass ihr diese Sprache wesentlich geholfen habe: Also ich muss sagen, eigentlich bei den meisten Sätzen habe ich einfach auch beim […] Französischen geschaut, weil die Zeiten sind ja irgendwie- […] gleich gebildet und ich weiß nicht, im Französischen -habe ich irgendwie schon dieses Sprachgefühl ein bisschen. -- Also allgemein einfach, wann ich was benutzen muss -so. Ich meine, O. K., wir haben da auch Regeln gelernt, aber keine Ahnung. Ja, aber auf jeden Fall habe ich einfach die Regeln auf’s Spanische übertragen. Und habe das dann bei den meisten Sätzen angewandt. (Korpus B 510_514: 1-8) Dies scheint sogar so weit zu gehen, dass sich die Teilnehmerin mehr auf ihre impliziten Französischkenntnisse verlässt als auf das explizite Regelwissen im Spanischen: Ich […] habe das im Prinzip auch so gemacht, dass ich immer geschaut habe, ist die Handlung schon zu Ende oder nicht, aber irgendwie -habe ich mich […] auch einfach irgendwie so auf das Französische bezogen, einfach durch <?page no="255"?> 256 7 Darstellung der Ergebnisse das Sprachgefühl so, weil ich habe jetzt nicht wirklich überlegt so, ist der Satz jetzt so oder so. Ich habe einfach das genommen, was besser klang […]. (Korpus B 510_514: 19-24) Dieses Zitat zeigt, dass explizites Wissen durchaus vorhanden ist („die Handlung schon zu Ende [ist] oder nicht“). Dennoch gibt die Probandin an, sich mehr auf ihr implizites Wissen im Französischen konzentriert zu haben (z. B. Sprachgefühl), das sie dann ins Spanische transferiert habe. Tatsächlich verfügt sie über ein ausgeprägtes Aspektwissen im Französischen, das ihr diesen Transfer ermöglicht bzw. erleichtert (x̄ = 2,6). Auch im Englischen besitzt sie ein relativ hohes Aspektwissen (x̄ = 2,1), das aber laut der nachstehenden Aussage ausschließlich auf implizites Wissen zurückzuführen ist: 514: Im Englischen habe ich immer so genommen, was sich besser angehört hat. 510: Ja. Weildas mache ich eigentlich auch so im Englischen. Im Englischen habe ich nämlich gar keine Regeln im Kopf so. Ich benutze das einfach so nach Gefühl. Aber ist das eigentlich auch richtig? (Korpus B 510_514: 47-50) Die nächste Teilnehmerin (Nr. 705) ist in Deutschland geboren, weiblich und 14 Jahre alt. Im Hinblick auf ihre C-Test-Ergebnisse (95 Punkte) und die in Spanisch erhaltenen Lernstunden (~ 320h) befindet sie sich im oberen Feld des Samples. Ihr Notendurchschnitt beträgt 1,0, was zeigt, dass es sich hier um eine Vorzugsschülerin handelt. Sie gibt an, das Englische jeden Tag auch außerhalb der Schule zu verwenden; Französisch hingegen gebrauche sie außerhalb des schulischen Kontexts nie. Das Englische wird nur im Hinblick auf die Verwendung von estar + gerundio als nützlich wahrgenommen; bezüglich der Bildung der Periphrase findet sie diese Sprache wenig dienlich. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen perfecto simple und imperfecto sei sie sogar überhaupt nicht nutzbringend. Im Gegensatz dazu helfe ihr das Französische bei der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto sogar sehr, bei der Bildung und Verwendung von estar + gerundio hingegen überhaupt nicht. Sowohl im Fragebogen als auch in der Reflexionsaufgabe gibt die Lernende an, auf das Französische zurückzugreifen: Ja, aber hauptsächlich hilft mir eigentlich das Französische. Und da muss ich sagen, Französisch hilft sogar ziemlich viel, weil äh viele Sachenvor allem jetzt bei der Wahl der Vergangenheitsform, da kann man sich an imparfait und passé composé orientieren, weil das eigentlich dasselbe Prinzip ist. Und weil man das schon länger hatte, orientiere ich mich voll oft daran. (Korpus B 705_718: 34-38) <?page no="256"?> 7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge 257 Die Lernende erklärt, dass den beiden Aspektsystemen dasselbe Prinzip zugrunde liege und dass sie sich deshalb an ihren Französischkenntnissen orientiere. Da sie diese Sprache schon länger habe, eigne sie sich als Transferbasis. Auch das Ergebnis der Interpretationsaufgabe im Französischen zeigt, dass die Probandin ausreichend Aspektwissen in dieser Sprache besitzt, um dieses zu transferieren (x̄ = 1,8). Obwohl sie auch im Englischen einen sehr hohen Wert erreicht (x̄ = 3,4), meint sie, dass ihr diese Sprache relativ wenig helfe (Korpus B 705_718: 34-35). Im Fragebogen nennt die Lernende noch explizites Regelwissen im Spanischen und erklärt, dass sie dieses beim Lernen der Unterscheidung zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt verwendet habe: Bei der Entscheidung, welche Zeitform ich nehme, habe ich meistens daran gedacht, dass das imperfecto Hintergründe und Gewohnheiten beschreibt und das indefinido plötzlich einsetzende Handlungen oder neue Handlungsstränge. (Fragebogen 705: Frage 3) In der Reflexionsaufgabe findet sich eine große Fülle an expliziten Wissensrepräsentationen. Auf der einen Seite beschreibt die Teilnehmerin das Inzidenzschema („[A]lso eine Handlung, die gerade läuft, während dann eine andere einsetzt“; Korpus B 705_718: 16-17). Auf der anderen Seite weiß sie, dass das Imperfekt bei gewohnheitsmäßigen Handlungen, bei Hintergrundhandlungen und bei Beschreibungen in der Vergangenheit verwendet werde. Das perfecto simple hingegen werde bei plötzlichen Handlungen angewandt (Korpus B 705_718: 17-22). Darüber hinaus werden die Beispielsätze der Reflexionsaufgabe äußert detailliert besprochen. All das verdeutlicht, dass die Lernende über explizite Wissensrepräsentationen verfügt, auf die sie beim Erwerb des Spanischen zurückgreifen kann. Im Wesentlichen zeigt die qualitative Auswertung der Daten, dass die Lernenden, die in der spanischen Interpretationsaufgabe zu niedrigen Werten kommen, ein niedriges bis mittleres Sprachniveau im Spanischen haben. Das Gleiche trifft auf den allgemeinen Notendurchschnitt zu. Die Nützlichkeit von sprachlichem Vorwissen bewerten sie auf der Skala des Fragebogens als zwischen nicht hilfreich und hilfreich. Sie verfügen außerdem nur über mangelhaftes explizites Wissen im Spanischen. Die beiden Lernenden, die zu hohen Werten in der spanischen Interpretationsaufgabe kommen, haben ein mittleres bis hohes Sprachniveau in der Zielsprache und einen mittleren bis sehr hohen Notendurchschnitt. Des Weiteren schätzen sie sprachliches Vorwissen als hilfreich ein und orientieren sich stark am Französischen. Schließlich verfügen sie über explizites Regelwissen im Spanischen, auf das sie zurückgreifen können. Auf ein derartiges explizites Regelwissen wird auch im nächsten Kapitel eingegangen. <?page no="257"?> 258 7 Darstellung der Ergebnisse 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden Das vorliegende Kapitel stellt die Ergebnisse der stimulated-recall -Reflexionsaufgabe dar und geht dabei sowohl auf das explizite Regelwissen als auch auf das interlinguale Wissen der Lernenden inklusive entsprechender Sprachvergleiche ein. Eine derartige qualitative Herangehensweise soll zusätzliche empirische Evidenz für die Ergebnisse der quantitativen Analyse bringen und so zu einem tieferen Verständnis des Erwerbs von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beitragen. Des Weiteren können durch eine solche Methodentriangulation mögliche Schwächen des quantitativen Settings ausgeglichen werden. Seale (1999: 121) verweist mit seinem Prinzip des ‚Zählen[s] des Zählbaren‘ darauf, dass reflektiert werden muss, inwiefern eine Quantifizierung der jeweiligen Daten überhaupt möglich ist. Obwohl Häufigkeiten zusätzliche Informationen liefern und bis zu einem gewissen Grad auch etwas über die Wichtigkeit bestimmter Kategorien aussagen, wird im Folgenden von einer quantitativen Darstellung abgesehen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich in der in Partnerarbeit durchgeführten Reflexionsaufgabe relativ häufig ein Handlungsmuster findet, das eine Quantifizierung unmöglich macht. Dieses sieht folgendermaßen aus: Nachdem einer der beiden Schüler ein Thema einer entsprechenden Kategorie angesprochen hat (z. B. die Verwendung des imperfecto für hintergründige Handlungen), stimmt ihm sein Partner zu, ohne dabei inhaltliche Aspekte näher auszuführen. Die Frage, ob die zweite Testperson ohne den erhaltenen Input des ersten Schülers auch selbst die Kategorie genannt hätte, ist aus der Retrospektive nicht mehr zu beantworten. Damit einhergehend kann nur bedingt gesagt werden, ob diese Kategorie zweimal oder nur einmal gezählt werden soll. Dieses Handlungsmuster macht eine Quantifizierung der pro Kategorie getätigten Aussagen unmöglich, weshalb davon abgesehen wurde. In Kapitel 7.3.1 wird dargestellt, welches explizite Wissen die Lernenden besitzen und wie sie in der Reflexionsaufgabe darauf Bezug nehmen. Die entsprechenden Nennungen werden den Kategorien (A) perfecto simple , (B) imperfecto , (C) estar + gerundio und (D) Signalwörter zugeordnet, die allesamt dem Großkategorien-Cluster Explizites Regelwissen untergeordnet sind (siehe Kapitel 6.5.5 für eine genaue Beschreibung). Schließlich wird in Kapitel 7.3.2 der Großkategorien-Cluster Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche beschrieben, in welchem auf interlinguales, sprachvergleichendes Wissen eingegangen wird. 88 88 Viele Studien nennen oft die „besten“ Beispiele, um ihre Ergebnisse zu veranschaulichen. Dies ist problematisch, weil es sich um eine subjektive Auswahl des Forschenden <?page no="258"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 259 7.3.1 Explizites Regelwissen: Welche Faustregeln verwenden Lernende, um über (im-)perfektiven Aspekt zu sprechen? 7.3.1.1 Kategorie (A): Erklärungsansätze für das perfecto simple Kategorie (A) umfasst Erklärungsansätze für das perfecto simple . Sie beinhaltet fünf Subkategorien, die im Folgenden beschrieben werden. (A1) Abgeschlossenheit/ Begrenztheit bezieht sich auf Aussagen, in welchen erklärt wird, dass das perfecto simple für abgeschlossene/ begrenzte Handlungen benutzt werde. In den metasprachlichen Daten, die aus der Reflexionsaufgabe hervorgegangen sind, finden sich zahlreiche solcher Äußerungen. Beispielsweise erklärt Teilnehmerin 205, dass die Person des Beispielsatzes B (für eine Auflistung siehe Tabelle 23 in Kapitel 6.2.6) schon auf der anderen Straßenseite angekommen und erst danach von einem Radfahrer angefahren worden sei. Diese Erklärung impliziert, dass es sich beim Überqueren der Straße um einen abgeschlossenen Vorgang handelt, für dessen Ausdruck eine perfektive Verbform verwendet werden muss: O.K., bei dem Beispiel ,Ich bin zu einem Freund auf der anderen Seite der Straße gelaufen. Nachdem ich auf der anderen Seite der Straße angekommen war, hat mich ein Radfahrer überfahren‘ habe ich das Erste ‚Crucé la calle y me atropelló un ciclista‘ [gewählt], weil ähm er ja schon auf der anderen Seite angekommen ist und ihn dann erst der Radfahrer überfahren hat. (Korpus B 205_206: 15-19) Das nächste Beispiel der Teilnehmer 313 und 317 ist von besonderem Interesse, da zwei Faustregeln - jene der Abgeschlossenheit für das perfecto simple und jene der Durativität für das imperfecto - miteinander in Konflikt treten: handelt und somit (möglicherweise) ein verfälschter Blick auf die Daten wiedergegeben wird. Aus diesem Grund wurden die Beispiele der vorliegenden Untersuchung zufällig ausgewählt. Dafür wurde ein quantitatives Kriterium herangezogen, und zwar wurde bei jedem siebten Teilnehmer nach der betrachteten Kategorie gesucht. Wenn keine entsprechende Äußerung zu finden war, das heißt, die Kategorie bei dem Probanden (einschließlich seines Partners) nicht vorhanden war, wurde um sieben Testpersonen fortgefahren und dort weitergesucht. Durch diese Vorgehensweise soll sichergestellt werden, dass die Auswahl der Beispiele nicht auf der Subjektivität des Forschers beruht. Da die Reflexionsaufgabe in Partnerarbeit durchgeführt wurde und es sich daher um Aushandlungsprozesse handelt, ist eine scharfe Trennung der einzelnen Aussage meist nicht möglich. Es ist daher unumgänglich, auch die Äußerungen der jeweiligen Partner zu berücksichtigen, selbst wenn diese nicht Teil des eigentlichen Samples waren. Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass in manchen Fällen mehrere Textpassagen derselben Kategorie dargestellt werden, um diese besser zu veranschaulichen. <?page no="259"?> 260 7 Darstellung der Ergebnisse 313: ‚Henry ist Bauarbeiter. Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut.‘ 317: Schauen wir mal. 313: Also, er hat es ja fertig gemacht, es ist abgeschlossen, da habe ich genommen ‚Henry construyó la casa‘. 317: Ich auch. 313: Aber ich fand es trotzdem irgendwie schwierig, weil das ister hat es ja auch über einen längeren Zeitraum gebaut. (Korpus B 313_317: 91-98) Auf der einen Seite betont Teilnehmerin 313, dass die Person im Beispielsatz das Haus fertig gebaut habe und diese Tätigkeit damit abgeschlossen sei. Auf der anderen Seite erkennt sie, dass es sich beim Bauen eines Hauses um eine längere Dauer handle, was im schulischen Unterricht des Öfteren als Faustregel für das imperfecto gelernt wird. Da die zeitliche Ausdehnung an sich nichts darüber aussagt, ob eine perfektive oder imperfektive Verbform verwendet werden muss, hat diese Vermischung der Ebenen des grammatikalischen und lexikalischen Aspekts (Perfektivität vs. Durativität) möglicherweise negative Auswirkungen auf die Performanz der Lernenden. In Kategorie (A2) Handlungen/ Handlungsabläufe finden sich allgemeine Aussagen, in denen über Vorgänge in der Vergangenheit gesprochen wird. Ihnen liegt ein diskursiver Erklärungsansatz zugrunde, der besagt, dass für den Handlungsstrang vorantreibende Ereignisse das perfecto simple verwendet werden muss. Teilnehmerin 512 erklärt diesbezüglich, dass sie die Sätze der spanischen Interpretationsaufgabe dahingehend analysiert habe, „ob das jetzt ein Zustand ist, was da war, oder ob das eine Handlung war“ (Korpus B 512_513: 2-3). In dieser Kategorie finden sich aber auch spezifische Unterkategorien. So spricht beispielsweise Teilnehmerin 528 in der Subkategorie (A2a) Einmalige Handlung davon, dass sie analysiert habe, ob „das […] eine einmalige Aktion [ist, oder ob] über eine Woche, immer wieder, jeden Tag das Gleiche oder so [passiert]“ (Korpus B 520_528: 3-4). Sie kontrastiert damit eine einmalige Aktion, die im perfecto simple steht, mit der einer mehrmaligen, repetitiven bzw. gewöhnlichen, die im imperfecto ausgedrückt werden muss. Bei Teilnehmerin 705 findet sich ein Beispiel für die Subkategorie (A2b) Neue Handlung . Sie spricht davon, dass es in Beispielsatz B der Reflexionsaufgabe, in welchem eine Person eine Straße überquert hat und im Anschluss von einem Auto überfahren wird, um „eine Handlung [geht], und dann nachdem die Handlung beendet ist, […] eine neue Handlung ein[setzt] und deswegen müsste“ das perfecto simple korrekt sein. Die Lernende spricht sowohl von der <?page no="260"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 261 Abgeschlossenheit des ersten Geschehens (das Überqueren der Straße) als auch von dem Einsetzen der neuen Handlung (das Überfahren). Implizit verweist sie damit auch auf eine weitere Faustregel des Spanischunterrichts, nämlich dass das perfecto simple bei aufeinanderfolgenden Handlungen verwendet werde. Das Inzidenzschema, bei dem ein Vorgang in seinem Verlauf dargestellt wird und plötzlich ein anderer eintritt (inzidiert), wird oft dadurch beschrieben, dass eine „lange Handlung“ im imperfecto von einer neuen, punktuellen, im perfecto simple stehenden unterbrochen wird. Dies thematisiert Teilnehmer 823, wenn er über Beispielsatz A spricht, in welchem die Handlung - im Unterschied zu Beispielsatz B - nicht vollendet wird. Er erklärt diesbezüglich, dass es sich beim Überqueren der Straße um ein langes Geschehnis handle, das durch das plötzliche Eintreten einer „kurze[n] Handlung“ unterbrochen werde: Aber das ist ja wieder lange Handlung, kurze Handlung. Da ist eigentlich das, dass ich über die Straße gehen will, die lange Handlung, aber mich hat dann kurz in der Mitte der Straße ein Auto angefahren. -- Also es ist dann eigentlich das, dass man die Straße überquert, ääh die längere Handlung. (Korpus B 823_824: 51-54) Trotz der durchaus treffenden Beschreibung dieser simplifizierten Faustregel äußert der Teilnehmer im Anschluss Schwierigkeiten, die korrekte Verbform zu wählen. Darüber hinaus birgt die Begrifflichkeit der „lange[n] Handlung“ die Gefahr, dass Lernende alle zeitlich ausgedehnten Vorgänge dem imperfecto zuordnen und diese Faustregel gewissermaßen übergeneralisieren. In dem eben genannten Beispiel findet sich die Begrifflichkeit der „kurze[n] Handlung“, welche auf den punktuellen Charakter anspielt, der oft mit der Perfektivität assoziiert wird. Bezüglich der entsprechenden Kategorie, (A2c) Kurzzeitige/ punktuelle Handlung , thematisieren die Teilnehmer 714 und 715, dass die Person in Beispielsatz F, das Haus „ja nicht über einen längeren Zeitraum fertiggebaut, sondern […] in dem Moment fertiggebaut“ habe (Korpus B 714_715: 36-38). Sie erklären dadurch, dass es sich beim Fertigbauen des Hauses eben nicht um eine ausgedehnte Zeitspanne, sondern um einen punktuellen Vorgang handle („in dem Moment“), für dessen Ausdruck das perfecto simple verwendet werden müsse. Ähnlich wie in der eben besprochenen Kategorie wird auch in (A3) Bestimmte Zeitangaben/ Zeitpunkte teilweise der vermeintlich punktuelle Charakter der Perfektivität angesprochen. Im Unterschied zu Kategorie (A2c) wird allerdings in (A3) nicht die Punktualität einer Handlung, sondern die Nennung einer konkreten Zeitangabe mit punktuellem Charakter in den Mittelpunkt gestellt. So wird bezüglich Beispielsatz D argumentiert, dass die perfektive Verbform verwendet werden müsse, „weil man ja ähm einen genauen Zeitpunkt, also gestern <?page no="261"?> 262 7 Darstellung der Ergebnisse […] vorgeschrieben hat“ (Korpus B 107_108: 26-28). Die Lernenden referieren nicht nur auf den vermeintlich punktuellen Charakter von gestern , sondern implizit auch auf die im Unterricht gelernten Signalwörter, die in Kategorie (D) behandelt werden. Unter (A4) Temporale Erklärungsansätze erklären die Lernenden, dass das perfecto simple verwendet werde, wenn über eine in der Vergangenheit liegende Handlung gesprochen wird. Diesbezüglich vermutet Teilnehmer 111 bei der Besprechung von Beispielsatz F, dass man das perfektive construyó verwenden müsse, weil der Mann im Beispielsatz das Haus „letzten Monat schon gemacht hat und letzten Monat das ist [vergangen] so ähm es pasado “ (Korpus B 110_111: 41). Schließlich finden sich in Kategorie (A5) Verwechslung mit IMP-Regeln vereinzelt Aussagen, in denen die Schüler für den Gebrauch der perfektiven Form in imperfektiven Kontexten plädieren. So wird bei der Diskussion von Beispielsatz A die Semantik der Unabgeschlossenheit, die auf das imperfecto zutrifft, fälschlicherweise auf das perfecto simple übertragen. Die Teilnehmer 308 und 314 erwähnen diesbezüglich, dass die Person im Beispielsatz die Straße nicht überquert habe, und deshalb das perfecto simple verwendet werden müsse: 314: Also da würde ich sagen, ist das Erste richtig, oder? 308: Ja, weil das ist ja keine andauerndealso, man ist ja nicht rübergekommen ganz. […] Also ‚Crucé la calle‘. (Korpus B 308_314: 50-53) Im Wesentlichen lässt sich das von den Lernenden genannte explizite Regelwissen für das perfecto simple wie folgt zusammenfassen: Sie sehen es als eine Form an, die Abgeschlossenheit ausdrückt und den Handlungsstrang vorantreibt (neue, einmalige und punktuelle Handlungen). Sie greifen außerdem auf das Inzidenzschema und auf punktuelle Zeitangaben zurück, um die Verwendung dieser Verbform zu begründen. Es finden sich auch temporale Erklärungsansätze und vereinzelt Regeln, die mit den wissenschaftlichen Erklärungen nur bedingt übereinstimmen. Im nächsten Abschnitt wird auf den anderen Teil der Aspektopposition, das imperfecto , näher eingegangen. 7.3.1.2 Kategorie (B): Erklärungsansätze für das imperfecto Die Kategorie (B) umfasst Erklärungsansätze für das imperfecto und beinhaltet insgesamt sieben Subkategorien. Die erste, (B1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität , stellt das Pendant zu (A1) dar und bezieht sich auf Aussagen, welche die Unabgeschlossenheit einer Handlung zur Sprache bringen. Die Teilnehmer 209 und 211 thematisieren dies, wenn sie die Beispielsätze <?page no="262"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 263 A und B der Reflexionsaufgabe miteinander vergleichen und darauf hinweisen, dass die Person in Beispielsatz B im Unterschied zu A die Handlung des Überquerens der Straße vollendet habe, und deshalb in den beiden Sätzen unterschiedliche Tempora verwendet werden müssten: 211: [Z]um Beispiel bei der A, da ist es ja so, dass er es nicht geschafft hat, die Straße zu überqueren, bevor ihn das Auto angefahren hat. Deswegen war es die Nummer 2, cruzaba . 209: Genau. Bei der B hat er es ja ähm geschafft, die Straße zu überqueren und danach ist noch was passiert, deswegen ist es die erste Lösung, crucé . (Korpus B 209_211: 3-7) Im Allgemeinen gebrauchen die Lernenden mehrere Stützen und Metaphern, um über die Semantik der Progressivität zu sprechen. Eine davon ist die deutsche Übersetzung, dass eine Person etwas gerade tut oder „am Tun ist“. Die Probanden übernehmen diese Formulierung meist aus dem deutschen Ausgangssatz, verwenden sie aber, um die entsprechende Semantik zu erklären. Eine derartige Herangehensweise äußert sich auch im folgenden Beispiel: 515: ‚Ich war dabei, auf die andere Seite der Straße zu gehen. Ich bin jedoch nicht angekommen, weil mich mitten auf der Straße ein Auto angefahren hat.‘ [Er war ja dabei, also] 516: [Also, ich glaube, es ist ‚Crucé la calle‘] und es ist eine einmalige Situation. 515: Aber er war doch gerade dabei. […] 516: Also, ich glaube, es ist crucé , weil es eine einmalige Situationalso er macht eser läuft ja nicht die ganze Zeit [oder für gewöhnlich-] 515: Aber er war ja gerade dabei. 516: Aber das wäre dann ja höchstens ein Zeichen fürwie heißt es? - Gerundio -- oder so. Aber das ist jaes ist ja keine Beschreibung der Situation, sondern es ist eine einmalige Aktion oder so. 515: Stimmt. Keine Ahnung. (Korpus B 515_516: 30-43) Teilnehmer 515 liest den deutschen Ausgangstext vor und betont, dass die Person gerade dabei gewesen sei, über die Straße zu gehen und deutet damit an, dass das imperfecto korrekt sei. In diesem Moment wird er allerdings von seinem <?page no="263"?> 264 7 Darstellung der Ergebnisse Partner unterbrochen, der glaubt, dass es sich um crucé handle, weil von einer einmaligen Situation gesprochen werde. Proband 515 betont daraufhin noch zwei Mal, dass die Person im Beispielsatz gerade dabei gewesen sei, die Straße zu überqueren. Daraufhin erwidert Teilnehmer 516, dass man in solchen Kontexten estar + gerundio verwenden müsse und dass es sich um keine Beschreibung handle, weshalb weder das imperfecto noch die Periphrase möglich seien, worauf Testperson 516 verunsichert zustimmt. Dieses Beispiel veranschaulicht, über welche unterschiedlichen expliziten Wissensrepräsentationen die Lernenden verfügen. Teilnehmer 516 scheint mehrere Regeln für das imperfecto abgespeichert zu haben, nämlich dass diese Form bei zeitlich ausgedehnten oder gewöhnlich stattfindenden Vorgängen verwendet werde („er läuft ja nicht die ganze Zeit“; siehe Zitat oben). Dies stellt er den einmaligen Handlungen des perfecto simple gegenüber. Handlungen im Verlauf sind für ihn durch die Form estar + gerundio repräsentiert. Um diese drei Formen zu unterscheiden, greift er auf klar eingegrenzte Faustregeln zurück ( einmalig vs. mehrmalig vs. etwas gerade tun ). Dies tut er mit solcher Überzeugung, dass er schließlich seinen Partner, der eigentlich die korrekte Antwort vorschlägt, dermaßen verunsichert, dass dieser ihm zustimmt. Im nächsten Beispiel thematisiert Teilnehmer 924 fälschlicherweise, dass in Beispielsatz A theoretisch beide Formen richtig sein könnten, dass er aber das imperfecto bevorzugen würde, „weil das Kreuzen der Straße die lange Handlung […] und das Anfahren von dem Auto […] die kurze Handlung [ist]“, die dementsprechend im perfecto simple stehen müsse (Korpus B 924_929: 36-41). In diesem Zitat verwendet der Lernende eine zweite Metapher, um Progressivität auszudrücken. Es handelt sich dabei um diejenige der langen Handlung, die im Kontext des Inzidenzschemas häufig mit einer „kurze[n]“, im perfecto simple stehenden Handlung kontrastiert wird. Auf die Darstellung dieser durchaus korrekt angewandten simplifizierten Faustregel erwidert Teilnehmer 929 allerdings, dass der Mann im Beispiel gerade dabei gewesen sei, die Straße zu überqueren und dass deshalb keiner der Sätze stimmen könne, weil man estar + gerundio brauche. 929: Ich würde beides als nicht richtigjedoch war er gerade dabei. 924: Ja, das stimmt. 929: Das heißt, es ist keiner der Sätze richtig, weil man hier das -iendo bräuchte, [das gerundio ]. 924: [Ah, das gerundio ! ] 929: Ja, das heißt, beide Sätze stellen den Sachverhalt nicht perfekt dar. (Korpus B 924_929: 42-47) <?page no="264"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 265 Diese Aussage veranschaulicht, dass es Lernende gibt, welche die progressive Semantik mit der estar + gerundio -Periphrase assoziieren und Progressivität aus diesem Grund nicht mit dem imperfecto zulassen. Dies wird auch im nächsten Zitat bei der Besprechung von Beispielsatz A bestätigt: 306: Ähm, ‚Ich war dabei, auf die andere Seite der Straße zu gehen‘. Hast Du da auch ähm imperfecto genommen? 302: Ä: : : hm, nein, da habe ich glaube ich indefinido . 306: Okay, geil. (lacht) 302: Ich weiß es aber nicht, muss ich sagen. 306: Zum Beispiel bei demhä, ich dachte, dass äh imperfecto diese Verlaufsform ist. 302: Ja nee, es gab ja zum Beispiel auch mit estar und Gerundium. 306: Ja. […] Und da habe ich eigentlich meistens imperfecto genommen, wenn so irgendwas schon am Laufen war, irgendeineirgendeine Handlung. 302: Ja, und indefinido ist halt, wenn es wirklich eine einmalige Handlung ist und [ imperfecto , wenn es Gewohnheiten sind]. 306: [Ja, wenn irgendein Datum steht oder so.] 302: Gewohnheiten. Genau, wie zum Beispiel ‚Als Kind bin ich für gewöhnlich um 6 Uhr aufgestanden‘. (Korpus B 302_306: 4-25) In diesem Beispiel verwendet Probandin 306 eine dritte Metapher für den Ausdruck von Progressivität, nämlich die, dass es sich beim imperfecto um eine Form handle, die für Handlungen im Verlauf verwendet werde (z. B. „ich dachte, dass äh imperfecto diese Verlaufsform ist“). Daraufhin widerspricht ihr Teilnehmerin 302, dass es ja zum Beispiel auch estar + gerundio gebe und ergänzt, dass das perfecto simple verwendet werde, wenn es sich um einmalige Aktionen handle und das imperfecto , wenn es Gewohnheiten seien. Auch sie scheint demnach das perfecto simple mit einmaligen, das imperfecto mit mehrmaligen/ gewöhnlichen und die Progressivperiphrase mit Handlungen im Verlauf zu assoziieren. In der nächsten Kategorie (B2) Rahmenhandlungen/ Hintergründe/ Beschreibungen finden sich zahlreiche Aussagen, denen ein diskursiver Erklärungsansatz, der zwischen vorder- und hintergründigen Handlungen unterscheidet, zugrunde liegt. Diesbezüglich betont Teilnehmerin 519 beim Besprechen des Beispielsatzes A, dass sie das imperfecto aus zwei Gründen verwenden würde, nämlich (1) weil die Handlung „so im Hintergrund“ sei und (2) weil die Person im Beispielsatz gerade über die Straße gehe und dann plötzlich eine neue Handlung einsetze: <?page no="265"?> 266 7 Darstellung der Ergebnisse 527: ‚Ich war dabei, auf die andere Seite der Straße zu gehen. Ich bin jedoch nicht angekommen, weil-‘ 519: Ich würde sagen -- ‚Cruzaba la calle‘, weil es so im Hintergrund- Er will gerade rübergehen und dann plötzlich kommt das Auto und fährt ihn an. (Korpus B 519_527: 51-54) Als ihr Gegenüber im nächsten Zitat fälschlicherweise einwirft, dass es auch crucé sein könnte, weil es sich um einen abgeschlossenen Vorgang handle, erklärt Teilnehmerin 519 mit Nachdruck, dass dieser eben nicht abgeschlossen sei, weil man „schon auf der Straße“ angefahren worden sei. Sie betont damit noch einmal den Charakter der Unabgeschlossenheit des Imperfekts, der schon unter Kategorie (B1) besprochen wurde: 527: Ja, aber irgendwie könnte es ja auch ‚Crucé la calle‘ sein, [weil das ist ja eine abgeschlossene Handlung]. 519: [Aber […] du bist ja nicht rübergegangen.] Du wurdest ja schon auf der Straße, mitten auf der Straße, angefahren. 527: Achso, stimmt ja. 519: Du warst ja nicht ganz drüben. Also ich würde sagen ‚Cruzaba la calle‘. 527: O.K., ja stimmt cruzaba . (Korpus B 519_527: 55-62) Hinsichtlich Kategorie (B2) ordnet auch Probandin 705 das Imperfekt als Tempus des Hintergrundes ein, schildert aber, dass sie im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einer „plötzliche[n] Handlung“ im perfecto simple und einer „Hintergrundhandlung oder eine[r] Beschreibung der Situation“ im imperfecto Schwierigkeiten gehabt habe: Ich finde es dann eher schwierig, wenn man äh beim indefinido dann halt entscheiden muss äh, ist es jetzt echt so eine plötzliche Handlung oder ist es doch eher so eine Hintergrundhandlung oder eine Beschreibung der Situation. Und also zum Beispiel bei der Bildergeschichte […], da war das halt oftmals so, da wusste ich nicht, wenn die jetzt Pizza essen, ist das so eine äh Beschreibung der Situation oder ist es eher so eine indefinido - Handlung, die halt nicht so -ja, beschrieben wird. (Korpus B 705_718: 19-26) <?page no="266"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 267 Auf der einen Seite zeigt die Teilnehmerin in dem Zitat auf, dass die Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund für sie schwierig ist. Auf der anderen Seite findet sie es einfach, wenn von Gewohnheiten oder von Dingen, „die halt früher immer so abgelaufen“ sind, gesprochen wird: Also ich stelle mir das imperfecto immer so vor, dass [es] halt ähm eine Gewohnheit ist, die halt früher immer so abgelaufen ist und damit ist es in vielen Fällen halt ziemlich leicht zu wissen, wann es benutzt wird. (Korpus B 705_718: 17-19) Aussagen wie diese, in denen auf Handlungen Bezug genommen wird, die regelmäßig, immer oder für gewöhnlich in der Vergangenheit stattfinden und sich somit auf den habituellen Bedeutungsbestandteil des Imperfekts beziehen, wurden in die Kategorie (B3) Habitualität eingeordnet. Im nächsten Zitat sagen die Probandinnen 705 und 718 korrekterweise, dass in Beispielsatz E ein gewöhnlicher Vorgang beschrieben werde und deshalb das imperfecto verwendet werden müsse: 718: [D]as ist halt imperfecto , weil man ja da Kind war und das die ganze Zeit abgelaufen ist und jetzt nicht auf einmal war man ein Kind und dann nicht mehr. 705: Ja, es ist halt so eine gewöhnliche [Handlung.] 718: [Ja, es war gewöhnlich.] (Korpus B 705_718: 65-69) Neben dem Aspekt der „gewöhnliche[n] Handlung“ nennt Testperson 718 ein weiteres, für sie wichtiges Kriterium, nämlich dass die Handlung in der Kindheit „die ganze Zeit abgelaufen ist“. Sie scheint also zwei Faustregeln für die Semantik der Habitualität zu haben: (1) eine gewisse Iteration und (2) eine zeitliche Ausdehnung über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit (siehe auch Kategorie (B5) Durativität ). Auch Teilnehmerin 822 weist auf diese Iteration hin bzw. darauf, dass es sich beim Imperfekt um ein Tempus handle, das mehrmalige Handlungen in der Vergangenheit ausdrücke. Sie definiert das „ indefinido [als] so etwas […] was fix schon in der Vergangenheit abgeschlossen ist“. Das imperfecto hingegen werde für „Sachen, die öfter vorkommen“ verwendet (Korpus B 816_822: 6-8). Ein ähnlich kurzer und prägnanter Kommentar findet sich bei der Besprechung von Beispielsatz E, bei dem die Probanden 823 und 824 zu dem Schluss kommen, dass das imperfecto zur Anwendung kommen müsse, „weil das immer wieder passiert“ sei (Korpus B 823_824: 74). <?page no="267"?> 268 7 Darstellung der Ergebnisse In der nächsten Kategorie (B4) Zustand finden sich vereinzelt Aussagen, die benennen, dass das imperfecto bei Zuständen verwendet werde. Teilnehmerin 920 erklärt beim Besprechen des Beispielsatzes A, dass sie das imperfecto nehmen würde, weil [i]ch war dabei , […] ja ein Zustand [ist] und das heißt, es war ein längerer Zeitraum und crucé beschreibt ja einen bestimmten Zeitpunkt und cruzaba beschreibt eigentlich einen Zustand in der Vergangenheit […]. (Korpus B 920_923: 30-34) In dem Kommentar schildert die Lernende, dass das imperfecto benutzt werde, weil es sich bei der im deutschen Kontext vorgegebenen Periphrase Ich war dabei um einen Zustand bzw. um einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit handle. Das nicht abgeschlossene Überkreuzen der Straße wird demnach nicht als Handlung an sich, sondern als Zustand wahrgenommen. Damit geht die Konzeption einher, dass es sich bei einer Handlung um etwas Abgeschlossenes und den Handlungsstrang Vorantreibendes handelt und bei Zuständen eher um Sachverhalte, die verweilen, ohne den Handlungsstrang vorwärtszutreiben. Dies scheint die Lernende als Faustregel abgespeichert zu haben. Im eben dargestellten Zitat hat Teilnehmerin 920 schon angesprochen, dass das Imperfekt bei Sachverhalten verwendet werde, die über einen längeren Zeitraum andauern. Aussagen, die eine solche zeitliche Ausdehnung als Charakteristikum des Imperfekts sehen, wurden in die Kategorie (B5) Durativität eingeteilt. Proband 308 schildert diesbezüglich, dass er das imperfecto vom perfecto simple unter anderem dadurch unterscheide, dass sich ersteres auf eine „langzeitige Aktion oder Handlung […] [und letzteres auf eine] kurzzeitige Aktion oder Handlung“ beziehe (Korpus B 308_314: 5-6). Eine solche zeitliche Ausdehnung wird auch von den Teilnehmern 515 und 516 beim Besprechen von Beispielsatz F thematisiert: 516: ‚Henry ist Bauarbeiter. Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut.‘ 515: Ah, fertig gebaut. Ist das nicht- Das ist eigentlich eine einmalige Situation, oder? 516: Ja, aber er hat vielleichter hat ja eigentlich die ganze Zeit daran gebaut. 515: Aber in dem Satz geht es ja darum, dass er es fertig gebaut hat. 516: Zwickmühle. Ja, O. K. Ja, vielleicht hast du Recht. Construyó , ja. (Korpus B 515_516: 66-71) <?page no="268"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 269 Auf der einen Seite sagt Proband 515, dass es sich beim Bauen des Hauses um eine einmalige Situation handle. Sein Partner erwidert diesbezüglich, dass die Person im Beispielsatz die ganze Zeit gebaut habe und deutet damit an, dass aufgrund dieser Durativität auch das imperfecto möglich sei. Teilnehmer 515 legt allerdings dann richtigerweise dar, dass in diesem Beispielsatz die Abgeschlossenheit der Handlung im Fokus stehe, weshalb eine perfektive Verbform zu bevorzugen sei. Bezüglich des imperfecto finden sich auch temporale Erklärungsansätze, die in Kategorie (B6) zusammengefasst sind. Beispielsweise behauptet Teilnehmerin 412, dass sie im eben beschriebenen Beispielsatz F das imperfecto nehmen würde, weil letzten Monat „ja schon länger her“ sei (Korpus B 412_415: 53-54). Da die Lokalisierung des Ereigniszeitpunktes vor dem Sprechzeitpunkt kein ausreichendes Kriterium für die Verwendung des Imperfekts ist, führt diese Faustregel vermutlich des Öfteren in die Irre. Schließlich finden sich in der Kategorie (B7) Verwechslungen mit Regeln einer anderen Form Kommentare, in welchen die Regeln verschiedener Tempora durcheinandergebracht werden. So erklärt Proband 308, dass in Beispielsatz B das imperfecto richtig sei, weil der Mann im Beispiel „ja schon drüben angekommen“ sei (Korpus B 308_314: 61). Damit beschreibt er fälschlicherweise, dass das imperfecto bei abgeschlossenen Handlungen verwendet werde. Des Weiteren findet sich eine Aussage, in der behauptet wird, dass das imperfecto mit dem Plusquamperfekt gleichzusetzen sei (Korpus B 826_831: 6-7). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lernenden zahlreiche Faustregeln für das imperfecto verwenden. Diese reichen von der Thematisierung der Nicht-Abgeschlossenheit eines Vorganges bzw. der Betonung, dass etwas gerade im Verlauf ist, über sich wiederholende, gewöhnliche und zeitlich ausgedehnte Handlungen bis hin zu Aussagen darüber, dass das imperfecto für Beschreibungen, Hintergründe oder Zustände verwendet wird. 7.3.1.3 Kategorie (C): Erklärungsansätze für estar + gerundio Im folgenden Kapitel wird auf die expliziten Wissensrepräsentationen eingegangen, welche die Lernenden bezüglich der Progressivperiphrase estar + gerundio besitzen. Naturgemäß überschneiden sich einige Kategorien mit jenen des letzten Kapitels (z. B. Durativität, Zustände). In der ersten Kategorie, (C1) Unabgeschlossenheit/ Unbegrenztheit/ Progressivität , erklärt Teilnehmerin 206, dass in Beispielsatz C die Progressivperiphrase verwendet werden müsse, weil der Klavierspieler „schon gespielt hat und nicht erst dann angefangen hat“, als der Raum betreten wurde (Korpus B 205_206: 13-14). Sie verweist damit implizit darauf, dass die Situationszeit (= das Spielen des Klaviers) nicht in der Topikzeit (= das Betreten des Raumes) eingeschlossen ist, was den Charakter <?page no="269"?> 270 7 Darstellung der Ergebnisse der Unbegrenztheit der Periphrase widerspiegelt. Darüber hinaus spricht sie das Inzidenzschema und den progressiven Charakter von estar + gerundio an. Auch die Probanden 313 und 317 verwenden die Periphrase immer dann, wenn es im deutschen Ausgangssatz „am irgendwas“ heiße (Korpus B 313_317: 15-17), weil es sich dabei um das Gerundium bzw. die Verlaufsform handle: 313: Ich glaube, ich habe ‚estaba tocando el piano‘ genommen. 317: Ich auch. 313: Weil das heißtes ist ja gerundio ? Oder keine Ahnung. 317: Ja, das ist äh Verlaufsform dann. 313: Ja, Verlaufsform. (Korpus B 313_317: 54-59) In einem weiteren Beispiel schildern die Teilnehmerinnen 512 und 513, dass der Klavierspieler aus Beispielsatz C zum Zeitpunkt der Ankunft mit dem Spielen noch nicht fertig gewesen sei, wodurch die Unabgeschlossenheit der progressiven Semantik fokussiert wird. Testperson 701 greift schließlich auf die am meisten verwendete Erklärung zurück, nämlich dass das Gerundium eine Handlung in der Vergangenheit beschreibt, die gerade im Verlauf war, als etwas anderes passierte: Bei C würde ich auch den zweiten Satz nehmen, weil estaba tocando ist ja wieder mit gerundio und das beschreibt dann auch in der Vergangenheit, dass es gerade in dem Moment dann passiert ist. (Korpus B 701_702: 35-37) Neben den zahlreichen Aussagen, welche den Charakter der Unabgeschlossenheit der Periphrasen ansprechen, finden sich vereinzelt auch Textpassagen, die der Kategorie (C2) Durativität zugeordnet werden können. Teilnehmerin 925 sagt beispielsweise, dass sie estaba tocando verwenden würde, weil es „eine längere Handlung war“. Sie greift damit auf die schon oben bezüglich des imperfecto angesprochene Metapher für die Progressivität zurück: 926: ‚El pianista estaba tocando.‘ Ja genau, weil es schon vorbei ist. 925: Ja und weil es eine längere Handlung war. Er war schon dabei. 926: Ja genau und einfach weil sich das viel besser anhört. Weil er hat ja gespielt und darum kommt das gerundio , tocando . (Korpus B 925_926: 42-45) <?page no="270"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 271 In dieser Aussage findet sich zusätzlich ein Beispiel für die Kategorie (C5) Verwechslung mit Regeln einer anderen Form . Die Probandin 926 gibt im ersten Satz des Zitats an, die Progressivperiphrase für Handlungen zu verwenden, die schon vorbei sind. Damit bezieht sie sich entweder auf eine temporale Lokalisierung des Ereignisses vor dem Sprechzeitpunkt oder auf die aspektuelle Abgeschlossenheit. Letzteres ist eindeutig ein Charakteristikum des perfecto simple und hat somit vermutlich einen negativen Einfluss auf die Performanz der Lernenden. Hinsichtlich der Kategorie (C3) Zustand führt Teilnehmerin 702 an, dass sie die Progressivperiphrase in Beispielsatz C wählen würde, „weil das auch so ein[en] Zustand beschreibt, dass der Pianist spielt“ (Korpus B 701_702: 33-34). Die Kategorie (C4), die eng im Zusammenhang mit der Unbegrenztheit der Imperfektivität steht, lautet Undefinierte Zeitspanne . Hier wurden Aussagen eingeordnet, die auf die Unbestimmtheit einer Zeitspanne Bezug nehmen. Beispielsweise betont Testperson 211, dass der Klavierspieler „[…] ja schon bereits am Spielen [war], man weiß ja nicht genau, wie lange die Zeitspanne war, wo er äh Klavier gespielt hat“ (Korpus B 209_211: 8-9). Die Dauer der Zeitspanne ist unbekannt. Es lässt sich vermuten, dass dies auf die Unbegrenztheit der Imperfektivität anspielen soll. Eine detailliertere Erklärung wird leider nicht geliefert, weshalb Aussagen dieser Art einer eigenen Kategorie zugeordnet wurden. Die in diesem Kapitel dargestellten Faustregeln für die spanische Progressivperiphrase überschneiden sich häufig mit jenen des imperfecto : Laut den Lernenden wird estar + gerundio für Handlungen verwendet, die sich gerade im Verlauf befinden (z. B. Inzidenzschema), die zeitlich ausgedehnt sind oder Zustände beschreiben. 7.3.1.4 Kategorie (D): Die Fokussierung von Signalwörtern als Lernstrategie Die letzten drei Kategorien bezogen sich auf das explizite Regelwissen, das die Lernenden bezüglich des perfecto simple , des imperfecto und estar + gerundio besitzen. Darüber hinaus führen zahlreiche Probanden an, für die Unterscheidung von perfektivem und imperfektivem Aspekt sogenannte Signalwörter zur Hilfe zu nehmen. Dabei handelt es sich meist um Adverbien oder Adverbialphrasen, die als Auslöser für die Verwendung eines bestimmten Tempus angesehen werden. Einige Aussagen der Kategorie (A3) Bestimmte Zeitangaben/ Zeitpunkte hätten unter Kategorie (D) Signalwörter subsumiert werden können. Schlussendlich wurde aber die Entscheidung getroffen, nur jene Textpassagen unter (D) zu kategorisieren, in denen das Lexem Signalwort vorkommt bzw. die explizit darauf verweisen, dass Signalwörter beim Lernen der aspektuellen Opposition verwendet werden. <?page no="271"?> 272 7 Darstellung der Ergebnisse Zahlreiche Lernende thematisieren, dass Signalwörter die Entscheidung, welches Tempus zu wählen ist, erleichtern. So erklären die Probanden 520 und 528, dass sie bei der Analyse der Sätze der spanischen Interpretationsaufgabe explizit nach Signalwörtern gesucht hätten: 528: […] Warum hast du dich für diese oder jene Zeitform entschieden? (lacht) Ja. Wiesowieso man- 520: Ja, man schaut halt auf die Satzanfänge. 528: Ja, mit den ähm -- Signalwörtern. 520: Ja genau, die Signalwörter. (Korpus B 520_528: 7-11) Dass die Lernenden explizit nach lexikalischen Hinweisen suchen, zeigt sich auch im nächsten Beispiel, in dem Teilnehmerin 705 darauf verweist, dass das Temporaladverb gestern in Beispielsatz D ein Signalwort für die Verwendung des perfecto simple sei: Ja. Ähm und beim vierten [Beispielsatz] ä: : : h denken wir, dass es das Erste sein muss, weil wir gelernt haben, dass gestern oder ayer halt ähm ein Signalwort für indefinido ist und das Obere ist ja indefinido . (Korpus B 705_718: 62-64) Ein sehr ähnliches Beispiel findet sich bei den Probandinnen 907 und 908, die zu dem Ergebnis kommen, das perfecto simple in Beispielsatz D zu wählen, „weil es […] gestern [war] und ayer ist ja eigentlich ein Signalwort für das indefinido “ (Korpus B 907_908: 58-62). Auch bezüglich des Imperfekts greifen Lernende auf derartige lexikalische Stützen zurück. So erwähnt Teilnehmerin 918, dass sie vermehrt auf Signalwörter, wie zum Beispiel de pequeño , geachtet habe: „Also bei mir war es eigentlich so, dass ich vor allem aufauf die Signalwörter geschaut habe. Also das de pequeño zum Beispiel war in ein paar Sätzen drin“ (Korpus B 915_918: 1-2). Vereinzelt gibt es aber auch Lernende, die sagen, dass sie Signalwörter nicht verwendet hätten. Teilnehmerin 526 wählt in Beispielsatz F korrekterweise die perfektive Form, weil sich darin das Signalwort ayer gefunden hat. Daraufhin erwidert ihre Partnerin 518, dass sie nicht nach Signalwörtern gearbeitet habe, weil sie diese nicht auswendig könne: <?page no="272"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 273 526: Ja, ich habe nur Signalwort, ayer , und dann ja. 518: Genau. Achja, nach Signalwörtern habe ich eigentlich gar nicht gearbeitet, weil ich die nicht auswendig gelernt habe. 526: Ich kann sie auch nicht alle. (lacht) (Korpus B 518_526: 42-45) Dieses Unterkapitel hat veranschaulicht, dass die Lernenden zusätzlich zu dem expliziten Regelwissen im Spanischen auf lexikalische Stützen zurückgreifen (d. h. Signalwörter wie ayer oder de pequeño ), um die Entscheidung zwischen perfecto simple und imperfecto zu treffen. Fasst man die Ergebnisse des Großkategorien-Clusters Explizites Regelwissen zusammen, lässt sich sagen, dass die Schüler auf unterschiedliche explizite Wissensrepräsentationen zurückgreifen. Für das perfecto simple finden sich sowohl semantische als auch diskursive Erklärungen. Dies äußert sich insofern, als die Lernenden darauf Bezug nehmen, dass das perfecto simple die Abgeschlossenheit, aber auch die Punktualität oder Inchoativität einer Handlung ausdrückt. Gleichzeitig finden sich Aussagen, in denen betont wird, dass man das PS für Handlungen oder Aktionen verwendet, was auf den handlungsvorantreibenden Charakter dieser Form verweist. Darüber hinaus zeigt sich, dass manche Probanden die Ebenen des grammatikalischen und lexikalischen Aspekts vermischen, wenn sie beispielsweise von der Punktualität und der Abgeschlossenheit einer Situation sprechen, ohne diese beiden semantischen Nuancen genauer zu differenzieren. Bezüglich des imperfecto wird sowohl die Unabgeschlossenheit als auch die Durativität eines Vorganges hervorgehoben. Man trifft aber auch auf zahlreiche Aussagen, welche den habituellen Charakter dieser Verbform mit jenem der Einmaligkeit des perfecto simple kontrastieren. Des Weiteren wurde der progressive Charakter des imperfecto und von estar + gerundio herausgestellt. Das nächste Kapitel widmet sich nun dem zweiten Großkategorien-Cluster Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche , in dem auf das interlinguale, sprachvergleichende Wissen der Lernenden eingegangen wird. <?page no="273"?> 274 7 Darstellung der Ergebnisse 7.3.2 Nützlichkeit von Sprachvergleichen: Welche Sprachen empfinden die Lernenden als hilfreich und welche Sprachvergleiche stellen sie an? Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern die Lernenden andere Sprachen als (nicht) nützlich wahrnehmen und inwieweit sie in der Lage sind, explizite Sprachvergleiche anzustellen. Bevor auf die Ergebnisse der Reflexionsaufgabe eingegangen wird (siehe Kapitel 7.3.2.2 und 7.3.2.3), werden einige quantifizierbare Daten aus dem Fragebogen präsentiert. 7.3.2.1 Quantitative Einblicke in die Ergebnisse des Fragebogens Im Fragebogen werden die Lernenden gefragt, inwiefern ihnen das Englische, das Französische oder das Lateinische bei der Unterscheidung zwischen perfecto simple und imperfecto sowie bei der Bildung und Verwendung von estar + gerundio geholfen hat (Likert-Skala von 0 bis 3 ( nicHt HilfreicH bis seHr HilfreicH )). Da alle Probanden über Englischkenntnisse verfügen, beziehen sich die Aussagen zum Englischen auf die gesamte Stichprobe (N=109). Im Allgemeinen wird diese Sprache als wenig hilfreich für die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto wahrgenommen. Signifikante Unterschiede zwischen den drei Gruppen finden sich nicht (ANOVA: F(2, 106) = 1,017, p = 0,365): Musterdatei NFA_Basis_A.dot Abb. 43: Hilfe Englisch bzgl. der Unterscheidung von PS und IMP 0,9 0,8 1,2 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 52: Hilfe Englisch bzgl. der Unterscheidung von PS und IMP Im Hinblick auf die Bildung und Verwendung von estar + gerundio , deren Werte zu einer Skala zusammengefasst wurden, veranschaulicht Abbildung 53, dass die Lernenden das Englische als etwas hilfreicher wahrnehmen als für die oben angeführte Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto . Auch hier findet <?page no="274"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 275 sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen (ANOVA: F(2, 106) = 1,756, p = 0,178): Musterdatei NFA_Basis_A.dot 44 Abb. 44: Hilfe Englisch bzgl. der Bildung und Verwendung von GER 1,4 1,3 1,7 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 Gruppe A Gruppe B Gruppe C Likert-Skala Abb. 53: Hilfe Englisch bzgl. der Bildung und Verwendung von GER Hinsichtlich beider Fragen findet sich ein leichter, allerdings statistisch nicht signifikanter Vorteil von Gruppe C. Demnach scheinen Lernende, die neben Englischnoch über Lateinkenntnissen verfügen, das Englische als hilfreicher einzuschätzen als jene der anderen beiden Gruppen. Wenn man das Französische in den Blick nimmt, lässt sich erkennen, dass Lernenden der Gruppe B diese Sprache im Durchschnitt als nützlich für die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto wahrnehmen (x̄ = 1,9). Der entsprechende Mittelwert ist wesentlich höher als im Hinblick auf das Englische. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass diese Lernenden erkennen, dass das Französische - wie das Spanische - über die Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv verfügt und das entsprechende Aspektwissen in der Folge transferiert werden kann. Für die Bildung und Verwendung von estar + gerundio zeigt ein Mittelwert von 0,7, dass die meisten Probanden aus Gruppe B das Französische diesbezüglich als kaum hilfreich einschätzen. Die Parallele, die zu être en train de besteht, scheint demnach nur bedingt wahrgenommen zu werden. Die eben präsentierten Fragen wurde auch hinsichtlich des Lateinischen gestellt und von Lernenden der Gruppe C beantwortet. Sie empfinden diese Sprache als wenig hilfreich, und zwar sowohl im Hinblick auf die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto (x̄ = 1,2) als auch bezüglich der Bildung und Verwendung von estar + gerundio (x̄ = 1,3). Für diese konkreten Sprachstrukturen empfindet die Latein-Gruppe das Englische als nützlicher, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass das Lateinische im Unterschied zum Englischen über keine Progressivperiphrase verfügt. <?page no="275"?> 276 7 Darstellung der Ergebnisse Es kann festgehalten werden, dass Gruppe B das Französische für die Opposition perfektiv/ imperfektiv als hilfreicher wahrnimmt als das Englische; hinsichtlich progressiv/ nicht progressiv ist das genaue Gegenteil der Fall. Für die Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto empfindet Gruppe C das Englische und das Lateinische als ähnlich hilfreich. Bezüglich der Bildung und Verwendung von estar + gerundio liegt die erstgenannte Sprache sogar im Vorteil. Im nächsten Kapitel werden die Ergebnisse der Reflexionsaufgabe besprochen und es wird darauf eingegangen, wie die Lernenden über die Nützlichkeit anderer Sprachen diskutieren. 7.3.2.2 Kategorie (E): Hilfe andere Sprachen und Sprachvergleiche Der Titel dieses Unterkapitels, der gleichzeitig auch den Namen des zweiten Großkategorien-Clusters darstellt, deutet auf die Schwierigkeit hin, explizite Sprachvergleiche von Aussagen zu trennen, welche die Nützlichkeit anderer Sprachen thematisieren. Aus diesem Grund werden Kommentare beider Typen nicht getrennt voneinander, sondern als zu einer Kategorie zugehörig behandelt. Des Weiteren wird aus den schon genannten Gründen auch in diesem Kapitel von einer Quantifizierung der Ergebnisse abgesehen. Da die Nützlichkeit sprachlicher Vorkenntnisse für den Erwerb des Spanischen größtenteils in Bezug auf eine konkrete Sprache thematisiert wird bzw. die Sprachvergleiche selbst mit einer konkreten Sprache angestellt werden, findet sich im Folgenden jeweils ein Kapitel zum Englischen, Französischen, Lateinischen und Deutschen. 7.3.2.2.1 Kategorie (E1): Englisch Da alle Probanden über Englischkenntnisse verfügen, finden sich in diesem Unterkapitel Aussagen von Lernenden aller drei Gruppen. Unter Kategorie (E1a) Keine Spezifikation wurden zahlreiche Äußerungen subsumiert, die zwar von einem positiven Einfluss des Englischen sprechen, diesbezüglich aber keine konkreten Gründe nennen. Beispielsweise erwähnt Teilnehmerin 314 lediglich, dass ihr das Englische „jetzt auch nicht so viel geholfen“ habe (Korpus B 308_314: 34). Dies impliziert aber durchaus, dass ein gewisser Nutzen dieser Sprache für das Lernen des Spanischen erkannt wird, was eine Einordnung unter Kategorie (E) rechtfertigt. In der nächsten Kategorie, (E1b) Ähnliche Grammatik(regeln) , wird darauf verwiesen, dass die Grammatiken der beiden Sprachen ähnlich seien oder dass die Tempora ähnlich funktionierten. Teilnehmerin 920 spricht davon, dass ihr „das Englische […] bei der Grammatik“ etwas geholfen habe (Korpus B 920_923: 22-23). Sie erkennt also eine gewisse Nützlichkeit, beschreibt diese aber nicht genauer. Es finden sich aber auch Aussagen, die sich konkret auf die Tempusverwendung beziehen. Diesbezüglich äußert Proband 521 beispielsweise, dass er <?page no="276"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 277 „durch Latein und Englisch […] so ein paar Vorkenntnisse [hatte; ] und […] dann wusste man schon, welche Zeitform da auch im Kontext reinpasst“ (Korpus B 521_523: 18-19). Teilnehmerin 807 nennt ein ähnliches Beispiel: Ja. Also ich finde, Englisch ist schon oft hilfreich, wenn man da auch schon die verschiedenen Zeiten gelernt hat und dann kann man sie ein bisschenein bisschen ähnlich sind sie ja, wann man halt welche verwendet und dann kann man sich das ein bisschen merken, finde ich. (Korpus B 807_810: 21-24) Sie verweist explizit darauf, dass die Tempora bzw. die Tempusfunktionen im Englischen teilweise Ähnlichkeiten zum Spanischen besäßen, weshalb sie sich die spanischen besser merken könne. In Kategorie (E1c) Vergleich der Tempusfunktionen und -formen werden schließlich explizite Vergleiche zum Englischen angeführt. Beispielsweise geben die Teilnehmerinnen 801 und 802 an, dass ihnen zwei konkrete Formen, das present progressive und das present simple , beim Lernen des Spanischen geholfen hätten (Korpus B 801_802: 22-27). Ein weiterer konkreter Sprachvergleich wird von Testperson 919 genannt: Ähm, bei mir [war] das Englische [nützlich]. We: : : il […] da gibt es das ja auch mit der langen Handlung und dass das dann unterbrochen wird. Irgendwie hat das halt alles so geholfen. Aber das ist eher bei estar und gerundio . (Korpus B 905_919: 36-38) Sie erklärt, dass es sowohl im Spanischen als auch im Englischen das Prinzip gebe, dass eine „langen Handlung“ im Verlauf von einer neu eintretenden unterbrochen wird. Diese Erkenntnis, dass das Inzidenzschema in beiden Sprachen existiert, habe ihr vor allem bei der Kontrastierung von estar + gerundio und perfecto simple geholfen. Einen ähnlichen Vergleich zwischen der englischen Verlaufsform und dem spanischen Gerundium stellt Teilnehmerin 212 an: „Und beim Englischen fand ich schon manchmal, ähm zum Beispiel die Verlaufsform oder so hat mich dann da ein bisschen erinnert an das Gerundium oder so“ (Korpus B 202_212: 66-68). Auch diese Lernende nimmt eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Formen wahr und stuft sie als hilfreich ein. Schließlich beschreibt Probandin 414 anhand von Beispielsatz C zuerst die Funktion der spanischen Progressivperiphrase und erwähnt dann, dass ihr diesbezüglich das Englische geholfen habe, weil die Funktionsweise in dieser Sprache ähnlich sei: <?page no="277"?> 278 7 Darstellung der Ergebnisse Also ich habe es [Anm.: das Gerundium] genommen, we: : : il der Pianist hat gerade gespielt, als wir gekommen sind. Also estaba tocando , also er war gerade dabei, als sie gekommen sind und nicht Er hat gespielt als sie kamen . Also er war ja direkt dabei. Und da haben mir eigentlich andere Sprachen schon geholfen, weil im Englischen oder so ist es ja dasselbe. (Korpus B 413_414: 31-35) Derartige Aussagen veranschaulichen, dass die Teilnehmer eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Spanischen und dem Englischen erkennen und dies, je nach Grad des metasprachlichen Bewusstseins, verbalisieren. Daraus ergibt sich ein Spektrum des metasprachlichen Wissens, das von einer Thematisierung dessen, dass es Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen gibt, bis zu einem expliziten Sprachvergleich (Formund/ oder Funktionsvergleich) unter Verwendung von Fachtermini reicht. Ein solcher findet meist zwischen den beiden Progressivperiphrasen statt, was darauf hindeutet, dass diese Form-Bedeutungs- Äquivalenz gewinnbringend für den Spanischerwerb ist. Ein Sprachvergleich zwischen dem simple past und dem perfecto simple tritt im Datensatz nicht auf. Im nächsten Kapitel wird unter anderem auf derartige Sprachvergleiche mit dem Französischen eingegangen. 7.3.2.2.2 Kategorie (E2): Französisch (Gruppe B) Aussagen zur Nützlichkeit des Französischen bzw. konkrete Sprachvergleiche mit dieser Sprache finden sich naturgemäß nur bei Lernenden der Gruppe B, da sie die einzigen sind, die über entsprechende Vorkenntnisse verfügen. Unter Kategorie (E2a) Keine Spezifikation wurden alle Äußerungen subsumiert, in welchen das Französische als hilfreich eingestuft wird, ohne dass dabei konkrete Gründe genannt werden. Teilnehmerin 420 sagt beispielsweise lediglich, dass Französisch nur ein bisschen geholfen habe (Korpus B 420_422: 55-56). Etwas häufiger wird thematisiert, dass diese Sprache mit dem Spanischen gewisse Ähnlichkeiten bezüglich der Grammatik besitze ((E2b) Ähnliche Grammatik- (regeln) ). Probandin 510 gibt beispielsweise an, sich am Französischen orientiert zu haben, weil die Tempora in beiden Sprachen gleich gebildet werden würden und sie aufgrund ihres Sprachgefühls wisse, wann sie welche Form benutzen müsse. So sagt sie in dem schon auf S. 255 wiedergegebenen Zitat, dass sie die Regeln des Französischen einfach auf das Spanische „übertragen“ habe (Korpus B 510_514: 1-8). Teilnehmerin 511 erklärt außerdem, dass beide Sprachen bei der Tempusunterscheidung und bei den Signalwörtern Ähnlichkeiten aufweisen würden ((E2c) Signalwörter ): <?page no="278"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 279 [B]ei der Unterscheidung der Zeiten, also bei den Signalwörtern, die sind ja auch ähnlich und auch die Bildung der Formen. Nein, die Bildung der Formen jetzt vielleicht nicht so, aber -die Regeln. (Korpus B 506_511: 39-41) Wie dieses Zitat zeigt, erkennt Probandin 511 keine Ähnlichkeiten zwischen dem Französischen und dem Spanischen im Hinblick auf die Formenbildung. Im Korpus finden sich aber durchaus Aussagen, in welchen die formalen Ähnlichkeiten beider Sprachen ausfindig gemacht und als hilfreich eingeschätzt werden ((E2d) Formenbildung ). Interessanterweise erklärt Testperson 511 im nächsten Zitat das genaue Gegenteil zur eben dargestellten Textpassage, nämlich dass ihr das Französische beim Formenlernen und auch bei den Signalwörtern geholfen habe, sie aber keine funktionalen Parallelen - im Hinblick auf die Wahl der Verbform in der spanischen Interpretationsaufgabe - erkenne: Also bei meiner Wahl [Anm.: in der spanischen Interpretationsaufgabe] haben irgendwie andere Sprachen nicht geholfen, weil ich irgendwie Spanisch neu gelernt habe. Natürlich, es gibt Parallelen zum Französischen und zum Englischen. Mein Französisch hat mir beim Formenlernen und so geholfen und auch bei den marcadores - ich weiß es gerade nicht auf Deutschbei den Signalwörtern, aber -bei meiner Auswahl eher nicht. (Korpus B 506_511: 7-11) In der letzten Subkategorie (E2e) Vergleich der Tempusfunktionen und -formen finden sich zahlreiche Aussagen, in denen die beiden Sprachen explizit miteinander verglichen werden. Diese Sprachvergleiche finden meistens zwischen dem passé composé/ imparfait und dem perfecto simple/ imperfecto statt. Sprachvergleiche, die auch mit einem niedrig ausgeprägten metasprachlichen Wissen möglich sind, manifestieren sich beispielsweise dadurch, dass lediglich die Formen im Französischen genannt werden und betont wird, dass die Tempora im Spanischen ähnlich funktionierten. Dies wird durch das folgende Zitat veranschaulicht: „Ä: : : hm also ich fand, am ehesten geholfen hat das Französische, weil das halt auch da ähnlich ist mit imparfait und passé composé “ (Korpus B 707_711: 29-30). Eine weitere Teilnehmerin verweist ebenfalls darauf, dass imparfait / passé composé und imperfecto/ perfecto simple denselben Prinzipien unterlägen (Korpus B 705_718: 34-38; für das vollständige Zitat siehe S. 256). Es werden aber auch elaboriertere Sprachvergleiche angestellt, in denen sowohl die Funktion beschrieben wird als auch die entsprechenden Formen genannt werden. Beispielsweise geht Testperson 714 zuerst auf die französischen und spanischen Formen ein, um dann zu erklären, dass in beiden Sprachen das <?page no="279"?> 280 7 Darstellung der Ergebnisse imperfecto für Hintergrundhandlungen und das perfecto simple für neueinsetzende Handlungen verwendet werde: Ja, weil dort ist es ja zum Beispiel imparfait und passé composé , die man unterscheidet und hier ist es halt imperfecto und indefinido und da ist auch so eine Ähnlichkeit. Das ist auch so mit der Hintergrundhandlung und was jetzt neu eintritt, das hat mir eigentlich am meisten geholfen. (Korpus B 714_715: 52-55) Neben zahlreichen Vergleichen zwischen den eben genannten Formen, finden sich vereinzelt auch Sprachvergleiche zwischen der spanischen und der französischen Progressivperiphrase ( être en train de ) : 412: Ja, er hat es gerade gemacht, deswegen estaba tocando . --- So wie im Französischen. Mit ähm -oh, wie heißt das denn nochmal? Être de faire quelque chose oder so. 415: Im Französischen haben wir doch gar nicht jetzt im Moment gelernt. 412: Natürlich, dieses de faire quelque chose , wenn man etwas gerade gemacht hat, dann war das irgendwieja, weiß nicht mehr, was das war. 415: Achso. Ja, passt trotzdem. (Korpus B 412_415: 37-42) Im Zitat erklärt Teilnehmerin 412 im ersten Schritt die Funktion von estar + gerundio , nämlich dass etwas gerade gemacht werde. Anschließend vergleicht sie die spanische Konstruktion mit der französischen Progressivperiphrase ( être en train de faire ), an die sich ihre Partnerin nicht mehr erinnern könne. Auch Probandin 412 hat Schwierigkeiten, eine detaillierte Erklärung abzugeben, ist aber immerhin noch in der Lage, das einmal Gelernte zu aktivieren und mehr oder weniger korrekt zu verbalisieren. Dieses (teilweise) Vergessen der französischen Progressivperiphrase trifft auf einen Großteil der Lernenden zu. So findet sich dieser Sprachvergleich nur zwei Mal im gesamten Datensatz. Dies bestätigt, dass die französische Progressivperiphrase in der Reflexionsaufgabe seltener explizit thematisiert wird als die englische. Auch im Hinblick auf die quantitativen Ergebnisse des Fragebogens wird dieser Sprachvergleich als verhältnismäßig wenig hilfreich eingeschätzt (siehe Kapitel 7.3.2.1). In Gruppe B finden sich neben Lernenden, die das Englische als Transferbasis eher ablehnen und das Französische bevorzugen, auch solche, die auf beide Sprachen zurückgreifen. Dies zeigt sich im nächsten Zitat, in welchem die Probandinnen 209 und 211 Parallelen zwischen dem Spanischen und beiden Zweitsprachen erarbeiten: <?page no="280"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 281 209: ‚Haben Dir andere Sprachen bei Deiner Entscheidung geholfen? ‘ Also ich denke, dass das Englische bei manchen Fragen schon sehr hilfreich war, zum Beispiel besonders ähm mit dem estar plus ähm gerundio , zum Beispiel bei der C, estaba tocando . 211: Genau, und also mir hat auch sehr das Französische geholfen, weil da ja vieles, was Grammatikwas grammatisch […] und auch, was ähm zeitlich, die Zeitformen angeht, sehr viele Gemeinsamkeiten gibt. Und ja, zum Beispiel so mit dem imparfait oder mit dem äh passé composé konnte man es gut vergleichen. (Korpus B 209_211: 32-40) Testperson 209 nennt zwar keine konkrete Funktion der Progressivperiphrase, erkennt aber, dass das Englische und das Spanische über eine solche verfügen und kann sie zueinander in Bezug setzen. Probandin 211 stimmt zu und geht zusätzlich darauf ein, dass es bezüglich der Tempusverwendung mit dem Französischen Ähnlichkeiten gebe. Laut ihr sei die aspektuale Unterscheidung von imparfait und passé composé mit den entsprechenden spanischen Tempora vergleichbar. Insgesamt kann gesagt werden, dass bei den Lernenden der Gruppe B das metasprachliche Bewusstsein ebenfalls von einfachen Nennungen bis hin zu spezifischen Form- und Funktionsvergleichen reicht. Die meisten expliziten Sprachvergleiche in diesem Kapitel finden sich zwischen dem passé composé/ imparfait und dem perfecto simple/ imperfecto . Dies deutet darauf hin, dass die Lernenden trotz der unterschiedlichen Formenbildung (analytisches passé composé vs. synthetisches perfecto simple ) in der Lage sind, die zugrunde liegenden Funktionen zu erkennen und zu verbalisieren. 7.3.2.2.3 Kategorie (E3): Latein (Gruppe C) Aussagen über das Lateinische finden sich nur bei Lernenden der Gruppe C, da nur sie über entsprechende Vorkenntnisse verfügen. Wie in den anderen beiden Kategorien gibt es auch bezüglich des Lateinischen Probanden, die lediglich darauf hinweisen, dass ihnen diese Sprache geholfen habe, ohne diesbezüglich die Gründe anzuführen (Kategorie (E3a) Keine Spezifikation ). Im nächsten Beispiel, und dies ist sehr charakteristisch für Gruppe C, wird auf die Nützlichkeit des Englischen und des Lateinischen eingegangen: <?page no="281"?> 282 7 Darstellung der Ergebnisse 521: [U]ns [hat] vor allem Latein und Englisch geholfen […], weil wir haben ja kein Französisch und […] da Deutsch unsere einzige Muttersprache ist, haben wir uns eher auf das Lateinische und das Englische konzentriert. Also so war es zumindest bei mir. 523: [Also vielleicht ein bisschen Englisch so.] (Pause) […] 521: Ja also wie gesagt ähm, vor allem das Lateinische und das Englische haben uns geholfen und ja, genau. 523: Ja, das würde ich sagen. (Korpus B 521_523: 42-51) Vereinzelt gibt es aber auch Lernende, die weniger das Englische, sondern primär das Lateinische als nützlich beschreiben und erkennen, dass es bezüglich der Tempora Ähnlichkeiten gibt (Kategorie (E3b) Ähnliche Tempusverwendung ): 314: Ich finde, Englisch hat mir jetzt auch nicht so viel geholfen, aber so Latein, [so das mit] den Zeiten, so die Endungen halt auch. 308: [Ja, Latein.] Ja. [Insgesamt mit den Vokabeln auch in Latein. Jetzt nicht bei der] Studie, aber im Unterricht viel. 314: [Und so ein paar- Ja genau, Vokabeln.] Ja. (Korpus B 308_314: 34-37) Obwohl in diesem Beispiel das Englische nicht als komplett nutzlos charakterisiert wird, wird doch hervorgehoben, dass das Lateinische mehr helfe, und zwar vor allem im Hinblick auf die Tempora und deren Formenbildung, aber auch hinsichtlich des Wortschatzes. Eine Hilfe dieser Sprache bezüglich der Wahl zwischen perfecto simple und imperfecto in der spanischen Interpretationsaufgabe wird allerdings abgelehnt. Im Allgemeinen finden sich relativ viele Aussagen, die auf die Nützlichkeit des Lateinischen im Bereich des Wortschatzes eingehen. Dasselbe trifft auf die Formenbildung zu, wohingegen die Thematisierung bezüglich der Tempusverwendung eher marginal ist (nur zwei Aussagen im gesamten Datensatz). Hinsichtlich Kategorie (E3c) Formenbildung geht Teilnehmerin 525 beispielsweise darauf ein, dass das Imperfekt im Lateinischen und im Spanischen ähnlich gebildet werde. Daraufhin ergänzt ihre Partnerin, dass sie hinsichtlich der Bildung zustimme, dass das Lateinische aber für den Gebrauch nicht dienlich sei: <?page no="282"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 283 524: Äh ja, ich habe es, glaube ich, einfach nach Gefühl gemacht so das meiste, --weil so aus den Sprachen kann man sich nicht viel herleiten, finde ich persönlich. Vielleicht so manches- 525: Wie man es bildet vielleicht, [zum Beispiel] Imperfekt vom Lateinischen. Da ist ja dieses Bauen und das ist -ía und dann ist es ja logisch, dass es Imperfekt ist. 524: [Ja. Aber nicht den Gebrauch.] Ja. Ja gut, [das ist das Einzige.] (Korpus B 524_525: 1-6) Die Teilnehmer 517 und 522 gehen ebenfalls auf die Nützlichkeit im Bereich der Lexik und der Formenbildung ein: 522: Jedoch hat mir vor allem ähm Lateinalso Latein und Englisch hat mir geholfen, meistens äh für die Vokabeln. -- Und die Bildung vomvon den Wörtern in der Grammatik ist ziemlich- 517: Ähnlich mit dem Lateinischen. 522: Ähnlich mit dem Lateinischen, vor allem auch im Präsens -ist mir das im ersten Jahr schon aufgefallen. 517: Hm. Ja, da kann man sich halt auch viel herleiten. Sehe ich auch so. (Korpus B 517_522: 32-38) Dieses Zitat ist charakteristisch für die Ergebnisse im Allgemeinen. Die Lernenden erkennen prinzipiell Ähnlichkeiten bezüglich der Formenbildung und der Vokabeln. Im Unterschied zum Englischen und Französischen finden sich allerdings kaum Aussagen, in denen sie auf Funktionsäquivalenzen zwischen dem Spanischen und dem Lateinischen hinweisen. 7.3.2.2.4 Kategorie (E4): Deutsch Obwohl die Erstsprache aller Probanden Deutsch ist, wird im gesamten Datensatz kaum auf diese Sprache eingegangen. Eine Ausnahme stellen die Teilnehmerinnen 920 und 923 dar, die angeben, von anderen Sprachen - und somit auch vom Deutschen - beeinflusst worden zu sein (Kategorie (E4a) Keine Spezifikation ): 920: Ähm -bei den meisten [Sätzen] war es Bauchgefühl. (lacht) Aber ich glaube, ähm -es hat auch etwas Einfluss von anderen- [Sprachen] also vom Englischen oder so gegeben -ähm, […] oder auch aus dem Deutschen, wo man auch davon etwas ableiten kann. <?page no="283"?> 284 7 Darstellung der Ergebnisse 923: Bei mir war es auch hauptsächlich Bauchgefühl. Ich habe -eher vom Deutschen übernommen als vom Englischen u: : : nd ich war mir aber ähm meistens nicht sicher, ob es stimmen wird. (Korpus B 920_923: 4-8) In diesem Zitat spricht Testperson 920 davon, dass man sich gewisse Aspekte aus dem Deutschen ableiten könne. Diese Passage wird durch eine weitere Äußerung an einer anderen Stelle im Korpus bestätigt, an der sie sagt, dass ihr das Deutsche bei der Grammatik etwas geholfen habe (Korpus B 920_923: 22-23). Solche Ähnlichkeiten, die unter der Kategorie (E4b) Ähnliche Grammatik(regeln) subsumiert wurden, werden auch von den Teilnehmerinnen 818 und 819 angesprochen. Im folgenden Zitat wird allerdings nicht weiter thematisiert, um welche Ähnlichkeiten es sich handelt: 818: Ich meine, es sind dann auch teilweise Sachen im Spanischen, die mit dem Deutschen Ähnlichkeiten haben, aber nur Ähnlichkeiten. 819: Ja. 818: Ganz kleine. U: : : nd ja. (Korpus B 818_819: 64-68) Neben der Kategorie (E4c) Übersetzung , in welcher spanische Aussagen ins Deutsche übersetzt werden, um diese besser zu verstehen, gibt es schließlich eine Lernende, die erwähnt, dass ihr der deutsche Ausgangstext geholfen habe (Kategorie (E4d) Deutscher Kontext ; Korpus B 304_307: 20-21). Trotz der in Abschnitt 7.3 schon angesprochen Problematik einer Quantifizierung, muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Aussagen, die sich auf das Deutsche beziehen, im Vergleich zum Englischen, Französischen und Lateinischen äußerst marginal sind und daher einen geringeren Stellenwert im Datensatz einnehmen. Dies zeigt sich außerdem darin, dass keine konkreten Sprachvergleiche zwischen dem Deutschen und dem Spanischen angestellt werden. Diesbezüglich hat Kapitel 7.3.2.2 also dargelegt, dass die Lernenden Sprachvergleiche vor allem mit ihren Zweitsprachen und nicht mit ihrer Erstsprache anstellen. Bezüglich der Tempusfunktionen und auch im Hinblick auf konkrete Sprachvergleiche greifen sie primär auf aktiv gelernte Sprachen wie das Englische oder das Französische zurück. Das Lateinische wird eher hinsichtlich der Formenbildung oder des Wortschatzes als hilfreich wahrgenommen. In den Daten finden sich aber auch Aussagen, die Sprachvergleiche als nutzlos ablehnen. Derartige Beispiele werden im nächsten Kapitel thematisiert. <?page no="284"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 285 7.3.2.3 Kategorie (F): Warum andere Sprachen nicht helfen Nachdem im letzten Abschnitt auf die Nützlichkeit von anderen Sprachen bzw. auf konkrete Sprachvergleiche eingegangen wurde, befasst sich dieses Kapitel mit der Frage, warum Lernende andere Sprachen als nutzlos einschätzen. An erster Stelle finden sich in Kategorie (F) Andere Sprachen helfen nicht oder wenig relativ viele Aussagen, in denen die Lernenden die Nützlichkeit anderer Sprachen negieren, ohne dafür einen entsprechenden Grund zu nennen (Kategorie (F1a) Kein Grund ). Dies sind häufig Kommentare, in denen keine konkrete Sprache, sondern sprachliches Vorwissen im Allgemeinen abgelehnt wird. Ein Beispiel für diese Subkategorie wird von den beiden Teilnehmern 201 und 207 genannt: 201: Wie bist du zu deiner Wahl [Anm.: in der spanischen Interpretationsaufgabe] gekommen? 207: Ich habe mir aufgeschrieben- 201: Nach Regeln halt. 207: Andere Sprachen haben mir nicht geholfen. 201: Nee, eigentlich nicht. (Korpus B 201_207: 31-35) Auch Proband 307 sagt, dass ihm andere Sprachen „gar nicht oder kaum geholfen haben“ (Korpus B 304_307: 18-19). Ähnliches thematisiert auch Teilnehmerin 418, wenn sie sagt, dass ihr „andere Sprachen […] nicht so bei der Entscheidung geholfen [haben]“ (Korpus B 418_419: 31). In den nächsten vier Unterkapiteln finden sich sprachspezifische Aussagen zum Englischen, Französischen, Lateinischen und Deutschen. 7.3.2.3.1 Kategorie (F1): Englisch Viele Lernenden erwähnen, dass ihnen das Englische nicht helfe, ohne dass sie dafür einen konkreten Grund angeben (Kategorie (F1a) Kein Grund ). Beispielsweise sagt Teilnehmerin 816, dass sie sich beim Spanischlernen noch nie am Englischen orientiert habe (Korpus B 816_822: 27). Eine ähnlich klare Ablehnung findet sich bei Testperson 713, die kundtut, dass ihr diese Sprache überhaupt nicht geholfen habe (Korpus B 706_713: 16). Man trifft aber auch Aussagen an, in welchen begründet wird, warum das Englische als nutzlos empfunden wird. Aus den entsprechenden Kommentaren ergeben sich die folgenden Kategorien: (F1b) Schwierigkeiten im Englischen , (F1c) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht , (F1d) Lehrer hat Spanisch und Englisch nicht verglichen , (F1e) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert und (F1f) Andere Formenbildung . <?page no="285"?> 286 7 Darstellung der Ergebnisse In Kategorie (F1b) Schwierigkeiten im Englischen erklärt die Lernende 820, dass sie nicht auf das Englische zurückgegriffen habe, weil sie in dieser Sprache Schwierigkeiten habe, weshalb ein Sprachvergleich nicht nützlich sei: 821: Ä: : : hm, haben dir andere Sprachen bei deiner Entscheidung geholfen? 820: Nicht wirklich. 821: Und wieso nicht? 820: Weil ich mich jetzt nicht wirklich in Englisch leichttue, das bringt mir dann auch nichts. (Korpus B 820_821: 13-17) Im einzigen Beispiel der Kategorie (F1c) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht geht Proband 810 darauf ein, dass er eine sprachvergleichende Herangehensweise nicht verinnerlicht habe, und deshalb auch nicht mit anderen Sprachen vergleiche: Also -mir haben andere Sprachen nicht wirklich bei meiner Entscheidung [Anm.: in der Interpretationsaufgabe] geholfen, da ich das irgendwie nicht so verinnerlicht habe, dass ich es mir irgendwie mit Englisch anschaue oder -mit Deutsch. Dass ich mir mit Englisch helfe, hat mir nicht wirklich geholfen […]. (Korpus B 807_810: 16-20) Eine mögliche Erklärung für diese mangelhaften Kenntnisse einer sprachvergleichenden Herangehensweise findet sich in der nächsten Kategorie (F1d) Lehrer hat Spanisch und Englisch nicht verglichen . Hier wird betont, dass das Englische nicht hilfreich sei, weil Sprachvergleiche im Unterricht nie thematisiert worden seien: Ähm, ja also mir hat zum Beispiel das Englische überhaupt nicht geholfen. Vielleicht auch, weil wir im Unterricht eigentlich nie gesagt haben, dass man das miteinander vergleichen kann. Weil es immer hieß, dass das einfach nicht geht, weil das doch verschieden ist. (Korpus B 921_922: 27-30) Teilnehmer 805 erklärt ebenfalls, dass seine Lehrerin ihm nicht beigebracht habe, wie man aus dem Englischen etwas für das Spanische übernehmen könne. Dadurch habe er das Spanische als eigenständige Sprache gelernt (Kategorie (F1e) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert ): <?page no="286"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 287 Ähm ja -leider hat meine vorherige Lehrerin uns das jetzt nicht so beigebracht, was man da aus dem Englischen für das Spanische übernehmen kann. Und dadurch habe ich darauf immer sehr wenig geachtet, weil ich eben Spanisch als eigenständige Sprache ähm gelernt habe und nicht über das Englische. Und ja, deshalb habe ich da nicht wirklich viele Verbindungen. (Korpus B 805_806: 29-33) Schließlich verweisen die Probanden 512 und 513 in der letzten Kategorie (F1f) Andere Formenbildung darauf, dass ihnen das Englische nicht geholfen habe, weil die Formenbildung relativ anders funktioniere: 513: Ja, ich glaube- Also das Englische hat mir jetzt nicht geholfen. 512: Nee, mir auch nicht. Weil da sind auch die Bildungen so ein bisschenalso ziemlich anders. (Korpus B 512_513: 73-75) Dieses Kapitel hat mehrere Gründe angeführt, warum das Englische als nicht hilfreich eingeschätzt wird. Im nächsten Abschnitt wird dieselbe Analyse für das Französische durchgeführt. 7.3.2.3.2 Kategorie (F2): Französisch (Gruppe B) Bezüglich des Französischen wird in der Kategorie (F2a) Kein Grund thematisiert, dass diese Sprache nicht hilfreich sei, ohne dass für eine solche Behauptung eine Begründung abgeliefert wird (z. B. Korpus B 205_206: 24). Jene Aussagen, die einen Grund beinhalten, werden als eigene Kategorie angegeben: (F2b) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert , (F2c) Ähnlichkeit zu passé composé und imparfait aber schon vergessen und (F2d) Ähnliche Regeln führen zu Verwirrung . In Bezug auf Kategorie (F2b) Auf Regeln der Zielsprache konzentriert finden sich auch für das Französische Kommentare, die verdeutlichen, dass Lernende auf diese Sprache nicht zurückgreifen, weil sie sich auf die Regeln der Zielsprache konzentrieren: Ja also ich finde, mir persönlich hat jetzt beides [Anm.: Englisch und Französisch] nicht wirklich geholfen, weil ich habe es [Anm.: das Spanische] halt einfach so gelernt, wie halt die Regeln sind und das jetzt nicht irgendwie auf andere Sprachen bezogen. (Korpus B 704_708: 36-38) Des Weiteren gibt es Probanden, die zwar gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Spanischen und dem Französischen erkennen, diese aber nicht als nützlich einstufen. Beispielsweise spricht Teilnehmerin 210 davon, dass die aspektuelle Unterscheidung zwar in beiden Sprachen ähnlich funktioniere, dass sie die <?page no="287"?> 288 7 Darstellung der Ergebnisse Funktionsweise im Französischen aber schon vergessen habe, weshalb diese Sprache nicht hilfreich sei (Kategorie (F2c) Ähnlichkeit zu passé composé und imparfait aber schon vergessen ): Ja, ich weiß, dass es in Französisch ein bisschen ähnlich ist mit dem imparfait und dem passé composé und sowas, aber ich hab’ das schon so vergessen, dass ich dasdas hat mir nicht so geholfen. (Korpus B 208_210: 38-40) In der nächsten Textpassage spricht Teilnehmerin 417 ebenfalls Ähnlichkeiten zwischen dem Französischen und dem Spanischen an, ergänzt allerdings, dass derartige Parallelen bei ihr zu Verwirrung führen würden ((F2d) Ähnliche Regeln führen zu Verwirrung ): Ja, mit Französisch kommt man echt leicht durcheinander. Vor allem wenn die Regeln so ähnlich sind, aber trotzdem anders und man das zum Beispiel gleichzeitig lernt […]. (Korpus B 416_417: 88-90) Die Lernende spricht im Zitat einen Vorbehalt an, der oft gegen eine mehrsprachigkeitsdidaktische Herangehensweise angeführt wird. Derart kritische Aussagen sind aber im Vergleich zu den positiven Kommentaren in Kapitel 7.3.2.2 eher selten. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, ob diese skeptische Haltung bezüglich des Lateinischen stärker ausgeprägt ist als hinsichtlich des Französischen. 7.3.2.3.3 Kategorie (F3): Latein (Gruppe C) In diesem Kapitel wird auf die unterschiedlichen Gründe eingegangen, warum das Lateinische als nicht förderlich für den Erwerb des Spanischen eingeschätzt wird. In der ersten Kategorie (F3a) Kein Grund finden sich Aussagen, in welchen die Nützlichkeit dieser Sprache abgelehnt wird, ohne dass dafür ein Grund genannt wird (z. B. Korpus B 205_206: 27). Sobald ein Grund angesprochen wurde, wurde er einer entsprechenden Kategorie zugeordnet: (F3b) Ähnlichkeiten sind keine Hilfe , (F3c) Verwendung bringt nichts , (F3d) Schwierigkeiten im Lateinischen und (F3e) Reine Übersetzung . In Kategorie (F3b) Ähnlichkeiten sind keine Hilfe behauptet Teilnehmerin 816, dass es zwischen dem Lateinischen und dem Spanischen hinsichtlich der Grammatik keine Ähnlichkeiten gebe: „Ich habe einmal Latein gehabt, also von den Vokabeln her ist manches ähnlich, aber von der Grammatik her eigentlich gar nicht“ (Korpus B 816_822: 31). Wie schon in Kapitel 7.3.2.2.3 wird in diesem Zitat eine gewisse Hilfe des Lateinischen im Bereich der Lexik erkannt, die aber im Hinblick auf die Grammatik als nutzlos abgelehnt wird. Andere Lernende <?page no="288"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 289 gestehen dem Sprachvergleich zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen einen gewissen Sinn zu, lehnen ihn aber als nutzlos ab, sobald er auf das Spanische bezogen wird: Also geholfen hat halt vielleicht ein bisschen das Englische und halt Latein, ja: : : -- Durch das Lateinische weiß ich halt, wann ich welche Zeit nutzen kann, zumindest kann ich es im Deutschen, aber halt auf das Spanische bezogenja, eigentlich eher nicht so. (Korpus B 705_718: 27-30) Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass es zwar bezüglich der Verbformen an sich schon Ähnlichkeiten gebe, dass diese aber hinsichtlich der Verwendung nicht so deutlich erkennbar seien (Kategorie (F3c) Verwendung bringt nichts ): Also im Lateinischen ist es halt so, dass die Verbformen halt ähnlich sind wie im Spanischen, also Vergangenheit oder Gegenwart und so. Aber sonst, wenn man es benutzt, nicht so deutlich. (Korpus B 705_718: 39-41) Außerdem erklären manche Lernende in Kategorie (F3d) Schwierigkeiten im Lateinischen , dass sie in dieser Sprache Schwierigkeiten hätten, weshalb sie auch für den Erwerb des Spanischen unnütz sei. Teilnehmerin 520 betont beispielsweise, dass sie im Lateinischen ohnehin zu schlecht sei: Ähm, andere Sprachen haben mir nicht geholfen, außer vielleicht ein bisschen Englisch, aber hm, naja. In Latein bin ich eh zu schlecht. (lacht) (Korpus B 520_528: 17-18) Schließlich wird unter Kategorie (F3e) Reine Übersetzung angeführt, dass das Lateinische keine aktiv gelernte Sprache sei und nur zum Übersetzen ins Deutsche verwendet werde, und deshalb für das Lernen des Spanischen nutzlos sei: 524: Latein ist halt so eine Sprache, da ist ein Satz und du übersetzt es einfach und du weißt nicht wann du das benutzt oder so. Das steht einfach da. 525: Ja, man kann es jaman muss es auch nie sprechen und man muss auch nie einen Text schreiben oder so. Man muss auch nie sagen- O. K., man muss sagen, was für eine Zeit es ist, aber man muss sie nur erkennen, man muss nicht sagen, O. K., da müsste jetzt eigentlich die Zeit stehen. (Korpus B 524_525: 56-62) <?page no="289"?> 290 7 Darstellung der Ergebnisse 7.3.2.3.4 Kategorie (F4): Deutsch Es wurde schon darauf hingewiesen, dass sich bezüglich des Deutschen im gesamten Korpus nur sehr wenige Aussagen finden. Im Wesentlichen lassen sich drei Subkategorien bilden, in denen thematisiert wird, dass das Deutsche für den Erwerb des Spanischen nicht hilfreich sei: (F4a) Kein Grund , (F4b) Sprachvergleiche nicht verinnerlicht und (F4c) Deutsches Perfekt sei IMP . Bezüglich Kategorie (F4a) Kein Grund erwähnen die Lernenden 816 und 822, dass sie nicht im Deutschen „schauen“ würden, wie die Tempora funktionierten (Korpus B 816_822: 28-29). Teilnehmer 810, der schon bezüglich des Englischen gesagt hat, dass er eine sprachvergleichende Herangehensweise nicht verinnerlicht habe, sagt dies in Kategorie (F4b) auch bezüglich des Deutschen (Korpus B 807_810: 16-20). Des Weiteren findet sich eine Person, die bei der Besprechung von Beispielsatz F erklärt, dass im deutschen Ausgangssatz das Perfekt stehe, weshalb im Spanischen das imperfecto verwendet werden müsse ((F4c) Deutsches Perfekt sei IMP ). Gerade solche Sprachvergleiche mit dem Deutschen dürften einen negativen Einfluss auf die Performanz im Spanischen haben. Das entsprechende Zitat ist auch auf Seite 254 wiedergegeben, wird aber zur besseren Lesbarkeit an dieser Stelle noch einmal abgedruckt: Ähm, ich glaube, es ist ‚Henry construía la casa‘, weil da steht ‚Letzten Monat hat er mit Hilfe seiner Kollegen endlich das Haus fertig gebaut‘ und das ist ja auch imperfecto mit hat und gebaut und deswegen glaube ich, dass es imperfecto ist. (Korpus B 410_411: 44-47) Rückblickend lässt sich sagen, dass die Ergebnisse von Kapitel 7.3.2 Nützlichkeit von Sprachvergleichen demonstriert haben, dass die Lernenden bewusste Sprachvergleiche vor allem zwischen einer L2 und der L3 Spanisch durchführen und entsprechend verbalisieren. Diesbezüglich greifen sie primär auf eine aktiv gelernte Sprache zurück, weshalb Vergleiche zwischen dem Lateinischen und dem Spanischen hinsichtlich der in der vorliegenden Studie behandelten sprachlichen Phänomene sehr marginal sind. Im Hinblick auf das Englische sprechen die Teilnehmer primär die Parallele zwischen be + V-ing und estar + gerundio an (eine Ähnlichkeitsbeziehung). Ein Sprachvergleich zwischen dem simple past und dem perfecto simple ist interessanterweise nicht aufzufinden. Sie benennen auch keine (funktional-semantischen) Parallelen zwischen den Habitualitätsperiphrasen used to oder would + Infinitiv und dem spanischen imperfecto . Im Hinblick auf das Französische finden sich vor allem Sprachvergleiche zwischen passé composé und perfecto simple bzw. zwischen imparfait und imperfecto . Dies zeigt, dass die Lernenden auch in Kontrastbeziehungen Sprachvergleiche durchführen und vermutlich gewinnbringend nutzen können. Vereinzelt wird auch <?page no="290"?> 7.3 Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden 291 auf die Progressivperiphrase être en train de hingewiesen. Ein Sprachvergleich zum französischen passé simple ist nicht aufzufinden. Es wird allerdings auch in zahlreichen Aussagen thematisiert, dass andere Sprachen beim Spanischerwerb nicht hilfreich seien. Laut den Probanden ist dies vor allem darauf zurückzuführen, dass sie ein zu niedriges Sprachniveau in der entsprechenden L2 besäßen oder dass sie eine sprachvergleichende Herangehensweise nicht verinnerlicht hätten. Gemäß den Aussagen einiger Teilnehmer ist eine mögliche Erklärung dafür, dass eine solche Herangehensweise im Spanischunterricht nicht ausreichend durchgeführt werde. <?page no="292"?> 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Nachdem in Kapitel 7 die Ergebnisse der vorliegenden Studie präsentiert wurden, werden im Folgenden die zahlreichen Teilergebnisse der quantitativen und der qualitativen Analyse zusammengefasst, um so die Kernaussagen festzuhalten. Im Anschluss daran werden sie interpretiert und unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsliteratur diskutiert. Es folgt ein Kapitel, in dem die Limitationen aufgezeigt werden. Einige Handreichungen für den schulischen Fremdsprachenunterricht sowie ein kurzes Fazit beschließen das vorliegende Werk. 8.1 Zusammenfassung der Ergebnisse 8.1.1 Ergebnisse des quantitativen Teils In diesem Kapitel werden die wichtigsten Befunde der quantitativen Analyse kurz und prägnant zusammengefasst. Es beginnt mit den Ergebnissen hinsichtlich des Einflusses des englischen Aspektwissens (Hypothesenblock 1), stellt dann diejenigen des Hypothesenblocks 2 89 vor und resümiert schließlich die Effekte des französischen Aspektwissens (Hypothesenblock 3). Im Wesentlichen sprechen die Resultate des ersten Hypothesenblocks für einen positiven Einfluss des englischen Aspektwissens auf den Erwerb von perfektivem und progressivem Aspekt im Spanischen. Obwohl in den mündlichen Sprachdaten kaum progressive Kontexte produziert werden, kann - vor allem im Hinblick auf die Daten der Interpretationsaufgabe - ein derart positiver Effekt für die Progressivperiphrase estar + gerundio festgestellt werden. Für das imperfecto hingegen findet sich keine positive Wirkung, und zwar weder in progressiven, noch in kontinuativen und habituellen Kontexten. Die Grundannahme, dass sich Transfer primär in Ähnlichkeitsbeziehungen positiv auswirkt, kann demnach bestätigt werden. Hinsichtlich der Daten der Interpretationsaufgabe zeigt sich in perfektiven Kontexten zwar ein positiver Einfluss mit allen lexikalischen Aspektklassen, dieser ist allerdings nur mit telischen Prädikaten, das heißt in prototypischen Kontexten, signifikant. In 89 Die Ergebnisse bezüglich des Einflusses von Lateinkenntnissen werden im Hauptteil der Ergebnisinterpretation nicht besprochen. In Kapitel 8.4 wird allerdings ein kurzer Ausblick auf den möglichen Effekt dieser Sprache gegeben. <?page no="293"?> 294 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse progressiven Kontexten lässt sich ein positiver Effekt sowohl mit telischen als auch mit aktivischen Prädikaten erkennen. Im zweiten Hypothesenblock wurde der Einfluss der schulischen Sprachenfolge untersucht. Bezüglich perfektiver Kontexte trifft man einen leichten Vorteil von Lernenden an, die außer L2-Englischkenntnisse über keine weiteren sprachlichen Vorkenntnisse verfügen (Gruppe A). Im Hinblick auf estar + gerundio zeigt sich hingegen kein Unterschied zwischen den drei Gruppen. Hinsichtlich der Verwendung/ Akkuratheit des imperfecto in progressiven und kontinuativen Kontexten lässt sich vor allem in den Daten der Interpretationsaufgabe ein leichter Vorteil von Lernenden mit Französischkenntnissen (Gruppe B) erkennen. Ein solcher Effekt ist in der habituellen Kondition nur in der Bildgeschichte und nicht in der Interpretationsaufgabe vorhanden. Im Folgenden werden die Resultate der Hypothesen 3a bis 3e zusammengefasst, die nur für Lernende der Gruppe B getestet wurden. In den Ergebnissen der Bildgeschichte wie auch in jenen der Interpretationsaufgabe ist ein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens in perfektiven und in habituellen Kontexten gegenwärtig. In der Interpretationsaufgabe manifestiert sich darüber hinaus ein positiver Effekt in der progressiven Kondition, und zwar sowohl wenn das perfecto simple mit dem imperfecto als auch mit estar + gerundio kontrastiert wird. In kontinuativen Kontexten kann von solch einem positiven Einfluss nur bedingt gesprochen werden, obwohl sich durchaus auch hier leichte Tendenzen ablesen lassen. Eine multiple lineare Regressionsanalyse bestätigt außerdem, dass das französische Aspektwissen in allen außer kontinuativen Kontexten einen größeren Einfluss auf den L3-Aspekterwerb des Spanischen hat als das englische. Diese Sprache scheint somit im Allgemeinen als Standardtransferbasis herangezogen zu werden. Ein Einfluss des französischen Aspektwissens auf die Kombination von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt findet sich in den Sprachproduktionsdaten nicht. In der Interpretationsaufgabe hingegen hat es einen überwiegend positiven Effekt mit nahezu allen lexikalischen Aspektklassen. In perfektiven Kontexten mit statischen Prädikaten scheint dieser besonders stark ausgeprägt zu sein. In der nachstehenden Tabelle 35 finden sich die Ergebnisse auf einen Blick: <?page no="294"?> 8.1 Zusammenfassung der Ergebnisse 295 Hypothesen Ergebniszusammenfassung Hypothesen verifiziert Hypothesenblock 1 1a Positiver Einfluss des englischen Aspektwissens (mit telischen Prädikaten stärker) + 1b Positiver Einfluss des englischen Aspektwissens + 1c Kein positiver Einfluss des englischen Aspektwissens + 1d Kein positiver Einfluss des englischen Aspektwissens + 1e Kein positiver Einfluss des englischen Aspektwissens + Hypothesenblock 2 2a (i) Leichter Vorteil bei Lernenden der Gruppe A erkennbar (d. h. kein positiver Einfluss von Französisch-/ Lateinkenntnissen) ~ 2a (ii) ~ 2b (i) Kein Unterschied zwischen den Gruppen (d. h. kein Vorteil von Französisch-/ Lateinkenntnissen) ~ 2b (ii) + 2c (i) Leicht positiver Einfluss französischer Vorkenntnisse, aber nicht des Lateinischen + 2c (ii) - 2d (i) Kein Unterschied zwischen den Gruppen (d. h. kein Vorteil von Französisch-/ Lateinkenntnissen) - 2d (ii) - 2e (i) Leicht positiver Einfluss französischer Vorkenntnisse, aber nicht des Lateinischen + 2e (ii) - Hypothesenblock 3 3a Positiver Einfluss des französischen Aspektwissens und nicht des englischen (mit telischen Prädikaten stärker) - 3b Positiver Einfluss des französischen Aspektwissens (mit aktivischen Prädikaten stärker) + 3c Positiver Einfluss des französischen Aspektwissens + 3d Kein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens - 3e Positiver Einfluss des französischen Aspektwissens und nicht des englischen + Tab. 35: Zusammenfassung der Ergebnisse (+ bestätigt; ~ teilweise bestätigt; nicht bestätigt) <?page no="295"?> 296 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse 8.1.2 Ergebnisse des qualitativen Teils Durch die qualitative Analyse ausgewählter Probanden aus Gruppe A und B in den Kapiteln 7.1.4 und 7.2.4 wurden im Wesentlichen sechs Faktoren herausgearbeitet, welche die Ergebnisse der spanischen Interpretationsaufgabe erklären können: Lernende, die hohe Werte in dem Test erzielen, haben ein mittleres bis hohes Sprachniveau im Spanischen und einen mittleren bis hohen allgemeinen Notendurchschnitt. Sie empfinden das Englische (und das Französische) als hilfreich, besitzen ein hohes Aspektwissen im Englischen (und im Französischen) und stellen explizite Sprachvergleiche mit diesen Sprachen an, was auf ein relativ gut ausgeprägtes metasprachliches Bewusstsein schließen lässt. Des Weiteren verfügen sie über explizites Regelwissen im Spanischen. Auf Lernende mit niedrigen Werten in der Interpretationsaufgabe trifft genau das Gegenteil zu. Die qualitative Analyse der Daten der Reflexionsaufgabe zeigt außerdem, dass die Lernenden über unterschiedliche explizite Wissensrepräsentationen verfügen. Das perfecto simple charakterisieren sie als Tempus der Abgeschlossen- und Begrenztheit, der einmaligen, neuen und punktuellen Handlungen und Handlungsabläufe, der bestimmten Zeitangaben und Zeitpunkte sowie als Tempus der Vergangenheit. Das imperfecto bezeichnen sie als Tempus der Nicht- Abgeschlossenheit und Progressivität, das Handlungen im Verlauf darstelle. Laut den Aussagen der Schüler werde es außerdem bei Zuständen, Hintergrundhandlungen und Beschreibungen sowie bei sich wiederholenden und gewohnheitsmäßigen Vorgängen in der Vergangenheit verwendet. Darüber hinaus finde diese Form Anwendung, wenn über zeitlich ausgedehnte Handlungen (z. B. Kindheitserinnerungen) berichtet wird. Estar + gerundio werde ebenfalls für Handlungen, die sich im Verlauf befinden oder zeitlich ausgedehnt sind sowie für Zustände benutzt. Viele Teilnehmer beziehen sich außerdem auf das Inzidenzschema, um die Unterscheidung zwischen den Tempusformen zu erklären. Sie greifen dafür auch auf Signalwörter wie ayer oder de pequeño zurück. Ebenso finden sich einige Aushandlungsprozesse, die darauf schließen lassen, dass explizites Regelwissen nicht immer hilfreich ist. So gibt es Probanden, welche die Regeln der Tempora durcheinanderbringen (z. B. Unabgeschlossenheit für das perfecto simple ). Diese Verwechslungen gehen häufig mit einer Fehlinterpretation des in der spanischen Interpretationsaufgabe vorgegebenen deutschen Kontextes einher. Im Hinblick auf die Nützlichkeit von sprachlichem Vorwissen stellen die Lernenden konkrete Formund/ oder Funktionsvergleiche meist mit dem Englischen und dem Französischen an. Diesbezüglich vergleichen sie größtenteils die englische Progressivperiphrase be + V-ing mit der spanischen Konstruktion estar + gerundio . Hinsichtlich des Französischen sind es passé composé/ imparfait <?page no="296"?> 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 297 und perfecto simple/ imperfecto , die zueinander in Bezug gesetzt werden. Das Lateinische und das Deutsche werden, was konkrete Sprachvergleiche betrifft, kaum als Vergleichsbasis herangezogen. Es gibt aber auch Lernende, die andere Sprachen als nutzlos charakterisieren. Dies begründen sie beispielsweise damit, dass sie in den jeweiligen Zweitsprachen ein zu niedriges Sprachniveau hätten, weshalb sich diese nicht als Vergleichsbasis anbieten würden. Dies deutet darauf hin, dass ein gewisses interlinguales Wissen zwar vorhanden ist, dieses aber aufgrund der niedrigen Sprachkompetenz in den jeweiligen Zweitsprachen nicht ausreicht, um davon zu profitieren. Des Weiteren geben manche Probanden an, eine sprachvergleichende Herangehensweise nicht verinnerlicht zu haben, was darauf zurückzuführen sei, dass eine solche Methodik im Unterricht zu wenig thematisiert werde. Daraus folgt, dass sich diese Lernenden nur auf die Regeln der Zielsprache konzentrierten. Darüber hinaus wird auf der einen Seite thematisiert, dass andere Sprachen aufgrund der formalen Unterschiede nicht nützlich seien; auf der anderen Seite wird angeführt, dass Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen durchaus vorhanden seien, dass diese aber zu Verwirrungen führten. Bezüglich des Lateinischen wird außerdem noch erwähnt, dass es für die Tempusverwendung im Spanischen keine Hilfe sei, weil man in diesem Fach nur übersetze und die Sprache nicht aktiv anwende. Nach dieser kurzen Zusammenfassung werden die Ergebnisse im nächsten Kapitel interpretiert und unter Rückgriff auf die Forschungsliteratur diskutiert. 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen den Zweitsprachen Englisch und Französisch und der Drittsprache Spanisch Auf den ersten Blick veranschaulichen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass sich positiver Transfer primär in Ähnlichkeitsbeziehungen findet, das heißt in denjenigen Kontexten, in denen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen schon vorhandenem sprachlichem Wissen und der Zielsprache vorliegen (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 109; Ringbom 2007: 5-6; siehe Kapitel 4.2.1 für eine ausführliche Diskussion). Normalerweise geht die Wahrnehmung einer formalen Ähnlichkeit Hand in Hand mit der Annahme, dass dieser auch eine funktionalsemantische Ähnlichkeit zugrunde liegt (vgl. Ringbom 2007: 25). Die Lernenden nehmen an, dass die beiden Sprachen gleich funktionieren und assoziieren die zielsprachlichen Formen direkt mit den Bedeutungen der L1/ L2. Die nachfolgende Diskussion der Ergebnisse wird zeigen, dass in der Sprachenfolge der vorliegenden Arbeit die Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen <?page no="297"?> 298 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse einer L2, dem Englischen oder dem Französischen, und der L3 Spanisch stattfinden. Als empirische Evidenz dafür, dass eine solche Assoziation erfolgt, dient der Einfluss des englischen und französischen Aspektwissens bzw. die unterschiedlichen Sprachenfolgen, die aus der Einteilung in die Gruppen A, B und C resultieren. Die Diskussion wird außerdem zeigen, dass die Resultate der vorliegenden Arbeit mit den Annahmen der Default Past Tense Hypothesis vereinbar sind (vgl. Salaberry 2000, 2008), allerdings nur, wenn die Hypothese mit den Erkenntnissen der L3-Forschung verbunden und entsprechend ausgeweitet wird. Diese erweiterte Version wird als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet. In Kapitel 8.2.1 werden primär die Ergebnisse von Gruppe A diskutiert; in Abschnitt 8.2.2 diejenigen von Gruppe B. An manchen Stellen finden sich auch Ausblicke auf Gruppe C, deren Ergebnisse allerdings in einem separaten Kapitel besprochen werden. 8.2.1 Die Extended Default Past Tense Hypothesis Hinsichtlich des L2-Erwerbs des spanischen Aspektsystems hat Salaberry (1999, 2008) die Default Past Tense Hypothesis vorgeschlagen (siehe Kapitel 5.1.1), mit der er argumentiert, dass Lernende in den Anfangsstadien dazu tendieren, Tempus- und Aspekt-Marker ihrer Erstsprache zu transferieren: [L]earners will be initially inclined to transfer whatever inflectional or periphrastic markers of aspectual meaning they have in their native language (Salaberry 2008: 213; Hervorhebung im Original). Laut dieser Hypothese setzen anglophone L2-Lernende des Spanischen das perfecto simple mit der Semantik des simple past und das imperfecto mit dem aspektuellen Wert der englischen progressive -Form gleich (vgl. ebd.: 213-224). Die Ergebnisse von Gruppe A der vorliegenden Studie lassen ebenfalls auf solche Form-Bedeutungs-Assoziationen schließen, allerdings zwischen der L2 Englisch und der L3 Spanisch. Dies äußert sich insofern, als jene Lernende, die über ein hohes Aspektwissen im Englischen verfügen, das perfecto simple in perfektiven und estar + gerundio in progressiven Kontexten akkurater anwenden als jene mit einem niedrigen Aspektwissen in dieser Sprache. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen simple past und perfecto simple sowie be + V-ing und estar + gerundio durch ein höheres Aspektwissen im Englischen erleichtert werden und spricht dafür, dass der positive Einfluss primär aus der L2 und nicht aus der L1 stammt. Im Folgenden wird dargelegt, warum eine solche Interpretation zulässig ist. <?page no="298"?> (1) An erster Stelle muss betont werden, dass die eben dargestellten Ergebnisse wohl kaum auf den Einfluss von Störvariablen zurückzuführen sind: Im Hinblick auf das Sprachniveau im Spanischen unterscheiden sich die NAE- und die HAE-Gruppe nicht signifikant, weshalb diese Variable als möglicher Einflussfaktor ausgeschlossen werden kann. Es ist zwar durchaus möglich, dass der Notendurchschnitt als allgemeiner Prädiktor für kognitive Leistungsfähigkeit einen Einfluss auf die Ergebnisse hat; dies spricht allerdings nicht gegen einen L2-Transfer, sondern erklärt eher, warum die Lernenden auch im Englischen die Unterscheidung zwischen progressiv/ nicht progressiv besser begreifen und dadurch in der Lage sind, diese ins Spanische zu transferieren. Die Ergebnisse der qualitativen Studie untermauern eine solche Interpretation, zumal sie zeigen, dass gerade diejenigen Lernenden, die einen guten Notendurchschnitt haben, auch im Englischen ein hohes Aspektwissen aufweisen. Dieser wirkt sich also sowohl positiv auf das Aspektwissen im Englischen als auch auf jenes im Spanischen aus. Darüber hinaus geht ein guter Notendurchschnitt mit einem hohen metasprachlichen Bewusstsein und einem ausgeprägten interlingualen Wissen einher, was wiederum einen positiven L2-Transfer zu begünstigen scheint. Schließlich sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass sich ein positiver Einfluss des L2-Aspektwissens auch in jenen Gruppen findet, die sich bezüglich des Notendurchschnitts nicht unterscheiden. (2) Prinzipiell ist ein Transfer aus der L1 zwar möglich, hinsichtlich der vorliegenden Ergebnisse allerdings unwahrscheinlich. Es ist beispielsweise nicht klar, warum das Aspektwissen im Englischen sowohl auf den Erwerb des perfecto simple als auch auf jenen von estar + gerundio einen positiven Einfluss haben sollte, wenn der Transfer aus der L1 kommt. Des Weiteren findet sich keine Übergeneralisierung des perfecto compuesto , obwohl dies aufgrund der morphologischen Nähe zum deutschen Perfekt durchaus zu erwarten wäre (vgl. Siever/ Wehberg 2016: 33-34). Auch weitere Studien, die den L3-Erwerb des Spanischen mit germanophonen Lernenden untersucht haben, finden keine Übergeneralisierung des perfecto compuesto , was als ein Ausbleiben von L1-Transfer interpretiert wird (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016; Eibensteiner/ Koch 2018). Dass Amenós Pons, Ahern und Guijarro-Fuentes (2017) eine Übergeneralisierung dieser Form auf einen L1-Transfer des passé composé ihrer frankophonen Spanischlernenden zurückführen, zeigt, dass ein solcher L1-Transfer von morphologisch ähnlichen Formen prinzipiell stattfindet (vgl. auch Collins 2004), aber eben nicht auf germanophone Lernende des Spanischen zutrifft. Das Ausbleiben einer solchen Übergeneralisierung in der vorliegenden Studie stärkt somit die Argumentation, dass der Transfer nicht aus der L1, sondern aus der L2 kommt. Wenn ein L1-Transfer stattgefunden hätte, sollte sich auch 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 299 <?page no="299"?> 300 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse eine Übergeneralisierung des perfecto compuesto , vor allem in den mündlichen Sprachproduktionsdaten, finden. Dies ist nicht der Fall. (3) Neben den unter (2) genannten Aspekten sprechen zahlreiche theoretische Argumente für den beschriebenen L2-Einfluss (vgl. Bardel/ Falk 2007, 2011, 2012; Falk/ Bardel 2011; Hammarberg 2001; Williams/ Hammarberg 1998; siehe Kapitel 4.3.2). Laut De Angelis und Selinker (2001) sehen Lernende das L1-System als keine nützliche Lernstrategie für die L3 an, weshalb dieses geblockt werde. Aus diesem Grund werden die Zweitsprachen und eben nicht die Erstsprache nach Ähnlichkeiten abgesucht. Diese Tendenz wird dadurch noch verstärkt, dass sich die Erwerbsmechanismen im L1- und im L2-/ L3-Erwerb voneinander unterscheiden (vgl. Ullman 2001, 2015, 2016; Paradis 2009; siehe Kapitel 3.3). Laut den Vertretern der deklarativ-prozeduralen Modelle des Zweitspracherwerbs läuft der Grammatikerwerb in einer L1 vor allem über implizite Lernmechanismen und das prozedurale Gedächtnissystem ab. Da der L2-Erwerb primär explizit und über das deklarative Gedächtnis funktioniert, verfügen Lernende primär in ihren Zweitsprachen über explizites Wissen, welches sie mit den neu erlernten Regeln der L3 in Bezug setzen können. Mehrere L3-Modelle betonen außerdem, dass der Unterschied zwischen der Aneignung einer L3 und jener einer L2 gerade darin liegt, dass die Lernenden beim L3-Erwerb über explizites Wissen in der L2 und über ein höher ausgeprägtes metasprachliches Bewusstsein verfügen, auf das sie zurückgreifen können (vgl. Herdina/ Jessner 2002; Hufeisen 2010; Jessner 2006, 2008a, 2008b, 2014). (4) Ein weiterer Faktor, der für einen Transfer aus der L2 und nicht aus der L1 spricht, ist sprachstruktureller Natur und besteht darin, dass das Deutsche über keine vollständig grammatikalisierte aspektuelle Unterscheidung verfügt (siehe Kapitel 2.3.1). Selbst wenn die L3-Lerner ein hohes explizites Wissen im Deutschen hätten, was laut der Argumentation von Falk, Lindqvist und Bardel (2015) einen L1-Transfer auch im Framework des L2-Status-Faktor-Modells möglich macht, würden sie in ihrer L1 nur wenige Ähnlichkeiten im Vergleich zum spanischen Aspektsystem finden. Das L1-System wird somit wohl kaum als nützliche Lernstrategie wahrgenommen, was zusätzlich dafür spricht, dass die Lernenden der vorliegenden Studie eine ihrer Zweitsprachen nach Ähnlichkeiten absuchen. Auch die Ergebnisse der Reflexionsaufgabe zeigen, dass sie kaum auf ihre Erstsprache zurückgreifen, zumal sich fast keine Sprachvergleiche mit dem Deutschen finden (siehe Kapitel 7.3.2.2). Ein L1-Transfer im Sinne einer expliziten Lernstrategie scheint demnach ebenfalls keine plausible Erklärung für die vorliegenden Daten zu sein. Das Englische hingegen, wo man auf eine grammatikalisierte aspektuelle Unterscheidung von progressiv/ nicht progressiv trifft (siehe Kapitel 2.3.2), scheint aus der Sicht der Lernenden eine durchaus hilfreiche Sprache zu sein. Es ist daher wesentlich plausibler, dass <?page no="300"?> sie auf diese Sprache im Sinne einer expliziten Lernstrategie zurückgreifen als auf das Deutsche. Auch Müller-Lancé (2006b), der sich mit Lernstrategien im L3-Wortschatzerwerb befasst hat, findet einen starken Einfluss der L2 Englisch und einen eher geringen Effekt der unterschiedlichen Erstsprachen. Was seine Ergebnisse für den Bereich der Lexik bestätigen, scheint sich auch für den in dieser Studie behandelten grammatischen Bereich zu bewahrheiten. Im Folgenden wird dargelegt, inwiefern die eben angeführte Argumentation mit den Annahmen von Salaberrys Default Past Tense Hypothesis vereinbart werden kann. Diesbezüglich wird aufgezeigt, dass die Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen der L2 Englisch und der L3 Spanisch stattfinden. Da Salaberry (2000, 2008) seine Hypothese für den L2-Erwerb formuliert und damit nur eine mögliche Transferbasis, die L1, vorhanden ist, stellt sich die Frage, ob der prognostizierte Rückgriff auf Tempus- und Aspekt-Marker der L1 auch für den L3-Erwerb Gültigkeit hat. Die Befunde der vorliegenden Studie und die angeführte Argumentation sprechen klar gegen eine Default Past Tense Hypothesis , welche die L1 als Standardtransferbasis heranzieht. Jedoch können die Ergebnisse durchaus im Framework der Hypothese interpretiert werden, allerdings nur unter einer erweiterten Fassung, die als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet wird; erweitert in dem Sinne, dass sie ihre Vorhersagen nicht auf den Einfluss der L1 beschränkt, sondern auf den L3-Erwerb und den damit einhergehenden möglichen L2-Einfluss ausweitet. Neben dem schon genannten positiven Einfluss des englischen Aspektwissens in den beiden Ähnlichkeitsbeziehungen, das heißt in perfektiven und in progressiven Kontexten (unter Verwendung von estar + gerundio ), spricht zusätzliche empirische Evidenz für eine Extended Default Past Tense Hypothesis . Beispielsweise zeigt eine Re-Analyse der Daten der Interpretationsaufgabe, dass die Lernenden das perfecto simple in perfektiven Kontexten mit statischen Prädikaten akkurater anwenden als das imperfecto in kontinuativen Kontexten (siehe Abbildung 21 auf Seite 221 für die perfektive und Seite 223 für die kontinuative Kondition). Demnach haben sie in nicht prototypischen Kontexten weniger Schwierigkeiten als in prototypischen. Dieses Ergebnis steht in Kontrast zur Lexical Aspect Hypothesis , die annimmt, dass prototypische Kombinationen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt schon in frühen Stadien des Spanischerwerbs in die Lernersprache integriert werden, und daher zu keinen großen Erwerbsschwierigkeiten führen sollten (vgl. Andersen 1986; siehe Kapitel 5.1.1). Die Schwierigkeit, welche die Lernenden in der Interpretationsaufgabe mit der kontinuativen Semantik haben, ist möglicherweise auf einen negativen Transfer aus der L2 Englisch zurückzuführen. Dieser Befund ist darüber hinaus ein Indiz dafür, dass der (in diesem Falle negative) Transfer primär aus der L2 und nicht aus der L1 (Deutsch) stammt. Transfer aus dem Deutschen sollte zu 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 301 <?page no="301"?> 302 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse keinen Schwierigkeiten in kontinuativen Kontexten führen, da die Verwendung von Zuständen, anders als im Englischen, auf keine Tempusform beschränkt ist und sie sowohl mit dem Perfekt als auch mit dem Präteritum verwendet werden können. Im Englischen hingegen können Zustände nur mit dem simple past und, bis auf wenige Ausnahmen, nicht mit der past progressive kombiniert werden (siehe Abschnitt 2.3.2). Weder die Lexical Aspect Hypothesis noch L1-Transfer können daher die in der Interpretationsaufgabe beobachtete Übergeneralisierung des perfecto simple in kontinuativen Kontexten erklären. Die Extended Default Past Tense Hypothesis hingegen sagt eine solche Übergeneralisierung durch den Rückgriff auf die L2 Englisch vorher und eignet sich daher als Erklärungsbasis. Im Einklang mit der bisher präsentierten Argumentation kann die Extended Default Past Tense Hypothesis die Ergebnisse von drei der fünf Konditionen erklären (perfektive, kontinuative und progressive Kontexte (mit estar + gerundio )). Im Folgenden wird dargestellt, dass sie auch für die letzten beiden Konditionen einen adäquaten Erklärungsansatz bietet. Zuerst kann festgehalten werden, dass sich weder in progressiven Kontexten (mit dem imperfecto ) noch in habituellen Kontexten ein signifikant positiver Einfluss des englischen Aspektwissens findet. Dies ist primär darauf zurückzuführen, dass in beiden Konditionen eine Kontrast- und eben keine Ähnlichkeitsbeziehung herrscht. Die Extended Default Past Tense Hypothesis sagt nun voraus, dass sich in diesen Kontexten ein Transfer der Semantik des simple past findet, da diese als Standardform transferiert wird. Da weder Progressivität noch Habitualität Teil der Semantik dieser Form sind (siehe Kapitel 2.3.2), ist anzunehmen, dass ein derartiger Transfer negative Folgen hat und zu einer Übergeneralisierung des perfecto simple , das mit dem simple past assoziiert wird, führt. Im Folgenden wird (1) erörtert, warum die Lernenden in progressiven Kontexten das imperfecto mit dem simple past und nicht mit be + V-ing assoziieren, und (2) wieso sie es in habituellen Kontexten nicht mit den englischen Periphrasen used to/ would + Infinitiv verbinden. (1) Die Ergebnisse der Gruppe B weisen nach, dass entgegen der Annahmen der vorliegenden Studie durchaus ein positiver Transfer in Kontrastbeziehungen möglich ist. So wird beispielsweise die Semantik des analytischen passé composé mit jener des synthetischen perfecto simple assoziiert. An erster Stelle muss also erklärt werden, warum ein positiver Transfer der Semantik von be + V-ing hinsichtlich des progressiven Bedeutungsbestandteils des imperfecto nicht stattfindet und die Lernende diesbezüglich auf eine Transferbasis ausweichen (das simple past ), die einen vermeintlich negativen Effekt als Folge hat. Laut dem Eins-zu-eins-Prinzip von Andersen (1993) findet in den Anfangsstadien des Zweit-/ Drittspracherwerbs eine Assoziation von einer Semantik mit einer Form statt. Erst in fortgeschrittenen Stadien ist es gemäß Andersens (1990) <?page no="302"?> multifunctionality- Prinzip möglich, eine Bedeutung mit mehreren Formen zu verbinden (siehe Kapitel 5.1.4). Unter Berücksichtigung der beiden Prinzipien können die divergierenden Befunde hinsichtlich eines Transfers in Kontrastbeziehungen erklärt werden. Bei der Assoziation von passé composé und perfecto simple wird eine Bedeutung [+ perfektiv] mit einer zielsprachlichen Form, dem perfecto simple , assoziiert. 90 Eine solche Eins-zu-eins-Verbindung ist schon in frühen Stufen des Zweit-/ Drittspracherwerbs möglich und erklärt, warum positiver Transfer in dieser Kontrastbeziehung durchaus stattfindet. Hinsichtlich der Assoziation der Semantik von be + V-ing mit dem progressiven Bedeutungsbestandteil des imperfecto muss hingegen - für einen vollständigen Erwerb - eine Bedeutung [+ progressiv] mit zwei zielsprachlichen Formen - nämlich dem imperfecto und estar + gerundio - verbunden werden. Da im Einklang mit dem multifunctionality- Prinzip eine derartige Eins-zu-zwei-Assoziation erst in fortgeschrittenen Spracherwerbsstadien möglich ist, müssen Lernende mit einem niedrigen/ mittleren Niveau sozusagen eine Verbform für die entsprechende Form-Bedeutungs-Verbindung auswählen. Die hohen Akkuratheitswerte in der spanischen Interpretationsaufgabe weisen darauf hin, dass die Wahl auf die spanische Periphrase fällt und dass folglich [+ progressiv] mit estar + gerundio assoziiert und vor dem imperfecto erworben wird (siehe S. 298). Im Gegensatz zu Salaberrys (2008: 216) Annahme, dass anglophone Spanischlernende die progressive Semantik von be + V-ing mit dem imperfecto assoziieren, weisen die Daten der vorliegenden Studie darauf hin, dass anfänglich die englische mit der spanischen Progressivperiphrase verbunden wird, was durchaus eine zielsprachliche Form-Bedeutungs-Verbindung darstellt. Durch die Assoziation der progressiven Semantik von be + V-ing mit estar + gerundio bleibt für den entsprechenden Bedeutungsbestandteil des imperfecto nur der Standardvergangenheitsmarker des Englischen als Transferbasis (das simple past ) übrig. Die daraus resultierende Assoziation führt zu einem negativen Effekt, der sich in der vorliegenden Studie durch die niedrigen Mittelwerte in der Interpretationsaufgabe und die kaum produzierten progressiven Kontexte in den mündlichen Sprachproduktionsdaten äußert. Die mündlichen Sprachdaten zeigen allerdings, dass die Lernenden im Allgemeinen kaum progressive Kontexte produzieren, das heißt weder mit dem imperfecto noch mit estar + gerundio . Dies kann auf sogenannte Vermeidungsstrategien zurückgeführt werden, die vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn Unklarheit bezüglich der anzuwendenden Form besteht. Eine solche 90 Die Semantik [+ perfektiv] wird zwar im Französischen durch zwei Formen repräsentiert, da allerdings das passé simple im schulischen Französischunterricht nur bedingt gelernt wird, ist es unwahrscheinlich, dass die Lernenden auf diese Transferbasis zurückgreifen (siehe Kapitel 6.1.3). 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 303 <?page no="303"?> 304 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Unsicherheit findet man in mehreren Aussagen in den Reflexionsaufgaben vor. Beispielsweise äußert Teilnehmerin 929, dass sie bezüglich eines Items der spanischen Interpretationsaufgabe weder das perfecto simple noch das imperfecto verwenden würde, weil man für progressive Handlungen estar + gerundio brauche (siehe auch Seite 264): 929: [Ich würde beides als nicht richtig-], jedoch war er gerade dabei. 924: Ja, das stimmt. 929: Das heißt, es ist keiner der Sätze richtig, weil man hier das -iendo bräuchte, [das gerundio ]. 924: [Ah, das gerundio ! ] 929: Ja, das heißt, beide Sätze stellen den Sachverhalt nicht perfekt dar. (Korpus B 924_929: 42-47) Eine solche Verunsicherung führt dazu, dass die Lernenden progressive Kontexte während der Nacherzählungen der Bildgeschichten im Allgemeinen vermeiden und versuchen, die entsprechende Semantik durch die Erzeugung anderer semantischer Kontexte zu kompensieren (z. B. perfektiver Kontexte). Derartige Vermeidungsstrategien gehen im Übrigen meist Hand in Hand mit einer verlangsamten Integration des entsprechenden sprachlichen Phänomens in die Lernersprache (vgl. Kellerman 1995: 131). In der Interpretationsaufgabe, in welcher die Lernenden gezwungen werden, eine Form zu wählen, optieren sie aufgrund der bestehenden Ähnlichkeitsbeziehung für estar + gerundio . Als Zwischenfazit kann hinsichtlich Kondition (C) IMP in progressiven Kontexten Folgendes festgehalten werden: Sowohl die Übergeneralisierung des perfecto simple in der Interpretationsaufgabe, welche sich durch die niedrigen Mittelwerte äußert, als auch die Vermeidungsstrategien in den Sprachproduktionsdaten - und damit einhergehend das Ausweichen auf perfektive Kontexte - deuten darauf hin, dass die Lernenden in den Anfangsstadien des Spanischerwerbs auf die Standardvergangenheitsform des Spanischen, das perfecto simple , zurückgreifen. Dies ist auf die Assoziation mit der Semantik der englischen Standardvergangenheitsform, dem simple past , zurückzuführen (siehe Seite 303). Diese Interpretation im Rahmen der Extended Default Past Tense Hypothesis kann somit auch die Ergebnisse der vorliegenden progressiven Kondition erklären. Im Folgenden wird auf die letzte noch ausstehende Semantik eingegangen. (2) Bezüglich habitueller Kontexte äußert sich der eben beschriebene Rückgriff auf das perfecto simple als Standardvergangenheitsmarker vor allem durch eine Übergeneralisierung dieser Form in den Sprachproduktionsdaten. Dazu <?page no="304"?> kommt es, weil das englische simple past zum Ausdruck von Habitualität verwendet wird und das spanische perfecto simple , das diese Fähigkeit nicht besitzt, mit dieser Form assoziiert wird. Es muss allerdings festgehalten werden, dass die Lernenden in der habituellen Kondition der Interpretationsaufgabe relativ hohe Akkuratheitswerte erreichen. Diesbezüglich gibt es zwei mögliche Interpretationen: (A) Trotz der Kontrastbeziehung zwischen den englischen Periphrasen used to und would + Infinitiv und dem habituellen Bedeutungsbestandteil des imperfecto findet ein positiver Transfer statt (vgl. Eibensteiner 2019). Gegen diese Interpretation spricht allerdings, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie für diese Kondition keinen positiven Effekt des englischen Aspektwissens zeigen, zumal sich die NAE- und die HAE-Gruppe nicht signifikant voneinander unterscheiden. Das Ausbleiben eines positiven Effekts ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die beiden englischen Periphrasen im Vergleich zum simple past , welches in Kombination mit einem Temporaladverbium am häufigsten für den Ausdruck von Habitualität verwendet wird, nicht sehr frequent sind (vgl. Tagliamonte/ Lawrence 2000). Da gerade Frequenz als ein wesentlicher Faktor für das Wahrnehmen und Erwerben, aber auch für den Transfer einer Konstruktion zählt (vgl. Ellis 2013: 92-95; Slabakova 2017: 653), ist es unwahrscheinlich, dass eine Assoziation zwischen den englischen Habitualitätsperiphrasen und dem imperfecto stattfindet. Im Gegenteil: Da sich die Lernenden an Frequenzmustern orientieren, findet die oben beschriebene Assoziation des simple past mit dem habituellen Bedeutungsbestandteil des spanischen Imperfekts statt. Dies führt zu dem oben dargestellten negativen Transfer (= Übergeneralisierung des perfecto simple in den Sprachproduktionsdaten), da Habitualität kein Bestandteil der Semantik des simple past ist, sondern diese Lesart erst durch lexikalische Ergänzungen (z. B. Temporaladverbien) oder durch den Kontext erhält. Da die hohen Werte in der habituellen Kondition der Interpretationsaufgabe also nicht auf einen positiven Einfluss des englischen Aspektwissens zurückgeführt werden können, wird im Folgenden die in der vorliegenden Arbeit vertretene Position mittels eines kurzen Exkurses dargelegt. (B) Eine mögliche Erklärung ist, dass die habituelle Semantik kognitiv weniger anspruchsvoll ist und daher leichter verarbeitet werden kann als andere aspektuelle Bedeutungen. Slobin (1996) argumentiert beispielsweise, dass jene Semantiken am anspruchsvollsten zu erwerben sind, welche nicht durch die menschliche sensomotorische Wahrnehmung der Welt erfahren werden können, also jene Bereiche, in denen uns die Sprache allein zwingt, eine Unterscheidung zu treffen. Dies - so der Autor - trifft vor allem auf aspektuelle Nuancen zu. Andere sprachliche Bereiche sind weniger von der reinen Versprachlichung abhängig und dem „non-linguistic mind and eye“ (Slobin 1996: 91) leichter zugänglich. Als Beispiel nennt der Autor die Pluralmarkierung, bei welcher die 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 305 <?page no="305"?> 306 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Lernenden auf extrasprachliche, nämlich mathematische Informationen, zurückgreifen können (z. B. spielt ein Kind im Park, sind es zwei oder mehrere). Im Hinblick auf die Habitualität kann ähnlich argumentiert werden: Durch den Bezug auf derartige extrasprachliche Information entwickeln die Lernenden eine Faustregel (z. B. eine Handlung findet einmal oder mehrere Male in der Vergangenheit statt), die ihnen bei der Integration der habituellen Semantik in ihre Lernersprache hilft. Tatsächlich finden sich zahlreiche Aussagen in der Reflexionsaufgabe, in welchen die Lernenden thematisieren, dass sie das perfecto simple bei einmaligen und das imperfecto bei mehrmaligen und/ oder gewöhnlichen Handlungen verwenden (siehe Kapitel 7.3.1). Damit sie auf dieses explizite Regelwissen zurückgreifen können, muss es sich um eine Aufgabe handeln, bei der sie ausreichend Zeit haben, um das entsprechende Wissen zu aktivieren. Dies ist bei der Interpretationsaufgabe, die eher explizites Wissen misst, gegeben (vgl. Suzuki/ DeKeyser 2017; siehe Kapitel 6.2.4). Im Unterschied dazu muss bei der Nacherzählung einer Bildgeschichte vor allem implizites Wissen aktiviert werden. Damit geht einher, dass die Lernenden möglicherweise nicht auf ihr explizites Regelwissen zurückgreifen können. Dies erklärt, warum sie das perfecto simple übergeneralisieren, was zu den beobachteten vergleichsweise niedrigen Akkuratheitswerten in der Bildgeschichte führt (z. B. NAE-A: x̄ = 52,3 %; HAE-A: x = 51,4 %; siehe Seite 219). Die Hauptaussagen dieses Kapitels sind, dass die Lernenden die morphologischen und periphrastischen Marker des englischen Aspektsystems, ihrer L2, in die L3 Spanisch transferieren. Daraus folgend ergibt sich ein positiver Effekt für den Erwerb des perfecto simple und von estar + gerundio , das heißt in jenen Konditionen, in denen eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Englischen und dem Spanischen besteht. Da die Lernenden die Assoziation zwischen dem simple past und dem perfecto simple übergeneralisieren, führt dies zu negativem Transfer in habituellen und kontinuativen Kontexten. Dies trifft auch auf den progressiven Bedeutungsbestandteils des imperfecto zu. Diesbezüglich ist der negative Effekt vor allem darauf zurückzuführen, dass die Lernenden in den frühen Stadien des Spracherwerbs noch nicht in der Lage sind, eine Semantik mit zwei Formen zu assoziieren. Alle eben genannten Punkte stehen im Einklang mit den Annahmen der Extended Default Past Tense Hypothesis. Was geschieht allerdings, wenn die Lernenden zusätzlich zu Englisch noch eine zweite L2 besitzen, die dem Spanischen sowohl genetisch als auch typologisch näher ist, wie dies bezüglich der Französischkenntnisse in Gruppe B der Fall ist? Im nächsten Kapitel wird diese Frage beantwortet, indem auf die Ergebnisse der Hypothesenblöcke 2 und 3 eingegangen wird und sie im Hinblick auf gängige L3-Modelle diskutiert werden. <?page no="306"?> 8.2.2 Der Einfluss von sprachstruktureller Nähe und Sprachtypologie Im letzten Kapitel wurde für eine erweiterte Version der Default Past Tense Hypothesis argumentiert. Für die in Gruppe A vorliegende Sprachenfolge (L1 Deutsch, L2 Englisch und L3 Spanisch) wurde gezeigt, dass nicht die L1, sondern die L2 als Standardtransferbasis herangezogen wird. In dieser Sprachenfolge haben allerdings typologische Faktoren keine wichtige Rolle gespielt, da sowohl das Deutsche als auch das Englische typologisch in etwa gleich weit vom Spanischen entfernt sind. Da in der Sprachenfolge von Gruppe B auch die Typologie von Bedeutung ist, stellt sich die Frage, ob das Englische oder das Französische als Standardtransferbasis gewählt wird. Im Unterschied zu den Annahmen in den Hypothesen 2a und 3a findet sich in perfektiven Kontexten durchaus ein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens. Beispielsweise verwenden die Lernenden der HAF-Gruppe das perfecto simple in dieser Kondition signifikant häufiger als jene der NAF-Gruppe. Dass Transfer nicht aus dem Englischen, sondern primär aus dem Französischen kommt, wird zusätzlich durch die Ergebnisse einer linearen Regressionsanalyse bestätigt. Diese Befunde demonstrieren zweierlei: (1) Transfer kann auch in Kontrastbeziehungen stattfinden. (2) Typologische Faktoren haben einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl der Transferbasis. Beide Punkte werden im Folgenden diskutiert. (1) Im letzten Kapitel wurde argumentiert, dass die Lernenden trotz der bestehenden Kontrastbeziehung in der Lage sind, das passé composé mit dem perfecto simple zu assoziieren, weil eine Bedeutung [+ perfektiv] mit einer zielsprachlichen Form verbunden wird (= Eins-zu-eins-Verbindung). Ein weiterer Faktor, welcher den Transfer in einer Kontrastbeziehung erleichtert, ist ein ausreichend hohes explizites Wissen, das es den Lernenden ermöglicht, die zugrunde liegenden funktional-semantischen Ähnlichkeiten der Formen in der Ausgangs- und der Zielsprache zu erkennen. Im Hinblick auf Gruppe B weisen mehrere Aussagen in der Reflexionsaufgabe auf das Vorhandensein von explizitem, metasprachlichem Wissen hin. Beispielsweise stellen viele Lernende einen konkreten Sprachvergleich hinsichtlich der spanischen Opposition von perfecto simple und imperfecto und der französischen von passé composé und imparfait an (siehe auch Seite 280): Ja, weil dort ist es ja zum Beispiel imparfait und passé composé, die man unterscheidet und hier ist es halt imperfecto und indefinido und da ist auch so eine Ähnlichkeit. Das ist auch so mit der Hintergrundhandlung und was jetzt neu eintritt, das hat mir eigentlich am meisten geholfen. (Korpus B 714_715: 52-55) 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 307 <?page no="307"?> 308 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Dieses explizite interlinguale Wissen lässt sich dadurch erklären, dass die aspektuelle Unterscheidung im Unterricht beider Sprachen einen hohen Stellenwert einnimmt und sie den Lernenden somit in Erinnerung bleibt. Da sich die Faustregeln nicht wesentlich voneinander unterscheiden, sind die Lernenden trotz der formalen Unterschiede in der Lage, die zugrunde liegenden funktional-semantischen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprachen zu erkennen. Ein ausreichend hohes metasprachliches bzw. interlinguales Wissen kann demnach dazu führen, dass Lernende die funktional-semantischen Parallelen wahrnehmen, die einer Kontrastbeziehung zugrunde liegen. Dadurch wird diese de facto zu einer Ähnlichkeitsbeziehung (vgl. Ringbom/ Jarvis 2009: 110 für eine ähnliche Argumentation bezüglich zero -Beziehungen). Diese Entwicklung hin zur Ähnlichkeitsbeziehung macht eine Assoziation zwischen perfecto simple und passé composé möglich. (2) Die Ergebnisse in perfektiven Kontexten veranschaulichen außerdem, dass die Lernenden der Gruppe B primär auf das Französische und nicht auf das Englische zurückgreifen. Dies deutet darauf hin, dass typologische Faktoren und solche der Sprachverwandtschaft einen Einfluss auf die Wahl der Transferbasis haben. Beispielsweise argumentiert Cenoz (2001), dass Sprachen, die genetisch verwandt sind, eher zu Transfer führen, als solche, die nicht verwandt sind. Es ist anzunehmen, dass im Spanischerwerb das Französische als Transferbasis bevorzugt wird, weil beide Sprachen im Unterschied zum Englischen den romanischen Sprachen angehören. Darüber hinaus sind sie nicht nur genetisch miteinander verwandt, sondern verfügen auch über die aspektuelle Opposition von perfektiv und imperfektiv, die als panromanische Verbform angesehen wird (vgl. beispielsweise Haßler 2016: 107). Das Spanische und Französische stehen sich somit auch typologisch näher als die erstgenannte Sprache und das Englische. Beide Faktoren, sowohl genetische als auch typologische, sprechen für den beobachteten Transfer aus dem Französischen. Gerade typologische Faktoren werden von zahlreichen Autoren aus der Transferforschung (vgl. Hammarberg 2001, 2009; Ringbom 2007; Ringbom/ Jarvis 2009; Williams/ Hammarberg 1998) sowie von vielen generativistischen Zweit-/ Drittspracherwerbsforschern als wesentliches Kriterium für Transfer hervorgehoben. Rothman (2010a, 2010b, 2015) geht in seinem Typological Primacy Model sogar so weit, zu behaupten, dass die syntaktischen Merkmale der typologisch nächsten Sprache das Anfangsstadium des L3-Erwerbs darstellen. Dieser Transfer sei holistisch und könne sowohl positiv als auch negativ sein. Slabakovas (2017) Scalpel Model und Westergaards, Mitrofanovas und Mykhaylyks (2017) Linguistic Proximity Model lehnen diesen holistischen Charakter allerdings ab. Slabakova (2017: 653) argumentiert beispielsweise, dass die entsprechenden sprachstrukturellen Eigenschaften der L1 und/ oder der L2 mit skalpellartiger Präzision herausgefiltert und in die L3 transferiert werden. <?page no="308"?> Transfer findet somit Merkmal-für-Merkmal statt und kann sowohl negativ als auch positiv sein (siehe Kapitel 4.3.3). Folgt man der Argumentation von Montrul und Slabakova (2002: 122-124), dann lassen die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Hinblick auf perfektive Kontexte insofern keine Schlussfolgerungen bezüglich der drei eben präsentierten Transfermodelle zu, als das Englische wie auch das Französische und das Spanische über das Merkmal [+ perfektiv] verfügen. Dass der Transfer primär aus dem Französischen kommt, falsifiziert somit prinzipiell keines der drei Modelle. Davon abgesehen kann allerdings basierend auf den Befunden der vorliegenden empirischen Studie durchaus argumentiert werden, dass allgemeine typologische Faktoren eine Vorrangstellung gegenüber spezifischen sprachstrukturellen Aspekten einnehmen. Da es sich beim simple past wie auch beim perfecto simple um zwei synthetische Formen handelt, kann man argumentieren, dass sie sich sprachstrukturell bzw. formal näher sind als das passé composé und das perfecto simple . Wenn also sprachstrukturelle Faktoren über typologischen stehen würden, wie dies das Linguistic Proximity Model und das Scalpel Model vorhersagen, hätte der Transfer, wie in Hypothese 2a und 3a vorhergesagt, primär aus dem Englischen und nicht aus dem Französischen kommen sollen. Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung lässt sich demnach primär als zusätzliche empirische Evidenz für die Grundannahmen des Typological Primacy Model von Rothman interpretieren. Darüber hinaus liefert es zusätzliche Erkenntnisse im Hinblick auf das Rollen- Funktions-Modell (vgl. Williams/ Hammarberg 1998; Hammarberg 2001, 2009; siehe Kapitel 4.3.2.1). Dieses behauptet, dass der L2-Status für die Wahl der Transferbasis ausschlaggebend ist, gesetzt den Fall, dass das Sprachniveau, die recency und die Typologie zwischen den Sprachen vergleichbar sind. Wenn die Lernenden allerdings über mehrere Zweitsprachen, denen der L2-Status zukommt, mit einer ähnlichen recency und einem ähnlichen Sprachniveau verfügen, dann legen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nahe, dass primär die Typologie für die Wahl der Transfersprache verantwortlich ist: Englisch Französisch Sprachniveau + + Typologie - + Recency + + L2-Status + + Tab. 36: Adaption des Rollen-Funktions-Modells (in Anlehnung an Williams/ Hammarberg 1998: 322) 8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch/ Französisch und Spanisch 309 <?page no="309"?> 310 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass im L3-Erwerb die Wahl der Standardtransferbasis von der Sprachtypologie wesentlich beeinflusst wird. Aufgrund der bestehenden typologischen Ähnlichkeiten zwischen dem Französischen und dem Spanischen assoziieren die Lernenden das perfecto simple mit dem passé composé , was im Einklang mit der Extended Default Past Tense Hypothesis ist. Wenn die Annahmen dieser Hypothese zutreffen und alle morphologischen und periphrastischen Marker aus der L2 Französisch transferiert werden, sollte sich auch in allen weiteren semantischen Kontexten ein positiver Einfluss des französischen Aspektwissens finden lassen. Im Hinblick auf die progressive Semantik bestehen zwischen dem Französischen und dem Spanischen zwei Ähnlichkeitsbeziehungen, und zwar zwischen dem imparfait und dem imperfecto sowie zwischen être en train de und estar + gerundio . Da die Lernenden der Gruppe B aufgrund ihrer Französischkenntnisse bereits wissen, dass die progressive Semantik durch mehrere Formen ausgedrückt werden kann, haben sie im Unterschied zu jenen der Gruppe A weniger Schwierigkeiten, diese vom Französischen ins Spanische zu transferieren, und sowohl mit dem imperfecto als auch mit estar + gerundio zu verbinden. Dies wird durch einen leichten Vorteil von Gruppe B gegenüber Gruppe A in Kondition (C) bzw. durch jenen der HAFgegenüber der NAF-Gruppe in den Konditionen (B) und (C) veranschaulicht. Auch in habituellen Kontexten zeigt sich, dass die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Französischen und dem Spanischen eine Assoziation zwischen den entsprechenden Formen erleichtert und zu Vorteilen von jenen Lernenden führt, die ein (hohes) Aspektwissen im Französischen haben. Die Ergebnisse der linearen Regressionsanalysen weisen zusätzlich darauf hin, dass in den eben genannten Konditionen das Französische und nicht das Englische als Standardtransferbasis herangezogen wird, was ebenfalls für die oben schon angesprochene Vorrangstellung typologischer Faktoren spricht. Auch in kontinuativen Kontexten findet sich eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Französischen und dem Spanischen. Allerdings manifestieren sich hier im Gegensatz zu den anderen Konditionen keine signifikanten Unterschiede, weshalb nur auf deskriptiver Ebene von einem leicht positiven Einfluss des Französischen gesprochen werden kann. Obwohl in der Literatur schon des Öfteren auf den besonderen Status von Zuständen hingewiesen wurde (vgl. z. B. Salaberry 2008: 216-218), ist das Ausbleiben eines positiven Transfers in kontinuativen Kontexten verwunderlich und bedarf einer genaueren Interpretation, die im nächsten Abschnitt gegeben wird. Summa summarum wurde in diesem Kapitel aufgezeigt, dass Transfer durchaus auch in Kontrastbeziehungen stattfinden kann und dass typologische Faktoren einen starken Einfluss auf die Wahl der Transferbasis haben. Im Einklang mit den Annahmen der Extended Default Past Tense Hypothesis konnte ein posi- <?page no="310"?> 8.3 Der Einfluss von lexikalischem Aspekt und Prototypikalität 311 tiver Effekt des französischen Aspektwissens in allen außer kontinuativen Kontexten gefunden werden. Da ein Transfer in der letztgenannten Kondition nicht stattgefunden hat, stellt sich die Frage, ob lexikalischer Aspekt (v. a. Zustände) einen Einfluss auf die Transferierbarkeit von sprachlichem Vorwissen hat. Diese Problematik wird im nächsten Kapitel näher erörtert. 8.3 Der Einfluss von lexikalischem Aspekt und Prototypikalität Obwohl der Einfluss von lexikalischem Aspekt nicht im Fokus der Untersuchung stand, werden in diesem Kapitel einige ausgewählte Ergebnisse diskutiert. Im Wesentlichen veranschaulichen sie zweierlei: (1) Ein Einfluss des englischen/ französischen Aspektwissens auf den Erwerb von perfecto simple und imperfecto in Kombination mit unterschiedlichen lexikalischen Aspektklassen findet sich nur in der Interpretationsaufgabe und nicht in den Sprachproduktionsdaten. (2) Wenn das Aspektwissen einen Einfluss auf die Kombination von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt hat, dann scheint dieser in prototypischen Kontexten stärker zu sein. Diesbezüglich argumentieren Salaberry (in Vorbereitung) und auch Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020), dass L2-Transfer überhaupt nur in prototypischen Kontexten möglich sei. Dies scheint eine relativ radikale These zu sein, welche als solche nicht gehalten werden kann, zumal L2-Aspektwissen durchaus auch in nicht prototypischen Kontexten einen (positiven) Einfluss haben kann (vgl. Eibensteiner 2019). Auch die Ergebnisse der vorliegenden Studie demonstrieren, dass sich beispielsweise das englische Aspektwissen in perfektiven Kontexten mit Zuständen durchaus positiv auswirkt (siehe beispielsweise Abbildung 21 auf Seite 221). Darüber hinaus findet sich auch in Gruppe B ein besonders starker positiver Einfluss des französischen Aspektwissens in perfektiven Kontexten mit statischen Prädikaten (siehe S. 246). Die vorliegenden Befunde deuten außerdem darauf hin, dass dieses in kontinuativen einen geringeren Effekt hat als in perfektiven, progressiven und habituellen Kontexten. Dies ist gerade deshalb verwunderlich, weil es sich beim Ausdruck der kontinuativen Semantik im Spanischen um einen prototypischen Kontext handelt, in welchem eigentlich ein positiver Effekt gefunden werden sollte. Die eben genannten Ergebnisse sprechen demnach gegen die These, dass L2-Transfer ausschließlich in prototypischen Kontexten möglich ist. Allerdings stellen sie durchaus auch unter Beweis, dass L2-Transfer in prototypischen Kontexten stärker zu sein scheint als in nicht prototypischen. Dies trifft vor allem auf die Kombination von telischen Prädikaten und dem perfecto <?page no="311"?> 312 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse simple zu. Die Daten von Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020) zeigen ein ähnliches Bild: In perfektiven Kontexten mit telischen Prädikaten erlangen jene Lernende mit einem hohen Sprachniveau in einer ihrer romanischen Zweitsprachen höhere Akkuratheitswerte bezüglich der Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen als jene mit einem entsprechend niedrigen Sprachniveau. In kontinuativen Kontexten hingegen findet die Untersuchung von Diaubalick, Eibensteiner und Salaberry (2020) keine Unterschiede. Ein positiver L2-Transfer kann demnach bezüglich dieser Semantik nur bedingt nachgewiesen werden. Die Ergebnisse beider Studien deuten demnach darauf hin, dass gerade in kontinuativen Kontexte, das heißt in der prototypischen Kombination von Zuständen mit dem imperfecto , kein (positiver) L2-Transfer möglich zu sein scheint. Weitere Studien, die sich speziell dieser Fragestellung widmen, sind dringend nötig, um diesen Befund empirisch abzusichern. Auch eine solide theoretische Interpretation steht noch aus. 8.4 Ausblicke auf das Lateinische Die Ergebnisse von Gruppe C können aufgrund der nicht erhobenen Daten bezüglich des lateinischen Aspektwissens nur auf deskriptiver Basis interpretiert werden. Im Wesentlichen zeigt die Lateingruppe Muster, die bis auf wenige, nicht signifikante Unterschiede mit jenen von Gruppe A vergleichbar sind. Dies lässt darauf schließen, dass diese Lernenden trotz der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Lateinischen und dem Spanischen in perfektiven, progressiven, kontinuativen und habituellen Kontexten nicht in der Lage sind, von ihren Lateinkenntnissen zu profitieren. Die Ergebnisse der Reflexionsaufgabe zeigen zudem, dass sie nicht auf Funktionsäquivalenzen zwischen den beiden Sprachen hinweisen. Dies wird von Eibensteiner und Müller-Lancé (2020) bestätigt, indem sie veranschaulichen, dass Lernende mit Lateinkenntnissen hinsichtlich der spanischen Vergangenheitstempora vermehrt Sprachvergleiche mit dem Englischen und nicht mit dem Lateinischen anstellen. Diese Tendenzen deuten darauf hin, dass in Gruppe C primär das Englische und nicht das Lateinische als Transferbasis herangezogen wird. Diese Interpretation ist allerdings insofern spekulativ, als der Einfluss des lateinischen Aspektwissens nicht systematisch gemessen wurde und Rückschlüsse daher nur bedingt möglich sind. Dennoch stellt sich die Frage, warum Lateinkenntnisse einen geringeren positiven Einfluss haben als Englisch- oder Französischkenntnisse. Eine mögliche Erklärung ist, „dass nur aktiv gelernte Fremdsprachen als Transferbasis dienen“ (Eibensteiner/ Müller-Lancé 2020: 120). Dies wird unter <?page no="312"?> 8.4 Ausblicke auf das Lateinische 313 anderem auch von zwei Teilnehmern der vorliegenden Studie erwähnt, deren Äußerung hier noch einmal wiedergegeben wird: 524: Latein ist halt so eine Sprache, da ist ein Satz und du übersetzt es einfach und du weißt nicht, wann du das benutzt oder so. Das steht einfach da. 525: Ja, man kann es jaman muss es auch nie sprechen und man muss auch nie einen Text schreiben oder so. Man muss auch nie sagen- O. K., man muss sagen, was für eine Zeit es ist, aber man muss sie nur erkennen, man muss nicht sagen, O. K., da müsste jetzt eigentlich die Zeit stehen. (Korpus B 524_525: 56-62) Des Weiteren zeigen die Ergebnisse von Müller-Lancé (2006b: 247), dass Lernende beim Erschließen neuer Wörter in einer Fremdsprache hauptsächlich auf die bestbeherrschte und nicht auf die typologisch nächste Fremdsprache zurückgreifen. Im Allgemeinen wird ein hohes Sprachniveau in der L2 mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des L2-Transfers in Verbindung gebracht (vgl. Hammarberg 2001: 23; Jarvis/ Pavlenko 2010: 201; Sanz et al. 2015: 247; Tremblay 2006). Da die Probanden der vorliegenden Arbeit wesentlich länger Englischals Lateinunterricht hatten und auch angeben, die erstgenannte Sprache außerhalb der Schule häufig zu verwenden, kann man darauf schließen, dass ihre Sprachkompetenz in dieser Sprache höher ist, und sie deshalb primär auf sie zurückgreifen. Dies wird durch Aussagen in der Reflexionsaufgabe bestätigt, in welchen die Lernenden betonen, dass das Lateinische nicht geholfen habe, weil sie sich selbst als „zu schlecht“ einstufen (Korpus B 520_528: 17-18). Abschließend sei noch einmal darauf verwiesen, dass das Aspektwissen im Lateinischen nicht systematisch gemessen wurde, weshalb die eben angeführten Rückschlüsse hauptsächlich theoretischer Natur sind. Im nächsten Kapitel wird auf weitere Limitationen eingegangen und es wird dargelegt, wie zukünftige Studien weitere Erkenntnisse für das vorliegende Forschungsfeld liefern können. <?page no="313"?> 314 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse 8.5 Limitationen und zukünftige Studien 8.5.1 Theoretische Herausforderungen Eine große Herausforderung bei der Interpretation der Daten liegt in der Beantwortung der Frage, ob L1-Sprecher des Deutschen im Vergleich zu L1-Sprechern des Spanischen unterschiedliche aspektuelle Konzepte haben und inwieweit diese Differenzen den L2-/ L3-Erwerb des Spanischen beeinflussen (vgl. Jarvis 2011). Slobins (1991, 1996) thinking-for-speaking -Hypothese wirft zusätzlich die Frage auf, ob es sich tatsächlich um unterschiedliche Konzepte handelt, oder ob die Unterschiede vielmehr in der Konzeptualisierung während des Sprechaktes liegen. In der vorliegenden Arbeit wurde in Anlehnung an genuin linguistische Ansätze davon ausgegangen, dass die Aufgabe für die L3-Lerner darin besteht, die zwischen den Sprachen unterschiedlichen Form-Bedeutungs-Assoziationen zu lernen. Es handelt sich dabei allerdings um eine theoretische Annahme, die in der Forschungslandschaft auf keinen Konsens stößt. Ob die gefundenen Einflüsse des Englischen und Französischen auf das in der L2 erworbenen Konzept an sich (vgl. von Stutterheim et al. 2013: 81; siehe Kapitel 4.3.4), auf entsprechende Konzeptualisierungen während des Sprachaktes (vgl. Slobin 1991, 1996; siehe Kapitel 4.3.4) oder auf die Form-Bedeutungs-Assoziationen zurückzuführen sind (vgl. Salaberry 2000, 2008; siehe Kapitel 5.1.1), kann daher nur bedingt beantwortet werden. Weitere Forschungsarbeiten, welche die methodischen Herangehensweisen der unterschiedlichen Frameworks in ein Untersuchungssetting integrieren, sind daher dringend nötig. Des Weiteren wurde die Studie konzipiert, um den positiven Einfluss des Englischen und Französischen auf den Erwerb von (im-)perfektivem Aspekt im Spanischen zu analysieren. In jenen Kontexten, in denen ein solcher Einfluss gemessen wurde, wurden Rückschlüsse auf Vorteile bezüglich der Form- Bedeutungs-Assoziationen gezogen, die auf das erhöhte Aspektwissen in den jeweiligen Zweitsprachen zurückgeführt wurden. De facto wird allerdings der Einfluss des sprachlichen Verhaltens in einem Test auf das sprachliche Verhalten in einem anderen Test gemessen. Auch wenn Rückschlüsse von Testergebnissen auf mentale Prozesse, wie beispielsweise jene der Form-Bedeutungs-Assoziationen, in der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung durchaus üblich sind, bleiben sie bis zu einem gewissen Grad spekulativ. Studien, die andere methodische Verfahren verwenden (z. B. eye-tracking oder neurolinguistische Methoden wie fMRI oder PET) sind daher notwendig, um die vorliegenden Ergebnisse abzusichern. Derartige Untersuchungen könnten auch Aufschluss darüber geben, inwiefern bzw. unter welchen Bedingungen Transfer explizit oder implizit abläuft. <?page no="314"?> 8.5 Limitationen und zukünftige Studien 315 In Anlehnung an die deklarativ-prozeduralen Modelle (vgl. Ullman 2001, 2015, 2016; Paradis 2004, 2009; siehe Kapitel 3.3) und die darauf aufbauende Argumentation des L2-Status-Faktor-Modells von Bardel und Falk (2007, 2012; siehe Kapitel 4.3.2.2) sowie den frühen Überlegungen zur Psychotypologie und der Vorrangstellung des metasprachlichen Bewusstseins im Dynamic Model of Multilingualism (vgl. Herdina/ Jessner 2002; siehe Kapitel 4.3.1.1) wurde Transfer im L3-Erwerb als hauptsächlich expliziter Prozess beschrieben, der primär auf dem deklarativen Gedächtnissystem beruht. Auch diese Annahme ist theoretischer Natur und es bedarf weiterer Studien, die sich dieser Problematik im Detail widmen, zumal es gerade im generativistischen Forschungsparadigma Ansätze gibt, die dem Einfluss von explizitem Wissen skeptisch gegenüberstehen. Rothman (2015: 184-185) beispielsweise lehnt eine Definition der Psychotypologie, die auf expliziten Lernmechanismen beruht, kategorisch ab. Mithilfe der vorliegenden Daten kann diese Frage nur schwer beantwortet werden, zumal beispielsweise neurolinguistische Verfahren notwendig wären, um Aktivierungen in den Gehirnarealen, die dem deklarativen oder prozeduralen Gedächtnis zugeordnet werden können, zu messen. Dennoch ist eine Re-Analyse der vorliegenden Daten in zukünftigen Studien möglich und es kann versucht werden, den Einfluss des in der Reflexionsaufgabe und im Fragebogen verbalisierten expliziten Wissens auf die zielsprachliche Produktion zu bestimmen. Eine Ergänzung des Fragebogens um eine zusätzliche Fragebatterie könnte das entsprechende Regelwissen im Hinblick auf die Unterscheidung von perfektivem und imperfektivem Aspekt genauer messen und würde eine detailliertere Untersuchung dieser Problematik ermöglichen. 8.5.2 Methodische Herausforderungen Da bei der Erstellung der Interpretationsaufgaben der Fokus auf vollständig grammatikalisierten aspektuellen Unterscheidungen lag, wurde in die englische Interpretationsaufgabe nur die Opposition progressiv/ nicht progressiv integriert. Weder die kontinuative noch die habituelle Semantik waren Teil des Tests. Daraus folgt, dass keine validen Aussagen über das kontinuative und das habituelle Aspektwissen im Englischen getroffen werden können und der Einfluss auf diese beiden Konditionen beim Erwerb des Spanischen weiterer empirischer Evidenz bedarf. Zukünftige Studien müssen daher den Einfluss des Englischen vor allem in diesen beiden semantischen Kontexten untersuchen. Insbesondere bezüglich der Kontinuität können zusätzliche Ergebnisse die Argumentation hinsichtlich der Extended Default Past Tense Hypothesis - und der Tatsache, dass Transfer aus der L2 Englisch und nicht aus der L1 Deutsch kommt - stützen. <?page no="315"?> 316 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Die Periphrase être en train de wurde aufgrund der geringen Frequenz, die sie im Vergleich zum spanischen Pendant aufweist, nicht in die französische Interpretationsaufgabe aufgenommen. Eine Integration derselben könnte allerdings zusätzliche empirische Evidenz hinsichtlich der Assoziation mit estar + gerundio liefern. Im Hinblick auf die spanische Interpretationsaufgabe muss erwähnt werden, dass in den sechs Sätzen, in denen das perfecto simple mit estar + gerundio kontrastiert wurde, immer die periphrastische Form korrekt war. Obwohl diese Items zufällig unter die anderen gemischt waren und es zahlreiche Kontexte gab, in denen das perfecto simple korrekt war (allerdings im Kontrast zum imperfecto ), ist es möglich, dass die Lernenden diese Systematizität erkannten und dementsprechend in dieser Kondition dazu tendierten, estar + gerundio zu wählen. Dies stellt eine mögliche Erklärung für die entsprechend hohen Werte dar. Zukünftige Forschungsarbeiten müssen sich also dem Erwerb der Progressivperiphrase genauer widmen. Auch eine Integration von Items, in denen das Hilfsverb im perfecto simple steht (z. B. estuvo haciendo ), ist denkbar und könnte weitere Erkenntnisgewinne liefern. Da das Lateinische nicht im Fokus der Studie stand, wurde keine Interpretationsaufgabe für diese Sprache erstellt. Dennoch könnten durch die Anfertigung einer solchen Aufgabe und die Durchführung mit einem entsprechenden Sample interessante Ergebnisse im Hinblick auf die Frage, ob eine Sprache aktiv gelernt werden muss, um als Transferbasis zu fungieren, gewonnen werden. Bisher haben sich nur relativ wenige Untersuchungen im Bereich der Transferforschung mit dem Lateinischen beschäftigt, weshalb weitere Forschungsarbeiten dringend nötig sind (für Ausnahmen vgl. Müller-Lancé 2006b; Sanz et al. 2015). Schließlich muss auf einen möglichen Aufgabeneffekt bezüglich der Nacherzählung der beiden Bildgeschichten hingewiesen werden. Im Unterschied zu perfektiven, kontinuativen und habituellen Kontexten produzieren die Lernenden kaum progressive Kontexte, und das obwohl beispielsweise Nati y Pancho mit prompts versehen wurde, die explizit darauf abzielten, derartige Situationen zu elizitieren. Es wurde argumentiert, dass dies mit Vermeidungsstrategien seitens der Lernenden zusammenhängt. Es kann allerdings nicht komplett ausgeschlossen werden, dass es sich um einen Aufgabeneffekt handelt. So ist es durchaus möglich, dass die prompts nicht ausreichend waren, um die Lernenden dazu zu motivieren, progressive Kontexte zu produzieren. Die Durchführung der Nacherzählung mithilfe einer L1-Kontrollgruppe könnte klären, ob Native Speaker die entsprechenden Kontexte produzieren. Dies wäre notwendig, um einen Aufgabeneffekt vollständig auszuschließen. <?page no="316"?> 8.5 Limitationen und zukünftige Studien 317 Schließlich muss festgehalten werden, dass es sich beim L2-/ L3-Erwerb um ein hochkomplexes Phänomen handelt, das von enorm vielen Faktoren beeinflusst wird. Eine absolute Kontrolle aller Störvariablen ist natürlich wünschenswert, zum derzeitigen Stand der Forschung allerdings kaum möglich. Dennoch erscheint es sinnvoll, weitere Kontrollvariablen - wie einen Test des Arbeitsgedächtnisses oder des phonologischen Bewusstseins - in das Untersuchungssetting zukünftiger Studien zu integrieren. Auch eine gezieltere Erhebung des sozioökonomischen Status der Eltern wäre eigentlich notwendig. 8.5.3 Herausforderungen im Hinblick auf das Sampling Eine große Schwierigkeit im Rahmen der Datenerhebung war es, L3-Lernende des Spanischen zu finden, die abgesehen von ihrer L1, dem Deutschen, nur über Englischkenntnisse verfügten. In Baden-Württemberg ist zum Beispiel eine solche Sprachenfolge nicht aufzufinden und alle Schüler haben zusätzlich zu Englisch und Spanisch noch Kenntnisse im Französischen oder Lateinischen. Aus diesem Grund wurde die Datenerhebung im gesamten süddeutschen Sprachraum durchgeführt. Alle Lernenden hatten eine oberdeutsche (bzw. in wenigen Ausnahmen eine mitteldeutsche) Varietät als L1, was insofern wichtig war, als der Präteritumschwund in diesen Varietäten weiter fortgeschritten ist als in den norddeutschen. Daraus folgt, dass eine Datenerhebung im Norden Deutschlands einen Einfluss auf die Ergebnisse gehabt haben könnte, weshalb davon abgesehen wurde. Obwohl zahlreiche theoretische Argumente und auch einzelne Ergebnisse der empirischen Studie dafür sprechen, dass im Falle der vorliegenden Arbeit ein L2-System als Standardtransferbasis aktiviert wird, kann ein möglicher L1- Einfluss nicht komplett ausgeschlossen werden. Die zusätzliche Erstellung einer Interpretationsaufgabe für das Deutsche hätte nur wenig Sinn gemacht, da diese Sprache über keine grammatikalischen aspektuellen Mittel verfügt. Sogar wenn ein solcher Test erstellt worden wäre, müsste davon ausgegangen werden, dass alle Probanden, die Native Speaker des Deutschen waren, aufgrund ihrer impliziten Sprachkompetenz zu denselben Ergebnissen gekommen wären, was nur einen minimalen Erkenntnisgewinn zur Folge gehabt hätte. Eine mögliche Lösung dieser Problematik wäre es, eine Lernergruppe in das Untersuchungssetting zu integrieren, die keine sprachlichen Vorkenntnisse hat und als erste L2 direkt das Spanische lernt. Lernergruppen, die zwar mit Spanisch beginnen, aber bereits im zweiten Lernjahr Englischunterricht erhalten, sind nicht ausreichend, da somit ein Einfluss des Englischen auf die im zweiten Lernjahr gelernte Unterscheidung von imperfecto und perfecto simple nicht ausgeschlossen werden kann. Germanophone Probanden, die das Spanische tatsächlich als L2 <?page no="317"?> 318 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse lernen und damit zusätzlich empirische Evidenz für die vorgeschlagene Extended Default Past Tense Hypothesis liefern würden, sind (vermutlich weltweit) nicht zu finden (vgl. Diaubalick 2019: 337-338 für eine ähnliche Sichtweise). Eine zweite Möglichkeit wäre es, zusätzlich zur Sprachenfolge dieser Arbeit, eine Gruppe zu untersuchen, die Englisch als L1, Deutsch als L2 und Spanisch als L3 hat. So könnte vor allem die Frage beantwortet werden, ob im Drittspracherwerb primär ein L1- oder ein L2-System transferiert wird, oder ob es diesbezüglich keine Präferenz gibt. Zukünftige Studien können diese empirische Evidenz liefern (vgl. ebd.: 358). 8.5.4 Zusätzliche Möglichkeiten für zukünftige Studien Abgesehen von den oben schon dargestellten Herausforderungen und methodischen Schwachstellen, die in zukünftigen Forschungsarbeiten behoben werden können, bieten sich zahlreiche Anschlussstudien an. So konnte die Hypothese, dass Transfer nur in Ähnlichkeits- und nicht in Kontrastbeziehungen stattfindet, nur teilweise bestätigt werden. Zukünftige Studien müssen vor allem Kontrastbeziehungen untersuchen und eruieren, von welchen Faktoren Transfer in dieser Beziehung abhängt. So scheinen unter anderem Frequenz und Salienz wie auch Unterrichtsprinzipien die Wahrscheinlichkeit, dass eine Struktur als nützliche Transferbasis wahrgenommen wird, zu beeinflussen (vgl. Jarvis/ Pavlenko 2010: 185-186). Zusätzlich dazu wurden in der qualitativen Analyse ausgewählter Probanden einige Variablen herausgearbeitet, die in zukünftigen Untersuchungen näher betrachtet werden müssen. Vor allem die Frage, inwiefern den Lernenden eine andere Sprache bei der Bildung/ Verwendung bestimmter Sprachstrukturen hilft, scheint einen starken Einfluss auf die Ergebnisse in der spanischen Interpretationsaufgabe zu haben. Solche Fragen zielen einerseits auf die Einstellung bezüglich einer sprachvergleichenden Herangehensweise ab. Wenn Lernende eine Sprache als nützlich wahrnehmen, scheinen sie eher dazu zu tendieren, diese als Transferbasis heranzuziehen. Andererseits wird durch solche Fragen bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit gemessen, Sprachstrukturen miteinander zu vergleichen. Dieser zweite Punkt kann mit den Versuchen, Psychotypologie zu messen (vgl. Golin et al. in Vorbereitung), kombiniert werden und stellt somit einen weiteren Forschungsausblick dar. Diese beiden Aspekte können in zukünftigen Forschungsarbeiten entsprechend operationalisiert und untersucht werden. <?page no="318"?> 8.6 Didaktische Implikationen 319 8.6 Didaktische Implikationen Im Allgemeinen belegen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass L3- Lernende des Spanischen von ihrem aspektuellen Vorwissen, vor allem des Englischen und/ oder des Französischen, beeinflusst werden. Der Tempus- und Aspekterwerb in der L3 startet somit nicht bei null, sondern kann auf wertvollem Vorwissen aufbauen. Derartige Kenntnisse dürfen daher nicht (weiter) ignoriert werden und müssen aktiv im Spanischunterricht berücksichtigt werden. Die Arbeit liefert somit ein wichtiges empirisches Argument für die von den Vertretern der Mehrsprachigkeitsdidaktik seit Jahrzehnten eingeforderte sprachvernetzende Herangehensweise. In diesem Kapitel werden einige Handreichungen gegeben, die aus den Befunden der empirischen Studie resultieren (für einen allgemeinen Überblick zum Einfluss von explizitem Unterricht bzw. für unterschiedliche Didaktisierungsmöglichkeiten vgl. beispielsweise Bardovi- Harlig 2000: 339-408; Blyth 2005; Castañeda Castro 2006; Eibensteiner 2017; González 2008; Palacio Alegre 2009). Im Einklang mit Pienemanns (1998: 250-263) Lehrbarkeitshypothese wirkt sich expliziter Unterricht nur dann positiv auf den Erwerb aus, wenn der Spracherwerbsprozessor jene Entwicklungsstufe erreicht hat, in welcher er fähig ist, das entsprechende sprachliche Phänomen zu verarbeiten. Blyth (2005: 218-222) argumentiert daher, dass beim Unterrichten der aspektuellen Unterscheidung die Entwicklungssequenzen der Lernenden berücksichtigt werden sollen. Ayoun und Salaberry (2005: 267-276) sowie die vorliegende Arbeit stellen diesbezüglich dar, dass Lernende in den Anfangsstadien des L2-/ L3-Tempus- und Aspekterwerbs vor allem von ihrer L1/ L2 beeinflusst werden und die entsprechenden temporal-aspektuellen Repräsentationen transferieren. Bei Salaberrys (2000) Default Past Tense Hypothesis , die unter anderem den eben angesprochenen Einfluss postuliert, steht allerdings insofern der negative Transfer im Vordergrund, als der Übergeneralisierung des perfecto simple in nicht perfektiven Kontexten eine prominente Rolle zukommt. Diesbezüglich spricht Blyth (2005: 221) beispielsweise davon, dass (expliziter) Unterricht in der Anfangsphase helfen müsse, die Stufe des Standardvergangenheitsmarkers zu überwinden. Obwohl auch in der vorliegenden Arbeit eine solche Übergeneralisierung auf nicht perfektive Kontexte beobachtet wurde (z. B. in kontinuativen Kontexten), wird der positive Einfluss des englischen Aspektwissens auf den Erwerb des perfecto simple und der spanischen Progressivperiphrase betont. Das vorliegende Werk liefert somit empirische Evidenz, dass sich das aspektuelle Vorwissen des Englischen positiv (! ) auf den Erwerb des Spanischen auswirkt. Diese Erkenntnis muss im Unterricht berücksichtigt werden. <?page no="319"?> 320 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Man muss außerdem zur Kenntnis nehmen, dass L2- und L3-Lernende des Spanischen nicht in der gleichen Erwerbsstufe starten. Beispielsweise wäre es in höchstem Maße unökonomisch, L3-Lernenden des Spanischen mit Vorkenntnissen im Englischen die Semantik der Progressivität erneut zu erklären, da die Funktionsweise allen aus dem Englischunterricht bekannt sein sollte (vgl. Leitzke-Ungerer 2005: 39-41, 2011: 20-21 für eine ähnliche Forderung). Vielmehr sollte auf die Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Sprachen hingewiesen werden, um so einen positiven Transfer zu fördern und Interferenzen entgegenzuwirken. Beispielsweise wäre es gewinnbringend, aufzuzeigen, dass Progressivität im Spanischen, anders als im Englischen, sowohl periphrastisch als auch mithilfe des imperfecto ausgedrückt werden kann. Eine solche explizite Erklärung würde es den Lernenden erleichtern, die entsprechende Form-Bedeutungs-Assoziation durchzuführen. Eine derartige sprachvergleichende Herangehensweise dient demnach unter anderem dazu, die Ähnlichkeits-, Kontrast- und zero -Beziehungen bewusst zu machen, was in der Folge zu einem schnelleren Erwerb des spanischen Tempus- und Aspektsystems führen sollte. Im Allgemeinen plädieren zahlreiche Autoren für derartige bewusstseinsfördernde Maßnahmen (vgl. Blyth 2005: 222; Ellis 2005: 324-326; Jarvis/ Pavlenko 2010: 151-152). Zahlreiche Studien zeigen auch, dass Lernende bis in fortgeschrittene Erwerbsstadien von lexikalischem Aspekt, Diskursmerkmalen und sogenannten Signalwörtern beeinflusst werden (siehe Kapitel 5.1). Interessanterweise werden gerade die letzten beiden Faktoren häufig verwendet, um die Unterscheidung zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt zu erklären, wohingegen das Konzept des lexikalischen Aspekts kaum Anwendung findet (vgl. Eibensteiner 2017). Ein auf empirischer Evidenz basierender Fremdsprachenunterricht sollte diesen in der Spracherwerbsforschung gut dokumentierten Einflussfaktor berücksichtigen. Blyth (2005: 221-222) und Niemeier (2013: 49) plädieren diesbezüglich dafür, in den Anfangsstadien des Tempus- und Aspekterwerbs den Input mit prototypischen Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt anzureichern (z. B. Zustände mit dem Imperfekt). Erst in fortgeschrittenen Entwicklungsstufen sollen nicht prototypische Kombinationen fokussiert werden. Die vorliegende Arbeit hat außerdem gezeigt, dass mögliche Restriktionen bezüglich der Kombinierbarkeit von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt von einer L2 in die L3 transferiert werden. So bewirkt die Unmöglichkeit des Englischen, statische Prädikate mit der progressive -Form zu kombinieren, dass die Lernenden glauben, diese Einschränkung treffe auch auf das spanische imperfecto zu. Dies führt dazu, dass sie Zustände mit dem perfecto simple in Verbindung bringen und dadurch diese Form in kontinuativen Kontexten übergeneralisieren. Im Spanischunterricht sollte daher auf unterschiedliche <?page no="320"?> 8.6 Didaktische Implikationen 321 sprachliche Realisierungen bezüglich der Kombination von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt hingewiesen werden. Dies geht selbstredend mit der Notwendigkeit einher, das Konzept des lexikalischen Aspekts im Unterricht zu thematisieren (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2016: 195). Blyth (2005: 224-225) schlägt diesbezüglich in Anlehnung an Salaberry und Ayoun (2005: 7) die folgende Schematisierung vor: Lexikalische Aspektklasse Schematisierung Zustände (en. states ) ________________ Aktivitäten (en. activities ) ………………………… Accomplishments …………………………X Achievements X Tab. 37: Schematisierung der lexikalischen Aspektklassen (in Anlehnung an Salaberry/ Ayoun 2005: 7) Eine derartige schematische Darstellung - so Blyth weiter - kann helfen, den Lernenden das hinter den lexikalischen Aspektklassen liegende semantische Konzept näherzubringen, ohne dabei auf vermeintlich verwirrende metasprachliche Erklärungen zurückgreifen zu müssen. Zahlreiche Autoren plädieren darüber hinaus dafür, aspektuelle Konzepte im Allgemeinen, das heißt sowohl grammatikalischer als auch lexikalischer Natur, zu lehren und selbstständige Perspektivierungen seitens der Lernenden durch entsprechende Unterrichtsmethoden zu fördern (vgl. Diaubalick 2019: 339-342; Niemeier 2013: 23, 50). Dabei sollen laut Jansen (2013: 125) grammatikalische Strukturen „als Werkzeuge im Dienste der Sprachbenutzer [verstanden werden], mit deren Hilfe sie die Wirklichkeit so darstellen und perspektivieren können, wie es ihren Ausdrucks- und Handlungsabsichten entspricht.“ Die Lernenden übernehmen dabei eine aktive Rolle und werden zu selbstständigen Konzeptualisierungen ermutigt, was mit den heute in der Fremdsprachendidaktik so präsenten didaktisch-methodischen Prinzipien der Lerner- und Handlungsorientierung vereinbar ist. Im Hinblick auf einen konzeptorientierten Unterricht der aspektuellen Opposition von perfektiv/ imperfektiv bietet es sich an, die Erkenntnisse der Diskurshypothese mit jenen der kognitiven Linguistik und der Gestaltpsychologie zu verbinden. Laut Andersen (1993: 327-328) ist das menschliche Wahrnehmungssystem darauf ausgerichtet, vordervon hintergründigen Handlungen zu unterscheiden. Im Einklang mit Bardovi-Harligs (1994) Diskurshypothese übernimmt der imperfektive Aspekt dabei die Rolle, hintergründige <?page no="321"?> 322 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse Handlungen zu beschreiben, wohingegen der perfektive Gegenpart zur Charakterisierung vordergründiger Handlungen verwendet wird. In der kognitiven Linguistik wird dies in Anlehnung an die Gestaltpsychologie auch als Figur- Grund-Konstellation bezeichnet. In diesem Sinne „hebt sich der perfektive Aspekt als Figur vor dem Grund des imperfektiven Aspekts ab“ ( Jansen 2013: 121). Diese Figur-Grund-Konstellation kann ihrerseits mit dem bounding - Schema der kognitiven Linguistik in Verbindung gebracht werden. Dieses ist auch in der Aspektforschung präsent vertreten und wird von unterschiedlichen linguistischen Schulen verwendet. So eignet sich beispielsweise auch Kleins (1994) zeitrelationaler Ansatz dazu (siehe Kapitel 2.2), das Konzept der (Un-) Begrenztheit graphisch darzustellen: Grammatikalischer Aspekt Graphische Darstellung Verhältnis von Situations- und Topikzeit Perfektiv [- - - - -] Inklusion von TSit in TT Imperfektiv - - - [- - -] - - - Inklusion von TT in TSit Tab. 38: Darstellung der Opposition von perfektiv/ imperfektiv nach Klein (1994) Abhängig von der Zielgruppe und den damit einhergehenden unterschiedlichen Didaktisierungsnotwendigkeiten schlägt Castañeda Castro (2004) zwei Visualisierungsmöglichkeiten der aspektuellen Opposition vor, wobei sich erstere eher an ein universitäres und letztere primär an ein schulisches Publikum richtet. Die Perspektive des Sprechers wird in Abbildung 54 durch einen Kreis und in Abbildung 55 durch eine Sprech-/ Gedankenblase dargestellt. Auf der einen Seite sieht man bezüglich des imperfektiven cantaba/ ganaba , dass die Handlung, die entweder durch eine Wellenlinie oder durch eine Gruppe von laufenden Personen verbildlicht wird, schon vor dem vom Sprecher ausgewählten Zeitintervall angefangen hat. Auch dessen Ende steht nicht mehr im Zentrum des fokussierten Zeitintervalls. Auf der anderen Seite wird die Abgeschlossenheit von cantó/ ganó durch die im Kreis eingeschlossene Wellenlinie bzw. durch das sich in der Sprech-/ Gedankenblase befindliche Durchkreuzen der Ziellinie markiert: Abb. 54: Visualisierung der aspektuellen Opposition I (vgl. Castañeda Castro 2004) <?page no="322"?> 8.6 Didaktische Implikationen 323 Abb. 55: Visualisierung der aspektuellen Opposition II (vgl. Castañeda Castro 2004) Das Lehren der aspektuellen Konzepte bringt zwei Vorteile mit sich. Erstens kann laut Niemeier (2013: 23) so einem Auswendiglernen von Regeln und der simplen Anwendung derselben entgegengewirkt werden. Zweitens können die entsprechenden Konzepte, wenn sie einmal verstanden wurden, relativ problemlos von einer Sprache in eine andere transferiert werden. Wie Langacker (2008: 65) - auf den im Übrigen die beiden präsentierten Graphiken im weitesten Sinne zurückgehen - und die entsprechenden Kapitel dieser Arbeit veranschaulicht haben, kann das Konzept der (Un-)Begrenztheit schon mithilfe der Unterscheidung von progressiv/ nicht progressiv im Englischen erklärt werden. Ein Transfer dieses Aspektwissens ins Spanische findet ohnehin statt. Die Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts muss es aber sein, diesen Transfer explizit zu fördern. Da das Englische in den meisten Fällen als erste Fremdsprache gelernt wird, kommt dem Englischunterricht eine besondere Bedeutung zu. Beim Lehren des entsprechenden Konzeptes sollte schon darauf hingewiesen werden, dass es auch in anderen Sprachen ähnliche aspektuelle Unterscheidungen gibt. Im Optimalfall kann dann im darauffolgenden Französisch-, Latein- und Spanischunterricht dieses Vorwissen aufgegriffen werden. Es muss somit nicht mehr neu gelernt, sondern lediglich vertieft und ausgeweitet werden. Ein Hinweis auf sprachspezifische Unterschiede und damit einhergehende unterschiedliche Form-Bedeutungs-Assoziationen bleibt dabei natürlich nicht aus. Die eben dargestellte Forderung ist selbstredend nicht auf das Konzept der (Un-)begrenztheit beschränkt, sondern kann ohne größere Schwierigkeiten auf alle in diesem Werk behandelten aspektuellen Nuancen übertragen werden. <?page no="323"?> 324 8 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse 8.7 Fazit Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, den Einfluss von sprachlichem Vorwissen, vor allem von L2-Kenntnissen, auf den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt in der L3 Spanisch zu analysieren. Aus den Ergebnissen können die folgenden Konklusionen gezogen werden, die in den Punkten (1) bis (5) zusammengefasst sind, wobei sich (1) bis (3) auf Schlussfolgerungen bezüglich des Transfers von sprachlichem Vorwissen, (4) auf zukünftige Forschungsansätze und (5) auf die Handlungsempfehlungen in der Fremdsprachendidaktik beziehen. (1) Im Einklang mit den Annahmen der Default Past Tense Hypothesis konnte gezeigt werden, dass die Lernenden eine Standardtransferbasis wählen, deren morphologische und periphrastische Tempus- und Aspektmarker - vor allem in den Anfangsstadien des Drittspracherwerbs - als Orientierung für die Form- Bedeutungs-Assoziationen zwischen den Ausgangs- und der Zielsprache(n) dienen und dementsprechend transferiert werden. Da im L3-Erwerb nicht nur eine L1, sondern auch eine L2 als Transferquelle gewählt werden kann, wurde die Hypothese auf die Bedürfnisse des L3-Erwerbs ausgeweitet, was als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet wurde. Die Wahl der Standardtransferbasis wird von wohlbekannten Faktoren wie der (Psycho-)Typologie, dem L2- Status, der recency etc. beeinflusst. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen es nicht zu, einem dieser Faktoren eine Vorrangstellung einzuräumen. Diesbezüglich bedarf es weiterer empirischer Evidenz, um das komplexe Phänomen des Transfers mit all seinen Facetten vollständig zu begreifen. (2) Transfer aus der ausgewählten Sprache scheint zu weiten Teilen holistisch zu sein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die anderen Sprachsysteme keinen Einfluss auf den L3-Erwerb haben können. Diese sind nicht vollständig geblockt, sondern eher im Sinne Greens (1998) im Schlafmodus. Sie können vor allem dann aktiviert werden, wenn die Lernenden eine strukturelle Nähe wahrnehmen. Für die Sprachenfolgen der vorliegenden Untersuchung kann gesagt werden, dass L3-Lernende des Spanischen primär von einer ihrer Zweitsprachen und nicht von ihrer Erstsprache beeinflusst werden. Die Form- Bedeutungs-Assoziationen der L2 stellen also gewissermaßen den Startpunkt für den L3-Erwerb des Spanischen dar. Die Möglichkeit eines L1-Transfers wird aber nicht komplett ausgeschlossen. Aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsmechanismen und dem damit einhergehenden fehlenden expliziten Wissen ist ein Transfer aus der L1 aber unwahrscheinlicher als aus einer L2. (3) Positiver Transfer findet vor allem dann statt, wenn eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache besteht. Eine solche Relation ermöglicht es den Lernenden, die zugrunde liegenden funktional-semantischen <?page no="324"?> 8.7 Fazit 325 Parallelen wahrzunehmen. Eine entsprechende Form-Bedeutungs-Assoziation zwischen den beiden Sprachen wird aufgebaut. Auch in Kontrastbeziehungen ist ein positiver Transfer möglich, allerdings nur dann, wenn die Lernenden beispielsweise aufgrund von explizitem Wissen in der Lage sind, die funktionalsemantischen Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Basierend auf diesen Ergebnissen lassen sich daher allgemeine Handreichungen für die Spracherwerbsforschung und die Fremdsprachendidaktik geben: (4) Studien im Bereich der Tempus- und Aspekt-Zweit-/ Drittspracherwerbsforschung dürfen den Einfluss, den L2-Kenntnisse haben können, nicht weiter ignorieren, sondern müssen ihn als unabhängige Variable anerkennen und ihn in zukünftigen Untersuchungen systematisch analysieren. Die in Comajoan (2014: 238-239) erstellte Liste, in der er zahlreiche Einflussfaktoren nennt (z. B. den lexikalischen Aspekt, die syntaktische Struktur oder den L1-Einfluss), muss um die Variable des L2-Einflusses ergänzt werden. (5) Auch für die Fremdsprachendidaktik liefert die vorliegende Arbeit wichtige Erkenntnisse. Der oftmals angenommene Einfluss des Englischen und des Französischen beim Erwerb der aspektuellen Unterscheidung von perfektiv/ imperfektiv im Spanischen wird durch die empirische Evidenz dieser Studie untermauert. Lernende werden von diesem Sprachwissen beeinflusst und - um das Zitat von Müller-Lancé (2006b: 462) aus der Einleitung wieder aufzugreifen - „[e]s wäre in höchstem Maße unvernünftig und unökonomisch, diese Wissensressourcen nicht im Fremdsprachenunterricht zu verwerten.“ Zahlreiche Autoren plädieren diesbezüglich beispielsweise für bewusstseinsfördernde Aktivitäten (vgl. Blyth 2005: 222; Ellis 2005: 324-326; Jarvis/ Pavlenko 2010: 151-152), die helfen sollen, positiven Transfer zu verstärken und negativen abzuschwächen. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit liefern somit ein weiteres empirisches Argument, die schon so oft geforderte sprachvergleichenden Herangehensweise für das Lernen von Drittsprachen weiter voranzutreiben. <?page no="326"?> 9 Bibliographie 9.1 Print Alarcos Llorach, Emilio (1978): Estudios de gramática funcional del español . Madrid: Gredos. Albert, Ruth/ Marx, Nicole (2014): Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung. 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Salaberry 2000: 172) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Tab. 11: Frequenzen von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt im ersten Semester in Comajoans (2006: 230) Studie . . . . . . . . . . 128 Tab. 12: Probanden von Footes (2009: 96, 99) Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tab. 13: Mittlere Akkuratheitswerte der SCJT in Footes (2009: 108) Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Tab. 14: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Englisch und Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Tab. 15: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Französisch und Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Tab. 16: Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen Latein und Spanisch 142 Tab. 17: Zusammenfassung des Inhalts von Tus vacaciones . . . . . . . . . . . . 154 Tab. 18: Zusammenfassung des Inhalts von Nati y Pancho . . . . . . . . . . . . 156 Tab. 19: Prompts und deren Funktion in Nati y Pancho . . . . . . . . . . . . . . . 158 Tab. 20: Items der Interpretationsaufgabe Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Tab. 21: Items der Interpretationsaufgabe Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Tab. 22: Items der Interpretationsaufgabe Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Tab. 23: Beispielsätze der stimulated-recall -Reflexionsaufgabe . . . . . . . . . 175 <?page no="355"?> 356 Tabellenverzeichnis Tab. 24: Teilnehmer der Gesamtstichprobe eingeteilt nach Aspektwissen Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Tab. 25: Teilnehmer der Gruppe A eingeteilt nach Aspektwissen Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Tab. 26: Teilnehmer der Gruppen A, B und C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Tab. 27: Teilnehmer der Gruppe B eingeteilt nach Aspektwissen Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Tab. 28: Ablauf der Studie (Tag 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Tab. 29: Ablauf der Studie (Tag 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Tab. 30: Kodierung der Verbalphrasen nach lexikalischem Aspekt . . . . . . 190 Tab. 31: Kodierraster (lexikalischer und grammatikalischer Aspekt) . . . . 191 Tab. 32: Kategorien des Großkategorien-Clusters Explizites Regelwissen . . . 202 Tab. 33: Kategorien des Großkategorien-Clusters Hilfe andere Sprachen/ Sprachvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Tab. 34: Zusammenfassung der Variablen der Hauptstudie . . . . . . . . . . . . 207 Tab. 35: Zusammenfassung der Ergebnisse (+ bestätigt; ~ teilweise bestätigt; nicht bestätigt) . . . . . . . . . . . 295 Tab. 36: Adaption des Rollen-Funktions-Modells (in Anlehnung an Williams/ Hammarberg 1998: 322) . . . . . . . . . . 309 Tab. 37: Schematisierung der lexikalischen Aspektklassen (in Anlehnung an Salaberry/ Ayoun 2005: 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Tab. 38: Darstellung der Opposition von perfektiv/ imperfektiv nach Klein (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 <?page no="356"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Taxonomie aspektueller Oppositionen (vgl. Comrie 1976: 25) ....... 20 Abb. 2: Die temporale Relation des Plusquamperfekts .................................. 29 Abb. 3: Darstellung des Aspektualitätsverständnisses der vorliegenden Arbeit ........................................................................................................... 33 Abb. 4: Lernen einer L3 im Faktorenmodell - fremdsprachenspezifische Faktoren (vgl. Hufeisen 2010: 204) ........................................................ 70 Abb. 5: Lexical Aspect Hypothesis (dargestellt von González 2013: 176; p = perfecto simple ; i = imperfecto ) ...................................................... 106 Abb. 6: Aspektphrasen (vgl. Diaubalick/ Guijarro-Fuentes 2017: 12) ........ 113 Abb. 7: Erwerb von Iterativität (Salaberry in Vorbereitung) ...................... 131 Abb. 8: Ausgewählte Bilder aus Tus vacaciones ............................................. 154 Abb. 9: Ausgewählte Bilder aus Nati y Pancho .............................................. 157 Abb. 10: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) ...................................................................... 209 Abb. 11: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) ...................................................................... 210 Abb. 12: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAE- und HAE-Gruppe) ................... 211 Abb. 13: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE- und HAE-Gruppe) ...................................................................... 213 Abb. 14: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE- und NAE-Gruppe) ...................................................................... 214 Abb. 15: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE- und NAE-Gruppe) ...................................................................... 214 Abb. 16: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE- und NAE-Gruppe) ...................................................................... 215 Abb. 17: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) ............................................................. 218 Abb. 18: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) ............................................................. 218 Abb. 19: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) .......... 219 <?page no="357"?> 358 Abbildungsverzeichnis Abb. 20: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAE-A- und HAE-A-Gruppe) ............................................................. 220 Abb. 21: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) .......... 221 Abb. 22: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) ............................................................. 222 Abb. 23: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (HAE-A- und NAE-A-Gruppe) ............................................................. 222 Abb. 24: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 230 Abb. 25: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 231 Abb. 26: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 232 Abb. 27: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 232 Abb. 28: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 233 Abb. 29: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 233 Abb. 30: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 235 Abb. 31: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 235 Abb. 32: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 236 Abb. 33: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 236 Abb. 34: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (Gruppe A, B und C) ............................................................................... 237 Abb. 35: Frequenzanalyse der Verbformen in perfektiven Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) ....................................................................... 239 Abb. 36: Akkuratheitswerte für das PS in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 239 Abb. 37: Frequenzanalyse des PS in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) .................... 240 Abb. 38: Frequenzanalyse der Verbformen in kontinuativen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) ....................................................................... 241 <?page no="358"?> Abbildungsverzeichnis 359 Abb. 39: Akkuratheitswerte für das IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ...................................................................... 241 Abb. 40: Frequenzanalyse der Verbformen in habituellen Kontexten (HAF- und NAF-Gruppe) ....................................................................... 242 Abb. 41: Akkuratheitswerte für das IMP in habituellen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 243 Abb. 42: Frequenzanalyse des IMP in habituellen Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) .................... 243 Abb. 43: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 245 Abb. 44: Unterscheidung von PS und IMP in perfektiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 246 Abb. 45: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 247 Abb. 46: Unterscheidung von PS und GER in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 248 Abb. 47: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 248 Abb. 48: Unterscheidung von PS und IMP in progressiven Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 249 Abb. 49: Unterscheidung von PS und IMP in kontinuativen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 250 Abb. 50: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten (NAF- und HAF-Gruppe) ....................................................................... 250 Abb. 51: Unterscheidung von PS und IMP in habituellen Kontexten kategorisiert nach lexikalischem Aspekt (NAF- und HAF-Gruppe) .................... 251 Abb. 52: Hilfe Englisch bzgl. der Unterscheidung von PS und IMP ............ 274 Abb. 53: Hilfe Englisch bzgl. der Bildung und Verwendung von GER ....... 275 Abb. 54: Visualisierung der aspektuellen Opposition I (vgl. Castañeda Castro 2004) ................................................................ 322 Abb. 55: Visualisierung der aspektuellen Opposition II (vgl. Castañeda Castro 2004) ................................................................ 323 <?page no="359"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Bisher sind erschienen: 1 Daniel Reimann, Andrea Rössler (Hrsg.) Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht 2013, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6824-3 2 Daniel Reimann (Hrsg.) Kontrastive Linguistik und Fremdsprachendidaktik Iberoromanisch- Deutsch Studien zu Morphosyntax, Mediensprache, Lexikographie und Mehrsprachigkeitsdidaktik (Spanisch, Portugiesisch, Katalanisch, Deutsch) 2014, 292 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6825-0 3 Christine Michler, Daniel Reimann (Hrsg.) Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht 2016, 446 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6876-2 4 Lieselotte Steinbrügge Fremdsprache Literatur Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht 2016, 134 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-8002-3 5 Ferran Robles i Sabater, Daniel Reimann, Raúl Sánchez Prieto (Hrsg.) Angewandte Linguistik Iberoromanisch - Deutsch Studien zu Grammatik, Lexikographie, interkultureller Pragmatik und Textlinguistik 2016, 259 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6941-7 6 Ferran Robles i Sabater, Daniel Reimann, Raúl Sánchez Prieto (Hrsg.) Sprachdidaktik Spanisch - Deutsch Forschungen an der Schnittstelle von Linguistik und Fremdsprachendidaktik 2016, 188 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8014-6 7 Christoph Bürgel, Daniel Reimann (Hrsg.) Sprachliche Mittel im Unterricht der romanischen Sprachen Aussprache, Wortschatz und Morphosyntax in Zeiten der Kompetenzorientierung 2017, 419 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8096-2 8 Elena Schäfer Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/ Spanisch) 2017, 374 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8089-4 9 Theresa Venus Einstellungen als individuelle Lernervariable Schülereinstellungen zum Französischen als Schulfremdsprache - Deskription, Korrelationen und Unterschiede 2017, 418 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8136-5 <?page no="360"?> 10 Victoria del Valle Luque Poesía Visual im Spanischunterricht Von der literaturwissenschaftlichen Analyse zur gegenstands- und kompetenzorientierten Didaktik 2018, 311 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8170-9 11 Bernd Sieberg Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive 2018, 260 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8186-0 12 Silvia Melo-Pfeifer, Daniel Reimann (Hrsg.) Plurale Ansätze im Fremdsprachenunterricht in Deutschland State of the art, Implementierung des REPA und Perspektiven 2018, 354 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8189-1 13 Clémentine Abel Ausspracheschulung Erhebung der Kompetenzen, Überzeugungen und Praktiken von Französischlehrkräften. Entwicklung eines bedarfsbezogenen Fördermoduls 2018, 214 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8264-5 14 Christian Koch, Daniel Reimann (Hrsg.) As Variedades do Português no Ensino de Português Língua N-o Materna 2019, 225 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8221-8 15 Daniel Reimann, Ferran Robles i Sabater, Raúl Sánchez Prieto (Hrsg.) Kontrastive Pragmatik in Forschung und Vermittlung Deutsch, Spanisch und Portugiesisch im Vergleich 2019, 381 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8124-2 16 Marta García García, Manfred Prinz, Daniel Reimann (Hrsg.) Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen Neue Konzepte und Studien zu Schulsprachen und Herkunftssprachen in der Migrationsgesellschaft 2020, 409 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8385-7 17 Lukas Eibensteiner Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen Wie L2-Kenntnisse des Englischen, Französischen und Lateinischen den L3- Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beeinflussen 2021, 361 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8435-9 <?page no="362"?> Das vorliegende Buch beschä�igt sich mit dem schulischen Dri�spracherwerb des Spanischen und untersucht, wie die spanischen Vergangenheitstempora erworben werden und inwiefern sprachliche Vorkenntnisse diesen Erwerbsprozess beeinflussen. Eine mit mehr als hundert Schüler*innen durchgeführte empirische Untersuchung liefert Evidenz dafür, dass vor allem Englisch- und Französischvorkenntnisse einen posi�ven Einfluss haben, allerdings in unterschiedlichen seman�schen Kontexten. Der Autor plädiert daher für einen sprachvernetzenden Unterricht, der sich an den Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidak�k orien�ert. Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 17 ISBN 978-3-8233-8435-9