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Wirtschaftsprivatrecht

Juristisches Basiswissen für Wirtschaftswissenschaftler

0309
2011
978-3-8385-1584-7
978-3-8252-1584-2
UTB 
Wolfgang B. Schünemann

Vertiefte wirtschaftswissenschaftliche Einsichten und fundierte wirtschaftspraktische Entscheidungen sind ohne Kenntnis der rechtlichen Strukturen und Instrumente der Ökonomik nicht möglich. Daher bildet die Rechtswissenschaft einen Pflichtteil der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge. Die aktuelle Neuauflage dieses bewährten Lehrbuches liefert entsprechendes privatrechtliches Basiswissen deshalb sowohl für Studierende der Wirtschaftswissenschaften in allen Studienabschnitten als auch für Praktiker in Betrieben und Verbänden. Rechtsfragen werden, vor allem im Besonderen Teil, nicht von wirtschaftlichen Fragen isoliert, sondern als integraler Bestandteil des ökonomischen Wissens- und Entscheidungskomplexes dargestellt. Davon profitieren auch Wirtschaftsjuristen hinsichtlich ihrer Kommunikationsfähigkeit gegenüber Ökonomen. Eine Fülle von praktischen Beispielen und Abbildungen erleichtert Wirtschaftswissenschaftlern die Stoffaneignung. Ein ausführliches Sachverzeichnis erschließt das nicht nach herkömmlichen juristischen Prinzipien aufgebaute Werk für alle Disziplinen.

<?page no="1"?> UTB 1584 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink Verlag · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh Verlag · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/ Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH · Zürich <?page no="2"?> Grundwissen der Ökonomik Betriebswirtschaftslehre Herausgegeben von F.X. Bea · Tübingen M. Schweitzer · Tübingen <?page no="3"?> Wolfgang B. Schünemann Wirtschaftsprivatrecht Juristisches Basiswissen für Wirtschaftswissenschaftler 6., neu bearbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-8252-1584-2 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 6., neu bearbeitete Auflage 2011 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2011 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-21 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="5"?> Vorwort der Herausgeber Für Studierende und Praktiker ist es erfahrungsgemäß eine große Hilfe, wenn ihnen das Wissen eines Faches in einer knappen, systematisch aufbereiteten und leicht fasslichen Form dargeboten wird. Gleichzeitig müssen sie die Gewissheit haben, dass die Inhalte dem gegenwärtigen Erkenntnisstand entsprechen. Diesem Ziel dienen die Uni-Taschenbücher (UTB), die wir in der Reihe „Grundwissen der Ökonomik: Betriebswirtschaftslehre“ herausgeben. Die Themen der Einzeltitel sind so gewählt, dass sie den gesamten Wissensbereich der modernen Betriebswirtschaftslehre abdecken. Als Autoren konnten Hochschullehrer gewonnen werden, die dank der Verschiedenheit von Alter, Herkunft und Wissenschaftsauffassung die Gewähr dafür bieten, dass der Charakter der Reihe von keiner bestimmten Schulrichtung geprägt, sondern ein getreues Abbild der Wissenschaftsvielfalt in der Betriebswirtschaftslehre geboten wird. Eine Besonderheit der Reihe besteht darin, dass Bände, bei denen es sich vom Gegenstand her anbietet, durch Arbeitsbücher ergänzt werden. Diese Studienhilfen dienen vor allem der Vertiefung theoretischer Erörterungen, der Einübung von Wissen und der Anwendung des Erlernten auf praktische Fälle. Mit diesem Konzept ist zugleich die Chance verbunden, die Tätigkeit von Dozenten didaktisch und methodisch zu unterstützen und sie von Arbeiten zu befreien, deren Erledigung zwangsläu g zu Lasten vordringlicher Aufgaben ginge. Der Leser sei abschließend auf zwei Titel der Reihe hingewiesen, die wir als Basis-Lehrangebote konzipiert haben: die dreibändige „Allgemeine Betriebswirtschaftslehre“ und das neue „BWL-Lexikon“. Die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, von einem Expertenteam verfasst, bildet die Klammer um die Einzeltitel der Reihe und bezweckt eine systematische und branchenunabhängige (allgemeine) Einführung in das Fach. Ergänzend ermöglicht das neue UTB-Lexikon mit über 2000 Stichwörtern für alle Titel der Reihe eine kurze und leicht fassliche Klärung von Einzelproblemen. Es kann als fallweise Suchhilfe oder begleitend im laufenden Lernprozess eingesetzt werden. Tübingen, Februar 2011 F. X. Bea M. Schweitzer <?page no="6"?> Meinem Sohn Leonard, non omnis mortuus, requiescit in pace dei. <?page no="7"?> Vorwort zur 6. Auflage Wer auch immer sich mit ökonomischen Fragestellungen zu beschäftigen hat, kommt über kurz oder lang zu der Einsicht, dass befriedigende Antworten ohne Kenntnis des rechtlichen Rahmens und der rechtlichen Strukturen des Wirtschaftslebens nicht möglich sind. Dies gilt für Studierende der Wirtschaftswissenschaften in allen Studienabschnitten ebenso wie für diejenigen Ökonomen, für die der Anwendungsbezug des Rechts unmittelbare, praktisch erlebte betriebliche oder verbandliche Realität ist. Aber auch „gestandene“ Juristen, die an dem notwendigen Brückenschlag zwischen Recht und Wirtschaft interessiert sind, habe ich im Blick. Für diese doppelte Klientel, so hoffe ich, kann die vorliegende Darstellung des Wirtschaftsprivatrechts (übrigens ein erst von mir mit der 1. Auflage geprägter Begriff) von Nutzen sein. Ihre nunmehr 6. Auflage unterscheidet sich von der Vorauflage wiederum wesentlich. Viele Teile habe ich völlig neu geschrieben, fast überall teils umfangreiche Korrekturen vorgenommen. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Erstens haben die einschlägigen Gesetze eine zunehmend kürzere „Halbwertzeit“, werden also in immer kürzeren Abständen verändert. So sehr ich auch bemüht war, in den vielen in diesem Werk berührten Rechtsmaterien „up to date“ zu sein, so wenig kann ich leider ausschließen, doch etwas übersehen zu haben. Und oft ändert sich mit einer Gesetzesänderung die gesamte „Mechanik“ des Gesetzes, der juristische Algorithmus. Das ist das leidige Restrisiko bei einer so breit angelegten Konzeption. Zweitens war ich bestrebt, in der Neuauflage auch thematisch aktuell zu bleiben. So habe ich trotz der notwendigen Beschränkung des Textumfangs z. B. die Unternehmensgründung, die Internationalisierung der Rechtsbeziehungen oder das vielschichtige Thema „Compliance“ etwas breiter behandelt bzw. erstmals aufgegriffen. Bei Aufbau und Inhalt habe ich mich auch jetzt wieder von den vielfältigen Erfahrungen leiten lassen, die ich auf diversem didaktischen Terrain, auch interkulturell, sowie in Wirtschaftskontakten habe sammeln können. Dabei hat sich mein Eindruck vertieft, dass gerade die Perlen juristischer Dogmatik, für die ich in der Tat zu begeistern bin, auch für juristisch durchaus aufgeschlossene Ökonomen gänzlich unattraktiv sind. Juristen und Ökonomen bewegen sich nach fachlich unterschiedlicher Sozialisation eben doch oft in ganz verschiedenen gedanklichen Systemen, ja, leben in verschiedenen geistigen Welten, sprechen jedenfalls aber verschiedene Sprachen. Wie wenig kann gemeinhin ein Ökonom doch mit dem „lucrum cessans“ anfangen, wie wenig der Jurist mit „Opportunitätskosten“! Und doch ist beides weitgehend dasselbe. Die Vermittlung des Wirtschaftsrechts bedarf also im Interesse wechselseitiger Anschlussfähigkeit und im Blick auf die Freisetzung von Synergien in <?page no="8"?> Vorwort zur 6. Auflage IX besonderem Maße eines Eingehens auf die Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaft einerseits, Wirtschaftswissenschaft andererseits, und dies vor allem in Art und System der Darstellung: Überall sollten meine Bemühungen greifbar sein, die Interdependenz von Recht und Ökonomie, von Jurisprudenz und Ökonomik, zu verdeutlichen. Insofern ist „Wirtschaftsprivatrecht“ ein Programm, ein Plädoyer für einen kombinierten wissenschaftlichen Ansatz, nicht nur ein Kürzel für die beabsichtigte Stoffbeschränkung. In diesem verkürzten Sinne haben die vielen, die nach mir Lehrbücher zum „Wirtschaftsprivatrecht“ vorgelegt haben, mit diesem Begriff aber ersichtlich operiert. Ich betone dies, um von vornherein dem Eindruck des einen oder anderen Lesers schon beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses vorzubeugen, ich sei von allen guten juristischen Geistern verlassen gewesen, z. B. die Geschäftsfähigkeit erst an später Textstelle, im Zusammenhang mit einer Marktsegmentierung, näher zu beleuchten. Im Ergebnis scheint mein kombinatorischer wirtschaftlich-rechtlicher Zugang freilich doch zu überzeugen, wie neben der erfreulichen Tatsache der Neuauflage auf einem eigentlich gesättigten Markt auch eine Übersetzung der Vorauflage ins Russische zeigt. Auch eine chinesische Ausgabe ist im Gespräch. Gerne gestehe ich, dass mir der Verzicht auf jeglichen Nachweis von Schrifttum und Rechtsprechung leicht gefallen ist, und zwar keineswegs nur wegen der darin beschlossenen Arbeitserleichterung. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, dass die an der Entdeckung wissenschaftlichen Neulands orientierte Literatur, zu der ich wohl durchaus auch beigetragen habe, anderen Prinzipien der äußeren Gestaltung zu folgen hat als Publikationen, die ein wie auch immer geartetes didaktisches Engagement treibt. So wichtig ein ausführlicher wissenschaftlicher Apparat für die erste Spezies ist, so wenig ergiebig, ja lästig und unbefriedigend für Autor und Leser ist ein solcher Apparat für die zweite, weil dabei zwangsläufig ein doch recht willkürlicher Eklektizismus zu praktizieren ist. Wer es genau wissen will, muss ohnehin in das Labyrinth eines immer hochdifferenzierten Meinungsstandes einsteigen. Allemal muss sich der Leser darüber im Klaren sein, dass die Rechtswissenschaft, obwohl von Logik geprägt, nicht immer nach dem Muster des 6 : 3 = 2 funktioniert. Vieles geht nicht ohne Rest auf. Die in Folgendem vertretenen Standpunkte sind also gelegentlich von meinen ganz eigenen wissenschaftlichen, zumeist andernorts publizierten und dort auch begründeten Überzeugungen gefärbt, ohne dass ich dies besonders herausgestellt hätte. Umgekehrt hat mich freilich auch nicht der Ehrgeiz beflügelt, aus Profilierungsgründen von der herrschenden Meinung nun aus Prinzip abzuweichen. Im Übrigen darf weder die thematische Breite noch der juristisch sicher unorthodoxe Aufbau dieses Buches den Leser davon abhalten, auch andere, ja geradezu klassisch strukturierte juristische Lehrbücher insbesondere des Allgemeinen Teils, des Schuld- und Sachenrechts, des Handels-, Gesellschafts-, <?page no="9"?> X Vorwort zur 6. Auflage Arbeits- und Wettbewerbsrechtes sowie des Internationalen Privatrechts zur Hand zu nehmen, um erst in der dort nachgewiesenen Meinungsvielfalt und in dem dort möglichen subtilen gedanklichen Duktus dem vollen Reiz des rechtswissenschaftlichen Kosmos erliegen zu können. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir auch trotz Bedenken wegen der an sich gebotenen, aber nicht praktizierten Zurückhaltung in der Eigenwerbung doch den Hinweis auf Kornblum/ Schünemann: Privatrecht für den Bachelor, 350 Multiple-Choice-Aufgaben mit Lösungen zur Vorbereitung und Wissenskontrolle, 11. Auflage 2011. Dort finden sich ergänzend zahlreiche Beispiele mit ausführlich kommentierten Lösungen aus Materien der vorliegenden Darstellung und Hinweisen zu Literatur und Judikatur. Manchmal habe ich geradezu oft erst im Nachhinein von mir bemerkt dortige Aufgaben zum „Aufhänger“ meiner vorliegenden Ausführungen gemacht. Das vorliegende Werk zeichnet sich durch einen hohen inneren Vernetzungsgrad aus: Immer wieder wird auf Dinge zurückgegriffen, die bereits näher behandelt wurden, und gelegentlich mag etwas zunächst noch unklar sein, was erst im weiteren Verlauf zum Thema gemacht wird. Es hat sich von Auflage zu Auflage als immer schwieriger und schließlich als unmöglich erwiesen, diese zahllosen sachlichen Zusammenhänge auszuweisen und durch Querverweisungen namhaft zu machen. Der Leser wird freilich nicht in hilfloser Lage gelassen, kann er doch auf ein detailliertes Stichwortverzeichnis sowie auf ein tief gegliedertes Inhaltverzeichnis zurückgreifen. Er muss es freilich auch nutzen wollen. Während der Neubearbeitung hat ein Wechsel im Verlag stattgefunden, was die gewohnt harmonische Zusammenarbeit nicht berührt hat. Gleiches gilt hinsichtlich der Herausgeber. Dafür habe ich zu danken. Mein aufrichtiger Dank gilt aber nicht minder meinen Mitarbeitern, die mich mit großem Engagement und nachhaltig unterstützt haben: Meine langjährig bewährte Sekretärin, Frau Marianne Wiemers, hat wiederum umsichtig und mit nicht nachlassender Tatkraft das Manuskript betreut, meine wissenschaftlichen Mitarbeiter, Frau Ass. iur. Maxie Bethge und Herr Ass. iur. Michael Blomeyer, haben mich vorbildlich und mit großer Akribie darin unterstützt, den enormen stofflichen Änderungsbedarf zu identifizieren. Sie haben mir darüber hinaus wichtige Hinweise für die Gestaltung des neuen Textes gegeben und sich um das Stichwortverzeichnis gekümmert. Neben den Genannten wurde ich auch von Herrn cand. inform. Matthias Wiedenhorst tatkräftig unterstützt, um so manche Nuss der Textverarbeitung zu knacken. Verbleibende Mängel des vorliegenden Werkes habe selbstverständlich allein ich zu verantworten. Für Anregungen und Kritik, aber auch für positive Rückmeldung aus dem Kreis der Leser bin ich immer dankbar. Dortmund, im Frühjahr 2011 Wolfgang B. Schünemann <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber........................................................................V Vorwort zur 6. Auflage........................................................................ VIII Inhaltsverzeichnis ................................................................................. XI Abkürzungsverzeichnis ........................................................................XX Abbildungsverzeichnis .....................................................................XXVI A. Allgemeiner Teil: Grundlagen .............................................................1 I. Vorfragen ..............................................................................................1 1. Rechtsdidaktische Vorbemerkungen.................................................................... 1 2. Zur juristischen Kommunikation ......................................................................... 3 a) Zitierweise....................................................................................................... 3 b) Sprachpräzision ............................................................................................. 5 3. Privatrecht und Öffentliches Recht...................................................................... 7 II. Begriff und praktische Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts .......14 III. Das privatrechtliche „Weltbild“.......................................................17 1. Gesetzestechnische Fragen.................................................................................. 17 2. Rechtssubjekte ....................................................................................................... 21 a) Rechtsfähigkeit/ Handlungsfähigkeit ........................................................ 21 b) Natürliche und juristische Personen, Gesamthandsgemeinschaften ......................................................................................................... 22 (1) Rechtssubjektivität des Menschen..................................................... 22 (2) Rechtssubjektivität juristischer Personen ......................................... 25 (3) Rechtssubjektivität der Gesamthandsgemeinschaften, insbesondere sog. Personengesellschaften................................................. 32 c) Einzelkaufmann und Handelsgesellschaft ............................................... 36 (1) Schlüsselfunktion des Kaufmannsbegriffs ....................................... 36 (2) Gewerbe/ Handelsgewerbe ................................................................. 37 (3) Der „Musskaufmann“ („Ist-Kaufmann“) ........................................ 39 (4) Der „Kannkaufmann“......................................................................... 40 <?page no="11"?> XII Inhaltsverzeichnis (5) „Fiktiv“- und „Scheinkaufmann“ ...................................................... 42 (6) Handelsgesellschaften, insbesondere der „Formkaufmann“ ........ 44 (7) Exkurs: Handelsregister und Unternehmensregister...................... 49 d) Verbraucher und Unternehmer................................................................. 52 3. Rechtsobjekte......................................................................................................... 54 a) Sachen und Sachbestandteile ..................................................................... 54 b) Rechte............................................................................................................ 59 (1) Arten der Rechte .................................................................................. 59 (2) Ausübung der Rechte .......................................................................... 63 (3) Durchsetzung der Rechte, Fristen..................................................... 64 c) Sonstige (unkörperliche) Gegenstände..................................................... 72 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte ............................................................. 74 1. Begriff und Arten der Rechtsgeschäfte.............................................................. 74 2. Das Handelsgeschäft ............................................................................................ 77 3. Auslegung ............................................................................................................... 79 4. Nichtigkeit .............................................................................................................. 82 5. Anfechtbarkeit ....................................................................................................... 86 a) Anfechtungsgründe ..................................................................................... 86 (1) Arglistige Täuschung und Drohung.................................................. 86 (2) Erklärungs-, Inhalts- und Eigenschaftsirrtum ................................. 87 b) Anfechtungserklärung und -folge ............................................................. 90 6. Geschäftsgrundlage............................................................................................... 92 7. Bedingung und Befristung ................................................................................... 93 8. Stellvertretung ........................................................................................................ 95 a) Das Grundmuster ........................................................................................ 95 (1) Funktionen der Stellvertretung .......................................................... 95 (2) Das Vertreterhandeln .......................................................................... 98 (3) Die Vertretungsmacht ......................................................................... 99 b) Prokura........................................................................................................106 c) Handlungsvollmacht .................................................................................109 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge .......................... 112 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) ...................................................................112 a) Abschlussfreiheit - Kontrahierungszwang.............................................112 b) Formfreiheit - Formzwang ......................................................................115 (1) Erklärungsmittel, Konkludenz und Schweigen .............................115 (2) Formzwangtypen................................................................................116 (3) Rechtsfolgen des Formmangels .......................................................119 c) Gestaltungsfreiheit - Zwingendes Recht................................................121 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung...........................124 a) Einseitig, zweiseitig und „gegenseitig“ verpflichtende Verträge ........124 <?page no="12"?> Inhaltsverzeichnis XIII b) Leistungspflichten, Loyalitätspflichten sowie Obliegenheiten...........126 c) Leistungsort und Leistungszeit................................................................130 (1) Definition und rechtlich-wirtschaftliche Funktionen...................130 (2) Holschuld, Schickschuld und Bringschuld.....................................132 (3) Fälligkeit und Erfüllbarkeit ...............................................................136 d) Der Leistungsgegenstand .........................................................................138 (1) Stück- und Gattungsschuld ..............................................................138 (2) Die Geldschuld...................................................................................141 (3) Unbestimmtheit der Leistung...........................................................143 e) Erfüllung und Erfüllungssurrogate .........................................................144 (1) Erfüllung, insbesondere auch Zahlung...........................................144 (2) Leistung an Erfüllungs Statt, insbesondere Banküberweisung ...146 (3) Exkurs: Leistung erfüllungshalber, insbesondere Scheck, Kreditkarte und EC-Karte ................................................................147 (4) Aufrechnung .......................................................................................149 (5) Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht.......................................152 f) Sonstige Erlöschensgründe.......................................................................152 g) Der Dritte im Vertragsverhältnis ............................................................153 (1) Verträge zugunsten Dritter ...............................................................153 (2) Verträge mit Schutzwirkung für Dritte...........................................156 (3) Schuldübernahme, Abtretung, Vertragsübernahme .....................156 3. Leistungsstörungen .............................................................................................161 a) Überblick.....................................................................................................161 b) „Vertretenmüssen“ ...................................................................................166 c) „Leistungshindernisse“, insbesondere Unmöglichkeit ........................171 (1) Begriffliche Klassifizierung...............................................................171 (2) Rechtsfolgen........................................................................................173 d) Verzug .........................................................................................................177 (1) Schuldnerverzug .................................................................................177 (2) Gläubigerverzug .................................................................................183 e) Sonstige vertragliche Leistungsstörungen..............................................186 f) Culpa in contrahendo ................................................................................188 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick ..... 190 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung...........190 a) Begriff und Arten.......................................................................................190 b) Kaufvertragliche Pflichten und ihre Erfüllung .....................................193 (1) Sach- und Rechtskauf ........................................................................193 (2) Erfüllung der Rechtsverschaffungspflicht, insbesondere Übereignung ........................................................................................194 (3) Exkurs: Sonstige Erwerbstatbestände: Ersitzung, Aneignung und Verarbeitung................................................................................199 <?page no="13"?> XIV Inhaltsverzeichnis 2. Miete und Operating-Leasing............................................................................202 a) Verwandtschaft von Miete, Pacht, Leihe, Darlehen und Sachdarlehen.......................................................................................................202 b) Abschluss und Inhalt der Miete ..............................................................203 c) Beendigung .................................................................................................207 d) Operating-Leasing als Miete ....................................................................209 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung ................................211 a) Diversifiziertes Dienstleistungsrecht ......................................................211 b) Vertragsinhalt, insbesondere bei „Geschäftsbesorgung“....................213 c) Exkurs: Geschäftsführung ohne Auftrag...............................................217 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt .............................................................220 a) Sach- und Rechtsmängel...........................................................................220 b) Gewährleistungsrechte im Einzelnen.....................................................222 (1) Rechtliche Randbedingungen...........................................................222 (2) Nacherfüllung .....................................................................................223 (3) Rücktritt und Minderung ..................................................................225 (4) Schadensersatz ....................................................................................227 c) Gewährleistung und Zeitfaktor ...............................................................229 d) Besonderheiten beim Händlerregress ....................................................233 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse ........................................................................................234 1. Abstraktionsprinzip und Bereicherungsrecht .................................................234 2. Gutgläubiger Rechtserwerb und Bereicherungsrecht....................................238 3. Deliktsrecht ..........................................................................................................242 a) Verschuldens-und Gefährdungshaftung ................................................242 b) Verhältnis zur Haftpflichtversicherung .................................................244 c) Der Deliktsaufbau, insbesondere Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit.........................................................................................245 d) Besondere deliktische Haftungstatbestände..........................................251 4. Exkurs: Negatorischer Rechtsschutz und Verwandtes .................................255 VIII. Schadensersatzrecht ....................................................................258 1. Schadensersatz und Bereicherungsabschöpfung............................................258 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes ...........................................................259 a) Naturalrestitution.......................................................................................259 b) Totalreparation ..........................................................................................263 3. Erfüllungs- und Vertrauensschaden.................................................................266 B. Besonderer Teil: Rechtsstrukturen spezieller betriebswirtschaftlicher Felder ..................................................................................... 271 <?page no="14"?> Inhaltsverzeichnis XV I. Unternehmensgründung .................................................................. 271 1. Unternehmensgründung als Existenzgründung .............................................271 2. Rechtsformwahl...................................................................................................272 3. Registrierung und Firmenwahl..........................................................................273 4. Existenzgründungsfinanzierung .......................................................................274 II. Beschaffung, Absatz und Logistik ..................................................275 1. Nationale und internationale Lieferbeziehungen und Logistik....................275 2. Auftrag und Auftragsabwicklung......................................................................279 a) Die Bestellung im Kontext des Vertrages..............................................279 b) Die Auftragsbestätigung...........................................................................283 c) Allgemeine Geschäftsbedingungen.........................................................286 (1) Begriff und Vertragseinbeziehung ...................................................286 (2) Inhaltskontrolle...................................................................................290 d) Konditionengestaltung .............................................................................294 (1) Lieferort und Lieferzeit, insbesondere Fixgeschäft und Abruf ..294 (2) Vertragsstrafe ......................................................................................296 (3) Handelsklauseln ..................................................................................297 e) Qualitätssicherung .....................................................................................299 (1) Bemusterung .......................................................................................299 (2) Wareneingangskontrolle....................................................................300 3. Verpackung ..........................................................................................................302 4. Kommission.........................................................................................................304 a) Interessenlage und Abgrenzung ..............................................................304 b) Kommissionsvertrag .................................................................................307 c) Ausführungsgeschäft.................................................................................308 5. Lagerwesen ...........................................................................................................310 a) Lagerarten und Lagervertrag....................................................................310 b) Der Lagerschein ........................................................................................312 6. Spedition und Transport ....................................................................................313 7. Weitere logistische Dienstleistungen................................................................321 III. Organisation und Personalwesen ..................................................322 1. Individuelles und kollektives Arbeitsrecht im Überblick..............................322 2. Individualarbeitsrecht .........................................................................................324 a) Das Arbeitsverhältnis ................................................................................324 b) Der Begriff des Arbeitnehmers...............................................................325 c) Der Arbeitsvertrag.....................................................................................326 (1) Anbahnung und Abschluss von Arbeitsverträgen ........................326 (2) Die Form von Arbeitsverträgen ......................................................331 (3) Haupt- und Nebenpflichten des Arbeitsvertrages ........................332 (4) Lohnanspruch auch ohne Arbeitsleistung......................................334 <?page no="15"?> XVI Inhaltsverzeichnis d) Die Regelung der Arbeitszeit...................................................................337 (1) Regelmäßige Arbeitszeit ....................................................................337 (2) Mehrarbeit und Überstunden...........................................................339 e) Arbeitszeit und Jugendarbeitsschutz ......................................................340 f) Urlaub, Sonderurlaub, Freistellungen .....................................................341 g) Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ............................................345 (1) Der befristete Arbeitsvertrag............................................................345 (2) Aufhebungsvertrag.............................................................................347 (3) Anfechtung..........................................................................................348 h) Kündigung..................................................................................................350 (1) Kündigungserklärung ........................................................................350 (2) Anhörung des Betriebsrates .............................................................351 (3) Ordentliche Kündigung ....................................................................351 (4) Außerordentliche Kündigung...........................................................353 (5) Geltendmachung der Unwirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung ...........................................................................................354 i) Kündigungsschutz ......................................................................................355 (1) Allgemeiner Kündigungsschutz .......................................................355 (2) Besonderer Kündigungsschutz für Mütter und Eltern ................359 (3) Kündigungsschutz für Schwerbehinderte ......................................360 (4) Kündigungsschutz bei Funktionsträgern der Betriebsverfassung.......................................................................................................360 (5) Besonderheiten bei der Kündigung eines Probearbeitsverhältnisses ..............................................................................................360 3. Kollektives Arbeitsrecht.....................................................................................361 a) Der Tarifvertrag .........................................................................................361 (1) Der normative Teil.............................................................................361 (2) Der schuldrechtliche Teil ..................................................................366 b) Arbeitskampf .............................................................................................366 (1) Überblick .............................................................................................366 (2) Rechtsfolgen des Arbeitskampfes ...................................................369 c) Betriebsverfassungsrecht ..........................................................................372 (1) Betriebsverfassung und Mitbestimmung ........................................372 (2) Funktion und Stellung des Betriebsrates ........................................374 (3) Arten der Beteiligungsrechte des Betriebsrates .............................376 (4) Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten ................................377 (5) Die Beteiligung bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung ...........................................................378 (6) Die Beteiligung in personellen Angelegenheiten...........................379 (7) Die Beteiligung des Betriebsrates in wirtschaftlichen Angelegenheiten .................................................................................381 d) Die Betriebsvereinbarung ........................................................................381 <?page no="16"?> Inhaltsverzeichnis XVII 4. Haftungsfragen ....................................................................................................382 a) Der Mitarbeiter als Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfe....................382 b) Die persönliche Haftung des Mitarbeiters, insbes. der Regress.........385 5. Betriebliche Informationstechnik und Recht .................................................388 a) Der betriebsexterne IT-Arbeitsplatz.......................................................388 b) Rechtsschutz von Computerprogrammen ............................................390 c) IT-Vertragsrecht ........................................................................................396 d) Betrieblicher Datenschutz und Compliance .........................................400 (1) Informationsfreiheit und Datenschutz ...........................................400 (2) Datensicherung und (materieller) Datenschutz.............................403 (3) Konformitätsüberwachung (Compliance Monitoring) ................406 (4) Datenschutzrechtliche Instrumente und Sanktionen ...................408 6. Außendienst .........................................................................................................409 a) Handelsvertreter und Handlungsgehilfe in der Unternehmensorganisation ......................................................................409 b) Der Rechtsstatus des Handelsvertreters im Innenverhältnis .............411 c) Vermittlungs- und Abschlussvertretung ................................................415 IV. Investition und Finanzierung......................................................... 416 1. Geld- und Warenkredit ......................................................................................416 2. Darlehen (Geldkredit) ........................................................................................417 3. Verbraucherkredit, Teilzahlungsgeschäft, Ratenlieferungsverträge ............420 a) Regelungsfeld und Grundlagen ...............................................................420 b) Informationspflichten und Schriftformzwang .....................................422 c) Widerrufs- oder Rückgaberecht ..............................................................423 d) Zahlungsrückstand des Kreditnehmers .................................................425 e) Rechtslage bei Ratenlieferungsverträgen und Ähnlichem...................428 4. Das drittfinanzierte Geschäft ............................................................................429 5. Finance-Leasing ...................................................................................................431 6. Factoring...............................................................................................................434 7. Bartering ...............................................................................................................436 8. Kreditsicherheiten ...............................................................................................437 a) Interne und externe Sicherheiten ............................................................437 b) Wertsicherungsklauseln ............................................................................439 c) Bürgschaft ...................................................................................................441 d) Schuldbeitritt ..............................................................................................446 e) Forderungsgarantie ....................................................................................447 f) Forderungsausfallversicherung (Kreditversicherung) ..........................448 g) Forfaitierung...............................................................................................449 h) Dokumenten-Akkreditiv ..........................................................................450 i) Patronatserklärung und gesetzliche Patronage ......................................451 j) Eigentumsvorbehalt ...................................................................................452 <?page no="17"?> XVIII Inhaltsverzeichnis (1) Der einfache Eigentumsvorbehalt...................................................452 (2) Der verlängerte Eigentumsvorbehalt ..............................................454 (3) Der erweiterte Eigentumsvorbehalt ................................................456 (4) Der weitergegebene Eigentumsvorbehalt ......................................456 (5) Der nachgeschaltete Eigentumsvorbehalt......................................457 (6) Der unechte Eigentumsvorbehalt....................................................457 k) Warenpfandrecht .......................................................................................457 l) Grundpfandrecht........................................................................................459 (1) Wesen von Hypothek, Grundschuld, Rentenschuld ....................459 (2) Bestellung und Übertragung.............................................................461 (3) Verwertung..........................................................................................463 m) Forderungspfandrecht.............................................................................463 n) Sicherungsübereignung.............................................................................464 o) Sicherungszession......................................................................................466 9. Kontokorrent und Giro .....................................................................................467 10. Unternehmenskauf ...........................................................................................469 11. Beteiligungsfinanzierung (Gesellschaftsrecht)..............................................472 a) Einzelunternehmen versus Gesellschaft ................................................472 b) Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) .......................................474 c) Die offene Handelsgesellschaft (OHG).................................................478 d) Die Kommanditgesellschaft (KG)..........................................................480 e) Stille Gesellschaft und Unterbeteiligung ................................................484 f) Die Partnerschaftsgesellschaft (Partnerschaft) ......................................485 g) Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV).....486 h) Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) und die Unternehmergesellschaft (UG) mit beschränkter Haftung ................488 i) Europäische Privatgesellschaft mit beschränkter Haftung (SPE = Societas Privata Europaea) ........................................................................492 j) Aktiengesellschaft (AG) und Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA)..........................................................................................................493 (1) Kapitalstruktur....................................................................................493 (2) Rechtsstatus der Aktionäre, Hauptversammlung..........................495 (3) Vorstand und Aufsichtsrat................................................................497 (4) Verfassung der KGaA .......................................................................499 k) Europäische Aktiengesellschaft (SE = Societas Europaea) ..............500 l) Die eingetragene Genossenschaft (eG) .................................................501 m) Europäische Genossenschaft (SCE = Societas Cooperativa Europaea) ..................................................................................................502 n) Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) ...............................503 V. Marketing.........................................................................................504 1. Rechtliche Schnittstellen mit dem Marketing-Mix im Überblick ................504 <?page no="18"?> Inhaltsverzeichnis XIX 2. Akquisitionsrisiken..............................................................................................506 a) Geschäftsfähigkeitsmängel .......................................................................506 b) Direktmarketing.........................................................................................512 (1) Zusendung unbestellter Waren und ähnliches ..............................512 (2) „Haustürgeschäfte“ und ähnliche Geschäfte.................................513 (3) Fernabsatzverträge .............................................................................516 3. Produktverantwortung im Marketing-Mix ......................................................520 a) Rechtsdimensionen der Produktverantwortung ...................................520 b) Garantien ....................................................................................................522 c) Produktgefährdungshaftung ....................................................................525 4. Wettbewerbsrechtliche Eckdaten des Marketing ...........................................530 a) Die Binnenstruktur des Wettbewerbsrechts..........................................530 b) Unlauterkeit, Unzulässigkeit, Bedeutung der Bagatellklausel .............532 c) Fallgruppen unzulässiger geschäftlicher Handlungen..........................533 (1) „Kundenfang ......................................................................................533 (2) „Behinderung“ ....................................................................................537 (3) „Ausbeutung“ .....................................................................................538 (4) „Vorsprung durch Rechtsbruch“.....................................................539 (5) „(Allgemeine) Marktstörung“...........................................................540 (6) Unzumutbare Belästigungen ............................................................541 (7) Irreführung ..........................................................................................542 d) Wettbewerbsrechtlicher Rechtsschutz ...................................................547 e) Firmenrecht ................................................................................................549 f) Ausgewählte Fragen des Markenartikel- und Fachhandelsmarketing ....................................................................................................551 (1) Schutz von Warenzeichen und Dienstleistungsmarken ...............551 (2) Preis- und Vertriebsbindungssysteme.............................................554 (3) Rechtliche Restriktionen auf operativer Ebene.............................555 Stichwortverzeichnis ............................................................................556 <?page no="19"?> Abkürzungsverzeichnis a. A. am Anfang Abb. Abbildung AbfG Abfallbeseitigungsgesetz AbzG Abzahlungsgesetz AdSp Allgemeine Deutsche Spediteur-Bedingungen a. E. am Ende a. F. alte Fassung AFG Arbeitsförderungsgesetz AG Aktiengesellschaft AktG Aktiengesetz Alt. Alternative AMG Arzneimittelgesetz AnfG Anfechtungsgesetz ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz ArbnErfG Gesetz über Arbeitnehmererfindungen ArbPlSchG Arbeitsplatzschutzgesetz Art(t). Artikel (Plural) AuslG Ausländergesetz AWG Außenwirtschaftsgesetz ArbZG Arbeitszeitgesetz AtomG Atomgesetz AÜG Arbeitnehmerüberlassungsgesetz BAG Bundesarbeitsgericht BBankG Gesetz über die Deutsche Bundesbank BBiG Berufsbildungsgesetz BDSG Bundesdatenschutzgesetz BEEG Bundeselterngeld- und -elternzeitgesetz BetrAVG Gesetz über die betriebliche Altersversorgung BetrVG Betriebsverfassungsgesetz BeurkG Beurkundungsgesetz BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGB-InformationspflichtenV Verordnung über Informationspflichten nach Bürgerlichem Recht BImSchG Bundesimmissionsschutzgesetz BPersVG Bundespersonalvertretungsgesetz BSeuchG Bundesseuchengesetz <?page no="20"?> Abkürzungsverzeichnis XXI BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung BtG Betreuungsgesetz BUrlG Bundesurlaubsgesetz BZRG Bundeszentralregistergesetz bzw. beziehungsweise ChemG Chemikaliengesetz cic culpa in contrahendo (lat.: Verschulden bei Vertragsschluss) CIM Convention international concernant le transport des merchandises par chemin de ferroviaires CISG (UN-)Convention on Contracts for the International Sale of Goods COTIF Convention relative aux transports internationaux ferroviaires CMR Convention on the Contract for the International Carriage of Goods by Road DCGK Deutscher Corporate Governance Kodex d. h. das heißt DIN Deutsche Industrie Norm; Deutsches Institut für Normung e. V. DVO Durchführungsverordnung EDV Elektronische Datenverarbeitung EFZG Entgeltfortzahlungsgesetz e. G. Eingetragene Genossenschaft EG Europäische Gemeinschaft EGBGB Einführungsgesetz zum BGB EGV EG-Vertrag EichG Eichgesetz EN Europäische Norm(en) ErbbaurechtsG ErbbaurechtsG EStG Einkommensteuergesetz EU Europäische Union e. V. eingetragener Verein EVB-IT Ergänzende Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Leistungen EVO Eisenbahnverkehrsordnung EWIV Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung EWIV-AG EWIV-Ausführungsgesetz EWIV-VO EWIV-Verordnung (der EG) <?page no="21"?> XXII Abkürzungsverzeichnis EZB Europäische Zentralbank FernAbsG Fernabsatzgesetz FertigPackV Fertigpackungsverordnung FGG Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit GBO Grundbuchordnung GbR Gesellschaft bürgerlichen Rechts GebrMG Gebrauchsmustergesetz GenG Genossenschaftsgesetz GenTG Gentechnikgesetz GeschmMG Geschmacksmustergesetz GewO Gewerbeordnung GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbHG GmbH-Gesetz GoA Geschäftsführung ohne Auftrag GPSG Geräte- und Produktsicherheitsgesetz griech. griechisch GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen h hora (lat.: Uhr) HaftPflG Haftpflichtgesetz HAG Heimarbeitsgesetz Halbs. Halbs. HandwerksO Handwerksordnung HandelsklassenG Handelsklassengesetz h. M. Herrschende Meinung HGB Handelsgesetzbuch HRV Handelsregisterverfügung i. e. S. im engeren Sinne IfSG Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen IHK Industrie- und Handelskammer(n) InfoV Informationspflichten-Verordnung InsO Insolvenzordnung IPR Internationales Privatrecht i. S. im Sinne IT Informationstechnik <?page no="22"?> Abkürzungsverzeichnis XXIII IuKDG Informations- und Kommunikationsdienstegesetz i. V. m. in Verbindung mit i. w. S. im weiteren Sinne JArbSchG Jugendarbeitsschutzgesetz KG Kommanditgesellschaft KGaA Kommanditgesellschaft auf Aktien KMU Kleine und mittlere Unternehmen KonTraG Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich KSchG Kündigungsschutzgesetz KVO Kraftverkehrsordnung KWG Gesetz über das Kreditwesen lat. lateinisch lit. littera (lat.: Buchstabe) LuftVG Luftverkehrsgesetz MA Montrealer Abkommen MarkenG Markengesetz MuSchG Mutterschutzgesetz NachwG Nachweisgesetz n. F. neue Fassung Nr. Nummer o. ä. oder ähnliches OHG Offene Handelsgesellschaft OWiG Ordnungswidrigkeitengesetz p. a. per annum (lat.: auf ein Jahr bezogen) PartGG Partnerschaftsgesellschaftsgesetz PatG Patentgesetz PBefG Personenbeförderungsgesetz PersVG Personalvertretungsgesetz PflVG Pflichtversicherungsgesetz PIS Personalinformationssystem(e) PreisKlG Preisklauselgesetz PAngV Preisangabenverordnung PrKV Preisklauselverordnung ProdHaftG Produkthaftungsgesetz <?page no="23"?> XXIV Abkürzungsverzeichnis ProstG Prostitutionsgesetz RabattG Rabattgesetz RL/ EG Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft Rom I VO/ EG Nr. 593/ 2008 RVO Reichsversicherungsordnung SCE Societas Cooperativa Europaea (Europäische Genossenschaft) SCEAG Ausführungsgesetz betreffend das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) ScheckG Scheckgesetz SE Societas Europaea (Europäische Aktiengesellschaft) SeemG Seemannsgesetz SEAG Ausführungsgesetz betreffend das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) SE-VO EG-Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea-VO) SPE Societas Privata Europaea (Europäische Privatgesellschaft) SprAuG Sprecherausschussgesetz SigG Signaturgesetz SGB/ IV Sozialgesetzbuch/ 4. Buch SGB/ IX Sozialgesetzbuch/ 9. Buch SGB/ X Sozialgesetzbuch/ 10. Buch sog. sogenannt(…) StabG Stabilitäts- und Wachstumsgesetz StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StVG Straßenverkehrsgesetz StVO Straßenverkehrsordnung TKG Telekommunikationsgesetz TierSchG Tierschutzgesetz TVG Tarifvertragsgesetz TzBfG Teilzeit- und Befristungsgesetz UKlaG Unterlassungsklagengesetz UmweltHG Umwelthaftungsgesetz UmwG Umwandlungsgesetz u. a. unter anderem UrhG Urheberrechtsgesetz <?page no="24"?> Abkürzungsverzeichnis XXV u. U. unter Umständen UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb VerpackV Verpackungsverordnung VAG Versicherungsaufsichtsgesetz VDE Verband Deutscher Elektrotechniker VerschG Verschollenheitsgesetz vgl. Vergleiche V(O) Verordnung VOC Verdingungsordnung für Computerleistungen VVaG Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit VVG Versicherungsvertragsgesetz WA Warschauer Abkommen WährG Währungsgesetz WEG Wohnungseigentumsgesetz WG Wechselgesetz WHG Wasserhaushaltsgesetz WissZeitVG Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft z. B. zum Beispiel ZGB/ DDR Zivilgesetzbuch (ehem. DDR) ZPO Zivilprozessordnung ZugabeVO Zugabeverordnung ZVG Zwangsversteigerungsgesetz z. Zt. zur Zeit <?page no="25"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Privatrecht als Teilrechtsordnung............................................................... 9 Abb. 2: Beispiele für die Zugehörigkeit zu einer Teilrechtsordnung (nach Schwerpunkt)................................................................................................ 11 Abb. 3: Wirtschaftsprivatrecht in der Gesamtrechtsordnung ............................ 15 Abb. 4: Trennungsprinzip bei der juristischen Person ........................................ 27 Abb. 5: Haftungsverhältnisse einzelunternehmerisch geführter Unternehmen .......................................................................................................... 29 Abb. 6: Haftungsverhältnisse in der Ein-Mann-GmbH mit alleingeschäftsführendem Gesellschafter .......................................................................... 30 Abb. 7: Holding-GmbH im Vertikal-Konzern..................................................... 31 Abb. 8: Gesellschaftsschuld, persönliche Haftung und Tilgungsregress am Beispiel der OHG........................................................................................ 35 Abb. 9: Strukturelle Logik des Kaufmannbegriffs ............................................... 46 Abb. 10: Abgrenzung der GbR zu den Personenhandelsgesellschaften OHG und KG anhand der Gesellschaftszwecke ................................. 48 Abb. 11: Publizität des Handelsregisters ............................................................... 52 Abb. 12: Das privatrechtliche "Weltbild“.............................................................. 73 Abb. 13: Willenserklärung (WE) und Rechtsgeschäft (RG) ............................... 77 Abb. 14: Struktur der Willenserklärung ................................................................. 88 Abb. 15: Bedingungs- und Befristungsmatrix....................................................... 95 Abb. 16: Wirkungsweise der Stellvertretung ......................................................... 97 Abb. 17: Arten der Vertretungsmacht..................................................................101 Abb. 18: Inhalt und Grenzen der Vertragsfreiheit.............................................113 Abb. 19: Pflichtenstruktur eines Schuldverhältnisses i. w. S. am Beispiel Kauf ...........................................................................................................128 Abb. 20: Leistungsort/ “Erfüllungsort“ (L) und Erfolgsort (E) mit Verantwortungssphäre des Schuldners (unterlegt)................................................133 Abb. 21: Haupt- und Gegenforderung bei der Aufrechnung ..........................150 Abb. 22: Erlöschensgründe für das Schuldverhältnis i. e. S. ............................154 Abb. 23: Forderungsabtretung (Zession) ............................................................158 Abb. 24: Arten der Leistungsstörungen (alle Gesetzesangaben BGB) ...........164 Abb. 25: System des Leistungsstörungsrechts in Auswahl (alle Gesetzesangaben BGB)..........................................................................................166 Abb. 26: "Vertretenmüssen"..................................................................................167 Abb. 27: Handelskauf als begriffliche Schnittmenge .........................................191 Abb. 28: Verwandtschaftliche Rechtsbeziehungen von Miete, Leihe und (Sach-)Darlehen .......................................................................................204 <?page no="26"?> Abbildungsverzeichnis XXVII Abb. 29: Leasing (Grundmuster) ..........................................................................210 Abb. 30: Vertragstypen im Dienstleistungssektor (vereinfacht) ......................212 Abb. 31: Ausgangsszenario für §§ 932/ 816 I, 822 BGB...................................239 Abb. 32: Deliktischer Anspruch und Haftpflichtversicherung ........................246 Abb. 33: Begriffsvarianten des "Auftrages" ........................................................280 Abb. 34: Hierarchie der Vertragsrechtsquellen...................................................284 Abb. 35: Privatrechtsbezüge materialwirtschaftlich-logistischer Subsysteme 305 Abb. 36: Kommissionsvertrag und Ausführungsgeschäft ................................307 Abb. 37: Der Frachtführer im Kontext des Versendungskaufs.......................317 Abb. 38: „Magisches“ logistisches Dreieck (Ausgangsszenario)......................321 Abb. 39: Struktur des Tarifvertrages ....................................................................363 Abb. 40: Haftung für Verrichtungs- und Erfüllungsgehilfen (vereinfacht) ...387 Abb. 41: Urheberrechtliche Befugnisse ...............................................................393 Abb. 42: IT-Vertragsformen..................................................................................398 Abb. 43: IT-Vertragsmanagement (Grobphasierung) .......................................399 Abb. 44: IT-vertragliche Module / Kombinationen ("Unbundling" / "Bundling")...............................................................................................401 Abb. 45: Rechtsbeziehungen bei der Einschaltung von Handelsvertretern ..412 Abb. 46: Abzahlungskauf und drittfinanzierter Kauf ........................................430 Abb. 47: Struktur des Bartering.............................................................................437 Abb. 48: System der Kreditsicherheiten ..............................................................439 Abb. 49: Rechtsbeziehungen bei der Bürgschaft................................................442 Abb. 50: Firmenfortführung? ................................................................................472 Abb. 51: Zwingendes und dispositives (X) Gesellschaftsrecht (vereinfacht) 473 Abb. 52: Die GmbH & Co. KG als "Einheitsgesellschaft"..............................483 Abb. 53: Marketing und Recht ..............................................................................505 Abb. 54: Geschäftsfähigkeit als Funktion von Alter, "Betreuung" und psychischer Verfasssung.........................................................................512 Abb. 55: Integratives Produkthaftungsmanagement .........................................524 Abb. 56: System der Produktverantwortung (stark vereinfacht) .....................529 <?page no="28"?> A. Allgemeiner Teil: Grundlagen I. Vorfragen 1. Rechtsdidaktische Vorbemerkungen „Wirtschaftsprivatrecht“ ist augenscheinlich eine Rechtsmaterie unter dem Oberbegriff „Privatrecht“. Um Begriffsinhalt und praktische Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts erfassen zu können, muss man also zunächst einmal eine Vorstellung vom Privatrecht, ja vom Recht ganz allgemein, gewinnen. Damit befindet man sich unversehens vielleicht schon im Bereich der Rechtsphilosophie, die u. a. - Überlegungen dazu anstellt, was Recht i. S. von Gerechtigkeit ist und welche Grenzen ein Gesetzgeber beachten muss, um keine Unrechtsordnung zu etablieren. Die Rechtsgeschichte, nicht zuletzt die deutsche Rechtsgeschichte nach 1933, quillt über vor Beispielen, in denen Unrecht im Gewand und mit dem Geltungsanspruch des Rechts aufgetreten ist. So interessant, wichtig und notwendig die hier aufgeworfenen Fragen auch sein mögen, will man den Erkenntnisgegenstand Recht in seiner ganzen Tiefe ausloten, so wenig kann ihnen im thematischen Zusammenhang dieses Buches nachgegangen werden. Hier wird vielmehr der Zweck verfolgt, die Rechtsordnung, so wie sie nun einmal in der Bundesrepublik Deutschland in einer bestimmten Gestalt vorfindlich ist, näher kennen zu lernen. Uns beschäftigt nicht, ob der Gesetzgeber irgendein Sachproblem für die Bürger einleuchtend und vom Ergebnis her akzeptabel gelöst hat. Uns beschäftigt nicht, ob die bestehende Rechtsordnung gerecht und der Inhalt ihrer einzelnen Normen „richtig“ ist. Wir werden genug damit zu tun haben, die Vielfalt der rechtlichen Bestimmungen wenigstens in Kernbereichen zu überblicken und ihr Zusammenspiel nachzuvollziehen, um mit den dabei gewonnenen Einsichten vor allem die ökonomische Dimension des Lebens interessengerecht, effektiver, risiko- und kostenärmer gestalten zu können. Wir betrachten also die bestehenden Rechtsnormen als vorgegebene Fixpunkte, als Axiome, die wir bewusst nicht mehr in Frage stellen, nicht mehr „hinterfragen“. Darin gleicht unsere Methodik durchaus der Theologie, die ebenfalls von bestimmten, glaubensmäßig feststehenden Prämissen im christlichen Bereich in der Bibel fixiert ausgeht und von dort aus argumentiert. Kurzum: Wir betreiben Rechtsdogmatik, stellen nicht wie die Rechtsphilosophie die Sinnfrage und auch nicht wie die Rechtspolitik die Frage, ob und wie die Rechtsordnung geändert werden sollte. Selbst diese auf Rechtsdogmatik einge- <?page no="29"?> 2 I. Vorfragen schränkte Rechtswissenschaft kann und soll hier, wiederum mehr oder weniger nur auf die rechtstechnisch-handwerkliche Ebene reduziert, betrieben und vermittelt werden. Dieser rechtsdogmatische Ausgangspunkt bedingt eine rein pragmatische Definition des Rechts, die dabei dem didaktischen Zweck der Darstellung angepasst bewusst wertleer (nicht wertlos! ) ist. Recht stellt sich demnach dar als verbindliches Regelwerk zur Gestaltung des Soziallebens, als Instrument der Konfliktbewältigung durch Aufstellen von Verhaltensbzw. Bewertungsnormen und vielfach auch von Sanktionsnormen, die für abweichendes, „deviantes“ Verhalten Maßregeln festlegen. Beispiele: Wer gegen Strafgesetze verstößt, hat mit Strafe zu rechnen. Wer einen anderen in bestimmter Weise schädigt, kann auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden (vgl. z. B. § 823 BGB). Nicht immer lassen sich die geltenden Verhaltens- und Bewertungsnormen nun unmittelbar dem Gesetzestext entnehmen. Nicht anders als der Theologe Thora, Bibel oder Koran muss der dogmatisch arbeitende Jurist die ihm als Axiome dienenden Texte jedenfalls auslegen, um ihren Bedeutungsgehalt wirklich zu erfassen. Und nicht selten zeigt sich, dass der Gesetzgeber Probleme einfach übersehen hat oder Verhaltensanforderungen, die sich möglicherweise widersprechen, an verschiedenen gesetzlichen Stellen formuliert hat. Dann bedarf es erst recht verfeinerter Interpretationsinstrumente. Die Interpretationsmethoden sind alle Mal dieselben, die etwa auch für die noch zu behandelne Auslegung von Verträgen gelten. Eines ist dabei allen diesen hermeneutischen Bemühungen um das zutreffende Textverständnis gemeinsam: Das Auslegungsergebnis tritt mit dem Anspruch auf, den in den Axiomen beschlossenen Bedeutungsgehalt lediglich in entwickelter Gestalt vorzuführen bzw. die Lücken systemkonform zu schließen. Mit rein logischen Operationen ist dieser Auslegungsprozess wohl nicht immer zu bewältigen, immer bildet aber die Logik sein Fundament ebenso wie den Hebel einer Interpretationskritik. Vor diesem Hintergrund stehen auch sämtliche folgende Ausführungen letztlich auf dem Prüfstand der Plausibilität und der Transparenz, ob und inwieweit sie aus den gesetzlichen Normen abzuleiten sind. Doch sollte der Leser selbstkritisch genug sein, um nicht alle auftretenden Ableitungsschwierigkeiten auf verfehlte verfasserseitige Argumentation zurückzuführen. Auf der anderen Seite muss man sich freilich bewusst machen, dass auch innerhalb einer rechtsdogmatischen Diskussion Auffassungen nicht schlechthin nach der Alternative zutreffend bzw. verfehlt beurteilt werden können. Dazu sind die Fragestellungen oft zu komplex und der gesetzliche Axiomenbestand zu dürftig oder zu unklar. Diese rechtswissenschaftlich eigentlich erst reizvolle Ebene, gleichsam die „höhere Mathematik“, wird die folgende Darstellung indessen allenfalls gelegentlich streifen. Dort wird dann fast immer die „herr- <?page no="30"?> 2. Zur juristischen Kommunikation 3 schende Meinung“ vorgeführt, also das, was der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und sozusagen dem dichtesten Wert der wissenschaftlichen Ansichten am ehesten entspricht. Wir bewegen uns juristisch, um im Bild der Mathematik zu bleiben, mithin lediglich in den 4 Grundrechenarten und auch dort fast nur im Zahlenraum von 1 bis 10. Beim Leser wird nach alledem nur Bescheidenes vorausgesetzt: Erstens muss er die jeweils behandelten Gesetzestexte unbedingt lesen, weil es aussichtslos ist, ein gedankliches System ohne seine axiomatischen Fundamente verstehen und sich einprägen zu wollen. Zweitens muss der Leser in der Lage sein, verhältnismäßig einfache logische Operationen zu bewältigen und deren Ergebnisse nach entsprechender Anleitung miteinander zu verknüpfen. Drittens muss er wie in jedem Wissenschaftsbereich über ein funktionierendes Gedächtnis verfügen, nicht etwa, um die Paragraphen auswendig aufsagen zu können, sondern um ihre Bedeutung jenseits des bloßen Wortsinns und ihr Zusammenspiel zu durchblicken. Erfahrungsgemäß braucht dies auch bei guter Begabung eine gewisse Zeit. Das nach und nach erworbene Wissen muss sich erst einmal „setzen“ können, um wirklich zuverlässig und angemessen schnell aktivierbar zu sein. 2. Zur juristischen Kommunikation a) Zitierweise Die Notwendigkeit des großen Überblicks ergibt sich bereits ganz simpel aus der unglaublichen Zahl von gültigen Gesetzen schon auf nationaler (vorliegend also: deutscher) Ebene, deren jeweils oft wiederum sehr zahlreiche Normen die Axiome der Rechtsdogmatik bilden. Im juristischen Tagesgeschäft sind Sammlungen ausgewählter Gesetze eine wichtige Orientierungshilfe. Doch was auch immer man zu Hand nimmt: Mehr als einen ersten Zugang zur Rechtsordnung darf man nicht erwarten. Im Übrigen ist man auf die Suche im Internet angewiesen. Um auf der Grundlage dieses riesigen Axiomenbestandes überhaupt argumentieren zu können, hat sich zunächst einmal eine präzise, zugleich aber platz- und zeitsparende Zitiertechnik herausbilden müssen. Sie knüpft daran an, dass in der Bundesrepublik Deutschland alle legislativen Akte einen Namen tragen. Es heißt also nicht „Gesetz Nr. 5“ sondern z. B. „Bürgerliches Gesetzbuch“ oder „Handelsgesetzbuch“. Nicht selten finden sich aber auch längere Wortfolgen, etwa „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, „Gesetz über den Versicherungsvertrag“, oder „Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte“. <?page no="31"?> 4 I. Vorfragen Um diese Gesetze nun prägnant bei ihrem Namen nennen zu können, ist es gute legislatorische Tradition, für jedes Gesetz zugleich auch eine offizielle Kurzbezeichnung mit zu verabschieden, beispielsweise für das „Grundgesetz...“ also GG. Diese Kurzbezeichnungen stellen auch die Suchbegriffe bei der Internet-Recherche dar. Über den Inhalt derartiger, in der folgenden Darstellung verwendeter Abkürzungen für Gesetzesbezeichnungen gibt selbstverständlich, wie hinsichtlich anderer Abkürzungen auch, das Abkürzungsverzeichnis Aufschluss. In unternehmensinternen Stellungnahmen, externer Korrespondenz etc. empfiehlt es sich, beim erstmaligen Zitieren eines Gesetzes den korrekten Langtitel zu benutzen und die Kurzbezeichnung in Klammer hinzuzufügen. Im weiteren Text wird dann nur noch letztere verwendet. Beispiel: „...haben Sie uns gemäß § 433 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Gewähr zu leisten. Mit Rücksicht auf § 437 BGB verlangen wir deshalb eine Herabsetzung des Kaufpreises...“ Das Beispiel zeigt bereits, dass die bloße Bezugnahme auf ein Gesetz in seiner Ganzheit ausnahmslos unsinnig wäre, weil ja in einem Gesetz mehr als nur eine Rechtsnorm enthalten ist. Gesetzgebungstechnisch ist ja auch jedes Gesetz unterteilt, üblicherweise in Paragraphen (§), gelegentlich auch ohne sachlichen Bedeutungsunterschied in Artikel (Art.), um eine detailliertere Zitierweise zu ermöglichen. Werden mehrere Paragraphen und Artikel auf einmal zitiert, hat sich die Schreibweise „§§“ bzw. „Artt.“ eingebürgert. Innerhalb des genannten Gesetzes wird dann einfach durchnummeriert, unabhängig davon, ob dem Gesetz noch eine sachliche Gliederung eigen ist. Das BGB z. B. ist in 5 Bücher mit jeweils unterschiedlichen Rechtsmaterien gegliedert, wobei die Bücher jeweils wieder in Abschnitte und Titel zerfallen (Inhaltsübersicht des BGB anschauen! ). Wegen des Prinzips total fortlaufender Nummerierung kommt aber der im Beispiel erwähnte § 433 BGB nur einmal (nämlich im zweiten Buch) vor, nicht etwa beginnt also jedes Buch wieder mit einem § 1! Deshalb spielt in der (Zitier-)Praxis auch nur die „Hausnummer“ innerhalb eines Gesetzes eine Rolle und natürlich die Angabe, welches Gesetz überhaupt in Bezug genommen worden ist. Das Gesetzeszitat nur nach § oder Art. wäre ebenfalls unsinnig. Beispiel: „...ist nach Art. 1 die Würde des Menschen unantastbar“. Gemeint ist ersichtlich Art. 1 GG. Die Gesetzesangabe gehört aber unbedingt dazu, um den Leser nicht im Unklaren zu lassen. Vielfach reicht es nicht aus, eine Gesetzesstelle nur nach Gesetz und Paragraphenbzw. Artikelnummer zu bezeichnen, wenn nämlich unter einer solchen Einheit verschiedene Dinge zusammengefasst sind. So wäre es wenig hilfreich, Anspruchsverjährung innerhalb von 30 Jahren mit einem pauschalen Hinweis auf § 197 BGB zu begründen, denn § 197 BGB enthält in seinem zweiten Absatz auch die Anordnung einer 3-jährigen Regelverjährung und sein erster <?page no="32"?> 2. Zur juristischen Kommunikation 5 Absatz umschließt mehrere, jeweils mit Ziffern einzeln bezeichnete Fälle. Da §§ bzw. Artt. mit arabischen Ziffern gekennzeichnet sind, lässt sich der Absatz einfach mit einer folgenden römischen Ziffer markieren. Enthält ein solcher Absatz wiederum mehrere Sätze oder wie hier bezifferte Unterpunkte, so wird wiederum mit arabischen Ziffern weitergearbeitet. Dabei erübrigt sich sogar jeder Hinweis auf den Charakter als Satz, doch wird üblicherweise eine zitierte Nummer (Ziffer) auch als solche deutlich gemacht. Beispiele: „...haben Sie uns nach § 433 I 2 BGB für die Fehlerlosigkeit der gekauften Sache einzustehen...“. „...ist Ihr Zahlungsanspruch gemäß § 197 I Nr. 3 BGB zu meinem Bedauern bereits verjährt...“. Dieses eingeführte Zitierschema muss gelegentlich variiert werden, etwa weil ein § zwar mehrere Sätze, aber nur einen Absatz hat, oder weil noch weiter zu differenzieren ist. Beispiele: „...da wir uns über den Eigentumswechsel geeinigt hatten und mir die gekaufte Sache ausgehändigt worden war, bin ich seitdem gemäß § 929 S. 1 BGB Eigentümer...“. „...besteht ein Herausgabeanspruch aus § 812 I 1, 1. Alt. BGB...“. b) Sprachpräzision Der Alltagssprachgebrauch ist regelmäßig alles andere als präzis. In der juristischen Kommunikation ist aber Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks unabdingbar, nicht anders als in der Mathematik bei der Verwenung von Ziffern und Symbolen. „Anfechten“ gehört allein zu den §§ 119 ff. BGB, wegen Fehlern der Kaufsache kann man unter den in § 437 II BGB oder bei entsprechendem Vorbehalt (vgl. § 346 BGB) „zurücktreten“. Der „Widerruf“ (vgl. § 355 BGB) ist noch einmal etwas ganz anderes, und dies gilt auch für die „Kündigung“ ebenso wie die „Auflösung“ eines Vertrages (vgl. § 623 BGB) durch einen Aufhebungsvertrag. Umgangssprachlich wird man dies alles kaum auseinanderhalten. Nicht nur der Normzusammenhang prägt die Bedeutung, die bestimmten Begriffen zukommt. Gelegentlich äußert sich der Gesetzgeber dazu sogar ganz ausdrücklich Man spricht hier deshalb von Legaldefinitionen oder authentischen Interpretationen. Was eine „Sache“ ist, legt § 90 BGB fest: ein körperlicher Gegenstand. Insoweit gibt es nichts zu interpretieren. Diskutabel ist allerdings, was unter Körperlichkeit und Gegenstand zu verstehen ist. „Waren” sind immer noch nur, aber alle bewegliche Sachen. Hier wirkt die frühere Legaldefinition in § 1 II Nr. 1 HGB a. F. fort, auch wenn sie durch eine Neufassung des § 1 II HGB schon lange entfallen ist. „Firma“ ist nach § 17 HGB <?page no="33"?> 6 I. Vorfragen der Name des Kaufmanns, nicht etwa ein anderes Wort für Unternehmen. „Unverzüglich“ ist keineswegs ein Synonym für „sofort“, wie die Gegenüberstellung von § 121 I 1 („…ohne schuldhaftes Zögern …“) und § 271 I BGB zeigt: Das eine heißt, dass eine Verzögerung nicht vorgeworfen werden kann, das andere hingegen ist demnach rein zeitlich zu verstehen (sog. Gegenschluss oder lat. „argumentum e contrario“). Beispiel: Irene erkennt, dass sie bei Abschluss eines Vertrages einem Irrtum i. S. von § 119 I BGB zum Opfer gefallen ist. Sie will daraufhin ihre Willenserklärung und damit den Vertrag insgesamt „rückgängig machen“, also anfechten, fällt zuvor aber unfallbedingt ins Koma oder wird von Banditen entführt und eingesperrt. Erst nach 3 Jahren kommt sie wieder zu Bewusstsein oder wird freigelassen und erklärt nun sogleich die seinerzeit verhinderte Anfechtung. Noch rechtzeitig, da unverzüglich! Die legislative Festlegung von Begriffsinhalten bezieht sich nun keineswegs nur auf die jeweilige Passage des Normtextes. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in ihrer Generalität: Überall, wo von Sachen, Waren und Unverzüglichkeit die Rede ist, werden diese Begriffe in ein und demselben Sinn verwendet. Dies gilt zumindest innerhalb des jeweiligen Gesetzes, in aller Regel, bei sorgfältiger Abfassung der Gesetze, aber auch darüber hinaus für weite Teile der gesamten Rechtsordnung mit all ihren Normen. Auch an dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig ein gewisser Überblick selbst für das nicht „professionelle“ Jurastudium namentlich der Wirtschaftswissenschaftler ist: Man muss zumindest die Schlüsselbegriffe kennen, die durch Legaldefinitionen bereits besetzt sind und somit keinen originären Interpretationsspielraum eröffnen. Nicht nur der Gesetzgeber hat an der für die juristische Kommunikation eigentümlichen Sprachpräzision teil. Auch auf der Basis der wissenschaftlichrechtspraktischen Konvention hat sich oft ein bestimmter Begriffsgebrauch herausgebildet, der sich nicht selten von demjenigen des Alltags signifikant unterscheidet. So bedeutet gemeinhin „grundsätzlich“ soviel wie „immer“. Beispiel: Der Personalchef lehnt die an ihn herangetragene Forderung nach Gehaltserhöhung „grundsätzlich“ ab, woraufhin sich der Arbeitnehmer entmutigt auf Dauer zurückzieht. Im juristischen Kontext meint „grundsätzlich“ hingegen lediglich soviel wie „regelmäßig“, wobei mögliche Ausnahmen immer vorbehalten bleiben. Manchmal sind diese Ausnahmen so zahlreich, dass es schwer fällt, für den Grundsatz, die Regel, überhaupt noch Anwendungsfälle zu finden. Beispiele: Der Jurist auf Dienstreise versichert seiner Frau telefonisch, ihr doch „grundsätzlich“ treu zu sein, woraufhin die Frau wegen des Anfangsverdachts ehelicher Untreue sofort einen Privatdetektiv mit der Beschattung beauftragt. Als praktische Nutzanwendung gilt es, juristischen Grundsätzen gegenüber „grundsätzlich“ misstrauisch zu sein. Man darf sich deshalb auch nicht damit <?page no="34"?> 3. Privatrecht und Öffentliches Recht 7 zufrieden geben, eine Vorschrift im Gesetz oder Vertragstext gefunden zu haben, die auf die zu lösende Frage zu passen scheint. Man muss mindestens die Normen bzw. Textstellen davor und danach überfliegen, um sicherzugehen, nicht lediglich eine spezielle Ausnahmeregelung oder einen löcherigen Grundsatz aufgegriffen zu haben. Erst die Kenntnis des Zusammenspiels von Regel und Ausnahme (gelegentlich erweitert durch eine Rückausnahme, die wieder zur Regel zurückführt) erlaubt tragfähige Aussagen. Die früher vorbildliche Sprachpräzision gerade des BGB hat mit seiner fundamentalen (Schuldrechts-)Reform im Jahre 2002 leider spürbar gelitten: Hieß früher die vom Mieter geschuldete Hauptleistung korrekt Mietzins, haben die §§ 535 ff. BGB nun den Alltagssprachgebrauch übernommen, der hier von der „Miete“ spricht. Dieser Begriff steht allerdings in einer Reihe mit „Kauf“, „Tausch“, „Leihe“ etc., bezeichnet also das durch den Mietvertrag hervorgebrachte Rechtsverhältnis. Diese jetzige Doppeldeutigkeit des Mietbegriffes ist die traurige Folge des gesetzgeberischen Bemühens um eine „bürgernahe“ Rechtssprache, die damit ihre juristische Qualität verliert. Ähnlich verworren sind die Verhältnisse beim „Darlehen“ (§§ 488 ff. BGB). Wenn dieser Begriff jetzt den überlassenen Geldbetrag bezeichnen soll (vgl. § 488 I 2 BGB), dann fehlt es an der Möglichkeit, das durch den Darlehensvertrag hervorgebrachte Rechtsverhältnis angemessen zu benennen. 3. Privatrecht und Öffentliches Recht Die Bemühungen, den umfangreichen und komplexen Rechtsstoff zu bewältigen, vollziehen sich selbstverständlich nur zum geringsten Teil auf diesen sprachlich-instrumentellen Ebenen, also durch textorganisatorische Maßnahmen und durch präzise Kommunikation. Letztlich entscheidend kommt es vielmehr darauf an, ob es gelingt, den Rechtsstoff in irgendeine gedankliche Ordnung zu bringen, ihn sinnvoll zu strukturieren. Ein zentrales Ordnungsprinzip ist dabei die schon römisch-rechtliche Unterscheidung von Öffentlichem Recht einerseits, Privatrecht andererseits. Diese Unterscheidung ist auch von maßgeblicher Bedeutung für die praktische Rechtsbewährung vor den Gerichten, weil sich an ihr die unterschiedlichen Justizzuständigkeiten festmachen. Diese Trennung der Gesamtrechtsordnung in 2 große Teilgruppen von Normen gründet in einer simplen Sicht der sozialen Realität, die danach in ein Oben und in ein Unten zerfällt. Der „Obrigkeit“ (vgl. den Sprachgebrauch in § 229 BGB), repräsentiert durch staatliche (bzw. kommunale) Organe, Behörden, Ämter etc., steht „unten“ die Masse von Bürgern, Unternehmen, Vereinen, Verbänden etc. diametral gegenüber. <?page no="35"?> 8 I. Vorfragen Die Rechtsnormen, die die Aktivitäten der staatlichen (bzw. kommunalen) Institutionen gegenüber der „Gesellschaft“ gleichsam in der vertikalen Dimension regulieren, werden nun zum Kern des Öffentlichen Rechts (ius publicum, von: res publica, lat.: öffentliche Angelegenheit, Gemeinwesen) zusammengefasst und durch die Vorschriften komplettiert, die den hoheitlichen Raum in sich organisieren. Dem Öffentlichen Recht zuzurechnen ist namentlich das Grundgesetz: Soweit es in den Artt. 20 ff. GG die bundesstaatliche Ordnung, die Rechte und Pflichten von Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung etc., kurz die Staatsorganisation, festlegt, bedarf sein öffentlichrechtlicher Charakter keiner Erläuterung. Aber auch die Grundrechte (Artt. 1-19 GG) sind Teil des Öffentlichen Rechts. Historisch sind sie das Produkt eines erfolgreichen politischen Kampfes des Bürgertums um ein Zurückdrängen hoheitlicher Reglementierung des Wirtschafts- und Soziallebens. Mögen die Grundrechte neben dieser historisch primären Abwehrfunktion (sog. status negativus des Grundrechtsträgers) heute teilweise auch die Funktion besitzen, an dem Wohlstand des Gemeinwesens i. S. der sozialen Sicherung teilhaben zu können (sog. status positivus), so ändert dieser im Einzelnen umstrittene Wandel jedenfalls nichts an der Zugehörigkeit der Grundrechte zum Öffentlichen Recht. Demgegenüber sind im Begriff des Privatrechts diejenigen Rechtsnormen zusammengefasst, die die Rechtsverhältnisse innerhalb der nicht-staatlichen Sphäre auf gleichsam horizontaler Ebene bestimmen, die also die Rechte und Pflichten von Bürgern und Unternehmen sowie der von ihnen gegründeten wirtschaftlichen und ideellen Vereinigungen und Verbände untereinander festlegen (vgl. Abb. 1). Trotz des einfachen Ausgangspunktes steckt auch hier der legendäre Teufel in vielen Details, wenn man theoretisch saubere Abgrenzungskriterien zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht formulieren will. Zweifelsfragen der Einordnung von Rechtsbeziehungen ergeben sich auch dadurch, dass Hoheitsträger gelegentlich Hoheitsfunktionen in privatrechtlichem Gewand ausüben oder sich ganz schlicht am allgemeinen Wirtschaftsverkehr beteiligen, z. B. um Gewinne dem chronisch defizitären Staatshaushalt einzuverleiben. Auch auf den Beschaffungsmärkten tritt die öffentliche Hand grundsätzlich nicht hoheitlich in Erscheinung. Beispiele: Eine Stadt betreibt die Wasserversorgung und den innerörtlichen Personennahverkehr durch Gesellschaften mit beschränkter Haftung, deren jeweiliger Alleingesellschafter eben diese Kommune ist. Gehören die Rechtsbeziehungen zwischen diesen Gesellschaften und den Abnehmern bzw. den Fahrgästen dem Öffentlichen Recht oder dem Privatrecht an? Oder beiden Teilrechtsordnungen? Die niedersächsische Polizei braucht neue Streifenwagen. Darf die Beschaffungsstelle den Bedarf ausschließlich bei der Volkswagen-AG decken oder muss sie mit Rücksicht auf Art. 3 I, III GG auch von Opel, BMW, Daimler-Benz etc. <?page no="36"?> 3. Privatrecht und Öffentliches Recht 9 beziehen und vielleicht sogar die Importwagen berücksichtigen, wenn diese den qualitativen Maßgaben entsprechen? Abb. 1: Privatrecht als Teilrechtsordnung Die hierbei angesprochenen Fragen lassen keine pauschalen Antworten zu. Fest steht aber, dass der Staat nicht alle öffentlichrechtlichen Bindungen einfach dadurch abstreifen kann, dass er sich privatrechtlicher Handlungsformen bedient. Und selbst dort, wo die öffentliche Hand (vgl. § 130 I GWB) in den Formen des öffentlichen Rechts (z. B. durch Verwaltungsakt) handelt, kann im Verhältnis zu Dritten Privatrecht anzuwenden sein. Beispiel: Ein Gartenamt einer Stadt pflegt auf Antrag gegen Gebühr auch private Anlagen, um die bestehenden Kapazitäten besser auszulasten: Anwendbarkeit nicht nur des GWB, wie in § 130 I GWB ausdrücklich angeordnet, sondern auch des UWG im Verhältnis zu privatwirtschaftlichen Konkurrenten. Den Kernbereich des Privatrechts bildet das im BGB gebündelte, „kodifizierte“ sog. Bürgerliche Recht, das römisch-rechtliche ius civile, das ganz allgemein auf die Lebensverhältnisse der Bürger Einfluss nimmt. Von daher erklärt sich auch die Bezeichnung Zivilrecht für diesen privatrechtlichen Normensockel. Auf ihm entfaltet sich dann das früher breite Spektrum jener Gesetze, die spezielle Lebensbereiche regulieren und deshalb dem sog. Son- <?page no="37"?> 10 I. Vorfragen derprivatrecht zugewiesen werden. Da seit dem 1. 1. 2002 aber leider viele derartige Gesetzesmaterien dem BGB einverleibt wurden, ist der Kreis der Sonderprivatrechte sehr geschrumpft. Ein Beispiel als Sonderprivatrecht liefert freilich noch immer das HGB, auch wenn es nicht mehr wie es oft immer noch heißt ein Sonderprivatrecht nur der Kaufleute enthält (vgl. z. B. §§ 383 II, 407 III 2, 453 III 2, 467 III 2 HGB). Das UWG bezieht sich nur auf den Wettbewerb auf Märkten (vgl. nur § 1 UWG, wo von „Marktteilnehmern“ die Rede ist), also auf den wirtschaftlichen Wettbewerb, nicht auf sportlichen Wettbewerb oder den Wettbewerb um gesellschaftliche Anerkennung; das UrhG regelt die Rechtsverhältnisse an geschaffenen geistigen Werken, usw. Diese Beschreibung ist allerdings an einem Idealtypus orientiert, den es in der gesetzlichen Realität nicht immer gibt. So finden sich in ein und demselben Gesetzeswerk gelegentlich sowohl privatals auch öffentlichrechtliche Normen. Die Einordnung eines Gesetzes als Ganzem z. B. in den klassifikatorischen Bereich des Privatrechts ist also manchmal nur näherungsweise berechtigt. Beispiele: Das HGB enthält eine ganze Reihe öffentlichrechtlicher Regelungen, etwa die Eintragungspflicht bezüglich der Firma (§ 29 HGB) oder die Buchführungspflicht (§§ 238 ff. HGB). UrhG und UWG normieren Privatrechtsmaterien, haben aber auch öffentlichbzw. speziell strafrechtliche Facetten (vgl. z. B. §§ 106, 111a ff. UrhG; 12 ff., 16 ff. UWG). Damit lässt sich folgende beispielhafte Zuordnung nach dem jeweiligen deutlich fassbaren Schwerpunkt einiger Gesetze (im sog. materiellen Sinne, also unter Einschluss der von der Exekutive erlassenen Rechtsverordnungen) vornehmen (vgl. Abb. 2). Wie man sieht, zählt auch alles Prozessrecht zum Öffentlichen Recht, selbst wenn wie im Zivilprozess um privatrechtliche Rechtsfragen gestritten wird. Denn im Prozessrecht geht es ja (hauptsächlich) um die Rechtsbeziehungen zwischen dem Gericht, also einem Träger hoheitlicher Gewalt, und den Verfahrensbeteiligten, insbesondere den Parteien. Dass in den Vorstellungen über die Trennbarkeit von Öffentlichem Recht und Privatrecht seit den Zeiten des römischen Rechts tief greifende Wandlungen haben stattfinden können, wird niemanden verwundern. Deshalb ist auch begreiflich, wenn diese Trennung unter den rechts- und staatstheoretischen Bedingungen des modernen demokratischen Gemeinwesens manchen nicht mehr nachvollziehbar erscheint, und zwar keineswegs nur den Theoretikern der sozialistischen Volksdemokratien. Trotz mancher Bedenken ist aber an der Differenzierung zwischen den beiden Rechtsbereichen festzuhalten. Denn, wie schon erwähnt und später noch zu vertiefen, knüpft das Prozessrecht bzw. das Gerichtsverfassungsrecht bei der Eröffnung unterschiedlicher Instanzenzüge der Gerichte (Rechtswege) an jener traditionellen Unterscheidung an. Selbst bloße didaktische Gründe würden die Unterscheidung von <?page no="38"?> 3. Privatrecht und Öffentliches Recht 11 Privatrecht und Öffentlichem Recht wohl noch rechtfertigen. Eine ganz andere Frage ist, ob Öffentliches Recht und Privatrecht tatsächlich so klar auf Distanz sind, wie es der begriffliche Ausgangspunkt provoziert. Denkbar ist vielmehr durchaus, dass das Öffentliche Recht über seine primäre Wirkungsebene im Verhältnis Staat/ Gesellschaft hinaus durchgreift auf die Rechtsbeziehungen zwischen den nicht-staatlichen Rechtssubjekten. Dies wird insbesondere für die Grundrechte diskutiert. Der These einer derartigen umittelbaren „Drittwirkung“ Öffentlichen Rechts, namentlich der Grundrechte, ist aber jedenfalls im Prinzip nicht zu folgen. Denn das, was für die Bindung der öffentlichen Hand einen guten Sinn macht, kehrt sich bei Annahme einer Drittwirkung ins gerade Gegenteil, in Unsinn. Abb. 2: Beispiele für die Zugehörigkeit zu einer Teilrechtsordnung (nach Schwerpunkt) <?page no="39"?> 12 I. Vorfragen Überdeutlich wird dies bei Art. 3 GG: Sicherlich darf bei der in Bayern beantragten Erteilung einer Baugenehmigung als Maßnahme auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts keine Rolle spielen, dass der Antragsteller „Nordlicht“ und erst vor kurzem aus Mecklenburg-Vorpommern zugezogen ist. Art. 3 III GG hindert aber selbstverständlich den jungen Mann nicht daran, bei der Verabredung zum Tanz ausschließlich protestantische Frauen norddeutscher Herkunft zu bevorzugen und alle Männer, insbesondere solche katholischen Glaubens aus Süddeutschland mit entsprechender mundartlicher Sprachfärbung, insoweit nachhaltig zu diskriminieren. Wäre es anders, so wäre unsere Rechtsordnung in ihrem privatrechtlichen Lebensnerv, in der Privatautonomie, im Selbstbestimmungsprinzip der Privatrechtssubjekte getroffen. Unter diesem Aspekt zeigt sich, dass die vom AGG (vgl. § 1) angestrebte Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuelle Identität schon im Ansatz verfehlt ist, obwohl es in der Öffentlichkeit als großer Fortschritt der Rechtskultur gilt. Denn darin liegt in Wahrheit ein Rückschritt in der Rechtsentwicklung, die lange gebraucht hat, um das Recht nicht als Instrument der Moral (oder gar der Religion! ) zu verstehen. Außerdem wird die erreichete Trennung von Öffentlichem Recht und Privatrecht und den dort ganz unterschiedlich wirkenden Prinzipien wieder verspielt. Dies alles ist noch schwerer zu ertragen, wenn man weiß, dass das AGG sogar noch über die von europäischem Recht erzwungene Gleichbehandlung hinausgeht. Weil dem Öffentlichen Recht eine generelle Drittwirkung, also sein Geltungsanspruch auf der Ebene rechtlicher Gleichordnung, fehlt, kann ein Privatrechtssubjekt begrifflich überhaupt nicht in die öffentlichrechtlich geschützte Position eines anderen Rechtssubjektes eingreifen. Beispiel: Die misstrauische Ehefrau öffnet die an ihren Mann ohne Absender adressierten, nach Parfüm riechenden Briefe: sicherlich rechtlich nicht unbedenklich, aber keinesfalls eine Verletzung des in Art. 10 I GG geschützten Briefgeheimnisses. Der Grundsatz fehlender Drittwirkung Öffentlichen Rechts findet seine Grenze naturgemäß dort, wo das Recht dies wünscht: Aufschlussreich ist hier Art. 9 III GG. Er schützt in seinem Satz 1 zwar wiederum zunächst nur öffentlichrechtlich die Freiheit für jedermann, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, Vereinigungen, sprich: Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen (sog. Koalitionen), zu bilden. Satz 2 erklärt dann „Abreden“, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, für nichtig. Abreden, also Verträge, sind nun das typische privatrechtliche Gestaltungsmittel, um die Selbstbestimmung des einen und die Selbstbestimmung des anderen jeweils zu optimieren, während das Handeln der öffentlichen Hand durch den Erlass einseitiger Akte (insbesondere Verwaltungsakte wie Untersagungen, Erteilungen von Erlaubnissen, Ernennun- <?page no="40"?> 3. Privatrecht und Öffentliches Recht 13 gen etc.) charakterisiert ist. Wenn Art. 9 III 2 GG also auf bestimmte, koalitionsfeindliche Abreden rekurriert und diese für nichtig erklärt, so setzt dies gedanklich voraus, dass solche Abreden überhaupt das Koalitionsrecht berühren können. Mit anderen Worten: Vorausgesetzt wird auch eine privatrechtliche Substanz des Koalitionsrechtes. Zugleich ist Art. 9 III 2 GG ein Argument für die grundsätzlich eben fehlende Drittwirkung, weil sonst deren noch dazu singuläre Anordnung in dieser Norm ganz unverständlich, weil überflüssig wäre. Ebenso verhält es sich mit den §§ 6 ff. AGG: Wenn der Gesetzgeber in der Arbeitswelt eine Gleichstellung von Männern und Frauen wünscht, muss er dies privatrechtlich, eben im AGG anordnen, weil sich diese Gleichstellung nicht schon aus dem nur öffentlichrechtlich wirkenden Art. 3 GG ergeben würde und die Arbeitsverhältnisse eben nun einmal privatrechtlich, auf der Basis rechtlicher Gleichordnung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag, vonstatten gehen. Dem folgt mittlerweile auch die Rechtsprechung des BAG, das wegen des (angeblichen) faktischen Beherrschungsverhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf diesem Feld eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 3 GG früher bejahte. Die begriffliche und funktionelle Unterscheidung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht sowie die daraus fließende grundsätzliche Ablehnung einer Drittwirkung des Öffentlichen Rechts heißt allerdings nicht, dass beide Normenkomplexe beziehungslos nebeneinander stünden. Diese Vorstellung wäre schon deshalb absurd, weil beide Rechtsbereiche doch einem gemeinsamen Ziel dienen, nämlich der Regulation des Soziallebens. Ohne eine inhaltliche Abstimmung und wechselseitige Bezugnahme öffentlichrechtlicher und privatrechtlicher Verhaltensanforderungen und Wertungen lässt sich jenes Ziel nicht erreichen. Deutlich zeigt sich dies beispielsweise im Nachbarrecht. Den Schutz des Grundeigentümers vor besonders schädlichen betrieblichen Umwelteinwirkungen anderer bezwecken erkennbar schon durch den ganz ähnlichen Normtext sowohl § 4 I 1 BImSchG als auch § 907 I 1 BGB. Der Gesetzgeber will es hier also nicht nur der Initiative des betroffenen Eigentümers überlassen, etwa gegen giftige Immissionen in Verfolgung des in § 907 I BGB gewährten Unterlassungsanspruches gerichtlich vorzugehen. Deshalb unterwirft das BImSchG Errichtung und Betrieb von derartigen Anlagen der öffentlichrechtlichen Pflicht zur Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde. Wird diese Pflicht nicht erfüllt, so kann der betroffene Grundeigentümer dagegen aus eigenem Recht nichts unternehmen. Seine Rechtsposition wird durch § 907 BGB markiert. Allerdings kann der Grundeigentümer die Behörde darauf aufmerksam machen, dass möglicherweise eine Verletzung öffentlichrechtlicher Normen stattfindet. Aber ob und wie die Behörde auf diese sog. Anzeige hin sich verhält, liegt allein in ihrer Verantwortung. <?page no="41"?> 14 II. Begriff und praktische Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts Weniger deutlich, aber durchaus nicht weniger effektiv, ergänzen sich Öffentliches Recht und Privatrecht namentlich auch in bestimmten generalklauselartigen Begriffen privatrechtlicher Tatbestände. Eine besondere Rolle spielt hier die „Sittenwidrigkeit“, die über die Wirksamkeit, also Rechtsgültigkeit, z. B. vertraglicher Abmachungen (§ 138 I BGB) entscheidet. Ganz allgemein knüpft § 826 BGB an die vorsätzliche „sittenwidrige“ Schädigung eine Schadensersatzpflicht an. Bei alledem ist das Wertesystem unserer Gesamtrechtsordnung einschließlich des Öffentlichen Rechts zu reflektieren, um über die Sittenwidrigkeit eines Vorgangs ein Urteil fällen zu können. Dabei muss der im Grundgesetz verankerte Pluralismus der Meinungen und Wertvorstellungen (vgl. Artt. 2 und 5 GG) auch im moralischen Bereich einfließen. Ähnlich unbestimmt ist für sich genommen die „Unlauterkeit“ des § 3 UWG. Ihre Konkretisierung erfolgt durch das in den Artt. 2, 12, 14 GG sich ausprägende Modell des offenen, freien, marktorientierten Wettbewerbs. Auch die Gebote von „Treu und Glauben“ (§§ 157, 242 BGB) lassen sich nur aus einer Betrachtung der Gesamtrechtsordnung, hier etwa auch der im Strafrecht enthaltenen Wertungen, konkretisieren. Nur insoweit ist eine (mittelbare) Drittwirkung des Öffentlichen Rechts anzuerkennen. Ein Einfallstor für das Öffentliche Recht bildet ferner § 134 BGB, der vor allem Verträge, die gegen gesetzliche Verbote verstoßen, grundsätzlich für nichtig, also für nicht rechtsgültig, erklärt. Solche Verbotsnormen stammen nicht nur aus dem privatrechtlichen Raum, sondern gerade auch aus dem Öffentlichen Recht. Schließlich ist § 823 II BGB eine Schiene, auf der Öffentliches Recht in das Privatrecht eingebracht wird: Denn jene sog. Schutzgesetze, deren Verletzung eine Schadensersatzpflicht nach sich zieht, sprudeln häufig aus der Quelle des Öffentlichen Rechts. Beispiele: Der Arztvertrag über eine nach § 218 StGB teilweise leider immer noch strafbare Abtreibung ist gemäß § 134 BGB nichtig. Durch betrügerische Machenschaften des X (strafbar nach § 263 StGB) entsteht dem geprellten Y ein erheblicher Vermögensschaden. Grundlage eines Ersatzanspruches des Y gegen X ist § 823 II BGB. II. Begriff und praktische Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts Der Begriff „Wirtschaftsprivatrecht“ ist nicht gesetzlich festgelegt, hat aber mittlerweile in der juristischen Terminologie seinen festen Platz. Unter Wirtschaftsprivatrecht lässt sich jener Teil des Privatrechts verstehen, der spezifisch für das wirtschaftliche Geschehen von Belang ist. Bedenkt man, dass jedermann am Wirtschaftsgeschehen zumindest als Verbraucher teil- <?page no="42"?> 3. Privatrecht und Öffentliches Recht 15 nimmt, so wird klar, dass das Wirtschaftsprivatrecht inhaltlich sehr weit greift und nicht nur das eigentliche Unternehmensrecht hierher zählt. Die Abgrenzung wird dadurch erschwert, dass das Wirtschaftsprivatrecht eben nicht in einem Gesetzeswerk kodifiziert ist, sondern sich nur als Querschnittsfunktion vieler privatrechtlicher Kodifikationen erfassen lässt (Abb. 3). Die Grundlage des Wirtschaftsprivatrechts bilden sicher die ersten 3 „Bücher“ des Bürgerlichen Gesetzbuches (Inhaltsübersicht über das BGB lesen! ), also die §§ 1-1296 BGB. Denn hier werden die Strukturen des Privatrechts überhaupt definiert. Außerdem liegt hier der Schlüssel zum Verständnis der spezifischen rechtlichen Implikationen etwa der Personalwirtschaft (§§ 611 ff. BGB) oder von Finanzierungsvorgängen (Darlehen, Kreditsicherung). Selbst Familienrecht und Erbrecht (die übrigen „Bücher“ des BGB) haben durchaus gewisse Berührungspunkte zum Wirtschaftsleben, denkt man etwa an die Frage, ob Ehegatten und Kinder von Rechts wegen zur Mitarbeit im „Geschäft“ verpflichtet sind, oder daran, dass ein Unternehmen im Wege der Erbfolge in andere Hände übergehen kann oder soll. Diese Zusammenhänge sind aber doch schon recht locker und unspezifisch, so dass das Hauptaugenmerk nicht darauf zu richten ist. Zweifellos eine tragende Säule im Gebäude des Wirtschaftsprivatrechts ist hingegen das Handelsrecht. Entgegen dem gängigen wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspraktischen Sprachgebrauch reguliert das HGB nämlich Privatrecht Öffentliches Recht Wirtschaftsprivatrecht Öffentliches Wirtschaftsrecht Gesamtrechtsordnung Wirtschaftsrecht Abb. 3: Wirtschaftsprivatrecht in der Gesamtrechtsordnung keineswegs nur den Handel i. S. der Güterdistribution, sondern nennt ganz allgemein die unternehmerischen Eckdaten etwa hinsichtlich Firma, betrieblicher Arbeitsteilung zwischen Top-Management, Prokuristen, Handlungsbevollmächtigten etc. Das HGB enthält instrumentell-technische Vorschriften über die Führung der Handelsbücher ebenso wie fundamentale Regeln über mögliche Rechtsformen des Unternehmens, etwa als Offene Handelsgesellschaft oder als Kommanditgesellschaft. Damit sind ja zugleich Fragen der Beteili- <?page no="43"?> 16 II. Begriff und praktische Bedeutung des Wirtschaftsprivatrechts gungsfinanzierung und des Risikomanagements angesprochen. Im HGB wurzelt auch das nationale deutsche Recht der Logistik, denn dort finden sich die Bestimmungen über den Handelskauf (das zentrale Vehikel der Beschaffung, aber natürlich auch des Absatzes), über Spedition-, Fracht- und Lagergeschäft. Eine zentrale Rolle spielt ferner das UWG, das generell die Gestaltungsspielräume des wirtschaftlichen Wettbewerbs definiert. Ganz besondere Bedeutung gewinnt das UWG naturgemäß für das Marketing. Denn Marketingkonzepte und -aktivitäten aller Art stoßen nur allzu leicht an die rechtlichen Zulässigkeitsgrenzen des UWG, wobei meist viel Geld auf dem Spiel steht. Beispiel: Eine groß angelegte Werbekampagne muss gleich zu Beginn abgebrochen werden, weil die Konkurrenz im Eilverfahren eine gerichtliche Unterlassungsverfügung erwirkt hat. Von grundlegender Bedeutung für das Wirtschaftsprivatrecht und die Unternehmenspraxis sind ferner die gesellschaftsrechtlichen Gesetze, namentlich AktG und GmbHG, aber auch des PartGG und die für die europarechtlich fundierten, hier aus Raumgründen nur zu streifenden Gesellschaftsformen SE, SPE, EWIV und SCE einschlägigen Rechtsnormen. Im Zusammenhang mit BGB und HGB entfalten nämlich erst sie das ganze Spektrum der zur Verfügung stehenden Unternehmensformen, die sich in mannigfacher Weise und mit wichtigsten rechtlichen Konsequenzen voneinander unterscheiden. Innere Organisation, äußere Handlungsfähigkeit, Gefährdung des Geschäfts- und Privatvermögens hinsichtlich eines Zugriffs von Gläubigern, Bilanzierung, Gewinnfeststellung und -verwendung, Mitbestimmung und steuerliche Belastung sind dabei nur einige Stichworte. Schon die hier genannten Rechtsmaterien, die durch zahlreiche weitere zu ergänzen wären (vgl. nochmals Abb. 2, linke Spalte), lassen das engmaschige normative Netz erahnen, von dem wirtschaftliche Entscheidungen und Aktivitäten bereits von Seiten des Privatrechts umfangen sind. Ein verhängnisvoller und für die Unternehmen mit ernsten, manchmal sogar existenziellen Risiken und hohen Kosten verbundener Irrtum wäre es nun, Kenntnis und Handhabung der wirtschaftsrelevanten Normen ganz den Juristen zu überlassen. Wenn bildhaft gesprochen das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, also irgendwelche Streitigkeiten entstanden sind und vielleicht sogar Prozesse drohen, ist der juristische Sachverstand zwar besonders gefragt und nötig. Der effizientere Einsatz juristischer Kompetenz besteht jedoch darin, diese bereits in betriebliche Entscheidungspraxis und Organisation einzubinden, um sich von vornherein nicht in die rechtliche Gefahrenzone hinein zu manövrieren, Vertragsgestaltungen zu optimieren etc. Auch Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft kommen ohne Kenntnis der Grundzüge des Wirtschaftsprivatrechts nicht aus, weil dieses Recht ja Rahmen, Struktur und Instrumente der volkswirtschaftlichen Abläufe und der sozialen Prozesse ganz wesentlich determiniert. So lassen sich etwa wirt- <?page no="44"?> 1. Gesetzestechnische Fragen 17 schaftspolitische Vorschläge kaum fundieren, wenn man die vorhandenen Eckwerte der Rechtsordnung ignoriert. Und dass beispielsweise Arbeitssoziologie ohne Grundkenntnisse des geltenden Arbeitsrechtes nicht sinnvoll betrieben werden kann, leuchtet ebenfalls unmittelbar ein. III. Das privatrechtliche „Weltbild“ 1. Gesetzestechnische Fragen Niemand kann Details in ihrer Bedeutung erfassen und entsprechendes Wissen abspeichern, wenn man nicht die großen Strukturen kennt, innerhalb derer sich gleichsam die Mosaiksteinchen erst zum Bild zusammenfügen. Diese großen Strukturlinien des Wirtschaftsprivatrechts sollen in Folgendem gezogen werden, um die Fülle der uns umgebenden Dinge und Abläufe in ein erstes, grobes juristisches Raster einordnen zu können und dabei auch Ansatzpunkte für die Aneignung rechtlicher Einzelheiten zu gewinnen. Das BGB gleichsam als die „Mutter“ allen Privatrechts und damit auch des Wirtschaftsprivatrechts folgt in seinem Aufbau freilich etwas anderen Prinzipien, die nicht zuletzt in römisch-rechtlichen Traditionen wurzeln. So ahmt das BGB - 1900 für das Deutsche Reich in Kraft gesetzt, in der Bundesrepublik Deutschland aber wegen Art. 123 I GG grundsätzlich fortgeltend eine aus der Mathematik bekannte Methode nach, nämlich das Allgemeine „vor die Klammer“ des Besonderen zu ziehen: 6 + 5 + 6 + 5 + 6 + 5 + 6 + 5 kann auch durch 4 (6 + 5) und damit kürzer und übersichtlicher ausgedrückt werden, wenn man erkannt hat, dass in der Addition versteckt der Faktor 4 enthalten ist und extrahiert werden kann. Ebenso versucht das BGB, allgemeinere gedankliche Elemente, die dem Rechtsstoff innewohnen, herauszulösen und inhaltlich weitgehend entleert, dafür aber universell verwendbar zu definieren und zu normieren. Die grundlegenden Eingriffe in das BGB vor allem ab 1. 1. 2002 haben dieses Konzept zwar aufgeweicht, aber nicht gänzlich schleifen können. Ein Beispiel von vielen liefert der Vertrag. Jeder kennt auf Anhieb eine ganze Reihe von Vertragstypen, etwa Kaufvertrag, Mietvertrag, Leihvertrag, Dienstvertrag, Darlehensvertrag (Kreditvertrag); auch Verlöbnis und Ehe beruhen auf einem Vertrag. Es gibt Unterhaltsverträge, Erbverträge und noch viele andere Vertragsarten. Überall stellt sich dabei z. B. die Frage, ob und wie lange man an ein Vertragsangebot gebunden ist und unter welchen Umständen man sich von einem solchen Angebot vielleicht sogar erst nach dessen Annahme! wieder lösen kann, etwa weil man sich bei der Abgabe dieser Willenserklärung in einem für den Vertrag wichtigen Punkt geirrt hat. <?page no="45"?> 18 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Das Gesetz hätte diese Fragen jeweils im Kaufrecht (§§ 433 ff. BGB), im Mietrecht (§§ 535 ff. BGB), im Recht der Leihe (§§ 598 ff. BGB), im Darlehensrecht (§§ 488 ff. BGB) etc. regeln können. Der Gesetzgeber hat aber stattdessen den allgemeinen Problemgehalt erkannt und seine diesbezüglichen Regelungen grundsätzlich im 1. Buch, dem „Allgemeinen Teil“, nämlich in den §§ 145 ff., 119 ff. BGB getroffen, was mit großen Ersparnissen an (überflüssigen! ) Vorschriften ohne jede Einbuße an Regelungsgehalt verbunden ist. Natürlich lässt diese Regelungstechnik auch noch Raum für etwaige Ausnahmen und Sonderregeln, in den jeweiligen Normkomplexen, etwa im Eherecht (vgl. z. B. §§ 1310 f. BGB). Selbst innerhalb des 2. Buches des BGB wird nochmals die Technik des Vordie-Klammer-Ziehens praktiziert: Statt in der 2. Hälfte des 2. Buches zu regeln, ob der Verkäufer bzw. der Vermieter die Kaufbzw. Mietsache dem Käufer bzw. Mieter zuzuführen hat oder ob nicht vielmehr der Käufer bzw. Mieter sich die Sache in eigener Initiative abzuholen hat, finden sich entsprechende Bestimmungen ganz allgemein in § 269 BGB. Und diese Vorschrift, die ja nur schlechthin von Schuldner und von Gläubiger spricht, findet deshalb auch nicht nur auf den Kauf und die Miete, sondern grundsätzlich auch auf jedwedes andere Rechtsverhältnis Anwendung, in denen sich Schuldner und Gläubiger gegenüberstehen. Das 2. Buch des BGB, das sog. Schuldrecht, gliedert sich deshalb wiederum in einen Allgemeinen Teil, die 1. Hälfte des 2. Buches, und dessen 2. Hälfte, den Besonderen Teil, der jene Dinge normiert, die keinen gemeinsamen Nenner mehr haben. Im sog. Allgemeinen Schuldrecht (§§ 241-432 BGB) findet sich somit die generelle Vorschrift etwa darüber, wann ein Schuldner leisten muss oder leisten darf (vgl. § 271 BGB), sei es nun ein Verkäufer bezüglich der Lieferung oder ein Käufer hinsichtlich der Zahlung, sei es ein Vermieter bezüglich der Mietsache oder sei es ein Mieter bezüglich des Mietzinses etc. Im sog. Besonderen Schuldrecht (§§ 433-853 BGB) hingegen finden sich beispielsweise die Normen, die gerade den Kauf von der Miete und diese wiederum von der Leihe unterscheiden. Hier sind auch die Ausnahmen gegenüber den grundsätzlichen Anordnungen im Allgemeinen Schuldrecht niedergelegt. Im Mietrecht gilt für den die Zahlung des Mietzinses schuldenden Mieter deshalb nicht § 271 BGB, sondern § 556b I BGB. Dahinter steht die methodologische Überzeugung, dass die speziellere, problemnähere Norm, die allgemeinere, unspezifische Regelung verdrängt (lat. „lex specialis derogat legi generali“). Im Besonderen Schuldrecht finden sich ferner etwa Bestimmungen, die Schuldverhältnisse, also Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, auch ohne Vertragsschluss entstehen lassen. Für diese sog. gesetzlichen Schuldverhältnisse gelten im Übrigen wiederum die allgemeineren Vorschriften der §§ 241 ff. (und natürlich die der §§ 1 ff.) BGB, soweit im speziellen Kontext keine Sondernormen existieren. <?page no="46"?> 1. Gesetzestechnische Fragen 19 Beispiel: Besucher B pflückt noch eben einen Blumenstrauß im Vorgarten des Hauseigentümers H. B haftet dem H nach § 823 I BGB wegen der vorsätzlichrechtswidrigen Eigentumsverletzung auf Schadensersatz. Dieser Schadensersatzanspruch ist sofort fällig (§ 271 I BGB), und verjährt nach § 199 III BGB in 10 bzw. 30 Jahren (Ausnahme von der Regelverjährung nach § 195 BGB! ). Die hier vorgeführte Regelungstechnik des Vor-die-Klammer-Ziehens allgemeiner Vorschriften unter Vorbehalt spezieller Regelungen in den einzelnen Rechtsmaterien beschränkt sich nicht auf das BGB. Vielmehr muss man sich jedenfalls die ersten 3 Bücher des BGB als eine Art Super-Allgemeiner Teil für das gesamte (Wirtschafts-)Privatrecht vorstellen. Wo immer deshalb eine Norm jemanden zu einem Tun oder Unterlassen einem anderen gegenüber verpflichtet, handelt es sich dabei also um einen grundsätzlich der Verjährung unterliegenden Anspruch (§§ 194 ff. BGB; s. aber auch § 902 BGB). Der Handelskauf (§§ 373 ff. HGB) ist nur vor dem Hintergrund der allgemeinen Regeln des (bürgerlichrechtlichen) Kaufvertrags (§§ 433 ff. BGB) zu verstehen, und dessen Vorschriften stehen wiederum in funktionalem Zusammenhang mit den §§ 241 ff. und §§ 1 ff. BGB. Die Schadensersatzbestimmungen bei Urheberrechtsverstößen (§ 97 UrhG) oder im Frachtrecht (§ 425 ff. HGB) sind überhaupt nicht verständlich, wenn man dabei nicht zugleich die allgemeinen Normen der §§ 249 ff. BGB über Art und Weise sowie über den Umfang des Schadensersatzes mit im Blick hat. Das Wirtschaftsprivatrecht, ja das Privatrecht überhaupt und darüber hinaus die Gesamtrechtsordnung sind demzufolge nur als großes System ineinander verzahnter Normen zu begreifen. Die dabei gestiftete Einheit der Rechtsordnung schlägt sich trotz der Unterscheidung von Privatrecht und Öffentlichem Recht etwa in der tendenziell einheitlichen Auslegung von Begriffen nieder. Die Technik des Gesetzes führt notwendigerweise zu einer Formalisierung der „vor die Klammer gezogenen“ Begriffe, die sich deshalb durch einen sehr hohen Abstraktionsgrad auszeichnen. Das Gesetz kennt deshalb keine Schrauben, Weintrauben, Autos, elektrischen Strom oder Bücher, keine weißen Villen oder grüne Wiesen, keine Herzschrittmacher, Computersoftware oder Mikrochips (ja, eigentlich nicht einmal Geld), sondern diesbezüglich nur körperliche Gegenstände, also gemäß § 90 BGB „Sachen“, und unkörperliche Gegenstände, was sich alles noch viel weiter differenzieren lässt. Diese Unanschaulichkeit der Begriffsbildung in der Folge der begrifflichen Formalisierung ist aber zugleich der Schlüssel für die Faszination und die enorme Flexibilität dieses privatrechtlichen Rechtssystems, das sich eben wegen der Inhaltsleere seiner Zentralbegriffe weitgehend als fähig erwiesen hat, die enormen Veränderungen in der sozialen und technischen Realität mit zu vollziehen. Die neuere Gesetzgebung scheint dies nicht selten in Frage zu stellen. Andererseits muss man natürlich auch wahrnehmen, dass die Technik des Gesetzes - Abstraktionen, Legaldefinitionen, Verweisungen etc. mit Bürger- <?page no="47"?> 20 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ ferne einhergeht: Stillt ein Schüler seinen Hunger mit einer Tüte Pommes- Frites, so muss man zur juristischen Bewältigung dieses trivialen Vorgangs mindestens die §§ 1, 104 ff., 145 ff., 241 ff., 362, 433 ff. und 929 S. 1 BGB aktivieren. Das ist angesichts der Vorteile der gewählten Regelungstechnik, nämlich äußerste Normökonomie und stete Aktualität, kein entscheidender Nachteil. Denn die Rechtsgeschichte zeigt, dass die Versuche, bürgerfreundliche Gesetze zu machen, allesamt nicht geglückt sind: Entweder sie ergehen sich wie z. B. das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 in einer Kasuistik, die die Anschaulichkeit der Normen damit erkaufen, dass sie der Vielgestaltigkeit des Lebens hoffnungslos hinterherhinken, oder sie führen zu gänzlich unscharfen Normen, die zur Lösung des nach wie vor ja existenten dogmatischen Problems letztlich gar nichts beitragen. Eine Gegenüberstellung von BGB einerseits, von „bürgernah“ konzipiertem Zivilgesetzbuch der ehemaligen DDR andererseits, erweist dies hinreichend deutlich: Auch unter der Herrschaft des ZGB/ DDR wurde nach wie vor, wenn auch versteckt, mit der BGB-Kommentarliteratur des „Klassenfeindes“ gearbeitet. Da ist es vorzuziehen, wenn das Gesetz wenigstens für die juristisch Vorgebildeten einigermaßen operational ist. Wenn diese allerdings notwendige Vorbildung in der Bevölkerung weitestgehend fehlt, dann geht dies eher auf das Konto einer mangelhaften Bildungspolitik. Leider gibt es auch ein Drittes: Weder Juristen noch fachliche Laien verstehen etwas: Ein grandioses Beispiel hierfür liefern die Verweisungsmonstren im Teilzahlungs-, Verbraucherdarlehens- und Fernabsatzrecht. Die Wertschätzung für die hochgradig abstrakte Regelungstechnik, die für das Privatrecht unter der Herrschaft des BGB ursprünglich so charakteristisch war, ist allerdings leider im Schwinden. Immer häufiger fühlt sich der Gesetzgeber bemüßigt, konkreter zu normieren. Zweifelhafte Produkte dieser Bestrebungen ist z. B. die Herausnahme des Reisevertragsrechtes (§§ 651a BGB) aus dem allgemeinen Werkvertragsrecht der §§ 631 ff. BGB und die Sondernormierungen des „Zahlungsdienstevertrags“ (§§ 675f ff. BGB). Seit dem 1. 1. 2002 hat der Gesetzgeber auch den früher einheitlichen Darlehensvertrag aufgespalten: Nunmehr gibt es neben dem (Geld-)Darlehen (§§ 488 ff. BGB) noch das in §§ 607 ff. BGB gesondert normierte Sachdarlehen. Dogmengeschichtlich ist dies ein klarer Rückschritt, weil das erreichte hohe Abstraktionsniveau wieder abgesenkt wurde. Auch den „Teilzeit-Wohnrechtevertrag“ kennt das Zivilrecht nunmehr (§§ 481 ff. BGB), obwohl dieser Vertrag ohne weiteres auf höherer Abstraktionsstufe als Kauf eines (auflösend befristeten) Rechts (vgl. § 453 BGB) begriffen werden könnte. Mit diesem Vorverständnis ist man nun gut gerüstet, das Weltbild des Juristen aus der Sicht des (Wirtschafts-)Privatrechts kennen zu lernen, sich also die elementaren Kategorien und die daran anknüpfenden rechtlichen Mechanismen gedanklich anzueignen. Als Einstieg bietet sich die grundlegende Drei- <?page no="48"?> 2. Rechtssubjekte 21 teilung in Akteure, Gegenstände und Aktivitäten des Rechtslebens an (lat. „personae, res, actiones“). Wir betrachten somit zunächst die Rechtssubjekte, sodann die Rechtsobjekte und schließlich die Rechtshandlungen. 2. Rechtssubjekte a) Rechtsfähigkeit/ Handlungsfähigkeit Im Zentrum des Privatrechts stehen die Rechtssubjekte, die Teilnehmer am Rechtsverkehr, die Träger von Rechten und Pflichten, diejenigen, an die sich der Gesetzgeber mit seinen Geboten, Verboten und Erlaubnissen, eben überhaupt mit seinen auf Verhaltenssteuerung gerichteten Normen wendet. Rechtssubjekte zeichnen sich also durch eine ganz spezifische Fähigkeit aus, Träger von Rechten und Pflichten sein zu können, Rechte und Pflichten haben zu können. Diese im Gesetz nirgends definierte, sondern als Begriff vorausgesetzte Fähigkeit wird eigentlich verkürzend - Rechtsfähigkeit genannt. Dabei muss man sich nämlich der Missverständlichkeit bewusst bleiben, dass diese Fähigkeit eben nicht nur auf die angenehme Seite des Rechtslebens, auf mögliche Rechte, sondern eben zugleich auch auf mögliche Pflichten bezogen ist. Es geht, wie gesagt, nur um die Fähigkeit, Rechte und Pflichten haben zu können. Ob und welche konkreten Rechte und Pflichten ein konkretes Rechtssubjekt dann tatsächlich hat, ist eine ganz andere, jeweils natürlich unterschiedlich zu beantwortende Frage. Die Rechtsfähigkeit bedeutet ferner nicht, dass ein Rechtssubjekt Rechte und Pflichten auch durch eigenes Handeln erwerben, übertragen, ausüben, erfüllen, inhaltlich verändern oder ganz aufgeben könnte. Die Rechtsfähigkeit schafft lediglich einen rechtsformalen Zuordnungspunkt für Rechte und Pflichten. Das dynamische Moment im Rechtsleben, Rechte und Pflichten selber erwerben, übertragen, ausüben, erfüllen, verändern oder aufgeben zu können, knüpft an andere, sog. Handlungsfähigkeiten an. Schon vorrechtlich existiert die sog. natürliche Handlungsfähigkeit des Menschen. Beispiel: Ein Baby greift nach seinem Schnuller, ist dazu also ersichtlich fähig. Erst vom Recht verliehen, jedenfalls aber näher ausgestaltet, wird hingegen die sog. Geschäftsfähigkeit (§§ 104 ff. BGB), die Fähigkeit, diejenigen rechtlichen Wirkungen, die im Einzelfall gewollt und erklärt sind, auch wirklich herbeizuführen. Beispiel: Ein 17-jähriger kauft sich ein Notebook. Ob das wie gewünscht klappt, ob also durch die entsprechenden vertraglichen Erklärungen des jungen Mannes die beabsichtigten Wirkungen (gültiger Kaufvertrag, Eigentumserwerb) eintreten können, entscheidet die Rechtsordnung damit, ob sie schon 17-jährigen Geschäftsfähigkeit zuspricht oder vorenthält. <?page no="49"?> 22 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Wichtig ist schließlich die sog. Deliktsfähigkeit oder Zurechnungsfähigkeit, die darüber Auskunft gibt, ob jemand für von ihm erzeugte rechtlich unerwünschte Effekte, insbesondere verursachte Schäden, überhaupt verantwortlich gemacht werden kann. Auch diese Fähigkeit wird erst vom Gesetz, und zwar für das Privatrecht etwas anders als für das Strafrecht, wo die Zurechnungsfähigkeit bzw. die Zurechnungsunfähigkeit eine besondere Rolle spielt, festgelegt (vgl. §§ 827 f. BGB). Das Verhältnis der Handlungsfähigkeit zur Rechtsfähigkeit ist dogmatisch übrigens durchaus nicht völlig geklärt. Als Faustregel kann man aber wohl davon ausgehen, dass zwar Rechtsfähigkeit ohne Handlungsfähigkeit vorkommt, umgekehrt aber Handlungsfähigkeit Rechtsfähigkeit voraussetzt. Zunächst interessiert aber allein die Rechtsfähigkeit, während die Handlungsfähigkeiten erst in dem jeweiligen Sachzusammenhang zur Sprache kommen sollen. b) Natürliche und juristische Personen, Gesamthandsgemeinschaften (1) Rechtssubjektivität des Menschen Mit der Rechtsfähigkeit beschäftigt sich das Gesetz systematisch korrekt im 1. Buch, im Allgemeinen Teil. Denn nur wer rechtsfähig ist, dem kann als Käufer das Recht auf Lieferung zustehen (§ 433 I BGB), nur der kann als Eigentümer das Recht haben, mit einer Sache nach seinem grundsätzlichen Belieben zu verfahren (§ 903 BGB), nur der kann familienrechtliche Befugnisse und Pflichten haben, nur der kommt als Erbe, als Nachfolger der Rechte und Pflichten des verstorbenen Vermögensträgers in Betracht (vgl. § 1923 I BGB, eine eigentlich überflüssige Vorschrift). Hinsichtlich der Rechtsfähigkeit der Menschen, der sog. natürlichen Personen (vgl. die Titelüberschrift vor § 1 BGB), erklärt § 1 BGB lapidar, die Rechtsfähigkeit des Menschen beginne mit Vollendung der Geburt, also mit vollständigem Austritt des lebenden Kindes aus dem Mutterleib. Alles andere ist also unerheblich, insbesondere Geschlecht, Nationalität und selbstverständlich auch eine Missbildung, mag sie auch noch so gravierend sein und den Betroffenen von jeder aktiven Teilnahme am Sozialleben, ja selbst an der einfachsten zwischenmenschlichen Kommunikation mit Sicherheit auf Lebensdauer ausschließen. Beispiele: Die Koreanerin Choon-Ho auf Europareise erwirbt anlässlich ihres Aufenthalts in München ein Auto der Marke BMW: Erhalt eines „deutschen“ Eigentumsrechtes nach § 903 BGB. Ein Kind erleidet bei einer komplizierten Geburt infolge Sauerstoffunterver- <?page no="50"?> 2. Rechtssubjekte 23 sorgung schwerste, irreparable Hirnschäden. Kurz darauf stirbt die sehr vermögende Mutter an den Geburtsfolgen: Sie wird (auch) von diesem Kind beerbt, mag dieses die reiche Erbschaft auch niemals genießen können. Inhaltlich ist die Rechtsfähigkeit umfassend, dies freilich nur in den Grenzen des Privatrechts. Beispiel: Ausländer können grundsätzlich (sofern deutsches Recht nach den Regeln des sog. Internationalen Privatrechts vgl. Artt. 6 ff. EGBGB überhaupt Anwendung findet) alle privaten Rechte und Pflichten eines Deutschen haben, aber das Öffentliche Recht kann das ganz anders sehen (Aufenthaltsrecht, Wahlrecht, Wehrdienst). An Zynismus, ja gedanklicher und moralischer Perversion nicht mehr zu überbieten war die Privatrechtspraxis des sog. Dritten Reichs, der Nazi- Herrschaft: Ohne Änderung des § 1 BGB konnte Juden und anderen die privatrechtliche Rechtsfähigkeit mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien keine Menschen, hätten vielmehr die Schwelle zum Menschsein gar nicht überschritten, seien in diesem Sinne „Untermenschen“! Wann die Rechtsfähigkeit des Menschen endet, sagt das BGB nicht ausdrücklich, weil es in der Logik des Gesetzes selbstverständlich ist: mit dem Tod (und nur mit diesem! ). Dies zeigt § 1922 I BGB: Weil mit dem Tod die Rechtsfähigkeit erlischt und die Rechte und Pflichten des Erblassers ja irgendwo zugeordnet sein müssen, lässt das Gesetz sie allesamt automatisch in diesem Zeitpunkt auf den oder die Erben übergehen. Zweifelhaft ist freilich, welche Kriterien man dem Todeszeitpunkt zugrundelegt. Die medizinischen Auffassungen darüber haben im Lauf der Zeit gewechselt. Für maßgeblich wird heute durchweg der Hirntod gehalten (Ableitungen der Hirnströme im Elektro-Enzephalogramm liegen auf der Null- Linie). Dieses Hinausschieben des für den Verlust der Rechtsfähigkeit relevanten Zeitpunkts ist auch eine juristische Notwendigkeit angesichts der medizinischen Fortschritte bei der Wiederbelebung von (Herz-)„Toten“ (Reanimation). Denn würde der Tod im juristischen Sinne und damit auch der Verlust der Rechtsfähigkeit und mit ihr der Erbfall früher eintreten, so stünde der Reanimierte nunmehr ohne alle früheren Rechte und Pflichten leibhaftig seinen Erben gegenüber und könnte auch niemehr irgendwelche Recht und Pflichten haben, da die Reanimtion schließlich keine Geburt ist! Nicht selten kommt es auf die absolut exakte Festlegung des Todeszeitpunkts an, weil davon die gesetzliche Erbfolge entscheidend abhängt. Beispiele: Bei einer Klettertour stürzen Vater und schon verheirateter Sohn tödlich ab: Hat der Sohn den Vater auch nur um kürzeste Zeit überlebt, tritt er in die Erbfolge nach seinem Vater ein, was erbrechtlich etwa für die Ehefrau des Sohnes von größter Bedeutung ist. Ähnlich verhält es sich, wenn Mutter und Kind im Verlauf einer schweren Geburt sterben. <?page no="51"?> 24 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Gelegentlich geraten Menschen in Verschollenheit, d. h. es fehlen verlässliche Nachrichten über sie, und man muss von ihrem Tod ausgehen. Auch dann bedarf es irgendeiner Festlegung des Todeszeitpunktes. Die amtliche Todeserklärung hat jedoch auf die Rechtsfähigkeit keinerlei Einfluss, weil durch die Todeserklärung lediglich eine widerlegliche Vermutung begründet wird (vgl. § 9 I 1 VerschG). Taucht der für tot Erklärte wider allen Erwartens über kurz oder lang wieder auf, so hat es in Wahrheit also niemals einen Erbfall gegeben, mögen sich auch viele entsprechend verhalten haben. Über die Gegenstände der „Erbschaft“ ist vielleicht zwischenzeitlich verfügt worden, und die Ehefrau ist vielleicht sogar wieder eine neue Ehe eingegangen. Grundsätzlich muss dies alles nunmehr rückabgewickelt werden, doch vor allem im Familienrecht zieht der Gesetzgeber Konsequenzen daraus, dass der Todeserklärung schließlich ein prüfungsintensives amtliches Verfahren zugrunde gelegen hat. Beispiel: Todeserklärungen betreffend verschollener Expeditionsteilnehmer oder von Soldaten, die eines Tages doch wieder auftauchen. Fall eines verschütteten Bergmanns, der 1999 in Österreich nach vergeblichen Rettungsaktionen und nach Verlöschen aller Lebenszeichen für tot erklärt wird, nach vielen Tagen aber - völlig überraschend doch noch lebend geborgen wird. Kurz gesagt besteht die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen, also von Menschen, erst ab Vollendung der Geburt und endet mit dem (wirklichen) Tod. Dazu sind noch einige abschließende Bemerkungen erforderlich: Das Kind im Mutterleib ist mangels Vollendung der Geburt also (noch) nicht rechtsfähig, mag es auch (öffentlichrechtlich! ) in den Schutz strafrechtlicher Bestimmungen (§ 218 StGB! ) einbezogen sein. Dies führt bei pränatalen Schädigungen, etwa durch radioaktive Strahlen, durch Arzneimittel („Contergan“- Fall! ) oder durch Verkehrsunfälle, zu befremdlichen rechtlichen Situationen, selbst dann, wenn die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB vorzuliegen scheinen. Denn auch dieser Anspruch kann ja nur demjenigen als Gläubiger zustehen, der überhaupt Rechte (und Pflichten) haben kann, der also rechtsfähig ist. Dies ist im Zeitpunkt der Schädigung nur die Mutter. Geht man davon aus, dass die Verletzung des noch ungeborenen Kindes als Verletzung der Mutter gewertet werden kann, so führt das kaum weiter, weil mit Vollendung der Geburt das Kind ja selber rechtsfähig und die Mutter zynisch formuliert den „Schaden“ damit ja „los“ ist. Das Kind aber kommt schon geschädigt auf die Welt; es fehlt also in Bezug darauf an der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eines anderen (Rechtsfähigen) i. S. des § 823 I BGB. Ob hier § 1923 II BGB weiterhelfen kann, ist sehr zweifelhaft. Denn eigentlich nur zum Zwecke der erbrechtlichen Berücksichtigung behandelt diese Vorschrift ja das schon gezeugte, aber noch nicht geborene Kind als Rechtssubjekt, als rechtsfähig, obwohl die Rechtsfähigkeit und damit Erbfähigkeit <?page no="52"?> 2. Rechtssubjekte 25 (§ 1923 I BGB) eigentlich noch gar nicht vorhanden ist. Es handelt sich im § 1923 II BGB also um eine sog. Fiktion. Beispiel: Der Vater stirbt während der Schwangerschaft seiner Ehefrau. Später wird ein Kind lebend geboren. Obwohl z. Zt. des Erbfalls (Tod des Vaters) das Kind noch gar nicht rechtsfähig war, wird es neben der Mutter als Miterbe berücksichtigt. Wenn andere dogmatische Konstruktionen versagen, wird man aber vielleicht eine Analogie ziehen können: Man würde den § 1923 II BGB also in entsprechender Anwendung auch auf den deliktsrechtlichen Bereich erstrecken und so dem Kind, wenn es überhaupt einmal rechtsfähig wird, den Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB als Gläubiger zuordnen können. Eine Begründung für diese Analogie, die dem in § 1 BGB erklärten Willen des Gesetzes zuwiderläuft, fällt allerdings schwer. (2) Rechtssubjektivität juristischer Personen Neben den Menschen als natürlichen Personen, die für uns sinnlich wahrnehmbar sind, kennt das Privatrecht (wie das Öffentliche Recht) auch „juristische Personen“. Über ihr Wesen ist rechts- und sozialphilosophisch viel gestritten worden. Jenseits dieser Auseinandersetzung steht aber zumindest soviel fest, dass auch sie als Rechtssubjekte am Rechtsverkehr teilnehmen und insoweit nicht anders als Menschen, aber eben nicht sinnlich wahrnehmbar selbst Träger eigener Rechte und Pflichten sind, also über Rechtsfähigkeit verfügen. Das BGB normiert als Prototyp der juristischen Person den in das Vereinsregister eingetragenen Verein, den „e. V.“ (vgl. § 55 BGB). Für das Wirtschaftsprivatrecht spielt der e. V. freilich nur eine vergleichsweise geringe Rolle, denn in das Vereinsregister eingetragen werden und damit Rechtsfähigkeit erlangen können nur sog. Idealvereine, gemäß § 21 BGB also nur Vereine, deren „Zweck“ nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist. Dies schließt andererseits wirtschaftliche Nebentätigkeiten nicht aus (sog. Nebenzweckprivileg). Beispiel: Der „Fußballclub Fröndenberg e.V.“ bewirtschaftet während der Saison eine dem Sportplatz nahe gelegene Gaststätte. Ein Blick auf das Recht des e. V. kann auch wegen seiner Leitbildfunktion für juristische Personen (vgl. auch § 6 II HGB! ) insgesamt nützlich sein, weil ja subsidiär das Recht des e. V. auch für andere juristische Personen entsprechende („analoge“) Anwendung findet, soweit keine spezielleren Vorschriften vorhanden sind. Für das Wirtschaftsprivatrecht interessant ist das bürgerlichrechtliche Vereinsrecht nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, wirtschaftliche Aktivitäten auch als Hauptzweck in Vereinsform zu verfolgen. Da dies natür- <?page no="53"?> 26 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ lich die besonderen Vorschriften unterläuft, die namentlich für AG, GmbH und e. G. hinsichtlich Mindestkapitalausstattung, Minderheitenschutz, Bilanzierung, verbandliche Prüfung etc. gelten, ist dieser sog. wirtschaftliche Verein (vgl. § 22 BGB) im Rechtsleben eine eher seltene Ausnahme. Denn nur für unproblematisch erscheinende Nischen wird solchen Vereinen durch staatlichen Akt (Einzelheiten regelt das Landesrecht) die Rechtsfähigkeit verliehen. Beispiel: Privatärztliche Verrechnungsstellen oder landwirtschaftliche Erzeugergemeinschaften treten als durch Verleihung rechtsfähige Wirtschaftsvereine in Erscheinung. Diese behördliche Zurückhaltung ist auch deshalb verständlich, weil ja eine recht breite Palette von sondergesetzlich unterschiedlich ausgestalteten juristischen Personen für die wirtschaftliche Betätigung zur Verfügung steht. Wichtige Stichpunkte sind soeben schon gefallen: AG, GmbH mit UG sowie Genossenschaften. Hinzu kommen noch die KGaA (§§ 278 ff. AktG), die versicherungswirtschaftlich bedeutsame Rechtsform des VVaG (§§ 15 ff. VAG) sowie die im BGB ebenfalls nur angedeutete, weitgehend dem Landesrecht überlassene (rechtsfähige) Stiftung (§§ 80 ff. BGB). Auf supranationaler Ebene sind noch zu nennen die SE als Europäische Aktiengesellschaft, die SPE als Europäische Privatgesellschaft („Europa-GmbH“) in Parallele zur GmbH/ UG sowie die SCE als Europäische Genossenschaft. So verschieden die rechtliche Ausgestaltung auch sein mag: Alle juristischen Personen (selbst diejenigen des Öffentlichen Rechts, namentlich Gebietskörperschaften wie Staat und Kommunen) zeigen im Kern dieselbe Struktur, die man schlagwortartig mit „Trennungsprinzip“ charakterisieren kann (vgl. Abb. 4). Im Beispiel der Abb. 4 sei die juristische Person ein im Vereinsregister eingetragener Verein der Fußball-Bundesliga. M 1-n sollen die Vereinsmitglieder darstellen, an denen sozusagen ihr jeweiliges (Privat-) Vermögen klebt. V sei der Vereinsvorstand. Wenn V in seiner Funktion als Repräsentant des Vereins satzungsgemäß mit dem Lieferanten L einen Kaufvertrag über die Lieferung hochmodischer Trikots mit dem Vereinsnamen in goldenen Buchstaben geschlossen hat, so ist gemäß § 433 II BGB der Käufer dem Verkäufer L gegenüber zur Zahlung des vereinbarten Kaufpreises in Höhe von Euro 100.000 verpflichtet. Die Position des Käufers kommt dabei dem Verein selber zu, denn er ist ja selber fähig, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Also trifft auch die Zahlungspflicht aus § 433 II BGB den Verein als solchen. Dieses Rechtssubjekt, den e. V. als juristische Person, wird niemals jemand zu Gesicht bekommen: Auch wenn alle Mitglieder M 1-n samt dem Vorstand versammelt sein sollten, ist diese Versammlung nicht mit dem e. V. als juristischer Person identisch. <?page no="54"?> 2. Rechtssubjekte 27 Abb. 4: Trennungsprinzip bei der juristischen Person Überspitzt gesagt haben M 1-n und V mit der juristischen Person, der sie angehören, eigentlich gar nichts zu tun, jedenfalls nicht in rechtssubjektiver Hinsicht: Zwischen der juristischen Person als Rechtssubjekt und den Rechtssubjekten M 1-n und V besteht keinerlei Gemeinsamkeit. Weil von Bürgschaft und ähnlichem abgesehen jedes Rechtssubjekt selbstverständlich nur mit seinem Vermögen für seine Schulden geradestehen muss (Haftung), kann der Verkäufer L nach entsprechendem Prozess und Erwirken eines Vollstreckungstitels, z. B. eines Urteils, sich auch nur an dem Vermögen seines Schuldners aus dem Kaufvertrag, also an dem Vereinsvermögen, mit Hilfe eines Gerichtsvollziehers oder im Wege einer anderen Zwangsvollstreckungsmodalität schadlos halten. M 1-n mögen über noch so große Privatvermögen verfügen: L hat grundsätzlich keine Möglichkeit, auf diese Privatvermögen zuzugreifen, vor allem auch dann nicht, wenn die Vereinskasse leer ist. V kümmern die Schulden des e. V. übrigens deshalb nicht, weil er ja voraussetzungsgemäß lediglich als Repräsentant der juristischen Person im Rahmen seiner satzungsmäßigen Befugnisse, eben als „Organ“ analog den Organen der natürlichen Person (Hand, Mund etc.), gehandelt hat. Der grundsätzliche Ausschluss eines haftungsmäßigen Durchgriffs der Gläubiger der juristischen Person auf die Privatvermögen der sie tragenden Mitglieder ist also eine wesentliche Ausprägung des Trennungsprinzips. Das Trennungsprinzip wirkt aber auch umgekehrt hinsichtlich der Aktiva der <?page no="55"?> 28 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ juristischen Person: Sollte das Sportgelände im Eigentum des e. V. stehen (üblicherweise wird das Gelände von der betreffenden Stadt lediglich zur gebrauchsweisen Verfügung gestellt), so ist Eigentümer nur der e. V. und als solcher auch im Grundbuch eingetragen. Weder M 1-n noch V haben auch nur einen Eigentumssplitter. Nicht sind etwa M 1-n oder V Miteigentümer des Grundstücks nach Bruchteilen mit irgendeiner Quote i. S. der §§ 1008 ff. BGB. Durchlässig ist die Wand, die das Trennungsprinzip errichtet, grundsätzlich nur für die mitgliedschaftlichen Rechtsbeziehungen zwischen juristischer Person, hier dem e. V., und den Mitgliedern, etwa was Rechte und Pflichten in Bezug auf die Teilnahme am Vereinsleben anlangt (Wahlrechte, Präsenzpflichten, Pflicht zur Zahlung der Mitgliedsbeiträge etc.). Letztlich nur einen Etikettenwechsel bedeutet es, statt des Bundesligavereins e. V. beispielsweise eine AG, eine GmbH oder eine Genossenschaft als juristische Person zu betrachten: Statt von Vereinsmitgliedern wird dann von den Aktionären oder besonders bei der GmbH von den Gesellschaftern sowie von den Genossen gesprochen. In deren Funktion ändert sich dadurch aber nichts. Aus dem Trennungsprinzip leitet sich schließlich auch die „Unsterblichkeit“ der juristischen Person her: Mögen auch die Mitglieder wechseln, ja mögen auch einmal gar keine Mitglieder mehr vorhanden sein, so existiert die juristische Person als Körperschaft doch weiter. Wenn es Satzung bzw. Gesellschaftsvertrag vorsehen, dass eine einfache Beitrittserklärung für die Mitgliedschaft ausreicht, dann wird die juristische Person selbst in diesem Extremfall eines Tages wieder aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Lediglich aus Praktikabilitätsgründen, nicht jedoch als logische Konsequenz aus der Struktur der juristischen Person heraus, wird der Gesetzgeber Vorsorge für diesen Fall dadurch treffen, dass er eine eventuelle Auflösung z. B. nach Entzug der Rechtsfähigkeit von Amts wegen vorsieht (vgl. § 73 BGB für den Verein). Die haftungsrechtliche Dimension des Trennungsprinzips steht besonders oft im Vordergrund bei der rechtsförmigen Organisation der Unternehmung (genauer: des Unternehmensträgers) als GmbH. Dazu muss man sich klar machen, wie die Haftungsverhältnisse im einzelunternehmerisch geführten Unternehmen gelagert sind. Auch wenn der Unternehmer aus vielerlei Gründen betriebswirtschaftlicher oder rechtlicher Art sein Vermögen in Privat- und Geschäftsvermögen aufteilen wird, hat dies keinerlei haftungsrechtliche Bedeutung, denn das Rechtssubjekt ist ja jeweils dasselbe. Und für dessen Schulden, gleichgültig ob privaten oder geschäftlichen Ursprungs, haftet das gesamte Vermögen des schuldenden Rechtssubjekts. Daran ändert nichts, dass die betreffende natürliche Person sich in ihrer geschäftlichen Sphäre zumeist eines besonderen, unter Umständen sogar handelsrechtlich geschützten Na- <?page no="56"?> 2. Rechtssubjekte 29 Abb. 5: Haftungsverhältnisse einzelunternehmerisch geführter Unternehmen mens bedient. Genau dies ist nämlich gemäß § 17 HGB die „Firma“. Nicht etwa ist die Firma ein Rechtssubjekt (vgl. Abb. 5). Diese für die Gläubiger umfassende Zugriffsmöglichkeit ist zwar gut für die Bonität des Schuldners (in Abb. 5: Max Müller), bedeutet aber immer eine latente Bedrohung dessen Existenz. Will Max Müller dies vermeiden, so wird er eine GmbH (oder auch eine UG) gründen, deren alleiniger Gesellschafter er ist (bei der AG kommt ebenfalls der Alleinaktionär vor! ) und die er mit dem bisherigen Geschäftsvermögen ausstattet. Außerdem wird sich Max Müller zum Repräsentanten, zum Organ der GmbH machen, also zum dort sog. Geschäftsführer. Dann hat Max Müller alle Handlungsoptionen: Riskante Transaktionen wird er in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der GmbH (handelnd unter der Firma „Peter Pan“) tätigen. Vertragspartner ist hierbei nicht Max Müller, weder als Geschäftsführer noch als Gesellschafter, sondern die juristische Person, die nach § 13 II GmbHG für ihre Schulden natürlich auch nur mit ihrem Vermögen (also dem Gesellschaftsvermögen) haftet. Reicht das Gesellschaftsvermögen zur Befriedigung der Gläubiger nicht aus, können diese nicht etwa auf das (Privat-)Vermögen von Max Müller zurückgreifen. Auch ist Max Müller grundsätzlich nicht gehalten, aus seinem Vermögen das Vermögen eines anderen Rechtssubjekts, nämlich der GmbH, so aufzustocken, dass deren Verbindlichkeiten bedient werden können. Es besteht also keine generelle Nachschusspflicht (vgl. aber § 26 GmbHG). Gewinne der GmbH kann Müller hingegen bis zur Grenze des rechtlich erforderlichen Mindestkapitalerhalts in seiner Eigenschaft als Alleingesellschafter durch Ausschüttung beliebig in sein (Privat-)Vermögen transferieren <?page no="57"?> 30 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Abb. 6: Haftungsverhältnisse in der Ein-Mann-GmbH mit alleingeschäftsführendem Gesellschafter und so dem Zugriff der Gesellschaftsgläubiger grundsätzlich dauerhaft entziehen (Ausnahmen: § 3 AnfG und § 129 InsO). Außerdem kann Max Müller natürlich als solcher, privat, am Rechtsverkehr teilnehmen. Für daraus erwachsende Rechte und Pflichten ist nur er zuständig; die GmbH hat damit überhaupt nichts zu tun, obwohl Max Müller deren Alleingesellschafter und deren Alleingeschäftsführer ist (vgl. Abb. 6). Bereits hier kann man sich einprägen, dass Mitglieder einer juristischen Person grundsätzlich selber wieder juristische Personen sein können, wodurch das Potenzial der Gestaltungsmöglichkeiten wiederum wächst. Darauf beruht beispielsweise die Holding-GmbH an der Spitze eines vertikal organisierten Konzerns (vgl. Abb. 7). Beiläufig ist man bei der Behandlung der „Peter Pan“-GmbH mit ihrem Gesellschaftergeschäftsführer auf ein Problem nicht haftungsrechtlicher Natur zu sprechen gekommen, das für alle juristischen Personen grundsätzlich ebenfalls einheitlich zu lösen ist: Das Repräsentationsorgan der juristischen Person (Vorstand, Geschäftsführer) kann zwar personell aus den Reihen der Mitglieder (Vereinsmitglieder, Aktionäre, Gesellschafter etc.) heraus besetzt werden, doch ist dies rechtlich nicht erforderlich und vielfach auch praktisch nicht der Fall. Es besteht bei den juristischen Personen also grundsätzlich (vgl. aber § 9 II GenG) die Möglichkeit der sog. Drittorganschaft. <?page no="58"?> 2. Rechtssubjekte 31 Abb. 7: Holding-GmbH im Vertikal-Konzern Beispiele: Der Vorstand des im Vereinsregister eingetragenen Kaninchenzüchtervereins kann, braucht aber nicht zugleich selber Kaninchen züchtendes Vereinsmitglied zu sein (praktisch selten). Die Mitglieder des Vorstands einer ziemlich maroden AG haben selber keine Aktien dieser Gesellschaft (praktisch die Regel). Dass der Geschäftsführer einer GmbH zugleich Gesellschafter ist, ist wohl ebenso häufig wie das Gegenteil. Eine juristische Person ganz eigener Art ist die Stiftung, die durchaus auch Bedeutung als Unternehmensträger hat: Als rechtlich verselbständigte Vermögensmasse mit eigener Rechtsfähigkeit kommt sie ganz ohne Mitglieder aus, so dass sich die Frage einer möglichen Drittorganschaft im Grunde gar nicht stellt. §§ 80 ff. BGB überlassen die rechtliche Normierung der Stiftung weitgehend dem Landesrecht. <?page no="59"?> 32 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ (3) Rechtssubjektivität der Gesamthandsgemeinschaften, insbesondere sog. Personengesellschaften Im Rechtsleben finden sich neben natürlichen und juristischen Personen noch eine ganze Reihe weiterer organisierter Rechtsgebilde. Beispiele: Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR, §§ 705 ff. BGB), Offene Handelsgesellschaft (OHG, §§ 105 ff. HGB), Kommanditgesellschaft (KG, §§ 161 ff. HGB), Partnerschaftsgesellschaften (§§ 1 ff. PartGG), Stille Gesellschaft (§§ 230 ff. HGB), Erbengemeinschaft, Wohnungseigentümergemeinschaft, (eheliche) Gütergemeinschaft etc. Nicht allen diesen Erscheinungsformen ist jedoch nachzuspüren. Denn entweder fehlt es das kann hier nicht näher dargelegt werden schon an der rechtssubjektiven Dimension, weil die Gemeinschaft nur durch die Teilhabe mehrerer an einem einzigen Gegenstand konstituiert wird, oder es fehlt an der wirtschaftsprivatrechlichen Substanz. Ins Blickfeld rücken sollen also nur GbR, OHG, KG, sowie Partnerschaftsgesellschaft (kurz Partnerschaft) und EWIV, die nicht sonderlich glücklich auch als Personengesellschaften bezeichnet werden. Irgendein besonderer persönlicher Zusammenhalt der Personengesellschafter ist zwar häufig, durchaus aber nicht rechtlich notwendig, zumal die Gesellschafter von Personengesellschaften wiederum auch juristische Personen sein können. Präziser ist der Begriff Gesamthandsgesellschaft, der auch im wissenschaftlichen Schrifttum Verwendung findet. Denn GbR, OHG und KG, Partnerschaft und EWIV sind in ihrer rechtssubjektiven Struktur von eben jenem Gesamthandsprinzip geprägt, das den Gegenpol zum Prinzip der juristischen Persönlichkeit bildet. Das Gesamthandsprinzip wirkt dabei nicht nur bei bestimmten Organisationen auf (gesellschafts-)vertraglicher Grundlage, sondern auch bei manchen direkt auf Gesetz beruhenden Gemeinschaftsformen. Terminologischer Oberbegriff ist also „Gesamthandsgemeinschaften“. Sie differenzieren sich in die auf einem Gesellschaftsvertrag gründenden Gesamthandsgesellschaften, eben den sog. Personengesellschaften, und in sonstige, unmittelbar gesetzlich statuierte Typen von Gesamthandsgemeinschaften, wozu etwa die Erbengemeinschaft (§§ 2032 ff. BGB) oder die Miturheberschaft (vgl. insbesondere § 8 II 1 UrhG) zu nennen sind. Im Verständnis der Gesamthandsgemeinschaften überhaupt, speziell aber im Verständnis der Gesamthandsgesellschaften (Personengesellschaften), hat sich seit einigen Jahren ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Da das Gesetz die Rechtsfähigkeit nur zu natürlichen und juristischen Personen ausdrücklich in Beziehung setzt, glaubte man, den Gesamthandsgemeinschaften die Rechtsfähigkeit vorenthalten zu müssen, denn sie waren ja unbestreitbar eben keine juristischen Personen. Auch die historischen Väter des BGB und des HGB dachten wohl so. Mittlerweile steht aber auch für die Rechtsprechung fest, <?page no="60"?> 2. Rechtssubjekte 33 dass Rechtsfähigkeit, Rechtssubjektivität, nicht auf natürliche und juristische Personen beschränkt ist. Davon gehen ausdrücklich z. B. auch § 14 BGB, die InsO in § 11 II Nr. 1 sowie § 191 I Nr. 1, II Nr. 1 und 2 UmwG aus. Ohnehin hat der Person-Begriff eher in der Rechtsphilosophie sein Zuhause. Von alledem hat das wirtschaftswissenschaftliche Schrifttum bislang noch keine rechte Notiz genommen. Die Steuerrechtspraxis müsste wegen § 15 EStG (Besteuerung der „Mitunternehmer“) freilich nicht notgedrungen an der dogmatisch überholten und sachlich verfehlten Ansicht festhalten, die Gesamthandsgemeinschaften und dabei insbesondere die Personengesellschaften entbehrten der Rechtsfähigkeit. Wem sollte denn z. B. das „Gesellschaftsvermögen“ (vgl. § 718 BGB) zustehen, wenn die Gesellschaft gar nicht fähig wäre, Rechte und Pflichten, also Vermögen, zu haben, wenn es sie als Rechtssubjekt gar nicht gäbe? Wie könnte das Gesetz von „Verbindlichkeiten der Gesellschaft“ sprechen (vgl. §§ 128 f. HGB), wenn nicht die Gesellschaft als deren Schuldner zu betrachten wäre, die dann natürlich auch über die logisch vorausliegende Fähigkeit verfügen muss, als Träger von Rechten und Pflichten, als Rechtssubjekt, zu fungieren? Trotz der Rechtsfähigkeit auch der Gesamthandsgemeinschaften muss es aber einen strukturellen Unterschied zur Rechtssubjektivität der juristischen Personen geben, weil das Prinzip der juristischen Person nun einmal andere Wirkungen erzeugen muss als das Gesamthandsprinzip. Denn sonst wäre die vom Gesetzgeber definitiv gewollte Unterscheidung beseitigt. Jenseits aller subtilen theoretischen Erörterungen lässt sich sagen, dass jedenfalls die für die juristische Persönlichkeit etwa der AG oder GmbH so charakteristische vermögensmäßige Trennung von Gesellschaft einerseits, Gesellschaftern andererseits, bei der Gesamthandsgemeinschaft im Verhältnis zu den Gemeinschaftern nicht bestehen kann. Dann aber bedeutet dies positiv herum formuliert, dass für die Schuldner beispielsweise der OHG als Gesamthandsgesellschaft auch deren Gesellschafter persönlich, d. h. mit ihrem jeweiligen (Privat-)Vermögen, einstehen müssen. Diese aus der rechtssubjektiven Struktur der Gesamthand gegenüber der juristischen Person abgeleitete Erwägung findet für die OHG ihre gesetzliche Bestätigung in § 128 HGB. Demzufolge haften die Gesellschafter der OHG für jedwede Gesellschaftsschuld persönlich, d. h. vor allem auch: mit ihrem jeweiligen Privatvermögen, und zwar in ihrem Verhältnis zueinander als „Gesamtschuldner“. Damit verweist § 128 HGB auf den Regelungskomplex der §§ 421 ff. BGB: Gesamtschuldner haften „nach Belieben“ des Gläubigers jeweils bis zum vollen Umfang des Anspruchs. Mit dem „Belieben“ des Gläubigers ist es freilich in Wahrheit wegen des AGG (vgl. nur dessen § 1) nicht mehr weit her, wobei der Umfang der Einflussnahme des AGG hier nicht näher erörtert werden kann. Der Gläubiger kann bei einer Gesamtschuld den Anspruch natürlich insgesamt nur einmal realisieren. Diese Möglichkeit der <?page no="61"?> 34 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ persönlichen Inanspruchnahme der Gesellschafter besteht übrigens von vornherein und nicht nur dann, wenn die Forderungsrealisierung gegenüber der OHG vielleicht wegen Liquiditätsschwäche auf Schwierigkeiten stößt (anders bei der EWIV: Art. 24 EWIV-VO). Beispiel: Sind A, B und C Gesellschafter einer OHG, die von V auf Grund eines Kaufvertrages beliefert wurde, so hat V bezüglich seines Zahlungsanspruches (§ 433 II BGB) in Höhe von Euro 9.000 insgesamt 4 Schuldner: Selbstverständlich ist die OHG als Käufer zur Zahlung verpflichtet, aber wenn V das will, kann er beispielsweise aus Eifersucht auch sofort von A, der neulich mit der Frau des V so eng getanzt hat, Zahlung in voller Höhe von Euro 9.000 beanspruchen, selbst wenn die Gesellschaftskasse prall gefüllt ist. Auch aus Sicht des AGG (vgl. hier nur § 1 AGG) sollte dies nicht zu verhindern sein. Da diese persönliche und gesamtschuldnerische Haftung der gesamthänderischen Gesellschafter ja nur die Chancen der Forderungsrealisierung durch den Gesellschaftsgläubiger erhöhen soll, besteht weder wirtschaftliche noch rechtliche Veranlassung, denjenigen Gesellschafter, der an Stelle der Gesellschaft und der Mitgesellschafter den Gläubiger wegen dessen Forderung befriedigt hat, als endgültigen Kostenträger zu belasten. Da Auslöser der ganzen Angelegenheit ja eine Schuld der Gesellschaft war, ist es vielmehr recht und billig, einen Rückgriff auf das Gesellschaftsvermögen zu eröffnen (sog. Tilgungsregress gegen die Gesellschaft). Dies tut das Gesetz im Fall des persönlich haftenden Gesellschafters einer OHG durch § 110 HGB, was der Gesetzestext nicht sehr deutlich erkennen lässt. Außerdem ist es ja reiner Zufall, welchen der Gesamtschuldner der Gläubiger belangt und in welcher Höhe. Genauso gut hätte es ja im obigen Beispiel der B oder der C sein können, der von V in Anspruch genommen wird. Gesamtschuldner müssen sich deshalb unabhängig davon, ob sie Gesellschafter sind oder nicht nach § 426 I und II BGB ausgleichen, wenn der Gläubiger von einem der Gesamtschuldner befriedigt wurde. Der Umfang dieses Tilgungsregresses bestimmt sich dabei grundsätzlich nach gleichen Teilen, sofern nicht etwas anderes bestimmt ist. Diese anderweitige Bestimmung kann namentlich gesellschaftsvertraglich durch unterschiedliche Verlusttragungsquoten angeordnet sein (vgl. aber zum Grundsatz auch gesellschaftsrechtlich § 722 I BGB, der über § 105 I HGB auch auf die OHG Anwendung findet). Im Regelfall muss im Beispiel der A bei dem Regress im Wege des § 426 BGB also einen Verlust in Höhe von Euro 3.000 selber tragen. Gleichgültig dabei ist, ob es sich um den Anspruch aus § 426 I BGB handelt oder um den kraft Gesetzes übergegangenen Anspruch des Gesamtschuldgläubigers (§ 426 II BGB). Da jeden Gesellschafter eine letztlich aus „Treu und Glauben“ (vgl. § 242 BGB) fließende sog. Treuepflicht gegenüber seinen Mitgesellschaftern trifft, muss er deren Privatvermögen nach Kräften auch im Regress schonen. Es <?page no="62"?> 2. Rechtssubjekte 35 muss also zunächst versucht werden, den Tilgungsregress nach § 110 HGB gegenüber der Gesellschaft durchzuführen. Erst wenn dies scheitert oder auf wesentliche Schwierigkeiten stößt, darf nach § 426 BGB vorgegangen werden. Auch der Eigennutz wird den Weg über § 110 HGB nahe legen. Denn diese Regressforderung hat, wie der Wortlaut des § 110 HGB klar zeigt, denselben Umfang, wie die Leistung des Gesamtschuldners an den Gläubiger, nicht nur, wie grundsätzlich nach § 426 BGB, eine Quote davon. Die gesamte rechtliche Mechanik veranschaulicht für die OHG Abb. 8, wobei der Einfachheit halber von gleichen Verlusttragungsquoten der Gesellschafter ausgegangen wird. Für die GbR gilt prinzipiell dasselbe, bloß fehlen leider so „glatte“ Normen wie bei der OHG. Was die persönliche, gesamtschuldnerische Haftung der GbR-Gesellschafter für Schulden der GbR anlangt, muss man sich folgendes in Erinnerung rufen: Diese persönliche Haftung folgt aus ganz allgemeingültigen Überlegungen zur Struktur der Gesamthand, bei der das für die juristische Person charakteristische Trennungsprinzip gerade nicht wirksam werden darf. So gesehen knüpft § 128 HGB also gar nicht an die spezielle Gesellschaftsform der OHG an, sondern ist nichts anderes als der Ausdruck des auch für die GbR maßgeblichen Gesamthandsprinzips. Dies rechtfertigt die analoge Anwendung des § 128 HGB auf die GbR. Der Tilgungsregress des Gesellschafters gegenüber der GbR ist hingegen wieder im Gesetz angelegt, allerdings über die nicht leicht handhabbare Verweisungskette der §§ 713, 670 BGB („Beauftragter“ = Gesellschafter; „Aufwendungen...“ = Leistung an den Gesellschaftsgläubiger; „Auftraggeber“ = GbR). Insoweit ist also jeder GbR- Gesellschafter „geschäftsführend“. Abb. 8: Gesellschaftsschuld, persönliche Haftung und Tilgungsregress am Beispiel der OHG <?page no="63"?> 36 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Ebenfalls für alle Gesamthandsgesellschaften grundsätzlich einheitlich (für die EWIV s. jedoch Art. 19 EWIV-VO: „Geschäftsführer“! ) gilt schließlich auch die Umkehrung des für die juristischen Personen weithin kennzeichnenden Prinzips möglicher Drittorganschaft, also der Zwang zur Selbstorganschaft: Ein Personengesellschaftsvertrag, der die Repräsentation durch wenigstens einen der Gesellschafter unmöglich machen wollte, indem er alle Gesellschafter von der Vertretung, der Repräsentation, ausschlösse, wäre zumindest in diesem Punkt rechtlich unbeachtlich, unheilbar unwirksam, nichtig. c) Einzelkaufmann und Handelsgesellschaft (1) Schlüsselfunktion des Kaufmannsbegriffs Einzelkaufleute und Handelsgesellschaften sind keine Rechtssubjekte, die neben den bisher vorgestellten rechtsfähigen Größen, nämlich natürlichen und juristischen Personen sowie Gesamthandsgemeinschaften, stünden. Es handelt sich vielmehr um besondere rechtliche Qualitäten von natürlichen Personen einerseits, von juristischen Personen und Gesamthandsgesellschaften („Personengesellschaften“) andererseits. Die Kriterien für die Eigenschaft als Kaufmann oder als Handelsgesellschaft sind dabei grundsätzlich dieselben. Oder anders herum: Auch eine Handelsgesellschaft ist „Kaufmann“. Dies ist der Sinn des undurchsichtigen § 6 I HGB. Das Gesetz definiert den Kaufmann also nur der Einfachheit halber am Leitbild des Einzelunternehmers. Alle Vorschriften, die irgendwie auf den Kaufmann Bezug nehmen, muss man sich also in einer parallelen Textfassung auch für Handelsgesellschaften vorstellen. Der Kaufmannsbegriff besitzt für das deutsche Wirtschaftsprivatrecht immer noch eine Schlüsselfunktion. Das Handelsrecht baut naturgemäß gerade auf dem Kaufmannsbegriff auf: Die speziellen Sondernormen für „Handelsgeschäfte“ aller Art setzen grundsätzlich die Beteiligung eines Kaufmanns voraus (vgl. § 343 HGB), wenngleich das HGB dieses früher konsequent durchgeführte sog. subjektive System mittlerweile mit den §§ 383 II, 407 III 2, 453 III 2 und 467 III 2 HGB aus Gründen der europäischen Rechtsangleichung doch erheblich abgeschwächt hat. Die Prokura hat zur notwendigen (aber nicht hinreichenden! ) Bedingung, dass sie von einem Kaufmann erteilt wird (vgl. § 48 I HGB). Die „Firma“ ist ein rechtlich besonders geschützter, nur Kaufleuten zugänglicher Name (vgl. §§ 17 ff. HGB). Die Vereinbarung eines vom Gesetz abweichenden Gerichtsstandes (sog. Prorogation) ist grundsätzlich ausgeschlossen, wenn die Kaufmannseigenschaft fehlt (vgl. § 38 ZPO). Diese keinesfalls abschließende Aufzählung sollte genügen, um sich der <?page no="64"?> 2. Rechtssubjekte 37 Wichtigkeit des Kaufmannsbegriffs (bzw. des Begriffs der Handelsgesellschaften) zu vergewissern. Der früher verliehene akademischen Titel „Diplom-Kaufmann“ hat übrigens mit dem handels- und gesellschaftsrechtlichen Kaufmannsbegriff nichts zu tun. Auseinander zu halten sind im deutschen Recht auch „Kaufmann“ und „Unternehmer“ (dazu nachfolgend mehr), ein Begriff, der zunehmend in den gesetzlichen Regelungen den „Kaufmann“ verdrängt. Ausländischen Rechten ist diese Unterscheidung ohnehin nicht geläufig. Sie beziehen das Wirtschaftsrecht allein an dem, was dem deutschen Unternehmerbegriff entspricht. (2) Gewerbe/ Handelsgewerbe Gemäß § 1 I HGB ist Kaufmann, wer ein Handelsgewerbe betreibt. Wegen § 6 I HGB ist die Handelsgesellschaft demnach ebenfalls durch ihren handelsgewerblichen Zweck definiert. In den Wirtschaftswissenschaften wie auch im Alltagssprachgebrauch verbindet sich mit Kaufmann bzw. Handel ein Begriffsverständnis, das an der Warendistribution orientiert ist und in mancherlei Gegensatzpaare eingestellt wird. Beispiel: „Industrie- und Handelskammer“; „Handel und Gewerbe weiter auf Expansionskurs“ (Zeitungsmeldung); „Handel und Handwerk müssen an einem Strang ziehen“ (aus einer Verbandszeitschrift). Von diesem Begriffsverständnis muss man sich vollkommen lösen und die Prüfung der Kaufmannseigenschaft bzw. des Vorliegens eines Handelsgewerbes (die Kriterien sind dieselben, § 1 I HGB! ) völlig schematisch, also (vorbehaltlich des Vorliegens eines sog. Formkaufmanns! Dazu nachfolgend mehr) nach den Vorschriften der §§ 1 II ff. HGB durchführen. Die §§ 1 ff. HGB beschäftigen sich allerdings nur damit, was ein Gewerbe gerade zum Handelsgewerbe werden lässt, setzen also voraus, dass die betreffende, auf ihre Qualität als Handelsgewerbe untersuchte Tätigkeit überhaupt ein Gewerbe darstellt. Anders ausgedrückt: Das „Handelsgewerbe“ ist eine Teilmenge der Gesamtmenge „Gewerbe“. Der Gewerbebegriff ist nirgends gesetzlich festgelegt, weder in der GewO noch sonstwo. § 15 II EStG äußert sich zwar zu den Merkmalen eines Gewerbebetriebes, allerdings in einem ganz speziellen öffentlichrechtlichen Zusammenhang, nämlich bei der Besteuerung von Einkünften aus einer ganz bestimmten Einkunftsart. Wirtschaftsprivatrechtlich ist Gewerbe im Wesentlichen die in wirtschaftlicher Selbständigkeit (nicht als Arbeitnehmer) vorgenommene, auf Dauer angelegte, also planmäßig-fortgesetzte Wirtschaftstätigkeit, durchweg als Verfolgung einer Gewinnerzielungsabsicht. Auf Frequenz bzw. Intensität der betätigten Gewinnerzielungsabsicht kommt es dabei nicht an. <?page no="65"?> 38 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Beispiel: Arbeitnehmer in einem Automobilwerk, die „alle Jahre wieder“ einen privaten Wagen mit Mitarbeiterrabatt beziehen, um ihn mit erheblichem Gewinn nach Ablauf der Bindungsfrist wieder zu veräußern, betätigen sich insofern selbständig und planmäßig-fortgesetzt mit Gewinnerzielungsabsicht. Sie betreiben mithin diesbezüglich ein Gewerbe. Nicht jedem freilich wird eine Gewinnerzielungsabsicht geglaubt, selbst wenn er sie noch so nachhaltig bekunden sollte. Dazu zählen pikanterweise durchaus Berufsfelder, die typischerweise nicht gerade schlecht dotiert sind, vor allem Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Ärzte und Architekten. Bei diesen Freiberuflern wird von der Rechtsordnung selber die Gewerbetätigkeit (mangels Gewinnerzielungsabsicht bzw. Wirtschaftstätigkeit! ) schlicht wegdefiniert. So formuliert beispielsweise § 2 BRAO, der Rechtsanwalt betreibe kein Gewerbe, sondern sei Organ der Rechtspflege. Auch Wissenschaftler und Künstler (wohl aber Apotheker! ) werden nach schon lange h. M. angeblich als solche, in ihrer spezifischen Betätigung, von keiner Gewinnerzielungsabsicht geleitet, obwohl doch die wenigsten Wissenschaftler Gutachten, Publikationen und Vorträge zum „Null-Tarif“ tätigen und auch Künstler nicht ohne Honorar aufzutreten, Bilder und Skulpturen zu fertigen und zu veräußern pflegen. Ganz im Sinne der h. M. existiert auch ein zusammenfassender gesetzlicher Katalog derartiger sog. freier Berufe, nämlich in § 1 II PartGG. Zwar heißt es dort, „i. S. dieses Gesetzes“ würden freie Berufe aufgeführt. Dem steht aber nicht entgegen, den Katalog des § 1 II PartGG auch im Rahmen des Gewerbebegriffs als Hilfsmittel dafür heranzuziehen, welche Tätigkeiten von Rechts wegen ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt werden, weil § 1 II PartGG nur die h. M. aufgreift und ausführt. Bei alledem handelt es sich freilich um einen merkwürdigen Mythos: An Aufwand und Ertrag orientierte Überlegungen sollen jenen Tätigkeiten fremd sein, die den hehren Zwecken der Rechtspflege, der Gesundheitssorge, des wissenschaftlichen Fortschritts, der schönen Künsten etc. gelten! Da alle diese sog. Freiberufler von Rechts wegen also überhaupt kein Gewerbe betreiben, können sie natürlich auch kein Handelsgewerbe betreiben. Alle ein Handelsgewerbe voraussetzenden Normen sind für sie grundsätzlich unanwendbar. Über die Ausnahme des sog. Formkaufmanns (in diesem Zusammenhang namentlich als GmbH) wird noch zu sprechen sein. Beispiel: Eine Anwaltssozietät kann niemals als OHG verfasst sein, weil § 105 I HGB - schon mangels Gewerbe - keine Anwendung finden kann. In Betracht kommt aber durchaus eine GmbH als „law firm“. Ob Gewinnerzielungsabsicht für den Gewerbebegriff wirklich konstitutiv ist, wird zunehmend angezweifelt. Rechtspraktische Konsequenzen ergeben sich aber nicht, da auch die neuere Meinung die freien Berufe aus dem Gewerbebegriff heraushalten will, da es sich insoweit um keine wirtschaftliche Tätigkeit <?page no="66"?> 2. Rechtssubjekte 39 handele, die von dieser Meinung als prägend für den Gewerbebegriff betrachtet wird. Und darüber, dass eine karitative Tätigkeit kein Gewerbe darstellt, sind sich beide Auffassungen ohnehin einig. Betreiber des Gewerbes ist derjenige, für den, also in dessen Namen, die Geschäfte getätigt werden. Für die Kaufmannseigenschaft vorausgesetzt ist dabei lediglich Rechtsfähigkeit. Auf die Eigentumsverhältnisse an den Betriebsmitteln kommt es nicht an. Beispiele: Der verwitwete Unternehmer U hinterlässt bei seinem Tode als Alleinerben seinen 2-jährigen Sohn S, für den der Vormund V bestellt wird. S, nicht etwa V oder der Manager M, betreibt das Gewerbe. Gastwirt G hat eine Gastwirtschaft der Brauerei B gepachtet. Die Gastwirtschaft betreibt G, nicht etwa B. Maschinenfabrikant M produziert mit geleasten Maschinen Fahrräder. Obwohl ihm die Maschinen nicht gehören, ist M und nicht etwa der Leasinggeber bezüglich der Fahrradproduktion Gewerbetreibender. (3) Der „Musskaufmann“ („Ist-Kaufmann“) Erst wenn feststeht, dass überhaupt ein Gewerbe betrieben wird, kann nunmehr anhand des HGB geklärt werden, ob es sich dabei um ein Handelsgewerbe handelt, dessen Inhaber (Rechtsträger) dann also nicht nur Gewerbetreibender, sondern gemäß § 1 I HGB Kaufmann ist. Das Kriterium dafür liefert § 1 II HGB. Demnach ist grundsätzlich jedes Gewerbe Handelsgewerbe. Ausgenommen ist aber ein Unternehmen, das „nach Art oder Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb nicht erfordert“. Im Umkehrschluss ist ein Gewerbe dann Handelsgewerbe, wenn das Unternehmen nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb, also eine kaufmännische Organisation, braucht. Nur weil das Gesetz das Vorliegen eines Handelsgewerbes vermutet, was für Zweifelsfälle in der Praxis hilfreich ist, formuliert es dieses Kriterium in der Verneinung, also als Ausschlussgrund. Entscheidend ist also, ob das (gewerbliche) Unternehmen einer geordneten Personal- und Materialwirtschaft, einer Produktions- und Investitionsplanung, eines ausgebauten betrieblichen Rechnungswesens, elektronischer Datenverarbeitung etc. bedarf. Obwohl § 1 II HGB auch auf die „Art“ des Unternehmens abstellt, läuft die Prüfung, ob tatsächlich ein Handelsgewerbe vorliegt, fast ausnahmslos auf Betriebsgröße und Umsatz, also auf den „Umfang“, hinaus. Letztlich kommt es aber natürlich immer auf das betriebliche Gesamtbild an, also auf die Zusammenschau von Umsatz, Mitarbeiterzahl, Kapitaleinsatz, Produktdiversifikation etc. Zu beachten bleibt auch, dass das Gesetz nicht darauf abstellt, ob eine kaufmännische Unternehmensorganisati- <?page no="67"?> 40 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ on vorhanden ist, sondern darauf, ob eine solche aus betriebswirtschaftlicher Sicht erforderlich ist, um das Unternehmen sinnvoll zu steuern. Beispiel: Ein junger Unternehmensgründer mit 2 Teilzeit-Mitarbeitern und Euro 20.000 Jahresumsatz plant von Anfang an so großzügig, dass mit der vorhandenen EDV und den betrieblichen Strukturen das Unternehmen auch mit 200 Mitarbeitern bei vielen Millionen Euro Jahresumsatz gut funktionieren würde: (noch) kein Handelsgewerbe nach § 1 II HGB. Ob dieses Handelsgewerbe dann im Handelsregister eingetragen ist, spielt keine Rolle: Der Kaufmann ist zwar nach § 29 HGB verpflichtet, seinen Handelsnamen, also seine Firma (§ 17 HGB), zur Eintragung anzumelden. Als Betreiber eines Handelsgewerbes ist er jedoch schon jetzt Kaufmann wegen § 1 I HGB. Die Eintragung im Handelsregister hat hier somit lediglich deklaratorische Bedeutung. Von daher macht es auch durchaus Sinn, bei den Gewerbetreibenden, die nach § 1 II HGB ein Handelsgewerbe betreiben, von „Muss-“ (oder: „Ist-“)Kaufleuten zu sprechen. Denn sie erwerben bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (also beim Betrieb eines Gewerbes, das eine kaufmännische Organisation braucht) zwangsläufig, ohne Rücksicht auf ihren Willen, die Rechtsstellung eines Kaufmanns. Der Gesetzgeber selber hat sich übrigens in seiner Terminologie nicht festgelegt: Die Paragraphenüberschriften der üblichen Textausgaben zum HGB enthalten zwar solche Etiketten, doch handelt es sich dabei nicht um den amtlichen Gesetzestext. (4) Der „Kannkaufmann“ § 2 HGB erklärt ein gewerbliches Unternehmen, dessen Gewerbebetrieb nicht schon nach § 1 II HGB Handelsgewerbe ist, dann zum Handelsgewerbe, wenn die „Firma des Unternehmens in das Handelsregister eingetragen“ ist. Ob der Unternehmer diese hier konstitutive Eintragung erwirkt oder nicht, steht in seinem völlig freien Belieben. Ebenso steht ihm frei, ob er Kaufmann bleiben will, denn er kann grundsätzlich jederzeit die Löschung seiner Firma im Handelsregister herbeiführen (§ 2 S. 3 HGB). Diese Möglichkeit entfällt selbstverständlich, wenn nunmehr ein Handelsgewerbe nach § 1 II HGB betrieben wird, dann ist aus dem „Kannkaufmann“ zwischenzeitlich ja ein „Musskaufmann“ geworden, der nach § 29 HGB zur Eintragung seiner Firma im Handelsregister verpflichtet ist. Weil sich ein derartiger Gewerbetreibender also eintragen lassen kann, wenn er will, aber nicht muss, wenn er nicht will, und darüber hinaus seinen Kaufmannsstatus auch nach Belieben wieder aufheben kann, mag man hier vom allgemeinen „Kannkaufmann“ sprechen. Kleinen Gewerbebetrieben mit wenig Mitarbeitern, geringem Umsatz etc., die also keinen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb benötigen, wird somit der volle Zugang zum Handelsrecht eröffnet. <?page no="68"?> 2. Rechtssubjekte 41 Beispiele: Ingo, Inhaber eines neu gegründeten Unternehmens, das Individualsoftware produziert, möchte als Seriositätsausweis im Handelsregister stehen, was eine Firma voraussetzt (nur ein solcher Name wird dort eingetragen); die Firma ihrerseits steht freilich nur einem Kaufmann zu (vgl. § 17 HGB; die Formulierung von § 2 S. 1 HGB ist sonach im Grunde falsch: die Firma ist der Name des kaufmännischen Unternehmers, nicht des Unternehmens! ). Nach Jahren eines großartigen Aufschwungs möchte Ingo nicht mehr Kaufmann sein, um seinen handelsrechtlichen Verpflichtungen nach §§ 238 ff., 242 ff. HGB zu entgehen: Dem Löschungsantrag Ingos kann nicht entsprochen werden, weil sein Unternehmen mittlerweile nach Art und Umfang einen kaufmännisch eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert: Ingo ist sonach ja gar kein „Kannkaufmann“ mehr, sondern in Wahrheit „Musskaufmann“ geworden. Eine Ausnahme gegenüber § 1 II HGB normiert § 3 I HGB: Land- und forstwirtschaftliche (nicht: fischwirtschaftliche! ) Betriebe rechnen selbst dort nicht zum Handelsgewerbe, wo begrifflich § 1 II HGB erfüllt ist. Solche Unternehmen haben aber dann, wenn sie nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise organisierten Geschäftsbetrieb benötigen, die Möglichkeit zum Handelsgewerbe zu werden, indem sie die konstitutive Eintragung im Handelsregister herbeiführen. Vor Eintragung existiert noch kein Handelsgewerbe, so dass sein Betreiber auch noch nicht die Kaufmannseigenschaft hat. Ob er diesen Kaufmannsstatus erlangen will, steht wiederum wie beim „Kannkaufmann“ nach § 2 HGB ganz in seinem Belieben. Mit Blick auf den branchenmäßig ja völlig offenen „Kannkaufmann“ im allgemeinen Sinne nach § 2 HGB kann man hier also speziell vom land- und forstwirtschaftlichen „Kannkaufmann“ sprechen. Im Gegensatz zum allgemeinen „Kannkaufmann“ darf der land- und forstwirtschaftliche „Kannkaufmann“ jedoch wie sich aus dem kritischen Textvergleich zwischen § 3 II und § 2 S. 3 HGB ergibt, nicht jederzeit seine Kaufmannseigenschaft ablegen. Dies ist bei genauerer Betrachtung aber vom Gesetzgeber durchaus konsequent konzipiert, denn der land- und forstwirtschaftliche Gewerbetreibende hat ja die Eintragungsoption überhaupt nur, sofern sein Unternehmen nach Art und Umfang eine kaufmännische Organisation benötigt. Begrifflich würde hier ohne § 3 I HGB also schon ein Handelsgewerbe i. S. von § 1 II HGB betrieben, so dass kein Grund besteht, eine einmal erfolgte Eintragung nach Belieben aufheben zu können: Auch der allgemeine Kannkaufmann hat diese Möglichkeit schließlich dann nicht, wenn er wie in vorstehendem Beispiel in den musskaufmännischen Bereich des § 1 II HGB hineingewachsen ist. Für das land- und forstwirtschaftliche Nebengewerbe gilt nach § 3 III HGB dasselbe wie für ein derartiges Hauptgewerbe. Der Sinn dieser Vorschrift liegt darin, den Kaufmannsstatus insoweit betriebsdifferenzierend nutzen zu können. Beispiele: Der vorpommersche Großbauer kann, aber muss sich nicht eintragen lassen. Entscheidet er sich für die Eintragung, ist und bleibt er Kannkaufmann, <?page no="69"?> 42 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ solange er Großbauer ist. Durch Eintragung im Handelsregister kann für die im Nebengewerbe betriebene Mühle, Molkerei oder Schnapsbrennerei bei entsprechender Größe die Qualität als Handelsgewerbe nur darauf beschränkt erworben werden. (5) „Fiktiv“- und „Scheinkaufmann“ Nicht selten sind Unternehmer mit einer Firma im Handelsregister eingetragen, ohne dass die für eine Eintragung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Nach dem schon seit 1998 geltenden Kaufmannsrecht, das keinen sog. Minderkaufmann mehr kennt, kommt nur noch der Fall in Betracht, dass überhaupt kein Handelsgewerbe (mehr) betrieben wird. Beispiel: Die früher florierende und zu dieser Zeit im Handelsregister eingetragene Maschinenfabrik (Handelsgewerbe nach § 1 II HGB) sinkt auf ein nach Art oder Umfang niedriges Niveau herab. Da ein Nichtkaufmann vom Firmenrecht ausgeschlossen ist, dürfte jetzt keine Firma mehr eingetragen sein. Im Interesse der Rechtssicherheit wird in diesen Fällen durch den praktisch nicht mehr sehr bedeutsamen, ziemlich verklausulierten § 5 HGB das Vorliegen eines in Wahrheit ja nicht vorhandenen - Handelsgewerbes unterstellt, so lange die Eintragung im Handelsregister noch vorliegt. Da die Eintragung allerdings zu Unrecht besteht, ist sie grundsätzlich zu beseitigen, sobald die wahre Sach- und Rechtslage erkannt ist. Bis dahin aber gilt die Unterstellung, die Fiktion, es existiere ein kaufmännisches Unternehmen. Sie wirkt zu Gunsten wie zu Ungunsten des Eingetragenen, dem alle Rechte eines Kaufmanns zugänglich sind (z. B. Prokuraerteilung), den andererseits auch die diesbezüglichen Nachteile treffen (z. B. Buchführungs- und Bilanzierungspflicht, Notwendigkeit einer Mängelrüge nach § 377 HGB). Ob der Eingetragene (der „Fiktivkaufmann“) oder sein Geschäftspartner auf Grund bestehender Informationen und guter Rechtskenntnisse weiß oder wissen müsste, dass die Eintragung zu Unrecht erfolgt ist oder fortbesteht, ist dabei belanglos. § 5 HGB schützt also nicht nur Gutgläubige, sondern wirkt sogar für und gegen den fälschlicherweise Eingetragenen selber (Merkspruch: Wirkung für und gegen alle, ohne Rücksicht auf den guten Glauben). Nicht jeder Mangel in den Eintragungsvoraussetzungen wird durch eine dennoch erfolgte oder fortbestehende Eintragung im Handelsregister geheilt. Liest man § 5 HGB aufmerksam, erkennt man, dass die dortige Fiktion des Kaufmanns neben der (konstitutiven! ) Eintragung noch verlangt, dass überhaupt ein Gewerbe vorliegt. Beispiel: Die mit einer üppigen Pension versorgte, kinderlose Generalswitwe betreibt ein größeres Wollgeschäft, allein um der Vereinsamung entgegenzu- <?page no="70"?> 2. Rechtssubjekte 43 wirken. Dementsprechend sind die Verkaufspreise praktisch auf Selbstkostenbasis kalkuliert. Mangels Gewinnerzielungsabsicht bzw. Wirtschaftstätigkeit fehlt es mithin an einem Gewerbe, so dass entgegen dem ersten Anschein § 1 II HGB nicht einschlägig ist und deshalb erst recht kein kaufmännisches Unternehmen vorliegen kann. Selbst wenn aus irgendwelchen Gründen das Unternehmen im Handelsregister eingetragen ist, gilt die Witwe nicht als Kaufmann, da der Fiktivkaufmann i. S. des § 5 HGB immerhin den wirklichen Betrieb eines Gewerbes verlangt. Die 1998 erfolgte Neuregelung des Kaufmannsbegriffs in den §§ 1 ff. HGB hat den Fiktivkaufmann sehr entwertet, und zwar in dem Maße, in dem § 2 HGB n. F. den (allgemeinen) Kannkaufmann neuen Rechts etabliert hat. Wird heute der Antrag auf Eintragung eines Unternehmens gestellt, das nach Art oder Umfang keine kaufmännische Organisation erfordert, so ist demnach in jedem Fall einzutragen, zwar nicht wegen §§ 1 II, 29 HGB mit deklaratorischer, wohl aber nach § 2 S. 2 HGB mit konstitutiver Wirkung. Schrumpft ein Handelsgewerbe unter den definitorischen Standard des § 1 II HGB, so greift § 5 HGB strenggenommen ebenfalls nicht ein, solange der Unternehmer nicht den Löschungsantrag nach § 2 S. 3 HGB gestellt hat und die Firma daraufhin gelöscht wurde. Der zwischenzeitliche begriffliche Übergang vom ursprünglichen musskaufmännischen zum (allgemeinen) kannkaufmännischen Unternehmen ist insoweit folgenlos. Für die Formkaufleute (zu ihnen sogleich) spielen diese Überlegungen nach § 6 II HGB ohnehin keine Rolle. Nach alledem dürfte der Fiktivkaufmann praktisch nur noch im Bereich der land- und forstwirtschaftlichen kannkaufmännischen Unternehmen eine gewisse Rolle spielen. Beispiel: Ein florierender landwirtschaftlicher Großbetrieb macht von der Eintragungsoption des § 3 II HGB Gebrauch. Als die Geschäfte immer schlechter gehen und eine kaufmännische Unternehmensorganisation nicht mehr benötigt wird, entfällt damit die Eintragungsgrundlage und die Firma ist im Handelsregister zu löschen. Solange dies aber noch nicht geschehen ist, greift die Fiktion des § 5 HGB. Das Gesetz hat bei seiner Regelung übersehen, dass nicht nur durch eine Eintragung im Handelsregister, sondern auch durch die Angabe einer „Firma“ auf Geschäftspost, Visitenkarten und in Anzeigen oder durch die Ernennung eines „Prokuristen“ der Rechtsschein einer kaufmännischen Unternehmung hervorgerufen werden kann. Offengelassen hat das Gesetz ferner eine Regelung für den Fall, dass zwar die Eintragung einer Firma im Handelsregister erfolgte, dass aber überhaupt kein Gewerbe betrieben wird, so dass § 5 HGB nicht eingreift. Diese beiden Lücken hatte die h. M. mit der Lehre vom Scheinkaufmann geschlossen. Wer in der genannten Weise, also außerhalb des Handelsregisters, den Anschein eines Kaufmanns erzeugt, sollte von seinen gutgläubigen Geschäftspartnern zu seinen Lasten wie ein Kaufmann behandelt werden dürfen. <?page no="71"?> 44 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Diese Auffassung überzeugt aber in ihrem Ansatz nicht mehr, seitdem das Gesetz die jeweilige Rechtsform durchweg zur Pflichtangabe in der Firma macht (vgl. hier nur § 19 HGB, § 4 AktG und GmbHG). Nur darauf kann sich ein schützenswerter guter Glaube heute stützen. Oder andersherum gesagt: Nur wer fälschlicherweise (auch schuldlos! ) in der Bezeichnung seines Unternehmens den Kaufmannsstatus deklariert, muss sich von Gutgläubigen zu seinen Lasten nach Handelsrecht behandeln lassen. Beispiel: Der nicht im Handelsregister eingetragene Kleinunternehmer Malermeister Meier, wirbt in Anzeigen mit „Malergeschäft Manfred Meier e. K.“ Die Anwendung des tatsächlich geltenden Rechts (BGB ohne HGB) bleibt unbenommen. Nach wie vor und im Einklang mit der h. M. ist ferner festzustellen, dass der Unternehmer (Scheinkaufmann) sich nicht etwa selber auf den Kaufmannsstatus berufen kann. (6) Handelsgesellschaften, insbesondere der „Formkaufmann“ Wird ein Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person als AG, KGaA, GmbH, als Genossenschaft oder als (größerer) VVaG geführt, so knüpft das Gesetz (§§ 3, 278 III AktG, 13 III GmbHG, 17 II GenG, §§ 16, 53 VAG) allein an diese Rechtsform, also ohne jede Rücksicht auf das wirkliche Vorliegen eines Gewerbes oder eines Handelsgewerbes nach den §§ 1 II ff. HGB, den Status eines Kaufmanns bzw. einer Handelsgesellschaft. Beispiel: „Brot für die Welt“-GmbH und „Braunschweiger-Jägermeister-Fußball“- AG sind rechtlich möglich und trotz fehlender bzw. angeblich fehlender Gewinnerzielungsabsicht Handelsgesellschaften. Auf diese in der rechtlichen Struktur vom rechtsfähigen (Wirtschafts-)Verein i. S. des § 22 BGB abgeleiteten juristischen Personen, die zu ihrer Existenz grundsätzlich der (konstitutiven! ) Eintragung in einem Register bedürfen (vgl. z. B. §§ 41 I 1 AktG, 11 I GmbHG) und die damit allein wegen ihrer Rechtsform als sog. Formkaufleute dem Handelsrecht unterliegen, bezieht sich also § 6 II HGB, wenn er von einem „Verein“ spricht, „dem das Gesetz ohne Rücksicht auf den Gegenstand des Unternehmens die Eigenschaft eines Kaufmanns beilegt“. Auf solche Formkaufleute soll § 1 II HGB keine Anwendung finden. Positiv formuliert heißt dies, dass Formkaufleute immer Kaufleute sind, selbst wenn Art und Umfang des Unternehmens keinen kaufmännisch organisierten Geschäftsbetrieb (mehr) erfordern sollten. Beispiel: Eine GmbH unterhält gar keinen Geschäftsbetrieb mehr, sondern wird nur noch als rechtsförmliche Hülle, als sog. Mantel, aufrechterhalten: Handelsgesellschaft! <?page no="72"?> 2. Rechtssubjekte 45 Die strukturelle Logik des Kaufmannsbegriffs veranschaulicht Abb. 9. Nach dieser Logik hat auch die Prüfung zu erfolgen, ob in einem konkreten Fall ein kaufmännisches Unternehmen vorliegt. OHG und KG sind hingegen keine Formkaufleute. Sie müssen ganz im Gegenteil wirklich ein Handelsgewerbe betreiben, um OHG oder KG sein zu können (vgl. §§ 105! , 161 I HGB). Damit macht das Gesetz zur grundsätzlichen Bedingung für die Existenz einer OHG oder KG, dass das gemeinschaftliche Gewerbe nach Art und Umfang eine kaufmännische Organisation erfordert. Mit § 105 II HGB wird der Einsatzbereich von OHG und KG allerdings enorm erweitert. Denn eine Gesellschaft, deren Gewerbebetrieb nicht schon nach § 1 II HGB Handelsgewerbe ist oder die nur eigenes Vermögen verwaltet (somit als sog. Besitzgesellschaft gegenüber der Betriebsgesellschaft bei „Betriebsspaltung“ nicht einmal der Gewinnerzielung dient und damit kein Gewerbe darstellt! ), ist je nach Haftungsabrede dennoch OHG oder KG, wenn ihre Firma in das Handelsregister eingetragen ist. Dabei soll § 2 S. 2 und 3 HGB entsprechend gelten. Ganz wie für den einzelunternehmerischen Kannkaufmann besteht also eine generelle, beliebig wählbare Option für die Personenhandelsgesellschaft bei konstitutiver Eintragung. Die kannkaufmännische OHG bzw. KG hat umgekehrt jederzeit die Möglichkeit, durch Löschung im Handelsregister auf ihren Wunsch den Status als Personenhandelsgesellschaft wieder zu verlassen, vorausgesetzt, sie bedarf keiner kaufmännischen Unternehmensorganisation. Denn in einem solchen Fall wird ja tatsächlich ein musskaufmännisches Handelsgewerbe nach § 1 II HGB betrieben, was im Personengesellschaftsbereich zwingend OHG bzw. KG mit der Verpflichtung zur (freilich nur deklaratorischen) Eintragung im Handelsregister gemäß § 106 I HGB (ggf. i. V. m. § 161 II HGB) zur Folge hat. Beispiel: Schlau und Pfiffig betreiben gemeinschaftlich eine Kapitalanlageberatung, zunächst ganz ohne Personal und mit sehr kleiner Klientel. Auf Wunsch können sie die Unternehmung in der Rechtsform einer OHG betreiben, indem sie ihre Firma im Handelsregister eintragen lassen (§ 105 II S. 1 HGB). Nach enormer Expansion gibt es wegen §§ 105 II 2 S. 2, 2 S. 3 und 1 II HGB kein Zurück. Was ansonsten für den Einzelkaufmann gesagt wurde, gilt natürlich für OHG und KG: Wird etwa ein musskaufmännisches Handelsgewerbe (§ 1 II HGB) in Form einer sog. Personengesellschaft betrieben, so ist diese Gesellschaft je nach Haftungsabrede eben OHG oder KG. Ob die Gesellschaft, wie von §§ 106 I, 161 II HGB verlangt, eingetragen ist oder nicht, spielt dafür ebenso wenig eine Rolle wie die rechtliche Einschätzung dieser Unternehmung durch ihre eigenen Gesellschafter und daraus vielleicht resultierende Fehlbezeichnung. <?page no="73"?> 46 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Abb. 9: Strukturelle Logik des Kaufmannbegriffs <?page no="74"?> 2. Rechtssubjekte 47 Beispiel: Die unter der Bezeichnung „You & Martin, Import/ Export GbR“ auftretende Personengesellschaft (also keine GmbH oder sonstige juristische Person) betreibt in großem Stil den Handel mit koreanischen Edelstahlwaren, ohne im Handelsregister eingetragen zu sein: Es handelt sich je nach Haftungsabsprachen um eine OHG oder KG, da ein Handelsgewerbe vorliegt (§ 1 II HGB) und die Eintragung hier nur deklaratorische Funktion hätte. Das Wesen aller Handelsgesellschaften liegt also einheitlich in dem gesellschaftlich verfolgten Zweck, dem Betrieb eines Handelsgewerbes, auch wenn dieser Betrieb bei den sog. Formkaufleuten im Einzelfall nur fingiert sein mag. Gleichwohl gibt es innerhalb der Handelsgesellschaften zwei deutlich unterscheidbare Gruppen, je nachdem, ob die Gesellschaftsstruktur vom Prinzip der juristischen Persönlichkeit oder vom Gesamthandsprinzip bestimmt wird. Im letzteren Fall haben wir es also mit Handelsgesellschaften in Gestalt von sog. Personengesellschaften zu tun, kurz: mit Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG), während man vor allem AG und KGaA, aber auch die GmbH häufig, doch juristisch wenig präzis, als Kapitalgesellschaften bezeichnet. Zu klären bleibt noch das Verhältnis der sog. Personengesellschaften untereinander, also von GbR, Partnerschaft, EWIV, OHG und KG. Wiederum erlaubt ein Blick in § 705 BGB allein keine Antwort, sondern bedarf es systematischer Interpretation. Denn wie §§ 105 I, 161 I HGB zeigen, ist mitnichten jeder gemeinsame Zweck im Rahmen einer GbR verfolgbar, obwohl eben dies die Definition des § 705 BGB zu sagen scheint. Vielmehr ist ein einziger Zweck für die Verfolgung im Rahmen der Personenhandelsgesellschaften OHG und KG gesetzlich reserviert und ist der GbR trotz der scheinbar umfassenden Formulierung des § 705 BGB unzugänglich, nämlich der Betrieb eines nach dem Gesamthandsprinzip, also personengesellschaftlich organisierten Handelsgewerbes. Das ganze übrige Spektrum denkbarer Zwecke steht hingegen der GbR offen und ist umgekehrt OHG und KG verschlossen: Nicht von planmäßig-fortgesetzter Gewinnerzielungsabsicht getragene gemeinschaftliche Wirtschaftsaktivitäten sowie gewerbliches Engagement ohne handelsgewerbliche Qualität sind denkbare Zwecke einer GbR (vgl. Abb. 10). Soweit gemeinschaftlich eine in § 1 II PartGG aufgeführte Tätigkeit verfolgt wird, kann dies nach h. M. wahlweise im Rahmen einer GbR oder einer Partnerschaft geschehen, obwohl der Wortlaut des § 1 I PartGG insoweit eher einen Zwang zur Partnerschaft nahezulegen scheint. Beispiele: Franz und Josef wollen zusammen die Eiger-Nordwand bezwingen: GbR, da der gemeinschaftliche Zweck nicht in einer Gewinnerzielung besteht, also nicht gewerblicher und schon gar nicht handelsgewerblicher Natur ist. Mehrere Unternehmen errichten gemeinsam eine neue Brücke und haben sich deshalb zu einer entsprechenden ARGE (Arbeitsgemeinschaft) zusammengeschlossen. Zweck dieser ARGE ist vor allem die Koordination, um Anlieferungen an der Baustelle und die Durchführung der einzelnen Bauschritte sinn- <?page no="75"?> 48 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ voll abzustimmen: jedenfalls GbR, denn diese ARGE verfolgt wohl selber gar keine Gewinnerzielungsabsicht, so dass es schon an einem Gewerbe fehlt. Selbst wenn man in diesem Punkt anders entscheiden wollte, käme allenfalls nur ein kannkaufmännisches Handelsgewerbe in Betracht (§ 2 HGB), weil es zu jener Koordination keiner eigenen kaufmännischen Organisation bedarf. Außerdem fehlt es für solche ARGEs regelmäßig an der (gar nicht gewünschten) Eintragung. Abb. 10: Abgrenzung der GbR zu den Personenhandelsgesellschaften OHG und KG anhand der Gesellschaftszwecke Karl Korn und Konsorten betreiben gemeinschaftlich in bescheidenem Rahmen ohne Eintragung im Handelsregister ein „Computer-Contor“, in dem sie Hard- und (Standard-)Software vertreiben: GbR, da kein gemeinschaftliches Handelsgewerbe nach § 1 II HGB. Würden Korn und Konsorten ein Geschäftspapier mit dem Briefkopf „Fa. Korn & Konsorten, Computer-Contor OHG“ verwenden, so müssten sie sich von Gutgläubigen zu ihren Lasten als Gesellschaft einer OHG behandeln lassen, ohne sich ihrerseits auf für sie günstige handelsrechtliche Vorschriften berufen zu können, weil sie durch den Hinweis auf die Rechtsform OHG in ihrer Geschäftsbezeichnung eine Firma den Rechtsschein eines Kaufmanns setzen würden (Scheinkaufmann, genauer: Scheinhandelsgesellschaft). Wäre eine Eintragung als OHG im Handelsregister unerwünscht, also ohne Antrag erfolgt, so würde § 5 HGB eingreifen und der Charakter einer OHG unterstellt, solange die Eintragung besteht. <?page no="76"?> 2. Rechtssubjekte 49 Auf alle diese in den Beispielen angesprochenen Überlegungen käme es nicht an, wenn die dortigen Aktivitäten im Rahmen von kaufmännischer Organisation, also hier namentlich im Rahmen einer GmbH, verfolgt würden. Deshalb ist immer zuerst zu prüfen, ob eine juristische Person handelsrechtlicher Art vorliegt, weil bei AG, KGaA, GmbH etc. alle Erwägungen anhand der §§ 1 ff. HGB gegenstandslos sind, der kaufmännische Charakter der Unternehmung vielmehr von vornherein feststeht. (7) Exkurs: Handelsregister und Unternehmensregister Das Handelsregister ist eines der sog. öffentlichen Bücher wie z. B. auch das Grundbuch, das Vereinsregister und die Patentrolle. Es wird nach § 8 HGB im Prinzip dezentral, bei den (Amts-)Gerichten, jedoch elektronisch geführt. Bekanntgabe und Wirksamwerden der Eintragungen (vgl. §§ 8a I, 10 HGB) erfolgen über www.handelsregister.de . Das Verfahren richtet sich insbesondere nach den §§ 125 ff. FGG und der auf Grund § 125 III FGG ergangenen Handelsregisterverordnung (HRV), ergänzt durch Verordnungen auf Länderebene auf Grund § 8a II HGB. Das Handelsregister gibt Auskunft über bestimmte rechtlich-wirtschaftlich interessierende Umstände, namentlich über die im Zuständigkeitsbereich ansässigen Unternehmen, deren Firmen ja dort einzutragen sind (vgl. hier nur § 29 HGB). Eintragungen finden ferner statt etwa im Zusammenhang mit sog. Unternehmensverträgen nach § 294 I 1 AktG sowie Unternehmenskäufen (§ 25 HGB), bei Erteilung und Widerruf einer Prokura (§ 53 HGB) sowie bezüglich der Handelsgesellschaften (vgl. z. B. für OHG und KG die §§ 106 ff., 161 ff. HGB, für die AG § 39 AktG, für die GmbH § 10 GmbHG). Eintragungsfähig sind aber immer nur die gesetzlich zur Eintragung vorgesehenen Tatsachen, mag der Geschäftsinhaber auch weitergehende Wünsche haben. Soweit gesetzlich eine Eintragungspflicht besteht (vgl. z. B. §§ 29, 53, 106 HGB, 36 AktG, 7 GmbHG), bedarf es der Mitwirkung (elektronische Anmeldung, neben in Deutsch auch in einer anderen Amtssprache der EG: §§ 11 und 12 HGB) desjenigen, in dessen Angelegenheiten die Eintragung vorzunehmen ist. Eine Eintragung von Amts wegen erfolgt grundsätzlich nicht. Wird der Eintragungspflicht (genauer: der Anmeldepflicht) nicht freiwillig nachgekommen, ist die unter Umständen mehrfache Festsetzung von empfindlichen Zwangsgeldern vorgesehen (§ 14 HGB). Nur ausnahmsweise wird das örtlich zuständige Amtsgericht auch von Amts wegen tätig, so z. B. bei Erlöschen der Firma infolge Einstellung des Geschäftsbetriebes (§ 31 II HGB). Die Eintragungen erfolgen alternativ in zwei Abteilungen: In Abteilung A werden diejenigen Tatsachen eingetragen, die die Einzelkaufleute und die <?page no="77"?> 50 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Personenhandelsgesellschaften also OHG, KG, EWIV betreffen. In Abteilung B finden sich die Eintragungen in Bezug auf die Formkaufleute. Die Einsicht in das Handelsregister (seine sog. formelle Publizität) ist „jedem zu Informationszwecken“ gestattet (§ 9 I HGB). Darüber hinaus werden Abschriften bzw. Ausdrucke von Eintragungen etc. bzw. Bescheinigungen über nicht vorhandene Eintragungen (Negativatteste) erteilt (vgl. näher § 9 II-V HGB). Gelegentlich wirken die Eintragungen konstitutiv, d. h. die Eintragung ist erforderlich, um einen bestimmten rechtlichen Effekt herbeizuführen (vgl. z. B. §§ 2, 25 II HGB, 11 I GmbHG, 41 I 1, 294 II AktG), zumeist aber wirken sie lediglich deklaratorisch, d. h. sie dokumentieren eine auch ohne Eintragung so schon bestehende Rechtslage (vgl. z. B. §§ 1 II, 53, 143 I, II HGB). Aber auch im Bereich der nur deklaratorischen Funktion des Handelsregisters kommt es im Einzelfall doch darauf an, ob eine Eintragung erfolgt ist oder nicht. Denn unter Umständen ist ein Sachverhalt gar nicht nach der wahren Rechtslage zu beurteilen, sondern danach, welche Vorstellungen sich jemand fälschlicherweise, aber im Vertrauen auf das Handelsregister gutgläubig, von der Rechtslage gemacht hat. Diese sog. materielle Publizität des Handelsregisters wird durch § 15 HGB normiert. § 5 HGB gehört dagegen schon deshalb nicht in diesen Zusammenhang, weil es dort auf Gutgläubigkeit nicht ankommt. Gemäß § 15 I HGB sind eintragungspflichtige Tatsachen gerade auch dann, wenn ihre Eintragung nur deklaratorisch wirken würde so lange unbeachtlich, wie sie noch nicht eingetragen und auch nicht bekannt gemacht worden sind. Dieser Vertrauensschutz wird nur dann nicht gewährt, wenn der Geschäftspartner (der „Dritte“) die einzutragende, aber eben nicht eingetragene und bekanntgemachte Tatsache definitiv kennt. Dass er diese Tatsache eigentlich kennen müsste, schmälert seinen Schutz insoweit nicht. Beispiel: A scheidet am 2. 5. aus einer OHG als Gesellschafter aus. Diese Tatsache ist gemäß § 143 II HGB ins Handelsregister einzutragen und nach § 10 HGB auch bekanntzumachen. Die Eintragung erfolgt in der dafür vorgesehenen Datei schon am 4. 6., die Bekanntmachung im Internet dagegen erst am 6. 6. Am 5. 6. wird zwischen der OHG und dem V ein Kaufvertrag geschlossen. V, der das Ausscheiden des A nicht kennt, darf den A noch als Gesellschafter behandeln und ihn deshalb nach § 128 HGB für den Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises persönlich, mit dessen Privatvermögen, in Anspruch nehmen. Aus der Formulierung des § 15 I HGB wird bei aufmerksamem Lesen deutlich, dass hier nicht das Vertrauen in die Richtigkeit einer bestehenden Eintragung geschützt wird, sondern das Vertrauen darauf, dass nicht eingetragene (und nicht bekanntgemachte) Tatsachen auch nicht vorliegen. Ob im vorstehenden Beispiel A überhaupt als Gesellschafter eingetragen war oder nicht, spielt deshalb für das Ergebnis keinerlei Rolle: Für den Vertrauensschutz wird <?page no="78"?> 2. Rechtssubjekte 51 daran angeknüpft, dass das eintragungspflichtige Ausscheiden nicht rechtzeitig eingetragen und bekannt gemacht worden war. Diese Art des Gutglaubensschutzes wird als negative Publizität bezeichnet (so z. B. auch der Schutz durch das Vereinsregister nach § 68 S. 1 BGB! ). Diese negative Publizität ist wie das Beispiel unterstreicht zugleich ein probates Druckmittel, sich um rasche Eintragung und Bekanntmachung eintragungspflichtiger Vorgänge nachhaltig zu bemühen. § 15 II 1 HGB ist demgegenüber eine bare Selbstverständlichkeit: Dass eine eingetragene und bekanntgemachte rechtserhebliche Tatsache auch Beachtung verdient, braucht nicht eigens betont zu werden. Dieser Grundsatz wird durch § 15 II 2 HGB allerdings unter einen Vorbehalt gestellt: Ein Gutgläubiger kann sich noch 15 Tage nach Bekanntmachung an der vordem bestehenden Rechtslage orientieren. Gutgläubigkeit ist hier allerdings schon dann ausgeschlossen, wenn der Dritte die neue Rechtslage hätte kennen müssen, also infolge Fahrlässigkeit nicht kannte (vgl. die Legaldefinition in § 122 II BGB). Dieser Vorwurf ist eigentlich jedermann zu machen, der am Geschäftsverkehr teilnimmt, ohne die zahlreichen Informationsquellen (vor allem das Internet, aber auch sonstige Medien) auszuschöpfen. Der Vorbehalt im § 15 II 2 HGB kommt deshalb praktisch nicht zum Tragen. Schließlich schützt § 15 III HGB den Gutgläubigen (nur definitives Besserwissen schadet! ) doch noch i. S. positiver Publizität (vgl. Abb. 11): Ist eine Bekanntmachung unrichtig, so darf man sich grundsätzlich auf deren falschen Inhalt verlassen. Darauf, ob die Eintragung der wahren Rechtslage entspricht, kommt es dabei nicht an. § 15 III HGB hat ganz streng genommen also gar nichts mit der Registerpublizität zu tun. Die Unrichtigkeit der Bekanntmachung ist jedoch noch weiter zu verstehen: Hierher zählen nicht nur die Fälle, in denen die Bekanntmachung von der Eintragung abweicht. „Unrichtig“ ist die Bekanntmachung vielmehr auch dann, wenn sie zwar die Eintragung richtig wiedergibt, die Eintragung selber aber falsch war. Beispiel: X hat dem P Prokura erteilt, diese Erteilung jedoch zwischen Anmeldung und Eintragung wegen einer arglistigen Täuschung des P über seine Fähigkeiten wirksam angefochten (§§ 123 I, 142 I BGB). Dennoch kommt es zu einer Eintragung und Bekanntmachung des P als angeblichen Prokuristen. P stellt den nichtsahnenden Y namens des X als Mitarbeiter ein. Damit ist trotz fehlender Prokura des P zwischen X und Y ein rechtsgültiges Arbeitsverhältnis begründet worden. Neben dem Handelsregister existiert noch das in §§ 8b, 9b HGB recht umständlich normierte, ebenfalls elektronisch geführte sog. Unternehmensregister. In ihm werden einerseits die Eintragungen des Handelsregisters mit denen des Genossenschafts- und Partnerschaftsregisters zusammengeführt, andererseits vielfältige Informationen aus den Unternehmen vor allem mit Bezug zum Kapitalmarkt über www.unternehmensregister.de der Öffentlich- <?page no="79"?> 52 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Abb. 11: Publizität des Handelsregisters keit zugänglich gemacht. Von den genannten Registern ist noch das Gewerberegister zu unterscheiden. Es verzeichnet die (anmeldepflichtigen) gewerblichen Unternehmen und ist eine rein öffentlichrechtliche Einrichtung, der hier nicht weiter nachzugehen ist. Im Blick auf zahlreiche Rechtsordnungen im Ausland ist abschließend auf die Registerfunktionen hinzuweisen. Die Registrierung will im deutschen Recht z. B. die Marktteilnehmer informieren (Handels-, Genossenschafts-, Partnerschafts- und Unternehmensregister), um marktrationales Handeln zu fördern. Speziell die Registrierung der Firma im Handelsregister verhindert Marktverwirrung und bewirkt für ihren Inhaber durch § 37 HGB einen davon ganz unabhängigen Schutz gegen unbefugten Firmengebrauch. Durch das Gewerberegister will der Staat wirtschaftsstatistisch robuste Daten gewinnen und Gefahren, die der Öffentlichkeit von Unternehmen drohen könnten (z. B. ein Lager von Feuerwerkskörpern in Wohngebieten), rechtzeitig erkennen. Der Staat verfolgt hier also polizeiliche Ziele. Niemals aber ist die Registrierung, wie z. B. in China und Russland, ein Mittel der Wirtschaftslenkung in den Händen der Regierung, die damit missliebige Unternehmer, bevorzugt Ausländer, vom Binnenmarkt fernhält oder regionale Strukturpolitik betreibt. d) Verbraucher und Unternehmer Nicht anders als Kaufmann und Handelsgesellschaft sind Verbraucher und Unternehmer keine eigenständigen Rechtssubjekte, sondern bezeichnen lediglich eine besondere Qualität des Rechtssubjektes. Der Gesetzgeber hat lange nur versprengt auftauchende und dabei nicht einmal einheitlich definierte <?page no="80"?> 2. Rechtssubjekte 53 Begriffe mit einer neuen Legaldefinition im „Allgemeinen Teil“, dem 1. Buch des BGB, quasi vor die Klammer gezogen. Verbraucher ist demnach (§ 13 BGB) jede (und nur eine) natürliche Person, soweit sie sich außerhalb ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit (also namentlich nicht als Freiberufler) rechtsgeschäftlich betätigt. Der Rechtsstatus des Verbrauchers ist das Tor zu dem umfangreichen Verbraucherschutz im deutschen und europäischen Wirtschaftsprivatrecht, spielt also mindestens eine so große rechtliche Rolle wie der Kaufmannsstatus. Der spiegelbildliche Gegenbegriff zum Verbraucher ist gemäß § 14 BGB der Unternehmer, also jedes gewerblich oder selbständig-beruflich, d. h. freiberuflich handelnde Rechtssubjekt, also eine natürliche oder juristische Person oder eine Gesamthandsgesellschaft (sog. Personengesellschaft). Da nach richtiger und seit einigen Jahren auch in der Rechtsprechung akzeptierter Auffassung alle Gesamthandsgemeinschaften rechtsfähig sind, legt die einschränkend wirkende Formulierung in § 14 I BGB eine falsche Spur. Leider in einem ganz anderen Sinn verwendet das Gesetz den Begriff des Unternehmers in den §§ 631 ff. BGB, wo die Parteien des Werkvertrages als „Besteller“ und „Unternehmer“ bezeichnet werden. Ein besonderes Problem stellen der sog. Existenzgründer und seine rechtliche Einordnung dar: Ist derjenige, der sich selbständig machen will und zu diesem Zweck Räume anmietet, Computer kauft, Kredite aufnimmt oder einen Franchise-Vertrag schließt, noch Verbraucher oder schon Unternehmer? Das Gesetz trifft nur für die Kreditaufnahme eine ausdrückliche Entscheidung und ordnet durch § 512 BGB n. F. (§ 507 BGB a. F.) den Existenzgründer insoweit der Verbraucherseite zu. Der Existenzgründer steht insoweit also eindeutig unter dem besonderen Schutz des Verbraucherkreditrechts nach §§ 491 ff. BGB. Nach richtiger Auffassung ist daraus aber nicht etwa ein Gegenschluss für andere Aktionen des Existenzgründers zu ziehen. Vielmehr kommt in § 512 BGB n. F. eine grundsätzliche Stellungnahme des Gesetzes zum Ausdruck, so dass diese Norm analog anzuwenden ist. Der Existenzgründer partizipiert also grundsätzlich bei jedweden Rechtsgeschäften am Verbraucherschutz. Wie auch in der als Analogiebasis dienenden Vorschrift des § 512 BGB n. F. (§ 507 BGB a. F.) findet dieses Rechtsregime aber seine Grenze bei einem Geschäftswert, der jetzt Euro 75.000 (früher Euro 50.000) übersteigt. Erst darüberhinaus finden auf den Existenzgründer die für „Unternehmer“ geltenden Vorschriften Anwendung. <?page no="81"?> 54 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ 3. Rechtsobjekte a) Sachen und Sachbestandteile Den Rechtssubjekten stehen die Rechtsobjekte gegenüber. Alles, was nicht über Rechtsfähigkeit verfügt und damit Rechtssubjekt ist, muss zwangsläufig Rechtsobjekt, Rechtsgegenstand sein. Wie § 90 BGB zeigt, sind dabei körperliche Gegenstände, also „Sachen“, und unkörperliche Gegenstände zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist von großer Wichtigkeit, weil nur an Sachen z. B. Eigentum bestehen kann (vgl. § 903 BGB) und der Sachbegriff nicht nur im Kaufrecht (vgl. §§ 433 ff. BGB), sondern etwa auch beim Mietvertrag (§§ 535 ff. BGB), bei der Leihe (§§ 598 ff. BGB), beim Sachdarlehen (§§ 607 ff. BGB), bei der Verwahrung (§§ 688 ff. BGB) und natürlich ganz generell im 3. Buch des BGB, also im Sachenrecht (§§ 854 ff. BGB) von maßgeblicher Bedeutung ist. Dabei ist das entscheidende Kriterium der Sachen, die Körperlichkeit, am augenfälligsten bei Greifbarkeit gegeben. Körperlichkeit kann aber auch im kleinsten Maßstab gegeben sein. Hauptsache ist, der Gegenstand ist in den 3 Raumdimensionen definierbar und damit beherrschbar, weil ja das Eigentum auf dem Sachbegriff aufbaut. Beispiele: Sachen sind etwa auch Bakterien und Viren. Keine Sachen sind Gase aller Art (auch die Luft), soweit sie nicht in Behältern gefasst sind. Auch EDV-Programme haben keine Körperlichkeit, sind also keine Sachen; nur die Datenträger (z. B. CD-ROM, Speicherkarte, Festplatte) als solche sind körperlich und haben somit Sachqualität. An EDV-Programmen gibt es mithin kein Eigentum i. S. von § 903 BGB, aber natürlich andere Rechte. Auch Elektrizität ist kein körperlicher Gegenstand, keine Sache. Da Diebstahl (§ 242 StGB) nur an Sachen rechtlich möglich ist, ist das Anzapfen fremder Stromleitungen nicht als Diebstahl strafbar. Dazu bedarf es vielmehr eines eigenen Straftatbestandes (vgl. § 248c StGB). Ebenso wenig gibt es „geistigen Diebstahl“ als Verletzung „geistigen Eigentums“ (wohl aber Patent- und Urheberrechtsverletzungen! ). Innerhalb der Sachen sind wiederum unbewegliche und bewegliche Sachen auseinanderzuhalten. Unbewegliche Sachen sind vor allem Grundstücke („Immobilien“; immobilis [lat.] = unbeweglich), aber auch diesen spezialgesetzlich gleichgestellte bestimmte (größere) Schiffe und Flugzeuge. Unbeweglich kann im Rechtssinne also auch eine faktisch durchaus „bewegliche“ Sache sein. Alle anderen Sachen sind im Rechtssinn beweglich. Beispiel: Die altdeutsche Schrankwand aus massiver Eiche ist einmal aufgebaut praktisch ortsfest. Dennoch ist sie im Rechtssinn eine bewegliche Sache (mobilis [lat.] = beweglich, „Möbel! “), eben weil sie kein Grundstück oder diesem rechtlich gleichgestellter körperlicher Gegenstand ist. Trotz Körperlichkeit keine Sachen sind nach § 90a S. 1 BGB die Tiere, jedenfalls die lebenden. Sie werden allerdings wegen § 90a S. 3 BGB rechtlich aber <?page no="82"?> 3. Rechtsobjekte 55 doch wie (bewegliche) Sachen behandelt, „soweit nicht ein anderes bestimmt ist“. Solche spezifisch „tierische“ Bestimmungen fehlen im Privatrecht durchweg, so dass § 90a S. 3 BGB nicht hier, sondern erst im Vollstreckungsverfahren (vgl. § 765a I 3 ZPO) Bedeutung erlangt: Zumindest Haustiere werden deshalb kaum jemals gepfändet. Im Übrigen gilt aber ganz gewöhnliches Sachenrecht. Beispiel: Der Eigentümer des Dackels „Waldi“ kann also mit diesem zivilrechtlich nach Belieben verfahren (§ 903 S. 1 BGB analog), etwa „Waldi“ quälen oder verhungern lassen . Lediglich eine verwirrende Erinnerung an die pure und nicht die Behandlung von Tieren beschränkte Selbstverständlichkeit, dass der Kreis der Rechte und Pflichten eines Rechtssubjekts von Privatrecht und Öffentlichem Recht gleichermaßen bestimmt wird, bedeutet Satz 2 des § 903 BGB: Öffentlich-rechtlich darf der Eigentümer des Dackels im vorstehenden Beispiel das Tier selbstverständlich nicht quälen; sonst wird er bestraft (vgl. § 1 TierSchG: Tier als „Mitgeschöpf des Menschen“). Tote Tiere sind übrigens ohne Wenn und Aber bewegliche Sachen, also Waren. Auch der menschliche Leichnam ist eine bewegliche Sache: Da die Rechtsfähigkeit und damit die Rechtssubjektivität des Menschen mit seinem Tod endet, kann es sich bei dem Leichnam nur noch um ein „körperliches“ Rechtsobjekt, um eine Sache, handeln, und zwar um eine bewegliche Sache, also um eine Ware. Das widerspricht natürlich unserem Pietätsempfinden, ist aber nach geltendem Recht schwerlich zu leugnen. Privatrechtlich soll der Leichnam nach h. M. herrenlos sein, also niemandem gehören. Das Bestimmungsrecht soll den nächsten Angehörigen zustehen, nicht den Erben. Die Angehörigen können also letztlich doch wie Eigentümer über diesen Leichnam grundsätzlich, d. h. im Rahmen der öffentlichrechtlichen Bestattungsvorschriften und nach Maßgabe etwaiger transplantationsrechtlicher Spezialnormen, frei verfügen. Dies ist besonders wichtig mit Blick auf die zunehmend kommerzielle Vermarktung von Transplantaten des Verstorbenen. Von den daraus erzielten durchaus beachtlich hohen Einnahmen wird auch die h. M. die Erben nicht ausschließen können, was den Ausgangspunkt fragwürdig erscheinen lässt. Solange der Mensch noch lebte, waren seine Organe hingegen rechtlich nichts weiter als Teile der natürlichen Person. Dafür hat der Gesetzgeber keinerlei Regelungen vorgesehen. Die Unterscheidung von unbeweglichen und beweglichen Sachen ist schon deshalb nötig, weil das Eigentum daran jeweils ganz anders übertragen wird (vgl. §§ 873, 929 ff. BGB) und Kaufverträge über Grundstücke grundsätzlich nur dann wirksam, also rechtsverbindlich sind, wenn sie notariell geschlossen wurden (§ 311b I BGB). Das Handelsrecht interessiert sich vor allem für bewegliche Sachen (für „Waren“, vgl. §§ 373 ff. HGB). <?page no="83"?> 56 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Wie § 905 BGB zeigt, ist das Grundstück im Rechtssinne nun nicht etwa nur ein katastermäßig erfasster (vermessener und in öffentlichen Registern dokumentierter) Ausschnitt der Erdoberfläche, sondern ein Raumkörper, eine (umgedrehte) Pyramide, deren Spitze der Erdmittelpunkt ist und deren Kanten bis in die unendlichen Weiten des Weltalls reichen. Trotzdem kann nicht jede Verletzung des Luft- oder Bodenraums durch andere untersagt werden (vgl. auch § 904 BGB), obwohl ja grundsätzlich allein der Eigentümer nach seinem Belieben mit der ihm gehörenden Sache verfahren darf. Beispiele: Ein in 10.000 m Höhe über mein Grundstück fliegendes Linienflugzeug muss ich dulden (§ 905 S. 2 BGB); ebenso die schräg angesetzte geophysikalische Tiefenbohrung, die mein Grundstück in 5.000 m Tiefe trifft. Der mein Grundstück im Tiefflug überfliegende Bundeswehr-Kampfflieger kann mein privatrechtliches Eigentumsrecht aus § 903 BGB gar nicht verletzen, weil er dies hoheitlich, als Repräsentant des Staates tut (ob das zulässig ist, entscheidet sich nach öffentlichem Recht! ); § 905 BGB ist hier also überhaupt nicht einschlägig. Die beweglichen Sachen zerfallen, wie sich aus § 91 BGB ergibt, wiederum in vertretbare und unvertretbare Sachen. Die Unterscheidung ist z. B. nötig, um §§ 607 ff. BGB richtig anwenden zu können, denn das Sachdarlehen bezieht sich nur auf solche vertretbare Sachen. Die Vertretbarkeit bedeutet nach jener Norm, dass „im Verkehre“, also im Rechtsverkehr, in der Interaktion der Rechtssubjekte, nicht die Individualität der Sache im Vordergrund steht, so dass natürlich immer neben der qualitativen Spezifikation - „Zahl, Maß oder Gewicht“ interessant werden. Ein Exemplar der vertretbaren Sache kann nach allgemeiner Beurteilung durch ein anderes gleichartiges ohne weiteres ersetzt, „vertreten“ werden. Kriterium ist also die sog. Fungibilität. Beispiele: Vertretbare Sachen sind etwa Kohlen, Eier, Kaffee, aber auch neue Autos (den Käufer interessiert normalerweise nicht die individuelle Seriennummer! ), ja wohl generell Erzeugnisse industrieller Massenproduktion. Unvertretbare Sachen sind etwa Originalgemälde, Maßanzüge sowie schlechthin gebrauchte Sachen (ihr individueller Erhaltungszustand ist üblicherweise eine wichtige Einflussgröße für ihre Wertschätzung). Geld spielt zwar im Leben, nicht aber im Wirtschaftsprivatrecht eine zentrale Rolle. Geld ist vielmehr nichts weiter als eine Menge hochvertretbarer (beweglicher) Sachen. Gesetzliche Zahlungsmittel und damit Geld sind (nur) die von der EZB ausgegebenen Banknoten sowie die vom Bund emittierten Münzen. Dabei handelt es sich aber augenscheinlich um körperliche, bewegliche Gegenstände, bei denen die Individualität normalerweise (von einem besonderen Sammlerstandpunkt abgesehen) völlig im Hintergrund steht, also um vertretbare Sachen. Es gelten für Geld deshalb grundsätzlich die allgemeinen noch zu behandelnden sachenrechtlichen Regeln, weshalb das Gesetz sich um Geld nicht weiter zu kümmern braucht. Daran hat sich auch durch die Ein- <?page no="84"?> 3. Rechtsobjekte 57 führung des Euro nichts geändert. Trotzdem normiert das BGB seit 1. 1. 2002 das Gelddarlehen in §§ 488 ff. BGB als eigenen Vertragstyp (vgl. § 488 I BGB: „...Geldbetrag...“) und muss die §§ 607 ff. BGB davon durch § 607 II BGB getrennt halten, obwohl - oder besser: weil es sich doch auch bei Geld um vertretbare Sachen handelt. Die beweglichen Sachen können übrigens auch noch nach anderen Gesichtspunkten unterteilt werden, etwa nach ihrer Verbrauchbarkeit oder ihrem Charakter als „Zubehör“ (vgl. §§ 92, 97 BGB). Praktisch gibt es keine Sachen, die nicht aus Bestandteilen zusammengesetzt sind. Beispiele: Der Kugelschreiber besteht aus Hülse, Kappe und Mine, diese wiederum aus Faserröhrchen, Farbe und Kugelspitze. Ein Grundstück hat nicht nur sichtbare Bestandteile wie Bäume und Sträucher oder eine Bebauung; sein ganzer Reichtum erschließt sich erst beim Umgraben: Erde, Steine, ein Stück Plastikplane, eine Bierflasche, vielleicht auch einmal eine Schatztruhe. Das Gesetz will wesentliche von unwesentlichen Bestandteilen einer Sache unterschieden wissen, denn gemäß § 93 BGB können wesentliche Sachbestandteile nicht „Gegenstand besonderer Rechte“ sein. Gemeint ist, dass beispielsweise der Eigentümer der Sache notwendig auch Eigentümer der wesentlichen Bestandteile dieser Sache ist. An ihren unwesentlichen Bestandteilen kann hingegen ein anderer Eigentum haben. Das wird z. B. in der Kreditsicherung wichtig, etwa wenn es sich um den Eigentumsvorbehalt eines Lieferanten von Zubehörteilen handelt: Der Eigentumsvorbehalt nützt nichts, wenn sich das Teil nach Montage als wesentlicher Bestandteil der im Eigentum des Käufers stehenden Sache darstellt. § 93 BGB definiert die Wesentlichkeit nun völlig anders als die Alltagsanschauung. Entscheidend soll nämlich nicht die Bedeutung des Bestandteils für den Funktionswert der gesamten Sache sein, sondern seine Trennbarkeit, die sich weder auf das gelöste Teil, noch auf den zurückbleibenden Rest der Sache jeweils für sich betrachtet auswirkt. Um dies festzustellen, bedarf es eines gedanklichen Experiments: Ob die Trennung ohne Einfluss auf den einen oder anderen Teil ist, erweist sich, wenn man sich das entsprechende Teil gleichsam wieder eingebaut denkt und dann diesen Zustand mit dem ursprünglichen vergleicht (hypothetische Rekonstruktion). Beispiele: Der Motor ist kein wesentlicher Bestandteil eines Autos, weil er ausgebaut und in ein anderes Exemplar desselben Typs wieder eingebaut werden kann. Auch kann in dem leeren Motorraum ein neuer Motor Platz finden (Austauschmotor! ), ohne dass dies auf die Karosserie etc. irgendwelchen Einfluss hätte. Keine wesentlichen Bestandteile des Autos sind ferner Getriebe, Lenkrad, Reifen, ja eigentlich alle Bestandteile. Nur die aufgebrachte Farbe ist wesentlicher Bestandteil: Sie kann nach Abkratzen nicht wieder aufgebracht werden. <?page no="85"?> 58 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Bis auf die Farbe (die Farbpigmente) hat auch ein Laptop wohl keinerlei wesentliche Bestandteile. Auch für Grundstücke gilt grundsätzlich § 93 BGB, doch enthält § 94 BGB eine Erweiterung des Begriffs wesentlicher Bestandteile, die im Gegenzug aber von § 95 BGB wieder rückgängig gemacht werden kann. Beide Vorschriften haben große praktische Bedeutung. Beispiele: Vertragsgegenstand beim Hauskauf ist das (bebaute) Grundstück; das Haus folgt dem rechtlichen Schicksal des Grundstücks ganz automatisch, selbst wenn es nach dem heutigen Stand der hydraulischen Technik möglich wäre, das ganze Haus ohne Beschädigung zu versetzen. Mit der Verankerung der Fundamentplatte wird das Fertighaus wesentlicher Grundstücksbestandteil (§ 94 I BGB), so dass der Fertighaushersteller sein „vorbehaltenes“ Eigentum zwingend an den Grundstückseigentümer verliert. Der Baustofflieferant verliert sein vorbehaltenes Eigentum an den gelieferten Steinen etc., wenn diese verbaut werden, zugunsten des Haus- (§ 94 II BGB) und damit des Grundstückseigentümers (§ 94 I BGB). Der Mieter einer Wohnung legt Teppichboden und hängt die Zimmerdecke ab (er verringert also die Raumhöhe): Die Materialien wechseln ohne Rücksicht auf einen etwa entgegenstehenden Willen des Mieters in das Eigentum des Grundstückseigentümers (§ 94 II i. V. m. I BGB, allerdings vorbehaltlich § 95 II BGB). Ein Bauunternehmer errichtet auf dem Baugrundstück zur Errichtung des geplanten Bauwerkes einen hohen Turmdrehkran mit Betonfundament, der nach Fertigstellung des Baues selbstverständlich demontiert werden soll: Der Kran fällt nicht in das Eigentum des Grundstückeigentümers (§ 95 I 1 BGB). Der Mieter schraubt an der Eingangstür einen italienischen Messing-Türklopfer in Löwenkopfform an, mit dem er schon dreimal umgezogen ist: kein wesentlicher Bestandteil (§ 95 II BGB); der Mieter bleibt Eigentümer. Eine Sonderregelung gegenüber §§ 93 f. BGB trifft auch das WEG, das entgegen dem Eigentumsbegriff und entgegen einem in Jahrhunderten gereiften System deshalb in der Praxis nur unbefriedigend durchführbar ein gesondertes Eigentum an Wohnungen für möglich erklärt. An der Wohnung soll mithin Alleineigentum, am übrigen Grundstück (wozu auch das Haus zählt! ) jedoch Miteigentum bestehen. Es handelt sich um einen allenfalls sozialpsychologisch zu rechtfertigenden Trick des Gesetzgebers, der nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der „Wohnungseigentümer“ eben nicht nach Belieben mit seiner Wohnung verfahren darf. Der Einbau andersfarbiger Fensterrahmen oder die (baurechtlich zulässige) Balkonverglasung liegen nicht in seiner Entscheidungskompetenz. Er ist vielmehr auf Gedeih und Verderb auf das Einvernehmen mit der Gemeinschaft bzw. mit dem von ihr eingesetzten Verwalter angewiesen. Das hat mit der dem Eigentum wesensmäßig innewohnenden Dispositionsfreiheit nichts zu tun. Beispiel: Der Verwalter ist der Auffassung, das Haus brauche einen neuen Farbanstrich, und zwar nicht mehr weiß, sondern hellblau. Wohnungseigentümer X <?page no="86"?> 3. Rechtsobjekte 59 widerspricht: Der Anstrich sei noch hinreichend gut, und hellblau sei im Übrigen scheußlich. X´s Haltung wird den Neuanstrich (auch auf seine Kosten! ) nicht verhindern können. Weit weniger problematisch ist das sog. Erbbaurecht (auch Erbpacht genannt) nach der ErbbaurechtsG: Der Rechtsinhaber hat gegen Zahlung eines (meist sehr geringen) Jahresbetrages (Erbpachtzins) wie regelmäßig vereinbart für 99 Jahre das Recht, ein Grundstück zu bebauen und auch ansonsten zu nutzen, wobei das errichtete Gebäude entgegen § 94 I BGB in seinem Eigentum steht, er darüber also frei verfügen kann. Wird nach Fristablauf das Erbbaurecht nicht verlängert, fällt das Gebäude in die Hand des Grundeigentümers, der dem (früheren) Inhaber des Erbbaurechtes aber den aktuellen Verkehrswert des Gebäudes ersetzen muss. Deshalb wird das Erbbaurecht in der Praxis fast ausnahmslos verlängert. b) Rechte (1) Arten der Rechte Den körperlichen Gegenständen (außer Tieren), also den Sachen, stehen logischerweise unkörperliche Gegenstände gegenüber. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Rechte. Sie sind in der Tat selber Rechtsobjekte, über die Entscheidungen gefällt und die in Transaktionen einbezogen werden können, nicht anders als Sachen (und Tiere). So, wie eine Sache zerstört werden kann, so kann das darauf bezogene Eigentumsrecht aufgegeben werden (vgl. § 959 BGB). Eine solche „Dereliktion“ lässt die Sache selber unberührt. Eine Sache kann durch verschiedene Hände gehen, wobei ihr Eigentümer derselbe bleibt (z. B. bei Vermietung). Umgekehrt kann aber auch nur das Eigentum an einer Sache übertragen werden, ohne dass sich die räumliche Lage der Sache selber ändert, etwa wenn ein Grundstück den Eigentümer wechselt. Noch deutlicher wird der Objektcharakter von Rechten etwa bei einer noch „offenen“, unerfüllten Zahlungsforderung, die ein Verkäufer an seine Bank abtritt (§ 398 BGB), wodurch eben die Gläubigerposition auf die Bank übergeht. In diesem Zusammenhang wird der schillernde Begriff „Recht“ wiederum in einem ganz spezifischen Sinn gebraucht, diesmal nämlich i. S. einer Befugnis, die einem Rechtssubjekt zugeordnet ist. Man spricht deshalb von subjektiven Rechten, wenn z. B. vom Eigentum die Rede ist. Das subjektive Recht steht in begrifflichem Gegensatz zum objektiven Recht. Darunter versteht man die Rechtsordnung als Ganzes oder Teile davon bis hin zu den einzelnen Rechtsnormen. <?page no="87"?> 60 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Beispiele: In einer Diskussion wird behauptet, das deutsche Privatrecht atme kapitalistischen Geist (gemeint ist ein Teil der Rechtsordnung: „Recht“ im objektiven Sinn). Die Rechtsnorm des § 903 BGB ist Element des BGB und damit ihrerseits auch objektives Recht. Die daraus fließende günstige Rechtsposition Eigentum ist jedoch ein subjektives Recht. Die Unterscheidung ist z. B. deshalb bedeutsam, weil sich durch „Gewohnheitsrecht“ immer nur objektives Recht, also eine nicht formal gesetzlich fixierte Rechtsnorm bilden kann. Beispiel: A geht seit jeher über das Grundstück des B. Daraus kann sich niemals ein, besser: sein Gewohnheitsrecht herleiten. Wenn in der Rechtsgemeinschaft die Überzeugung bestehen sollte, dass derjenige, der unwidersprochen über lange Jahre hinweg das Grundstück eines anderen als Weg benutzt, nicht auf Unterlassung in Anspruch genommen werden könne (vgl. § 1004 II BGB), so ist ein ungeschriebener Rechtssatz, neues objektives Recht, entstanden, das dann natürlich auch konkret den B zur Duldung verpflichtet und dem A ein subjektives Benutzungsrecht einräumt. Im konkreten Einzelfall kann man sich auf ein an sich bestehendes subjektives Recht auch dann nicht berufen, wenn man durch sein längere Zeit hindurch beobachtetes Verhalten den begründeten Eindruck erweckt hat, das (subjektive) Recht nicht ausüben zu wollen und sich ein anderer in legitimem Vertrauen darauf entsprechend eingerichtet hat. Dies hat aber mit Gewohnheitsrecht nichts zu tun, sondern beruht auf dem Gedanken der „Verwirkung“, der sich seinerseits auf das die ganze Rechtsordnung beherrschende Gebot stützt, „Treu und Glauben“ zu wahren (vgl. dazu auch §§ 157, 242 BGB, wo dieser Grundsatz für besondere Anwendungsfelder seinen Ausdruck gefunden hat). Die Verwirkung ist aber ihrerseits auch nur einer der Fälle unzulässiger Rechtsausübung. Das Spektrum der (subjektiven) Rechte ist praktisch unüberschaubar, denkt man an die Rechte des Eigentümers, des Käufers und Verkäufers, des Mieters und Vermieters, des Arbeitnehmers und Arbeitgebers, des Inhabers eines Patentes oder eines Urheberrechtes, der Eltern gegenüber ihren Kindern und umgekehrt oder der Ehegatten untereinander. Trotzdem ist es möglich und auch nötig, alle Rechte auf wenige Grundtypen zurückzuführen, für die dann jeweils einheitliche Regelungsprinzipien gelten. Das erste Grundmuster findet sich in den sog. absoluten Rechten. Sie wirken gegenüber jedermann und können demzufolge auch von jedermann verletzt werden. Das bekannteste absolute Recht ist sicher das Eigentum (vgl. § 903 BGB): Jeder muss es respektieren, jeder kann es aber auch verletzen, indem er etwa die in meinem Eigentum stehende Sache beschädigt oder wegnimmt. Auch Patentrecht und Urheberrecht wirken absolut: Jeder könnte (aber darf nicht! ) die geschützte technische Erfindung oder geistige Schöpfung kopieren und verwerten. In diesem Sinne absoluten Charakter hat auch das <?page no="88"?> 3. Rechtsobjekte 61 Pfandrecht, obwohl es nicht wie etwa das Eigentum seinem Inhalt nach umfassend ist, sondern nur eine Verwertungsbefugnis gibt (vgl. § 1204 I BGB). Absolut heißt aber ja nur, dass es gegenüber jedermann wirkt, und diese Wirkung wird durch die gesetzlich fixierte Analogie zum Eigentumsschutz deutlich (vgl. § 1227 BGB). Hierher zählt ferner auch das Namensrecht (§ 12 BGB). Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben aus dem Rechtssystem heraus noch andere absolute Rechte herausgearbeitet, ohne dass man dafür einen bestimmten Paragraphen benennen könnte. Zum einen ist hier vor allem an das wissenschaftlich sehr umstrittene sog. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (oder: Recht am Unternehmen) zu erinnern, durch das die unternehmerische Betätigung gegen unmittelbar betriebsbezogene Eingriffe geschützt sein soll. Ein derartiges absolutes Recht ist jedenfalls in einer Wirtschaftsverfassung wettbewerbsgesteuerter Marktwirtschaft unakzeptabel, ja geradezu unvorstellbar. Die wirtschaftsrechtliche Bedeutung dieser Frage ist aber nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn vielfach greifen spezielle Gesetze ein, namentlich das UWG, deren Anwendung auch von den Befürwortern jenes Rechts als vorrangig betrachtet wird. Bei sachgerechter Interpretation des UWG lassen sich aber auch z. B. die Fälle von Produktionsbeeinträchtigungen durch wilde Streiks befriedigend lösen. Für die Anerkennung eines absoluten Rechts am Unternehmen besteht deshalb letztlich gar kein dogmatischer Bedarf. Große Bedeutung als absolutes Recht hat hingegen das sog. Allgemeine Persönlichkeitsrecht (oft APR genannt). Da den Grundrechten prinzipiell Drittwirkung fehlt, wären die Würde des Menschen und seine persönliche Entfaltungsfreiheit (Artt. 1 u. 2 GG) als solche privatrechtlich, gegenüber Beeinträchtigungen durch nicht-hoheitliches Handeln, gar nicht geschützt. Dieser immateriellen Seite des Rechtslebens hat der eher vermögensrechtlich orientierte Gesetzgeber des BGB überhaupt wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ist nur sporadisch, etwa bei dem (besonderen) Persönlichkeitsrecht bezüglich des Namens (§ 12 BGB), auf diese Materie zu sprechen gekommen. Das APR erfasst hingegen die Persönlichkeit in allen ihren Facetten. Dementsprechend vielfältig sind die Spielarten denkbarer Eingriffe in dieses Recht. Beispiel: Beleidigung und Verleumdung, Heimliches Fotografieren eines Menschen, Tonbandaufnahme einer Vorlesung (das gesprochene Wort soll „flüchtig“ bleiben! ), Öffnen eines Briefes, Einschalten des Mithörlautsprechers am Telefon, Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten (auch ohne EDV! ) durch missgünstige Nachbarn, durch eine Bank oder einen Adressenverlag als Eingriff in die „informationelle Selbstbestimmung“, Videoüberwachung von Arbeitnehmern durch den Arbeitgeber. Im Gegensatz zu den absoluten Rechten wirken die relativen Rechte nur in einer bestimmten Beziehung, Relation, zu einem anderen Rechtssubjekt. Die <?page no="89"?> 62 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Kehrseite des relativen subjektiven Rechts des einen, also seiner Forderung, ist die Verpflichtung, die Verbindlichkeit des anderen. Das Gesetz definiert in § 194 I BGB dieses Recht, nur von einem ganz bestimmten anderen etwas verlangen zu können, als Anspruch. Die beiden durch dieses Rechtsverhältnis verbundenen Rechtssubjekte heißen bekanntermaßen Gläubiger und Schuldner. Entsprechend dem relativen Charakter dieses Rechts kann grundsätzlich auch nur der Schuldner die Rechtsposition des Gläubigers verletzen. Beispiel: Hat K von V etwas gekauft, so hat V ein Recht auf Zahlung (vgl. § 433 II BGB, der aus Schuldnersicht heraus formuliert), aber eben nur gegenüber K. Es ist deshalb selbstverständlich, dass X, Y und Z dieses Recht nicht verletzen, ja begrifflich gar nicht verletzen können, wenn sie die von V geforderte Zahlung ablehnen. Derartige relative Rechte sind außerordentlich vielgestaltig und verbreitet. Nur beispielhaft sind hervorzuheben: Lieferungs- und Zahlungsansprüche, Ansprüche auf Gebrauchsgewährung bei Miete und Leihe, auf die versprochene Dienstleistung (vgl. z. B. § 611 BGB), auf Zeugniserteilung (§ 630 BGB) oder Ausstellen einer Quittung (§ 368 BGB), auf Herausgabe einer weggegebenen oder weggenommenen Sache (vgl. z. B. §§ 546 I, 604 I, 985 BGB), auf Erbringung der Gesellschaftereinlage (vgl. § 705 BGB), auf Unterlassung irgendeines störenden Verhaltens (vgl. z. B. §§ 1004 I BGB, 60 I HGB) oder umgekehrt auf dessen Duldung (vgl. §§ 554, 912 I BGB), auf Herstellung ehelicher Lebensgemeinschaft (§ 1353 I BGB, was immer das auch sein mag) und Unterhalt (vgl. §§ 1360, 1601 ff. BGB). Sehr wichtig sind insbesondere auch Schadensersatzansprüche (vgl. etwa §§ 122 I, 179 I und II, 280 ff., 536a I, 678, 823 ff. BGB, 425 I HGB, 1 I ProdHaftG, 9 UWG). Subjektive Rechte, die keiner der beiden vorgenannten Rechtstypen zuzuordnen sind, werden in der Gruppe der sog. Gestaltungsrechte zusammengefasst: Sie wirken nicht absolut jedermann gegenüber in dem Sinne, dass sie von anderen beeinträchtigt werden könnten, aber auch nicht relativ i. S. eines Anspruchs gegen einen anderen auf eine Leistung. Wer ein Gestaltungsrecht hat und es ausübt, wirkt damit vielmehr unmittelbar auf eine bestehende Rechtslage ein, braucht dazu niemanden und kann dabei auch von niemandem gestört werden. Beispiele: Wer seine Willenserklärung, etwa sein Vertragsangebot, wegen Irrtums anfechten kann und dies auch rechtzeitig, nämlich „unverzüglich, tut (§§ 119, 121 BGB), hat damit seine Erklärung eben aus der (juristischen) Welt geschafft und dies sogar rückwirkend (§ 142 I BGB). Erklärt ein Arbeitgeber auf Grund eines für ihn bestehenden Kündigungsrechtes form- und fristgerecht die Kündigung (§§ 620 ff. BGB, 1 ff. KSchG), so ist das Arbeitsverhältnis damit für die Zukunft aufgehoben. Die Wirksamkeit einer Gestaltungserklärung im Beispiel der Anfechtung bzw. der Kündigung kann der Vertragspartner bzw. der Arbeitnehmer zwar in <?page no="90"?> 3. Rechtsobjekte 63 Abrede stellen. Doch kommt es darauf für die rechtliche Wirksamkeit der Erklärung nicht an. Streiten die Parteien vor Gericht um die Wirksamkeit von Anfechtung bzw. Kündigung, so trifft das Gericht auch nur eine Feststellung über die schon bestehende Rechtslage, verurteilt nicht etwa die andere Seite zur Erteilung ihrer Zustimmung. (2) Ausübung der Rechte Wer sich seinem subjektiven Recht entsprechend verhält, übt dieses aus und darf dies natürlich grundsätzlich auch, denn zu diesem Zweck sind subjektive Rechte ja letztlich geschaffen. Beispiele: Lisa Lustig räkelt sich in dem ihr gehörenden Liegestuhl, verfährt mit ihm also nach ihrem augenblicklichen Belieben (vgl. § 903 BGB). Käufer Karl verlangt vom Verkäufer Viktor auf Grund des zuvor geschlossenen Kaufvertrages Lieferung, übt damit also sein Recht aus § 433 I BGB aus. Dieter Dümmlich hat von Gebrauchtwagenhändler Gerhardt Gemein ein Auto erworben, angeblich „unfallfrei und technisch wie optisch in Top-Form“. Als Dümmlich merkt, dass Gemein ihn hereingelegt hat, erklärt er die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung. Damit übt Dümmlich sein Recht aus § 123 BGB aus. Nur ganz ausnahmsweise ist die Rechtsausübung unzulässig. Selbst das bestehende subjektive Recht nützt also seinem Träger dann im praktischen Ergebnis nichts, ebenso wenig wie wenn er ein solches Recht gar nicht hätte. In § 226 BGB gesetzlich geregelt ist die sog. Schikane. Diese Vorschrift wird von der h. M. aber ganz eng interpretiert: Nur wenn die Rechtsausübung objektiv betrachtet gar keinen anderen Zweck als die Schädigung eines anderen haben kann, ist sie danach unzulässig. Dass der Rechtsträger einen anderen schädigen will, reicht zum Ausübungsverbot nicht aus. Irgendeinen anderen Sinn kann man aber wohl fast immer der Rechtsausübung abgewinnen. § 226 BGB ist deshalb rechtspraktisch „tot“. Rechtsprechung und Rechtslehre haben aber über § 226 BGB hinaus gestützt auf die in den §§ 123, 138, 242, 826 BGB zum Ausdruck gelangten Wertungen des Gesetzes und im Einklang mit einer langen Rechtstradition eine Reihe von Tatbeständen unzulässiger Rechtsausübung formuliert, die erhebliche praktische Bedeutung haben. Neben der bereits erwähnten Verwirkung sind besonders zu nennen das Verbot, etwas zu verlangen, was man auf Grund einer anderen Rechtsnorm sofort wieder zurückgeben müsste (lat. „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“) oder ganz allgemein das Verbot einer Rechtsausübung, bei der man sich mit seinem eigenen Vorverhalten in Selbstwiderspruch setzen würde: unzulässiges (lat.) „venire contra factum proprium“. <?page no="91"?> 64 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ Beispiel: Ich helfe meinem Nachbarn, einen Baum auf die Grundstücksgrenze zu pflanzen und übernehme jahrelang die Baumpflege für den oft und lange dienstreisebedingt abwesenden Nachbarn. Als mir der Baum eines Tages zu raumgreifend wird, verlange ich, gestützt auf § 923 II 1 BGB, dessen Beseitigung: Ich erhalte keinen Rechtsschutz! (3) Durchsetzung der Rechte, Fristen Speziell bei den relativen Rechten, den Ansprüchen, führt die bloße Rechtsausübung häufig nicht zum gewünschten Erfolg, zur Befriedigung des rechtlich geschützten Interesses. Beispiel: Der Verkäufer kann zwar gemäß § 433 II BGB zu Recht Zahlung des Kaufpreises und Abnahme der Kaufsache verlangen. Was aber, wenn der Käufer nicht tut, wozu er rechtlich verpflichtet ist? Die hier dann notwendig werdende Durchsetzung von Rechten liegt nun primär in den Händen des Staates, seiner Justiz- und Vollstreckungsorgane: Grundsätzlich vollzieht sich Rechtsdurchsetzung durch die amtlich moderierte Vollstreckung justizieller Entscheidungen, durch die nach Durchlaufen des sog. Erkenntnisverfahrens erst einmal Rechtsgewissheit hergestellt werden muss, bevor das Vollstreckungsverfahren eingeleitet werden kann. Die Durchsetzung von vielleicht nur vermeintlich bestehenden Ansprüchen einfach in die Hand der Privatrechtssubjekte selber zu legen, würde Staat und Gesellschaft ins Chaos stürzen und Macht an die Stelle von Recht treten lassen. Die zum Rechtsschutz geschaffenen und aufgerufenen Gerichte sind je nach Art der zu entscheidenden Streitigkeit in verschiedenen Gerichtsbarkeiten (Rechtswege) organisiert. Wirtschaftsprivatrechtlich interessiert vor allem die sog. ordentliche, wiederum in Zivil- und Strafgerichtsbarkeit unterteilte Gerichtsbarkeit sowie Arbeits- und Patentgerichtsbarkeit. Weiterhin existieren Finanz-, Sozial-, Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Innerhalb dieser Rechtswege sind die Gerichtsbarkeiten noch einmal örtlich (nach Gerichtsbezirken) und schließlich je nach ihrer hierarchischen Position im Instanzenzug (erste Instanz, Berufungs- und Revisionsgericht) funktional gegliedert. Regulär wird die (privatrechtliche) Rechtsdurchsetzung durch Klageerhebung eingeleitet. In dem sich daran anschließenden (Erkenntnis-)Verfahren macht das Gericht im wahrsten Sinne des Wortes durchweg keinen „kurzen Prozess“. Bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss dauert es vielmehr oft einige Jahre. Im Interesse effektiver Rechtsschutzgewähr bedarf es deshalb der Institution eines Eilverfahrens, das im Zivilprozess entweder mit sog. „Arrest“ (für Zahlungsansprüche) bzw. (bei sonstigen Ansprüchen) mit sog. <?page no="92"?> 3. Rechtsobjekte 65 „einstweiliger Verfügung“ oder mit Antragsabweisung endet. In diesem Verfahren wird auf der Basis einer nur überschlägigen Prüfung der Sach- und Rechtslage lediglich vorläufig entschieden, bis das reguläre Klageverfahren endgültig Klarheit gebracht hat. Vor allem in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten spielt der einstweilige Rechtsschutz angesichts der schnelllebigen Marktverhältnisse eine große Rolle. Gelegentlich wird aber selbst dieses gerichtliche Eilverfahren noch zu träge sein, um zeitlich-effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Ausschließlich für diese Fälle ist rechtssichernde Selbsthilfe zulässig. Solche Befugnisse zu eigenmächtigen Maßnahmen, sind über die ganze Rechtsordnung verstreut. Die Generalklausel findet sich, kaum erkennbar, in § 229 f. BGB, bekannter ist aber sicherlich die Notwehr (§ 227 BGB), ergänzt durch den Defensivnotstand (§ 228 BGB), der seinerseits dem Aggressivnotstand (§ 904 BGB) gegenübersteht. Hinzuweisen ist auch auf § 859 sowie auf § 562b BGB. Außerhalb des BGB sind noch der Güternotstand (§ 16 OWiG) und das jedem zur Verfügung stehende Festnahmerecht nach § 127 StPO gegenüber einer auf frischer Straftat ertappten Person zu nennen. Der sozialen Gefährlichkeit des eigenmächtigen Rechtsschutzes entsprechend trägt der Selbsthelfer das Risiko, dass die sehr eng zu fassenden rechtlichen Voraussetzungen zulässiger Selbsthilfe im konkreten Fall nicht vorliegen. Es fehlt dann für sein eigenmächtiges, in fremde Rechtssphäre eingreifendes Verhalten an einem sog. Rechtfertigungsgrund. Sein Verhalten ist dann i. S. von § 823 Abs. 1 BGB widerrechtlich und verpflichtet bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen, namentlich bei Verschulden, zum Schadensersatz. Dies wird noch näher zu klären sein. Im Fall des § 231 BGB ist sogar auch ohne Verschulden Schadensersatz zu leisten. Die eher spärliche gesetzliche Regelung zulässiger Selbsthilfe wird der Bedeutung der Selbsthilfe als generelles, wenngleich gegenüber „obrigkeitlicher Hilfe“ immer subsidiäres Rechtsschutzmittel kaum gerecht. Der Gesetzgeber hat sicher die Schlagkraft des justiziellen und überhaupt des hoheitlichen Rechtsschutzes überschätzt und deshalb der zulässigen Selbsthilfe als wohl auch grundgesetzlich abverlangte ultima ratio eines effektiven Rechtsschutzsystems zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies erschwert es namentlich den Unternehmen, ihre Sicherheit mit eigenem Personal zu gewährleisten. Noch größere Schwierigkeiten hat das Sicherheitsgewerbe („Security“), seine Aufgaben sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum effektiv zu erfüllen. Diese Aufgaben haben in dem Maße enorm zugenommen, in dem sich die Polizei aus vielen Sicherheitsfeldern faktisch zurückgezogen hat. Beispiele: Zutrittskontrolle und sonstige Pförtnerdienste; Einbruchs- und Attentatsprävention (auch in Flugzeugen); Ordnerdienste bei Großveranstaltungen; individueller Objekt- und Personenschutz („Bodyguards“); Streifendienst in der Fläche und insbesondere in sozialen Brennpunkten wie z. B.auf Bahnhöfen und <?page no="93"?> 66 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ in Shopping Malls; Geld- und Werttransporte; Passagier und Gepäckkontrolle in Flughäfen; Investigation einschließlich Festnahme Verdächtiger (Detektiveinsatz) in Unternehmen bei schweren „Compliance“-Verstößen von Mitarbeitern (Korruption, Diebstahl, Unterschlagung) und bei dem weitverbreiteten Versicherungsbetrug; Abwehr und Verfolgung von Industriespionage. Auch privatrechtlich organisierte Sicherheitswahrnehmung kann sich gegenwärtig grundsätzlich nur der vorstehend genannten Selbsthilfebefugnisse, der sog. Jedermann-Rechte, bedienen, obwohl diese Rechte ersichtlich im Blick auf Einzelpersonen in Sondersituationen zugeschnitten sind und aus einer Zeit stammen, in der es selbstverständlich schien, dass die Sicherheitsgewährleistung für Bürger und Unternehmen ganz allein in den Händen der Polizei mit ihren hoheitlichen Befugnissen liegen müsse. Nochmals und ausdrücklich zu betonen ist, dass ein relatives Recht, ein Anspruch, niemals die Befugnis zu seiner eigenmächtigen Durchsetzung schafft. Eine solche Befugnis zur Selbsthilfe muss das Gesetz vielmehr eigens zuweisen. Und dann ist Selbsthilfe grundsätzlich nur zur vorläufigen Sicherung privater Rechte zulässig. Allerdings gibt es auch sehr seltene Fälle einer zulässigen Durchsetzung von Ansprüchen. Hierher zählt erst auf den zweiten Blick erkennbar vor allem auch die Befugnis zur Aufrechnung (§§ 387 ff. BGB). Davon abgesehen sind die rechtlichen Grenzen einer derartigen Privatvollstreckung von Ansprüchen auch außerhalb der §§ 229 f. BGB sehr eng gezogen. Das zeigt sich sehr deutlich etwa an der Problematik des eigenmächtigen Besitzschutzes nach eingetretener Besitzstörung hinsichtlich Grundstücken. Beispiel: Falschparker FP verlässt nachts um 3.45 h den öffentlichen Straßenraum und benutzt die Garageneinfahrt auf dem Grundstück des friedlich schlafenden Eigenheimbesitzers EB als Parkplatz. In diesem Moment erhält EB gegenüber FP einen Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes an diesem Teil des Grundstücks (§ 861 I BGB). Diesen Anspruch darf EB, als er den Wagen des FP beim Aufstehen um 6.30 h entdeckt, aber nicht einfach durch eigeninitiatives Handeln durchsetzen, etwa durch Herbeirufen eines Abschleppdienstes. Er muss nun vielmehr grundsätzlich gerichtliche Klage erheben oder den Erlass einer einstweiligen Verfügung betreiben. Die Polizei wird hier kaum tätig werden, weil sie grundsätzlich nur zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig ist. Der Schutz privater Rechte zählt allenfalls ganz subsidiär zu den polizeilichen Aufgaben (vgl. z. B. § 1 Abs. 2 PolG/ NRW). Auch ein Selbsthilferecht nach § 859 III BGB steht dem EB um 6.30 h nach richtiger Auffassung nicht zu. Zwar liegt immer noch ein teilweiser Entzug des Besitzes am Grundstück vor und besteht nach wie vor der Anspruch aus § 861 BGB, aber Selbsthilfe durch Abschleppen oder Wegschieben („Entsetzung des Täters“) wäre nur zulässig gewesen, wenn EB dies „sofort“ nach Entziehung des Besitzes getan hätte, also unmittelbar nachdem FP seinen Wagen dort abgestellt hatte, d. h. unter Einbeziehung einer legitimen Bedenkfrist etwa bis 4.15 h. Natürlich kann man dem EB nicht vorwerfen, dass er zu dieser Zeit geschlafen hat, aber § 859 III BGB verlangt nun einmal sofortiges Handeln, wenn <?page no="94"?> 3. Rechtsobjekte 67 Selbsthilfe zulässig sein soll. „Unverzügliches“ Handeln (zum Begriff vgl. § 121 I 1 BGB) reicht hier nicht aus. Die im Ergebnis aber so judizierende h. M. vermag nicht zu überzeugen. Merkwürdigerweise sind nicht alle Ansprüche uneingeschränkt durchsetzbar, insbesondere nicht gerichtlich. Solche Ansprüche werden (aus Sicht des Schuldners) unvollkommene Verbindlichkeiten oder Naturalobligationen genannt. Hierzu rechnet z. B. der Entgeltanspruch aus dem Ehevermittlungsvertrag. Ist aber zum Zwecke der Erfüllung eines solchen Anspruchs gezahlt worden, ist trotzdem zu Recht geleistet worden, so dass das Geld nicht etwa als „ungerechtfertigte Bereicherung“ nach § 812 I 1, 1. Alt. BGB zurückverlangt werden kann (vgl. § 656 I BGB). Entsprechendes hat für die bloße Partnerschaftsvermittlung zu gelten. Solche Unternehmen werden deshalb nur gegen Vorauskasse tätig. Auch Spiel- und Wettschulden bestehen lediglich als Naturalobligationen (vgl. § 762 BGB). Mit ihnen dürfen Schulden aus einem im Marketing beliebten! - Preisausschreiben nicht verwechselt werden: Diese Schulden aus einer sog. Auslobung nach § 657 BGB sind sehr wohl einklagbar. In diesen Zusammenhang sind ferner verjährte Ansprüche zu stellen. Entgegen landläufiger Vorstellung existiert der verjährte Anspruch von Rechts wegen nämlich weiter. Die eingetretene, „vollendete“ Verjährung gibt nach § 214 I BGB dem Schuldner nämlich nur das Recht, die ihm abverlangte Leistung zu verweigern. Ob er dieses Recht ausübt, indem er sich auf die Verjährung beruft, ist wie bei jedem subjektiven Recht seine Sache. Typologisch handelt es sich bei dieser sog. Verjährungseinrede um ein negatives Gestaltungsrecht. Da diese Einrede auf Dauer besteht, handelt es sich hier um eine sog. peremptorische Einrede. Leistet der Schuldner zur Erfüllung des verjährten Anspruchs, weil er etwa die Verjährung gar nicht bemerkt hat oder weil er zu stolz ist, sich derart aus der Verantwortung zu ziehen (Handelsbrauch bei hanseatischen Kaufleuten! ), so kann der Gläubiger die Leistung behalten (§ 214 II 1 BGB). Denn der Gläubiger hat ja nur erhalten, was ihm rechtlich zustand. Dass er den Anspruch nicht hätte durchsetzen können, wenn der Schuldner die Verjährungseinrede erhoben hätte, ist dafür belanglos. Auf Seiten des Gläubigers ist die Quintessenz daraus, dass auch solche Ansprüche geltend zu machen sind, bei denen man den Eintritt der Verjährung festgestellt zu haben glaubt. Vielleicht leistet der Schuldner ja trotzdem, und dann ist man davor sicher, das durch Leistung Erlangte wieder herausgeben zu müssen. Regelmäßig soll die Verjährungsfrist nach § 195 BGB 3 Jahre betragen. Doch existieren davon verstreute Ausnahmen. Dies zeigen schon §§ 196 f. BGB. Etwa §§ 438, 479 und 634a BGB, aber auch § 439 HGB kennen gleich mehrere verschiedene Verjährungsfristen. Sog. dingliche Ansprüche verjähren grundsätzlich in 30 Jahren (§ 197 I Nr. 1 BGB), z. B. der Anspruch des Eigen- <?page no="95"?> 68 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ tümers gegen den Besitzer auf Herausgabe der ihm gehörenden beweglichen Sache nach § 985 BGB. Der Herausgabeanspruch des im Grundbuch eingetragenen Grundeigentümers unterliegt wegen § 902 BGB überhaupt nicht der Verjährung. § 985 BGB zeigt ganz beiläufig, dass „Eigentümer“ und „Besitzer“ juristisch keineswegs dasselbe ist: Besitzer ist vielmehr einfach derjenige, der faktisch über die Sache verfügen kann (§ 854 I BGB, es sei denn, er sei bloßer Besitzdiener i. S. von § 855 BGB! ). „Hausbesitzer“ sind deshalb die dort wohnhaften Mieter, und „Besitzer“ ist auch der Dieb, der dem Eigentümer die Sache entwendet hat. Einer 30-jährigen Verjährung unterliegen ferner grundsätzlich alle gerichtlich unangreifbar, „rechtskräftig“ festgestellten Ansprüche (§ 197 I Nr. 3 BGB). Überdies kann die Verjährungsfrist in den Grenzen des § 202 BGB durch Vereinbarung zwischen Schuldner und Gläubiger schon vor Verjährungsbeginn oder erst bei laufender Verjährung verkürzt oder verlängert werden. Wie sich beim aufmerksamen Lesen des § 194 BGB zeigt, können nur Ansprüche, nicht jedoch absolute Rechte oder Gestaltungsrechte verjähren. Der Verjährung unterliegt also z. B. nur der Herausgabeanspruch nach § 985 BGB, nicht etwa das ihm zugrunde liegende Eigentumsrecht (§ 903 BGB) als absolutes Recht. Beispiel: Wenn der Dieb D im Jahre 1980 einen dem E gehörenden Ring gestohlen hatte, so konnte E noch im Jahre 2000 sicher vom Besitzer D den Ring, notfalls mit gerichtlicher Hilfe, zurückerhalten. Würde E seinen Herausgabeanspruch aus § 985 BGB erst im Jahre 2013 geltend machen, ist dieser Anspruch verjährt, vorausgesetzt, es liegen keine Gründe für eine Fristhemmung oder für einen Neubeginn der Verjährung vor. Beruft sich D auf den Eintritt der Verjährung, so kann E seinen Anspruch nicht mehr durchsetzen. Obwohl E auch dann noch Eigentümer ist, kann D dennoch den Ring weiter behalten. Angenommen, der Räuber R hätte 2005 dem D in vorstehendem Beispiel den ing entrissen, so besteht nunmehr überhaupt kein Herausgabeanspruch des E gegen D mehr, denn D ist ja nicht mehr im Besitz des Ringes. Hier mit Verjährung zu operieren, wäre schlicht falsch. An die Stelle eines Anspruchs gegen D ist ein neuer Herausgabeanspruch des E gegen den jetzigen Besitzer des Ringes R getreten. Denn da das Eigentumsrecht des E als absolutes Recht keiner Verjährung unterliegt, ist E ja immer noch Eigentümer, so dass die Voraussetzungen des § 985 BGB erfüllt sind. Dieser Anspruch ist auch nicht etwa 2010 verjährt, denn er ist ja überhaupt erst 2005 entstanden. Der Anspruch E-D ist ein ganz anderer als E-R, der seiner eigenen Verjährung unterliegt. E wird also mit einer im Jahre 2015 gegen R erhobenen Herausgabeklage Erfolg haben. Etwas anderes würde gelten, wenn D den Ring nicht durch Raub eingebüßt, sondern ihn an den Hehler H veräußert (oder vererbt) hätte. Dann würde wegen § 198 BGB (Anspruch aus § 985 BGB ist ein sachenrechtlicher, „ding- <?page no="96"?> 3. Rechtsobjekte 69 licher“ Anspruch) H als „Rechtsnachfolger“ des D in den Genuss der bereits im Verhältnis E-D verstrichenen Verjährungszeit kommen, könnte sich also auch bezüglich des Anspruchs E-H auf vollendete Verjährung berufen. In der Praxis bestehen durchweg prinzipiell falsche Vorstellungen nicht nur über das Wesen der Verjährung (negatives Gestaltungsrecht, nicht anspruchslöschend), sondern auch über deren Berechnung. Keineswegs nimmt nämlich die Verjährung quasi unaufhaltsam ihren Lauf. Zunächst ist schon zu fragen, was überhaupt der Ausgangspunkt der Verjährungsfrist ist. Einmal ausgelöst, kann die Anspruchsverjährung dann noch gehemmt (§ 209 BGB) oder neu begonnen werden (§ 212 BGB). Ein Anspruch, der der 3-jährigen Regelverjährung unterliegt, kann auf diese Weise vielleicht erst in 100 Jahren verjährt sein. Hilfreich zum Verständnis ist das Bild eines in der Küche verwendeten Kurzzeitweckers: Sein Klingeln soll Verjährungseintritt bedeuten und soll gedanklich auf 3 Jahre aufgezogen werden. Hinauszuschieben ist das Klingeln bereits dadurch, dass das Uhrwerk gar nicht erst in Gang gesetzt wird. Ist dies geschehen, so kann das Uhrwerk eine Zeit lang, eventuell mehrfach, angehalten werden (Hemmung) oder sogar irgendwann, möglicherweise erst kurz vor dem Klingeln, wieder auf 30 Jahre Laufzeit aufgezogen und dann irgendwann später wieder in Gang gesetzt werden (Neubeginn). Für den Verjährungsbeginn ist zu unterscheiden, ob es sich um die Regelverjährung oder um sonstige Verjährungsfristen handelt. Die Regelverjährung beginnt grundsätzlich ihren Lauf mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, sofern der Gläubiger zu diesem Zeitpunkt die anspruchsbegründenden Tatsachen und den Schuldner kannte oder auf Grund grober Fahrlässigkeit (vgl. § 276 II BGB zum Fahrlässigkeitsbegriff! ) nicht kannte, im Übrigen entsprechend später bei Kenntniserlangung oder grobfahrlässiger Unkenntnis mit Beginn des darauf folgenden Jahres (§ 199 I BGB). Diese Anknüpfung an den Jahresbeginn macht diese Verjährungsberechnung nach dem sog. subjektiven System überhaupt erst praktikabel. Sonstige Verjährungsfristen beginnen ihren Lauf nach dem sog. objektiven System (subjektive Merkmale wie Kenntnis oder grobfahrlässige Unkenntnis spielen keine Rolle). Dabei knüpft das Gesetz in § 200 BGB grundsätzlich an den Zeitpunkt an, in dem der Anspruch entstanden ist. Nach h. M. gehört zum Entstehen des Anspruchs im Verjährungsrecht übrigens immer auch die Fälligkeit (§ 271 I BGB). Da die Regelverjährung in ihrem Beginn (auch) an subjektive Merkmale in der Person des Gläubigers geknüpft ist, will der Gesetzgeber dafür sorgen, dass durch nicht grobfahrlässige Unkenntnis sich schon der Beginn der (Regel-)Verjährung und damit auch ihr Ablauf auf unabsehbare Zeit hinausschiebt. Deshalb sieht der Gesetzgeber hier Höchstfristen vor, wobei er in § 199 IV BGB den Verjährungsablauf für andere Ansprüche als Schadensersatzansprüche auf 10 Jahre seit Entstehung festsetzt. Für Schadensersatz- <?page no="97"?> 70 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ ansprüche hinwiederum unterscheidet § 199 II und III BGB zunächst danach, ob sie auf „Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit“ beruhen oder nicht. Erstere verjähren spätestens in 30 Jahren als Verletzungshandlung, letztere alternativ: Ihre Verjährung tritt spätestens 10 Jahre nach ihrer Entstehung ein, sofern ein Schaden eingetreten ist, ansonsten 30 Jahre nach Vornahme der schadensstiftenden Handlung. Beispiel: „Elektro-Kessler“ hat Frau Homberg im Februar 2008 eine Waschmaschine verkauft, die im März 2008 geliefert wurde. Der kaufvertragliche Zahlungsanspruch (§ 433 II BGB) unterliegt der 3-jährigen Regelverjährung des § 195 BGB. Ihr Lauf beginnt gemäß § 199 I BGB am 1. 1. 2009, da „Elektro- Kessler“ natürlich über den Vorgang Bescheid weiß (vgl. § 199 I Nr. 2 BGB). Da es sich nicht um Schadensersatzansprüche handelt, finden Abs. 2 und 3 des § 199 BGB keine Anwendung. Der Zahlungsanspruch verjährt somit frühestens (vorbehaltlich Hemmung oder Neubeginn) am 31. 12. 2011, also erst knapp 4 Jahre nach Abschluss des Kaufvertrages, wobei die (Höchst-)10-Jahresfrist des § 199 IV BGB erst im Februar 2018 abläuft. Gelegentlich wählt das Gesetz auch andere Zeitpunkte für den Verjährungsbeginn. So beginnt die wichtige Verjährungsfrist für Mängelansprüche beim Kauf beweglicher Sachen erst mit Ablieferung (vgl. § 438 II BGB). Der dritte Berechnungsfaktor für die Verjährung neben Dauer und Beginn ist wie gesagt die Hemmung. Das Gesetz kennt nunmehr zahlreiche Hemmungsgründe in den §§ 204 ff. BGB. Besonders hinzuweisen ist zunächst auf die allgemeine sog. Verhandlungshemmung des § 203 BGB: „Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände“ beziehen sich begrifflich auf die Frage, ob überhaupt ein Anspruch entstanden ist. Wird dagegen über die Höhe des Anspruchs (bei Zahlungsansprüchen) oder seinen sonstigen Umfang (z. B. Lieferumfang) verhandelt, hat damit der Schuldner seine Leistungspflicht incidenter anerkannt: Die Verjährung ist dann nicht nur gehemmt, sondern beginnt wieder neu (§ 212 I Nr. 1 BGB). Eine spezielle Verhandlungshemmung kennt z. B. § 15 VVG: Ein bei dem Versicherungsunternehmen angemeldeter Anspruch des Versicherungsnehmers ist in seiner Verjährung solange gehemmt, bis die Entscheidung des Versicherers in Textform beim Versicherungsnehmer eingegangen ist. Hinzuweisen ist ferner auf § 204 I Nr. 3 BGB: Zur Verjährungshemmung führt nur der gerichtliche, auf Antrag erlassene Mahnbescheid, nicht etwa die außerprozessuale Mahnung des Gläubigers oder eines von ihm beauftragten Inkasso-Büros. Erst recht hemmt selbstverständlich die Klageerhebung die Verjährung (§ 204 I Nr. 1 BGB). Ein praktisch wichtiger Hemmungsgrund scheint auch die sog. Stundung zu sein, also das Hinausschieben der Fälligkeit (vgl. § 271 I BGB) des Anspruchs nach seiner Entstehung, weil doch die Stundung den Schuldner vorübergehend zur Leistungsverweigerung berechtigt, also ihm eine vorübergehende, sog. dilatorische Einrede gibt. Erfolgt die Stundung freilich wie regelmäßig auf Bitten des Schuldners, so hat er wie- <?page no="98"?> 3. Rechtsobjekte 71 derum den gegen ihn gerichteten Anspruch anerkannt; es kommt also auch hier nicht nur zur Verjährungshemmung, sondern sogar zum Neubeginn der Verjährung gemäß § 212 I Nr. 1 BGB. § 205 BGB führt diesbezüglich also in die Irre. Neben dem Neubeginn der Verjährung wegen Anerkenntnis des Anspruchs durch den Schuldner durch Abschlagszahlung (sog. à-conto- Zahlung), Zinszahlung, Sicherheitsleistung „oder in anderer Weise“ (also z. B. durch Verhandlungen über den Anspruchsumfang oder durch Stundungsbitte des Schuldners) kennt § 212 I Nr. 2 BGB die ebenso praktisch wichtige Vollstreckungshandlung, namentlich durch den Gerichtsvollzieher oder durch das Vollstreckungsgericht. Gemeint sind damit logischerweise nur erfolglose Vollstreckungshandlungen. Denn die erfolgreiche Vollstreckungshandlung führt das Erlöschen des Anspruchs herbei. Damit verliert die Verjährung ihren begrifflichen Gegenstand. Beispiel: Kuno wurde im Alter von 22 Jahren rechtskräftig verurteilt, an den Handwerker Hanno Euro 300 zu zahlen. Obwohl der Anspruch ursprünglich in 3 Jahren verjährte, unterliegt er nach rechtskräftiger Feststellung gemäß § 197 I Nr. 3 BGB einer 30-jährigen Verjährung. Zu Kunos 50. Geburtstag schickt Hanno den Gerichtsvollzieher, der bei Kuno leider nichts vorfindet, auch keine Geburtstagsgeschenke. Dadurch wird die 30-jährige Verjährungsfrist erneut in Gang gesetzt. Spätestens kurz vor dem 80. Geburtstag des Kuno schickt Hanno erneut den Gerichtsvollzieher: Der Zahlungsanspruch ist immer noch nicht verjährt! Nach alledem sollte klar sein, dass die Einschätzung der Verjährung eine schwierige Sache und kaum jemals einfach nach dem Kalender zu berechnen ist. Für den Schuldner ist es deshalb oft riskant, mit Rücksicht auf eine vermeintlich eingetretene Verjährung die Leistung zu verweigern. Umgekehrt sollte der Gläubiger, zumal wegen § 214 I BGB (kein Anspruchserlöschen, sondern nur Einrede des Schuldners), sich wegen einer nur oberflächlich recherchierten Verjährung keinesfalls von einer weiteren Anspruchsverfolgung abhalten lassen. Wenn ausschließlich Ansprüche der Verjährung unterworfen sind, so heißt dies nicht, dass der Zeitablauf bezüglich anderer Rechte schlechthin unbeachtlich ist. Vielmehr legt der Gesetzgeber auch in Bezug auf absolutes Recht oder auf Gestaltungsrechte gelegentlich zeitliche Grenzen fest. Dies sind aber dann eben keine Verjährungsfristen, die nach den vorgenannten Grundsätzen zu behandeln wären, sondern sog. Ausschlussfristen. Dort gibt es demzufolge grundsätzlich (vgl. aber z. B. § 124 II 2 BGB zugunsten eines arglistig Getäuschten! ) insbesondere weder Hemmung noch Neubeginn des Fristlaufs, und nach Fristablauf entfällt im Gegensatz zur Anspruchsverjährung das Recht selbst. So besteht das (subjektive) Patentrecht, ein absolutes Recht, längstens 20 Jahre nach Anmeldung (§ 16 I PatG). Die Anfechtung einer Willenserklärung, z. B. einer Bestellung, wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung, ist 10 Jahre nach Abgabe der Willenserklärung „ausgeschlossen“ (vgl. <?page no="99"?> 72 III. Das privatrechtliche „Weltbild“ §§ 121 II, 124 III BGB), weil das zugrunde liegende Gestaltungsrecht selber erloschen ist. Selten greifen Ausschlussfristen neben Verjährungsfristen! auch bei Ansprüchen ein. Ein wichtiges Beispiel dafür liefert aber § 13 I ProdHaftG. c) Sonstige (unkörperliche) Gegenstände Innerhalb der begrifflichen Menge unkörperlicher Gegenstände stehen neben den subjektiven Rechten noch die sonstigen unkörperlichen Gegenstände. Es handelt sich dabei sozusagen um ein Sammelsurium aller Dinge der juristischen Welt, die sich in keine der bisher näher spezifizierten Kategorien einfügen. Beispiel: Das „Wohltemperierte Klavier“ von J. S. Bach, eine Erfindung, ein Farbeindruck, das sich bei einem Bayern angesichts eines mit Bier gefüllten Maßkruges einstellende angenehme Gefühl, die Liebe, ein EDV-Programm, ein Ratschlag, der Name (vgl. auch § 17 HGB: Firma). Selbstverständlich können an diesen Gegenständen durchaus wiederum Rechte bestehen, etwa ein Patentrecht an einer technischen Erfindung oder ein Recht auf einen bestimmten (bürgerlichen) Namen (§ 12 BGB) oder ein Recht auf Führung einer bestimmten Firma (§ 37 II HGB). Dies ist nichts Besonderes: Bei körperlichen Gegenständen (Sachen) ist jedem ein solcher Zusammenhang etwa mit dem Eigentumsrecht ganz geläufig. Damit verfügt man nun über ein in seinen wesentlichen Grundlinien geschlossenes privatrechtliches „Weltbild“, das jederzeit die Einordnung aller Wahrnehmungen ermöglichen sollte (Abb. 12). Nur auf den ersten Blick überraschend ist dabei, dass ein wirtschaftswissenschaftlich und wirtschaftspraktisch so bedeutsamer Begriff wie der des Unternehmens (bzw. des Betriebes) dort nicht auftaucht. Das hat seinen Grund darin, dass das Unternehmen wirtschaftsprivatrechtlich betrachtet nur einen Inbegriff aller möglichen Gegenstände darstellt, die zweckhaft (Gewinnerzielung/ Nutzenmaximierung) organisiert sind: Betriebsgrundstücke (unbewegliche Sachen), Büromöbel, Ordner, Bleistifte etc. (bewegliche Sachen), Ansprüche auf die Arbeitsleistungen der Mitarbeiter sowie offene Liefer- und Zahlungsansprüche als sog. Außenstände (relative subjektive Rechte), Firma, goodwill, know-how (sonstige unkörperliche Gegenstände) etc. All dies aber hat seinen klar definierten Ort in dem vorgestellten begrifflichen System. <?page no="100"?> 3. Rechtsobjekte 73 Abb. 12: Das privatrechtliche "Weltbild“ <?page no="101"?> 74 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte IV. Rechtsgeschäfte - Realakte 1. Begriff und Arten der Rechtsgeschäfte Die Rechtswelt, so wie sie bisher in Erscheinung trat, war unbewegt, ruhig: Zwischen den Rechtssubjekten gab es keine Interaktion, die Rechtsobjekte blieben an Ort und Stelle. Dynamik bringen in diese Szenerie erst das Verhalten der Rechtssubjekte, die Naturgewalten und sonstige Bewegungskräfte. Rechtlich sind dabei zwei Klassen von Handlungen streng zu unterscheiden: Die sog. Realakte („Tathandlungen“) wirken in der sinnlich wahrnehmbaren Sphäre. Viele sind, was ihre Bewertung angeht, völlig unbedenklich, manche hingegen enthalten einen Verstoß gegen Rechtsgebote oder -verbote, sind mithin rechtswidrig. Beispiel: Spazierengehen, Klavierspielen (im eigenen Haus bzw. in der Mietwohnung, jeweils um Mitternacht), Rosenpflanzen, bei „Rot“ über die Ampel fahren, Kunden mit Gewalt am Betreten des Konkurrenzgeschäftes hindern, mit der Freundin schmusen, aus Ärger auf den Tisch hauen, Daten über andere sammeln und mit Hilfe der EDV verarbeiten, ein Buch schreiben. Im Gegensatz zu den Realakten entfalten die sog. Rechtsgeschäfte ihre Wirkungen nicht sensorisch wahrnehmbar oder wenigstens naturwissenschaftlich beschreibbar, sondern allein in der Sphäre des Rechts, und zwar nur deshalb, weil diese Wirkungen von einem Rechtssubjekt so gewollt sind und natürlich nur insoweit, als das (objektive) Recht diesen Willen auch als grundsätzlich beachtlich anerkennt. Beispiele: V und K sind sich darüber einig, dass V eine Sache liefern und K dafür bezahlen soll. Weil das Recht diesen Willen respektiert, ist V eben deshalb zur Lieferung und K zur Zahlung verpflichtet (§ 433 BGB). Arbeitgeber A will das Arbeitsverhältnis mit dem Buchhalter B wegen soeben aufgedeckter zahlreicher Unterschlagungen und Veruntreuungen sofort beenden. Da das Gesetz diesen Willen des A respektiert (§ 626 I BGB gibt ein Recht zur außerordentlichen Kündigung, ein „Gestaltungsrecht“), ist das Arbeitsverhältnis damit eben beendet. Die Beispiele zeigen, dass das Gesetz nicht immer den Willen eines einzigen Rechtssubjektes für den Eintritt der gewollten Rechtswirkungen genügen lässt. Häufig bedarf es dazu vielmehr des übereinstimmenden Willens zweier Rechtssubjekte. Beides muss man noch in einer Richtung präzisieren: Immer muss der Wille irgendwie geäußert, erklärt worden sein. Die nicht geäußerten Gedanken sind dem bekannten Volkslied zufolge zwar frei, rechtlich aber auch unbeachtlich, weil gar nicht erkennbar. Der maßgebliche Bezugspunkt für das Gesetz ist also immer nur die Willenserklärung. Je nachdem, ob es zur Herbeiführung der gewollten Rechtswirkung nur einer oder aber zweier (übereinstimmender) Willenserklärungen bedarf, sind einseitige und zweiseiti- <?page no="102"?> 1. Begriff und Arten der Rechtsgeschäfte 75 ge Rechtsgeschäfte voneinander zu trennen. Zweiseitige Rechtsgeschäfte heißen Verträge. Bei den Verträgen wird besonders deutlich, dass Willenserklärung und Rechtsgeschäft nicht identisch sind. Aber auch das einseitige Rechtsgeschäft ist demnach begrifflich nicht ganz dasselbe wie die Willenserklärung, aus der es besteht. Bei alledem kann das Gesetz selbstverständlich nicht jeden Willen als rechtsgültig anerkennen. Für den Eintritt der gewollten Rechtswirkung müssten vielmehr noch eine Reihe von Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt sein, auf die später näher einzugehen ist. So muss das willenserklärende Rechtssubjekt die psychische Kompetenz zu verantwortlicher Willensbildung aufweisen. Fundamentale Wirksamkeitsvoraussetzung für Rechtsgeschäfte ist also die Geschäftsfähigkeit. Das ist vornehmlich, aber nicht nur, eine Frage des Alters (vgl. §§ 104-113 BGB). Außerdem darf die gewollte Rechtswirkung als solche nicht vom Gesetz missbilligt sein (vgl. §§ 134, 138 BGB). Weiterhin verlangt das Gesetz für die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts gelegentlich irgendwelche Formalitäten, etwa notarielle Beurkundung der Willenserklärung und/ oder Eintragung in ein öffentliches Register (vgl. z. B. §§ 311b I 1, 873 I, 925 I, 125 S. 1 BGB). Grundsätzlich Wirksamkeitsvoraussetzung ist schließlich, dass die im Rechtsgeschäft enthaltene Willenserklärung dem jeweiligen Adressaten zugegangen ist. § 130 I 1 BGB stellt dieses Erfordernis ausdrücklich auf nur für Willenserklärungen unter Abwesenden und wenn die Willenserklärung „einem anderen gegenüber abzugeben ist“. Letzteres ist eine für das Wirtschaftsprivatrecht bedeutungslose Einschränkung, denn außer der Eigentumsaufgabe (Dereliktion, § 959 BGB), der Auslobung (§ 657 BGB) und dem Testament (§§ 2064 ff. BGB) sind wohl alle häufiger vorkommenden Willenserklärungen derart empfangsbedürftig. Rechtspraktisch wichtige Ausnahme ist § 151 BGB für einen Sonderfall der Vertragsannahme z. B. auf Grund einer Bestellung im sog. Versandhandel oder bei der Eilbestellung). Im Übrigen ist der Zugang auch für Willenserklärungen unter Anwesenden zu verlangen und ist der Zugang auch hier der Zeitpunkt des Wirksamwerdens (vgl. in diesem Sinne auch Artt. 15, 24 CISG für den internationalen Warenkauf). Entsprechendes gilt sogar für öffentlichrechtliche Erklärungen (§ 130 III BGB). Zugang in diesem Sinne meint, dass die Willenserklärung so in den Organisationsbereich des Adressaten gelangt ist, dass dieser von ihrem Inhalt Kenntnis nehmen könnte (vgl. auch Art. 24 CISG). Ob der Empfänger die Willenserklärung tatsächlich zur Kenntnis nimmt, ist hingegen belanglos: Der Empfänger muss seine Sphäre eben im Blick auf einen effektiven Informationsfluss optimal organisieren. Beispiele: Einwurf des Kündigungsschreibens in den Briefkasten: zugegangen, gleichgültig, ob der Adressat zu Hause, „auf Arbeit“ oder im Urlaub ist. Überreichen des Kündigungsschreibens an den Angestellten, der es umgehend <?page no="103"?> 76 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte verbrennt, ohne vom Inhalt Kenntnis genommen zu haben: Zugang ist erfolgt. Als der Personalchef dem Schwerhörigen die Kündigung zu erklären beginnt, schaltet dieser das Hörgerät ab: Zugang ist auch hier erfolgt. Zugang durch Eintreffen eines Telefax (auch bei bloßem „Speicherempfang“ weil Papier zum Ausdruck fehlt! ) oder durch Ablage einer „elektronischen“ Willenserklärung in der sog. mailbox. Bei der Verwendung von Vertretern oder Empfangsboten auf Seiten des Adressaten unterscheidet die h. M.: Tritt die Erklärung in die Sphäre des Vertreters ein, so gilt sie als dem Adressaten zugegangen, ansonsten erst dann, wenn der Empfangsbote nach dem regelmäßigen Lauf der Dinge die Erklärung weiterleiten müsste. Beispiel: X erklärt anlässlich einer zufälligen Begegnung beim Einkaufen der F, der Frau des Y, er nehme das an ihn (X) gerichtete Angebot des Y an; sie möge dies bitte Y ausrichten: Zugang am Abend dieses Tages in der gemeinsamen Ehewohnung von X und Y. Kommt es auf Termine oder auf Fristen an, ist diese Wirksamkeitsvoraussetzung besonders zu beachten: Zugang, nicht Absendung, entscheiden grundsätzlich über die Rechtzeitigkeit. Ausnahmen weist das Gesetz (z. B. § 121 I 2 BGB, § 377 IV HGB) eigens aus. Für die Rechtzeitigkeit genügt dort rechtzeitiges Absenden. Festzuhalten ist, dass ein erklärter, auf Herbeiführung von Rechtsfolgen gerichteter Wille nur zum gewünschten Erfolg führen kann, wenn die Willenserklärung den Tatbestand eines Rechtsgeschäftes ausfüllt und die entsprechenden Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen (bzw. Wirksamkeitshindernisse fehlen). Zu dieser Struktur des Rechtsgeschäftes vgl. Abb. 13. Eine wichtige Einteilung der Rechtsgeschäfte knüpft an die Art der gewollten Rechtswirkung an: Sollen Ansprüche (aus der Sicht des Schuldners: Pflichten) erzeugt werden, spricht man von Verpflichtungen (z. B. das Rechtsgeschäft „Kauf“ nach § 433 BGB). Soll sich die rechtliche Zuordnung von Gütern zu Rechtssubjekten selbst ändern oder soll das Rechtsgeschäft den Inhalt eines subjektiven Rechts ändern, spricht man von Verfügungen (so z. B. beim Wechsel von Eigentum an beweglichen Sachen nach § 929 S. 1 BGB). Wie vielleicht schon die Normierung an ganz unterschiedlichen Stellen im Gesetz zeigt, haben verpflichtende Rechtsgeschäfte (z. B. Kaufvertrag nach § 433 BGB) mit den diese Verpflichtungen erfüllenden und dabei zugleich die Güterzuordnung ändernden, also verfügenden Rechtsgeschäften (z. B. Übereignung nach § 929 BGB, Abtretung nach § 398 BGB) rechtlich nichts zu tun. Beide führen vielmehr rechtlich ein Eigenleben, sind voneinander ganz unabhängig. Dieses für das deutsche Privatrecht so charakteristische Abstraktionsprinzip bezüglich Verpflichtungsrechtsgeschäften und Verfügungsrechtsgeschäften (kurz: Verpflichtungen und Verfügungen) ist dem Normalbürger zwar völlig unverständlich, aber sehr durchdacht und logisch wohl sogar <?page no="104"?> 2. Das Handelsgeschäft 77 zwingend nötig. Sein volles Verständnis ist schon für ein juristisches Basiswissen unverzichtbar. Asonsten wird man die einfachsten rechtlichen Vorgänge des Alltags nicht durchschauen, geschweige denn komplexe Fallgestaltungen und Systemzusammenhänge im Gesetz. Beispiele: Wer beim Bäcker ein Brötchen „gekauft“ hat (§ 433 BGB), wird dadurch nicht Eigentümer, auch wenn er den Kaufpreis entrichtet hat. Der Eigentumswechsel richtet sich vielmehr allein danach, ob die Voraussetzungen des § 929 (S. 1) BGB erfüllt sind. Ist Letzteres der Fall, wird der Käufer grundsätzlich auch dann Eigentümer des Brötchens, wenn er den Kaufpreis nicht bezahlt (es sei denn, der Bäcker hätte sich bei der Übergbe des Brötchens sein Eigentum bis zur vollständigen Bezahlung vorbehalten). Weil „Verkaufen“ rechtlich nichts mit „Übereignen“ zu tun hat, kann man wirksam auch eine Sache verkaufen, die einem gar nicht gehört oder die es noch gar nicht gibt. Aus eben diesem Grund kann man wirksam auch eine Sache verkaufen, die man bereits an einen anderen verkauft hat. Abb. 13: Willenserklärung (WE) und Rechtsgeschäft (RG) 2. Das Handelsgeschäft Für bestimmte Rechtsgeschäfte (und rechtsgeschäftsähnliche Vorgänge) gelten in Ergänzung und Abänderung der allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften die handelsrechtlichen Sondernormen der §§ 343 ff. HGB. Regelungsgegen- <?page no="105"?> 78 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte stand dieser Sondernormen sind Handelsgeschäfte, gemäß § 343 HGB also „alle Geschäfte eines Kaufmanns, die zum Betriebe seines Handelsgewerbes gehören“. Dasselbe gilt wegen § 6 I HGB (Gleichstellung der Handelsgesellschaften mit den Kaufleuten) auch für die Geschäfte der Handelsgesellschaften. Welche Qualität der „Kaufmann“ im Einzelnen hat, welchem Kaufmannsbegriff er speziell unterfällt, ist gleichgültig. Neben der Kaufmannseigenschaft mindestens eines der Beteiligten bedarf es gemäß § 343 HGB noch eines inneren Zusammenhangs des betreffenden Vorgangs mit dem geschäftlichen Lebensbereich dieses Kaufmanns. Bei dieser sog. Betriebszugehörigkeit kommen ohne rechtliche Bedeutung verschiedene Erscheinungsformen vor: Zum Handelsgewerbe des Kaufmanns gehören jedenfalls diejenigen geschäftlichen Aktivitäten, die gerade den Unternehmenszweck kennzeichnen (sog. Grundgeschäfte). Betriebszugehörig sind ferner die sog. Hilfsgeschäfte, die überhaupt erst die Rahmenbedingungen zur Verfolgung des eigentlichen Unternehmenszwecks schaffen und erhalten. Schließlich sind betriebszugehörig auch die seltenen sog. Nebengeschäfte, Geschäfte, die weder Grundnoch Hilfsgeschäfte sind, aber trotzdem einen betrieblichen Zusammenhang aufweisen. Beispiele: Herr T betreibt ein großes Teppichimportgeschäft, ist also Kaufmann nach § 1 II HGB. Heiratet er, ist dies wegen fehlender Betriebszugehörigkeit trotz seiner Kaufmannseigenschaft natürlich kein Handelsgeschäft. Herr T ordert eine neue Partie „Perser“ (Grundgeschäft), stellt zwei Mitarbeiter ein, mietet Geschäftsräume an und kauft einen Schreibtisch fürs Büro (alles Hilfsgeschäfte). Gelegentlich importiert Herr T auch einmal iranische kunsthandwerkliche Produkte (Nebengeschäft). Nicht immer liegen die Verhältnisse so klar, dass die Entscheidung für oder gegen Betriebszugehörigkeit des Geschäftes derart einfach möglich wäre. In diesen Fällen wird gemäß § 344 I HGB die Betriebszugehörigkeit vermutet. Das Gegenteil müsste der Kaufmann beweisen. Beispiel: Herr T, der Teppichimporteur, kauft sich am Kiosk die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Vielleicht interessiert ihn die Reisebeilage, vielleicht auch der Wirtschaftsteil: gesetzlich vermutet wird letzteres. Für die Anwendung der §§ 343 ff. HGB wichtig ist die Unterscheidung von einseitigen und zweiseitigen Handelsgeschäften, eine Unterscheidung, die sich begrifflich nicht mit der Trennung von einseitigen und zweiseitigen Rechtsgeschäften (Verträgen) deckt. Einseitig ist ein Handelsgeschäft vielmehr dann, wenn nur auf einer Seite des Vorgangs die beiden Kriterien für ein Handelsgeschäft, Kaufmannseigenschaft und Betriebszugehörigkeit, vorliegen. Beispiel: Der unglücklich verheiratete Großmetzger Gernot (Kaufmann nach § 1 II HGB) kauft sich am Kiosk das neue „Playboy“-Heft. Kioskbetreiber Kuno wunschgemäß im Handelsregister eingetragen, also Kaufmann nach § 2 HGB beschafft und veräußert Zeitungen. Der Verkauf des „Playboy“-Heftes an Ger- <?page no="106"?> 3. Auslegung 79 not ist nur auf Seiten von Kuno betriebszugehörig (Grundgeschäft). Auf Seiten von Gernot greift die Vermutung des § 344 I HGB nicht, weil der Privatcharakter des Kaufes offenkundig ist, „Zweifel“, wie sie § 344 I HGB voraussetzt, von vornherein also gar nicht aufkommen können. Es handelt sich bei dem Kaufvertrag zwar um ein zweiseitiges Rechtsgeschäft (Vertrag), dabei aber um ein lediglich einseitiges Handelsgeschäft. Für derartige einseitige Handelsgeschäfte sieht § 345 HGB überraschenderweise die Anwendbarkeit der besonderen Vorschriften über Handelsgeschäfte grundsätzlich auch für den Beteiligten voraus, auf dessen Seite das Geschäft gar kein Handelsgeschäft ist. In praktisch besonders häufig auftretenden Fällen verlangt das Gesetz für die Anwendbarkeit einer bestimmten Norm aber dann doch ein zweiseitiges Handelsgeschäft, ein Geschäft also, bei dem auf beiden Seiten Kaufleute stehen und für die das Geschäft beide Male betriebszugehörig ist. Ein solches beiderseitiges Handelsgeschäft meint das Gesetz auch dort, wo es wie in § 346 HGB verkürzend lediglich davon spricht, dass das Geschäft „unter Kaufleuten“ stattfindet. Präziser sind dagegen etwa die §§ 352, 353, 369, 377 HGB formuliert. Die Regel des § 345 HGB wird ferner der Sache nach z. B. auch bei den §§ 347, 348, 349 HGB durchbrochen, weil sie ja nur für denjenigen gelten, für den das Geschäft Handelsgeschäft ist. Der genaue Sinn der in den §§ 343 ff. HGB für Handelsgeschäfte getroffenen Sonderregelungen erschließt sich naturgemäß erst vor dem Hintergrund einer Kenntnis der allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften, die durch jene handelsrechtlichen Sondernormen verdrängt oder ergänzt werden. Der Regelungsgehalt der §§ 343 ff. HGB wird deshalb erst im jeweiligen Normkontext vorgestellt. An dieser Stelle ist abschließend nur noch auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Handelsgeschäft“ hinzuweisen, den das HGB auch i. S. des kaufmännischen Unternehmens (so in den §§ 22 ff. HGB) verwendet. 3. Auslegung Es ist eine aus der philosophischen Hermeneutik („Lehre vom Verstehen“) entlehnte Grundeinsicht, dass jede Willenserklärung, auch die scheinbar eindeutige, interpretiert, also ausgelegt werden muss. Selbst die Feststellung deren Eindeutigkeit ist ja bereits ein Auslegungsergebnis. Im juristischen Bereich zielt die Auslegung zum einen auf die inhaltliche Erfassung der Willenserklärung privater Rechtssubjekte ab, insbesondere im Zusammenhang mit Verträgen, aber auch mit einseitigen Rechtsgeschäften. Zum anderen bedarf es der Auslegung auch zur Ermittlung dessen, was etwa ein Amtsträger in einem Verwaltungsakt erklärt hat. Nicht zuletzt, ja vielleicht vor allem bedarf es der Auslegung von Gesetzen, gleichsam „Willenserklärungen“ des Gesetzgebers <?page no="107"?> 80 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte (z. B. des Parlamentes), um deren Regelungsgehalt zutreffend zu begreifen. Die Lehre von der Auslegung hat für die Jurisprudenz also eine zentrale Bedeutung. Nachstehend sollen allerdings nur die praktisch wichtigsten wirtschaftsprivatrechtlichen Aspekte der Problematik skizziert werden. Vorschriften, welchen methodischen Prinzipien die Auslegung von Gesetzen zu folgen hat, finden sich im deutschen Recht überhaupt nicht (anders für den internationalen Warenkauf Art. 7 CISG: Auslegung soll dem internationalen Charakter des CISG und seiner einheitlichen Anwendung Rechnung tragen und die Wahrung von Treu und Glauben fördern). Für die Auslegung von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen fehlt es ebenfalls weitgehend an Normen. Soweit das Gesetz diesbezüglich allgemeine Aussagen trifft, sind die einschlägigen Bestimmungen paradoxerweise selber teilweise in höchstem Maße auslegungsfähig und -bedürftig. Im Übrigen sind nur fragmentarische Anordnungen vorhanden. So sind z. B. bei der Auslegung beiderseitiger Handelsgeschäfte gemäß § 346 HGB die jeweiligen Handelsbräuche zu berücksichtigen. An zahlreichen Stellen gibt das Gesetz zwar Auslegungshilfen, dann jedoch nur, um in Spezialfällen auftretende Interpretationsschwierigkeiten zu beheben („.. im Zweifel ...“, vgl. z. B. §§ 113 IV, 125 S. 2, 127 I, 141 II, 154 I 1 und II, 270 I, 271 II, 315 I, 329, 330 S. 1, 336 II, 364 II, 420, 427, 449 I BGB etc.). Nach alledem ist es Rechtslehre und Rechtsprechung vorbehalten gewesen, die maßgeblichen Interpretationsgrundsätze zu formulieren. Danach ergibt sich Folgendes: Vor allem bei der Auslegung von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen, aber auch von Gesetzestexten ist zunächst vom Wortlaut auszugehen (sog. grammatische oder grammatikalische Auslegung). Dabei ist das Verständnis eines vernünftigen Beobachters zugrundezulegen (so ausdrücklich auch Art. 8 II CISG) und „nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften“ (§ 133 BGB). Es kommt also für das „richtige“ Verständnis grundsätzlich auf den sog. objektivierten Empfängerhorizont an. Für Verträge deutet dies auch § 157 BGB an (Verkehrssitte, Treu und Glauben). Beispiel: Man spricht von „Videoverleih“ und „Autoverleih“, verbindet damit aber nicht die Vorstellung einer unentgeltlichen Gebrauchsüberlassung i. S. einer Leihe (§ 598 BGB). Objektivierter Sinn des Wortes „Verleih“ ist hier also „Vermietung“ i. S. von § 535 BGB. In England bedeutete „pound“ nun einmal ein Geld-, nicht ein Gewichtsmaß, gleichgültig, ob der Erklärende Engländer oder ein Deutscher war, der dabei an das deutsche „Pfund“ dachte. Bei beiderseitigen Handelsgeschäften spielen Handelsbräuche für das, was „objektiv“ erklärt ist, eine große Rolle (vgl. § 346 HGB), vor allem bei der Bedeutung von Handelsklauseln wie z. B. „ab Werk oder „frei Dortmund“. Neben solchen branchenübergreifend und deutschlandweit verbreiteten Klauseln existieren möglicherweise auch solche mit sachlich oder räumlich nur <?page no="108"?> 3. Auslegung 81 beschränkter Verbreitung. Darüber geben namentlich die jeweiligen Industrie- und Handelskammern Auskunft. § 133 BGB verlangt seinem Wortlaut nach zwar auch, bei der Auslegung den „wirklichen Willen“ des Erklärenden zu ermitteln und dem Erklärungssinn zugrundezulegen (sog. historische Auslegung). Würde man das Gesetz jedoch beim Wort nehmen, bedürfte es dann aber z. B. gar keiner gesetzlich vorgesehenen Anfechtung wegen Irrtums über die Bedeutung einer Erklärung mehr (vgl. § 119 I BGB), weil ja bei der Auslegung der Erklärung notwendig das „wirklich“ Gewollte zum Zuge käme. Im Lichte des Anfechtungsrechts der §§ 119 ff. BGB (aber etwa auch des § 116 S. 1 BGB) muss § 133 BGB also seinerseits so eng, „restriktiv“, interpretiert werden, dass er insoweit eigentlich kaum noch einen Anwendungsfall hat. Hier, bei § 133 BGB, wird der Wortlaut dieser Norm also nicht durch den „objektivierten Empfängerhorizont“ sinnentsprechend modifiziert, sondern durch die Notwendigkeit sog. „systematischer“, den Normenzusammenhang bedenkender Interpretation. Ein eher simples Anwendungsbeispiel systematischer Interpretation wurde bereits beiläufig bei § 128 HGB exerziert: Die Norm spricht zwar von Verbindlichkeiten „der Gesellschaft“, meint damit wie die Einbindung in die §§ 105 ff. HGB zeigt aber keineswegs jede Gesellschaft, sondern nur die OHG. Auch umfangreichere Texte anderer Art., wie z. B. Verträge, bedürfen häufig systematischer Interpretation, um ihren richtigen Sinn zu erfassen. Von großer Bedeutung ist schließlich die „teleologische“ Auslegung, die nach dem Zweck einer gesetzlichen oder vertraglichen Regelung fragt und danach den maßgeblichen Erklärungsinhalt bestimmt (telos [griech.] = Ziel, Zweck). Beispiel: Eine Passage des Mietvertrags lautet: „Das Klavierspielen in der Wohnung ist nach 22.00 h strikt untersagt.“ Der Zweck der mietvertraglichen Bestimmung ist bei vernünftiger Betrachtung die Gewährleistung der Nachtruhe. Gegen den Mietvertrag verstößt also auch, wer nach 22.00 h in der Wohnung Trompete bläst (sog. teleologische Extention, vielleicht auch schon eine Analogie). Ein sog. Gegenschluss (lat. „argumentum e contrario“), dass ja eine Trompete kein Klavier sei, wäre hier also verfehlt. Umgekehrt darf durchaus um Mitternacht auf einem elektronischen Piano gespielt werden, wenn der Ton über Kopfhörer abgestrahlt wird (teleologische Reduktion), obwohl das Verbot des Mietvertrages nach dessen Wortlaut auch hier zu greifen scheint. Auf der anderen Seite verschärft sich die Situation für den Erklärenden, wenn er seinen rechtsgeschäftlichen Willen in vorformulierter Form, durch Allgemeine Geschäftsbedingungen äußert. Er wird nicht einmal nur daran festgehalten, wie nach der allgemeinen Verkehrssitte (§ 157 BGB) und eventuell besonderen geschäftlichen Gepflogenheiten (§ 346 HGB) die gewählten Klauseln zu verstehen sind. Vielmehr ist bei mehreren vom Wortlaut her möglichen Auslegungsvarianten immer die jeweils kundenfreundlichste maßgebend, alle Auslegungszweifel gehen nach der sog. Unklarheitenregel des <?page no="109"?> 82 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte § 305c II BGB zu Lasten des Verwenders. Kommt die Auslegung einer Willenserklärung oder eines Vertrages zu einem Ergebnis, das das Gesetz nicht als wirksam anerkennt, so ist nach § 140 BGB grundsätzlich in einem zweiten Schritt ein Auslegungsergebnis anzustreben, das das Gesetz noch akzeptieren würde und von dem anzunehmen ist, dass es dem Willen des oder der Erklärenden auch entspricht (Konversion, also Umdeutung; Auslegungsprinzip der geltungserhaltenden Reduktion). Beispiele: A, der mit seinem Architektenbüro ja kein Handelsgewerbe betreibt, erteilt dem B, dem er sein ganzes Vertrauen schenkt, „Prokura“. Die Prokuraerteilung ist als solche nichtig, weil Prokura nur ein Kaufmann erteilen kann (vgl. §§ 48 I HGB). Jedoch lässt sich die misslungene Prokuraerteilung als Erteilung einer entsprechenden bürgerlichrechtlichen Vollmacht nach § 167 BGB umdeuten, mit der B in Anlehnung an §§ 48 ff. HGB ermächtigt wird, den A geschäftlich umfassend zu vertreten. Umdeutung einer nichtigen fristlosen in eine wirksame ordentliche Kündigung zum nächstmöglichen Kündigungstermin. Letztlich wohl wegen der soeben genannten Unklarheitenregel des § 305c II BGB hält die zutreffende h. M. eine geltungserhaltende Reduktion jedoch bei der Auslegung von AGB für nicht zulässig. Schließlich sind aus der Internationalisierung, ja, Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen auch bei der Auslegung die gebotenen rechtlichen Konsequenzen auf nationaler Ebene zu ziehen, speziell bei der Auslegung deutscher Gesetze. Sie sind nach Möglichkeit so auszulegen, dass sie im Einklang mit europäischem Recht und darüber hinaus mit internationalem Recht stehen (europarechtskonforme bzw. internationalrechtskonforme Auslegung). Beispiel: Bei der Auslegung der §§ 433 ff. BGB ist eine Übereinstimmung mit dem CISG anzustreben. 4. Nichtigkeit Nicht überall, wo der Tatbestand eines Rechtsgeschäfts erfüllt ist, akzeptiert das Gesetz den darin erklärten Willen. Die gewünschte Rechtsfolge tritt dann nicht ein. Die schärfste derartige Sanktion ist die Nichtigkeit. Das nichtige Rechtsgeschäft entfaltet keinerlei rechtliche Kraft, mögen sich die Beteiligten auch faktisch so verhalten, als sei das Rechtsgeschäft wirksam. Das Gesetz kennt zahlreiche Nichtigkeitsgründe. So ist nichtig die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen, namentlich eines Kindes unter 7 Jahren (§§ 105 I, 104 Nr. 1 BGB). Nichtig ist auch die Willenserklärung eines Volljährigen (§ 2 BGB: Vollendung des 18. Lebensjahres), wenn der Volljährige dauernd psychisch schwer erkrankt ist (§§ 105 I, 104 Nr. 2 BGB). Nichtig ist die Willenserklärung eines an sich geistig gesunden Volljährigen auch dann, wenn sie zu <?page no="110"?> 4. Nichtigkeit 83 einem Zeitpunkt abgegeben wird, in dem einmal eine starke Bewusstseinstrübung vorliegt (§ 105 II BGB). Nachdem das Rechtsinstitut der Entmündigung schon zum 1. 1. 1992 abgeschafft wurde und damit neben §§ 6, 114 f. BGB - § 104 Nr. 3 BGB entfallen ist, existiert dieser früher praktisch bedeutsame Grund für eine Geschäftsunfähigkeit und eine dadurch bedingte Nichtigkeit von Willenserklärungen jetzt nicht mehr. Die gerichtliche Bestellung eines Betreuers i. S. der §§ 1896 ff. BGB wirkt sich als solche auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten nicht aus. Beispiele: Die 6-jährige Karla einigt sich mit der 19-jährigen Viktoria über den entgeltlichen Erwerb einer gebrauchten Barbie-Puppe: Kaufvertrag zwar vorhanden (Karla und Viktoria waren sich ja entsprechend einig! ), aber wegen Nichtigkeit der von Karla abgegebenen Vertragserklärung insgesamt nichtig. Die unerkannt psychisch schwer erkrankte Schauspielerin Sabine schließt Filmverträge ab, und kauft notariell beurkundet! eine Villa: alles nichtig, mag sich dies auch erst nach Jahren im Nachhinein herausstellen. Nichtig ist z. B. eine nicht ernst gemeinte Willenserklärung, von der der Erklärende erwartet, dass der Adressat sie ernst nimmt, doch dieser den Erklärenden durchschaut (§ 116 S. 2 BGB: erkannter, also nicht mehr geheimer Vorbehalt). Nichtig sind auch einverständlich nur zum Schein abgegebene Willenserklärungen (§ 117 I BGB: Scheingeschäft) oder sog. Scherzerklärungen (§ 118 BGB; daran anknüpfende Schadensersatzpflicht gemäß § 122 BGB! ) sowie grundsätzlich Willenserklärungen, die einer erforderlichen Form nicht genügen (§ 125 BGB). Beispiele: In einer Opernarie singt die Sopranistin mit Blick auf das Publikum: „Willst du mich zur Gemahlin ha-ha-haben.“ Der in die Sopranistin unsterblich verliebte Student, der von ihr dabei zufällig angesehen wird und diese Herzensangelegenheit sehr ernst nimmt, antwortet mit einem lauten „Ja“ (Scherzerklärung der Sopranistin, kein wirksames Verlöbnis i. S. der §§ 1297 ff. BGB). A und B wollen Beurkundungsgebühren und Grunderwerbsteuer sparen und einigen sich in notarieller Urkunde zum Schein auf einen Grundstückskaufpreis von Euro 50.000. Tatsächlich soll das Grundstück Euro 200.000 kosten. Der notarielle Kauf ist als Scheingeschäft nichtig. Unwirksam ist aber auch der tatsächlich gewollte Kauf, und zwar trotz § 117 II BGB. Denn er ist ja nicht notariell beurkundet, wegen §§ 125 S. 1, 311b I 1 BGB deshalb unwirksam, vorbehaltlich der in § 311b I 2 BGB normierten, praktisch sehr seltenen Ausnahme. Nichtig ist nach § 134 BGB grundsätzlich auch ein Rechtsgeschäft, das (inhaltlich) gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Ob dies der Fall ist, lässt sich meist nur nach eingehender Interpretation des potenziellen Verbotsgesetzes feststellen. Die einschlägige Rechtsprechung liefert eine kaum überschaubare <?page no="111"?> 84 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte und auch nicht immer überzeugende Kasuistik. Beispiele: Nichtigkeit von Arbeitsverträge mit Ausländern ohne die erforderliche Genehmigung (vgl. § § 284 SGB III mit der im Zusammenhang mit § 288 I SGB III erlassenen Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer). Nichtigkeit eines Vertrages zwischen einer Schwangeren und einem Arzt über die Druchführung einer nach § 218 StGB verbotenen Abtreibung. Nichtig sind ferner gemäß § 138 BGB sittenwidrige (I), insbesondere wucherische (II) Rechtsgeschäfte. Was nun sittenwidrig ist, lässt sich nur bei einer Gesamtwürdigung im Einzelfall und jedenfalls nur auf der Basis der grundgesetzlichen Wertordnung sagen. Die bis heute vor allem in der Rechtsprechung beliebte Formel, sittenwidrig sei, was dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkender zuwiderlaufe, führt nicht weiter. Zuwendungen des verheirateten Ehemanns an seine Geliebte hält heute jedenfalls kaum noch jemand für nichtig nach § 138 I BGB, selbst wenn damit sexuelle Hingabe belohnt werden soll. Auch der Vertrag zwischen der Prostituierten und ihrem „Freier“ ist nicht sittenwidrig (vgl. § 1 ProstG). Überhaupt ist der Begriff der Sittenwidrigkeit wohl viel nüchterner, weniger schlüpfrig, zu fassen: Er ist eben allgemein das Einfallstor für Wertungen, die in unserer durch und durch von liberalem Geist geprägten Verfassungsordnung angelegt sind, mangels Drittwirkung aber nicht unmittelbar im Privatrecht wirksam werden können. Im Übrigen reduziert sich die Sittenwidrigkeit nicht selten auf einen Widerspruch zu elementaren wirtschaftspolitischen Postulaten oder zu notwendigen Voraussetzungen für das Funktionieren rechtlicher Institutionen. Sittenwidrig können demnach Verträge sein, mit denen eine falsche Zeugenaussage „erkauft“ werden soll, oder Verträge, die unter Ausnutzung einer Monopolstellung zustande gekommen sind. Auch sog. Knebelungsverträge, die die wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten des Vertragspartners ganz unangemessen beschneiden, scheitern in ihrer Wirksamkeit an § 138 I BGB. So sind sehr langfristige Bierbezugsabreden zwischen Gastwirt und Brauerei nichtig, wenn der Bezugsbindung keine entsprechenden Leistungen (z. B. äußerst zinsgünstige Investitionsdarlehen) gegenüberstehen, aber auch Versicherungsverträge mit Laufzeiten von 10 Jahren. Als sittenwidrig wird auch die sog. Übersicherung angesehen, bei der der Kreditgeber etwa die Rückzahlung eines Darlehens in Höhe von Euro 10.000 durch Bürgschaft, Sicherungsübereignungen, Grundschulden etc. im Gesamtwert von vielleicht Euro 200.000 absichern will. Wegen § 138 I BGB nichtig sind ferner z. B. Schmiergeld- oder Schweigegeldverträge. Bei systematischer Interpretation des § 138 I BGB nicht zu beanstanden sind jedoch Verträge, die den Vertragspartner zwingen, einen bereits geschlossenen Vertrag mit einem anderen zu verletzen, weil er die versprochene Leistung eben nur einmal erbringen kann (sog. Verleiten zum Vertragsbruch). Wie § 311a i. V. m. § 275 BGB zeigt, akzeptiert der Gesetzgeber Verträge über die Ver- <?page no="112"?> 4. Nichtigkeit 85 pflichtung zu einer unmöglichen Leistung. Einen Sonderfall der Sittenwidrigkeit („...insbesondere....“) behandelt § 138 II BGB. Um den Wuchertatbestand richtig, d. h. als unanwendbar zu begreifen, muss man sich vor Augen halten, dass nach unserer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung die Vertragsparteien in der Festlegung des Preis-/ Leistungsverhältnisses frei sind: Der „richtige“ Preis ist immer derjenige, der sich im konkreten Fall auf Grund des gegebenen Angebots- und Nachfragedrucks eben einstellt. Die uralte, vor allem für dirigistische Wirtschaftssysteme essentielle Frage nach dem (lat.) „pretium iustum“, dem gerechten Preis, ist mithin bereits systemimmanent gelöst. Selbst das vom Standpunkt eines Dritten aus so erscheinende eklatante Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung kann für sich alleine deshalb keine Vertragsnichtigkeit herbeiführen. Dieses gilt selbstverständlich auch für Kreditzinsen, die ja nichts weiter als den Preis für die Kapitalnutzung darstellen. Selbst ein vereinbarter jährlicher Sollzins von 50% und mehr ist von daher nicht zu beanstanden. Diese Überlegung wird indirekt vielleicht sogar durch § 138 II BGB selber bestätigt. Denn erst wenn zu dem „auffälligen Missverhältnis“ von Leistung und Gegenleistung noch die „Ausbeutung“, also das bewusste, absichtsvolle Ausnutzen einer „Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ des Vertragspartners hinzutritt, soll ja das Rechtsgeschäft wegen Wuchers nichtig sein. An die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist entgegen der häufig lockereren, von einem übersteigerten Verbraucherschutz beseelten Lehre und der gerichtlichen Praxis aus Gründen wiederum der systematischen Interpretation ein strenger Maßstab anzulegen. Denn wer z. B. Kredite benötigt, weil er eigenkapitalschwach ist, befindet sich schon allein deshalb in einer gewissen Zwangslage. Marktwirtschaftlich völlig korrekt wird dies durch einen vergleichsweise hohen Preis ausgedrückt. Diese Zwangsbasis kann zur Anwendung des § 138 II BGB also sicher nicht hinreichen. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die in § 138 II BGB genannten persönlichen Defizite. Denn § 138 II BGB kann schwerlich als Hebel benutzt werden, um das fein abgestimmte Regelungswerk der §§ 104 ff. BGB (insbesondere also das Recht der Geschäftsfähigkeit) aus den Angeln zu heben. Anders ausgedrückt: Wer volljährig ist und weder dauernd noch zeitweilig psychisch nachhaltig beeinträchtigt ist (§§ 104, 105 BGB), wird damit als jemand angesehen, der über den für das Rechtsleben nun einmal erforderlichen gewissen Durch-, Ein- und Überblick eben verfügt bzw. verfügen muss. Wollte man individuelles Zurückbleiben hinter diesem Standard über § 138 II BGB kompensieren, so würden die §§ 104 ff. BGB völlig ihren Sinn verlieren. Entgegen der ganz h. M. ist § 138 II BGB nach alledem aus wirtschaftsverfassungsrechtlichen und rechtssystematischen Gründen obsolet und deshalb unanwendbar. <?page no="113"?> 86 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte Für krasse oder wenigstens typische Fälle derartiger Ausbeutung stehen ohnedies andere rechtliche Möglichkeiten zu Gebote. Zu nennen sind etwa § 123 BGB (Anfechtung einer auf arglistiger Täuschung oder Drohung beruhenden Willenserklärung), aber auch die zahlreichen, in der neueren Verbraucherschutzgesetzgebung vorgesehenen ihrerseits systematisch zweifelhaften Widerrufsrechte (vgl. z. B. § 312, 312d BGB) und schließlich der Schutz der §§ 305 ff. BGB gegenüber Klauseln, die den Kunden unangemessen benachteiligen, die der Kunde aber aus Unerfahrenheit oder Unkenntnis oder wegen seines Angewiesenseins auf die Leistung eigentlich akzeptiert hat. Wegen der Natur der Nichtigkeitsgründe (vgl. nur § 105 I und II BGB) erfasst die Nichtigkeit grundsätzlich das gesamte Rechtsgeschäft. Selbst wenn unmittelbar nur abgrenzbare Teile z. B. eines größeren Vertragswerkes von der Nichtigkeit erfasst werden sollten, würde nach der Regel des § 139 BGB die Totalnichtigkeit die Folge sein. Derart nur umfänglich begrenzte unmittelbare Nichtigkeit ist vor allem denkbar im Bereich von AGB, wenn dort nur bestimmte Klauseln, namentlich gegen die detaillierten Klauselverbote der §§ 308 f. BGB verstoßen. Doch für eben diesen praktisch häufigen Fall enthält § 306 I BGB seinerseits eine Sonderregelung: Entgegen § 139 BGB soll dabei gerade keine Totalnichtigkeit eintreten, sondern soll der Vertrag vielmehr im Übrigen wirksam bleiben. Angesichts der Verbreitung von AGB hat § 139 BGB demnach nur eine relativ geringe Bedeutung. Unabhängig vom Umfang der Nichtigkeit ist nach § 140 BGB die bereits zur Sprache gekommene Umdeutung (Konversion) des nichtigen Rechtsgeschäfts (oder eines Teils davon) in ein ähnliches Rechtsgeschäft, für den der Nichtigkeitsgrund nicht eingreifen würde, in Betracht zu ziehen. Damit verwandt ist die sog. ergänzende Vertragsauslegung. Sie greift vor allem dann ein, wenn es wegen § 306 I BGB zu Lücken des Rechtsgeschäfts kommt, weil die eine oder andere AGB-Klausel unwirksam ist. Die Lücke ist dann, wenn möglich, im Sinne des mutmaßlichen Willens der Vertragsparteien zu schließen. 5. Anfechtbarkeit a) Anfechtungsgründe (1) Arglistige Täuschung und Drohung In einer Reihe von Fällen ist das Gesetz der Auffassung, dass es zwar bedenklich ist, die Gültigkeit einer Willenserklärung anzunehmen, dass man es aber dem Erklärenden überlassen sollte, ob er die Wirksamkeit einer Willenserklärung aufrechterhalten oder deren Unwirksamkeit herbeiführen will. <?page no="114"?> 5. Anfechtbarkeit 87 Erklärender ist natürlich auch, wer einen anderen vertritt (§ 166 I BGB), denn er gibt ja anders als ein Bote eine Willenserklärung ab, mögen auch deren Wirkungen bei dem Vertretenen eintreten (vgl. schon hier § 164 I BGB). In Betracht kommt, dass der Erklärende sich in einem irgendwie bedeutsamen Irrtum befunden hat, der möglicherweise sogar von dem Erklärungsempfänger und Geschäftspartner provoziert wurde, um zu der Erklärung zu veranlassen. Wer Opfer einer derartigen arglistigen Täuschung geworden ist, kann seine Willenserklärung gemäß § 123 I BGB ebenso anfechten wie derjenige, der zur Abgabe einer Willenserklärung gezwungen wurde. Diese Anfechtungsgründe sind weitgehend unproblematisch. Beispiele: Der gemeine Gebrauchtwagenhändler versichert ehrenwörtlich, das Auto sei erst 73.000 km „gelaufen“. In Wahrheit beträgt die Laufleistung 173.000 km; das hätte der Kunde niemals akzeptiert. In der Bar „Zur roten Laterne“ fragt die attraktive weibliche Bedienung, flankiert von zwei stämmigen Männern, den schmächtigen männlichen Gast: „Sie bestellen doch noch Champagner für alle, oder etwa nicht? “ Darauf sagt der zunächst zögernde Gast mit Blick auf die Männer, die ihn nun schon beim Schlips gepackt haben: „Aber selbstverständlich, sehr gerne! “ (2) Erklärungs-, Inhalts- und Eigenschaftsirrtum Schwieriger zu verstehen sind die in der Praxis viel häufigeren Irrtumsanfechtungen nach § 119 BGB. Voraussetzung ist zunächst einmal ein Irrtum. Irrtum ist begrifflich eine unbewusste Differenz von äußerem, durch Auslegung des Erklärungstatbestands nach den bereits erörterten Auslegungsprinzipien einerseits und den psychischen, innertatbestandlichen Elementen, die dieser Erklärung zugrunde liegen, andererseits. Weiß der Erklärende um diese Differenz, so liegt schon begrifflich gar kein Irrtum vor, jedenfalls aber handelt es sich um einen nach § 116 S. 1 BGB grundsätzlich unbeachtlichen geheimen Vorbehalt (sog. Mentalreservation). Erkennt dies der Geschäftspartner, so ist die Erklärung ebenfalls nicht anfechtbar, denn dann ist sie nach § 116 S. 2 BGB nichtig. Im Übrigen kommt alles darauf an, ob das Gesetz die Irrtumsvariante für anfechtungsrechtlich bedeutsam erklärt. Der gesetzlichen Regelung liegt dabei ein psychologisch allerdings fragwürdiges Modell zugrunde (vgl. Abb. 14). Im Vorfeld der Willenserklärung liegt demzufolge das Motiv, das erst zur Bildung eines rechtsgeschäftlichen Willens führt, der dann seinerseits erklärt wird. Der Wille, also der innere, psychische Tatbestand der Willenserklärung, ist wiederum dreigeteilt: Der Handlungswille steuert die zur Erklärung erforderlichen körperlich-motorischen Prozesse, also den Einsatz des Kehlkopfes, der Zunge und des Kiefers bei der mündlichen Erklärung. Im Erklä- <?page no="115"?> 88 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte Motiv Handlungswille Erklärungsinhalt gemäß Auslegung Erklärungsbewusstsein Geschäftswille + „Wille“ = innerer Tatbestand „Erklärung“ = äußerer Tatbestand Willenserklärung Abb. 14: Struktur der Willenserklärung rungsbewusstsein schlägt sich das Wissen nieder, etwas rechtlich irgendwie Erhebliches zu erklären. Der Geschäftswille ist schließlich in Konkretisierung des Erklärungsbewusstseins darauf gerichtet, einen bestimmten rechtsgeschäftlichen Effekt mit der Erklärung herbeizuführen. Wenn der Handlungswille völlig fehlt, liegt überhaupt keine Willenserklärung vor. Es können demzufolge von vornherein keinerlei Rechtsfolgen eintreten, die dann durch Anfechtung wieder beseitigt werden müssten. Wird ein Handlungswille zwar gebildet, kommt es aber z. B. infolge einer motorischen Fehlschaltung zu einem dem nicht entsprechenden Verhalten, so liegt ein sog. Erklärungsirrtum vor, der nach § 119 I (2. Alt.) BGB grundsätzlich zur Anfechtung berechtigt. Wird zwar das erklärt, was erklärt werden sollte, verbindet der Erklärende damit aber einen anderen Sinn, als es der Willenserklärung vom Blickpunkt des objektivierten Empfängerhorizontes aus zukommt (Divergenz zwischen Geschäftswillen und Erklärung), so liegt ein sog. Inhaltsirrtum vor, der gemäß § 119 I (1. Alt.) BGB ebenfalls die Möglichkeit der Anfechtung eröffnet. Beispiele: Lorenz lernt locker Italienisch: Sessanta heißt sechzig, settanta heißt siebzig. Im italienischen Restaurant will Lorenz seiner Freundin Frieda mit seinen neuerworbenen Sprachkenntnissen imponieren und erklärt dem Ober, der eine Rechnung von Euro 54 vorlegt, stolz: „settanta“, wobei Lorenz alles verwechselt und meint, das bedeute sechzig und die Euro 6 stellten ein angemessenes Trinkgeld dar. Inhaltsirrtum! Vom objektivierten Empfängerho- <?page no="116"?> 5. Anfechtbarkeit 89 rizont aus betrachtet heißt „settanta“ siebzig, nicht sechzig! Lisa, die fließend Italienisch spricht, verspricht sich in derselben Situation, weil „sessanta“ und „settanta“ in der Lautbildung sehr eng beieinander liegen: Erklärungsirrtum! Dem Inhaltsirrtum gleich erachtet das Gesetz einen Spezialfall des Motivirrtums, wenn es nämlich auf Grund einer Fehlvorstellung über solche Personen- oder Sacheigenschaften, die im Rechtsverkehr als für das Rechtsgeschäft bedeutsam erachtet werden, zu einer bestimmten Willenserklärung gekommen ist (sog. Eigenschaftsirrtum). Ansonsten aber ist der Motivirrtum von § 123 BGB abgesehen, also wenn durch arglistige Täuschung erzeugt unbeachtlich. Was gelten soll, wenn schon das Erklärungsbewusstsein fehlt, so dass natürlich erst recht kein Geschäftswille gebildet wird, sagt das Gesetz nicht. Man wird hierfür § 119 I (2. Alt.) BGB analog anwenden müssen. Beispiele: A springt in einer Weinversteigerung von seinem Platz auf, weil er von dem bösen B mit einer Nadel gestochen wird. A, der nicht weiß, dass dies am Ort für die Abgabe eines Gebotes gehalten wird, erhält auf der Stelle den Zuschlag für den sehr sauren Tropfen zu überhöhtem Preis: wegen fehlendem Handlungswillen liegt seitens des A gar keine Willenserklärung vor, so dass eine Anfechtung des „Vertrages“ weder möglich noch nötig ist. In derselben Weinversteigerung springt A auf, um seinem plötzlich entdeckten Jugendfreund F zuzuwinken: Handlungswille vorhanden, aber Erklärungsbewusstsein fehlt. Anfechtbarkeit des Gebots nach § 119 I (2. Alt.) BGB analog. Regisseur Roger engagiert auf Grund des attraktiven Erscheinungsbildes Martina für die Hauptrolle in dem Film: „Bekenntnisse der tollen Lola“, in dem auch einige Nacktszenen vorkommen. Nach Vertragsschluss stellt sich heraus, dass „Martina“ in Wahrheit Martin heißt und ein männlicher Transvestit ist, der durchaus damit rechnete, als solcher auch erkannt zu werden: Eigenschaftsirrtum i. S. des § 119 II BGB („arglistige“ Täuschung nach § 123 I BGB kommt hier nicht in Betracht). Für Nacktszenen und Ähnliches ist das Geschlecht der betreffenden Person ganz gewiss eine „Eigenschaft (…), die im Verkehr als wesentlich angesehen …“ wird. Auch das AGG sollte der Anfechtbarkeit letztlich nicht entgegenstehen, da es für die krasse Benachteiligung von Martin gerade wegen seiner sexuellen Identität bzw. seines Geschlechtes doch wohl einen „sachlichen Grund“ (§ 20 I 1 AGG) gibt. Ehemann M kauft seiner Frau F beim Juwelier J zur Silberhochzeit einen Brillantring, weil er meint, dies seiner Frau F für 25-jährige eheliche Treue schuldig zu sein. Als M am Hochzeitstag überraschend früh nach Hause kommt, ertappt er F mit dem Hausfreund H, mit dem F seit langem ein intimes Verhältnis pflegt: Hinsichtlich des Kaufvertrages zwischen M und J unbeachtlicher Motivirrtum! Bei alledem ist es für das Bestehen des Anfechtungsrechts gleichgültig, ob der Irrtum vermeidbar war, den Erklärenden insoweit also ein Verschulden trifft: Das Anfechtungsrecht scheitert nicht daran, dass in dem vorgenannten Beispiel Roger bei genauerer Prüfung das wahre Geschlecht von Martin/ Martina <?page no="117"?> 90 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte wohl hätte erkennen können. Eine Anfechtungsmöglichkeit besteht hingegen nach § 119 I BGB nicht, wenn der rechtlich an sich relevante Irrtum sich auf die Abgabe der Willenserklärung gar nicht ausgewirkt hat, also gar nicht kausal war, oder wenn der Irrtum nur gänzlich nebensächliche Punkte der Willenserklärung betraf. Dies wird aber nur sehr selten der Fall sein. In das vorgestellte System der Irrtumsanfechtung sind auch der Preis- und der Kalkulationsirrtum einzufügen, die in mehreren Spielarten vorkommen. Vorab festzuhalten ist, dass Fehlvorstellungen über die Preiswürdigkeit einer Leistung nur zu einem unbeachtlichen Motivirrtum führen, denn der Preis selber ist keine Eigenschaft. Eine Anfechtung nach § 119 II BGB scheidet somit aus. Dasselbe gilt grundsätzlich hinsichtlich einer falschen Kalkulation sowohl auf der Angebotsals auch auf der Nachfrageseite. Wenn die Kalkulation hingegen selber Teil der Willenserklärung geworden ist, kann Inhaltsirrtum vorliegen. Meist wird aber bereits die immer vorrangige! - Auslegung zu einer sachgerechten Lösung führen. Beispiel: Bank B bietet einen Kredit an über Euro 100.000 „zu 5% Jahreszinsen, also mit einer jährlichen Zinsbelastung von Euro 500“. Objektiv erklärt ist hier bei verständiger Würdigung die Maßgeblichkeit des Prozentsatzes. Das entspricht auch dem wahren Willen der B. Für eine Irrtumsanfechtung fehlt damit von vornherein der Ansatzpunkt. Einen weiteren Anfechtungsgrund nennt § 120 BGB, wenn eine Willenserklärung durch einen Übermittlungsfehler verfälscht wurde. Beispiele: Technischer Defekt bei der Übermittlung einer sog. SMS; Falschübersetzung durch einen Dolmetscher. Da es sich hierbei letztlich um einen Erklärungsirrtum handelt, ist § 120 BGB streng genommen überflüssig: er hat nur klarstellende Bedeutung. b) Anfechtungserklärung und -folge Eine anfechtbare Willenserklärung ist zunächst einmal grundsätzlich wirksam mit dem Inhalt, der sich durch ihre am objektivierten Empfängerhorizont orientierte Auslegung ergeben hat. Die Anfechtbarkeit begründet ja nur ein (Gestaltungs-)Recht, das durch eine Erklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner, z. B. gegenüber dem Vertragspartner, ausgeübt werden muss, um seine Wirkung zu entfalten (§ 143 BGB, einseitiges Rechtsgeschäft, dessen Kern eine empfangsbedürftige Willenserklärung darstellt). Die wirksame Anfechtungserklärung auf Grund eines bestehenden Anfechtungsrechts führt nach § 142 I BGB zur Nichtigkeit des betreffenden Rechtsgeschäfts, und zwar mit rückwirkender Kraft (lat. „ex tunc“, seit damals). Damit unterscheidet sich die <?page no="118"?> 5. Anfechtbarkeit 91 Anfechtung charakteristisch von der Kündigung z. B. eines Arbeits- oder Mietvertrages. Denn die Kündigung lässt das Rechtsverhältnis für die Vergangenheit unberührt und führt nur dessen Beendigung für die Zukunft herbei (lat. „ex nunc“, von jetzt ab). Der mit der Anfechtung beabsichtigte Effekt kann selbstverständlich nur eintreten, wenn das Anfechtungsrecht z. Zt. der Anfechtung überhaupt noch existiert. Ein Rechtsverlust kann z. B. durch einen früheren Verzicht des Anfechtungsberechtigten eingetreten sein („Bestätigung“ nach § 144 BGB). In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass das Anfechtungsrecht gemäß § 121 II, 124 III BGB einer 10-jährigen Ausschlussfrist unterliegt, die mit Abgabe der irrtumsbehafteten Willenserklärung zu laufen beginnt (keine Verjährungsfrist, sondern Ausschlussfrist! ). Selbst wenn das Anfechtungsrecht noch besteht, kann die Anfechtungserklärung aber als verspätet unwirksam sein, wenn sie nämlich bei den schlichten Irrtumsfällen nicht unverzüglich (§ 121 I 1 BGB) bzw. bei Irrtum auf Grund arglistiger Täuschung sowie bei Drohung nicht innerhalb eines Jahres erfolgt (zur Berechnung der Jahresfrist vgl. näher § 124 II BGB mit entsprechender Anwendung einiger Verjährungsvorschriften! ). Ausnahmsweise kommt es bei der Anfechtung hinsichtlich der Rechtzeitigkeit nicht wie sonst bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen auf den Zeitpunkt des Zugangs an, sondern auf den Zeitpunkt der Erklärungsabgabe (§ 121 I 2 BGB). Die gewünschte Nichtigkeitsfolge kann der Anfechtungsberechtigte grundsätzlich nicht zum „Nulltarif“ herbeiführen. Vielmehr ist dem von der Anfechtung betroffenen Geschäftspartner regelmäßig der durch die (wirksame) Anfechtung entstandene Schaden zu ersetzen. Denn der Geschäftspartner ist ja nun in seinem Vertrauen auf den Bestand des bislang ja sogar gültigen Rechtsgeschäfts enttäuscht worden. Soweit dieses Vertrauen indes gar nicht vorhanden ist, weil der Geschädigte die Anfechtbarkeit kannte oder soweit der Geschädigte bei der im Rechtsverkehr erforderlichen Sorgfalt die Anfechtbarkeit hätte erkennen können, entfällt die Schadensersatzpflicht (§§ 122 II, 276 II BGB). Ob dem Anfechtungsberechtigten die Vermeidbarkeit seines Irrtums vorgeworfen werden kann, ist hingegen auch für seine Schadensersatzpflicht belanglos, ebenso wie umgekehrt die Irrtumsanfechtung auch bei vermeidbarem, schuldhaftem Irrtum möglich ist. Dieselbe Haftung besteht übrigens auch bei der Scherzerklärung (§§ 122 I, 118 BGB). Worin der Vertrauensschaden im Gegensatz zum hier nicht liquidierbaren Erfüllungsschaden besteht und in welchem Umfang er nach Maßgabe des § 122 I BGB zu ersetzen ist, ist nun ein eigenes Problem, das sich freilich nicht nur hier stellt. Es wird deshalb erst in einem allgemeineren schadensersatzrechtlichen Zusammenhang zu erörtern sein. <?page no="119"?> 92 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte 6. Geschäftsgrundlage Einen Berührungspunkt mit dem Irrtumskomplex weist die Problematik der Geschäftsgrundlage auf. Denn bei Verträgen kommt es vor, dass beide Parteien demselben Motivirrtum unterliegen (Fehlen bzw. Wegfall der „kleinen“ Geschäftsgrundlage) oder beide Parteien unbewusst Existenz und Fortbestand bestimmter Umstände als ganz selbstverständlich voraussetzen, von denen vernünftigerweise der Sinn des Vertrages abhängt. Da die Parteien sich gerade bei solch elementaren Umständen regelmäßig eben wegen deren Selbstverständlichkeit gar keine Gedanken gemacht haben, unterliegen sie insoweit auch keinen Fehlvorstellungen über die Realität, so dass begrifflich gar kein Irrtum (und deshalb auch kein doppelseitiger Motivirrtum) vorliegt. Derartige Umstände zählen zur „großen“ Geschäftsgrundlage. Existieren solche Umstände von vornherein nicht oder fallen sie nach Vertragsschluss weg, so fragt sich, ob die vertraglichen Bindungen wegen Fehlens bzw. Wegfall der vertraglichen Geschäftsgrundlage dann überhaupt noch Bestand haben sollen. Beispiele: Kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Freistaaten Bayern und Sachsen, Vulkanausbruch im Schwarzwald, deutsche Wiedervereinigung (selbst noch aus der Sicht des Jahres 1988), galoppierende Hyperinflation im Euro-Wirtschaftsraum: Wegfall der „großen“ Gechäftsgrundlage! Entsprechende Vorstellungen der früher h. M. über die rechtliche Behandlung der damit verbundenen Probleme hat der Gesetzgeber seit 1. 1. 2002 in die Gesetzesform des § 313 BGB gegossen. Demnach kann Vertragsanpassung im Rahmen der ansonsten bestehenden Risikoverteilung und der übrigen Umstände des Einzelfalls verlangt werden. Die grundsätzliche Unbeachtlichkeit des Motivirrtums kommt insoweit bei Fehlen oder Wegfall der „kleinen“ Geschäftsgrundlage Ist die Vertragsanpassung unmöglich opder unzumutbar, so tritt an ihre Stelle das Recht zur Vertragsauflösung durch Rücktritt §§ 346 ff. BGB, oder bei Dauerschuldverhältnissen wie z. B. Leihe, Miete, Franchising oder Abonnements von Zeitungen, Theatervorstellungen etc. durch Kündigung. Beispiele: Bundeskanzler K will der Stadt S einen Besuch abstatten und auf dem Marktplatz eine als historisch angekündigte Rede halten. Eine seiner treuesten Anhängerinnen, Frau T, vereinbart daraufhin mit X, am Besuchstag ganztägig gegen Zahlung von Euro 300 exklusiv den marktseitigen Balkon des Hauses von X benutzen zu dürfen, um ja kein Wort im Orginalton zu überhören und um das Spektakel auch optisch in allen Einzelheiten verfolgen zu können. Ganz kurzfristig wird der Besuch jedoch wegen einer Bombendrohung abgesagt: Frau T kann vom Vertrag zurücktreten und, wenn sie schon gezahlt hatte, das Geld wieder zurückverlangen (§§ 346 I, 349 BGB analog). Auch für Experten überraschend entwickelt sich der Euro hyperinflationär: Anpassung geschuldeter Zahlungen! <?page no="120"?> 7. Bedingung und Befristung 93 Die Bundeswehr putscht und unterbricht vorübergehend alle Verkehrsverbindungen: Bestehende Leistungsfälligkeiten (vgl. § 271 I BGB) verschieben sich entsprechend der Dauer der Vollsperrung. Gesetzliche oder vertragliche Sonderregelungen gehen auch hier vor: Die Vorschriften etwa über die kaufrechtliche Gewährleistung (§§ 434 ff. BGB) sind statt des § 313 BGB anwendbar, wenn eine Sache entgegen den Erwartungen von Käufer und Verkäufer mangelhaft ist. Erfüllen z. B. Ruhegeldzusagen an Arbeitnehmer wegen allseits unerwarteter, durchgreifend gestiegener Lebenshaltungskosten nicht mehr ihren Versorgungszweck, greifen allein die Spezialvorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung ein. 7. Bedingung und Befristung Durch das Rechtsgeschäft gestalten sich die Rechtssubjekte ihre Rechtswelt nach ihrem Willen. Das Gesetz ist dabei bestrebt, durch größtmögliche Flexibilität des rechtsgeschäftlichen Instrumentariums diesem Willen maximal zum Ziel zu verhelfen. Diesem Zweck dienen auch Bedingung und Befristung. Mit Hilfe dieser sog. rechtsgeschäftlichen Nebenbestimmungen lassen sich Wirkungseintritt und Wirkungsende des Rechtsgeschäfts in vielfacher Weise beeinflussen. Bedingung ist dabei nicht im landläufigen Sinne von Vertragsbedingungen zu verstehen, i. S. von Einzelpunkten also, über die Verständigung erzielt wurde. Bedingung im Kontext des § 158 BGB ist vielmehr ein in der Zukunft liegendes, ungewisses Ereignis, von dem die Wirkung eines Rechtsgeschäfts abhängig gemacht wird. Hängen Eintritt oder Ausbleiben vom Willen eines der Beteiligten ab, so spricht man von einer Potestativbedingung. Zwei Varianten kommen in Betracht: Die aufschiebende Bedingung (§ 158 I BGB) rückt die grundsätzlich ja sofort eintretende Wirkung eines Rechtsgeschäftes bis zum Bedingungseintritt hinaus. Die bekannteste, auch vom Gesetz dafür als geeignet vorgesehene Anwendungsform dieser Bedingungsmodalität ist der Eigentumsvorbehalt beim Kauf, präziser: bei der Übereignung nach § 929 S. 1 BGB (vgl. § 449 BGB): Veräußerer und Erwerber einigen sich unter Übergabe der Sache schon jetzt über den Eigentumswechsel. Die normalerweise sofort einsetzende Wirkung dieses Rechtsgeschäftes, der Eigentumserwerb des Käufers, wird aber bis zur vollständigen Kaufpreiszahlung hinausgeschoben. Ob diese Wirkung eintritt, liegt ganz beim Käufer, der ja den Bedingungseintritt durch seine Zahlungspraxis in der Hand hat (also Potestativbedingung). Ob der Verkäufer dann, wenn die Bedingung eintritt, den Eigentumswechsel noch will, ist völlig gleichgültig, <?page no="121"?> 94 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte denn die rechtlichen Voraussetzungen des Übereignungstatbestandes sind ja bereits erfüllt. Eine aufschiebende Bedingung stellt auch der Finanzierungsvorbehalt dar. Beispiel: K kauft bei V eine teure Maschine unter der Bedingung, dass die Bank B eine Kreditzusage macht: Liefer- und Zahlungspflicht (§ 433 BGB) entstehen erst, wenn B sich zur Finanzierung definitiv entschließt. Die Bedingung kann auch auflösend eingesetzt werden (§ 158 II BGB), z. B. wenn ein Kreditvertrag mit der Maßgabe geschlossen wird, dass sein Ende mit dem Verlust des Arbeitsplatzes des Kreditnehmers eintritt. Da die Bedingung begrifflich durch ihre objektive Ungewissheit gekennzeichnet ist, handelt es sich nicht um eine Bedingung i. S. der §§ 158 ff. BGB, wenn die Wirkung eines Rechtsgeschäfts von Ereignissen abhängig gemacht wird, die in der Vergangenheit liegen, aber z. Zt. des Rechtsgeschäfts den Beteiligten nicht bekannt waren. Keine echte Bedingung ist auch eine gesetzliche Voraussetzung einer Rechtswirkung (sog. Rechtsbedingung). Beispiel: V und K einigen sich über den Eigentumserwerb „unter der Bedingung der Sachübergabe“ (nach § 929 S. 1 BGB ohnedies grundsätzlich nötig). Sollen die rechtsgeschäftlichen Wirkungen nicht von einem ungewissen Ereignis, sondern von einem notwendigerweise sicher eintretenden Zeitpunkt in der Zukunft abhängig sein, so spricht man von Befristung. Dafür gelten nach § 163 BGB dieselben Regeln wie für die Bedingung, so dass aufschiebende und auflösende Befristungen zu unterscheiden sind (vgl. Abb. 15). Bei diesen Formen der Bedingung und Befristung sind wiederum beliebige Kombinationen denkbar. Beispiel: Abschluss eines Arbeitsvertrages schon am 18. 11. 2010, aber erst zum 1. 1. 2011 (aufschiebende Befristung), und zwar mit einer Laufzeit von 2 Jahren (auflösende Befristung), vorausgesetzt, dass in der anstehenden berufsqualifizierten Prüfung die Gesamtnote „gut“ erzielt wird (aufschiebende Bedingung). Nicht alle Rechtsgeschäfte können bedingt bzw. befristet abgeschlossen werden. Bedingungsfeindlich und damit wegen § 163 BGB zugleich befristungsfeindlich sind etwa die Übereignung von Grundstücken (§ 925 II BGB), weshalb es im Immobiliarbereich auch keinen Eigentumsvorbehalt geben kann. Auch ansonsten gibt es zahlreiche Einschränkungen. Neben dem hier nicht weiter interessierenden Eheschluss (§ 1311 BGB) sind dabei auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage ferner vor allem einseitige Rechtsgeschäfte zu nennen, z. B. Anfechtung, Kündigung und Aufrechnung. Für diese hat der Grundsatz in § 388 S. 2 BGB sogar seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden: Die an dem Rechtsgeschäft nicht selber beteiligte, von ihr aber betroffene Gegenseite darf nicht im ungewissen über den Wirkungseintritt gelassen werden. Ein dennoch unter eine Bedingung gestelltes Rechtsgeschäft <?page no="122"?> 8. Stellvertretung 95 auflösend aufschiebend § 158 II BGB § 158 I BGB Befristung Bedingung § 163 BGB Abb. 15: Bedingungs- und Befristungsmatrix ist nichtig, wie auch die genannten §§ 388 S. 2, 925 II BGB klar formulieren. Um zu verhindern, dass die durch den Eintritt der aufschiebenden oder den Nichteintritt der auflösenden Bedingung oder Befristung jeweils benachteiligte Partei in das Geschehen zum Nachteil der anderen Seite eingreift, hält § 162 BGB eine Fiktion bereit: Wird der Bedingungseintritt entgegen Treu und Glauben verhindert bzw. herbeigeführt, so wird dieser Vorgang von Rechts wegen einfach nicht zur Kenntnis genommen. Streng genommen ist die Vorschrift überflüssig. Sie ist nichts weiter als eine gesetzliche Ausprägung des Verbots der unzulässigen Rechtsausübung bzw. der unzulässigen Berufung auf rechtlich erhebliche Tatsachen wegen (lat.) „venire contra factum proprium“ (Unbeachtlichkeit selbstwidersprüchlichen Verhaltens). Beispiel: V verkauft dem K ein Grundstück unter der Bedingung, dass der Gemeinderat in seiner nächsten Sitzung einer Bebauung zustimmt. Kurz darauf bereut K das Geschäft und „bearbeitet“ die Ratsmitglieder so nachhaltig, dass sie ihre Zustimmung verweigern: Der Kaufvertrag ist trotz Ausbleibens der (aufschiebenden) Bedingung nunmehr wirksam, so dass K zur Kaufpreiszahlung verpflichtet ist (§ 433 II BGB). 8. Stellvertretung a) Das Grundmuster (1) Funktionen der Stellvertretung Die Stellvertretung (oder kurz: Vertretung) erfüllt in der Rechtsordnung zahlreiche Funktionen: Wo das Recht einer Person die Möglichkeit vorenthält, selbst wirksame Willenserklärungen abzugeben, muss die fehlende oder wenigstens eingeschränkte Geschäftsfähigkeit dieser Person dadurch ausgeglichen werden können, dass ein vom Gesetz bestimmter Vertreter an ihrer Stelle handelt, die rechtlichen Folgen also dieselben sind, als ob jene Person <?page no="123"?> 96 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte eine rechtlich beachtliche Willenserklärung abgegeben hätte. Ähnlich liegen die Dinge bei den juristischen Personen und den Gesamthandsgemeinschaften. Sie sind zwar, ihrem juristischen Wesen entsprechend, als nur gedankliche Zuordnungspunkte für Rechte und Pflichten rechtsfähig, selber aber eigentlich gar nicht handlungsfähig. Nur durch das Handeln ihrer Organe (z. B. Vorstand bei der AG, Geschäftsführer bei der GmbH, ausgewählte oder alle Gesellschafter zusammen bei den Personengesellschaften) werden sie in die Lage versetzt, sich am Rechtsverkehr zu beteiligen. Schließlich ist die Stellvertretung Ausdruck der Arbeitsteilung, die bereits im privaten, vor allem aber im geschäftlichen Rechtsverkehr von Bedeutung ist. Beispiel: Während der Geschäftsinhaber gerade in Mailand einen Termin wahrnimmt, können zur selben Zeit durch seine dazu mit entsprechender rechtlicher Kompetenz ausgestatteten Vertreter in Stuttgart, Frankfurt und Dortmund Verträge abgeschlossen werden, die den Geschäftsinhaber berechtigen und verpflichten. Die Vertretungspersonen hingegen, die die Willenserklärungen abgegeben oder entgegengenommen haben (aktive bzw. passive Stellvertretung, vgl. § 164 III BGB), werden von den Wirkungen ihrer Erklärung nicht berührt (vgl. Abb. 16). Deshalb reicht es aus, dass der Vertreter nur beschränkt geschäftsfähig ist (§ 165 BGB, wegen § 107 BGB letztlich überflüssig). Denn ihm erwachsen ja aus der Vertretung keinerlei Rechtswirkungen, insbesondere keinerlei Nachteile, so dass der mit der Einschränkung der Geschäftsfähigkeit verfolgte Schutzzweck hier nicht tangiert ist. Derjenige, der bei alledem vertreten wird, soll in Folgendem mit einem vor allem im Handelsrecht geläufigen Begriff „Prinzipal“ genannt werden, (vgl. § 55 IV HGB), derjenige, der mit dem (Stell-)Vertreter in rechtsgeschäftlichen Kontakt tritt, „Dritter“. Unter dem Prinzipal muss man sich nun nicht immer den „Chef“ vorstellen: Prinzipal kann auch das kleine, wegen § 104 Nr. 1 BGB geschäftsunfähige Kleinkind sein, das durch seine gesetzlichen Vertreter, seine Eltern (§§ 1626, 1629 BGB) am Rechtsverkehr teilnimmt. Das personelle Auseinanderfallen von Erklärungstatbestand und Erklärungsfolge lässt sich nur dort realisieren, wo es um Effekte geht, die in der geistigen Sphäre beheimatet sind, sprich: nur bei Rechtsgeschäften. Bei Realakten kann es keine Vertretung geben: Wenn A dem B eine Ohrfeige gibt, „brennt“ zwangsläufig die Backe des B. Eine „Überleitung“ der Schmerzen auf C ist vollkommen ausgeschlossen, auch wenn alle Beteiligten dies wünschen sollten. Aber nicht einmal alle Rechtsgeschäfte sind einer (rechtsgeschäftlich begründeten) Vertretung zugänglich. Ausgenommen davon sind die sog. höchstpersönlichen Rechtsgeschäfte, die vor allem im Familien- und Erbrecht vorkommen (vgl. für die Eheschließung § 1311 BGB sowie für die Testamentserrichtung § 2064 BGB). Wirtschaftsprivatrechtlich einschlägig ist etwa <?page no="124"?> 8. Stellvertretung 97 Abb. 16: Wirkungsweise der Stellvertretung § 48 HGB, der die Bestellung eines Prokuristen dem Geschäftsinhaber vorbehält; ist der „Inhaber des Handelsgeschäfts“ eine Handelsgesellschaft, wird sie dabei ihrerseits durch ihre Organe als „gesetzliche Vertreter“ vertreten: Der Prokurist einer AG etwa wird durch deren Vorstand bestellt (vgl. § 78 AktG). Ein Prokurist kann also keinen weiteren Prokuristen ernennen. Höchstpersönlich sind ferner Anmeldung von Firma und Prokura zur Eintragung im Handelsregister sowie die bei Gericht zu hinterlegende Unterschrift mit der Firma (§§ 29, 53 HGB). Auch die Unterzeichnung des Jahresabschlusses ist Sache des Prinzipals selber (§ 245 HGB). Ist der Prinzipal keine natürliche Person, so muss auch bei höchstpersönlichen Rechtsgeschäften dann doch eine Vertretung stattfinden, allerdings eine sog. organschaftliche Vertretung. Beispiel: Die Jahresbilanz einer AG ist vom Vorstand zu unterzeichnen. In dem so vorgezeichneten Rahmen hängt der spezifische Effekt der Stellvertretung gemäß § 164 I BGB grundsätzlich von zwei Voraussetzungen ab: vom Handeln im fremden Namen und davon, dass die Willenserklärung ihrem Inhalt nach von der Befugnis zur Vertretung, von der Vertretungsmacht, gedeckt ist. Durch diese Kriterien unterscheidet sich die Stellvertretung zugleich charakteristisch von (scheinbar) verwandten Erscheinungen: Der Kommissionär beispielsweise (vgl. §§ 383 ff. HGB) handelt rechtsgeschäftlich definitionsgemäß immer im eigenen Namen (freilich für fremde Rechnung), ist also gerade kein Vertreter (für den Spediteur gilt dies gemäß § 454 III HGB nur grundsätzlich). Und der (Erklärungs-)Bote gibt selber überhaupt keine eigene Erklärung ab, sondern transportiert nur eine fremde Erklärung, letztlich nicht <?page no="125"?> 98 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte anders als die Brieftaube („Mein Chef lässt sagen, er nehme das Angebot an.“). Ebenso wenig gibt der Erklärungshelfer eine eigene Erklärung ab: Er ist letztlich nur Vollzugsinstrument eines fremden Willens. Im Schriftverkehr zeichnet der Erklärungshelfer in der Mitarbeiterhierarchie etwa der Sachbearbeiter oder die Sekretärin üblicherweise mit „i. A.“ (im Auftrag). Die Parallelerscheinung bei der Entgegennahme von Willenserklärungen ist der sog. Empfangsbote. (2) Das Vertreterhandeln Das Gesetz geht als selbstverständlich davon aus, dass grundsätzlich die Rechtsfolgen von Willenserklärungen denjenigen treffen, der diese Erklärungen abgegeben hat. Grundsätzlich wird also im eigenen Namen gehandelt (sog. Eigengeschäft). Soll etwas anderes gelten, so muss dies jedenfalls zum Ausdruck gebracht werden. Es bedarf also eines erkennbaren Handelns im fremden Namen, ohne dass dabei nun gerade die Worte „im Namen von...“ oder „in Vertretung von...“ fallen müssten. Beispiele: Frau Li, Logistikmanagerin in einem großen Handelsunternehmen, meldet sich am Telefon mit „Firma Global, Li am Apparat“. Frau Li benutzt zur Erteilung eines Transportauftrags an einen Geschäftspartner Geschäftspapier mit entsprechendem Briefkopf. Das Risiko, dass dieses sog. Vertreterhandeln bei Zugrundelegen des objektivierten Empfängerhorizontes verkannt wird, weil es zu wenig deutlich gemacht wurde, trägt der Erklärende: Seine Erklärung gilt als im eigenen Namen abgegeben, und zwar ohne die Möglichkeit einer Anfechtung wegen Inhaltsirrtums (dies ist der Sinn des § 164 II BGB). Beispiel: Herr Alfons Adamowski, Alleingesellschafter und zugleich Alleingeschäftsführer der Adamowski-GmbH, bestellt umfangreiche Software, wobei er sich mit „Adamowski“ vorstellt und als Adresse „Frankfurter Allee 35“ angibt. Dort befinden sich im Erdgeschoss die Büroräume der Gesellschaft, zugleich aber im 1. Stock auch die Privatwohnung von Herrn Adamowski: Eigengeschäft! Herr Adamowski haftet für den Kaufpreis mit seinem Privatvermögen! Dieses sog. Offenkundigkeitsprinzip wird freilich durchbrochen bei den Bargeschäften des täglichen Lebens, bei denen dem Dritten die Person seines Vertragspartners gleichgültig ist, weil es um Kleinstbeträge geht und die vertraglichen Pflichten beiderseits sofort vollständig erfüllt werden (sog. Geschäft für den, den es angeht). Als Ausnahme ist dies allerdings eng, „restriktiv“ zu interpretieren. Eine Ausnahme vom Offenkundigkeitsprinzip stellt auch der in der Praxis sehr wichtige, da sehr extensiv ausgelegte § 1357 BGB (sog. Schlüsselgewalt) dar: Bei Geschäften „zur angemessenen Deckung des <?page no="126"?> 8. Stellvertretung 99 Lebensbedarfs der Familie“ treffen die rechtsgeschäftlichen Wirkungen immer sowohl den handelnden Ehegatten selber als auch den anderen Ehegatten, ohne dass es auf irgendein erkennbares Vertreterhandeln des aktiven Ehegatten ankäme. Verwandt mit der Stellvertretung, aber nicht identisch damit ist das Handeln unter fremdem Namen (Pseudonym). Bei einer solchen sog. Inkognito- Erklärung ist zu unterscheiden: Kommt es dem Dritten bei verständiger Würdigung (objektivierter Empfängerhorizont! ) auf den echten Namensträger an, so hat der Erklärende im fremden Namen, anstelle des echten Namensträgers, gehandelt. Steht bei dem Dritten die mit ihm verhandelnde Person für sein Kalkül im Vordergrund, spielt also der Name für ihn gar keine Rolle, so liegt trotz der Beilegung des fremden Namens ein Eigengeschäft des Erklärenden vor. Beispiele: Herr Petz aus Pegnitz bestellt in dem völlig ausgebuchten Sporthotel in Mecklenburg-Vorpommern ein Appartement für „Dr. Kohl und Gattin, Oggersheim bzw. Berlin“, wobei er sich als „Dr. Kohl“ vorstellt. Nicht völlig überraschend ist dann doch noch etwas, freilich in der sehr gehobenen Preisklasse, frei und wird für den gleichnamigen früheren Bundeskanzler reserviert: kein Eigengeschäft von Herrn Petz! Die berühmte Sängerin Silvia Sedelmann ist ständig auf der Flucht vor Reportern. Als sie ein paar Tage Urlaub einlegen kann, fährt sie getarnt mit Sonnenbrille und Perücke kurz entschlossen an die Ostsee und erkundigt sich beim Empfangschef eines Nobelhotels nach freien Zimmern. Der Empfangschef bejaht und fragt: „Welchen Namen darf ich notieren? “ Silvia Sedelmann antwortet: „Bitte Felicitas Fedelmann! “, der ihr spontan eingefallene Name einer ihr flüchtig bekannten Friseurhelferin: Eigengeschäft von Frau Sedelmann! (3) Die Vertretungsmacht Bei alledem reicht das als solches erkennbare Vertreterhandeln allein nicht aus, um die rechtsgeschäftlichen Wirkungen von der Person des Erklärenden fernzuhalten und sie dem Prinzipal zuzuweisen. Erforderlich ist dazu vielmehr noch eine entsprechende rechtliche Kompetenz des Stellvertreters, eine Vertretungsmacht. Teilweise wurzelt die Vertretungsmacht unmittelbar im Gesetz: So haben z. B. beide Elternteile zusammen nicht jeder für sich! für ihre minderjährigen Kinder fast umfassende gesetzliche Vertretungsmacht (§§ 1626 I, 1629 BGB; Ausnahmen: §§ 1641, 1643 BGB; auffällige Wirkungsbeschränkung in § 1629a BGB). Ein Unterfall gesetzlicher Vertretungsmacht ist auch die sog. organschaftliche Vertretungsmacht, nämlich Befugnis insbesondere der Gesellschaftsorgane, die Gesellschaft zu vertreten (vgl. §§ 125 f. HGB für die OHG, § 78 AktG für die AG). Auch die bereits im Zusammenhang mit dem Vertreterhandeln skizzierte sog. Schlüsselgewalt <?page no="127"?> 100 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte der Ehegatten (§ 1357 BGB) ist zum Komplex gesetzlicher Vertretungsmacht zu rechnen, im weiteren Sinne auch die behördlich begründete Vertretungsmacht des sog. Betreuers nach § 1902 BGB. Das Gesetz kennt nicht zuletzt aber auch die Variante, dass die Vertretungsbefugnis auf dem Willen des Prinzipals (oder einer diesen vertretenden Person) beruht. Diese, und nur diese „gewillkürte“, auf Rechtsgeschäft beruhende Vertretungsmacht heißt Vollmacht (vgl. § 166 II 1 BGB). Auch Prokura und Handlungsvollmacht, die speziellen Repräsentationsformen des Handelsrechts (vgl. §§ 48 ff., 54 f. HGB), sind hierher zu zählen, obwohl das Gesetz den sachlichen Umfang der Vertretungsmacht von Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten mehr oder weniger festlegt. Denn der Erteilungsakt ist ja auch hier rechtsgeschäftlicher Natur. Einen groben Überblick über den Formenreichtum der Vertretungsmacht gibt Abb. 17. Die Vollmacht wird vom Prinzipal gemäß § 167 I BGB durch einseitiges, empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft erteilt, und zwar regelmäßig gegenüber dem Vertreter (sehr missverständlich auch „Innenvollmacht“ genannt). Einer bestimmten Form der Erklärung bedarf es dabei nach § 167 II BGB selbst dann nicht, wenn das Geschäft, auf das sich die Vollmacht bezieht, formbedürftig wäre. Beispiel: Grundstückseigentümer E bevollmächtigt den V mündlich zur Veräußerung des Grundstücks: wirksame Vollmacht, obwohl der Kaufvertrag der Form des § 311b I 1 BGB unterliegt. Zu den seltenen Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit der Bevollmächtigung zählt z. B. § 2 II GmbHG. Gelegentlich lässt der Prinzipal die Person des Vertreters in der (schriftlichen) Erklärung noch offen und überlässt deren Ausfüllung einem Dritten, möglicherweise dem späteren Vertreter selber (sog. Blankovollmacht). Dass jemandem gegen seinen Willen Vertretungsmacht erteilt werden kann, ist auf den ersten Blick überraschend. Man muss sich aber vor Augen halten, dass damit dem Vertreter nur eine Befugnis im Außenverhältnis zu Dritten zuwächst, nicht aber eine Verpflichtung zum Tätigwerden begründet wird. Eine solche Verpflichtung kann nur aus einem Vertrag zwischen dem Prinzipal und dem Vertreter, namentlich aus einem Dienstvertrag unter Einschluss des Arbeitsvertrages (§§ 611 ff. BGB), aus einem Auftragsverhältnis (§ 662 BGB) etc. resultieren (sog. Grundverhältnis). Im Innenverhältnis sind also die (einseitige) Bevollmächtigung und das ihr wirtschaftlich und psychologisch zugrunde liegende Vertragsverhältnis, das auf Seiten des Vertreters Handlungspflichten, aber eventuell auch Vergütungsansprüche auslöst, gedanklich auseinanderzuhalten. <?page no="128"?> 8. Stellvertretung 101 Vertretungsmacht gesetzliche gewillkürte ("Vollmacht", § 166 II BGB) elterliche, §§ 1626, 1629 BGB; des Betreuers, § 1902 BGB organschaftliche (z. B. § 78 AktG) "Schlüsselgewalt" der Ehegatten, § 1357 BGB bürgerlichrechtliche (§ 164 BGB) handelsrechtliche Prokura (§ 48 HGB) Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) General- Art- Spezial- Abb. 17: Arten der Vertretungsmacht Obwohl also die Bevollmächtigung gegenüber dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis (Grundverhältnis) rechtlich grundsätzlich losgelöst, also „abstrakt“ ist, gibt es doch Zusammenhänge, insbesondere hinsichtlich des Erlöschens der Vollmacht. So entfällt gemäß § 168 S. 1 BGB mit dem Ende des Anstellungsverhältnisses gleichsam automatisch auch die dem Mitarbeiter beispielsweise als Einkäufer oder Personalchef erteilte Vertretungsmacht zum Abschluss von Beschaffungsverträgen oder zur Einstellung und Kündigung von Arbeitnehmern. Eines Widerrufs der Vollmacht bedarf es insoweit also nicht. Ein solcher isolierter Widerruf ist aber prinzipiell immer möglich, auch wenn das Anstellungsverhältnis fortbesteht, es sei denn, die Vollmacht wäre unwiderruflich erteilt worden (§ 168 S. 2 BGB). Für den Widerruf gilt das für die Bevollmächtigung Gesagte entsprechend (§ 168 S. 3 BGB): Er erfolgt durch einseitiges, formloses Rechtsgeschäft. Gerade die Formlosigkeit der Bevollmächtigung, das Unkomplizierte ihrer Erteilung, bedeutet in der Praxis aber eine erschwerte Handhabung, denn der Dritte weiß ja nicht so recht, ob er sich auf die vom Vertreter behauptete Vertretungsmacht auch wirklich verlassen kann. Und diese Zurückhaltung des Dritten beeinträchtigt wiederum den Prinzipal in der Erreichung jener Ziele, die er mit der Bevollmächtigung gerade effektiver verfolgen wollte. Deshalb wird nicht selten über die erteilte Vollmacht ein Schriftstück verfasst, das dem Dritten bei Bedarf vorgelegt werden kann, um seine Zweifel zu zerstreuen. Juristisch handelt es sich auch bei einem solchen Schriftstück um eine Ur- <?page no="129"?> 102 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte kunde. Denn Urkunde ist alles, was eine Willensäußerung in verkörperter Gestalt enthält und auf einen bestimmten Aussteller zurückgeführt werden kann. Der Urkundsbegriff umfasst also sowohl die feierliche Ausfertigung auf Pergament mit Siegel bis hin zu gefällten Bäumen mit Brandzeichen zur Zuordnung an denjenigen, der das Holz ersteigert hat. Legt der Vertreter dem Dritten nun eine Vollmachtsurkunde vor, die ihm vom Prinzipal ausgehändigt wurde, so führt ein bloßer Widerruf der Vollmacht ausnahmsweise noch nicht zu ihrem Erlöschen. Die Vertretungsmacht bleibt vielmehr so lange erhalten, bis die Vollmachtsurkunde eingezogen oder der Dritte von dem Widerruf in Kenntnis gesetzt wird (§§ 172, 171 BGB). Regelungstechnisch knüpft das Gesetz dabei daran an, dass dem Dritten vom Prinzipal Mitteilung über die Bevollmächtigung gemacht oder die Bevollmächtigung sogar öffentlich bekannt gegeben wurde. Auch in diesen Fällen führt nicht schon der Widerruf selber zum Erlöschen der Vollmacht, sondern erst eine gegenteilige Mitteilung bzw. Bekanntmachung. Damit nicht verwechselt werden darf, dass das Gesetz eine in der Praxis völlig unübliche Variante der Bevollmächtigung durch Erklärung gegenüber dem Dritten selber vorsieht (vgl. nochmals § 167 I BGB, sehr missverständlich „Außenvollmacht“ genannt). Dann müsste natürlich auch diesem gegenüber widerrufen werden bzw. wenn die Vollmacht aus anderen Gründen erlischt (§ 168 I BGB! ), dem Dritten das Erlöschen wenigstens angezeigt werden (§ 170 BGB). In Anlehnung an die §§ 171 f. BGB kennt die h. M. die Rechtsfigur der Duldungs- und der Anscheinsvollmacht: Weiß der Prinzipal, dass jemand als Vertreter auftritt, ohne dazu von ihm ausdrücklich bevollmächtigt worden zu sein, unternimmt er aber nichts dagegen, so wird dies als stillschweigende Bevollmächtigung angesehen (Duldungsvollmacht). Weicht der objektive Erklärungsgehalt dieser Duldung von dem Willen des Prinzipals ab, so muss hier aber eine Anfechtung wegen Irrtums nach § 119 I BGB möglich sein, so wie wenn die Bevollmächtigung ganz regulär erfolgt wäre. Bei der Anscheinsvollmacht hingegen tritt der Vertreter als solcher vom Prinzipal unbemerkt auf, der Prinzipal hätte von diesem Vorgang aber Kenntnis erlangen können. Hinzu kommt, dass der Prinzipal das Auftreten des Vertreters irgendwie begünstigt hatte (z. B. durch Überlassen von Bestellformularen oder durch schlechte Unternehmensorganisation ohne klare Zuständigkeiten und ohne effektive Kontrollmechanismen). Dann muss sich der Prinzipal diesen von ihm verantwortlich gesetzten Rechtsschein einer Bevollmächtigung nach h. M. zurechnen (bei Geschäftsfähigkeit) lassen, und zwar ohne Anfechtungsmöglichkeit. Für die Zukunft kann der Prinzipal freilich dafür sorgen, dass der Rechtsscheintatbestand nicht länger aufrechterhalten bleibt. Einen gesetzlich geregelten Fall der Anscheinsvollmacht bildet § 56 HGB: <?page no="130"?> 8. Stellvertretung 103 Wer in einem Laden oder in einem offenen Warenlager angestellt ist, gilt als bevollmächtigt zu den dort gewöhnlich vorkommenden Verkäufen und Empfangnahmen. Beispiel: Einigen sich der Kunde K und die Dame D hinter der Kasse des Selbstbedienungsladens über den Abschluss eines Kaufvertrages bezüglich der auf dem Band liegenden Waren, so kommt ein wirksamer Kaufvertrag zwischen K und dem Geschäftsinhaber G, vertreten durch D, auch dann zustande, wenn G der D dazu gar keine Vollmacht erteilt haben sollte. Beachte, dass D gar nicht die „Verkäuferin“ ist, obwohl sie im Alltagssprachgebrauch so heißt. Verkäufer im Rechtssinne, also mit den Rechten und Pflichten aus §§ 433 ff. BGB, ist G. Haben mehrere Personen Vertretungsmacht, so sind zwei rechtliche Gestaltungen möglich: Entweder kann jeder von seiner Vertretungsmacht unabhängig vom anderen Gebrauch machen (Einzelvertretungsmacht), oder die Vertretungsmacht kann nur gemeinschaftlich, im Einvernehmen aller Vertretungsbefugten, ausgeübt werden (Gesamtvertretungsmacht). Eine solche Gesamtvertretung war bereits im Zusammenhang mit der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern angesprochen worden; sie hat ferner große Bedeutung im Handels- und Gesellschaftsrecht. Wenn ein solcher Gesamtvertretungsberechtigter ohne die übrigen Vertretungsbefugten Willenserklärungen abgibt (aktive Vertretung), dann fehlt ihm die Vertretungsmacht dazu ebenso, wie wenn die Erklärung eines Vertretungsbefugten ihrem Inhalt nach nicht von der Vertretungsmacht gedeckt ist. In Analogie zu § 1629 I 2, 2. Halbs. BGB bei der Passivvertretung des minderjährigen Kindes durch die Eltern und analog § 125 II 3 HGB, der die Gesamtvertretung im Zusammenhang mit der OHG regelt, ist bei der passiven Vertretung jedoch ganz allgemein jeder Gesamtvertreter einzeln zur Vertretung imstande. Fehlt nun die Vertretungsmacht für das in Rede stehende Rechtsgeschäft, so treten die Rechtswirkungen jedenfalls nicht zwischen dem Dritten und dem Prinzipal ein, da die Voraussetzungen des § 164 I BGB ja nicht erfüllt sind. Dies ist allerdings bei Verträgen keine Nichtigkeit, sondern ein Zustand sog. schwebender Unwirksamkeit. Denn der „Vertretene“ kann das Geschäft noch an sich ziehen, indem er gleichsam die Vollmacht nachschiebt und seine Genehmigung zu dem Geschäft erteilt (§ 177 I BGB). Bei einseitigen Rechtsgeschäften, die der Vertreter ohne Vertretungsmacht vornimmt (z. B. Kündigung), ist hingegen Nichtigkeit die reguläre Folge (vgl. § 180 BGB, auch mit seinen verschiedenen Varianten). Eine merkwürdige Regelung enthält § 174 S. 1 BGB: Ein einseitiges Rechtsgeschäft des Vertreters ist selbst dann unwirksam, wenn der Vertreter zwar entsprechend bevollmächtigt ist, diese Bevollmächtigung aber nicht in schriftlicher Form, durch Vorlage der originalen „Vollmachtsurkunde“, nachweisen kann und der Erklärungsadressat dies „unverzüglich“ (vgl. § 121 I 1 BGB) rügt (Ausnahme wiederum in § 174 S. 2 BGB). <?page no="131"?> 104 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte Das Privatrecht unterscheidet übrigens streng zwischen „Zustimmung“, „Einwilligung“ und „Genehmigung“ und hält dazu Legaldefinitionen an versteckter Stelle bereit: Nach §§ 183 S. 1, 184 I BGB heißt die vorherige Zustimmung „Einwilligung“, die nachträgliche Zustimmung „Genehmigung“. „Zustimmung“ ist also der Oberbegriff. Im Öffentlichen Recht hingegen geht es terminologisch ziemlich durcheinander: Da man die „Baugenehmigung“ ja vor dem Baubeginn erwirken muss, handelt es sich in Wahrheit also um eine „Baueinwilligung“. Um den Schwebezustand zu beenden, kann der Dritte seinerseits den Prinzipal zur Erklärung auffordern. Ist dann binnen zwei Wochen keine Genehmigung erfolgt, so gilt die Genehmigung als verweigert (§ 177 II BGB; auch hier keine Anfechtungsmöglichkeit des Prinzipals mit dem Hinweis darauf, dies habe er aber in Wahrheit gar nicht gewollt! ). Das Rechtsgeschäft ist dann im Verhältnis zum Prinzipal endgültig unwirksam, nichtig. Statt den Prinzipal zur Entscheidung zu drängen, kann der Dritte freilich grundsätzlich auch selbst den Schwebezustand beenden, indem er widerruft (vgl. § 178 BGB). Wird der Vertrag, den der Vertreter ohne Vertretungsmacht (lat. „falsus procurator“) geschlossen hat, nicht genehmigt, so muss nach § 179 BGB differenziert werden. Überhaupt keine Verantwortung hat der falsus procurator zu tragen, wenn der Dritte wusste oder vorwerfbar nicht wusste (vgl. zur Legaldefinition des „Kennenmüssens“ in § 179 III BGB die §§ 122 II, 276 II BGB), dass die Vertretungsmacht fehlte. Keine Verantwortung trifft auch den nur beschränkt geschäftsfähigen falsus procurator. War er überhaupt geschäftsunfähig (z. B. psychisch schwer erkrankt, § 104 Nr. 2 BGB), so ist der ganze Vorgang wegen § 105 I BGB ja ohnedies rechtlich unbeachtlich. Wusste der Dritte nicht und hätte er auch nicht wissen müssen, dass es sich bei dem Vertreter um einen falsus procurator handelt, und greift demzufolge § 179 III BGB nicht ein, so kommt es nunmehr nach § 179 II BGB darauf an, ob der falsus procurator sich als solchen erkannt hat (Kennenmüssen spielt hier keine Rolle! ): Ist dies nicht der Fall, haftet der falsus procurator auf den Ersatz des Vertrauensschadens, der Höhe nach begrenzt auf das Erfüllungsinteresse. Wusste der Dritte um die Stellung des falsus procurator nicht und hätte es auch nicht wissen müssen und kannte der falsus procurator diese seine Stellung, greifen also weder § 179 III noch § 179 II BGB, so muss nach § 179 I BGB der falsus procurator den Vertrag als Eigengeschäft gegen sich gelten lassen oder nach Wahl des Dritten Schadensersatz wegen des Erfüllungsinteresses leisten. Letzteres dürfte die praktische Regel sein, weil der Vertreter zur Vertragserfüllung durchweg gar nicht imstande sein wird, wenn andere Leistungen als lediglich Geldleistungen geschuldet werden. Beispiel: P bevollmächtigt in der Neujahrsnacht schon stark angetrunken, äußerlich aber sehr beherrscht, seinen langjährigen Mitarbeiter V, die Renovierung der Geschäftsräume in die eigene Hand zu nehmen. Schon am 2. 1. schließt V <?page no="132"?> 8. Stellvertretung 105 namens des P einen entsprechenden Vertrag mit dem Malermeister M ab. Da die Bevollmächtigung wegen § 105 II BGB unwirksam war, hat V als falsus procurator gehandelt. Es ist also kein Vertrag zwischen P und M wirksam zustande gekommen. Verweigert P nachträglich die Zustimmung, so muss V, der das Fehlen der Vertretungsmacht nicht kannte, nur den Vertrauensschaden ersetzen (§ 179 II BGB). Ein völliger Haftungsausschluss nach § 179 III BGB greift nicht ein, weil M von den besonderen Umständen der Bevollmächtigung weder etwas wusste noch wissen musste. Einzuprägen hat man sich bei der Frage der Haftung des falsus procurator die Prüfungslogik: Man hat immer mit § 179 III BGB zu beginnen, weil er zum völligen Haftungsausschluss führt. Dann ist § 179 II BGB abzuklären. Erst wenn auch seine spezielle Anwendungsvoraussetzung nicht Platz greift, kommt es schließlich zur allgemeinen Haftungsregel des § 179 I BGB. Das Verständnis dieser Normen erschließt sich also nur durch systematische Interpretation. Vom Handeln ohne (entsprechende) Vertretungsmacht ist begrifflich der Fall des Missbrauchs der Vertretungsmacht zu trennen. Ein solcher Missbrauch liegt vor, wenn der Vertreter sich zwar im Rahmen der ihm erteilten Vertretungsmacht bewegt, dabei aber Pflichten aus dem Vertragsverhältnis mit dem Prinzipal verletzt. Der Vertreter kann hier rechtlich im Außenverhältnis mehr, als er im Innenverhältnis darf. Eine solche Diskrepanz ist wegen der grundsätzlichen Abstraktheit der Vollmacht von dem ihr zugrunde liegenden Rechtsverhältnis durchaus möglich, jedoch aufs Ganze gesehen nicht allzu häufig, weil der Prinzipal ja die Vertretungsmacht an sich beliebig beschränken kann. Ausnahmsweise liegt der Umfang der Vollmacht aber gesetzlich fest, so dass der Missbrauch der Vertretungsmacht in diesem Rahmen keineswegs so selten ist. Paradebeispiel dafür ist die Prokura. Da der die Vertretungsmacht missbrauchende Vertreter insoweit ja Vertretungsmacht hat, finden die §§ 177 ff. BGB keine Anwendung: Vielmehr kommt der Vertrag grundsätzlich zwischen dem Dritten und dem Prinzipal zustande. Dies gilt nach h. M. nur dann nicht, wenn der Vertreter und der Dritte zum Nachteil des Prinzipals bewusst zusammenwirken (sog. Kollusion) oder wenigstens der Dritte erkennt, dass der Vertreter von seiner Vertretungsmacht unter Verletzung von Pflichten im Innenverhältnis Gebrauch macht. Dann wird man § 177 BGB also analog anzuwenden haben. Auch das Verbot des In-Sich-Geschäfts (Selbstkontrahieren) bzw. der Doppelvertretung nach § 181 BGB hat nichts mit einem Fehlen der Vertretungsmacht zu tun: Auch hier hat der Vertreter durchaus Vertretungsmacht für das betreffende Geschäft. Das Gesetz möchte jedoch nicht, dass der Vertreter sowohl auf der Seite des Prinzipals als auch auf der eigenen Seite steht (der Vertreter also zugleich Dritter ist! ), um schwer lösbare Interessenkollisionen zu vermeiden. Dieselbe Erwägung greift durch, wenn ein und dieselbe Person den Prinzipal und zugleich den Dritten vertritt. Aus diesem Schutz- <?page no="133"?> 106 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte zweck erklären sich auch die in § 181 BGB vorgesehenen Ausnahmen. Wirtschaftsprivatrechtlich bedeutsam ist § 181 BGB vor allem im Gesellschaftsrecht, etwa wenn zu klären ist, ob der (Allein-)Geschäftsführer einer GmbH an sich selber als (Allein-)Gesellschafter Gesellschaftsgewinne ausschütten kann. Die höchstrichterliche Rechtsprechung wendet § 181 BGB aus Gründen teleologischer Interpretation bei der gesetzlichen Vertretung geschäftsunfähiger Personen (vgl. § 104 Nr. 1 BGB) übrigens nicht an, wenn das betreffende Rechtsgeschäft für den Vertretenen unter 7 Jahren lediglich rechtlich vorteilhaft ist. Das ist nach der Gesetzessystematik zwar alles andere als überzeugend, führt aber zu den praktisch erwünschten Ergebnissen. Beispiel: Vater V und Mutter M möchten ihrem 5-jährigen ehelichen Kind K mit einem Bär aus Plüsch zu Weihnachten eine Freude machen: V und M können sowohl im eigenen Namen als auch zugleich im Namen des K und innerhalb ihrer ihnen als Eltern zustehenden Vertretungsmacht für K nach §§ 1626, 1629 BGB schenken (§ 516 BGB) und übereignen (§ 929 S. 1 BGB), ohne daran durch § 181 BGB gehindert zu sein. b) Prokura Die Prokura ist im Kern nichts weiter als eine Vollmacht mit gesetzlich weitgehend festgelegtem Umfang. Für diese Vollmacht, ihre Erteilung, Ausübung und ihre Wirkungen gelten deshalb grundsätzlich die §§ 164 ff. BGB, sofern in den §§ 48 ff. HGB nichts anderes bestimmt ist. Wie § 48 I HGB deutlich zeigt, kann Prokura aber nur im Rahmen eines Handelsgewerbes (§§ 1 ff. HGB) erteilt werden, und zwar nur vom Geschäftsinhaber, dem Kaufmann, selber bzw. (bei sog. Personenhandelsgesellschaften wie namentlich OHG und KG und bei juristischen Personen) durch die zuständigen Organpersonen (höchstpersönliches Rechtsgeschäft). Prokura kann auch einem beschränkt Geschäftsfähigen erteilt werden (§ 165 BGB), was in Familienunternehmungen hinsichtlich der heranwachsenden Kinder kurz vor Erreichung des 18. Lebensjahres durchaus vorkommt. Die Erteilung erfolgt wie jede Bevollmächtigung (vgl. § 167 I BGB) durch einseitiges Rechtsgeschäft, für das auch die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen (Geschäftsfähigkeit des Kaufmanns, Zugang) erfüllt sein müssen. Auch die Prokuraerteilung ist gegenüber dem ihr wirtschaftlich regelmäßig zugrunde liegenden Arbeitsverhältnis abstrakt, so dass die Prokura etwa wirksam sein kann, obwohl es das Arbeitsverhältnis (das Grundverhältnis) nicht ist. Und bei der Prokuraerteilung an Familienangehörige dürfte es gelegentlich an einem solchen Grundverhältnis ja überhaupt fehlen. Im Gegensatz zur bürgerlichrechtlichen Bevollmächtigung muss nach § 48 I <?page no="134"?> 8. Stellvertretung 107 HGB die Erteilung „ausdrücklich“ sein. Dies ist nicht dasselbe wie Schriftlichkeit der Erteilung; vieles Geschriebene ist mehr als zweideutig. Die geforderte Ausdrücklichkeit steht vielmehr im Gegensatz zur Erklärung eines rechtsgeschäftlichen Willens durch ein Verhalten, das auf einen bestimmten Willen schließen lässt (schlüssiges, „konkludentes“ Erklärungsverhalten). Regelmäßig müssen also beim Erteilungsakt die Begriffe „Prokura“ oder „Prokurist“ mündlich oder schriftlich auftauchen. Dagegen ist die nach § 53 I HGB geforderte (Anmeldung zur) Eintragung im Handelsregister keine Wirksamkeitsvoraussetzung: Die Eintragung wirkt hier nicht anders als beim Kaufmann gemäß § 1 II HGB nur deklaratorisch. Ebenfalls im Gegensatz zur bürgerlichrechtlichen Vollmacht, die ganz oder teilweise übertragbar ist (Untervollmacht), kann die Prokura nicht übertragen werden (§ 52 II HGB), selbst wenn der Prinzipal dies wollte (vgl. § 52 II gegenüber § 58 HGB! ). Damit die rechtsgeschäftlichen Wirkungen der vom Prokuristen abgegebenen oder entgegengenommenen Willenserklärungen in der Person des Prinzipals eintreten, bedarf es auch hier zunächst einmal eines Vertreterhandelns, wofür § 51 HGB Zeichnung mit der Firma unter Beifügung eines die Prokura andeutenden Zusatzes verlangt. Diese Vorschrift ist sehr missverständlich. Sie verleitet zunächst zu der Fehlvorstellung, als könne der Prokurist bei der aktiven Vertretung nur schriftlich tätig werden („...zeichnen“). Außerdem ist § 51 HGB viel zu scharf gefasst. Entgegen dem Wortlaut enthält er nämlich mangels jeder Sanktionsnorm als sog. lex imperfecta selbst für schriftliche Erklärungen des Prokuristen nur eine Art Empfehlung, wie der Prokurist sicher den Anschein eines Eigengeschäfts vermeidet und zugleich dem Dritten den besonderen Vertreterstatus seines Verhandlungspartners signalisiert. In der Praxis hat sich dafür der Zusatz zur Firma „ppa“ (pro procura) mit nachfolgender Unterschrift eingebürgert. Macht der Prokurist aber auf andere Art und Weise deutlich, dass er als Vertreter fungieren will, so ist das genauso gut. Statusbewusstsein und soziale Disziplin innerhalb der im Unternehmen hierarchisch unterschiedlich angesiedelten Mitarbeiter sorgen freilich dafür, dass dem § 51 HGB im Rechtsverkehr durchweg Genüge getan wird. Beispiel: Prokurist Petersmann, der das britische Understatement liebt, zeichnet nicht „Fa. Schulze ppa. Petersmann“ und auch nicht „ppa. Petersmann in Fa. Schulze“, sondern nur mit der Firma oder auf Geschäftspapier nur mit seinem bürgerlichen Namen: alles für Vertreterhandeln ausreichend. Wirklich eigenes Profil gegenüber der bürgerlichrechtlichen Bevollmächtigung gewinnt der Prokurist durch die nur ihn kennzeichnende Vertretungsmacht. Ihr Umfang ist kraft Gesetzes im Großen und Ganzen zwingend festgelegt, während der Umfang der bürgerlichrechtlichen Vollmacht vom Prinzipal ja beliebig festgelegt werden kann. Etwaige nicht vom HGB selber vorgesehene Beschränkungen durch den Prinzipal ergreifen also niemals die Prokura, sondern nur das ihr zugrunde liegende Vertragsverhältnis, also das Innen- <?page no="135"?> 108 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte verhältnis (§ 50 I, II HGB). Verstößt der Prokurist gegen dort festgelegte Restriktionen, verletzt er zwar seine diesbezügliche vertragliche Unterlassungspflicht, (und muss deshalb dem Prinzipal nach § 280 I BGB wegen dieser Pflichtverletzung grundsätzlich Schadensersatz leisten), bewegt sich aber gleichwohl innerhalb seiner Vollmacht. Bei Vertreterhandeln erzeugen die Erklärungen des Prokuristen auch in diesem Fall also Rechtswirkungen zwischen dem Dritten und dem Prinzipal, soweit nicht ausnahmsweise Kollusion oder Kenntnis des Dritten vom Missbrauch der Prokura vorliegen. Die Vollmacht des Prokuristen versetzt diesen in die Lage, grundsätzlich alle rechtsgeschäftlichen Akte mit Wirkung für und gegen den Prinzipal vorzunehmen, die der Betrieb eines Handelsgewerbes, also irgendeines Handelsgewerbes, mit sich bringt. Wegen der generalklauselartigen Weite der §§ 1 II und 2 HGB kann jedes Gewerbe ein Handelsgewerbe sein. Ob es sich um Angelegenheiten außerhalb der unternehmensinternen Zuständigkeit (z. B. Personalchef), um ungewöhnliche, aber noch branchenspezifische oder gar um ganz branchenfremde Aktivitäten des Prokuristen handelt, ist also im Blick auf den Umfang der Prokura gleichgültig. Deshalb hat der Prokurist eine große Machtfülle. Beispiel: P, Prokurist des Fischgroßhändlers F, kauft beim Omnibushersteller O 3 Luxusreisebusse im Gesamtwert von 2 Millionen Euro : F muss zahlen (§ 433 II BGB), da P ihn - Kollusion etc. ausgenommen wirksam vertreten hat und F somit die Rechtsstellung des Käufers besitzt. P muss dem F seinerseits Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises leisten, erhält aber die Omnibusse, weil F ja sonst über den legitimen Ersatz hinaus bereichert wäre. Die Prokura erfasst nach ihrem gesetzlichen Muster von vornherein nicht Geschäfte im Privatbereich des Prinzipals (die bringt der Betrieb eines Handelsgewerbes naturgemäß nicht mit sich). Auch Maßnahmen der völligen Betriebsstillegung sind von der Prokura nicht gedeckt, denn diese sind ja gerade gegen den „Betrieb“ eines Handelsgewerbes gerichtet. Auch Veräußerungen sowie Belastungen von Betriebsgrundstücken mit Hypotheken, Grundschulden etc. (vgl. §§ 1113 ff. BGB) liegen grundsätzlich außerhalb der Vertretungsmacht des Prokuristen, es sei denn, seine Prokura wurde mit der sog. Immobiliarklausel erteilt (vgl. § 49 II HGB). Auch ohne Immobiliarklausel kann der Prokurist bei teleologisch-restriktiver Interpretation des § 49 II HGB im Rahmen des Erwerbs eines Betriebsgrundstückes jedenfalls für einen fremdfinanzierten Kaufpreisrest an eben diesem Grundstück zur Sicherung des Kreditgebers eine Hypothek oder Grundschuld bestellen. Denn ob das Grundstück schon derartig belastet erworben wird (was sicher möglich ist! ) oder rechtslogisch unbelastetes Eigentum erworben wird und erst dann die Belastung erfolgt, macht wertungsmäßig keinen Unterschied. Rechtsgeschäftliche Beschränkungen der Prokura erlaubt das HGB nur in zwei Punkten: Durch die sog. Filialklausel (§ 50 III HGB) kann das Risiko <?page no="136"?> 8. Stellvertretung 109 des Prinzipals durch den geschäftsstellenmäßig beschränkten Wirkungskreis des Prokuristen verringert werden. Außerdem kann auch die Prokura, wie § 48 II HGB klarstellt, zur Risikominimierung als Gesamtvertretungsmacht erteilt werden. Hinsichtlich des Erlöschens der Prokura gilt zunächst dasselbe wie bei der Vollmacht überhaupt. Ergänzend dazu bestimmt § 52 I HGB, dass die Prokura wegen ihres gesetzlich derart weit fixierten Umfangs und der beim Prokuristen deshalb vorausgesetzten Vertrauenswürdigkeit besonderen nicht als unwiderrufliche Vollmacht erteilt werden kann, vielmehr jederzeit ein Widerruf möglich ist. Dass das zugrunde liegende Anstellungsverhältnis fortbestehen kann, ist wegen der Abstraktheit der Vollmacht ohnehin selbstverständlich. Kein Erlöschensgrund ist der Tod des Prinzipals (§ 52 III HGB). Gerade in einer solchen kritischen Situation kommt es ja auf geschäftliche Kontinuität an. Der Prokurist vertritt also den oder die Erben, die mit dem Tod des Prinzipals ja auch in die arbeitsvertraglichen Rechte und Pflichten gegenüber dem Prokuristen eingetreten sind (vgl. §§ 1922, 1967 BGB: Gesamtrechtsnachfolge, sog. Universalsukzession). Umgekehrt führt aber der Tod des Prokuristen zum Erlöschen der Prokura (lat. „argumentum e contrario“ aus § 52 III HGB), denn eine solche Vertrauensstellung kann schlechterdings nicht auf irgendeinen Erben des Prokuristen übergehen. Das Erlöschen der Prokura ist nach § 53 II HGB nicht anders als ihre Erteilung im Handelsregister einzutragen und wie jede Eintragung gemäß § 10 HGB bekanntzumachen. Die Eintragung wirkt aber auch hier deklaratorisch. Gerade im Fall des nicht eingetragenen Widerrufs der Prokura greift aber dann oft die materielle negative Publizität des Handelsregisters nach § 15 I HGB ein. c) Handlungsvollmacht Wer in einem kaufmännischen Unternehmen i. S. der §§ 1 ff. HGB eine Vollmacht erhält, die nicht Prokura ist, erlangt die Rechtsstellung eines Handlungsbevollmächtigten nach § 54 HGB. Auch und gerade die Handlungsvollmacht folgt grundsätzlich dem Regelungsmodell der §§ 164 ff. BGB. Es gilt also ergänzend zu § 54 HGB wiederum das BGB. Charakteristisch für die Handlungsvollmacht ist namentlich Folgendes: Auch der Bevollmächtigte des Prinzipals kann Handlungsvollmacht erteilen, da ihm § 48 HGB ja nur die Erteilung einer Prokura verwehrt. Auch wird keine „ausdrückliche“ Erteilung verlangt. Die Handlungsvollmacht entbehrt schließlich der Eintragungsfähigkeit in das Handelsregister, was für den Rechtsverkehr eine gewisse Verunsicherung bedeutet. <?page no="137"?> 110 IV. Rechtsgeschäfte - Realakte Der Mangel an Eintragungsfähigkeit hängt damit zusammen, dass die Handlungsvollmacht nur in einem sehr eingeschränkten Sinne umfangmäßig durch das Gesetz vorgeprägt ist: Durch diese Vollmacht sind jedenfalls nur branchenspezifische und selbst in diesem Rahmen nur gewöhnliche Geschäfte gedeckt (§ 54 I HGB a. E.). Im Übrigen aber ist dieses Instrument sehr flexibel. Denn die Handlungsvollmacht kann schlechthin (Generalhandlungsvollmacht), nur für bestimmte Arten von Geschäften (sog. Arthandlungsvollmacht, z. B. für den Einkauf oder für die Leitung der Personalabteilung) oder sogar nur projektbezogen für ein einzelnes Geschäft (Spezialhandlungsvollmacht, z. B. Beschaffung eines IT-Systems) erteilt werden. Selbst die Generalhandlungsvollmacht ermächtigt aber für sich genommen nicht zu den in § 54 II HGB genannten Geschäften. Hinsichtlich der Ausnahme „Veräußerung und Belastung von Grundstücken“ gilt dasselbe wie bei der Prokura. Darüber hinaus kann der Handlungsbevollmächtigte grundsätzlich auch keine Wechselverbindlichkeiten eingehen, Kredite aufnehmen oder Prozesse führen. Soll sich seine Vollmacht auch darauf erstrecken, so muss dies bei Erteilung besonders zum Ausdruck kommen (§ 54 II HGB). Eigenartige rechtsgeschäftliche Einschränkungen sind aber dem Dritten gegenüber nur wirksam, wenn er sie kannte oder kennen musste (§ 54 III HGB). Beispiel: H ist im kaufmännischen Unternehmen des K Leiter der Personalabteilung und hat insoweit Handlungsvollmacht. K hat dem H diese (Art-) Handlungsvollmacht mit der Maßgabe erteilt, die Einstellung weiblicher Mitarbeiter sei „Chefsache“. Trotzdem stellt H die nichtsahnende junge S als Sekretärin ein, ohne dass K seine Zustimmung dazu erteilt hätte: wirksames Arbeitsverhältnis zwischen K und S, weil diese eine solche unübliche Beschränkung nicht kannte und auch nicht kennen musste. Insgesamt betrachtet steht jedenfalls die Generalhandlungsvollmacht der Prokura aber doch verhältnismäßig nahe. Die von einem Kaufmann nicht „ausdrücklich” erteilte „Prokura“, die als solche unwirksam ist, kann deshalb regelmäßig nach § 140 BGB in eine (wirksame) Generalhandlungsvollmacht umgedeutet werden (Konversion). Die Generalhandlungsvollmacht darf bei alledem nicht mit der Generalvollmacht gleichgesetzt werden. Der Generalbevollmächtigte verfügt über eine umfassende bürgerlichrechtliche Vertretungsmacht, die primär den Privatbereich des Prinzipals erfasst, allenfalls auch die gewerbliche Sphäre. Bezüglich eines Handelsgewerbes sind jedoch nach der gesetzlichen Logik nur Handlungsvollmacht (und Prokura) denkbar. Zu den (seltenen) höchstpersönlichen Rechtsgeschäften ist freilich nicht einmal der Generalbevollmächtigte imstande. Für die Handlungsvollmacht von Mitarbeitern im Außendienst und von selbständigen Handelsvertretern enthält § 55 HGB weitere, später noch zu behandelnde Regelungen. <?page no="138"?> 8. Stellvertretung 111 Eine gesetzlich näher ausgestaltete, auf dem Gedanken der Anscheinsvollmacht fußende Handlungsvollmacht normiert § 56 HGB zugunsten von Angestellten in einem Laden oder offenen Warenlager. Bei gebotener teleologischer Auslegung wird man die Regelung des § 56 HGB auf andere Handelsgewerbe (§ 56 HGB steht in innerem Zusammenhang mit § 54 HGB! ) mit Publikumsverkehr wie etwa Gaststätten zu erstrecken haben, vielleicht sogar noch darüber hinaus auf sonstige Gewerbe mit Publikumsverkehr. „Angestellt“ ist bei alledem rein faktisch zu verstehen: Ob es sich wirklich um ein Arbeitsverhältnis handelt oder ob Familienmitglieder, namentlich der Ehegatte, vielleicht auch Freunde und Bekannte im Einvernehmen mit dem Geschäftsinhaber dort präsent sind, ist für § 56 HGB gleichgültig. Diese Arthandlungsvollmacht deckt die dort gewöhnlich vorkommenden Verkäufe und Empfangnahmen, wobei „Verkauf“ nicht im juristisch strengen Wortsinn der §§ 433 ff. BGB zu verstehen ist, sondern alle im inneren Zusammenhang mit dem Kaufvertrag stehenden Akte mit umfasst. Beispiel: Übereignung der verkauften Sachen (§ 929 BGB) in Erfüllung der Lieferpflicht aus § 433 I BGB; Anfechtung wegen Irrtums und Entgegennahme solcher Erklärungen seitens der Kunden; Anerkennen von Gewährleistungsansprüchen, die Kunden wegen Sachmängeln erheben. Der in der „Anstellung“ wurzelnde Rechtsschein einer derartigen Handlungsvollmacht kann allerdings zerstört werden, so dass dann § 56 HGB trotz Erfüllung seiner gesetzlich formulierten Voraussetzungen nicht Platz greift (teleologisch-restriktive Interpretation). Beispiel: In den Geschäftsräumen hängen überall große Hinweisschilder mit der Aufschrift „Zahlung nur an der Hauptkasse“; keine Handlungsvollmacht der nicht an der Hauptkasse tätigen Personen zur Empfangnahme von Zahlungen der Kunden. Für die Erkennbarkeit des Vertreterhandelns des Handlungsbevollmächtigten gibt § 57 HGB parallel zu der prokurarechtlichen Vorschrift des § 51 HGB Hilfestellung: Die Ausübung der Vollmacht soll einerseits zwar deutlich sein, andererseits aber nicht den Dritten zu der Annahme verleiten, er stehe einem Prokuristen gegenüber. In der Praxis hat sich im Schriftverkehr dafür eingebürgert, wie im Bereich der bürgerlichrechtlichen Vertretung mit „i. V.“ (in Vertretung) zu zeichnen. Auch § 57 HGB enthält aber funktional letztlich nur eine Soll-Vorschrift: Eine Abweichung, selbst eine Zeichnung mit „ppa.“, bleibt rechtlich folgenlos. § 57 HGB ist also wie § 51 HGB eine (lat.) lex imperfecta. Entscheidend ist auch hier nur, dass das Vertreterhandeln als solches erkennbar hervortritt. <?page no="139"?> 112 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) a) Abschlussfreiheit - Kontrahierungszwang Für das Öffentliche Recht erklärt Art. 2 I GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit zum Grundrecht. Mangels Drittwirkung reicht dieses Grundrecht freilich nicht bis ins Privatrecht hinein. Dort gilt aber ein inhaltsgleiches, rechtshistorisch noch viel weiter zurückreichendes Prinzip, der Grundsatz der Privatautonomie. Diesen Grundsatz zur Geltung zu bringen und ihn rechtspraktisch operational auszugestalten, ist letztlich das Anliegen wohl der meisten privatrechtlichen Normen: Die Rechtssubjekte sollen ihre Lebensverhältnisse durch Rechtsgeschäfte nach ihrem Willen ordnen können. Da dieselbe Autonomie allen Rechtssubjekten gleichermaßen zukommt, müssen sie sich bei der willensgemäßen Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse mit anderen arrangieren, sich einigen, sich vertragen, eben Verträge schließen. Deshalb wird die Privatautonomie vielfach verkürzend mit Vertragsfreiheit gleichgesetzt, obwohl die Privatautonomie substanziell auch die einseitigen Rechtsgeschäfte einschließt. Das zur Vertragsfreiheit Gesagte gilt entsprechend zumeist auch für das einseitige Rechtsgeschäft, etwa für die Erteilung von Vertretungsmacht, für Irrtumsanfechtung und Kündigung. Bei genauerer Betrachtung lassen sich bei der Vertragsfreiheit, dem maßgeblichen Strukturelement einer marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnung, 3 Aspekte als Subprinzipien unterscheiden: Abschlussfreiheit, Formfreiheit und inhaltliche Gestaltungsfreiheit. Wie bei allen Grundsätzen bedarf es auch hierbei der Berücksichtigung der Ausnahmen, um den Regelungsgehalt zutreffend zu erfassen (vgl. Abb. 18). Zunächst einmal ist jeder prinzipiell frei in seiner Entscheidung, ob und mit wem er in einer bestimmten Situation Verträge eingehen oder ob er ihm zustehende Rechte ausüben will. Man sollte sich dabei auch von den unsachlichsten, willkürlichsten Motiven leiten lassen dürfen, weil Art. 3 GG ja keine privatrechtliche Drittwirkung entfaltet. Etwas verkürzt wird hier von Abschlussfreiheit gesprochen. Seitdem der Gesetzgeber aber eine Art Diktatur der Moral und der Tugend mit den Mitteln des Rechts, nämlich mit dem AGG, errichten will, ist es in weiten Bereichen des Privatrechts schon mit der Abschlussfreiheit nicht mehr weit her. Die Folge davon ist im Einzelfall ein Kontrahierungszwang, also eine Pflicht zum Vertragsschluss. Beispiele: Restaurantbetreiber R weigert sich, dem Ausländer A ein Glas Bier zu servieren: Zweifellos politisch, moralisch und menschlich eine „Sauerei“, aber auch eine Rechtswidrigkeit? Als Verweigerung eines „Massengeschäftes“ (§ 19 I Nr. 1 AGG) beim „Zugang zu und (bei der) Versorgung mit Gütern und Dienst- <?page no="140"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 113 leistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen …“ (§ 2 I Nr. 8 AGG) löst dies einen Anspruch des A gegen R auf „Beseitigung der Benachteiligung“ aus (§ 21 I 1 AGG), so dass A von R Abschluss eines entsprechenden Kaufvertrages (mit einem mietvertraglichen Element) verlangen kann. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) Grundsatz Zwingendes Recht, z. B. § 276 III BGB, § 14 ProdHaftG, 31 AGG Formzwang, z. B. §§ 311b I, 623, 766 BGB Kontrahierungszwang , z. B. §§ 19/ 2 I Nr. 5, 8 AGG, § 22 PBefG, § 20 GWB, § 5 II PflVG, Vorverträge Ausnahmen bzw. Grenzen Inhaltliche Gestaltungsfreiheit ("was") Formfreiheit ("wie") Abschlussfreiheit ("ob und mit wem") Abb. 18: Inhalt und Grenzen der Vertragsfreiheit Wegen des inneren Zusammenhangs von Markt und Vertragsfreiheit endet nach gängiger Auffassung die Abschlussfreiheit von den Diskriminierungsverboten des AGG abgesehen namentlich dort, wo der Markt administrativ reguliert oder durch monopolistische Verhältnisse geprägt und damit letztlich gestört ist. Der daraus resultierende sog. Kontrahierungszwang wird häufig wirtschaftssektorial durch Rechtsnormen ausdrücklich ausgesprochen, wie etwa immer noch im Personenbeförderungswesen oder früher durchweg im Bereich der Energiewirtschaft. Ganz allgemein folgt ein Kontrahierungszwang aus dem Diskriminierungsverbot, das gemäß § 20 GWB marktbeherrschende und diesen gleichgestellte Unternehmen trifft. Unmittelbar nützt ein solcher Kontrahierungszwang dem nachteilig betroffenen Rechtssubjekt aber nur dort etwas, wo die die Gegenseite treffende Abschlusspflicht privatrechtlicher Natur ist, weil nur dort mit der Abschlusspflicht gedanklich ein Anspruch auf Vertragsschluss der anderen Seite korrespondiert. Dies ist je nach Rechtsmaterie nicht immer sicher zu entscheiden. Im Einzelfall wird aber in der Verweigerung eines Vertragsschlusses etwa durch den Monopolisten zugleich eine vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung der anderen Seite zu erblicken sein, die nach § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Daraus folgt jedenfalls mittelbar eine privatrechtliche Abschlusspflicht. Denn in Anwendung des noch näher zu erörternden § 249 BGB ist <?page no="141"?> 114 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge dann derjenige Zustand herzustellen, der ohne die Weigerung bestünde, also eben der Vertragsschluss. Wo auch diese Konstruktion versagt, muss versucht werden, die Behörden zum Einsatz des öffentlichrechtlichen Sanktionsinstrumentariums zu veranlassen, um auf diese Weise die Gegenseite doch noch zum Vertragsschluss zu bewegen. Ein sehr häufiger Fall des Kontrahierungszwanges ist aber ein vorausgegangener Vertrag selber. Besonders einprägsam dafür ist der alltägliche Erwerb von Sacheigentum in Zusammenhang mit einem Kaufvertrag: Zum Eigentumserwerb an einer beweglichen Sache bedarf es nach § 929 S. 1 BGB neben der Sachübergabe einer „Einigung“, d. h. eines Vertrages darüber, dass das Eigentum vom bisherigen Eigentümer auf den Erwerber übergehen soll. Ob eine solche Einigung zustande kommt, steht dabei i. S. der Abschlussfreiheit grundsätzlich im Belieben der Beteiligten. In aller Regel haben die Parteien sich aber vorher über das Entstehen einer Pflicht zur (Übergabe und) Übereignung (zugleich über das Entstehen einer Zahlungspflicht) geeinigt, d. h. eben einen Kaufvertrag abgeschlossen. Deshalb ist der Eigentümer und Verkäufer nun eben doch nicht mehr frei, ob er sich mit dem Käufer über den Eigentumswechsel einigt oder nicht. Vielmehr ist er dazu jetzt nach § 433 I BGB verpflichtet. Er unterliegt einem Kontrahierungszwang zum Abschluss eines das Eigentumsrecht übertragenden Vertrages nach § 929 S. 1 BGB. Einem selbsterzeugten Kontrahierungszwang unterliegen die potenziellen Vertragspartner ferner nach Abschluss eines Vorvertrages, durch den sie sich verpflichten, den etwa noch nicht abschlussreifen Hauptvertrag nach Beseitigung irgendwelcher Hindernisse oder Unklarheiten abzuschließen. Solche Vorverträge gibt es auf allen Gebieten, nicht zuletzt im Familienrecht. Systematisch betrachtet ist ja auch das Verlöbnis (§§ 1297 ff. BGB) im Verhältnis zur Ehe nichts weiter als ein Vorvertrag. Kein Vorvertrag liegt hingegen dem in der Wirtschaftspraxis bei größeren Projekten verbreiteten letter of intent zugrunde. Es handelt sich hierbei lediglich um eine (schriftliche) Absichtserklärung, die keine Abschlusspflicht nach sich zieht. Gleichwohl ist ein letter of intent rechtlich bedeutsam: Wird der Vertragsschluss schuldhaft-vorwerfbar unterlassen, ist eine Schadensersatzpflicht des Erklärenden aus sog. culpa in contrahendo, umfänglich in Höhe des Vertrauensinteresses, begrenzt durch das Erfüllungsinteresse an dem nicht geschlossenen Vertrag analog § 122 I BGB. <?page no="142"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 115 b) Formfreiheit - Formzwang (1) Erklärungsmittel, Konkludenz und Schweigen Dadurch, dass das Gesetz für bestimmte Rechtsgeschäfte eine besondere Form für die Wirksamkeit rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen verlangt, macht es mittelbar das im gesamten Privatrecht herrschende Prinzip der Formfreiheit als Teil der Privatautonomie deutlich: Für die Gültigkeit, Verbindlichkeit, Wirksamkeit von Willenserklärungen und für die an diese Willenserklärungen anknüpfenden rechtsgeschäftlichen Effekte ist es entgegen weit verbreiteter Alltagsauffassung grundsätzlich gleichgültig, wie jener Wille erklärt wird: schriftlich, mündlich oder sonstwie, etwa durch Zeichen oder Gebärden (ausdrückliche Normierung der Formfreiheit aber in Art. 11 CISG; zum konkludenten Verhalten vgl. speziell Art. 18 I CISG). Gerade solch „konkludentes“ Verhalten, das einen Rückschluss auf einen dahinter stehenden (rechtsgeschäftlichen) Willen zulässt und das dadurch einen Erklärungswert gewinnt, spielt in der Rechtspraxis eine große Rolle. Ob und in welchem Sinne ein bestimmtes Verhalten schlüssig ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Dabei ist besonders zu beachten, dass das bloße Schweigen, die schiere Untätigkeit, so gut wie niemals irgendeinen Rückschluss auf einen bestimmten Willen gestattet. Dies ist bei Privatleuten nicht anders als bei Kaufleuten. Auch deren Schweigen lässt sich prinzipiell nicht als Ausdruck eines (rechtsgeschäftlichen) Willens verstehen, schon gar nicht als Zustimmung. Zwar existieren wichtige Ausnahmen nicht nur im bürgerlichen Recht, sondern z. B. auch im Handelsrecht und im Versicherungsrecht (z. B. §§ 108 II 2, 177 II 2, 416 I 2, 455 S. 2, 612 BGB, §§ 362 I, 377 II HGB, auf Handelsbrauch beruhende Grundsätze über das Schweigen auf ein unrichtiges kaufmännisches Bestätigungsschreiben; vgl. ferner §§ 5 und 11 VVG sowie § 5 III 1 PflVG), doch ändern diese Ausnahmen nichts am Prinzip. Was als „stillschweigende“ Willenserklärung bezeichnet wird, ist also, begrifflich schärfer gefasst, zumeist eine Willenserklärung in Gestalt konkludenten Verhaltens. Auf derartige Willenserklärungen nimmt häufig schon der Gesetzgeber direkt oder indirekt Bezug, z. B. beim Vertreterhandeln (§ 164 II BGB! ). Auch die Rechtsfigur der Duldungsvollmacht basiert auf der Annahme einer konkludent erteilten Vollmacht. Speziell aus dem vertraglichen Bereich stammen folgende Beispiele: Die Kassiererin im Selbstbedienungsladen tippt die Preise für die wortlos auf das Band gestellte Ware in die Kasse ein: konkludent zustande gekommener Kaufvertrag sowie entsprechende Übereignungen. Karl erhält per Post unbestellt das reich bebilderte „Boris-Becker-Buch“ mit dem im Anschreiben abgegebenen Angebot zum Kauf. Karl stellt das Buch in sein Bücherregal zu einer bereits umfangreichen Sammlung von Werken über „Große Deutsche“: Schlüssige Annahmeerklärung! <?page no="143"?> 116 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Der forsche Franz fragt bei der ersten Verabredung die ebenso süße wie scheue Sibylle, ob sie beide zu ihr oder zu ihm gehen sollten, woraufhin Sibylle, gar nicht mehr scheu, dem Franz überraschend(? ) eine schallende Ohrfeige erteilt: Konkludente Ablehnung eines Angebots. Wegen des rein „gesellschaftlichen Charakters“ dieses Angebots bestünde allerdings selbst bei seiner Annahme keine Rechtspflicht für Sibylle, die weiteren Stunden mit Franz gemeinsam zu gestalten. Natürlich hat die Ohrfeige nicht nur vertragsrechtliche Bedeutung, da dadurch der „Körper“ (zumindest Hautrötung! ), jedenfalls aber die „Gesundheit“ des Franz (Schmerz! ) verletzt wurden (vgl. § 823 I BGB). (2) Formzwangtypen Das Prinzip der Formfreiheit kommt zwar den Bedürfnissen der Praxis nach Flexibilität und Schnelligkeit des rechtsgeschäftlichen Verkehrs entgegen und hält damit zugleich die Transaktionskosten gering, birgt andererseits aber auch die Gefahr einer übereilten oder im Nachhinein vor allem vor Gericht nicht mehr dokumentierbaren Willenserklärung in sich. Außerdem bedeutet jede Form auch ein erhebliches Maß an Klarheit und Rechtssicherheit. Das Gesetz versucht eine Optimierung dieser gegenläufigen Anliegen schon dadurch, dass es für bestimmte „riskante“ Willenserklärungen selber eine besondere Form verlangt. Zum anderen steht es, wie sich aus § 127 I BGB ergibt, den Parteien frei, ihrerseits vom Prinzip der Formfreiheit abzurücken und eine besondere Form für ihre Willenserklärungen zu verlangen. Damit der im Formzwang gelegene Übereilungsschutz nicht unterlaufen wird, verlangt man darüber hinaus auch für die Wirksamkeit von Vorverträgen dieselbe Form, die für den Hauptvertrag notwendig ist. Gleichgültig nun, aus welcher Quelle sich der Formzwang ergibt, sind im Wesentlichen 3 Formtypen zu unterscheiden, die in unterschiedlicher Intensität den Formzwecken Übereilungsschutz und Dokumentation (Beweisbarkeit) Rechnung tragen: Schriftform, öffentliche Beglaubigung und schließlich notarielle Beurkundung. In Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), also dem Gegenstück zur individuellen Vereinbarung (vgl. § 305 I, § 305b BGB), lässt sich ein Formzwang freilich nur innerhalb der von § 309 Nr. 13 BGB gezogenen Grenzen begründen, also nur hinsichtlich der in §§ 126, 127 normierten Schriftform. Wird in AGB für die Wirksamkeit von Erklärungen etwa ein besonderes Formblatt, öffentliche Beglaubigung oder gar notarielle Beurkundung verlangt, so ist die Klausel nach § 306 I BGB unwirksam. Für den Einschreibebrief als besonderes Zugangserfordernis würde demnach übrigens dasselbe gelten. Die Merkmale der vom Gesetz gelegentlich geforderten Schriftform (vgl. z. B. §§ 492 I, 550 S. 1, 623, 766 S. 1 BGB) ergeben sich aus § 126 I, II BGB, der wegen § 127 I BGB grundsätzlich auch für die gewillkürte, auf Rechtsgeschäft beruhende Schriftform gilt. Demzufolge muss die Willenserklärung zunächst <?page no="144"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 117 in einer Urkunde verkörpert sein. Bei gewillkürter Schriftform reicht dazu im Zweifel die „telekommunikative Übermittlung“ (§ 127 II 1 BGB) durch Telefax. Nicht jede Urkunde erfüllt aber die Schriftform, denn § 126 I BGB verlangt zusätzlich eigenhändige Namensunterschrift. Die alternativ möglichen (beglaubigten) „Handzeichen“ (Kreuze, Fingerabdrücke) sind eine Kuriosität aus der Welt des Analphabetismus. Zu unterschreiben hat dabei, wer gegebenenfalls als Vertreter die Willenserklärung abgegeben hat, mag auch ein anderer die Urkunde faktisch (als Erklärungshelfer) erstellt haben. Beispiel: Die Sekretärin schreibt die Bürgschaftserklärung, der Chef unterschreibt: Schriftform gewahrt. Mehr verlangt § 2247 BGB übrigens für das sog. privatschriftliche, nicht vor einem Notar errichtete Testament, nämlich auch eigenhändige Niederschrift. Die vom Gesetz verlangte eigenhändige Namensunterschrift wirft in der Praxis noch eine Reihe weiterer Detailfragen auf, etwa diejenige nach der Zulässigkeit technisch vermittelter Unterschriften, etwa durch Faksimile- Stempel oder durch neuere Instrumente der Telekommunikation, namentlich Telefax und Internet. Alle diese Varianten enthalten aber gerade nicht eigenhändige Unterschriften und erfüllen daher nicht die Anforderungen der Schriftform nach § 126 I BGB. Für die elektronischen Medien werden im SigG als Teil des IuKDG allgemein die Voraussetzungen für die qualifizierte digitale Unterschrift im Einzelnen normiert. Diese Unterschrift ist das zentrale Problem der sog. elektronischen Form einer Erklärung, die gemäß § 126 III BGB der Schriftform grundsätzlich gleichsteht (Ausnahme z. B. §§ 492 I 2, 766 S. 2 BGB). Um den Absender eindeutig identifizieren zu können und so ausreichende Fälschungssicherheit gewährleisten zu können (§ 2 SigG), wird jedem Netznutzer ein Signaturschlüssel zugeordnet, mit dem die „Unterschrift“ erzeugt wird. Die Schlüsselzuordnung erfolgt durch Zertifizierungsdiensteanbieter (§§ 4 ff. SigG), die im Regelfall lediglich ihre Tätigkeit der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen anzeigen (§ 3 SigG) und darüber hinaus nicht nur die entsprechende Zuverlässigkeit und fachliche Qualifikation, sondern auch eine Deckungsvorsorge von mindestens Euro 250.000 für etwaige Schäden nachweisen müssen (§§ 4, 12 SigG). Allerdings dürfen sich nur akkreditierte Zertifizierungsdiensteanbieter (Gütesiegel der zuständigen Behörde) im Rechts- und Geschäftsverkehr auf die nachgewiesene Sicherheit berufen (vgl. §§ 15 f. SigG). Einzelheiten der Durchführung der Regelungen des SigG sind einer Rechtsverordnung vorbehalten (§ 24 SigG). Demgegenüber genügt bei der gewillkürten elektronischen Form freilich grundsätzlich auch eine nicht dem SigG entsprechende digitale Unterschrift. <?page no="145"?> 118 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Zu unterschreiben ist nach § 126 I BGB bei Schriftform mit dem Namen. Hierzu reicht aber der Familienname aus. Der Kaufmann hat noch einen anderen Namen, mit dem er ebenfalls unterzeichnen kann, nämlich seine Firma (§ 17 HGB). Nicht erforderlich, sondern nur üblich zur Wahrung der Schriftform ist das Hinzufügen von Ort und Datum. Im Begriff der Unterschrift ist enthalten, dass mit ihr die Willenserklärung textlich-räumlich abgeschlossen ist. Ein „P. S.“ (lat. „post scriptum“, also „nach dem Geschriebenen“) hat demnach an der schriftformgerechten Willenserklärung nicht mehr teil. Vielmehr muss ein solcher Nachtrag, um der Schriftform zu genügen, seinerseits unterschrieben werden. Hingegen ist der Abschlusscharakter der Unterschrift nicht zeitlich zu verstehen: Ob die Unterschrift dem Text zeitlich nachfolgt oder ausnahmsweise vorweggenommen wird (Blankounterschrift), ist für die Wahrung der Schriftform gleichgültig. Für Verträge als zweiseitige Rechtsgeschäfte stellt sich noch ein Sonderproblem. Fraglich ist nämlich, ob es für die Schriftform ausreicht, dass Angebot und Annahme je für sich als (unterschriebene) Schriftstücke vorliegen. Eine solche „gespaltene“ Vertragsurkunde in Gestalt eines Briefwechsels erfüllt die Schriftform jedenfalls bei der rechtsgeschäftlich festgelegten Schriftform (§ 127 II 1 BGB; für die gewillkürte elektronische Form s. § 127 III BGB). Bei gesetzlichem Schriftformzwang bedarf es hingegen grundsätzlich der Unterzeichnung beider Parteien auf ein und derselben Urkunde (§ 126 II 1 BGB). Nur bei mehreren, textidentischen Urkunden genügt es, wenn jede Partei die für die andere Partei bestimmte Ausfertigung unterzeichnet (§ 126 II 2 BGB). Im Gegensatz zu dem für § 127 II 1 BGB ausreichenden Briefwechsel liegt aber auch in diesem Fall der Text des Gesamtrechtsgeschäfts in jeweils einer Urkunde vollständig vor. Das ganze Problem wird freilich dadurch praktisch entscheidend entschärft, dass gar nicht immer der ganze Vertrag, sondern manchmal nur die Erklärung der einen Vertragsseite dem Formzwang unterworfen wird. Dies ist insbesondere bei der Bürgschaft der Fall: Obwohl die Bürgschaft nicht durch einseitiges Rechtsgeschäft, sondern durch Vertrag zu begründen ist, ist nur die Erklärung des Bürgen formbedürftig (vgl. § 766 S. 1 BGB). Das Unterschriftsproblem stellt sich von vornherein nicht, wo nicht Schriftform, sondern lediglich Textform (§ 126b BGB) gesetzlich verlangt oder vereinbart ist (§ 127 I BGB verweist auch auf § 126b BGB! ). Hier genügt auch die Nachbildung der Unterschrift (Faksimile) oder ähnliches. Neben § 3 I VVG ist als Fall gesetzlich (nur) verlangter Textform etwa § 559b I 1 BGB (Erhöhung des Mietzinses bei Wohnungsmiete) zu nennen. Eine große Rolle spielt die Textform auch im Verbraucherschutz (vgl. nur §§ 312c II, 355 II, 356 I 2 Nr. 3. 493 I 5, 502 II BGB). Textform sieht § 477 BGB ferner für Garantien vor, freilich nicht als Voraussetzung ihrer Wirksamkeit (vgl. § 477 III BGB). Die Textform ist eine sehr flexible Form, die nicht einmal zwingend <?page no="146"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 119 eine Urkunde verlangt, sondern nur die Möglichkeit „zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen“. Dem genügt jedenfalls die email (elektronische Post), da ihr Inhalt ausgedruckt werden kann. Auf der Schriftform baut die öffentliche Beglaubigung auf, die z. B. in § 12 HGB für die Anmeldungen zur Eintragung ins Handelsregister vorgesehen ist. Die Rolle des Notars beschränkt sich dabei gemäß § 129 I BGB darauf, dass er die Identität des Unterzeichners z. B. anhand des Personalausweises prüft und bestätigt. Ob der Unterzeichner diese Willenserklärung wirklich abgegeben hat, wird hingegen vom Notar nicht bescheinigt. Darin liegt der Unterschied zur notariellen Beurkundung, die namentlich bei Kauf und Übereignung von Grundstücken und überhaupt im Grundstücksrecht eine große Rolle spielt (vgl. §§ 311b I, 873 II, 925 I 2 BGB). Auch die notarielle Beurkundung basiert auf der Schriftform. Anders als bei der Beglaubigung bestätigt der Notar hier aber nicht nur die Identität der Beteiligten, sondern er protokolliert die abgegebenen Erklärungen nach entsprechender Belehrung über deren rechtliche Tragweite (vgl. §§ 8 ff., 17 BeurkG). Da die notarielle Beurkundung sowohl die Funktion der Schriftform als auch diejenige der öffentlichen Beglaubigung erfüllt, kann sie diese ersetzen, wie §§ 126 IV, 129 II BGB klarstellen. Die notarielle Stufenbeurkundung, das Seitenstück zur „gespaltenen“ privatschriftlichen Vertragsurkunde, erklärt § 128 BGB ausdrücklich für möglich. (3) Rechtsfolgen des Formmangels Wird eine gesetzlich festgelegte oder rechtsgeschäftlich bestimmte Erklärungsform nicht gewahrt, so ist diese Erklärung nach § 125 BGB grundsätzlich nichtig. Sie entfaltet also von vornherein keinerlei Wirkung. Ihre Wirkungslosigkeit muss nicht etwa wie bei der Anfechtung erst durch Ausübung eines Gestaltungsrechtes herbeigeführt werden. Von diesem Grundsatz macht das Gesetz einige wenige, aber praktisch wichtige Ausnahmen. So kommt es nach § 311b I 2 BGB zur Heilung des Formmangels, wenn ein Kaufvertrag über ein Grundstück gegen § 311b I 1 BGB nicht in notarieller Form geschlossen wurde, die also in Wahrheit wegen § 125 BGB gar nicht bestehende Verpflichtung zur Verschaffung des Grundeigentums (vgl. § 433 I BGB) aber dennoch durch wirksame Auflassung (§ 925 I BGB) und Eintragung ins Grundbuch (§ 873 I BGB) „erfüllt“ wurde. Die Unwirksamkeit des Kaufvertrages wird sozusagen wieder beseitigt, weil die vorgeschriebene Form des Kaufvertrags lediglich vor der übereilten Übernahme einer Veräußerungspflicht bewahren sollte. Wenn aber der Eigentümer in die ganze Prozedur der Auflassung und des Eintragungsverfahrens ein- <?page no="147"?> 120 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge steigt, wird ihm ja deutlich genug die Bedeutung seines Tuns vor Augen geführt, so dass es eines Übereilungsschutzes nicht mehr bedarf. Auf demselben Gedanken beruht § 766 S. 3 BGB, der eine an sich unwirksame, da nicht formgerechte Bürgschaft im Nachhinein wirksam werden lässt, wenn der Bürge den Gläubiger befriedigt. Ebenfalls aus dem intendierten, aber nicht mehr aktuellen Übereilungsschutz erklärt sich § 518 II BGB (Erfüllung eines wegen Formmangels an sich unwirksamen Schenkungsversprechens). Der Gesetzgeber reduziert hier also selber den Unwirksamkeitsumfang auf Sinn und Zweck des Formzwanges und liefert damit einen Anknüpfungspunkt für das generelle interpretationsmethodische Prinzip teleologisch-restriktiver Auslegung. In all diesen Milderungen des Formzwangs liegt zugleich eine gewisse Abschwächung des Abstraktionsprinzips, weil die erbrachte Leistung nun nicht mehr wegen Fehlens eines rechtlichen Grundes nach § 812 I 1, 1 Alt. BGB zurückverlangt werden kann. Sehr zweifelhaft und streitig ist, ob und inwieweit darüber hinaus ein Formmangel im Einzelfall unbeachtlich bleiben kann. Zu denken ist insbesondere daran, dass die Berufung auf einen Formmangel und auf die sich daraus ergebende Nichtigkeit gegen das Gebot von Treu und Glauben (vgl. § 242 BGB) verstößt, weil derjenige, der sich nun darauf beruft, vorher gerade selber behauptet hat, das Geschäft sei auch formlos wirksam (lat. „venire contra factum proprium“). Lässt man einen solchen Gedanken zu, so beseitigt man freilich zugleich jene Rechtssicherheit, die gerade auch ein Anliegen des Formzwanges darstellt. An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts beim sog. gentlemen agreement, bei dem alle Beteiligten wissen, dass sie sich gerade auch wegen der bewussten Nichtbeachtung einer notwendigen Form rechtsgeschäftlich so nicht wirksam binden können. Dieser Gesichtspunkt ist besonders stark dann zu gewichten, wenn eine Konversion möglich wäre. Denn dann besteht umso weniger ein Bedürfnis, die Nichtigkeitssanktion zu vermeiden, weil ja dem Willen der Beteiligten in anderer Weise entgegengekommen werden kann. Ganz ausnahmsweise spielt der vom Gesetz ausgeübte Formzwang von vornherein für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts überhaupt keine Rolle. Die Einhaltung der Form hat hier keine wirksamkeitskonstitutive, sondern lediglich deklaratorische Bedeutung. So muss z. B. nach § 11 I, II BBiG der Ausbildungsvertrag zwar schriftlich vorliegen, aber nur, um dem Auszubildenden eine solche Niederschrift aushändigen zu können, auf die der Auszubildende einen Anspruch hat (§ 11 III BBiG). Unterbleibt die Niederschrift, so wird die Wirksamkeit des Ausbildungsvertrages davon nicht berührt; nur der Aushändigungsanspruch ist noch unerfüllt. Ebenso verhält es sich bei der nur mündlichen Garantieerklärung (§§ 477 II, III BGB); auch sie ist wirksam. <?page no="148"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 121 c) Gestaltungsfreiheit - Zwingendes Recht Einen wesentlichen Eckpfeiler der Privatautonomie bildet schließlich die den Privatrechtssubjekten eingeräumte Freiheit, ihre rechtlichen Verhältnisse inhaltlich nach ihren Wünschen gestalten zu können. Auch dieser Grundsatz ist so im Gesetz nirgends deutlich ausgesprochen, liegt aber erkennbar an den normierten Ausnahmeregelungen der Privatrechtsordnung zugrunde. Welche Rolle spielen aber dann die gesetzlichen Normen des Privatrechtes? Die Antwort darauf ist überraschend: Das Privatrecht macht auf weite Strecken gleichsam nur Vorschläge über den möglichen Inhalt von Rechtsverhältnissen, welche die Vertragsparteien übernehmen können, die sie aber nicht übernehmen müssen. Zumeist werden sich die Vertragsparteien auch gar nicht über alle möglicherweise einmal auftauchenden Rechtsfragen schon vorher, insbesondere im Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Klaren sein und sich über deren Lösung also schon vor Auftreten des Konfliktes einigen können. Auch in dieser Situation müssen aber rechtliche Maßstäbe zur Konfliktentscheidung spätestens für den Richter zur Verfügung stehen. Kurzum: Viele Normen des Privatrechts innerhalb und außerhalb des BGB enthalten lediglich sog. dispositives Recht: Das Gesetz findet hier nur dann Anwendung, wenn und soweit die Vertragsparteien sich nicht über eine andere Regelung verständigt haben, es steht zur Disposition der Vertragsparteien, kann einvernehmlich ergänzt, abgeändert und ausgeschlossen werden, ist in diesem Sinne nachgiebiges Recht. Man spricht hier von Abdingbarkeit der gesetzlichen Regelung. Beispiel: Herr Krause kauft seinem Vetter dessen Kassettenrekorder ab. Angesichts des sehr günstigen „Freundschaftspreises“ kommen beide darin überein, dass der Vetter für etwaige Funktionsmängel des Gerätes keinerlei Haftung übernimmt. Tatsächlich stellt sich später heraus, dass der Tonkopf des Gerätes defekt ist: Obwohl die §§ 434 ff. BGB eine Gewährleistung des Verkäufers für Sachmängel statuieren, greifen diese Vorschriften im Verhältnis von Krause zu seinem Vetter auf Grund der getroffenen Abmachung nicht ein (kein Verbrauchsgüterkauf i. S. von § 474 I BGB, so dass § 475 BGB den zwischen dem Vetter und Herrn Krause geschlossenen Kaufvertrag nicht betrifft! ). Welche Rechtsnormen nun derart dispositiv und welche zwingender Natur sind, kann durchaus unsicher sein. Jedenfalls enthält keine Textausgabe entsprechende Kennzeichnungen. Für die Praxis reicht aber alle Mal eine bewährte Faustregel sehr gut aus. Grundsätzlich dispositives Recht enthält das Zweite Buch des BGB, das Schuldrecht, ausgenommen jedenfalls die erkennbar als zwingend formulierten Normen, z. B. § 276 III oder § 444 BGB. Manchmal werden Normen des Schuldrechts auch erst durch eine weitere Vorschrift zu zwingendem Recht erklärt, wie dies z. B. § 475 BGB für den Fall des Verbrauchsgüterkaufs (Definition in § 474 BGB) tut. Auf die Besonderheit, dass § 475 BGB zwingendes Recht nur insoweit statuiert, als vom Gesetz <?page no="149"?> 122 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden soll, wird sogleich noch näher eingegangen. Dispositiv sind prinzipiell beachte aber etwa § 14 Prod- HaftG! auch diejenigen Rechtsnormen in anderen Gesetzen, die sachlich Schuldrecht enthalten und somit als Annex zum Zweiten Buch des BGB erscheinen. Beispiele: Die Vorschriften über den Handelskauf (§§ 373 ff. HGB) sind dispositiv, weil sie sich sachlich als Fortsetzung der §§ 433 ff. BGB als schuldrechtliche Normen darstellen. Die Leistungszeit betrifft eine typisch schuldrechtliche Fragestellung. § 271 BGB ist deshalb ebenso dispositiv (das deutet überflüssigerweise schon die gesetzliche Formulierung an) wie die §§ 358, 359 HGB. Alles andere ist prinzipiell zwingendes Recht, soweit nicht wiederum ausnahmsweise eine Dispositivität bestimmt wird: So kann nach § 202 BGB die Verjährung gegenüber den gesetzlichen Regelungen durch Vertrag verändert werden, etwa eine kürzere Verjährungsfrist vereinbart werden, obwohl es sich bei dem Verjährungsrecht nicht um eine Materie des Zweiten Buches des BGB handelt. Auch Mischformen von dispositivem und zwingendem Recht kommen vor: So sind die §§ 433-435, 437, 439-443 BGB wegen des bereits erwähnten § 475 BGB (Gewährleistung beim Verbrauchsgüterkauf) und (besondere Vertriebsformen betreffend) die §§ 312 ff. BGB wegen § 312g BGB nur in dem Sinne dispositiv, dass Verbesserungen der Rechtsstellung des Verbrauchers oder sonstigen Kunden vereinbart werden können. Hinzuweisen ist ferner etwa auf § 506 BGB für Verbraucher-Kreditverträge, auf § 651m BGB für das Reisevertragsrecht sowie auf § 675e BGB für das Bankvertragsrecht. Solche nur „halbzwingenden“ Normen kennt insbesondere auch das Versicherungsrecht (vgl. § 18 VVG). Der Gedanke der Dispositivität reicht sehr weit. Die Vertragsparteien können dabei nicht nur von den gesetzlichen Vertragstypen teilweise abweichen (sog. atypische Verträge). Beispiel: Vertrag über einen bewachten Parkplatz ist atypischer Verwahrungsvertrag, da §§ 688 ff. davon ausgehen, dass der Verwahrer den Besitz der Sache erhält. Das ist bei der Parkplatzbewachung regelmäßig nicht der Fall, da nicht die Fahrzeugschlüssel übergeben werden, durch die die Sachherrschaft (vgl. § 854 I BGB) über das Fahrzeug vermittelt wird. Vielmehr können die Parteien auch gesetzliche Vertragstypen mischen (sog. typengemischte Verträge), indem sie diese kombinieren (Typenkombinationsvertrag) oder so verschmelzen, dass in der Realität die jeweilige Einflusssphäre des gesetzlichen Vertragstyps gar nicht mehr klar getrennt werden kann (Typenverschmelzungsvertrag). Beispiele: Vertrag im Restaurant ist Kombination von Kaufvertrag bezüglich der Speisen und Getränke, und Mietvertrag über Tisch, Stuhl, Teller, Besteck etc. <?page no="150"?> 1. Vertragsfreiheit (Privatautonomie) 123 Im Vertrag über einen Geldtransport verschmelzen Elemente des Frachtvertrages (§§ 407 ff. HGB) mit solchen des Dienstvertragsrechtes (§§ 611 ff. BGB) bezüglich der dabei zu erbringenden Sicherheitsdienstleistung. Im Rahmen des dispositiven Rechts können die Parteien auch völlig neue schuldrechtliche Vertragstypen schaffen, an die der historische Gesetzgeber nicht im entferntesten gedacht hat. Hier sind neben den allgegenwärtigen Garantieverträgen etwa zu nennen die umfassende vertragliche Einbindung selbständiger Unternehmer in ein übergreifendes, von einer bestimmten Geschäftsidee geprägtes Marketing-Konzept anstelle der Filialisierung des Unternehmens (Franchising), der IT-gestützte Ringtausch (Bartering) sowie der Automatenaufstellvertrag. Nicht jede neue Bezeichnung schafft freilich schon neue Vertragstypen. So sind „Factoring“ und „(Operating-)Leasing“ häufig nichts weiter als die dem BGB wohl bekannten, allenfalls etwas modifizierten Vertragstypen Rechtskauf (§ 453 BGB, hier: Kauf einer Forderung, also eines relativen Rechts) und Miete, aus Marketinggründen nur in einem etwas dynamischer klingenden anglisierten Sprachgewand. Das Finanzierungsleasing dürfte hingegen in der Tat ein Vertragstyp „sui generis“ (lat.), ganz eigener Art, sein. Ob es sich hierbei nun um einen eigenständigen, im BGB allenfalls beiläufig angesprochenen und normierten (vgl. § 500 BGB) Vertragstyp oder letztlich überhaupt nur um eine Variante des Mietvertrages handelt, ist dabei keineswegs eine klassifikatorische Spielerei. Nimmt man nämlich Letzteres an, so ist die Gültigkeit solcher regelmäßig vorformulierten Verträge (oder sogar individueller Verbraucherverträge i. S. des § 310 III BGB: Verträge zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher, §§ 13, 14 BGB) doch sehr zweifelhaft, weil dann ja die §§ 305 ff. BGB eingreifen: Die Rechte des Leasingnehmers beim Finanzierungsleasing weichen aber so dramatisch von den (dispositiv-)gesetzlichen Rechten des Mieters nach den §§ 535 ff. BGB ab, dass ein solcher Leasingvertrag nach § 307 BGB rechtlich dann nicht ohne weiteres Bestand haben könnte. Hier zeigt sich eine charakteristische allgemeine Einschränkung der Vertragsgestaltungsfreiheit: Auch von dispositivem Recht kann man sich nur unter bestimmten Einschränkungen lösen, wenn man dabei nicht einzeln ausgehandelte Individualabreden, sondern Vorformulierungen (Allgemeine Geschäftsbedingungen, vgl. § 305 I BGB), benutzt. Dann unterliegen solche AGB grundsätzlich einem Einbeziehungsschutz (vgl. §§ 305 II, 305c BGB) sowie einer Inhaltskontrolle (§§ 307 ff. BGB), insbesondere den dortigen Klauselverboten. Sie beruhen auf dem Gedanken, dass die gesetzlichen Regelungsmuster des Schuldrechts eben doch eine Leitbildfunktion erfüllen und typischerweise eine gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten der Vertragsparteien widerspiegeln. Und natürlich lassen sich auch im Bereich dispositiven Rechts nicht die Grenzen überschreiten, die die Rechtsordnung <?page no="151"?> 124 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge ganz allgemein für die Anerkennung des rechtsgeschäftlichen Willens gesetzt hat, etwa hinsichtlich der §§ 104 ff. oder des § 138 BGB. 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung a) Einseitig, zweiseitig und „gegenseitig“ verpflichtende Verträge Schuldverhältnisse, Leistungsbeziehungen zwischen Schuldner und Gläubiger, beruhen teilweise unmittelbar auf Gesetz (vgl. z. B. §§ 677 ff., 812, 816, 823 ff. BGB), teilweise und vor allem aber auf Rechtsgeschäft und dabei nach § 311 I BGB wiederum prinzipiell auf Vertrag, also auf einem zweiseitigen Rechtsgeschäft (Ausnahme z. B. die „Auslobung“, vor allem auch das Preisausschreiben, §§ 657 ff. BGB; vgl. in diesem Zusammenhang auch § 661a BGB sowie § 443 BGB für Beschaffenheits- und Haltbarkeitsgarantien). Davon zu unterscheiden ist die Einteilung der Schuldverhältnisse und hierbei vor allem wiederum der Vertragsschuldverhältnisse danach, ob sie Pflichten nur in einer Richtung begründen und in diesem Sinne einseitig sind, wie z. B. das sog. Schenkungsversprechen (§ 518 BGB): Zwar ist auch dies bei Licht besehen ein Vertrag, doch erwächst daraus eben nur die Pflicht des Versprechenden zur (unentgeltlichen) Leistung. Die allermeisten Vertragsschuldverhältnisse sind jedoch zweiseitig verpflichtende Verträge, bei denen jede der Vertragsparteien Schuldner und Gläubiger zugleich ist, freilich jeweils in Bezug auf unterschiedliche Pflichtinhalte bzw. Leistungsgegenstände. Derart zweiseitig verpflichtende Verträge sind nun durchaus nicht begriffsnotwendig auf den Leistungsaustausch gerichtet, wie die Leihe zeigt: Gewiss ist der Verleiher durch den Leihvertrag zur Überlassung der Sache und zur Gestattung des Sachgebrauchs verpflichtet, ohne dass der Entleiher dafür eine Vergütung zahlen müsste (§ 598 BGB), worin sich die Leihe ja gerade von der Miete unterscheidet (vgl. § 535 BGB). Aber auch den Entleiher trifft eine Pflicht, nämlich die Pflicht auf Rückgabe der entliehenen Sache (§ 604 I BGB), nur dass diese Pflicht nicht auf eine Gegenleistung für die Sachüberlassung gerichtet ist, sondern lediglich Abwicklungszwecken dient. Man spricht hier von unvollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträgen. Häufig stehen Leistungspflichten sich allerdings gleichrangig gegenüber. Jeder Vertragsteil akzeptiert nur deshalb seine Leistungspflicht, weil er es auf die Gegenleistung abgesehen hat und Gläubiger eines darauf gerichteten Anspruchs ist. So verpflichtet sich der Verkäufer nur zur Lieferung, wenn und weil der Käufer zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet ist. Nach diesem <?page no="152"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 125 uralten Prinzip des „do ut des“ (ich gebe, damit bzw. weil du gibst) funktioniert der allergrößte Teil des wirtschaftlichen Vertragswesens. Dieses sog. Synallagma ist der Kern der Mikroökonomie. Neben der soeben schon genannten Miete und dem Kauf sind hier als gesetzlich ausformulierte Vertragstypen beispielsweise zu nennen der Tausch (§ 480 BGB), der selbst im Zeitalter der Geldwirtschaft als „bilaterales Kompensationsgeschäft“ noch eine beachtliche Rolle spielt, das verzinsliche Gelddarlehen (§§ 488 ff. BGB) sowie das Sachdarlehen der §§ 607 ff. BGB als zeitweise Überlassung einer vertretbaren Sache gegen Entgelt, der Dienst- und der Werkvertrag (§§ 611 ff., 631 ff. BGB), der Verwahrungsbzw. der Lagervertrag (§§ 688 ff. BGB, §§ 467 ff. HGB) sowie der Versicherungsvertrag (Einzelheiten hier sehr umstritten). Nur Vertragsverhältnisse, die in diesem Sinne schon wirtschaftlich einander wechselseitig bedingende, „synallagmatische“ Leistungspflichten zum Inhalt haben, nennt das Gesetz „gegenseitige Verträge“ und hält für solche Verträge besondere Regelungen in den §§ 320 ff. BGB bereit. Der wechselseitigen Abhängigkeit der synallagmatischen Leistungspflichten tragen bereits die §§ 320, 322 I BGB erkennbar Rechnung: Diese Pflichten sind grundsätzlich (vorbehaltlich einer geschuldeten Vorleistung) gleichzeitig zu erfüllen, worin für beide Teile die Sicherheit liegt, nicht die eigene Leistung schon erbracht zu haben, ohne dafür die Gegenleistung zu erhalten. Rechtstechnisch muss sich die in Anspruch genommene Partei freilich darauf berufen, weil das Gesetz dieses sog. zeitliche Synallagma als Einrede, als negatives Gestaltungsrecht, ausgebildet hat. Die gesetzliche Beschreibung dieses Szenarios als Leistung „Zug um Zug“ ist allerdings nicht sehr glücklich, weil damit sprachlich eher die Vorleistung einer Partei angedeutet wird. Nur ausnahmsweise ist das Prinzip der Zug-um-Zug-Leistung außer Kraft gesetzt, sei es durch Gesetz (vgl. §§ 556b I, 614, 641 I, 699 BGB), sei es durch Parteivereinbarung (§§ 320 ff. BGB sind selber dispositiv! ), sei es durch allgemeine Verkehrssitte (§ 157 BGB) oder Handelsbrauch (§ 346 HGB). Soweit sich daraus nichts für eine Vorleistung ergibt, bleibt es demzufolge beim zeitlichen Synallagma. Der Satz: „Erst die Ware, dann das Geld“ hat keinesfalls Allgemeingültigkeit. Eine interessante Variante bildet die Regelung des § 632a BGB: Das dort normierte Recht des werkvertraglichen „Unternehmers“, unter bestimmten Voraussetzungen Abschlagszahlungen verlangen zu können, liegt vordergründig betrachtet zwischen (vollständiger) Vorleistungspflicht und Zug-um- Zug-Leistung, ist aber wohl der geglückte Versuch, das zeitliche Synallagma insoweit überhaupt praktikabel zu machen. <?page no="153"?> 126 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge b) Leistungspflichten, Loyalitätspflichten sowie Obliegenheiten Den Kern jeder Schuldner-Gläubiger-Beziehung, jedes Schuldverhältnisses, bildet das Recht des Gläubigers, vom Schuldner eine bestimmte Leistung verlangen zu können, die in einem aktiven Tun ebenso wie im Unterlassen einer Handlung bestehen kann (§ 241 I BGB). Spiegelbild dieses relativen Rechts, dieses Anspruchs (vgl. die Legaldefinition des § 194 I BGB in ihrer Anlehnung an § 241 I BGB), ist auf Seiten des Schuldners dessen Leistungspflicht. Dieses Schuldverhältnis erlischt programmgemäß dann, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt ist (§ 362 I BGB). Dabei muss man sich vor Augen halten, dass es sich bei den wirtschaftlich relevanten vertragsrechtlichen Beziehungen regelmäßig um zweiseitig, ja „gegenseitig“ verpflichtende, also synallagmatische Verträge handelt. Jede Vertragspartei ist also sowohl Schuldner als auch Gläubiger, freilich jeweils in Bezug auf eine andere Leistung. Beim Kaufvertrag beispielsweise ist der Verkäufer Schuldner in Bezug auf die Lieferung, hingegen Gläubiger in Bezug auf die Zahlung und die Abnahme der gekauften Sache (vgl. § 433 BGB). Es handelt sich also bei diesem Schuldverhältnis „Kauf“ bei Licht besehen um ein Bündel von (mindestens) 3 Schuldverhältnissen i. S. von Schuldner-Gläubiger- Beziehungen. Mithin ist das Schuldverhältnis i. e. S. der §§ 241, 362 BGB von dem Schuldverhältnis i. w. S. zu unterscheiden, in dem das Gesetz bestimmte Komplexe von Rechten und Pflichten als Besondere Schuldverhältnisse in den §§ 433 ff. BGB vorstellt (vgl. die Abschnittsüberschrift vor § 433 BGB). Untereinander haben die Leistungspflichten, wie schon kurz skizziert, durchaus nicht sämtlich dasselbe Gewicht. Beim Kauf etwa kommt es dem Verkäufer regelmäßig vielmehr darauf an, dass der Käufer zahlt. Natürlich hat der Verkäufer auch Interesse daran, dass der Käufer ihn von der gekauften Sache befreit, um Lagerkapazität zu gewinnen. Aber dieses Leistungsinteresse ist doch zumeist nachgeordnet. Es sind deshalb begrifflich die Hauptleistungspflichten, die für das Schuldverhältnis charakteristisch sind und für die Vertragsparteien typischerweise die Motivationen zum Vertragsabschluss liefern, von Nebenleistungspflichten zu trennen. Auch rechtlich besteht ein großer Unterschied: Nur die einander gegenüberstehenden Hauptleistungspflichten sind synallagmatisch, nur für sie gelten die §§ 320 ff. BGB. Denn der Zweck des Kaufs bzw. Verkaufs beispielsweise liegt doch im Austausch von Kaufsache und Kaufpreis. Es wäre eine paradoxe psychologische Situation, wollte jemand eine Sache gleichsam ohne Rücksicht auf Existenz und Höhe des zu erzielenden Kaufpreises verkaufen, also gerade und nur deshalb, um sie loszuwerden. Eine solche Motivation würde adäquat in eine Vernichtung der Sache oder in eine Schenkung einmünden. <?page no="154"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 127 Der Schuldner hat die ihn treffende Leistungspflicht nun nicht irgendwie, sondern gemäß § 242 BGB so zu erfüllen, „wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern“. Daraus ergeben sich unabhängig von ausdrücklichen Abreden immer über die Haupt- und ggf. Nebenleistungspflichten hinausreichende, in der Praxis außerordentlich wichtige Loyalitätspflichten zu Handlungen und Unterlassungen, deren Inhalt ganz von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängt. Trotzdem lassen sich diese sog. weiteren Verhaltenspflichten (auch Leistungspflichten sind natürlich Verhaltenspflichten) ganz allgemein in zwei Pflichtarten, Schutzpflichten und Erfüllungsbegleitpflichten, zusammenfassen. Dabei können die Übergänge zwischen beiden durchaus fließend sein (wie auch die Erfüllungsbegleitpflicht oft schon in der Pflicht zur vertragsgemäßen Leistung enthalten ist). Jede Vertragspartei muss sich demnach insgesamt so verhalten, dass der Rechtskreis der anderen Seite nicht beeinträchtigt, also sein Integritätsinteresse gewahrt wird (Schutzpflicht) und der mit der Leistungsbewirkung, eben der Erfüllung der Leistungspflicht angestrebte wirtschaftliche Sinn und Zweck des Vertrages (Erfüllungsinteresse) erreicht werden kann (Erfüllungsbegleitpflicht). Auf die Schutzpflicht weist § 241 II BGB überflüssigerweise gesondert hin. Beispiele: Der Handwerker repariert zwar vereinbarungsgemäß den defekten Heizkörper, beschädigt dabei aber die Tapete: Schutzpflichtverletzung. Der gekaufte Personal-Computer wird zwar geliefert, aber ohne Handbuch: Verletzung der Erfüllungsbegleitpflicht. Der Kaffeeautomat spendet zwar, wie angegeben, 0,2 l Kaffee, aber ohne Becher, so dass die erwartungsvoll ausgestreckte Hand des Käufers verbrüht wird: Vertragsstörung unter dem doppelten Gesichtspunkt der verletzten Schutz- und Erfüllungsbegleitpflicht. Durch das Nebeneinander und Gegeneinander von Haupt- und Nebenleistungspflichten, von Schutz- und Erfüllungsbegleitpflichten wird selbst ein scheinbar so einfacher und vertrauter Vertragstyp wie der Kaufvertrag (§ 433 BGB) in seiner Pflichtenstruktur doch recht komplex (vgl. Abb. 19). Erfüllungsbegleitpflichten setzen naturgemäß voraus, dass ein Vertragsverhältnis besteht. Schutzpflichten hingegen werden nicht erst mit Vertragsschluss, sondern schon mit Aufnahme eines sozialen Kontaktes begründet, der seiner Art nach zu einem Vertragsschluss hin tendiert (vgl. §§ 311 II/ 241 II BGB). Umgekehrt können Loyalitätspflichten sogar noch nach Vertragsende bestehen. Beispiele: Im Kaufhaus wird ein Kunde auf dem Weg zur Sportabteilung, wo er ein Kletterseil kaufen möchte, in der Bodenbelagsabteilung von einer aufrecht stehenden und ungenügend gesicherten und dann umstürzenden Teppichbodenrolle schwer verletzt, so dass es zum Abschluss des geplanten Kaufes gar nicht mehr kommt: Verletzung der den Kaufhausbetreiber schon vorvertraglich treffenden Schutzpflicht. <?page no="155"?> 128 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Verkäufer Käufer S Gl. S S S S S S § 433 I BGB Übereignung und Übergabe § 433 II BGB Abnahme § 433 II BGB Zahlung Gl. Gl . Gl. Gl. Gl. Gl. synallagmatische Ansprüche/ Pflichten betr. Hauptleistungen nicht synallagmatische Ansprüche/ Pflichten betr. Nebenleistungen betr. Ansprüche/ Pflichten betr. Erfüllungsbegleitverhalten Ansprüche/ Pflichten betr. Schutzverhalten Abb. 19: Pflichtenstruktur eines Schuldverhältnisses i. w. S. am Beispiel Kauf Dasselbe Schicksal trifft einen Kaufhausbesucher, der sich zunächst nur einmal über die Angebotspalette informieren möchte: Das reicht zur Annahme einer Schutzpflicht und ihrer Verletzung aus, weil solche Kontaktaufnahme in einem inneren, sachlichen Zusammenhang mit späteren Vertragsabschlüssen liegt. Dagegen keine Schutzpflichtverletzung, wenn die Teppichbodenrolle den Ladendieb verletzt. Rechtsanwalt Roland hat seine Anwaltspraxis verlegt. Der ehemalige Vermieter Vredenburg muss es auch nach Beendigung des Mietverhältnisses noch eine gewisse Zeit dulden, dass Roland ein Praxisschild mit dem Hinweis „verzogen nach...“ an der früheren Praxis belässt. Auch muss Vredenburg noch an Roland gerichtete Post nachsenden. Die Verletzung der Loyalitätspflichten ist gemäß § 280 Abs. 1 BGB sicher Grundlage von Schadensersatzansprüchen. Ob sie auch selber (gerichtlich) <?page no="156"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 129 durchgesetzt werden können, also mit Erfüllungszwang ausgestattet sind, war früher sehr streitig. Für Erfüllungsbegleitpflichten erledigt sich das Problem teilweise schon dadurch, dass der Gesetzgeber sie schon anderweit als integralen Bestandteil einer Leistungspflicht ausweist, wie etwa die Verkäuferpflicht zur Verschaffung einer geeigneten Montageanleitung (§ 434 II 2 BGB) und die darauf bezogene Pflicht zur Nacherfüllung (§§ 437 I Nr. 1, 439 I BGB) durch „Beseitigung des Mangels“. Für die verbleibenden Fälle sollte ein Erfüllungszwang bezüglich der Erfüllungsbegleitpflichten jedenfalls bejaht werden. Für Schutzpflichten ist die Frage schwerer entscheiden, weil die abzuwendende Gefahr schon recht konkret sein muss, um sie und die notwendige Abwehrmaßnahme überhaupt bezeichnen zu können. Dies ist aber wohl primär ein prozessuales Problem des hinreichend bestimmten Antrags (vgl. nur § 253 II Nr. 2 ZPO). Beispiel: Handwerker H repariert in der Wohnung von W den Heizkörper. Dabei trinkt er aus seiner Thermoskanne Kaffee, ohne die Kanne wieder zu verschließen. Es besteht durchaus die Gefahr, dass H bei seiner Tätigkeit die Kanne umstößt und der auslaufende Kaffee dann den Teppichboden in der Wohnung verschmutzt. Aber sollte W tatsächlich schon jetzt gegen H einen Anspruch auf Verschließen der Kanne haben und diesen ggf. gerichtlich verfolgen können? Und dies vielleicht schon dann, wenn H die Kanne überhaupt nur mitbringt? Schutz- und Erfüllungsbegleitpflichten können aber jedenfalls durch (ausdrückliche) Vereinbarung in den vertraglichen Leistungsumfang aufgenommen und dadurch zu (Neben-)Leistungspflichten erhoben werden. Sie sind dann selbstverständlich mit Erfüllungszwang ausgestattet. Beispiele: W und H aus dem vorstehenden Beispiel vereinbaren ausdrücklich, dass H keine gefüllten Thermoskannen in die Wohnung des W mitbringen darf. Punkt 3 des Liefervertrages über einen Personal Computer lautet: „Verkäufer verpflichtet sich zur Überlassung eines ausführlichen, auch Nicht-Experten verständlichen Handbuches in deutscher Sprache.“ Von Leistungspflichten ebenso wie von weiteren Verhaltenspflichten heben sich schließlich die sog. Obliegenheiten ab: Wen eine Obliegenheit trifft, kann insoweit wie bei einer Naturalobligation weder zu einem entsprechenden Verhalten gezwungen werden, noch braucht er eine Schadensersatzpflicht zu fürchten, wenn er die Obliegenheit verletzt. Er verliert in diesem Fall vielmehr „nur“ Rechte, die er ohne die Obliegenheitsverletzung gehabt hätte. Da es sich dabei aber vielfach um wirtschaftlich sehr bedeutende Rechte handelt, ist Obliegenheiten dieselbe Aufmerksamkeit zu widmen wie echten Rechtspflichten. Obliegenheiten spielen vor allem im Versicherungsrecht eine außerordentlich wichtige Rolle. So verliert der Versicherungsnehmer z. B. nach §§ 26 I/ 23 I VVG ganz oder teilweise seinen Versicherungsschutz, wenn er ohne Einwilligung des Versicherungsunternehmens eine <?page no="157"?> 130 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Gefahrenerhöhung vorsätzlich oder grob fahrlässig vornimmt oder zulässt. Eine wichtige handelsrechtliche Obliegenheit ist auch die „Pflicht“ zur Durchführung einer Wareneingangskontrolle: Beim beiderseitigen Handelskauf hat der Käufer gemäß den §§ 377 I HGB die gelieferte Ware grundsätzlich unverzüglich zu untersuchen und einen etwaigen Mangel zu rügen. Tut der Käufer dies nicht, verliert er seine Gewährleistungsrechte nach den §§ 434 ff. BGB, weil nun die Lieferung als „genehmigt“ gilt (§ 377 II HGB). Nicht aber könnte der Käufer vom Verkäufer gezwungen werden, eine Wareneingangskontrolle durchzuführen. Auch Schadensersatzansprüche scheiden von vornherein bei Nichtdurchführung der Wareneingangskontrolle aus, ganz abgesehen davon, dass Schäden auf Verkäuferseite wegen einer Unterlassung der Untersuchung und Mängelrüge nur schwer vorstellbar sind. Eine praktisch sehr bedeutsame Obliegenheit stellt auch die „Pflicht“ zur Schadensanzeige nach § 438 HGB im Transportrecht dar. Leider verwendet der Gesetzgeber den Obliegenheitsbegriff gelegentlich selber falsch, nämlich entweder i. S. einer Rechtsbedingung (z. B. in § 309 Nr. 4 BGB hinsichtlich § 286 I Nr. 1 BGB als Voraussetzung des Schuldnerverzuges) oder gleichsinnig mit Leistungspflichten (so in § 43 II GmbHG). Ohne jeden Pflichtgehalt sind soziale Beziehungen auf Grund von rein gesellschaftlichen Erklärungen. Mit ihrer Anerkennung sollte man im konkreten Fall allerdings nur sehr zurückhaltend operieren. Beispiel: Adam fragt Eva: „Treffen wir uns in der Privatrechtsvorlesung? “. „Na, klar“, erwidert Eva: Keine Pflicht für Eva zum Vorlesungsbesuch, und wenn Adams mitgebrachte Blumen ohne Evas Beachtung verwelken müssen, natürlich auch keine Schadensersatzpflicht! Anders die rechtliche Situation bei der Zusage, an einem Empfang mit Bewirtung teilzunehmen: Überflüssig bereitgestellte Speisen und Getränke sind dann Schäden, die durchaus unter dem Aspekt der Pflichtverletzung (§§ 280, 241 II, 311 II Nr. 3 BGB) zu ersetzen sein können. c) Leistungsort und Leistungszeit (1) Definition und rechtlich-wirtschaftliche Funktionen Nächst dem Leistungsinhalt also dem, was geschuldet ist sind die wichtigsten Leistungsparameter Ort und Zeit der Leistung, also wo und wann die Leistung zu erbringen ist. Raum, Zeit und ferner die Kausalität sind ja überhaupt die Größen, mit deren Hilfe sich die Menschen im Chaos der sie umgebenden Wirklichkeit orientieren. Die Leistungszeit bezieht sich dabei logischerweise auf den Leistungsort, der deshalb zuerst zu behandeln ist. Das Gesetz nennt übrigens manchmal den Leistungsort auch Erfüllungsort (vgl. <?page no="158"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 131 § 447 I BGB, § 29 ZPO), und auch in AGB trifft man diesen Sprachgebrauch oft an. Das ist sehr missverständlich. Gemeint ist dabei nämlich in jedem Fall der Ort, wo der Schuldner die zur Erfüllung erforderlichen Leistungshandlungen vornehmen muss, ohne dass dieser Ort zugleich auch die Stelle markiert, wo der mit der Handlung bezweckte Erfüllungserfolg und damit das Erlöschen der Schuld (§ 362 BGB) eintritt (dies ist der sog. Erfolgsort). Beispiel: Max in München hat dem Hein in Hamburg eine Maschine verkauft und sich zur Übersendung nach Hamburg bis spätestens 31. 1. bereit erklärt. Geht man hier davon aus, dass der Leistungsort („Erfüllungsort“) München ist, so hat Max die Maschine rechtzeitig geliefert, wenn er spätestens am 31. 1. die Maschine in den Transport gibt, auch wenn die Maschine erst 3 Wochen später in Hamburg eintrifft. In jedem Fall kommt es erst in Hamburg zur Erfüllung der Lieferpflicht (vgl. § 433 I BGB) durch Übergabe und Übereignung (vgl. § 929 S.1 BGB) kommt. Hamburg ist also Erfolgsort. Von den Bargeschäften des täglichen Lebens abgesehen (z. B. Kauf von Lebensmitteln, Tanken von Kraftstoff) sind wohl die meisten Vertragsbeziehungen dadurch gekennzeichnet, dass beim Erfüllungsvorgang wie im vorgenannten Beispiel eine derartige logistische Distanz zu überwinden ist. Diese Transaktion macht Mühe und Kosten und wirft die Frage auf, in welcher Risikosphäre jene Distanz liegt, namentlich dann, wenn die gelieferte Ware auf dem Transport beschädigt wird oder gar verloren geht. Fraglich ist dann vor allem, ob neu zu liefern ist und ob verneinendenfalls der Käufer trotzdem den Kaufpreis zu entrichten hat, obwohl er ja nur beschädigtes Gut oder gar nichts erhält. Wegen der logistischen Distanz stellt sich ferner die Aufgabe, bei den geschäftlichen Dispositionen und dann bei der Festlegung der vertraglichen Konditionen die für den Transport notwendige Zeit zu kalkulieren. Im vorgenannten Beispiel war dies das Problem von Hein, denn Leistungsort (in der Praxis: „Erfüllungsort“) war ja München. Wäre dagegen Hamburg als „Erfüllungsort“ (Leistungsort) und nicht nur als Zielort (sog. Destination) vereinbart worden, hätte Max mit entsprechendem Vorlauf die Auslieferung betreiben müssen, um sicher zu gehen, dass die Maschine am 31. 1. bei Hein verfügbar ist. Wird nicht rechtzeitig am Leistungsort („Erfüllungsort“)! geleistet, so können sich daraus ernste Konsequenzen ergeben, von Ansprüchen auf Ersatz des Verzugsschadens bis hin zum Recht auf Rücktritt vom Vertrag. Ganz abgesehen von diesen rechtlichen Folgen ist klar, dass die Nichteinhaltung der Leistungszeit für das Unternehmensimage alles andere als vorteilhaft ist und der Aufbau von dauerhaften Geschäftsbeziehungen nicht selten an der Unpünktlichkeit einer Seite scheitert. Dies gilt natürlich vor allem dann, wenn das Marketing des Unternehmens auf Lieferzuverlässigkeit („Liefertreue“) abgestellt ist. <?page no="159"?> 132 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge (2) Holschuld, Schickschuld und Bringschuld Hinsichtlich des Leistungsortes („Erfüllungsort“), der für jede Leistungspflicht innerhalb eines Schuldverhältnisses i. w. S. gesondert zu klären ist (besonders wichtig in sog. gegenseitigen Verträgen), sind im Einzelnen 3 Varianten denkbar (vgl. Abb. 20): Der Leistungsort kann zunächst einmal beim Schuldner liegen, so dass die Überwindung der logistischen Distanz Aufgabe des Gläubigers ist. Denkt man an den Kauf und dabei an die geschuldete Sachleistung, muss also der Käufer sich zum Verkäufer begeben, um die gekaufte Sache zu bekommen, der Käufer muss sie auf seine Kosten und Gefahr „holen“. Man spricht hier deshalb von Holschuld, selbst wenn es im Wortsinne nichts zu holen gibt, weil es sich beispielsweise um Dienstleistungen handelt (z. B. Erfüllung der Beratungspflicht des Rechtsanwalts in dessen Praxis). Den Gegenpol dazu bildet die sog. Bringschuld, bei der der Leistungsort beim Gläubiger liegt. Kosten und Gefahr des Leistungsvorgangs (Überwindung der logistischen Distanz) trägt somit der Gläubiger. Die dritte Variante bildet die sog. Schickschuld. Sie ist, obwohl dies sprachlich naheliegt, keine Verwandte der Bringschuld, sondern eine Variante der Holschuld. Denn auch bei der Schickschuld liegt wie bei der Holschuld der Leistungsort beim Schuldner. Im Gegensatz zur Holschuld muss der Schuldner aber mehr tun, als sich nur an seinem Ort zur Leistung bereithalten, bis der Gläubiger erscheint. Der Schuldner muss vielmehr bei der Schickschuld die Ware expedieren, also den Transport organisieren, die Ware zum Erfolgsort versenden. Da der Ort der Leistung aber beim Schuldner liegt, ist die Rechtzeitigkeit der Leistung in Bezug auf die Absendung, nicht in Bezug auf die Ankunft der Ware zu bestimmen. Die logistische Distanz liegt in der Verantwortungssphäre des Gläubigers, so dass die Versandkosten grundsätzlich zu seinen Lasten gehen (vgl. § 448 I BGB) und der Gläubiger auch das Transportrisiko zu tragen hat. Exakte Schnittstelle der Verantwortungssphären ist jeweils die Haus- oder Wohnungstür bzw. die Grenze des Betriebsgeländes („Werktorprinzip“). Auf Grund der Privatautonomie steht es den Vertragsparteien frei, diese Grundmuster zu variieren. Eben dies ist im internationalen Geschäft, namentlich im See- und Lufttransport, häufig der Fall, ohne dass immer von vornherein klar wäre, was die Wahl der Parteien rechtlich genau zu bedeuten hat. Vor allem die Verwendung bestimmter international verbreiteter Klauseln kann diesbezüglich Rätsel aufgeben. Beispiel: „Delivery fob Hamburg“. „Delivery cif Shanghai“ Auf vor allem international gern verwendete Abkürzungen wie die im Beispiel genannten Transportklauseln „fob“ (engl. „free on board“) und „cif“ (engl. „cost, insurance, freight“) wird noch näher bei der Darstellung von Handels- <?page no="160"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 133 klauseln einzugehen sein. Schon an dieser Stelle kann man aber festhalten, dass die Ortsangabe bei den genannten Klauseln den Leistungsort („Erfüllungsort“) bezeichnet. Auf den Sitz des Schuldners oder Gläubigers kommt es dann nicht mehr an. Da der Leistungsort grundsätzlich (vorbehaltlich anderer Abreden) zugleich den Ort des Gefahrübergangs markiert, spricht die Vertragspraxis oft statt vom „Erfüllungsort“ (also Leistungsort) auch vom Ort des Gefahrübergangs. Diese Terminologie ist jedoch nicht glücklich, denn sie verdunkelt, dass sich auf diesen Ort zumeist auch verabredete Leistungszeiten beziehen sollen, insbesondere Liefertermine, es also regelmäßig keineswegs nur um den Gefahrübergang geht. Nach § 269 I, II BGB ist die Holschuld der bürgerlichrechtliche Regelfall. Dabei richtet sich der Leistungsort nach dem Wohnsitz bzw. dem Unternehmenssitz des Schuldners z. Zt. des Entstehens der Verbindlichkeit (insbesondere also des Vertragsschlusses), nicht etwa z. Zt. des Erfüllungsvorgangs. Dies ist z. B. bedeutsam, wenn lange Lieferfristen vereinbart worden sind und es zwischenzeitlich zu einem Wohnsitz- oder Standortwechsel kommt. Abb. 20: Leistungsort/ “Erfüllungsort“ (L) und Erfolgsort (E) mit Verantwortungssphäre des Schuldners (unterlegt) Eine anderweitige Bestimmung des Leistungsortes, die sich auch aus den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben kann, sieht § 269 I BGB freilich selber vor. Dies ist letztlich überflüssig, da § 269 BGB als Schuldrecht ja dispositives Recht darstellt, also ohnedies abbedungen werden kann. Außerdem könnten schon Treu und Glauben sowie die Verkehrssitte (§§ 157, 242 BGB) einen andersartigen Schuldcharakter bedingen. Darüber hinaus existiert ein beim beiderseitigen Handelsgeschäft wegen § 346 HGB zu beachtender branchen- und ortsübergreifender Handelsbrauch, der eine von § 269 I BGB abweichende Regelschuldform für Warenlieferungen ausgebildet hat, nämlich die Schickschuld. So ist auch die Regel beim internationalen Warenkauf nach Art. 31 lit. a CISG. Aus alledem folgt die Vorzugswürdigkeit klarer Vereinbarungen über den Leistungsort und den Ort des <?page no="161"?> 134 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Gefahrübergangs, wenn beide ausnahmsweise einmal nicht identisch sein sollen. Fehlen solche Vereinbarungen, so sind die Umstände, insbesondere die Natur des Schuldverhältnisses, daraufhin zu prüfen, ob Hol-, Schick- oder Bringschuld vorliegt. Ergibt sich auch daraus nichts, so gilt für die Lieferverpflichtung beim beiderseitigen Handelsgeschäft Schickschuld, ansonsten Holschuld. Beispiele: Auf eine private Annonce hin kauft Klara von Verena deren Klavier: Holschuld (§ 269 I BGB). Die Opel-GmbH wird von einer Stuttgarter AG mit Aluminium-Kolben für die Motoren-Produktion beliefert: Diese Lieferverpflichtungen aus beiderseitigem Handelsgeschäft (Verkäufer und Käufer sind Formkaufleute, Betriebszugehörigkeit auf beiden Seiten ist gegeben) sind nach hier beachtlichem Handelsbrauch (§ 346 HGB) Schickschulden. Praktische Schwierigkeiten bereitet oft die Handhabung des Tatbestandmerkmals „Umstände“. Solche für den maßgeblichen Leistungsort („Erfüllungsort“) erheblichen Umstände sind z. B. Vertriebsform, Gewicht, Größe oder Gefährlichkeit des Liefergutes. Beispiele: Im Versandhandel (z. B. Otto-Versand Hamburg) sind Lieferschulden grundsätzlich Schickschulden, im Heizölhandel jedoch Bringschulden. Da die Lieferschuld im Heizölhandel grundsätzlich Bringschuld ist, muss der Heizöllieferant Transportrisiko und Transportkosten tragen. Umgekehrt darf nach der Auslegungsregel des § 269 III BGB aus der Übernahme der Transportkosten allein aber noch nicht auf eine Bringschuld geschlossen werden. Vielmehr liegt dann, wenn keine weiteren Indikatoren eine Bringschuld nahelegen, lediglich eine durch schuldnerseitige Kostentragung veränderte, sog. qualifizierte Schickschuld vor. Zu alledem noch folgende Beispiele: Kauf bei „Otto-Versand, Hamburg“: qualifizierte Schickschuld, wenn Versandkosten zumindest teilweise vom Verkäufer getragen werden. Qualifizierte Schickschuld ist die Lieferschuld vereinbarungsgemäß auch beim Kauf im Internet über „ebay“, da der Käufer regelmäßig Kosten und Gefahr der Versendung trägt, der Verkäufer aber den Transport organisiert. Kauf einer Sechs-Meter-Schrankwand (Eiche massiv) im Gelsenkirchener Möbel- Fachgeschäft, mit üppigen Schnitzereien (Hirsch vor Bergmassiv, Förster mit Reh sowie die sieben Zwerge): Wegen Gewicht und Umfang der Ware sowie wegen der Vertriebsform (kein „Discount“ oder „Cash-and-carry“) liegt hier Bringschuld vor. Übernimmt der Käufer hier was nicht selten der Fall ist die Transportkosten, so ist er selber schuld, denn dies wäre eigentlich Sache des Verkäufers gewesen. Kauf derselben Schrankwand zum Abholpreis in einem Möbelmarkt: Holschuld. Wie der Käufer das Monstrum nach Hause schafft, ist sein Problem. Kauf unter Vereinbarung einer Lieferung „frei Haus“: Schickschuld trotz Übernahme der Transportkosten (§ 269 III BGB). Schon um das Verlust-, Beschädigungs- und das Verzögerungsrisiko des <?page no="162"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 135 Transports günstig zu beeinflussen, wird der aufmerksame Gläubiger bemüht sein, auf eine Bringschuld hinzuwirken. Zugleich aber wird er sich eine Verbesserung seiner prozessualen Situation erhoffen, weil § 29 I ZPO für den Gerichtsstand an den Erfüllungs-, also an den Leistungsort anknüpft. Diese Hoffnungen sind aber nur zum Teil berechtigt. Denn nach § 29 II ZPO besteht bei vertraglich festgelegten, von der ansonsten geltenden Regelung (§§ 269 BGB, 346 HGB) abweichenden Erfüllungsort eine Abhängigkeit des Gerichtsstandes vom Erfüllungsort nur, wenn beide Vertragspartner Kaufleute sind, öffentlichrechtliche Körperschaften (z. B. eine Stadt, eine Universität) oder öffentlichrechtliche Sondervermögen (früher z. B. die Deutsche Bundesbahn, jetzt als Deutsche Bahn AG Formkaufmann) darstellen. Für die unmittelbare Gerichtsstandsvereinbarung (Prorogation) gilt übrigens nach § 38 ZPO nichts anderes. Nach dem Maßstab des § 269 BGB richtet sich gemäß § 270 IV BGB prinzipiell auch der Leistungsort für die Zahlungsschuld, die wohl häufigste Schuld des Wirtschaftslebens überhaupt. Dieser Zahlungsort liegt demzufolge im Einklang mit § 269 I BGB grundsätzlich beim Zahlungsschuldner. Das ist z. B. beim Kaufvertrag der Käufer, beim Mietvertrag der Mieter. Geld ist gemäß § 270 I BGB allerdings dem Gläubiger auf Kosten und Gefahr des Schuldners zu übermitteln. § 270 I BGB erweckt damit, für sich betrachtet, den Eindruck, als sei die Zahlungsschuld eine Bringschuld. Dann läge aber der Zahlungsort beim Gläubiger, was dem von § 270 IV BGB als maßgeblich bezeichneten Ausgangspunkt gerade widersprechen würde. Eine Harmonisierung beider Absätze des § 270 BGB ist deshalb nur im Wege systematischer Interpretation und in dem Sinne möglich, die Zahlungsschuld als eine besondere, vor allem durch die Pflicht zur Kostentragung qualifizierte Schickschuld anzusehen. Dass nach § 270 I BGB der Zahlungsschuldner auch die Gefahr trägt, darf man nicht überbewerten: Die Verzögerungsgefahr muss der Schuldner bei der Schickschuld ohnehin nicht tragen, und die Verlustgefahr spielt bei dem Leistungsgegenstand Geld schon angesichts des üblichen sog. bargeldlosen Zahlungsverkehrs, der durchweg an die Stelle der Übersendung von Geldscheinen und Münzen tritt, keine praktische Rolle. Auch § 270 BGB ist dispositives Recht, so dass auch die Zahlungspflicht als Bringschuld ausgestaltet werden kann. Dies wirkt sich für den Zahlungsgläubiger insbesondere wegen des inneren Zusammenhangs von Leistungsort und Leistungszeit positiv aus. Beispiel: Als „Zahlungsziel“ wurde der 15. 3. vereinbart. Der Käufer hat rechtzeitig gezahlt und darf ein etwa eingeräumtes Skonto ausnutzen, wenn er bis dahin seiner Bank Überweisungsauftrag erteilt, mag auch der Betrag dem Konto des Verkäufers erst am 25. 3. gutgeschrieben werden. Denn Zahlungsort war der (Wohn-)Sitz des Käufers als Zahlungsschuldner. Wäre „Zahlungseingang bis 15. 3.“ vereinbart worden, so hätte es sich um eine Bringschuld gehandelt: Der Käufer hätte bereits Anfang März Überweisungsauftrag erteilen <?page no="163"?> 136 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge müssen, um sicher zu sein, nicht in Zahlungsverzug zu geraten und dem Verkäufer dann dessen Zinsschaden ersetzen zu müssen. Die Kosten für diese Sicherheit trägt dabei freilich der Käufer in Gestalt seiner Liquiditätseinbuße bzw. des Verlustes an Haben-Zinsen. (3) Fälligkeit und Erfüllbarkeit Fällig ist ein Anspruch dann, wenn der Gläubiger die ihm zustehende Leistung vom Schuldner von Rechts wegen verlangen kann, erfüllbar hingegen dann, wenn der Schuldner die Leistung erbringen darf, ohne eine rechtmäßige Zurückweisung durch den Gläubiger befürchten zu müssen. Fälligkeit und Erfüllbarkeit setzen gemäß § 271 BGB prinzipiell „sofort“ (nicht: „unverzüglich“, vgl. § 121 I 1 BGB) ein. Dies wird in der Praxis regelmäßig wenig berücksichtigt: Aufträge ohne bestimmten Termin werden erst einmal nicht beachtet und stattdessen die Terminsachen bevorzugt bearbeitet. Nicht anders ergeht es Rechnungen. Ihre vorbehaltlich eines sog. Zahlungsziels ohnehin bestehende sofortige Fälligkeit wird allenfalls zur Kenntnis genommen, wenn sich etwa ein besonderer Stempelaufdruck darauf befindet. Dieser hat aber lediglich Hinweischarakter, führt jedoch nicht erst die sofortige Fälligkeit herbei. Beispiel: „Handwerkerrechnung! Sofort zahlbar! “ Da es für den Eintritt der Fälligkeit auch keiner Mahnung bedarf (diese spielt nach § 286 I BGB erst für den Eintritt des Verzuges eine Rolle), entstehen in der Praxis, die von beiderseitigen Handelsgeschäften geprägt ist, in derartigen Fällen durchweg schon mit Vertragsschluss nach Handelsbrauch (§ 346 HGB), aber jedenfalls mit Rechnungszugang, Ansprüche auf Fälligkeitszinsen (nicht zu verwechseln mit Verzugszinsen! ) über immerhin 5% p. a. (lat. „per annum“, also bezogen auf das Jahr) der Forderungshöhe (§§ 352 f. HGB), von denen mangels Rechtskenntnissen oft weder Gläubiger noch Schuldner etwas wissen. Nicht nur liquiditätsschwache Unternehmen sollten dieses Risiko (auf Seiten des Schuldners) bzw. diese Chance eines Zinsanspruches aber durchaus ernsthaft kalkulieren. Der Grundsatz sofortiger Fälligkeit wird freilich schon vom Gesetz selber vielfach durchbrochen. Davon betroffen sind neben familienrechtlichen Ansprüchen (vgl. z. B. §§ 1361 IV, 1585 I, 1612 III BGB) wirtschaftsprivatrechtlich so bedeutsame Vertragstypen wie etwa die Wohnraummiete (Fälligkeit des Mietzinses den das Gesetz jetzt in populistischer Anbiederung „Miete“ nennt! gemäß § 556b BGB immerhin erst am dritten Werktag des jeweiligen Bemessungszeitraums (zumeist Monat), das (Geld-)Darlehen, (Fälligkeit des Zinsanspruches nach § 488 II BGB bei mittel- und langfristigen <?page no="164"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 137 Krediten jeweils zum Jahresende) sowie die Dienst- und Werkverträge, die den gesamten Dienstleistungsbereich und das Arbeitsverhältnis umschließen (§§ 614, 641 BGB). Eine rechtspolitisch zweifelhafte Regelung trifft § 14 I VVG: Die Fälligkeit von Versicherungsleistungen steht praktisch im Belieben des Schuldners! Außerdem ist § 271 BGB worauf sein Wortlaut selber nochmals aufmerksam macht ja dispositives Recht. Die Leistungszeit kann also vertraglich hinausgeschoben werden. Wenn dies nach Entstehen der Verbindlichkeit geschieht, spricht man von Stundung. Damit wird übrigens die Anspruchsverjährung gehemmt (§ 205 BGB). Von der Möglichkeit, die Leistungszeit hinauszuschieben, machen die Beteiligten verständlicherweise häufig Gebrauch, weil z. B. aus logistischen Gründen gar keine sofortige Lieferbereitschaft zugesagt werden kann, weil die finanziellen Mittel zur Begleichung von Zahlungsverpflichtungen noch nicht verfügbar und vielleicht sogar erst aus dem Weiterverkauf erlöst werden sollen, oder weil die Leistung überhaupt erst später, nicht schon bei Vertragsschluss, wirtschaftlich Sinn macht. Beispiele: Verkauf eines erst noch zu produzierenden Autos im Januar bei zugesagter Lieferung im April (bis dahin hofft der Käufer, den Kaufpreis angespart zu haben). Buchen der Sommerurlaubsreise schon am Jahresanfang. Industrielle Fertigung nach dem Prinzip des just-in-time, also ohne nennenswerte Verweilzeit der zugelieferten Teile im Eigenlager. Wird von der Regel sofortiger Fälligkeit einvernehmlich Abstand genommen, so wirkt dies im Zweifel allein zu Lasten des Gläubigers, der zwar die Leistung nicht vorher einfordern kann, gemäß § 271 II BGB aber jederzeit auf vorfällige Leistung des Schuldners eingerichtet sein muss. Dies ist zu bedenken, wenn z. B. mangels Lagermöglichkeit dem Gläubiger eine vorfällige Leistung Probleme bereiten würde. Dann muss sicherheitshalber auch der dispositive § 271 II BGB seinerseits abbedungen werden. Diese Auslegungsvorschrift kommt jedoch in den eher seltenen Fällen nicht zum Zuge, in denen die erkennbaren Interessen des Gläubigers einer vorfälligen Leistungserbringung entgegenstehen. Denn dann ist für die gesetzlich vorausgesetzten Zweifel gar kein Raum. Beispiele: Keine vorfällige Darlehenstilgung zulässig, soweit dadurch das Interesse des Kreditgebers an der Kapitalverzinsung in Mitleidenschaft gezogen würde. Der Anfang November für den Nikolaustag engagierte „Weihnachtsmann“ tritt schon am 1. 12. in voller Montur auf, weil er die Angelegenheit endlich erledigt wissen möchte: unzulässig (vgl. für das verzinsliche Darlehen auch § 488 III BGB). Dasselbe gilt, wenn der für „morgen, 18.00 h“ nach Hause bestellte Taxifahrer schon um 15: 00 h vor der Haustür erscheint und die Fahrt durchführen möchte. Leistung „auf Abruf“. Gelegentlich gewinnt die Fälligkeit nach Auffassung der Vertragsparteien eine <?page no="165"?> 138 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge für das Schuldverhältnis derart große Bedeutung, dass das ganze Geschäft mit der rechtzeitigen Erfüllung der Verbindlichkeit „steht oder fällt“. Weil vor allem im kaufmännischen Bereich dieses besondere Gewicht der Fälligkeit durch das Hinzufügen der „fix“-Klausel zum Ausdruck gebracht wird, spricht man bei derartigen Verträgen, für die einige rechtliche Besonderheiten gelten, von Fixgeschäften. Auch bei ihnen ist jedenfalls für vorfällige Leistungserbringung kein Raum. Beispiele: „Lieferung per 5. 3. 2011 fix“. Bestellen eines Taxis für die ca. 15minütige Anfahrt zum Bahnhof „für morgen, Punkt 18.00 h“ weil, wie der Taxizentrale mitgeteilt wird, um 18: 30 h der Zug abfährt, der Fahrgast aber auch nicht lange auf dem kalten Bahnhof herumstehen will: Fix-Geschäft auch ohne ausdrückliche Bezeichnung! Für das Handelsgeschäft wird § 271 BGB durch § 358 HGB ergänzt: Unabhängig von sofortiger oder hinausgeschobener Fälligkeit kann die Leistung jedenfalls nur während der gewöhnlichen Geschäftszeit gefordert und bewirkt werden. Fälligkeit und Erfüllbarkeit werden hier also gleichbehandelt (so auch Art. 33 CISG). Was „gewöhnlich“ ist, bestimmt sich dabei nicht nach den individuellen Gepflogenheiten von Gläubiger oder Schuldner, sondern nach den Gewohnheiten, den Usancen der jeweiligen Geschäftskreise. Beispiel: A hat zugesagt, den defekten Aufzug im Betrieb des B zu reparieren. Obwohl B ein „Arbeitstier“ ist und sich regelmäßig auch samstags dem Unternehmen widmet, kann an diesem Tag weder B von A die Reparatur verlangen, noch kann A gegen den Willen des B darauf bestehen, am Samstag in Aktion treten zu dürfen. d) Der Leistungsgegenstand (1) Stück- und Gattungsschuld Im Prinzip kann alles Gegenstand des Rechtsverkehrs sein, so dass eine erschöpfende Aufzählung konkreter Leistungsinhalte von vornherein unmöglich sein muss. Gleichwohl lassen sich abstrakte begriffliche Kategorien formulieren und definieren, etwa Sachleistungen und Dienstleistungen. Auf Sachleistungen gerichtet sind etwa Sachkauf, Miete und Leihe (§§ 433 I 1, 535, 598 BGB), auf Dienstleistungen natürlich der Dienstvertrag (§ 611 BGB), aber auch manche Werkverträge (§ 631 BGB, Übernahme eines Vortrages; zum sog. Werklieferungsvertrag, der auf die Lieferung einer erst noch herzustellenden Sache gerichtet ist, vgl. § 651 BGB). Von besonderer rechtlicher Bedeutung ist freilich eine Unterscheidung innerhalb der Sachleistungen, also der körperlichen Leistungsgegenstände. Es kann nämlich sein, dass der <?page no="166"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 139 Schuldner verpflichtet ist, sein Leistungshandeln auf eine ganz bestimmte Sache zu richten, etwa genau die weggenommene Sache dem Eigentümer herauszugeben (vgl. § 985 BGB), die käuflich erworbene Antiquität oder das ausgewählte Grundstück zu übereignen und zu übergeben (§ 433 I BGB). Dann handelt es sich um eine sog. Stückschuld, die der Schuldner nur dann erfüllt, wenn er genau mit diesem Exemplar das Leistungsinteresse des Gläubigers befriedigt. Im Wirtschaftsverkehr sind solche Stückschulden allerdings eher selten. Zumeist wird nämlich der Leistungsgegenstand nur nach seinen Artmerkmalen, nach (technischen) Spezifikationen, Produktbeschreibungen oder Leistungsverzeichnissen bestimmt, weil für den Gläubiger (Kunden) die Individualität der Sache (z. B. nach ihrer Seriennummer) gar keine Rolle spielt. Dies sind die sog. Gattungsschulden. Beispiele: „Zwei Pfund Kaffee, Marke Kaisers Krönung, frisch geröstet, bitte! “ an die Adresse der Dame im Kaffee-Spezialgeschäft. Kauf von 100.000 Schrauben, VA-Stahl, Gewinde DIN M 8, Sechskantkopf. Leasing eines nach eigenen Wünschen konfigurierten Neuwagens, Typ Maserati Quattroporte Sport GT S, schwarz, mit weißen Ledersitzen. Zwischen Stück- und Gattungsschulden einerseits, unvertretbaren und vertretbaren Sachen andererseits, besteht nur ein lockerer begrifflicher Zusammenhang. Über unvertretbare Sachen werden zwar grundsätzlich Stückschulden, über vertretbare Sachen grundsätzlich Gattungsschulden errichtet. Daran knüpft auch das Sachdarlehen (§ 607 BGB) an. Notwendig ist das aber nicht. Wegen ihrer Privatautonomie haben es die Parteien in der Hand, nicht der in der Rechtsgemeinschaft üblichen Anschauung zu folgen (auf diese kommt es für die Abgrenzung von unvertretbaren und vertretbaren Sachen an, vgl. § 91 BGB), sondern ihre eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Beispiele: J. R., ein Ölmilliardär und Kunstbanause im fernen Texas, hat in seiner weißen Villa noch eine ganz freie Wand und bestellt bei einem ihm bekannten Kunsthändler in Amsterdam „12 qm alte niederländische Meister“: Gattungsschuld, obwohl für die Verkehrsauffassung die Individualität solcher Gemälde außer Frage steht, es sich also bei den in Betracht kommenden Bildern um unvertretbare Sachen handelt. Karl will nicht einfach eine bestimmte Menge Kartoffeln einer schmackhaften, festkochenden Sorte, sondern eigens ausgesuchte Exemplare, weil diese ihn irgendwie an die Gesichter seines pockennarbigen Onkels und seiner geliebten Großmutter (aus einer Warze im Gesicht wachsendes Haar) erinnern: Stückschulden, obwohl Kartoffeln normalerweise neben ihrer Sortenzugehörigkeit „nach (...) Gewicht bestimmt zu werden pflegen“ (§ 91 BGB), also zu den vertretbaren Sachen zählen. Bei der Gattungsschuld hat der Gläubiger keinen Anspruch auf ein ganz bestimmtes Gattungsexemplar. Der Schuldner kann vielmehr mit jeder (beweglichen) Sache erfüllen, die die vertraglich definierten Artmerkmale aufweist. Dies bedeutet umgekehrt auch ein erhöhtes Schuldnerrisiko: Die <?page no="167"?> 140 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge geschuldete Leistung ist bei der Stückschuld schon dann unmöglich, wenn die bestimmte Sache nicht mehr vorhanden ist, während bei der Gattungsschuld die Leistung solange möglich bleibt, wie noch Exemplare der vertraglich definierten Art existieren. So oder so ist genau zu prüfen, wie der Gattungskreis definiert ist: Je mehr Gattungsmerkmale vorgegeben werden, desto kleiner ist logischerweise die maßgebliche Gattung, weil man in der mengenlogischen Hierarchie immer tiefer hinabsteigt. Alle Gattungsschulden sind derart mehr oder weniger - „beschränkt“. Nichts weiter als ein derartiges restriktives Merkmal bildet auch die Vorratsklausel. Wenn der Vorrat an entsprechenden Produkten erschöpft ist, ist die Leistung infolge Erschöpfens auch der Gattung nicht mehr möglich. Beispiel: Möbel - Sessel - Ledersessel - Ledersessel mit Armlehnen - Ledersessel (braun) mit Armlehnen - Ledersessel (braun) mit Armlehnen, Typ Landhaus - Ledersessel (braun) mit Armlehnen, Typ Landhaus, Lieferung „solange Vorrat reicht“. Die Qualität wird bei den der maßgeblichen Gattung (Menge) zugehörigen Exemplaren (Elemente), namentlich bei industriellen Produkten, selbst bei ausgeklügelten Fertigungsmethoden und hochentwickelter Qualitätssicherung immer etwas schwanken. Dies wirft die Frage auf, ob sich der Schuldner bei der Leistungserbringung an den besten Exemplaren zu orientieren hat, ob nur diese erfüllungstauglich sind. § 243 I BGB normiert hier den Qualitätsmaßstab „mittlerer Art und Güte“. Für Handelsgeschäfte präzisiert § 360 HGB dies dahingehend, dass sich die Vertragspartner an dem mittleren Qualitätsstandard des Handelsgutes auszurichten haben. Werden insbesondere landwirtschaftliche Erzeugnisse und daraus hergestellte Lebensmittel nach Handelsklassen verkauft, so müssen sie mindestens die gesetzlich (HandelsklassenG mit ausführenden Rechtsverordnungen) dafür jeweils vorgeschriebenen Merkmale namentlich nach Qualität, Angebotszustand, Reinheit, Zusammensetzung, Sortierung und Beständigkeit bestimmter Eigenschaften aufweisen (§ 2 I HandelsklassenG). Den eigentlichen Clou bei Gattungsschulden hält § 243 II BGB parat: Hat der Schuldner bei der Gattungsschuld „das zur Leistung einer solchen Sache seinerseits Erforderliche getan“, so tritt eine sog. Konzentration (oder Konkretisierung) der Gattungsschuld ein. Die Leistungspflicht beschränkt sich nunmehr auf das jeweilige Gattungsexemplar. Man kann sich diese konkretisierte Gattungsschuld als eine Art Stückschuld vorstellen. Wird dann das zur Erfüllung bestimmte Gattungsexemplar vernichtet, so ist die Leistung also (objektiv) unmöglich geworden, obwohl eigentlich die Gattung ja noch gar nicht zur leeren Menge geworden ist. Für diese zentral bedeutsame Entscheidung, ob der Schuldner das seinerseits Erforderliche getan hat, ist vor allem wichtig zu wissen, wo der Leistungsort liegt: Bei der Holschuld hat der Schuldner das seinerseits Erforderliche getan, <?page no="168"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 141 wenn er die Sache ausgesondert hat und diese für den Gläubiger bereithält sowie gegebenenfalls (bei längerer Lieferfrist) den Gläubiger benachrichtigt hat. Bei der Schickschuld muss der Schuldner darüber hinaus die Sache noch expedieren, namentlich also verpacken und in den Transport (mit Post, Bahn, sonstiger Frachtführer, durchaus auch mit eigenen Leuten) geben. Bei der Bringschuld dagegen muss der Schuldner die Sache dem Gläubiger so nahebringen, dass dieser bildlich gesprochen nur noch zugreifen muss. Auch wenn der Schuldner derart das seinerseits Erforderliche getan hat, hat er freilich noch nicht die Leistung i. S. des § 362 I BGB bewirkt, noch nicht seine Schuld erfüllt. Das Erlöschen der Schuld durch Erfüllung tritt ja nicht schon mit der Leistungshandlung, sondern vielmehr erst dann ein, wenn der Leistungserfolg eingetreten ist. Beispiel: Der Verkäufer hat dem Käufer die bestellten Zulieferteile zu übereignen und zu übergeben (§ 433 I BGB). Dieser Effekt kann grundsätzlich erst dann eintreten, wenn die Voraussetzungen des § 929 S. 1 BGB erfüllt sind. Dies ist erst mit Ablieferung beim Käufer unter entsprechender Einigung über den Eigentumswechsel der Fall. Erst dann ist erfüllt. Das seinerseits Erforderliche hat der Verkäufer beim beiderseitigen Handelskauf aber schon mit Absendung der Teile getan (Schickschuld als handelsrechtliche Regel kraft Handelsbrauch! ). Mit Absendung hat sich die Gattungsschuld bezüglich der versandten Teile zur Quasi-Stückschuld „konkretisiert“. Neben § 243 II BGB sieht auch § 300 II BGB die Konkretisierung der Gattungsschuld mit Eintritt des Gläubigerverzugs vor. Das macht logisch wenig Sinn, weil die Konkretisierung wohl immer schon vorher gemäß § 243 II BGB eingetreten sein wird. Anwendungspraktisch bedeutet dies jedoch gelegentlich einen Vorteil, weil die Voraussetzungen des Gläubigerverzugs oft leichter festzustellen sind als diejenigen des § 243 II BGB. (2) Die Geldschuld Im Wirtschaftsleben ist Geld zweifellos der häufigste Leistungsgegenstand. Denn einerseits wird dort regelmäßig eine Leistung nicht unentgeltlich gewährt, andererseits ist der Tausch als „bilaterales Kompensationsgeschäft“ nur noch von marginaler Bedeutung. Umso erstaunlicher ist, dass dem Geld und der Geldschuld im BGB so wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu werden scheint. Dass „Geld“ nur ganz besonders vertretbare Sachen meint und dass das Gesetz darüber deshalb nicht viel Worte verlieren muss, wurde bereits dargelegt). Wenn nun der Schuldner zur „Zahlung“ verpflichtet ist, also eine Geldschuld in Rede steht, dann bedeutet dies, dass der Schuldner verpflichtet ist, dem Zahlungsgläubiger so viele jener Sachen als sog. Geldzeichen (Scheine, Münzen) zu übereignen und zu übergeben, dass der Gläubiger über den <?page no="169"?> 142 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge ihm gebührenden Geldwert verfügen kann. Wegen des typischen Zusammenhangs von vertretbaren Sachen (wozu gerade auch Geld gehört! ) und Gattungsschuld handelt es sich bei Geldschulden also durchweg um Gattungsschulden. Die Gattung „Geld“ erschöpft sich freilich niemals, ist allenfalls für den einzelnen Zahlungsschuldner ungünstig innerhalb der gesamten Volkswirtschaft verteilt. Auch die Geldschuld stellt sich somit lediglich als Anwendungsfall einer dem Gesetz durchaus vertrauten Begriffskategorie dar. Das Qualitätsproblem (vgl. nochmals § 243 I BGB) taucht dabei freilich nur höchst selten auf, etwa bei beschädigten, nicht mehr sicher „automatentauglichen“ Geldzeichen. Geldschulden liegen wie gesagt zunächst immer dort vor, wo ein bestimmter Betrag, etwa Euro 75.000 als Kaufpreis, oder Euro 1.300 als Mietzins, zu zahlen ist (vgl. §§ 433 II, 535 II BGB). Dann handelt es sich grundsätzlich um eine sog. Geldsummenschuld. Bei ihr bemisst sich der zu verschaffende Geldwert allein nach dem Nennwert der Forderung (z. B. Euro 1.300), nicht nach dem inneren Geldwert (Kaufkraft, außenwirtschaftlich Kurswert). Das Inflationsrisiko wird dabei also dem Zahlungsgläubiger zugewiesen. Um die Wirksamkeit solcher Wertsicherungsklauseln sicherzustellen, bedarf es einer gewissen Umsicht. Dem Wechselkurs- und Inflationsrisiko, dem Geldsummenschulden ausgesetzt sind, lässt sich auch durch die Begründung sog. Valutaschulden begegnen, also dadurch, dass die Geldschuld nicht in Euro, sondern in einer hoffentlich! stabileren Währung ausgedrückt und explizit Zahlung in dieser Fremdwährung vereinbart wird. Beispiel: Kreditnehmer Kai aus Köln hat bei der „Bayern“-Bank mit Sitz in München ein Darlehen in Höhe von Euro 100.000 aufgenommen, das in 10 Jahren zurückzuzahlen ist. Kai und die „Bayern“-Bank können wirksam vereinbaren, dass die Rückzahlung in US-Dollar zu erfolgen hat. Die Chinesin Chen schuldet aus einem finanzierten internationalen Geschäft der Deutschen Bank in Frankfurt am Main 13,5 Mio. US-Dollar als Kreditrückzahlung. Frau Chen kann gemäß § 244 I BGB freilich auch in Euro leisten (zum aktuellen Kurs bei Fälligkeit). Im zweiten Beispiel greift übrigens das in § 244 I BGB für im Inland zu zahlende Valutaschulden grundsätzlich eingeräumte Wahlrecht gerade nicht, weil hier die Zahlung in einer anderen Währung als Euro ja ausdrücklich vereinbart wurde (§ 244 I BGB a. E.). Damit ist dann auch die Umrechnungsregel des § 244 II BGB gegenstandslos: Diese Probleme tauchen bei Geldwertschulden von vornherein nicht auf. Solche Geldschulden resultieren etwa aus Schadensersatzansprüchen (vgl. §§ 249 II, 251 BGB) oder folgen aus Normen wie § 818 II BGB. Sie passen sich gleichsam automatisch den veränderten Verhältnissen an. <?page no="170"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 143 (3) Unbestimmtheit der Leistung Zumindest bei den Geschäften des täglichen Lebens, also im sog. B2C- Bereich (engl. „Business to Consumer“), bleiben insbesondere zu leistende Zahlungen, (nur selten andere Leistungen) oft zunächst unbestimmt. Dann ist, wie sich aus der Existenz der §§ 315 ff. BGB schließen lässt, durchaus ein Vertrag (Verbrauchervertrag i. S. von § 310 III BGB, regelmäßig speziell ein Verbrauchsgüterkauf i. S. von §§ 474 ff. BGB) zustandegekommen. Nicht etwa liegt ein Dissens nach §§ 154 f. BGB vor, obwohl § 433 II BGB auf den ersten Blick für das Zustandekommen eines Kaufvertrages eine Preisvereinbarung vorauszusetzen scheint. Der Preis ist nunmehr vom Verkäufer als dem Gläubiger (§ 316 BGB) in den Grenzen seines „billigen Ermessens“ (§ 315 I BGB) festzusetzen. Dies gewährt einen sehr weiten Spielraum. Keineswegs ist nur der übliche Preis, der Marktpreis etc. in diesem Sinne „billig“. Weicht der danach bestimmte Preis von den Vorstellungen der Vertragspartei nachteilig ab, kommt keine Irrtumsanfechtung in Betracht, da ein unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt. Beispiele: Der Kunde betritt die Bäckerei, deutet auf ein sog. Schweineöhrchen, dessen Preisauszeichnung leider fehlt, und sagt: „Das da, bitte“. „Sehr wohl, der Herr“, antwortet die Verkäuferin. Da eine Vereinbarung über den Preis nicht getroffen wurde, ist er von der Verkäuferin „nach billigem Ermessen“ festzusetzen: Auch wenn das Backwerk vielfach für Euro 0,85 angeboten wird, sind gewiss auch noch Euro 2 „billig“, ebenso sicher nicht Euro 20. Jemand wendet sich an die Rezeption eines Mittelklassehotels und erhält ein Zimmer für eine Nacht. Über Preise wird nicht gesprochen. Am nächsten Tag wird die Rechnung präsentiert: Euro 350 (der Gast hatte mit ca. Euro 100 gerechnet)! Preisfestsetzung wohl noch innerhalb des billigen „Ermessens“, keine Anfechtungsmöglichkeit. Im sog. B2B-Bereich (engl. „Business to Business“) kommt es hingegen nur selten vor, dass der Preis von den Parteien nicht schon bei Vertragsschluss vereinbart wurde. Durchaus geläufig ist dort aber die spiegelbildliche Gestaltung, dass die der Zahlung gegenüberstehende Leistung, beim Kaufvertrag also die Kaufsache, bei der Miete das Mietobjekt etc. noch näher bestimmt werden müssen. Auch dafür gelten grundsätzlich die §§ 315 ff. BGB. Soweit es sich dabei um einen Handelskauf i. S. der §§ 373 ff. HGB handelt, werden die Vorschriften für den dann sog. Spezifikationskauf aber ergänzt durch § 375 HGB. Beispiel: Einkauf von 100.000 Fernbedienungen für Fernsehgeräte, wobei genaue technische Spezifikationen noch vorbehalten bleiben. <?page no="171"?> 144 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge e) Erfüllung und Erfüllungssurrogate (1) Erfüllung, insbesondere auch Zahlung Hat der Gläubiger das erhalten, was er fordern konnte, so ist sein Leistungsinteresse durch Erfüllung befriedigt. Beispiele: Der Käufer ist Besitzer und Eigentümer der Kaufsache, der Verkäufer Besitzer und Eigentümer von Scheinen oder Münzen des jeweiligen gesetzlichen Zahlungsmittels (also Geld, in Deutschland: Euro) geworden. Der Mieter eines „Leihwagens“ (zum Begriff der Leihe s. § 598 BGB: Unentgeltliche Gebrauchsüberlassung! ) kann das Fahrzeug nach Aushändigung der Fahrzeugschlüssel sowie der Fahrzeugpapiere durch Ausübung der tatsächlichen Sachherrschaft (Anlassen, Fahren, Lenken, Bremsen etc.) nutzen, der Auto- „Verleiher“ (in Wahrheit Auto-Vermieter) ist Besitzer und Eigentümer von Euro-Scheinen und Münzen in Höhe des für die Besitzüberlassung vereinbarten Mietzinses geworden. Dass der Anspruch (das Schuldverhältnis i. e. S., vom Gläubiger aus betrachtet) sozusagen „programmgemäß“ durch Erfüllung, durch Bewirken der geschuldeten Leistung erloschen ist (§ 362 I BGB), muss der Gläubiger auf Verlangen des Schuldners durch Ausstellen einer Quittung bestätigen, und zwar keineswegs nur bezüglich der erhaltenen Zahlung, sondern für den Erhalt jeder Art von geschuldeter Leistung (§§ 368, 369 BGB). Das Wort „Quittung“ muss dabei selbstverständlich nicht fallen. Beispiele: „Ware“ bzw. „Rechnungsbetrag dankend erhalten.“ Der Mieter eines „Leihwagens“ füllt ein als „Übergabeprotokoll“ bezeichnetes Formular aus und vermerkt darauf: „Das Fahrzeug wurde mir ordnungsgemäß übergeben“. § 362 I BGB verlangt zum Eintritt der Erfüllungswirkung, also für das Anspruchserlöschen, jedoch nicht, dass dazu gerade der Schuldner tätig geworden ist. Vielmehr schreibt § 267 I BGB gerade umgekehrt die Möglichkeit fest, dass grundsätzlich auch ein Nicht-Schuldner, ein „Dritter“, die geschuldete Leistung bewirken, also den Anspruch erfüllen kann, ohne dass der Gläubiger sich dagegen rechtens zur Wehr setzen darf. Ob der Schuldner dies will oder nicht, bleibt gleich (§ 267 I 2 BGB). Allerdings hat der Gläubiger im letzteren Fall doch das Recht, die Leistung des Dritten abzulehnen; dazu gezwungen ist er aber auch hier nicht (wichtige Ausnahme in § 34 VVG). Beispiel: Leonard Lustig, vertraglich verpflichteter Lieferant von Kuno Knabe, hat einen unerwarteten Lieferengpass. Sein Konkurrent, der Unternehmer Ulf Ungestüm, springt mit der geschuldeten Ware in die Bresche, um Knabe die Güte der Konkurrenzprodukte vor Augen zu führen: Knabe muss prinzipiell annehmen. Wenn Lustig die Hilfe Ungestüms aus naheliegenden Gründen nicht annehmen will und lieber die begrenzten rechtlichen als die langfristig und strategisch wirtschaftlich ungünstigen Konsequenzen tragen möchte, kann Knabe die Lieferung durch Ungestüm ablehnen, braucht es aber nicht. <?page no="172"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 145 Eine Leistungsmöglichkeit durch Dritte besteht nur dann nicht, wenn der Schuldner ausnahmsweise höchstpersönlich zu leisten hat (nicht zu verwechseln mit den höchstpersönlichen, d. h. stellvertretungsfeindlichen Rechtsgeschäften). Dies kann auf vertraglicher Vereinbarung, aber auch auf Gesetz beruhen. Der durch einen Dienstvertrag (dazu zählt auch der Arbeitsvertrag) zur Erbringung von Dienstleistungen Verpflichtete kann wegen § 613 BGB grundsätzlich nicht etwa jemand anderen schicken, der seine Sache vielleicht genauso gut machen würde wie der Schuldner (Arbeitnehmer) selber. Höchstpersönliche Erfüllung der Leistungspflicht verlangt § 713 i. V. m. § 664 BGB ferner auch von dem geschäftsführenden Gesellschafter von Personengesellschaften bezüglich seiner Geschäftsführungspflicht. Sowohl § 613 BGB als auch §§ 664/ 713 BGB sind freilich ihrerseits dispositiv. Ohnehin zulässig ist auch die Einschaltung von Erfüllungsgehilfen i. S. von § 278 BGB. Auch die spiegelbildliche Situation zur Leistung durch einen Dritten ist möglich: Wenn der Schuldner mit Zustimmung des Gläubigers an einen Dritten leistet, hat der Schuldner ebenfalls seiner Leistungspflicht genügt, so dass das Schuldverhältnis durch Erfüllung erlischt (§§ 362 II, 185 BGB). Beispiel: V hat dem K eine von diesem dringend benötigte Maschine verkauft, die V sich aber seinerseits erst noch beschaffen muss. Dazu schließt V mit dem Hersteller H einen entsprechenden Kaufvertrag. Zur beschleunigten Abwicklung der ganzen Angelegenheit veranlasst V seinen Verkäufer H, die Maschine direkt an K auszuliefern, erklärt also seine Einwilligung, dass H nicht ihn, V, als seinen Käufer, sondern den K an Stelle des V Besitzer und Eigentümer der Maschine macht: Den Lieferanspruch des V hat H damit erfüllt (§§ 362 II, 185 I BGB), zugleich ist aber auch der Lieferanspruch des K gegen V durch Erfüllung seitens des „Dritten“ H erloschen (§§ 362 I, 267 I BGB). In diesen Zusammenhang gehört schließlich § 851 BGB: Die Schadensersatzleistung an einen Scheingläubiger befreit unter den dort genannten Voraussetzungen den Schuldner gegenüber dem wahren Gläubiger. Dieser kann freilich vom Scheingläubiger nach § 816 II BGB Herausgabe des Erlangten verlangen, eben weil die Leistung des Schuldners an den Scheingläubiger dem wirklichen Gläubiger gegenüber die Wirkung des § 851 BGB, nämlich Anspruchserlöschen, gehabt hat. Beispiel: L hat sich von E dessen Fahrrad geliehen. Auf einer Fahrt durch das Münsterland kommt es zu einer von S „widerrechtlich“ und „fahrlässig“ verursachten Karambolage, wobei am Fahrrad des E ein Schaden in Höhe von Euro 170 entsteht. S, der dem E wegen Verletzung dessen Eigentums nach § 823 I BGB zum Schadensersatz verpflichtet ist, drückt dem L auf dessen Verlangen hin Euro 170 in die Hand, wobei S den L für den Eigentümer hält und grundsätzlich ja auch halten darf (Eigentumsvermutung zugunsten des Besitzers nach § 1006 I BGB! ). E verliert dadurch seinen Anspruch gegen S, kann aber von L die Euro 170 herausverlangen. <?page no="173"?> 146 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Hat der Schuldner gegenüber dem Gläubiger mehrere gleichartige Leistungspflichten, also insbesondere Zahlungspflichten, zu erfüllen, so kann zweifelhaft sein, auf welche Schuld die Leistung, die nicht zur Erfüllung aller Schulden hinreicht, bezogen werden soll. Dann darf der Schuldner den Schuldbezug der Leistung bestimmen (§ 366 I BGB). Tut er dies nicht, so tritt die Schuldtilgung in der Reihenfolge des § 366 II BGB ein. Beispiel: Die Berliner Bank hat der Modern-Software-GmbH 2005 einen jederzeit ganz oder teilweise rückzahlbaren ungesicherten Kredit über Euro 50.000 zu 7% und 2007 einen Kredit über Euro 80.000 zu 9% (Jahresverzinsung) gegeben. 2009 zahlt die Modern-Software-GmbH, die keinerlei Zinsrückstände hat, Euro 60.000 ohne nähere Maßgabe an die Berliner Bank zur Kredittilgung. Nach § 366 II BGB wird dies auf den Kredit von 2007 verrechnet, der zwar der jüngere, wegen seiner höheren Verzinsung aber der für die GmbH „lästigere“ ist. In der Kreditpraxis werden freilich für solche Fälle durchweg schon bei der Kreditvergabe entsprechende Bestimmungen getroffen. Da faktisch die kreditgebende Bank die Formulierungshoheit über solche Kreditbedingungen hat, wird der Verrechnungsmodus dabei zumeist so festgeschrieben, dass die Interessen der Bank besser gewahrt sind, als dies nach § 366 II BGB der Fall wäre. Bei unerfüllten Zinsansprüchen ist außerdem § 367 BGB zu beachten. § 366 II BGB spielt aber eine erhebliche Rolle bei festen Geschäftsbeziehungen, in denen wiederkehrende Leistungen erbracht werden. Beispiel: Zwischen Zulieferer Z und dem Maschinenbauer M werden immer wieder Verträge über die Lieferung bestimmter Teile geschlossen, auch wenn bereits geschuldete Lieferungen noch ausstehen oder die Lieferfälligkeit noch nicht eingetreten ist. (2) Leistung an Erfüllungs Statt, insbesondere Banküberweisung Bei einer Verpflichtung zur Zahlung kann, wie schon mehrfach ausgeführt wurde, der Zahlungsschuldner nur durch Übereignung von (gültigen) Banknoten und Münzen seine Zahlungspflicht erfüllen. Die sog. bargeldlose Zahlung durch Banküberweisung gibt es rechtlich streng genommen gar nicht; der Begriff ist ein Widerspruch in sich. Wenn die Zahlungsschuld dennoch erlöschen sollte, dann jedenfalls nicht wegen ihrer Erfüllung. Der Schlüssel zum Verständnis dieses alltäglichen Vorgangs liegt in § 364 I BGB: Wenn sich der Gläubiger mit etwas anderem als der geschuldeten Leistung zufrieden gibt und dies als Leistung an Erfüllungs Statt akzeptiert, dann will das Gesetz den Interessen der Beteiligten nicht im Wege stehen. Der Gläubiger kann freilich immer nur die geschuldete Leistung, nicht ein Erfüllungssurrogat verlangen, und der Schuldner kann dem Gläubiger kein Erfül- <?page no="174"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 147 lungssurrogat aufzwingen. Es bedarf also einer entsprechenden Einigung der Parteien, die in deren Belieben steht (Abschlussfreiheit! ). Die Einigung kann freilich auch konkludent erfolgen (Formfreiheit! ). Seitens des Zahlungsgläubigers wird ein solches Angebot z. B. schon durch Angabe der Bankverbindung auf der Rechnung gemacht, und der Zahlungsschuldner nimmt dieses Angebot schlüssig durch Erteilung des Überweisungsauftrages an. Der Gläubiger kann aber auf effektiver Zahlung, auf „cash“ ebenso wie der Schuldner bestehen, wofür es durchaus wirtschaftlich verständliche, wenn auch nicht immer rechtsethisch anerkennenswerte Gründe geben mag (Verheimlichen von Einkünften). Beispiel: Geheimhaltungsinteresse gegenüber den Finanz- und Justizbehörden oder auch gegenüber dem Lebenspartner, die ansonsten durch die dokumentieren Kontobewegungen einen so nicht erwünschten Einblick in die monetären Zu- und Abflüsse erhalten. (3) Exkurs: Leistung erfüllungshalber, insbesondere Scheck, Kreditkarte und EC-Karte Elektronische „Zahlungs“-Instrumente im Zusammenhang mit Zahlungspflichten, über die sogleich noch zu sprechen sein wird, haben in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern den Scheck in den Hintergrund treten lassen. Dennoch lohnt ein kurzer Blick auf den Scheck, um auch die elektronischen „Zahlungs“-Instrumente rechtlich besser verstehen zu können. Durch die Hingabe des Schecks übernimmt der Aussteller eine eigene, von der zugrunde liegenden Zahlungspflicht z. B. aus Kaufvertrag (§ 433 II BGB) rechtlich unabhängige, abstrakte Zahlungspflicht. Zugleich ermächtigt der Aussteller die bezogene Bank, den Scheckbetrag unter Belastung des Kontos des Scheckausstellers dem Schecknehmer bzw. (beim Inhaberscheck, vgl. Art. 5 II ScheckG) auch dessen Überbringer bar auszuzahlen oder ihm wenigstens eine Gutschrift auf sein Konto zu erteilen (Verrechnungsscheck nach Art. 39 ScheckG). Die Zweifel, ob mit der Annahme des Schecks durch den Zahlungsgläubiger dessen Zahlungsanspruch erloschen ist, löst § 364 II BGB: Die Übernahme einer solchen Scheckverbindlichkeit zum Zwecke der Befriedigung des Zahlungsgläubigers erfolgt regelmäßig nicht an Erfüllungs (Zahlungs) Statt. Sonst würde der Gläubiger und Schecknehmer seinen Zahlungsanspruch auch dann verlieren, wenn sich der Scheck bei Einreichung als nicht gedeckt erweist. Der Scheck wird vielmehr nur erfüllungshalber so heißt der (lat.) terminus technicus hingegeben. Dies bedeutet im Einzelnen, dass die Fälligkeit des Zahlungsanspruchs z. B. aus dem Kaufvertrag hinausgeschoben wird, bis Klarheit darüber besteht, ob <?page no="175"?> 148 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge der Scheck „läuft“, ob also für ihn Deckung besteht. Bis dahin kann also der Zahlungsgläubiger (Verkäufer, Schecknehmer) diesen Zahlungsanspruch nicht verfolgen. Wird der Scheck eingelöst, so erlischt die Scheckverbindlichkeit ebenso wie die der Scheckausstellung wirtschaftlich zugrunde liegende Zahlungspflicht. Bezüglich letzterer wandelt sich die Scheckhingabe nunmehr im Nachhinein also zur Leistung an Erfüllungs Statt durch einen Dritten (§ 267 BGB), nämlich durch die bezogene Bank. Ist hingegen der Scheck nicht gedeckt, so kann der Zahlungsgläubiger einfach seinen Zahlungsanspruch weiter verfolgen. Ebenfalls nur erfüllungshalber, zahlungshalber, werden Kreditkarten als „Zahlungsmittel“ akzeptiert. Die Rechtsverhältnisse, die in diesem rechtlich nicht wirklich zutreffend sog. Zahlungskartengeschäft entstehen (nur mit Geld kann man im Rechtssinne „bezahlen“), sind freilich insgesamt recht kompliziert, in den §§ 675c ff. BGB nur teilweise gesetzlich erfasst und demgemäß unsicher. Die Sach- und Rechtslage dürfte sich folgendermaßen darstellen: Der Kunde als Kreditkarteninhaber zahlt, wie bekannt, nicht an den Verkäufer, Vermieter etc., sondern quittiert mit seiner Unterschrift lediglich einen Leistungsbeleg, der den formalen Standards eines bestimmten Kreditkartenunternehmens (z. B. Mastercard) entspricht. Dafür muss der Verkäufer, Vermieter etc. seinen Zahlungsanspruch stunden, bis ihm das Kreditkartenunternehmen, das mit dem Verkäufer, Vermieter etc. einen sog. Anschlussvertrag geschlossen hat, den im unterschriebenen Leistungsbeleg ausgewiesenen Zahlungsbetrag vertragsgemäß gutbringt. Erst damit ist dann der Zahlungsanspruch gegen den Kunden durch Leistung eines Dritten an Erfüllungs Statt erloschen. Das Kreditkartenunternehmen wiederum hat in diesem Dreiecksverhältnis auf Grund seines mit dem Kunden/ Karteninhaber geschlossenen Kreditkartenvertrages („Zahlungsdiensterahmenvertrag“, § 675f II BGB) die Pflicht, den übernommenen Zahlungsdienst, nämlich die Zahlungsschulden des Kreditkarteninhabers gegenüber den dem Kreditkartensystem angeschlossenen Unternehmen (sog. Vertragsunternehmen) auf die genannte Art und Weise zu tilgen. Die für derartige Erfüllungsübernahmen in § 329 BGB ausgesprochene Vermutung greift also nicht, weil ja das Kreditkartenunternehmen eine eigene, auf dem Anschlussvertrag beruhende Pflicht gegenüber dem Vertragsunternehmen trifft, Zahlungspflichten von Karteninhabern gegenüber Vertragsunternehmen zu tilgen. Das Kreditkartenunternehmen hat seinerseits gegen den Kreditkarteninhaber, der von seiner Zahlungsschuld befreit wurde, einen Erstattungsanspruch in gleicher Höhe nach §§ 675 I, 670 BGB (abgesehen von Abschluss-, Auslandsgebühren etc.). Denn bei einem Vertrag über Zahlungsdienste handelt es sich um einen Geschäftsbesorgungsvertrag, wie § 675c Abs. 1 BGB lediglich klarstellt. <?page no="176"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 149 Dabei entsteht zugunsten des Kunden/ Karteninhabers ein doppelter Krediteffekt: Der Karteninhaber verliert keine Liquidität an den Verkäufer, Vermieter etc., und außerdem rechnet das Kreditkartenunternehmen seine Erstattungsansprüche nach §§ 675, 670 BGB nicht sogleich nach Eingang der Leistungsbelege ab, sondern erst periodisch, z. B. am Monatsende. Dadurch schont der Kunde/ Karteninhaber wiederum seine Liquidität. Diesen Krediteffekt genießt der Kreditkarteninhaber selbst dann, wenn er die Kreditkarte gar nicht zu einer (teuren! ) Kreditschöpfung i. S. einer Überziehung seines Giro- Konto unter Nutzung eines ihm eventuell eingeräumten Überziehungskredits benutzt (als sehr teurer sog. Dispositionskredit, im Volksmund „Dispo“ genannt), sondern die Kreditkarte (engl. „credit card“) nur als „Zahlungskarte“ (engl. „debit card“, vgl. „Zahlungskartengeschäft“ in §§ 675c ff. BGB): Die im Konsumbereich ökonomisch einzig vernünftige Nutzung! Weit verbreitet ist auch die „Zahlung“ mit der EC-Karte (EuroCard), einer reinen Zahlungskarte. Hierbei ist zu unterscheiden: Wird die EC-Karte zusammen mit der PIN (engl. „Personal Identification Number“) vom Zahlungsgläubiger akzeptiert, so erfolgt unmittelbar eine Abbuchung vom Giro-Konto des EC-Karteninhabers als des Zahlungsschuldners bei gleichzeitiger Gutschrift auf dem Giro-Konto des Zahlungsgläubigers. Es handelt sich also um eine Leistung an Zahlungs (Erfüllungs) Statt. Wird statt der PIN die EC-Karte (nur) mit Unterschrift verwendet, liegt lediglich eine Leistung zahlungshalber (erfüllungshalber) vor. Die rechtliche Situation ist dann ähnlich wie bei Einsatz der Kreditkarte. (4) Aufrechnung Ein Erfüllungssurrogat stellt jedoch die Aufrechnung (§§ 387 ff. BGB) dar. Durch sie werden zwei sich einander gegenüberstehende Ansprüche, Haupt- und Gegenforderung, gleichermaßen getilgt (§ 389 BGB). Als Hauptforderung bezeichnet man dabei diejenige Forderung, derer sich der Schuldner dadurch entledigt, dass er einen ihm gegenüber dem Gläubiger der Hauptforderung zustehenden Anspruch, eben die Gegenforderung, gleichsam opfert (vgl. Abb. 21). Zum Eintritt dieses doppelten Tilgungseffektes bedarf es zunächst einmal der sog. Gegenseitigkeit von Haupt- und Gegenforderung. Das Gesetz drückt dies in § 387 BGB etwas missverständlich mit der Wendung aus, dass zwei Personen einander Leistungen schulden. Es braucht sich freilich nicht notwendig um natürliche oder juristische Personen zu handeln; vielmehr genügt jedes Rechtssubjekt, also auch eine Gesamthandsgemeinschaft. Bei dieser wie auch bei juristischen Personen ist der erforderlichen Gegenseitigkeit besonderes Augenmerk zu widmen. <?page no="177"?> 150 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Abb. 21: Haupt- und Gegenforderung bei der Aufrechnung Die Gegenseitigkeit von Haupt- und Gegenforderung hat auch nicht etwa den Sinn eines Synallagmas wie bei den „gegenseitigen“ Verträgen (vgl. §§ 320 ff. BGB). Nicht einmal aus demselben rechtlichen Verhältnis brauchen Haupt- und Gegenforderung zu entspringen, wie dies § 273 I BGB für das allgemeine Zurückbehaltungsrecht verlangt (also kein Erfordernis der sog. Konnexität). § 387 BGB knüpft die Aufrechnung ferner an die Gleichartigkeit der geschuldeten Leistungen. Das ist in der Praxis völlig unproblematisch, weil es sich bei Hauptforderung und zur Aufrechnung gestellter Gegenforderung ja durchweg um Geldschulden handeln wird. Vordergründig betrachtet ist die Aufrechnung nur ein Instrument, mit dem sich der Schuldner (der Hauptforderung) von seiner Verbindlichkeit befreit. Betrachtet man den Vorgang freilich aus dem Blickwinkel der Gegenforderung, so erscheint die Aufrechnung als ein Akt der Selbsthilfe: Der Schuldner (der Hauptforderung) setzt damit seine Gegenforderung ohne gerichtliche Mitwirkung quasi im Wege einer Privatvollstreckung durch (und zwar gemäß § 95 InsO unter den dort genannten Voraussetzungen sogar noch in der Insolvenz der Gegenseite mit der Folge einer nicht nur quotenmäßigen Befriedigung! ). Aus der Vollstreckungswirkung erklärt sich, dass § 387 BGB für die Aufrechnung die Fälligkeit und § 390 BGB die Einredefreiheit der Gegenforderung verlangt: Könnte die Gegenforderung z. B. wegen Stundung, Verjährung, auf Grund § 320 BGB oder wegen § 369 HGB (kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht) für sich genommen nicht durchgesetzt werden, so soll dies grundsätzlich auch nicht im Wege der Aufrechnung möglich sein. Allerdings kann nach § 215 BGB ausnahmsweise auch eine verjährte (Gegen-) Forderung zur Aufrechnung gestellt, also doch noch durchgesetzt werden, sofern sie nur einmal bei Eintritt der Aufrechnungsmöglichkeit unverjährt der Hauptforderung gegenüberstand. Beispiel: Alois nimmt Bert am 9. 6. auf Zahlung in Höhe von Euro 5.000 in Anspruch. Die fällige Forderung erwuchs am 11. 1. Bert rechnet sogleich mit einer uralten Gegenforderung gegen Alois über Euro 3.000 auf, die jetzt zwar verjährt ist, dies am 11. 1. aber noch nicht war: Aufrechnung (in Höhe von Euro 3.000) möglich. Dass sich Haupt- und Gegenforderung aufrechenbar gegenüberstehen, schafft <?page no="178"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 151 zunächst nur eine sog. Aufrechnungslage, aus der ein Aufrechnungsrecht beider Seiten erwächst. Nicht etwa erlöschen die Forderungen, soweit sie sich decken, schon mit Eintritt der Aufrechnungslage von selbst. Zur Erlöschenswirkung bedarf es vielmehr der Ausübung des Aufrechnungsrechtes, das als Gestaltungsrecht nicht der Verjährung unterliegt. Die Ausübung erfolgt durch eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die weder bedingt noch befristet erfolgen darf (vgl. § 388 BGB). Da es sich hierbei um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt, muss der Aufrechnende zumindest beschränkt geschäftsfähig sein. Wird wirksam also bei Bestehen eines Aufrechnungsrechtes und Vorliegen der allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen für (einseitige) Rechtsgeschäfte aufgerechnet, so wird das Erlöschen von Haupt- und Gegenforderung im Umfang ihrer beiderseitigen Deckung auf die Aufrechnungslage rückbezogen (§ 389 BGB). Im vorstehenden Beispiel gelten Haupt- und Gegenforderung in Höhe von Euro 3.000 also rückwirkend („ex tunc“) bereits am 11. 1. als getilgt. Für die Zeit ab 11. 1. und bezüglich einer Forderungshöhe von Euro 3.000 können deshalb z. B. keinerlei Zinsansprüche erwachsen sein; etwa bereits geleistete Zinsen müssten zurückerstattet werden. Das hier dargestellte Grundmodell der Aufrechnung ist nach mehreren Richtungen hin modifiziert: So enthalten nicht nur §§ 393 ff. BGB, sondern etwa auch §§ 66 I 2 AktG, 19 II 2 GmbHG, 22 V GenG und 26 VAG wichtige Aufrechnungsausschlüsse. Aufrechnungserschwerungen und -ausschlüsse können freilich auch aus Absprachen der Beteiligten resultieren, denn die §§ 387 ff. BGB sind als Schuldrecht ja dispositives Recht. Vereinbarungen, die die Aufrechnung ausschließen, werden häufig in klauselartiger Form getroffen. Um eine solche sog. Effektivklausel handelt es sich bei allen „Kasse“- Klauseln, die im Handelsverkehr sehr zahlreich sind. Beispiele: „Kasse gegen Verladepapiere“, „Kasse gegen Rechnung“ (oder: „Faktura“), (engl.) „Cash on delivery“ („cod“). Umgekehrt kann vertraglich die Aufrechnung auch erleichtert werden, namentlich indem von der notwendigen Gegenseitigkeit Abstand genommen wird. In diesen Zusammenhang gehören namentlich die Konzernverrechnungsklauseln. In ihrer umfassensten Gestalt räumen sie dem begünstigten Vertragspartner die Befugnis ein, gegen die Forderung eines Konzernunternehmens mit einer Gegenforderung aufzurechnen, die sich nicht gegen eben dieses, sondern gegen irgendein anderes demselben Konzern angehörendes, rechtlich selbständiges Unternehmen richtet. Und von der Notwendigkeit einer Aufrechnungserklärung gemäß § 388 BGB entbindet die Verabredung eines Kontokorrent (§§ 355 ff. HGB), durch welches sich eine Saldierung der in das Kontokorrent einbezogenen Forderungen am Ende der vereinbarten Rechnungsperiode automatisch vollzieht. <?page no="179"?> 152 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge (5) Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht Ein besonderes Erfüllungssurrogat steht beim beiderseitigen Handelsgeschäft auf Grund § 371 HGB für fällige Forderungen (§ 371 HGB bezieht sich auf § 369 HGB! ) zur Verfügung: Der Gläubiger, dem ein solches kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht zusteht, kann sich aus den zurückgehaltenen Gegenständen im Eigentum des Schuldners wegen der fälligen, aber unerfüllten Forderung schadlos halten. Das sog. kaufmännische Zurückbehaltungsrecht impliziert also zugleich auch ein Ersatzbefriedigungsrecht. f) Sonstige Erlöschensgründe Außer durch Erfüllung und erfüllungsäquivalente Vorgänge kann ein Anspruch auch durch Erlass (§ 397 I BGB) oder durch ein (in Wahrheit unzutreffendes! ) Anerkenntnis des Gläubigers, dass ein Anspruch nicht bestehe (§ 397 II BGB), erlöschen. Man spricht in letzterem Falle von einem (konstitutiven) negativen Schuldanerkenntnis. Eine besondere Rolle spielt das negative Schuldanerkenntnis dabei in Dauerschuldverhältnissen, z. B. im Arbeitsverhältnis: Nach vollständiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses erteilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenseitig eine sog. Ausgleichsquittung, in der sie feststellen, dass keine Seite mehr Ansprüche an die jeweils andere Seite hat. Sollten solche Ansprüche in Wahrheit doch noch bestanden haben, sind sie dadurch erloschen. Beides, Erlass und negatives Schuldanerkenntnis, bedürfen nach § 397 BGB zu ihrer Wirksamkeit der Mitwirkung des Schuldners („...durch Vertrag...“). Entgegen dem Wortsinn handelt es sich also nicht um einseitige, sondern um zweiseitige Rechtsgeschäfte. Ein einseitiger Forderungsverzicht ist unwirksam. Aber natürlich steht es dem Gläubiger frei, seine Forderung einfach nicht geltend zu machen. Für die Wirksamkeit gleichgültig ist hingegen auch hier entsprechend dem Grundsatz der Formfreiheit, wie die Parteien ihren diesbezüglichen Willen erklären. Wegen des oft im Vordergrund stehenden Beweiszweckes wird aber namentlich die Ausgleichsquittung durchweg schriftlich erteilt. Dasselbe gilt selbstverständlich, wenn das negative Schuldanerkenntnis im Rahmen eines Vergleichs (§ 779 I BGB) abgegeben wird, durch den die Parteien eine für sie ungewisse Rechtslage im Wege des gegenseitigen Nachgebens einverständlich neu definieren. Auch durch das Ausüben (einseitiges, formloses Rechtsgeschäft, empfangsbedürftige Willenserklärung gemäß § 349 BGB) eines vertraglich eingeräumten Rücktrittsrechtes erlöschen die ursprünglichen vertraglichen Erfüllungsansprüche und der (schuldrechtliche) Vertrag wandelt sich in ein Rückgewährschuldverhältnis um. <?page no="180"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 153 Beispiel: „Bei Nichtgefallen der Ware nehmen wir diese gerne zurück und erstatten den Kaufpreis.“ Dasselbe gilt bei gesetzlichen Rücktrittsrechten, etwa im Fall des § 437 Nr. 2 BGB (Kauf einer mangelhaften Sache, Einzelheiten: §§ 346 ff. BGB). Auch bewirkt die Überschreitung einer auch bei Ansprüchen durchaus nicht seltenen Ausschlussfrist (vgl. z. B. § 21 V AGG, § 13 I ProdHaftG, § 4 IV 3 TVG) das Erlöschen des Anspruchs. Erlöschensgründe normieren ferner bei den dort genannten „Leistungshindernissen“, insbesondere bei Leistungsunmöglichkeit, die §§ 275 I, 326 I 1 BGB. Ein gesetzlich überhaupt nicht fixierter Erlöschensgrund ist schließlich die sog. Konfusion, das nachträgliche Zusammenfallen von Gläubiger- und Schuldnerposition. Beispiel: G hat gegen S einen Anspruch. Nach dem Tode des G tritt S dessen Erbe an, erwirbt also durch § 1922 I BGB zumindest für eine „logische“ oder „juristische“ Sekunde auch diesen Anspruch: Erlöschen des Anspruchs, weil rechtslogisch niemand gegen sich selber einen Anspruch haben kann. Insgesamt ergeben sich somit zahlreiche Erlöschensgründe, von denen freilich nur ein Teil (Erfüllung und Erfüllungssurrogate) das Gläubigerinteresse direkt oder indirekt befriedigen. Über die wichtigsten Erlöschensgründe für ein Schuldverhältnis (i. e. S.) informiert zusammenfassend der Überblick in Abb. 22. Streng genommen nicht in diesen Zusammenhang gehört der Aufhebungsvertrag (auch Auflösungsvertrag genannt). Er betrifft nicht das Schuldverhältnis i. e. S. der einzelnen Schuldner/ Gläubiger-Beziehung, sondern das Schuldverhältnis i. w. S., namentlich also das Vertragsverhältnis als Ganzes. Er ist das Spiegelbild des Vertragsschlusses, sein actus contrarius Mit ihm haben die Vertragsparteien die Möglichkeit, das Vertragsverhältnis einvernehmlich jederzeit zu annulieren, ohne an irgendwelche Fristen oder besondere Auflösungsgründe gebunden zu sein. Beispiel: Kurzfristig wird ein Wohnungsmiet- oder Arbeitsverhältnis einvernehmlich zum 18. 11. aufgehoben, obwohl dies z. B. durch Kündigung entweder überhaupt nicht, nur zum Quartalsende oder nur unter sonstigen Restriktionen (z. B. Zustimmung des Betriebsrats) möglich wäre. g) Der Dritte im Vertragsverhältnis (1) Verträge zugunsten Dritter Dass auch ein Nicht-Schuldner bzw. ein Nicht-Gläubiger, also ein Dritter, von einem Schuldverhältnis berührt werden kann, ist bereits mehrfach zur Sprache <?page no="181"?> 154 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Erlöschensgründe mit Befriedigung des Gläubigerinteresses Erfüllung (§ 362 BGB) Leistung an Erfüllungs Statt (§ 364 I BGB) Aufrechnung Aufhebungsvertrag kaufmännische Zurückbehaltung (§§ 369 ff HGB) ohne Befriedigung des Gläubigerinteresses Erlass / neg. Schuldanerkenntnis (§ 397 BGB) Rücktritt (§ 346 I BGB) Leistungsunmöglichkeit (§§ 275 I, 326 I 1 BGB) Ablauf einer Ausschlussfrist (z. B. § 13 ProdHaftG) Konfusion Abb. 22: Erlöschensgründe für das Schuldverhältnis i. e. S. gekommen. Die wirksame Erfüllung einer Leistungspflicht durch einen Dritten nach § 267 BGB und der Vertrag, mit dem ein anderer als der Gläubiger zur Leistungsannahme ermächtigt wird (§§ 362 II, 185 BGB, sog. unechter Vertrag zugunsten Dritter), markierten bisher diesen Themenkreis. Eine qualitative Steigerung gegenüber jenem Vertrag mit bloßer Ermächtigung zu Gunsten eines Dritten bedeutet es nun, wenn dieser Dritte die Leistung nicht nur mit Erfüllungswirkung entgegennehmen, sondern auf Grund eines eigenen Anspruchs die Leistung sogar selber verlangen kann. Diese schon in der Privatautonomie wurzelnde Möglichkeit der Vertragsgestaltung sieht § 328 BGB ausdrücklich vor. Der Dritte erlangt durch einen solchen echten Vertrag zugunsten Dritter ohne seine Mitwirkung eine Gläubigerposition, kann freilich der Begünstigung widersprechen mit der Wirkung, dass das betreffende subjektive Recht als (von Anfang an) nicht erworben gilt (§ 333 BGB). Bleibt es bei dem eigenen Forderungsrecht des Dritten, so ist seine Rechtsstellung keine andere als die des Vertragsgläubigers (des „Versprechensempfängers“). Der Schuldner (der „Versprechende“) kann also gemäß § 334 BGB auch gegenüber dem Dritten geltend machen, dass der Vertrag z. B. wegen Geschäftsfähigkeitsmängeln nichtig ist und damit auch der Dritte in Wahrheit dann keinen Anspruch erworben hat. Ist der Vertrag wirksam und damit auch die Gläubigerposition des Dritten begründet, so steht nach § 335 BGB im Zweifel das Recht, Leistung an den Dritten zu verlangen, auch dem Vertragsgläubiger (dem „Versprechensempfänger“) zu. Bei allem ist der Dritte nicht zu der vertraglichen Gegenleis- <?page no="182"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 155 tung verpflichtet. Diese Verpflichtung trifft allein den „Versprechensempfänger“. Erst recht können keine isolierten, den Dritten treffenden Pflichten begründet werden: Einen „Vertrag zu Lasten Dritter“ gibt es grundsätzlich nicht. Eine besondere wirtschaftliche Bedeutung besitzt der (echte) Vertrag zugunsten Dritter im Versicherungsrecht, wenn es dem Versicherungsnehmer gerade um den Schutz jenes Dritten geht. Dies ist der Fall namentlich bei der auch in § 330 BGB angesprochenen Lebensversicherung (insbesondere bei einer Lebensversicherung auf den Todesfall, gelegentlich aber auch bei der sog. Erlebensversicherung), bei der eine dem Versicherungsnehmer nahestehende Person Bezugsberechtigter der Versicherungssumme sein soll. Zu dem Typ eines echten Vertrages zugunsten Dritter zählen etwa auch die Ausbildungsversicherung zugunsten eines Kindes oder die (übrigens praktisch überflüssige! ) Kfz-Insassenunfallversicherung sowie im kaufmännischen Bereich die von Lagerhaltern, Frachtführern oder Kommissionären geschlossenen Versicherungen in Bezug auf das betreffende Gut zugunsten des jeweiligen Eigentümers. Die Prämienzahlungen erfolgen dabei freilich letztlich auf Rechnung des Eigentümers, sind also von diesem zu erstatten. Für derartige Versicherungen enthält das VVG (§§ 43 ff., 160 III VVG) dann eine Reihe von Ergänzungen bzw. Modifikationen der §§ 328 ff. BGB. Auch im Bankrecht spielt der Vertrag zugunsten Dritter eine Rolle, etwa bei Einrichtung eines Sparkontos auf den Namen des Patenkindes bei Aushändigung des Sparbuches an dieses. Umgekehrt klärt § 329 BGB bei der sog. Erfüllungsübernahme, dass im Zweifel dies gerade keinen Vertrag zugunsten eines Dritten, hier des Gläubigers des Versprechensempfängers, darstellen soll. Für den in der Praxis äußerst häufigen Fall der Erfüllungsübernahme durch den Kreditkartenvertrag greift die Vermutung des § 329 BGB freilich gerade nicht. Nicht verwechselt werden darf die Rechtsfigur des Vertrages zugunsten Dritter mit der Stellvertretung: Der im fremden Namen und im Rahmen seiner Vertretungsmacht agierende Stellvertreter begründet Rechtswirkungen allein in der Person des von ihm vertretenen Prinzipals (Rechte und Pflichten! ). Bei § 328 BGB hingegen handelt der „Versprechensempfänger“ im eigenen Namen und ist damit selber Vertragspartei. Lediglich seine vertraglichen Rechte stehen (auch) dem Dritten zu. Wiederum etwas anderes ist die sehr seltene sog. Rechtsstandsschaft: Dort gibt das Gesetz ganz ausnahmsweise die Möglichkeit, einen fremden Anspruch im eigenen Namen geltend zu machen, also auch Leistung an sich selber zu verlangen (vgl. für den Frachtvertrag § 421 I 2 HGB), während beim Vertrag zugunsten Dritter der Dritte selber Gläubiger ist, also einen eigenen Anspruch erheben kann. <?page no="183"?> 156 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge (2) Verträge mit Schutzwirkung für Dritte Gelegentlich entspricht es den Interessen einer Partei, ja ist es sogar ein Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), einen Dritten zwar nicht bezüglich des Anspruchs auf die Leistung nach dem Muster des § 328 BGB in den Vertrag mit einzubeziehen, ihn jedoch an den Wirkungen teilhaben zu lassen, die der (schuldrechtliche) Vertrag durch die ihm eigenen Schutzpflichten erzeugt. Dies gilt namentlich dann, wenn erstens einer Vertragspartei kraft Gesetzes jener Dritte in besonderer Weise anbefohlen ist. Beispiele: Das (minderjährige) Kind ist den Eltern kraft Familienrecht (§ 1626 BGB) schutzbefohlen, ebenso sind es die Ehegatten untereinander (§ 1353 I 2, 2. Halbs. BGB). Die Arbeitnehmer sind dem Arbeitgeber kraft Arbeitsrecht schutzbefohlen (vgl. § 618 BGB). Zweitens ist vorauszusetzen, dass dieser Dritte durch seine Nähe zum Erfüllungsvorgang spezifisch gefährdet erscheint. Einen solchen Vertrag (nur) mit Schutzwirkung für Dritte erkennt wohl auch § 311 III 1 BGB an, obwohl sein Regelungsschwerpunkt woanders (z. B. bei einer ausnahmsweise bestehenden Eigenhaftung des Vertreters) liegen dürfte. Die Konsequenzen einer solchen Einbeziehung des Dritten in den vertraglichen Schutz liegen vor allem auf dem Gebiet des Haftungsrechts: Erleidet der Dritte durch den Schuldner selber oder durch Personen, die der Schuldner zur Leistungserbringung oder wenigstens zur Erfüllung der Schutzpflicht einschaltet (vgl. § 278 BGB), einen Schaden, so hat er einen eigenen vertraglichen Schadensersatzanspruch gegen den Schuldner aus zu vertretender Pflichtverletzung gemäß § 280 BGB. Beispiele: Das durch einen ärztlichen Kunstfehler in Mitleidenschaft gezogene Kind hat einen vertraglichen Anspruch auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens gegen den Krankenhausträger, obwohl der Behandlungsvertrag mit dem Vater des Kindes geschlossen worden war (der Arzt ist Erfüllungsgehilfe des Krankenhausträgers i. S. des § 278 BGB). A in Augsburg lässt von der Bauunternehmung B in der Fertigungshalle des Betriebsteiles in Bamberg Umbauarbeiten durchführen. Durch eine zu schwach dimensionierte Befestigung stürzt eine Trennwand um und verletzt zahlreiche dort beschäftigte Arbeitnehmer. Diese haben, obwohl selber nicht Vertragspartei, vertragliche Schadensersatzansprüche gegen B. (3) Schuldübernahme, Abtretung, Vertragsübernahme Die an einem Schuldverhältnis Beteiligten können im Laufe der Zeit wechseln. Dabei ist die Auswechselung des Schuldners ein sehr seltener Fall. Denn damit muss der Gläubiger in jedem Fall einverstanden sein (vgl. §§ 414, 415 <?page no="184"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 157 BGB), wozu der Gläubiger wegen einer vielleicht schlechteren „Bonität“ eines anderen Schuldners (schlechtere Zahlungsmoral oder Vermögensverhältnisse) durchweg keinerlei Veranlassung hat. Von dieser sog. privativen (befreienden) Schuldübernahme ist übrigens das Hinzutreten eines weiteren Schuldners scharf zu trennen. Dazu kommt es nicht nur bei der schon erörterten Erfüllungsübernahme durch den Kreditkartenvertrag, sondern auch dann, wenn jemand der Schuld eines anderen beitritt (sog. kumulative Schuldübernahme). Eine wirtschaftlich bedeutende Rolle spielt hingegen der Gläubigerwechsel. Regelmäßig erfolgt er durch ein (zweiseitiges) Rechtsgeschäft zwischen dem bisherigen Gläubiger (dem sog. Alt-Gläubiger), und demjenigen, der Anspruchsinhaber werden soll. Dieser von § 398 BGB „Abtretung“ und ansonsten oft „Zession“ genannte, keiner Form bedürftige Vertrag, in dem sich Alt- und Neu-Gläubiger, „Zedent“ und „Zessionar“, über den Wechsel des Anspruchsinhabers einigen, greift unmittelbar in die Rechtsstellung des Alt-Gläubigers ein, ist somit ein Verfügungsgeschäft ganz in Parallele zur Übereignung (vgl. §§ 873 I, 929 BGB), die einen Wechsel in der Innehabung des Sacheigentums bedeutet. Die Zession erfüllt nach § 413 BGB überhaupt ganz generell bei unkörperlichen Rechtsobjekten dieselbe Rechtsübertragungsfunktion wie speziell bei körperlichen Rechtsobjekten (Sachen) die Übereignung. Die Zession ist deshalb rechtslogisch ebenso wie die Übereignung unabhängig von dem ihr wirtschaftlich zugrunde liegenden Rechtsverhältnis, dem sog. Kausalgeschäft, also z. B. Schenkung oder Forderungskauf (Abstraktionsprinzip) . Der Anwendungsbereich der Zessionsvorschriften wird schließlich noch dadurch ausgeweitet, dass sie nach § 412 BGB auch dann entsprechend gelten, wenn der Gläubigerwechsel gar nicht auf einem Rechtsgeschäft, sondern unmittelbar auf gesetzlicher Anordnung beruht. Eine derartige Legalzession normiert z. B. § 86 I VVG: Leistet in der Schadensversicherung der Versicherer an den geschädigten Versicherungsnehmer, so geht ein etwa bestehender Schadensersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen einen Dritten, namentlich gegen den Schädiger selber, auf den Versicherer über. Der Versicherer kann nunmehr seinerseits diesen Anspruch verfolgen und sich mit dem Regress ganz konkret refinanzieren. Ähnlich verhält es sich nach § 774 BGB im Fall des Bürgen, der den Gläubiger befriedigt hat. Schließlich kann eine Forderung auch im Wege der Zwangsvollstreckung „weggenommen“, also gemäß §§ 829, 835 ZPO gepfändet und durch Überweisungsbeschluss auf einen anderen übertragen werden. In jedem Fall wird der Alt-Gläubiger, der ja gar nicht mehr Gläubiger ist, in Bezug auf das jetzt zwischen Neugläubiger und Schuldner bestehende Schuldverhältnis zum außenstehenden Dritten (vgl. Abb. 23). <?page no="185"?> 158 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Abb. 23: Forderungsabtretung (Zession) Weit über eine Legalzession hinaus reichen aber z. B. §§ 563 ff., 613a BGB oder § 95 VVG): Hier gehen kraft Gesetzes nicht nur einzelne Ansprüche (also Gläubigerpositionen) auf einen anderen über, sondern es findet ein kompletter Vertragspartnerwechsel statt, was nicht nur Legalzessionen, sondern auch gesetzliche Schuldübernahmen bedeutet. Eine solche Vertragsübernahme kann selbstverständlich auch rechtsgeschäftlich, im Einvernehmen zwischen allen Beteiligten, herbei geführt werden. Es handelt sich dann begrifflich um eine Kombination aus privativer (befreiender) Schuldübernahme und Abtretung. Die Verbreitung der Abtretung (Zession) beruht nicht zuletzt darauf, dass es dazu im Gegensatz zur Schuldübernahme nach den §§ 414, 415 BGB der Mitwirkung des Schuldners nicht bedarf. Die Gläubigerposition wird vielmehr selbst dann übertragen, wenn der Schuldner von der Transaktion überhaupt nichts erfährt. Derartige „stille“ Zessionen sind in der Wirtschaftspraxis sogar die Regel, weil dem Zedenten, dem Alt-Gläubiger, aus Image- und Bonitätsgründen nichts daran liegt, zu offenbaren, dass er die Forderung etwa zu Zwecken der Kreditsicherung ganz oder teilweise (bei teilbaren Leistungen, namentlich also bei Zahlungsforderungen) an seine Bank oder an seinen Vorlieferanten abgetreten hat. Noch komplexer wird die Rechtslage dann, wenn der (Neu-)Gläubiger den Zedenten nach § 185 I BGB (analog) ermächtigt, sich so zu verhalten, als sei er noch Gläubiger, und den Anspruch im eigenen Namen, aber auf Rechnung des Zessionars, also als fremdnütziger Treuhänder gegenüber dem Schuldner geltend zu machen (so regelmäßig beim sog. verlängerten Eigentumsvorbehalt: Einzugs- oder Inkasso-Ermächtigung des unter Eigentumsvorbehalts belieferten, aber zur Weiterveräußerung der Ware ermächtigten Handelsunternehmens). Inkasso-Ermächtigungen, die dann zugleich eine Erfüllungszuständigkeit i. S. der §§ 362 II, 185 I BGB begründen, kommen freilich auch bei „offenen“ Zessionen oder ganz isoliert davon <?page no="186"?> 2. Vertragsschuldverhältnisse und ihre reguläre Abwicklung 159 vor. Beispiel: Erteilung einer Einzugsermächtigung an einen Verein durch ein Vereinsmitglied bezüglich der geschuldeten Beiträge: Der Verein darf insoweit die Auszahlungsforderung des Mitglieds gegenüber der kontoführenden Bank im eigenen Namen geltend machen und damit Zahlung an sich, den Verein, verlangen, ohne dass irgendwelche Zessionsvorgänge stattfänden. Wiederum etwas anderes als die Inkasso-Ermächtigung ist die Inkasso- Zession. Sie ist regelmäßig eine offene Zession. Doch das, was der Schuldner erfährt, nämlich, dass er sich nunmehr vielleicht auch gegen seinen Willen einem Gläubiger gegenüber sieht, entspricht gar nicht dem wirtschaftlichen Sinn dieser Zession. Denn im Verhältnis zwischen Zedent und Zessionar ist hier vereinbart worden, dass der Zessionar die eingezogenen Beträge an den Zedenten abführen soll. Der Zessionar fungiert hier also wiederum als Treuhänder des Zedenten, dem damit durchaus noch wirtschaftlich, nicht aber mehr rechtlich die Forderung zusteht. Dieser Mechanismus spielt namentlich beim Factoring eine wichtige Rolle. Nicht alle Forderungen können wirksam abgetreten werden. Unabtretbarkeit besteht einmal dann, wenn der Schuldner und der Gläubiger dies bei Entstehen der Verbindlichkeit oder auch später so abgesprochen haben (§ 399, 2. Alt. BGB). Dies ist für den Schuldner zwar wünschenswert, weil er dann auf Dauer weiß, mit wem er es als Gläubiger zu tun hat, doch selten durchsetzbar. Unabtretbarkeit besteht ferner, wenn spezielle gesetzliche Abtretungsausschlüsse angeordnet werden (vgl. z. B. § 400 BGB i. V. m. §§ 850 ff. ZPO; § 613 S. 2 BGB; § 717 S. 1 BGB: „Abspaltungsverbot“; § 3 I 2 UKlaG). Unabtretbarkeit besteht schließlich ganz allgemein dann, wenn durch die Abtretung der Leistungsinhalt verändert würde (§ 399, 1. Alt. BGB). Beispiel: Unterhaltsansprüche; Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers; Herausgabeanspruch des Eigentümers (§ 985 BGB) ohne gleichzeitige Sachübereignung; Anspruch auf Unterlassung von Wettbewerb (vgl. §§ 60, 74 HGB). Unter den Voraussetzungen des § 354a I 1 HGB ist die Vereinbarung über die Unabtretbarkeit freilich ihrerseits unwirksam. Die Vorschrift ist zwar schuldrechtlicher Natur, kann aber trotzdem wegen ihres S. 3 nicht abbedungen werden. Selbstverständlich kann eine Forderung nur einmal wirksam abgetreten werden. Erfolgen z. B. aus Vergesslichkeit, in betrügerischer Absicht etc. demnach durch den Altgläubiger weitere „Abtretungen“, so erzeugen diese keine Zessionswirkungen (Prioritätsprinzip, volkstümlich: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“). Einer Zession steht jedoch nicht entgegen, dass die zedierte Forderung im Zeitpunkt ihrer Abtretung dem Gläubiger gar nicht zusteht oder vielleicht sogar überhaupt noch nicht existiert. Diese vorweggenommene, antizipierte Zession tritt eben dann in Kraft, wenn der Zedent die Forde- <?page no="187"?> 160 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge rung erlangt. Vorausgesetzt ist dabei wie auch sonst freilich, dass die Forderung, auf die sich die Vorausabtretung bezieht, überhaupt hinreichend bestimmt bzw. bestimmbar ist. Als Ausgleich dafür, dass der Schuldner bei der Zession weder mitwirken noch überhaupt informiert werden muss, enthalten die §§ 404 ff. BGB eine ganze Reihe von schuldnerschützenden Vorschriften mit teilweise sehr komplizierten Regelungen. Besondere Beachtung verdient jedenfalls der Schuldnerschutz nach § 404 BGB. Sein Tenor lautet, dass der Schuldner durch die Abtretung nicht schlechter gestellt ist als gegenüber dem bisherigen Gläubiger (Alt-Gläubiger, Zedent). So setzt sich beispielsweise die Anspruchsverjährung auch nach der Zession fort und beginnt nicht etwa wieder neu zu laufen, und der aus einem gegenseitigen Vertrag verpflichtete Schuldner kann auch gegenüber dem Zessionar auf Leistung Zug um Zug bestehen (§ 320 BGB), solange der dem Schuldner ja immer noch zur Gegenleistung verpflichtete Zedent nicht erfüllt hat. Auch eine schon im Zeitpunkt der Zession bestehende Aufrechnungsmöglichkeit bleibt erhalten und wird im Fall der stillen Zession durch § 406 BGB sogar noch erweitert. Es handelt sich dabei allerdings um dispositives Recht, nur beim Verbraucherdarlehen (§ 491 I BGB) ist dieser Schuldnerschutz gemäß § 496 I BGB zwingendes Recht. Ob und inwieweit eine Forderung angesichts solcher Einschränkungen wirtschaftlich überhaupt etwas wert ist, kann ein Gläubiger schlechterdings nicht sicher beurteilen, mag auch der Zedent beruhigende, möglicherweise aber eben falsche Auskünfte erteilen. Gerade um das Risiko des Zessionars kalkulierbar zu gestalten und damit eine wirkliche Verkehrsfähigkeit (Umlauffähigkeit) von Forderungen herzustellen, gilt für die in bestimmten Wertpapieren (Inhaber- und Orderpapieren) verbrieften Forderungen eine dem § 404 BGB entgegengesetzte Regelung: Der Schuldner kann dem Zessionar hier insbesondere auch bei Scheck und Wechsel im Prinzip nicht (mehr) die Einwendungen entgegenhalten, die ihm gegenüber dem Zedenten zustanden (vgl. §§ 796 BGB, 364 II HGB sowie Artt. 22 ScheckG und 17 WG). Im Rahmen der Schuldnerschutzvorschriften hat ferner § 407 BGB einen besonders wichtigen Platz: Bei einer stillen Zession kann der Schuldner mit dem Zedenten, der ja gar nicht mehr Gläubiger ist, gemäß § 407 I BGB solange Stundungen mit Wirkung gegenüber dem Zessionar, dem wahren Gläubiger, vornehmen oder ähnliche Rechtsgeschäfte tätigen und sogar die Forderung des Zessionars durch Leistung an den bisherigen Gläubiger, den Zedenten, zum Erlöschen bringen, solange der Schuldner von der Abtretung tatsächlich keine Kenntnis hat. Ob der Schuldner die neue Rechtslage hätte in Erfahrung bringen können, ist bei der Frage des Schutzes der Gutgläubigkeit eines Schuldners im Zusammenhang mit § 407 BGB also belanglos. Den Interessen des Zessionars trägt § 816 II BGB Rechnung. Der Schuldner muss sich erst dann an der wahren Rechtslage orientieren, <?page no="188"?> 3. Leistungsstörungen 161 wenn aus der stillen eine offene Zession geworden ist, sei es, dass der Zessionar dem Schuldner eine Abtretungsurkunde vorlegt oder wenigstens der Zedent den Schuldner schriftlich über den Abtretungsvorgang informiert (vgl. § 410 BGB). Entspricht umgekehrt die Abtretungsurkunde bzw. die schriftliche Abtretungsanzeige gar nicht der wahren Rechtslage, ist also der Scheinzedent aus irgendwelchen Gründen doch noch der Gläubiger, so kann sich nach § 409 BGB der Schuldner dennoch auf den Schein berufen, etwa mit befreiender Wirkung an den „Zessionar“ als den Scheingläubiger leisten. Selbstverständlich kann der Schuldner sich aber auch auf die Grundlage der wahren Rechtslage stellen und an den Zedenten, der hier ja nach wie vor Gläubiger ist, mit Erfüllungswirkung leisten. Ähnlich wie die Schuldnerbefreiung bei § 407 I BGB, aber ohne Rücksicht auf Gutgläubigkeit, wirkt § 354a I 2 HGB, wenn der Schuldner im Fall des § 354a I 1 HGB an den Zedenten leistet. Als Teil des Schuldrechts sind die Zessionsvorschriften grundsätzlich dispositiv. Namentlich für die dem Zessionar als Gläubiger sehr lästige Schuldnerschutzvorschrift des § 404 BGB, aber auch für die §§ 409 und 410 BGB (sämtlich dispositives Recht! ), stellt sich deshalb im konkreten Fall oft die Frage, ob dem Schuldner infolge rechtsgeschäftlicher Erklärungen jener Schutz überhaupt noch zur Seite steht. Um solchen für den Schuldner sehr riskanten Zweifeln von vornherein zu begegnen, sollte in solchen Situationen besonders auf klaren Ausdruck geachtet werden. Beispiel: Möglicherweise als Verzicht auf den zessionsrechtlichen Schuldnerschutz auszulegen ist die zumeist noch vom Zessionar formularmäßig abverlangte Erklärung des Schuldners, er erkenne die Abtretung an bzw. nehme die Abtretung an oder bestätige sie, vielleicht sogar „ohne Vorbehalt“. Sicher kein Verzicht ist demgegenüber der Erklärung des Schuldners zu entnehmen, er nehme von der Abtretungsurkunde oder -anzeige Kenntnis. Mit der Zession hat nun wiederum § 851 BGB gar nichts zu tun, wohl aber wie § 407 I BGB mit der Befreiung des Schuldners auch durch Leistung an einen Nichtgläubiger bei diesbezüglicher Gutgläubigkeit des schadensersatzpflichtigen Schuldners in der dort tatbestandlich näher umschriebenen Situation. 3. Leistungsstörungen a) Überblick Nicht immer erhält der Gläubiger das, was ihm nach dem Schuldverhältnis, insbesondere nach den schuldvertraglichen Vereinbarungen, als Leistung ge- <?page no="189"?> 162 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge bührt. Nicht immer wird das rechtlich geschützte Interesse des Gläubigers so erfüllt, wie er es hinsichtlich des Leistungsgegenstandes, des Leistungsortes, der Leistungszeit und der Leistungsmodalitäten im Übrigen erwarten darf. Nimmt das (Vertrags-)Schuldverhältnis also nicht den programmgemäßen Verlauf bis hin zur Erfüllung, treten vielmehr irgendwelche Störfälle auf, so spricht man schlechthin von Vertragsverletzung oder auch von Vertragsbruch (engl. „breach of contract“), juristisch aber zumeist von Leistungsstörungen (das Gesetz selbst kennt diesen Begriff nicht). Verständlicherweise interessiert man sich im Wirtschaftsleben für rechtliche Fragestellungen zumeist gerade dann, wenn derartige Leistungsstörungen eingetreten oder ernsthaft in Erwägung zu ziehen sind. Von daher gehört das Recht der Leistungsstörungen zu den wichtigsten wirtschaftsprivatrechtlichen Materien. Das deutsche Recht hält für die Leistungsstörungen seit jeher eine sehr differenzierte Regelung bereit (anders für den internationalen Handelskauf das UN-Kaufrecht). Allerdings ist mit der sog. Schuldrechtsmodernisierung des BGB zum 1. 1. 2002 ein tiefgreifender Wandel des Rechtsbereichs erfolgt: Mit § 280 I BGB wurde immerhin ein zentraler Tatbestand für Schadensersatzansprüche bei Pflichtverletzungen geschaffen, der insoweit Lücken begrifflich ausschließt (vgl. aber auch den ergänzenden § 311a II BGB). Die demgegenüber früher zur Lückenschließung vielfach benötigte sog. pVV (positive Vertragsverletzung) sowie die sog. cic (lat. „culpa in contrahendo“, Verschulden bei Vertragsschluss) sind als Rechtsfiguren nur noch rechtshistorisch und terminologisch von Interesse. Dennoch bleiben die systematischen Zusammenhänge durchaus verwickelt, weil der Gesetzgeber nicht umhin kommt, schon ganz unabhängig von vertragstypischen Eigenheiten Sonderregelung zu treffen. Dies ist notwendig einmal im Blick auf die Art der Leistungsstörung (Leistungsunmöglichkeit, Leistungsverzögerung, Schlechtleistung) zum anderen im Blick auf die Konsequenzen der Leistungsstörung bezüglich der Gegenleistungspflicht und des Schadensersatzes (Ersatz des gerade durch die Pflichtverletzung entstandenen Schadens oder Schadensersatz statt der Leistung) sowie eines eventuellen Rücktritts vom Vertrag. Außerdem ergeben sich Verständnisprobleme durch vertragstypische Sonderregelungen gegenüber der allgemeinen Regelung der Leistungsstörungen, z. B. bezüglich der vom Verkäufer dem Käufer gegenüber geschuldeten Gewährleistung bei Sach- und Rechtsmängeln (§§ 434 ff. BGB). Bei dem Thema Leistungsstörung stellen sich immer 4 Fragen, um deren Beantwortung letztlich keine Rechtsordnung herumkommt. Erstens: Wie wirkt sich die Leistungsstörung auf die Vertragswirksamkeit insgesamt aus? Zweitens: Wie wirkt sich die Leistungsstörung auf die gestörte Leistungspflicht (die sog. primäre Leistungspflicht) aus? Drittens: Führt die Leistungsstörung zu einer weiteren Pflicht, insbesondere zu einer Schadensersatzpflicht (sog. se- <?page no="190"?> 3. Leistungsstörungen 163 kundäre Leistungspflicht)? Viertens: Wie wirkt sich die Leistungsstörung auf die (nicht gestörten) Pflichten des Vertragspartners aus, insbesondere auf seine synallagmatischen Pflichten? Letzteres ist die Frage nach dem sog. funktionellen Synallagma. Beispiel: Geht die Ware auf dem Transport verloren, muss geklärt werden, ob der Kaufvertrag überhaupt noch wirksam ist, und bejahendenfalls, ob der Verkäufer dennoch von der Verpflichtung zu der ja unmöglichen Leistung befreit ist. Außerdem sind Bestehen und Umfang einer Schadensersatzpflicht des Verkäufers zu klären (Schadensersatz statt der Leistung? ), ferner, ob der Käufer seinerseits zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet bleibt, obwohl er vielleicht gegenüber dem Verkäufer weder den primären noch einen sekundären Anspruch hat. Dass es für diese komplexe Materie keine einfachen und zugleich interessengerechten Lösungen geben kann, wird jedem einsichtig sein. Hat das neue Leistungsstörungsrecht einerseits die Lücken und Probleme des alten, freilich über fast 100 Jahre ausreifenden Systems des Leistungsstörungsrechts beseitigt, so hat es andererseits beinahe zwangsläufig neue Unklarheiten (und auch Ungereimtheiten) erzeugt. Dies erschwert die Vermittlung des ohnehin komplizierten Stoffes noch mehr, selbst wenn im Folgenden nur die Grundzüge des Leistungsstörungsrechts dargestellt werden sollen. Nach wie vor bedeutsam ist jedenfalls die Leistungsunmöglichkeit als charakteristische Leistungsstörung und ihr gleichstehende Leistungshindernisse, die allesamt nach § 275 BGB dazu führen, dass der „Schuldner“ nicht leisten muss. Da § 275 I BGB nicht als Einrede, also als bloßes Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners, ausgestattet ist, sondern der Anspruch „ausgeschlossen“ ist, gibt es somit streng genommen auch gar keinen Schuldner. Schon hier erweist sich das nun auch schon nicht mehr ganz „neue“ Schuldrecht in den daran anknüpfenden Normen der §§ 283, 311a BGB konstruktiv und damit auch terminologisch als nicht durchweg überzeugend. Außerdem muss zwar nicht mehr so scharf wie früher zwischen dem Unvermögen, also der bloß subjektiven Unmöglichkeit (gerade der Schuldner kann nicht leisten) und der objektiven Unmöglichkeit unterschieden werden (niemand kann die versprochene Leistung bewirken), wohl aber schon wegen § 311a II BGB zwischen der von Anfang an bestehenden und der erst nach Vertragsschluss eintretenden Unmöglichkeit der Leistung (anfängliche und nachträgliche Unmöglichkeit). Innerhalb der Arten der Leistungsstörungen besonders hervorzuheben ist ferner nach wie vor die Leistungsverspätung, die entweder auf dem Verhalten des Schuldners beruht (zum Begriff des Schuldnerverzuges gehört allerdings mehr, vgl. schon hier § 286 BGB) oder darauf, dass der Gläubiger die ihm ordnungsgemäße angebotene („angediente“) Leistung nicht annimmt (Gläubiger-/ Annahmeverzug, §§ 293 ff. BGB). <?page no="191"?> 164 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Die Schlechtleistung hingegen spielt im allgemeinen Leistungsstörungsrecht keine Sonderrolle, wohl aber in den Gewährleistungsregelungen bei einigen Vertragstypen, namentlich bei Kauf (§§ 434 ff. BGB) und Miete (§§ 536 ff. BGB), beim Werkvertrag (§§ 633 ff. BGB) sowie beim Reisevertrag (§§ 651c ff. BGB), was im Querschnitt an anderer Stelle im Zusammenhang darzustellen ist. Einen Überblick über die Gliederung der Leistungsstörungen nach der Systematik des BGB vermittelt Abb. 24 . Leistungsstörungen Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313) Pflichtverletzungen des Schuldners (§ 280) Nichtannahme der Leistung durch den Gläubiger (Gläubigerverzug, §§ 293 ff.) Verletzung von Leistungspflichten (Referenz: Erfüllungsinteresse des Gläubigers) Verletzung nicht leistungsbezogener Pflichten (s. a. § 282) Schutzpflichten, vgl. § 241 II (Referenz: Integritätsinteresse des Gläubigers) Nichtleistung trotz Leistungsmöglichkeit Nichtleistung bei nachträglichen Leistungshindernissen (§ 283) Schlechtleistung (s. a. § 281) Illoyale Unterlassung erfüllungsbegleitender Maßnahmen (vgl. § 242) Leistungsverspätung (Schuldnerverzug, §§ 280 II, 281, 286) vorvertraglich (culpa in contrahendo, §§ 241 II / 311 II) vertragsbegleitend nachvertraglich (culpa post pactum perfectum) Nichtleistung bei anfänglichen Leistungshindernissen (§ 311a) Abb. 24: Arten der Leistungsstörungen (alle Gesetzesangaben BGB) Aus der Logik des Systems ergibt sich für das Leistungsstörungsrecht des BGB nachstehende Prüfungsreihenfolge: Abgesehen von den Fällen gestörter Vertragsbeziehungen durch Fehlen und Wegfall der Geschäftsgrundlage ist mit Blick auf § 311a BGB zunächst zu klären, ob anfängliche Leistungshindernisse (insbesondere anfängliche Unmöglichkeit der Leistung) vorlie- <?page no="192"?> 3. Leistungsstörungen 165 gen. Wird dies verneint, ist zu prüfen, ob derartige nachträgliche Leistungshindernisse der Leistung entgegenstehen. Erst wenn feststeht, dass auch solche Leistungsstörungen nicht gegeben sind, ist die Leistungsverspätung in den Blick zu nehmen, denn nur eine noch mögliche Leistung kann zu spät erbracht werden. Dasselbe gilt für sonstige in § 275 II und III BGB aufgeführte „Leistungshindernisse“. Sodann ist eine gesetzliche Sonderregelung für Schlechtleistungen (z. B. bei Kauf, Miete etc.), also vertragstypisches Gewährleistungsrecht, heranzuziehen. Soweit dies alles nicht zum Zuge kommt, handelt es sich um eine schlichte, nicht weiter benannte Pflichtverletzung des Schuldners. Für ihre rechtliche Behandlung ist es dann grundsätzlich unerheblich, worin diese schlichte Pflichtverletzung besteht. Nur für manche Rechtsbehelfe spielt es dann doch noch eine Rolle, ob es sich um die Verletzung leistungsbezogener Pflichten handelt oder ob Schutzpflichten verletzt sind. Der für leistungsstörungsbedingte Schadenspflichten nach § 280 I BGB zentrale Begriff der Pflichtverletzung ist bei alledem rein objektiv zu verstehen, also völlig losgelöst von der Verantwortlichkeit des Schuldners i. S. seines Vertretenmüssens (dazu sogleich näher). Pflichtverletzung meint also nichts weiter als das tatsächliche Zurückbleiben des Schuldners hinter dem rechtlich gesollten Leistungsprogramm durch Nichterfüllen einer ihn treffenden Pflicht, ohne Rücksicht auf die Gründe dafür. Daneben ist freilich immer zu berücksichtigen, dass auch außerhalb des BGB sonderprivatrechtliche Leistungsstörungsregeln normiert sind, wie namentlich für den Transportvertrag (Frachtvertrag i. S. von § 407 HGB) in §§ 425 ff. HGB. Dann ist vor allem anderen zu klären, wie weit diese Sonderregelungen sachlich reichen, und mit Hilfe dieser Normen sind dann die Rechtsfolgen der Leistungsstörung zu bestimmen. Nur für insoweit nicht erfasste Leistungsstörungen greifen dann die Vorschriften des zivilrechtlichen, allgemeinen Leistungsstörungsrechts des BGB ergänzend ein. Beispiele: Eine bestimmte Ladung soll vertragsgemäß an einen Ort verbracht werden, an dem für die Leute des Transportunternehmers durch zwischenzeitlichen Kriegsausbruch Lebensgefahr besteht. Da § 425 HGB nur Leistungsunmöglichkeit („Verlust“ des Transportguts), Schlechtleistung („Beschädigung“ des Transportsguts) und schuldnerbedingte Transportverzögerung („Überschreitung der Lieferzeit“) regelt, muss in vorliegendem Fall auf § 313 BGB (Wegfall der Geschäftsgrundlage) zurückgegriffen werden. Die Durchführung des versprochenen Transports eines großen Bauteils aus Beton würde voraussetzen, dass ein Weg versperrendes historisches Gebäude abgerissen werden müsste: Mangels Einschlägigkeit des § 425 HGB ist der Fall nach §§ 275, 311a BGB zu beurteilen. <?page no="193"?> 166 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Vertragswirksamkeit? Auswirkung auf gestörte Leistungspflicht? Sekundäre Leistungspflicht (insbes. Schadensersatz)? Auswirkung auf nicht gestörte Gegenleistungspflicht? Sonstiges (anfängliche) Unmöglichkeit (nachträgliche) Ja, § 311a I Ja § 275 § 311a II §§ 280, 281, 283, 284, 285 §§ 323, 326 I, II (1. Alt.) Schuldnerverzug Ja Nein §§ 280 II, 281, 284, 286 § 323 Gläubigerverzug Ja § 300 II § 300 I § 304 § 326 II (2. Alt.) Schlechtleistung Ja Nein §§ 280, 281, 284 § 323 Schutzpflichtverletzung Ja Nein §§ 280, 282 § 324 Erfüllungsbegleitpflichtverletzung Ja Nein §§ 280, 282 (analog) § 324 (analog) Abb. 25: System des Leistungsstörungsrechts in Auswahl (alle Gesetzesangaben BGB) b) „Vertretenmüssen“ Eine zentrale Fragestellung innerhalb des gesamten Leistungsstörungsrechtes ist, ob der Schuldner (oder selten auch einmal der Gläubiger) für den Störfall in der Vertragsabwicklung (allgemeiner: in der Abwicklung des Schuldverhältnisses) verantwortlich zu machen ist, ob er, wie das Gesetz sich ausdrückt, die Leistungsstörung zu vertreten hat (vgl. nur §§ 275 II 2, 280 I 2, 286 IV, 323 VI, 326 II 1 BGB). Dieses Problem ist deshalb vorab zu behandeln, wiederum gleichsam „vor die Klammer“ zu ziehen. Ist eine Verantwortung, ein „Vertretenmüssen“ (ein sprachliches Monstrum, aber kommunikativ schwer zu entbehren) zu bejahen, so hat die betreffende Partei demnach die nachteiligen Folgen der Leistungsstörung zu tragen, insbesondere Schadensersatz zu leisten. Terminologisch ist „Vertretenmüssen“ dabei auf die Verantwortlichkeit des Schuldners beschränkt. Für die Gläubigerseite spricht das Gesetz hingegen (ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied) von dessen Verantwortung (vgl. §§ 323 VI, 326 II 1 BGB). Was nun dieses Vertretenmüssen genau bedeutet, steht nicht ein für alle Mal fest. Das Gesetz stellt vielmehr zunächst nur einen prinzipiellen Maßstab der Verantwortlichkeit auf und normiert dann auf dieser Basis einzelne Erweiterungen oder Einschränkungen (vgl. Abb. 26). <?page no="194"?> 3. Leistungsstörungen 167 Abb. 26: "Vertretenmüssen" Grundsätzlich hat der Schuldner für den Gläubiger gilt Entsprechendes gemäß § 276 I 1 BGB Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, vorausgesetzt, er ist überhaupt schuldfähig (§ 276 I 2 i. V. m. §§ 827, 828 BGB). Vorsätzlich handelt, wer seine gesetzlich umschriebene, tatbestandliche Handlungssituation kennt und auch den dort umschriebenen Effekt, den sog. tatbestandsmäßigen Erfolg, herbeiführen will (direkter Vorsatz) oder die Verwirklichung des Tatbestandes billigend in Kauf nimmt (indirekter Vorsatz, sog. Eventualdolus). Beispiele: Der Verkäufer weiß genau (oder rechnet doch damit), dass es sich bei der verkauften Ware um solche handelt, die ein anderer Kunde schon zuvor erworben hatte und die für diesen deshalb zurückgelegt worden war; trotzdem liefert der Verkäufer an den Zweitkäufer, weil der dabei ausgehandelte viel höhere Kaufpreis lockt (vorsätzliches Herbeiführen der Lieferunmöglichkeit). Handwerker H weiß durch einen Blick in den Terminkalender ganz genau, dass er heute Morgen dem Kunden K sein Erscheinen zum Zwecke der Dachreparatur zugesagt hat. H zieht aber einen Besuch beim Architekten A vor, weil er sich von A einen größeren Auftrag erhofft (vorsätzliche Überschreitung der Fälligkeit). Fahrlässig handelt nach der Legaldefinition des § 276 II BGB, wer die im Rechts- und Wirtschaftsleben (im „Verkehr“) situationsabhängig erforderliche Sorgfalt nicht beachtet. Statt dieses sehr allgemein gehaltenen Sorgfaltsmaßstabes stellt das Gesetz gelegentlich etwas bereichsspezifischer auf die Sorgfalt eines „ordentlichen Kaufmanns“ (vgl. §§ 347 I, 384 I, 461 II HGB) ab und verschärft damit die Verantwortung. Noch höher wird die Messlatte gehängt, wenn wie z. B. nach §§ 93 I, 116 S. 1 AktG für die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der AG die Sorgfalt eines „ordentlichen und gewis- <?page no="195"?> 168 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge senhaften Geschäftsleiters“ gefordert wird. Die kleinste Abweichung von diesem so definierten Aufmerksamkeitspfad, die leichteste Fahrlässigkeit, steht dabei der krassesten Leichtfertigkeit, der groben Fahrlässigkeit, prinzipiell gleich. Im Alltagsverständnis wird hingegen fälschlicherweise oft davon ausgegangen, dass man generell nur für grobe Fahrlässigkeit geradezustehen habe. Bisweilen herrscht sogar der Irrglauben, man trage schon dann keine Verantwortung, wenn man etwas nicht „absichtlich“ oder „extra“ (juristisch korrekt: direkt-vorsätzlich) getan habe. Sehr oft wird auch verkannt, dass das Gesetz auf die erforderliche, nicht auf die übliche Sorgfalt abstellt: In manchen Praxisfeldern sind Sorgfaltsdefizite durchaus gang und gäbe, was an der gegebenen Fahrlässigkeit nichts ändert. Obwohl also der Schuldner grundsätzlich für jede Spielart des Verschuldens (Oberbegriff für Vorsatz und Fahrlässigkeit) einzustehen hat, ist eine begrifflich klare Unterscheidung geboten: Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit muss getrennt werden, weil die Haftung für Vorsatz im voraus nach der zwingenden Rechtsnorm des § 276 III BGB nicht ausgeschlossen werden kann (wohl aber die Haftung für Fahrlässigkeit! ). Zwischen grober und leichter Fahrlässigkeit ist z. B. deshalb zu trennen, weil gemäß § 300 I BGB der Schuldner im Verzug des Gläubigers nur noch Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu verantworten hat. Vgl. zur Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit z. B. auch §§ 599, 680 BGB. Nach § 81 VVG muss der Versicherungsnehmer bei der Schadensversicherung im Versicherungsfall, den er grob fahrlässig herbeigeführt hat, einen erheblichen Teil des erlittenen Schadens selber tragen. Auch eine Kürzung auf Null kommt in Betracht, was bei Vorsatz ohnehin und ausnahmslos gilt. Wie die häufige rechtliche Gleichsetzung von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zeigt, ist der Schuldvorwurf bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit ähnlich schwer. Grobe Fahrlässigkeit darf also nur dort bejaht werden, wo Sorgfaltsgebote in so eklatanter Weise außer acht gelassen worden sind, wie es eigentlich nur für das vorsätzliche Handeln kennzeichnend ist. Rechtshistorisch hat sich der Schuldvorwurf grober Fahrlässigkeit im Übrigen aus dem dringenden, aber nicht beweisbaren Verdacht vorsätzlichen Handelns entwickelt. Beispiele: X will sich mangels Taschenlampe mittels eines brennenden Streichholzes, mit dem er den Benzintank seines Autos ausleuchtet, über den Füllungsgrad informieren, weil der Benzinanzeiger defekt ist: Grob fahrlässig herbeigeführte Explosion. Frau Y beginnt in der gefüllten Badewanne sitzend sich die Haare zu föhnen; dann entgleitet ihr das laufende Gerät aus der Hand und fällt in das Wasser … Die gerichtliche Praxis ist mit der Annahme grober Fahrlässigkeit freilich schneller bei der Hand, als dies aus wissenschaftlicher Sicht geboten ist. <?page no="196"?> 3. Leistungsstörungen 169 Andererseits muss der Schuldner gelegentlich noch mehr vertreten als (eigenes) Verschulden: Nach § 278 S. 1 BGB hat der Schuldner zunächst auch die Verantwortung für das Verschulden seiner gesetzlichen (nicht: rechtsgeschäftlich bestellten! ) Vertreter zu übernehmen. Dies gilt auch im Verhältnis zwischen der irgendeine Leistung schuldenden juristischen Person und den Angehörigen ihres Repräsentationsorgans, schon weil dieses die formelle Stellung eines gesetzlichen Vertreters innehat (vgl. für den bürgerlichrechtlichen Verein als Strukturmodell der juristischen Person: § 26 II 1 BGB) und im Übrigen das Handeln der Organe einer juristischen Person letztlich ja nichts weiter als deren eigenes Handeln darstellt (vgl. auch § 31 BGB). Außerdem muss der Schuldner nach § 278 S. 1 BGB für das Verschulden all jener Personen einstehen, die er in den Erfüllungsvorgang einschaltet. Trifft diese Personen kein Schuldvorwurf, so haftet umgekehrt selbstverständlich auch der Schuldner nicht. Die Haftung für diese sog. Erfüllungsgehilfen ist der „Preis“ dafür, dass der Schuldner ja seine Produktivität und Rentabilität durch die Möglichkeiten innerbetrieblicher Arbeitsteilung und durch die Einschaltung von Subunternehmern entscheidend erhöhen kann. Auf der anderen Seite begrenzt dieser Gedanke die Verantwortlichkeit: Eine Haftung nach § 278 S. 1 BGB kommt bei teleologischer Auslegung dieser Norm dort nicht mehr in Betracht, wo das Verhalten jener Personen mit dem Erfüllungsvorgang in keinem inneren Zusammenhang steht, mit der Erfüllung also eigentlich gar nichts mehr zu tun hat, so dass diese Personen letztlich überhaupt nicht mehr als Erfüllungsgehilfen fungieren. Beispiele: Hauseigentümer H hat mit S, dem Inhaber einer Sanitärinstallationsunternehmung, den Kompletteinbau einer neuen Heizungsanlage vereinbart. Den elektrischen Anschluss hat S dem selbständigen Elektromeister E übertragen. Wenn der Mitarbeiter M des S den H in vermeidbarer Weise falsch in die Benutzung der neuen Anlage einweist und E im Zuge der Montage aus Nachlässigkeit eine unter Putz verlegte Wasserleitung anbohrt, hat S als Vertragsschuldner diese fahrlässige Verletzung der Erfüllungsbegleit- und der Schutzpflicht genauso zu verantworten, als ob er selber falsch instruiert und die Leitung angebohrt hätte. Konnte M aber gar keine richtige Anleitung geben, weil sich etwa schon in die Produktbeschreibung des Herstellers ein Fehler eingeschlichen hatte, und musste E mit einer gänzlich regelwidrig verlegten Wasserleitung an der Bohrstelle nicht rechnen, so trifft M und E keine Schuld, und deshalb hat S auch dafür keine Verantwortung zu übernehmen. Bestehlen M oder E den H anlässlich ihrer Tätigkeiten im Haus des H, so hat S dies ebenfalls nicht zu vertreten (Diebstahl nur anlässlich des Erfüllungsvorgangs). Für die Schickschuld muss bei der gebotenen teleologischen Betrachtungsweise (die logistische Distanz gehört hier zur Gläubigersphäre! ) ebenfalls der Begriff des Erfüllungsgehilfen i. S. des § 278 S. 1 BGB eingeengt werden: Für die in den Transportvorgang eingeschalteten Personen haftet der Schuldner <?page no="197"?> 170 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge nicht, auch wenn er sich ihrer vordergründig gesehen zur Erfüllung bedient. Das Gesetz geht aber noch über die Verantwortlichkeit des Schuldners für sein eigenes Verschulden und für Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen hinaus. Wenn etwa der Schuldner eine Garantie übernommen hat, ist er auch dann verantwortlich, wenn er an dem Garantiefall völlig schuldlos ist (vgl. § 276 I 1 BGB). Beispiel: Verkäufer V gibt für seine Milchprodukte eine Haltbarkeitsgarantie bis 31. 3. Völlig unvorhersehbar verderben diese Produkte schon vorher durch besondere atmosphärische Einflüsse in Verbindung mit einem kurzzeitigen Ausfall des Kühlaggregates wegen Stromunterbrechung in Folge einer Explosion im Kraftwerk: V hat es zu vertreten, dass der Käufer total verdorbene Milchprodukte erwirbt. Eine erweiterte Verantwortlichkeit des Schuldners über Verschulden hinaus liegt auch dann vor, wenn er das Beschaffungsrisiko übernommen hat, was seinerseits wiederum mit dem „Inhalt des Schuldverhältnisses“ in Zusammenhang steht (vgl. wiederum § 276 I 1 BGB). Zu denken ist hier vor allem an Gattungsschulden. Beispiel: V verkauft dem K eine Waschmaschine nach Katalog, die V sich erst selber von seinem Großhändler besorgen muss, weil sie nicht auf Lager ist. Von großer rechtspraktischer Bedeutung ist, dass der Zahlungsschuldner nach ganz h. M. seine Zahlungsunfähigkeit im Ergebnis immer zu vertreten hat. Man argumentiert hier mit dem in § 276 I 1 BGB genannten „Inhalt des Schuldverhältnisses“ (hier: Zahlungspflicht) und mit der besonderen Normierung, die die Zahlungsunfähigkeit durch das Insolvenzrecht erfahren hat. Das spielt vor allem bei der Frage eine Rolle, ob sich der Schuldner im Zahlungsverzug befindet. Darauf wird bei der Behandlung des Schuldnerverzuges im Allgemeinen noch einzugehen sein. Schließlich kann sich eine gesteigerte Verantwortung auch aus besonderen Rechtsnormen ergeben. So hat der Schuldner nach § 287 S. 1 BGB während des Schuldnerverzugs jede, also auch leichte Fahrlässigkeit zu vertreten, selbst wenn er außerhalb des Verzuges nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gehaftet hatte. „Wegen der Leistung“, also nicht für Schutzpflichtverletzungen, wird sogar für schuldlosen Zufall gehaftet. Beispiel: E hat mit L einen Leihvertrag über die Motorsäge des E geschlossen und ist deshalb verpflichtet, sie dem L absprachegemäß am 11. 1. zu überlassen (§ 598 BGB). Trotz Übergabeaufforderung behält E aber die Säge noch zum eigenen Gebrauch. In einem unbeaufsichtigten Augenblick wird die Säge gestohlen, so dass E seine Überlassungspflicht nicht erfüllen kann. Obwohl er grundsätzlich nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten hat (§ 599 BGB), hat er jetzt wegen seines Schuldnerverzuges (vgl. § 286 BGB) diese Unmöglichkeit der Leistung zu vertreten. Dabei ist gleichgültig, ob die Säge nun <?page no="198"?> 3. Leistungsstörungen 171 in Folge leichter Fahrlässigkeit des E (§ 287 S. 1 BGB) oder sogar völlig schuldlos, also durch „Zufall“ (§ 287 S. 2 BGB) gestohlen werden konnte. c) „Leistungshindernisse“, insbesondere Unmöglichkeit (1) Begriffliche Klassifizierung Die versprochene Leistung zu erbringen kann gelegentlich unmöglich sein. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Sie können in der Person gerade des Schuldners liegen, so dass nur er die Leistung nicht erbringen kann (sog. Unvermögen, subjektive Unmöglichkeit), oder sie kann jedermann, objektiv unmöglich sein. Dieser Zustand kann schon bei Vertragsschluss gegeben sein (anfängliche Unmöglichkeit) oder erst später eintreten (nachträgliche Unmöglichkeit). Während die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Unmöglichkeit nunmehr weitgehend unerheblich ist (vgl. § 275 I BGB), spielt die Frage der Anfänglichkeit oder Nachträglichkeit der Leistungsunmöglichkeit sehr wohl eine große Rolle (vgl. § 311a I BGB). Richtige Qualifikation der Unmöglichkeit ist deshalb notwendig. Beispiele: Verkauf des Dortmunder Hauptbahnhofes durch Herrn H: anfänglich subjektiv unmögliches Leistungsversprechen, weil schon bei Abschluss des Kaufvertrages zwar die Deutsche Bahn AG als Eigentümer, nicht jedoch der Schuldner, Herr H, das Eigentum übertragen kann und auch keine realistische Aussicht auf Beschaffbarkeit besteht. Ein Eheanbahnungsinstitut verpflichtet sich, anhand eines 10 Positionen umfassenden Fragebogens mit EDV-Unterstützung den idealen Lebenspartner zu vermitteln: anfängliche objektive Leistungsunmöglichkeit, weil die menschliche Persönlichkeit auch bei den schlichtesten Naturen doch sehr viel differenzierter ist. A verkauft an B sein Auto, das in 14 Tagen geliefert werden soll. In der Zwischenzeit erleidet A einen Totalschaden: Nachträgliche objektive Unmöglichkeit der Übergabe und Übereignung. Unmöglichkeit liegt nach der gesetzlichen Systematik auch dann vor, wenn bei der konkretisierten Gattungsschuld Verlust der ausgesonderten Gattungsexemplare eintritt. Beispiel: Der Verkäufer V hat 50 Bohrmaschinen eines bestimmten Typs zu liefern (also Gattungsschuld), und zwar an den Sitz des Käufers; Leistungsort soll allerdings der Sitz des Verkäufers sein (also Schickschuld). Gibt der Verkäufer solche Maschinen in den Versand, konkretisiert sich die Gattungsschuld gemäß § 243 II BGB mit dieser „Expedierung“. Wurden diese Maschinen dann auf dem Transport gestohlen, liegt nachträgliche subjektive Unmöglichkeit vor; verbrennt die Ladung, dann ist die Leistung nachträglich objektiv unmöglich, <?page no="199"?> 172 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge obwohl es noch genügend solcher Bohrmaschinen gibt und der Verkäufer sie vielleicht sogar noch auf Lager hat. Schon zweifelhafter sind folgende Beispiele: V vermietet im September an M für dessen nächsten Sommerurlaub zu einem sehr günstigen Preis einen bestimmten Bungalow an der Ostsee, der leider durch einen der zahlreichen schweren Winterstürme völlig zerstört wird. Das Bergungsunternehmen B verspricht der überaus reichen Witwe W, ihren Ehering, der bei der Atlantiküberfahrt ins Wasser gefallen war, vom Meeresgrund zu heben. Ist die von V versprochene Leistung hier wirklich nachträglich (objektiv) unmöglich? Immerhin könnte der Bungalow ja wieder für viel Geld! aufgebaut werden. Und wenn man den gesamten Meeressand entlang der Schiffsroute weiträumig durchsieben würde, wäre der Ring sehr wohl auffindbar. Der Gesetzgeber rechnet jedoch, wie § 275 II BGB zeigt, solche Fälle „praktischer“ Leistungsunmöglichkeit erkennbar nicht dem Begriff der Unmöglichkeit zu. Diese ist also im Prinzip logisch-physikalisch zu verstehen. Das Gesetz behandelt wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten solche „Leistungshindernisse“ (vgl. die Formulierung in § 311a I BGB! ) freilich (fast) genauso wie die echte Unmöglichkeit. Dasselbe gilt für die früher sog. „moralische“ Leistungsunmöglichkeit, also für die Unzumutbarkeit der Leistungserbringung nach § 275 III BGB. Beispiel: Sängerin S, die vor Jahren einem Mordversuch entgangen ist, verpflichtet sich, den Sopran-Part der „Königin der Nacht“ in Mozarts „Zauberflöte“ zu übernehmen. Bei den Proben trifft sie zu ihrem Entsetzen auf den Bassisten M in der Rolle des Sarastro, in dem sie ihren mittlerweile begnadigten Attentäter von damals wiedererkennt. Die Struktur des § 275 BGB ist nicht so übersichtlich wie es auf dem ersten Blick scheint. So ist insbesondere das Verhältnis von § 275 II BGB zu § 313 BGB (Geschäftsgrundlage) zweifelhaft, wegen der ganz unterschiedlichen Rechtsfolgen aber klärungsbedürftig. Bislang fehlen jedoch dogmatisch überzeugende und praktisch handhabbare Abgrenzungsvorschläge. Unklar ist ferner das Verhältnis von § 275 I zu II BGB: Mit der Annahme subjektiver Unmöglichkeit, die (noch) unter § 275 I BGB fällt, sollte man wohl eher zurückhaltend sein. Vielfach wird es sich in einschlägigen Sachverhalten eher um einen Fall von § 275 II BGB handeln, der nicht ohne weiteres wie in § 275 I BGB zum Freiwerden des Schuldners von seiner primären Leistungspflicht führt und ja auch lediglich als Einrede ausgestaltet ist. Während in den vorgenannten Fällen das Leistungsinteresse des Gläubigers unbefriedigt bleibt, wird das Leistungsinteresse in einer bestimmten Unmöglichkeitssituation gerade durch die Leistungsunmöglichkeit befriedigt, dann nämlich, wenn zwischenzeitliche Zweckerreichung eintritt. Begrifflich handelt es sich hier durchweg um nachträgliche (objektive) Unmöglichkeit, <?page no="200"?> 3. Leistungsstörungen 173 doch ist nicht völlig unzweifelhaft, ob dieser Sonderfall der Unmöglichkeit eben wegen seiner Besonderheit hinsichtlich des Gläubigerinteresses nach den für diese Leistungsstörungsgruppe an sich vorgesehenen Normen zu behandeln ist. Beispiel: Da das Auto im Küstensand hoffnungslos festsitzt, ruft der Autobesitzer einen Abschleppdienst an. Nachdem dieser sein umgehendes Erscheinen zugesagt hat, macht der Autobesitzer noch einen Versuch, der völlig überraschend gelingt, so dass ein Freischleppen des Fahrzeugs nun gar nicht mehr möglich ist: nachträgliche (objektive) Unmöglichkeit des Freischleppens. (2) Rechtsfolgen Die anfängliche Unmöglichkeit der Leistung hat, wie § 311a I BGB bestimmt, auf die Vertragswirksamkeit keinen Einfluss. Das sog. genetische Synallagma bleibt also prinzipiell erst einmal erhalten. Dasselbe gilt nach dieser Norm bei sonstigen anfänglichen Leistungshindernissen der in § 275 II und III BGB genannten Art („praktische“ und „moralische“ Unmöglichkeit). Allerdings ist der Schuldner nach § 275 I BGB gleichwohl nicht verpflichtet, die unmögliche Leistung zu erbringen. Wie sollte er dies auch bewerkstelligen? In den Fällen des § 275 II und III BGB lässt das Gesetz dem Schuldner allerdings die Leistungsoption und räumt ihm lediglich das Recht ein, die Leistung auf Dauer zu verweigern (sog. peremptorische Einrede). Der Einfluss der anfänglichen Leistungsunmöglichkeit auf die primäre Leistungspflicht einerseits, der unzumutbaren Leistung andererseits, ist also rechtstechnisch ein wenig unterschiedlich. Beispiel: Die Sängerin, die ihren mittlerweile begnadigten Attentäter als Bühnenpartner wiedertrifft, kann ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllen, wenn sie die menschliche Größe hat, sich von der Vergangenheit völlig zu lösen; sie braucht aber nicht zu singen, wenn sie die ihr nach § 275 III BGB zustehende Einrede ausübt. Liegen die in § 275 BGB aufgeführten, zusammenfassend vom Gesetz (vgl. § 311a II 2 BGB) als „Leistungshindernisse“ bezeichneten Leistungsstörungen, namentlich also die Leistungsunmöglichkeit, schon bei Vertragsschluss vor, kann es zu sekundären Leistungspflichten kommen. Von den in § 275 IV BGB genannten Optionen stehen bei anfänglicher Unmöglichkeit und den ihr gleichgestellten Fällen dem Gläubiger freilich nur die in § 311a II BGB und § 326 BGB genannten Rechtsbehelfe zu Gebote. Der Gläubiger kann also nach § 311a II 1 BGB grundsätzlich wählen, ob er statt der vom Schuldner nicht zu erbringenden Leistung Schadensersatz fordern will oder nur Ersatz seiner sinnlosen Aufwendungen im Rahmen des § 284 BGB. In ersterem Fall <?page no="201"?> 174 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge ist der so zu stellen, wie er stünde, wenn vertragsgerecht erfüllt worden wäre. Unter anderem wegen dieser auf das Erfüllungsinteresse gerichteten Rechtsfolge hat der Gesetzgeber auch die Merkwürdigkeit konstruktiv für nötig gehalten, die Vertragswirksamkeit vorzusehen (§ 311a I BGB), obwohl der Schuldner doch gemäß § 275 BGB gar nicht zu leisten braucht. Wählt der Gläubiger alternativ die zweite in § 311a II 1 BGB vorgesehene Option, so kann er die Kosten der von ihm „billigerweise“, also nicht unsinnig gemachten Aufwendungen, insbesondere also bis dahin entstandenen Transaktionskosten, erstattet verlangen. Für beide Varianten ist nach § 311a II 2 BGB allerdings Voraussetzung, dass der Schuldner bei Vertragsschluss das Leistungshindernis i. S. des § 275 BGB kannte oder seine Unkenntnis fahrlässig herbeigeführt hat, der Schuldner sie also zu vertreten hat. Nur aus Gründen der Beweislastverteilung formuliert § 311a II 2 BGB negativ. Das rechtliche Schicksal der nicht gestörten - Gegenleistungspflicht (insoweit ist der Gläubiger der gestörten Leistungspflicht also seinerseits Schuldner der Gegenleistungspflicht! ) regelt § 326 BGB, auf den § 275 IV BGB ja ebenfalls verweist. Die Kernaussage, die für die allermeisten Fälle zutreffen wird, enthält § 326 I BGB: Der durch § 275 BGB von seiner Leistungspflicht befreite Schuldner verliert seinen Anspruch auf die Gegenleistung, regelmäßig also auf Zahlung. Praktisch bedeutet dies, dass der Gläubiger, wenn er Schadensersatz statt der Leistung wählt und dieser Schadensersatz in Geld besteht, den Betrag der von ihm eigentlich geschuldeten Zahlung von seiner Schadensersatzforderung abzieht (sog. Differenztheorie). Das in § 326 V BGB zusätzlich gewährte Rücktrittsrecht hat demgegenüber hier kaum Bedeutung. Beispiel: G, Inhaber einer Galerie, verkauft ein Bild seines Bestandes (das Portrait der Gräfin von Greifenstein) im Marktwert von Euro 60.000 an den Kunsthändler K für Euro 50.000, wobei K seinerseits schon den Sammler S als festen Abnehmer für dieses Bild zum Preis von Euro 70.000 gewonnen hat. Schon zwei Tage vor Vertragsschluss ist das Bild jedoch verbrannt, wie dem G von seinem Mitarbeiter M per SMS (schriftliche Kurzmitteilung über Mobiltelefon) sofort mitgeteilt wurde. Weil G die eingegangenen Meldungen jedoch nicht aufgerufen hatte, war er über den Verlust des Bildes in Unkenntnis geblieben: Die von Anfang an objektiv unmögliche Leistung muss von G gemäß § 275 I BGB trotz Vertragswirksamkeit (§ 311a I BGB) nicht erbracht werden. Seine Unkenntnis über den Bildverlust durch Brand hat G auch zu vertreten. Denn wer eine Handynummer hinterlässt, muss auch dafür sorgen, dass ihn Mitteilungen über diesen Kommunikationsweg schnell erreichen. Wenn K nun nach § 311a II BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangt, muss er so gestellt werden, wie er bei Erfüllung stünde. Dann hätte er das Bild im Marktwert von Euro 60.000 zu Eigentum erworben und den Veräußerungserlös von Euro 70.000 realisiert, freilich auch das Bild weiterübereignen müssen. Seinerseits ist er jedoch von der nach § 433 II BGB geschuldeten Zahlung des Kaufpreises gegenüber G gemäß § 326 I 1 BGB frei geworden. Seine Schadensersatzforderung gegen G beläuft sich somit auf Euro 20.000, der Summe aus Euro 60.000+Euro 70.000 abzüglich der Summe aus Euro 60.000 +Euro 50.000. <?page no="202"?> 3. Leistungsstörungen 175 Die nachträgliche Unmöglichkeit der Leistung (sowie ein gleichgestelltes Leistungshindernis) führt bei selbstverständlich fortbestehender Vertragswirksamkeit gemäß § 275 BGB ebenfalls zur Leistungsfreiheit des Schuldners bezüglich der primären Leistungspflicht. Er schuldet allerdings als sekundäre Leistung Schadensersatz wegen der hier nun vorliegenden Pflichtverletzung gemäß der zentralen Haftungsnorm des § 280 I BGB, sofern er die nachträglichen Leistungshindernisse, namentlich die nachträgliche Leistungsunmöglichkeit, zu vertreten hat. Dieser Schadensersatzanspruch zielt als „Schadensersatz statt der Leistung“ nach § 283 I BGB auch hier auf das volle Erfüllungsinteresse. Alternativ kann der Gläubiger freilich Aufwendungsersatz gemäß § 284 BGB verlangen. Beispiel: Das Portrait der Gräfin von Greifenstein aus dem vorgenannten Beispiel ist erst nach Vertragsschluss verbrannt, und zwar deshalb, weil M eine Zigarette achtlos in den Papierkorb der Galerie geworfen hatte. In weiterer Abänderung des Sachverhalts beträgt der Marktwert des Bildes jetzt nur Euro 50.000 und K hatte auch keine Aussicht auf Veräußerungsgewinn: Die nachträgliche Leistungsunmöglichkeit hat G zu vertreten, weil er für den fahrlässigen Umgang seines Erfüllungsgehilfen M mit Zigaretten nach § 278 BGB genauso verantwortlich ist wie für sein eigenes Fahrlässigkeitsverschulden. Der dem K gegen G daraus erwachsende sekundäre Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (§§ 280 I, 283 BGB) unter Wegfall der aus § 433 II BGB erwachsenden Pflicht zur Kaufpreiszahlung (§ 326 I 1 BGB), ist hier für K gänzlich uninteressant, da dieser Null beträgt. K kann aber gemäß § 284 BGB wenigstens Ersatz z. B. der Kommunikationskosten für Telefon und Porto verlangen sowie die Erstattung jener Kosten, die für eine von K vorbereitete, jetzt gegenstandslose kleine Feier anlässlich der Transaktion entstanden sind. Ist hingegen der Gläubiger für das nachträgliche Leistungshindernis verantwortlich, so sind die Rechtsfolgen wesentlich anders. Zwar entfällt natürlich auch hier die primäre Leistungspflicht des Schuldners (§ 275 BGB). Weil er jedoch dies nicht zu vertreten hat, entfällt nicht nur seine Schadensersatzpflicht (vgl. §§ 280 I, 283 BGB), sondern er behält gemäß § 326 II 1 BGB auch seinen synallagmatischen Anspruch auf die Gegenleistung. Beispiel: Das Portrait der Gräfin von Greifenstein verbrannte nach Abschluss des Kaufvertrages, weil K als Käufer anlässlich eines Besuches in der Galerie des Verkäufers G seine Zigarette achtlos in den Papierkorb geworfen hatte: Leistungsfreiheit des G bezüglich der primär geschuldeten Übereignung (§ 275 I BGB), mangels Vertretenmüssens aber keine Schadensersatzpflicht des G (§ 280 I 2 BGB) bei Erhalt seines Zahlungsanspruches aus § 433 II BGB (§ 326 II 1 BGB). Trägt keine der beiden Vertragspartner Verantwortung für das nachträgliche Leistungshindernis, so gilt Folgendes: Der Schuldner wird allemal von seiner primären Leistungspflicht befreit und schuldet auch weder Schadensnoch Aufwendungsersatz (vgl. §§ 280 I 2, 283, 284 BGB), verliert freilich grundsätzlich auch seinen synallagmatischen Anspruch auf die Gegenleistung (§ 326 I <?page no="203"?> 176 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge BGB). Ist diese schon erbracht, kann sie jedenfalls nach §§ 326 IV, 346 ff. BGB und wohl auch nach § 812 I 1, 1. Alt. BGB (Leistungskondiktion) zurückverlangt werden. Das vorstehend dargestellte funktionelle Synallagma der beiderseitig entfallenden primären Leistungspflichten erleidet freilich im Anwendungsbereich der §§ 446, 447 BGB, also bei Verkauf unter Eigentumsvorbehalt und beim vor allem unternehmenspraktisch überaus wichtigen Versendungskauf (Lieferschuld ist hier Schickschuld! ), eine sehr wichtige Ausnahme, die auch bei beiderseitig fehlender Verantwortlichkeit den Anspruch auf die Gegenleistung aufrecht erhält. Beispiele: V übergibt die dem K verkaufte Sache, ohne (schon) zu übereignen (z. B. beim Verkauf unter Eigentumsvorbehalt, also mit aufschiebend bedingter Übereignung). Anschließend wird die Sache durch ein abstürzendes Flugzeug zerstört: Zahlungspflicht des K aus § 433 II BGB bleibt wegen § 446 S. 1 BGB entgegen § 326 I BGB bestehen! V liefert eine Maschine auf Wunsch des K an diesen aus, obwohl Leistungsort der Sitz des V war (Schickschuld! ). Auf dem Transport wird die Maschine durch eine Naturkatastrophe vernichtet. Wegen § 447 I BGB kein Wegfall der Zahlungspflicht! § 447 BGB gilt gemäß § 474 II BGB allerdings nicht beim sog. Verbrauchsgüterkauf, d. h. wenn der Warenverkäufer Unternehmer (§ 14 BGB) und der Käufer Verbraucher (§ 13 BGB) ist. Es bleibt hier also bei der Regel des § 326 I BGB: „Keine Ware, kein Geld“. Beispiel: Hausfrau Helene, die auch bei der Hausarbeit nicht auf eine gewisse Eleganz verzichten möchte, kauft bei Otto-Versand Hamburg eine geblümte Kittelschürze. Diese geht auf dem Transport verloren: Otto muss nicht mehr liefern (§§ 275 I, 243 II BGB), Helene aber auch nicht zahlen. Bei allen in § 275 BGB genannten Leistungshindernissen, gleich ob sie von Anfang an bestanden oder nachträglich auftreten, kann der Gläubiger gemäß § 285 BGB den Ersatzvorteil herausverlangen, der im Vermögen des Schuldners an die Stelle der unmöglich gewordenen Leistung tritt. Tut er dies neben der Geltendmachung eines eventuell bestehenden Schadensersatzanspruches statt der Leistung, so erfolgt selbstverständlich eine Anrechnung dieses Ersatzvorteils (§ 285 II BGB). Auch auf das Schicksal der Gegenleistung muss sich dieses sog. stellvertretende (lat.) commodum (Vorteil) auswirken. Denn soweit damit die eigentlich geschuldete, aber nicht erbringbare Leistung substituiert wird, bleibt ja auch das Synallagma intakt. Auf diesem einfachen Prinzip beruht § 326 III BGB. Beispiel: V ist aus Kaufvertrag dem K zur Lieferung eines dem V gehörenden, ganz bestimmten antiken, gegen Diebstahl hoch versicherten Schrankes verpflichtet. Trotz ordentlicher Sicherheitsmaßnahmen wird dieser Schrank jedoch kurz vor Lieferung von D gestohlen. K kann von V zwar keinen Schadensersatz verlangen (§ 280 I 2 BGB), wohl aber gemäß § 285 I BGB Zession des Schadensersatzanspruches gegen D aus § 823 I BGB sowie Zession des Anspruchs auf die <?page no="204"?> 3. Leistungsstörungen 177 Versicherungssumme. Dementsprechend bleibt K dem V allerdings auch zur Gegenleistung (Kaufpreiszahlung) verpflichtet (§ 326 III BGB). Manchmal ist es gerade die Zahlungspflicht, zu deren Erfüllung der Schuldner nicht imstande ist. Das Leistungsstörungsrecht gilt für Zahlungsunfähigkeit (Insolvenz) freilich ohne jede Veränderung. Eine Befreiung von seiner Leistungspflicht nach § 275 II 1 BGB (nur diese Variante kommt hier in Betracht) scheidet jedoch nach ganz h. M. mit Blick auf den „Inhalt des Schuldverhältnisses“ (Zahlungspflicht) aus. Erst das Insolvenzrecht zieht hieraus die Konsequenzen. d) Verzug (1) Schuldnerverzug Der Rechtsbegriff des Schuldnerverzuges und seine rechtliche Bedeutung sind, verglichen mit der Unmöglichkeit der Leistung und ihr gleichgestellten Leistungshindernissen, einfach zu erfassen. Trotzdem ist Vorsicht geboten, da der Alltagssprachgebrauch die bloße Verspätung schon für „Verzug“ hält. Die Überschreitung der maßgeblichen Leistungszeit (Fälligkeit) ist jedoch nur notwendige, keineswegs hinreichende Bedingung für Schuldnerverzug. Unter Berücksichtigung von § 286 BGB müssen vielmehr folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Zunächst muss selbstverständlich eine wirksame Verbindlichkeit bestehen, weil sonst gar kein Schuldner im Rechtssinne existiert. Die Erbringung der geschuldeten Leistung muss ferner überhaupt möglich oder jedenfalls i. S. des § 275 II, III BGB noch geschuldet sein, weil sonst ja die Leistungsstörung „Unmöglichkeit“ mit ihren verschiedenen Varianten einschlägig ist, begrifflich also kein Schuldnerverzug vorliegen kann. Weiterhin muss der Anspruch fällig sein, was nach § 271 I 1 BGB freilich grundsätzlich „sofort“ mit Entstehen des Anspruchs eintritt. Die Fälligkeit ist jedoch so lange nicht gegeben, wie dem Schuldner vorübergehende, dilatorische Einreden (z. B. auf Grund einer ihm gewährten Stundung oder nach §§ 320 und 321 BGB) oder Zurückbehaltungsrechte (§ 273 BGB, § 369 HGB) zur Seite stehen. Der Schuldnerverzug setzt begrifflich aber noch mehr voraus, regelmäßig nämlich eine Mahnung, also eine formlose, auf Seiten des Schuldners empfangsbedürftige Willenserklärung, die hinreichend erkennen lässt, dass der Gläubiger einen Anspruch erhebt. Das Reizwort „Mahnung“ braucht keinesfalls aufzutauchen, ebenso wenig wie mit irgendwelchen Rechtsfolgen gedroht werden müsste. Beispiel: Das Modeversandhaus meldet sich bei der Kundin mit einem nett aufgemachten Schreiben wegen einer offenstehenden Zahlung oder bringt sich telefonisch in Erinnerung: rechtlich gesehen eine Mahnung. <?page no="205"?> 178 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Werden, wie in der Praxis häufig, Fälligkeiten so vereinbart, dass sie kalendermäßig unmittelbar oder mittelbar bestimmt sind, so bedarf es gemäß § 286 II Nr. 1 BGB zum Eintritt des Verzuges keiner Mahnung, vorausgesetzt, die übrigen Verzugsvoraussetzungen liegen vor. Es kommt hier also darauf an, dass schon ab Vertragsschluss die Fälligkeit anhand eines Kalenders vorgehalten werden kann. Dass Tag, Monat und Jahr ausdrücklich genannt werden, ist dafür jedoch nicht erforderlich. Der Blick in den (hoffentlich sorgfältig geführten! ) Terminkalender mahnt in diesen Fällen sozusagen anstatt des Gläubigers (lat. „dies interpellat pro homine“). Für kalendermäßige Bestimmung der Leistungszeit folgende Beispiele: „Lieferung am 9. 3. 2011“, „Fertigstellung bis spätestens 3 Wochen nach Ostersonntag 2011“, „Zahlbar bis 15. 5. 2011“. Auch ohne kalendermäßige Bestimmung der Fälligkeit kann nach § 286 II Nr. 2 BGB eine Mahnung für den Verzugseintritt entbehrlich sein. Vorausetzung dafür ist, dass die Fälligkeit in Abhängigkeit von einem vorangegangenen Ereignis nach dem Kalender zu berechnen ist. Neben der kalendermäßigen Bestimmbarkeit muss zwischen dem jeweiligen Ereignis eine angemessene Frist zur Leistungserbringung liegen. „Zahlung sofort nach Rechnungserhalt“ macht eine Mahnung für den Verzugseintritt somit nicht entbehrlich, sondern markiert nur die Fälligkeit, weil zwar der Rechnungserhalt einen Ansatzpunkt zur kalendermäßigen Bestimmung der Leistungszeit liefert, aber keine angemessene Frist gesetzt ist. „Zahlbar 3 Tage nach Rechnungsstellung“ setzt zwar eine angemessene Frist, liefert dem Schuldner aber keinen Anhaltspunkt für die Ermittlung des Fristbeginns, sofern kein Rechnungsdatum erkennbar ist. Für Entbehrlichkeit einer Mahnung wegen § 286 II Nr. 2 BGB aber folgende Beispiele: „Lieferung binnen 3 Tagen nach Abruf“, „Zahlbar 8 Tage nach Rechnungserhalt“, „Zahlbar 14 Tage ab Rechnungsdatum“. Nach § 286 II Nr. 3 BGB bedarf es darüber hinaus für den Eintritt des Schuldnerverzugs auch keiner Mahnung, wenn der Schuldner erklärt, gar nicht leisten zu wollen. Das ist auch ohne gesetzliche Regelung solcher Leistungsverweigerung klar (lat. „venire contra factum proprium“). Unnötig ist die Mahnung ferner in Fällen einer vom Schuldner erkannten höchsten Dringlichkeit der Leistung. Dies ist sicher ein Hauptanwendungsfall des § 286 II Nr. 4 BGB. Man spricht hierbei von Selbstmahnung. Beispiele: Der zu einem Patienten mit vermutetem Herzinfarkt zu Hilfe gerufene Arzt ebenso wie der Handwerker, der die Reparatur des geplatzten Wasserrohrs in der Wohnung als Eilauftrag akzeptiert hat, kann auch ohne Mahnung in Verzug kommen, wenn er nicht innerhalb von wenigen Minuten zur Stelle ist. Auch das sog. Fix-Geschäft unterfällt § 286 II Nr. 4 BGB: Wenn die Vertragsparteien eine Leistungszeit „fix“ gestellt haben, aber auch, wenn in <?page no="206"?> 3. Leistungsstörungen 179 diesem Zusammenhang von „genau“, „exakt“ oder „Punkt“ (bei Zeitangaben) die Rede ist, sowie dann, wenn es einer Vertragspartei für die andere Seite erkennbar auf die Einhaltung der Leistungszeit so ankommt, dass damit der Vertrag „steht und fällt“, bedarf es zum Eintritt des Schuldnerverzuges keiner Mahnung. Eine Sonderrolle spielt die durch Rechnungsstellung bezifferte Geldforderung: Bestehen keine abweichenden Vereinbarungen (§ 286 BGB ist dispositives Recht! ), tritt gemäß § 286 III 1 BGB Verzug spätestens nach 30 Tagen ein, wenn die Forderung wie regelmäßig, vgl. auch § 271 I BGB sofort mit Rechnungszugang fällig ist, ansonsten entsprechend später. Doch kann der Gläubiger natürlich vor allem durch Mahnung schon vorher Zahlungsverzug des Schuldners herbeiführen. Beispiel: Maschinenfabrikant M schuldet seinem Zulieferanten Z Kaufpreiszahlung. Die Zahlungspflicht ist freilich zunächst noch nicht genau bezifferbar, weil die von M bei der Schickschuld zu übernehmenden Transportkosten noch nicht feststehen. M erhält deshalb mit Lieferung auch eine Rechnung „zahlbar binnen 8 Tagen nach Rechnungserhalt“. Die Fälligkeit der Zahlungsforderung tritt somit 8 Tage, der Zahlungsverzug jedenfalls 38 Tage nach Rechnungserhalt ein. Geht dem M schon 10 Tage nach Rechnungserhalt eine Mahnung des Z zu, kommt M schon zu diesem Zeitpunkt in Schuldnerverzug. Diesen Automatismus von Rechnungsstellung und (spätestem) Eintritt des Zahlungsverzugs stellt § 286 III 1 BGB freilich unter einem Vorbehalt: Ist der Zahlungsschuldner ein Verbraucher (§ 13 BGB), gilt dies nur, wenn die Rechnung einen besonderen Hinweis darauf enthält, dass Verzug auch ohne Mahnung, kalendermäßig bestimmte Fälligkeit etc. eintritt. Beispiel: Versandhaus V beliefert den Privatkunden K am 8. 11. 2011. Die der Ware beigelegte Rechnung lautet: „Zahlbar bis 18. 11. 2011“. Auch ohne besonderen Hinweis kommt K am 18. 11. 2011 in Verzug, wenn er noch nicht gezahlt hat, und zwar nach § 286 II Nr. 1 BGB. Da es sich nicht um einen Verzugseintritt nach § 286 III BGB handelt, bedurfte es also auch keines darauf bezogenen Hinweises gegenüber dem K als Verbraucher. Zum Verzugsbegriff gehört schließlich, dass der Schuldner die Verspätung im bekannten Sinne zu vertreten hat (§ 286 IV BGB formuliert nur aus prozessualen Beweisgründen negativ). Es kommt also auch im Rahmen des Verzugstatbestandes auf die genaue Prüfung des Einzelfalls in Hinblick darauf an, ob dem Schuldner oder seinen Erfüllungsgehilfen tatsächlich Verschulden an der Verspätung anzulasten ist oder er die Verspätung auch ohne Verschulden zu vertreten hat (so generell bei der Zahlungspflicht! ). Beispiele: Der termingerecht sich auf dem Weg zum Kunden befindliche Unternehmensberater erleidet trotz umsichtiger Fahrweise einen Verkehrsunfall, wird verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und kann die zugesagte, dringend benötigte Beratung deshalb nicht erteilen: Kein Verzug, da die Verspätung vom Schuldner nicht zu vertreten ist. <?page no="207"?> 180 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Überraschend wird der Zulieferbetrieb bestreikt, weshalb dieser die Lieferung der bestellten Schraubenmuttern nicht durchführen kann: Kein Verzug, da weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorliegt und die Verzögerung auch nicht im Rahmen des für Gattungsschulden typischen Beschaffungsrisikos liegt (vgl. § 276 I 1 BGB). Trotz sorgfältigster Finanzplanung tritt zum Zahlungstermin eine unvorhersehbare Liquiditätsschwäche wegen einer globalen Finanzkrise auf: Verzug! Das Vertretenmüssen auch ohne Verschulden folgt für die ganz h. M. nach § 276 I 1 BGB aus dem „Inhalt des Schuldverhältnisses“, nämlich aus seinem Charakter als Zahlungspflicht. Was die Rechtsfolgen des Schuldnerverzuges anlangt, ist zunächst das unveränderte Fortbestehen des vom Verzug betroffenen Anspruchs festzuhalten. Der Gläubiger kann also selbstverständlich nach wie vor d. h. auch wenn die Voraussetzungen des Schuldnerverzuges nicht vorliegen auf der geschuldeten Leistung bestehen und die Erfüllung notfalls gerichtlich durchsetzen. Daneben kann der Gläubiger vom Schuldner Ersatz des Verzögerungsschadens gemäß § 280 II i. V. m. § 286 BGB verlangen. Dazu zählen wohlgemerkt nicht die Kosten einer Mahnung, weil die Mahnung abgesehen vom Fall des § 286 II und III BGB ja zum Auslösen des Verzuges erforderlich ist, es sich bei den Mahnkosten also nicht um Aufwendungen handeln kann, die „durch“ den Verzug bedingt sind. Die Kosten einer weiteren Mahnung sind hingegen in einem Zeitpunkt entstanden, in dem schon Verzug vorliegen kann (wenn die übrigen Verzugsvoraussetzungen gegeben sind! ), so dass sie als Posten des nach § 280 II/ 286 BGB geschuldeten Schadensersatzes in Betracht kommen. Bei Zahlungsverzug umfasst der Schadensersatzanspruch jedenfalls den Zinsschaden, dessen Mindesthöhe für Geschäfte unter Beteiligung eines Verbrauches anders als für sonstige Geschäfte nach § 288 I 2 bzw. II BGB zu berechnen ist (zum „Basiszins“ vgl. § 247 BGB; jeweils aktuelle Information über die Höhe: www.bundesbank.de). Hat der Gläubiger zum Ausgleich der ausgebliebenen Zahlung tatsächlich einen Kredit aufgenommen, für den er höhere Sollzinsen entrichten muss, so kann er diesen effektiven Zinsaufwand liquidieren (§ 288 III BGB). Dies ist bereits dann der Fall, wenn der Gläubiger mit einem laufenden Bankkredit (Kontokorrent) arbeitet, der ja nicht selten höher als nach der abstrakten Berechnung des § 288 II BGB zu verzinsen ist (14% und mehr sind keine Seltenheit): Wäre der Zahlungsbetrag termingerecht auf dem Gläubigerkonto gebucht worden, so wäre der Kreditbedarf geringer gewesen, so dass auch weniger Sollzinsen für den Kontokorrentkredit angefallen wären. Beispiel: Die arme, aber elegante Emilia trägt zwar bereits das Modellkleid, hat aber den vereinbarten Kaufpreis in Höhe von Euro 3.000 noch nicht bezahlen können, obwohl als Zahlungstermin der 31. 3. abgemacht war. Das Modehaus Möllemann übermittelt nach längerem Warten nunmehr doch eine Mahnung <?page no="208"?> 3. Leistungsstörungen 181 über den Kaufpreis nebst Briefporto für die Mahnung und Zinsen gemäß § 288 I BGB aus Euro 3.000 seit 1. 4.: Porto und Zinsen werden zurecht geltend gemacht, weil Verzug wegen § 286 II Nr. 1 BGB auch ohne Mahnung bereits am 1. 4. eingetreten ist, und weil die Verzugszinsen von Emilia auch dann zu entrichten sind, wenn Möllemann gar keinen effektiven Zinsschaden erlitten hat. Bei beiderseitigen Handelsgeschäften gilt nach § 352 I HGB außer für Verzugszinsen ein gesetzlicher Zinssatz von 5% p. a. Allerdings spielt dieser handelsrechtliche Zinssatz keine besondere Rolle mehr. Er hat Bedeutung aber z. B. noch im Zusammenwirken mit § 353 HGB. Demzufolge erwächst bei beiderseitigen Handelsgeschäften für (Zahlungs-)Ansprüche ein Zinsanspruch in Höhe von 5% (§ 352 II HGB) nicht erst mit Eintritt des Verzugs, sondern bereits mit Verstreichen der Fälligkeit. Dabei fällt zudem ins Gewicht, dass nach § 271 I BGB Fälligkeit ja grundsätzlich sofort mit Entstehen des Zahlungsanspruchs, also regelmäßig mit Vertragsschluss, gegeben ist, bei schwer bezifferbaren Geldforderungen nach Handelsbrauch (§ 346 HGB) spätestens aber mit Rechnungserhalt. Es ist hier also genau verkehrt, Rechnungen ohne Zahlungsfrist in der Hektik des Geschäftsganges erst einmal beiseite zu legen, um die 30-Tages-Frist des § 286 III BGB „ausnutzen“ oder es gar auf eine Mahnung ankommen zu lassen, wie es in der Unternehmenspraxis häufig geschieht. Denn eben hierin liegt das Risiko beschlossen, dass schon vor Verzugseintritt jedenfalls Fälligkeitszinsen eingefordert werden, von der empfindlichen Sanktion gemäß §§ 286 III, 288 BGB nach Verzugseintritt ganz abgesehen. Nimmt der Schuldner seine Zahlungen wieder auf, reichen diese aber nicht aus, um den Gläubiger insgesamt zu befriedigen, so legt § 367 I BGB als Verrechnungsreihenfolge fest, dass die Zahlungseingänge zuerst auf die Kosten, also namentlich auf die Rechtsverfolgungskosten, sodann auf die Fälligkeits- und Verzugszinsen, und erst zuletzt auf die Hauptleistung anzurechnen sind. Diese für den Zahlungsschuldner sehr harte (freilich dispositive! ) Regelung gilt jedoch nicht beim Verbraucherkredit. Als weitere Verzugsfolge ist § 287 BGB zu beachten: Sollte ausnahmsweise eigentlich nur für (Vorsatz und) grobe Fahrlässigkeit gehaftet werden (wie z. B. bei § 599 BGB), so wird das Vertretenmüssen im Schuldnerverzug nun an dem auch sonst geltenden allgemeinen Maßstab des § 276 I 1 BGB orientiert; es wird nunmehr also auch für leichte Fahrlässigkeit gehaftet und „wegen der Leistung“ (§ 287 S. 2 BGB) sogar für schuldlose Pflichtverletzungen, also für „Zufall“. Wird also z. B. während des Schuldnerverzuges die Leistung unmöglich, so hat der Schuldner dies gemäß § 287 S. 2 BGB sogar dann zu vertreten, wenn er oder seine Erfüllungsgehilfen gemessen an §§ 276 I 1, 278 BGB dafür eigentlich gar nichts können. Beispiel: Galerist G befindet sich mit dem Bild „Gelsenkirchen in grün“ in Lieferverzug. Da führt ein Bergsturz als Folge des Kohleabbaus in 300 m Tiefe völlig <?page no="209"?> 182 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge überraschend zum Einsturz der Galerie, wobei das Bild vernichtet wird: nachträgliche, von G zu vertretende Unmöglichkeit! Häufig meint man als Gläubiger, schon das Nichteinhalten des Fälligkeitstermins, erst recht aber der Schuldnerverzug berechtigten zur Vertragsauflösung, namentlich dann, wenn eine ganze Reihe erfolgloser Mahnungen ergangen ist. Dieser Glaube ist grundsätzlich falsch. Ein derartiges Rücktrittsrecht besteht vielmehr nur unter Zusatzvoraussetzungen, insbesondere bei erfolgloser Nachfristsetzung gemäß § 323 I BGB. Ein solches Rücktrittsrecht ist nach dieser Norm dann nicht einmal an den Verzug des Schuldners (§ 286 BGB) geknüpft: die bloße Leistungsverspätung genügt. Beispiel: V hat sein Auto an M vermietet („gegenseitiger Vertrag“ mit synallagmatischen Leistungspflichten). Zum vereinbarten Zeitpunkt kommt es allerdings nicht zur Übergabe, weil V einen Herzinfarkt erlitten hat: Mangels Vertretenmüssens kein Schuldnerverzug des V! Gibt M in Kenntnis oder Unkenntnis der Umstände dem V noch einen Tag Zeit, verstreicht aber auch diese Frist erfolglos, kann M durch Erklärung gegenüber V zurücktreten (§§ 346, 349 BGB). Damit entfallen die beiderseitigen primären Leistungspflichten. Bereits Empfangenes (z. B. eine vorgeleistete Zahlung) ist gemäß § 346 I BGB zurückzuerstatten. Nicht einmal die Nachfristsetzung ist Rücktrittsvoraussetzung in den Fällen des § 323 II BGB, also z. B. bei erklärter Leistungsverweigerung des Schuldners (Nr. 1) oder praktisch sehr wichtig bei Verträgen, bei denen die nicht rechtzeitige Leistungserbringung die Leistung für den Gläubiger sinnlos erscheinen lässt (sog. Fixgeschäft, § 323 II Nr. 2 BGB). Beim Fixgeschäft mit der h. M. zwischen „relativen“ und „absoluten“ Fixgeschäften zu unterscheiden und letztere als Fälle der Unmöglichkeit zu behandeln, überzeugt nicht. Beispiele: F soll vertragsgemäß zum Jahreswechsel (1. 1. 2011, Punkt 0.00 h) sein berühmtes Feuerwerk starten. Natürlich kann er diese Leistung auch noch ein paar Stunden später erbringen, ja selbst noch in der nächsten Nacht. Da macht die Leistungserbringung aber keinen Sinn mehr. Kaufvertragliche Lieferpflicht bei der just-in-time-Produktion, vor allem bei vielen Zulieferanten und entsprechend komplexer, auf totale Termintreue angewiesener Ablauforganisation der sog. (engl.) supply chain. Die Ausübung eines solchen Rücktrittsrechtes lässt Schadensersatzansprüche unberührt (§ 325 BGB). Dies gilt nicht nur das ist fast selbstverständlich für Schadensersatzansprüche auf Grund der §§ 280 II, 286 BGB (also bezüglich des eigentlichen Verzugsschadens), sondern auch für einen Anspruch auf Schadensersatz statt Leistung. Freilich müssen die speziell dafür erforderlichen Voraussetzungen vorliegen (§ 280 III BGB). Im Falle der Leistungsverspätung sind diese zusätzlichen Voraussetzungen (neben der vom Schuldner zu vertretenden Pflichtverletzung gemäß § 280 I BGB) in § 281 BGB normiert. Es bedarf auch hier ähnlich wie für das Recht zum Rücktritt vom <?page no="210"?> 3. Leistungsstörungen 183 Vertrag, vgl. noch einmal § 323 BGB grundsätzlich einer erfolglos verstrichenen Nachfristsetzung (§ 281 I 1 BGB). Eine angemessene Nachfrist muss aber gemäß § 281 II BGB nicht gesetzt werden, wenn der Schuldner die von ihm geschuldete Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder (was praktisch sehr viel wichtiger ist als die Leistungsverweigerung) wenn ein Fixgeschäft vorliegt („besondere Umstände“ i. S. dieser Norm). Verlangt der Gläubiger erst einmal Schadensersatz statt der Leistung, so kann er nach § 281 IV BGB die Leistung selber nicht mehr verlangen. Das wäre ein Selbstwiderspruch (lat. „venire contra factum proprium“), auf den das Gesetz gar nicht ausdrücklich eingehen müsste. Sind die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs erfüllt, kann stattdessen auch nur Aufwendungsersatz (§ 284 BGB) verlangt werden. Schon hier ist zu beachten, dass das Kaufrecht in § 440 BGB für Rücktritt wie für Schadensersatz statt der Leistung die Nachfristsetzung im Zusammenhang mit der Nacherfüllungspflicht des Verkäufers über die §§ 281 II, 323 II BGB hinaus für entbehrlich erklärt. Darauf wird später einzugehen sein. (2) Gläubigerverzug Gelegentlich kommt es nicht zur Erfüllung, obwohl der Schuldner zur Leistung durchaus willens und imstande ist, weil der Gläubiger seinerseits ein Leistungsbzw. Erfüllungshindernis bildet: Er holt die bereitgestellte Ware nicht ab, er ist nicht zu Hause, als der Handwerker klingelt, er ist zum vereinbarten Termin nicht mit dem reparaturbedürftigen Wagen in der Werkstatt, und vieles andere mehr. Mit diesem Fragenkreis des Gläubigerverzuges beschäftigen sich vorrangig die §§ 293 ff. BGB, die den Schuldner vor etwa daraus resultierenden Nachteilen zu bewahren suchen. Weil ja definitionsgemäß nicht der Gläubiger, sondern der Schuldner derjenige ist, der zur Leistung verpflichtet ist, kann man den Gläubigerverzug streng genommen vielleicht gar nicht zu den Leistungsstörungen zählen. Wegen der sachlichen Nähe zum Schuldnerverzug ist er aber dennoch in diesem Zusammenhang darzustellen. Ebenso wenig wie der Schuldnerverzug schlechthin mit jeder Nichtleistung des Schuldners gleichgesetzt werden darf, ebenso wenig ist auch trotz der Formulierung des § 293 BGB jede Nichtannahme der angebotenen Leistung schon Gläubigerverzug. Gläubigerverzug (auch Annahmeverzug genannt) hat vielmehr einige in den §§ 294 ff. BGB näher definierte begriffliche Voraussetzungen. Grundsätzlich bedarf es gemäß § 294 BGB eines tatsächlichen nicht nur wörtlichen - Angebots der Leistung, so, wie sie zu bewirken ist, also vor allem am richtigen Ort (Leistungsort) und zur richtigen Zeit (Fälligkeit, Erfüllbarkeit). Ausnahmsweise reicht nach § 295 BGB ein wörtliches <?page no="211"?> 184 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Angebot aus, wenn der Gläubiger von vornherein seine Annahmeverweigerung erklärt, oder wenn der Gläubiger zur Leistungserbringung selbst mit beitragen muss. Beispiele: Maßnehmen beim Schneider; Zur-Verfügung-Stellen betrieblicher Daten des Gläubigers im Zusammenhang mit einem vom Schuldner zu entwickelnden, individuell auf den Gläubiger abgestimmten EDV-Programm; Abholen der zu liefernden Ware (bei der Holschuld). Nicht einmal eines wörtlichen Leistungsangebotes bedarf es gemäß § 296 BGB, wenn z. B. der Gläubiger für eine solche Mitwirkungshandlung einen Termin akzeptiert hat. Weil Verzug prüfungslogisch die Möglichkeit der Leistung voraussetzt, steht das Ausreichen eines wörtlichen Angebots oder die Überflüssigkeit überhaupt eines Angebots nach § 297 BGB unter dem Vorbehalt, dass dem Schuldner von der mangelnden Gläubigermitwirkung abgesehen die Leistungshandlung möglich wäre. In dem Regelfall eines erforderlichen tatsächlichen Angebots spielt § 297 BGB selbstverständlich keine Rolle: Wenn der Schuldner zur Leistung unvermögend ist, kann er ja kein tatsächliches Angebot machen, liegt in Wahrheit Leistungsunmöglichkeit vor, ist die Situation also nach den dafür geltenden Regeln zu beurteilen. Bei alledem bedeutet „Angebot“ natürlich nicht dasselbe wie in der Rechtsgeschäftslehre, wenn dort von Vertragsschluss durch Annahme eines Angebots gesprochen wird. Gemeint ist vielmehr die sog. Andienung. Im Gegensatz zum Schuldnerverzug ist es für den Gläubigerverzug gleichgültig, ob der Gläubiger die Nichtannahme der Leistung zu vertreten hat oder nicht: Eine dem § 286 IV BGB vergleichbare Bestimmung fehlt hier. Beispiel: Heizöllieferant Heinz hat sein Erscheinen im Einvernehmen mit dem Besteller Bert für 17.00 h angekündigt. Kann Heinz zu diesem Termin das Öl nicht abliefern, weil Bert nicht zu Hause und der Tankstutzen verschlossen ist, so kommt es für den Gläubigerverzug des Bert nicht darauf an, ob seine Abwesenheit darauf beruht, dass er mit Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ob er den Termin einfach vergessen hat, oder ob er einen Kinobesuch mit seiner Freundin Fanny vorgezogen hat. Eine gewisse Milderung bringt allerdings § 299 BGB, der in bestimmten Fällen bei einer bloß kurzfristigen Verhinderung keinen Annahmeverzug eintreten lässt. In vorstehendem Beispiel würde Bert demnach nicht in Annahmeverzug geraten, wenn Heinz die Anlieferung nicht angekündigt hätte: Keinem Gläubiger wird zugemutet, sich ständig annahmebereit zu halten. Gefährlich ist freilich die mit § 271 II BGB in § 299 BGB aufgestellte Falle: Beispiel: Maler M vereinbart im Januar mit dem Hauseigentümer H eine Innenrenovierung. Als H nach der Leistungszeit fragt, meint M: „Vor Mai jedenfalls wird es nichts“. Die Fälligkeit des Anspruchs auf Renovierung ist bei Einverständnis des H also bis Mai verschoben (vgl. § 271 I BGB), durchaus aber nicht die Erfüllbarkeit (vgl. § 271 II BGB). Wenn M jetzt schon Anfang Februar die <?page no="212"?> 3. Leistungsstörungen 185 Renovierung vornehmen will, H aber für die Zeit bis Mai diese Arbeiten nicht durchführen lassen will, kommt er in Annahmeverzug (keine nur „vorübergehende“ Annahmeverhinderung! ). Ob M sein Erscheinen angekündigt hatte oder nicht, ist für den Gläubigerverzug des H belanglos. § 299 BGB hilft dem H hier nicht! Da das Wirtschaftsleben von gegenseitigen Verträgen i. S. der §§ 320 ff. BGB geprägt ist, ist schließlich hinsichtlich der Voraussetzungen des Gläubigerverzuges § 298 BGB als Ausdruck des Synallagmas zu beachten: Trotz Annahmebereitschaft des Gläubigers gerät dieser in Annahmeverzug, wenn er die i. S. der §§ 294-297 BGB ordnungsgemäß angebotene Leistung zwar durchaus akzeptiert, aber seine eigene, Zug um Zug zu erbringende Gegenleistung nicht ordnungsgemäß, regelmäßig also tatsächlich, anbietet. Von den in den §§ 300 ff. BGB aufgeführten Rechtsfolgen des Gläubigerverzuges ist zunächst vor allem auf die in § 300 I BGB genannte Haftungsmilderung für den Schuldner zu verweisen. Nach § 300 II BGB führt der Gläubigerverzug ferner jedenfalls zur Konkretisierung von Gattungsschulden, ein Effekt, der nach § 243 II BGB allerdings durchweg schon früher eingetreten sein wird. Nach § 326 II BGB verlagert sich schließlich das Risiko, trotz Leistungsunmöglichkeit die Gegenleistung erbringen zu müssen: Wird während des Gläubigerverzuges die Leistung unmöglich (ohne dass der Schuldner dies zu vertreten hat! ), so verliert der Gläubiger wegen § 275 I BGB zwar seinen Erfüllungsanspruch und kann auch keinen Schadensersatz verlangen (das würde Vertretenmüssen des Schuldners voraussetzen, § 280 I 2 BGB), muss jedoch trotzdem die Gegenleistung, namentlich den Kaufpreis, erbringen. Beispiel: Im vorgenannten Beispiel verunglückt Heinz auf der Rückfahrt auf Grund eines leicht-fahrlässigen Fahrfehlers, wobei das Heizöl ausläuft: Die nach §§ 243 II bzw. 300 II BGB konkretisierte, auf den Tankinhalt des Fahrzeugs beschränkte Lieferschuld kann nicht mehr erfüllt werden, was Heinz wegen der Haftungserleichterung des § 300 I BGB nicht zu vertreten hat. Heinz braucht wegen § 275 I BGB nicht mehr zu liefern, Bert muss aber wegen §§ 326 II 1 BGB dennoch den Kaufpreis zahlen. Nicht immer entwickelt sich die Situation so dramatisch. Gerade dann wird § 304 BGB interessant: Die Kosten der wegen des Annahmeverzuges erfolglos gebliebenen Leistungshandlung, die sog. Andienungskosten, müssen ebenso ersetzt werden wie die nunmehr notwendig werdenden Aufbewahrungs- und Erhaltungskosten (Lagerung, Kühlung, Fütterung von Tieren etc.). Ein weitergehender Schadensersatzanspruch besteht hingegen nicht. Statt sich weiter leistungsbereit zu halten der Gläubigerverzug befreit den Schuldner ja grundsätzlich nicht von der Verpflichtung zur Leistung und es gibt hier auch keine dem § 323 I BGB entsprechende Norm! kann der Schuldner jedoch die zu liefernden Sachen nach Maßgabe der §§ 372 ff. BGB bzw. 373 ff. HGB hinterlegen bzw. im Wege des sog. Selbsthilfeverkaufs <?page no="213"?> 186 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge versteigern lassen und dann den Erlös hinterlegen (in der Praxis nicht allzu häufig). e) Sonstige vertragliche Leistungsstörungen Unmöglichkeit der Leistungserbringung, dauernde Nichtleistung trotz Leistungsmöglichkeit bei Leistungsverweigerung und zeitweise Nichtleistung (Leistungsverspätung) sowie Annahmeverzug des Gläubigers schöpfen die Bandbreite denkbarer Leistungsstörungen nicht aus. Zu denken ist hierbei zunächst an die qualitativ gestörte Leistungspflicht durch Schlechtleistung. Soweit nicht Sonderregelungen bestehen, greift hier bezüglich einer sekundären Leistungspflicht jedenfalls § 280 I BGB ein: Hat also der Schuldner die Schlechtleistung zu vertreten, hat er den aus dieser seiner Pflichtverletzung entstandenen Schaden zu ersetzen. Beispiel: Der vertraglich seinem Patienten gegenüber zur Untersuchung und Behandlung verpflichtete Arzt nimmt die Untersuchung zu oberflächlich durch, kommt dadurch zu einer Fehldiagnose und verschreibt dann die falschen Medikamente: Der Arzt, der hier sorgfaltswidrig (fahrlässig, § 276 II BGB) gehandelt hat, hat seine dienstvertragliche Pflicht aus § 611 I BGB in von ihm zu vertretender Weise (§ 276 I BGB) verletzt und schuldet deshalb für die dadurch verursachten Gesundheits- und Vermögensschäden des Patienten Ersatz nach § 280 I BGB. Häufig werden auch erfüllungsbegleitende Maßnahmen unterlassen, die ein loyaler Schuldner ergreifen müsste, um das Erfüllungsinteressedes Gläubigers wirklich zu befriedigen. Hat der Schuldner diese aus „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) fließende Erfüllungsbegleitpflicht verletzt und hat er diese Pflichtverletzung auch zu vertreten, so wird ebenfalls aus § 280 I BGB Schadensersatz geschuldet. Dasselbe gilt für die vom Schuldner zu vertretende Verletzung vertragsbegleitender Schutzpflichten (vgl. § 241 II BGB). Der Schadensersatz ist hier grundsätzlich nur auf das sog. Integritätsinteresse des Gläubigers gerichtet, nämlich in seinem Rechtskreis durch den Vertragskontakt keine Einbußen zu erleiden. Ausnahmsweise kommt bei zu vertretenden Schutzpflichtverletzungen gemäß § 282 BGB aber sogar Schadensersatz statt der Leistung in Betracht, wenn diese Schutzpflichtverletzungen so gravierend sind, dass dem Vertragspartner ein Festhalten am Vertrag nicht zugemutet werden kann. Auch ein Rücktrittsrecht kann hier nach § 324 BGB selbst ohne Vertretenmüssen des Schuldners! zum Zuge kommen, dessen Ausübung den Schadensersatzanspruch wie auch sonst nicht ausschließt (§ 325 BGB). <?page no="214"?> 3. Leistungsstörungen 187 Beispiel: Bauhandwerker Brecht soll vertragsgemäß den Schließmechanismus aller Fenster eines dem Egon gehörenden Einfamilienhauses zum Gesamtpreis von Euro 1.000 in Stand setzen. Trotz Egons Bitten raucht Brecht im Haus, wobei die weggeworfenen Zigarettenreste auch noch Brandflecken auf dem Parkettfußboden hinterlassen. Nachdem Brecht 5 von insgesamt 10 Fenstern repariert hat, hat Brechts Mitarbeiter Max außerdem durch Unachtsamkeit beim Hantieren mit der Leiter eine Tapete beschädigt und eine Vase zertrümmert: Egon kann nach § 324 BGB jedenfalls vom Vertrag insgesamt zurücktreten, weil dem Egon ein Festhalten am Vertrag angesichts dieser massiven Schutzpflichtverletzungen nicht zugemutet werden kann. Ob Brecht diese Pflichtverletzungen zu vertreten hat, ist insoweit belanglos. Nach Erklärung des Rücktritts (§ 349 BGB) erlöschen sämtliche primären Leistungspflichten. Für die bereits reparierten Fenster ist gemäß § 346 II 1 Nr. 1 BGB von Egon „Wertersatz“ zu leisten. Unter Berücksichtigung der Gegenleistung (§ 346 II 2 BGB) ist dabei zunächst von der Hälfte des Gesamtpreises, also von Euro 500 auszugehen. Bei der Ermittlung des „Wertes“ ist allerdings die kalkulierte Gewinnmarge des Brecht abzuziehen. Da Brecht die Schutzpflichtverletzungen aber allesamt zu vertreten hat (eigene Fahrlässigkeit nach § 276 I 1 BGB und die seines Erfüllungsgehilfen Max nach § 278 BGB), kann Egon auch (§ 325 BGB) Schadensersatz verlangen, und zwar nicht nur in Bezug auf die angerichteten Schäden selber (§ 280 I BGB), sondern auch „statt der Leistung“ (§§ 280 III, 282 BGB). Er kann also einen anderen Handwerker beauftragen und einen von diesem geforderten Mehrpreis auf den Brecht abwälzen. Bei sog. Dauerschuldverhältnissen - Schuldverhältnissen, die nicht durch einen bestimmten einmaligen Leistungsakt zum Erlöschen gebracht werden können, tritt, soweit keine speziellen Regelungen wie etwa § 626 BGB für das Arbeitsverhältnis bestehen, nach dem Auffangtatbetsand des § 314 I BGB an die Stelle des Rücktritts die Möglichkeit fristloser, im Gegensatz zum Rücktritt nur für die Zukunft (lat. „ex nunc“) beachtlicher Kündigung „aus wichtigem Grund“. Einer Abmahnung bedarf es hier wegen § 323 II Nr. 3/ III BGB nicht. Schadensersatzansprüche werden durch eine solche Kündigung ebenso wenig wie durch Rücktritt ausgeschlossen (vgl. § 314 IV BGB im Vergleich mit § 325 BGB). Beispiel: Die körperbewusste Katrin hat einen 2-Jahresvertrag mit einem Fitness- Studio geschlossen. Nach einem halben Jahr erfolgreichem Studiobesuch mit sichtbarer Figurverbesserung belässt es der Fitness-Trainer nicht mehr bei guten Ratschlägen, sondern belästigt Katrin sexuell massiv: Recht Katrins zur Kündigung aus wichtigem Grund. Dadurch, dass die Leistungsstörung begrifflich eine bereits bestehende rechtliche Sonderbeziehung, eben ein Schuldverhältnis voraussetzt, unterscheidet sie sich charakteristisch vom Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB). Dies schließt aber umgekehrt nicht aus, dass ein Schadensersatzanspruch im konkreten Fall sowohl aus Leistungsstörung als auch aus Delikt resultiert (sog. Anspruchskonkurrenz, besser Anspruchskumulation, also Anspruchshäufung). <?page no="215"?> 188 V. Verträge, insbesondere schuldrechtliche Verträge Beispiel: Der Lieferant gesundheitsgefährdender Chemikalien unterlässt einen Sicherheitshinweis, wodurch der Käufer oder auch seine Mitarbeiter zu Schaden kommen (Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte): Es kommt eine Haftung nach den Grundsätzen des Leistungsstörungsrechts, aber auch nach § 823 I BGB (und darüber hinaus nach anderen Normen) in Betracht. f) Culpa in contrahendo Die Rechtsfigur der (lat.) culpa in contrahendo („cic“) ist gleichsam die Schwester der vertraglichen Schutzpflichtverletzung bei Schadensfällen im vertraglichen Vorfeld. Loyalitätspflichten sind eben nicht nur Nebeneffekte von (vertraglichen) Leistungspflichten, sondern fließen ganz generell aus der Inanspruchnahme von Vertrauen im Rahmen geschäftlicher, zumindest abstrakt auf Vertragsschluss hin tendierender Kontakte. Das stellt § 311 II BGB ausdrücklich klar. Beispiele: Betreten eines Kaufhauses, um die Warenpräsentation in Augenschein zu nehmen und um vielleicht sogar Einkäufe zu tätigen, begründet Schutzpflichtverhältnis. Keine Schutzpflicht gegenüber demjenigen, der ein Kaufhaus betritt, um Ladendiebstähle zu verüben, oder gegenüber demjenigen, der sich dort nur unterstellt, weil es an der nahegelegenen Bushaltestelle so windig ist. Diese rechtliche Situation lässt sich auch als gesetzliches Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten interpretieren. Werden die darauf basierenden Schutzpflichten verletzt für Erfüllungsbegleitpflichten fehlt es mangels vertraglicher Leistungspflichten am maßgeblichen Anknüpfungspunkt und inhaltsbestimmendem Ziel -, so erwächst daraus freilich eine sekundäre, auf Schadensersatz gerichtete Leistungspflicht. Voraussetzung dafür ist gemäß § 280 I 2 BGB wiederum Vertretenmüssen, wobei auch hier nach § 278 BGB für das Verschulden von Personen einzustehen ist, deren sich jemand bedient, um eben diese Schutzpflicht zu erfüllen. Letztlich liegt in der Anwendbarkeit des § 278 BGB überhaupt der Grund für die Ausbildung der Rechtsfigur „cic“, weil dieser Vorschrift eine Entlastungsmöglichkeit des potenziellen Vertragspartners fremd ist. Ohne die Annahme eines derartigen, schon vorvertraglichen gesetzlichen Schuldverhältnisses würde nur Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) zum Zuge kommen und damit auch nur die Verantwortung für Gehilfen nach § 831 I BGB, eine Vorschrift, die es gerade gestattet, sich für das Fehlverhalten des Gehilfen zu entlasten, zu „exkulpieren“ (§ 831 I 2 BGB). Wie beim Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte ist „cic“ auch zugunsten einer Person denkbar, die als potenzieller Vertragspartner gar nicht zur Debatte steht, die aber von den vertraglichen Schutzwirkungen mit erfasst wäre, wenn ein Vertrag zustande käme. <?page no="216"?> 3. Leistungsstörungen 189 Beispiel: Manfred, Mitarbeiter des Raumausstatters Rolf, legt der an einem neuen Bodenbelag interessierten Inge in deren Hause Teppichbodenmuster vor und verletzt dabei durch eine heftige, ungeschickte Handbewegung die kleine Trude, das Töchterlein der Inge, leicht am Auge. Die empörte Inge verzichtet deshalb auf den in Aussicht genommenen Auftrag: Schadensersatzpflicht des Rolf gegenüber Trude wegen „cic“ (§§ 280 I, 241 II, 311 II BGB i. V. m. § 278 S. 1 BGB). Da die „cic“ auf dem Gedanken eines entgegengebrachten, aber enttäuschten Vertrauens beruht, kann neben dem potenziellen Vertragspartner aus „cic“ gemäß § 311 III i. V. m. § 280 I BGB auch derjenige haften, der dieses Vertrauen konkret trägt (ein weiterer Anspruch auf Schadensersatz folgt aus Deliktsrecht nach §§ 823 ff. BGB). Eine auf „cic“ basierende eigene Haftung ist demnach als sog. Sachwalterhaftung z. B. beim Handelsvertreter und bei einem eine juristische Person repräsentierenden Organmitglied zu erwägen, zumal wenn es sich dabei um den wirtschaftlichen Träger der juristischen Person handelt. Zu denken ist namentlich an einen geschäftsführenden Alleingesellschafter einer GmbH (Geschäftsführeraußenhaftung). Bedenklich ist diese Konstruktion hier allerdings deshalb, weil damit zumindest im praktischen Ergebnis das für die juristische Person charakteristische Trennungsprinzip konterkariert würde. Dieses Bedenken ist hingegen irrelevant gegenüber einer Haftung eines Versicherungsagenten, der sehr häufig unterstützt durch entsprechende Werbung als Träger eines besonderen Vertrauens in Erscheinung tritt. Eine besondere Rolle spielt die „cic“ im Zusammenhang mit der ernsthaft bekundeten Absicht, einen Vertrag schließen zu wollen. Wer einen solchen (engl.) letter of intent zeichnet und damit zu dem (möglichen) Kunden jedenfalls in einen engeren „geschäftlichen Kontakt“ (vgl. § 311 II Nr. 3 BGB) tritt, begründet damit für sich zwar keinen Kontrahierungszwang, erweckt aber ein begründetes rechtlich schützenswertes Vertrauen auf einen Vertragsabschluss. Wird dieses Vertrauen in einer vom Erklärenden zu vertretenden Weise enttäuscht, haftet dieser nach §§ 280 I, 241 II, 311 II Nr. 3 BGB aus „cic“ dem Empfänger des „letter of intent“ auf Schadensersatz, und zwar auf das Vertrauensinteresse, in der Höhe begrenzt durch das Erfüllungsinteresse. <?page no="217"?> 190 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung a) Begriff und Arten Der Kaufvertrag (§§ 433 ff. BGB) ist in einer monetär geprägten Wirtschaftsordnung das zentrale rechtliche Instrument für den Umschlag wirtschaftlicher Güter und hat den Tauschvertrag (§ 480 BGB) in dieser Funktion fast vollständig verdrängt. Schon dem gesetzlichen Leitbild nach ist die Spannweite des Kaufvertrages sehr groß: Kaufgegenstand können sein bewegliche Sachen (Waren) ebenso wie unbewegliche Sachen (Grundstücke). Allerdings gilt für Kaufverträge über Grundstücke als Ausnahme vom Prinzip der Formfreiheit ein in § 311b I BGB geregelter Formzwang (ebenso für Eigentumswohnungen gemäß § 4 III WEG). Kaufgegenstand können aber auch lediglich Rechte sein, z. B. Forderungen, Patente, Verlagsrechte oder Gesellschaftsanteile (§ 453 BGB). Ferner können Kaufverträge über sonstige (unkörperliche) Gegenstände i. S. von § 453 BGB geschlossen werden. Selbst ein (zweckhaft organisierter) Inbegriff von Sachen, Rechten und sonstigen unkörperlichen Gegenständen, also ein Unternehmen, kommt als Kaufgegenstand in Betracht. Beispiele: Know-how, Energie, Reklameidee, Kundenstamm, Wirtschaftsprüfer- oder Arztpraxis, EDV-Programm (als sog. Standard-Software), Unternehmen als Ganzes. Vor allem bei Waren, aber auch bei manchen unkörperlichen Kaufgegenständen wie Strom, Gas und Wärme wird in der Praxis oft vom Liefervertrag, von Lieferort und Lieferzeit, vom Zulieferer etc. gesprochen. Das Gesetz selber kennt den Begriff Lieferung freilich eher am Rande, so etwa in § 312b BGB im Zusammenhang mit Fernabsatzverträgen, im kaufrechtlichen Gewährleistungsrecht (§§ 434 III, 439 BGB) oder bezüglich der Zusendung unbestellter (beweglicher) Sachen in § 241a I BGB. „Lieferung“ kennt auch § 651 S. 1 BGB. Das hat seinen Grund darin, dass auf einen Vertrag, der die Übergabe und Übereignung erst herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen zum Gegenstand hat, ebenfalls Kaufrecht Anwendung findet. Dies gilt uneingeschränkt für vertretbare Sachen (Serienware aus der Produktion des Lieferanten). Diesem sog. Lieferungskauf steht jene Spielart gegenüber, bei dem eine nicht vertretbare (immer bewegliche! ) Sache herzustellen ist (Maßanzug aus einem vom Schneider zu beschaffenden Stoff). Auf einen solchen Vertrag findet dann Kaufrecht und ergänzend einige Vorschriften aus dem Werkvertrags- <?page no="218"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 191 recht (§§ 631 ff. BGB) Anwendung. Man kann hier von Werklieferungsvertrag sprechen. Nach Abschaffung der Leibeigenschaft können Menschen selbstverständlich nicht mehr Kaufgegenstand sein. Der „Einkauf“ eines Fußballspielers ist demnach lediglich das populäre Etikett für einen von der Privatautonomie gedeckten Vertrag zwischen dem interessierten Verein und demjenigen Verein, bei dem der betreffende Spieler bislang unter Vertrag steht. Dabei wird diesem Verein eine „Ablösungssumme“ dafür versprochen, dass er der vorzeitigen Auflösung des Anstellungsverhältnisses zwischen ihm und dem umworbenen Spieler zustimmt und so den Weg für eine Anstellung des Spielers bei dem „kaufenden“ Verein freimacht. Auch sonst wird der Begriff des Kaufs leider häufig überstrapaziert und für alle synallgmatische Rechtsverhältnisse herangezogen: „Kaufen“ kann man z. B. weder eine Versicherung (dabei wird richtiger Ansicht nach ein Geschäftsbesorgungsvertrag nach §§ 675, 611 ff. BGB geschlossen) noch eine Reise (Reisevertrag als Variante des Werkvertrages, §§ 651a f. BGB). Als Gegenstand eines Handelskaufes kommen nur Waren, also nur bewegliche Sachen, sowie Wertpapiere in Betracht. Denn die handelsrechtlichen, die allgemeinen kaufrechtlichen Bestimmungen der §§ 433 ff. BGB modifizierenden Vorschriften speziell für den Handelskauf sprechen nur davon (vgl. §§ 373, 376 II, 377 ff. HGB). Da der Handelskauf im Übrigen die begriffliche Schnittmenge von Kauf und Handelsgeschäft (§ 343 HGB) darstellt, lässt sich der Handelskauf in diesem Kontext definieren als derjenige Kauf, bei dem mindestens eine Vertragspartei Kaufmann i. S. der §§ 1 ff. HGB ist, der Kauf zur betrieblichen Sphäre dieses Kaufmanns gehört und Kaufgegenstand Waren oder Wertpapiere sind (vgl. Abb. 27). Waren und Wertpapiere Handelsgeschäfte Kaufverträge Abb. 27: Handelskauf als begriffliche Schnittmenge <?page no="219"?> 192 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Nach dem für das Handelsgeschäft Gesagten gibt es mithin auch einseitige und zweiseitige Handelskäufe. Wegen der hier dargelegten logischen Struktur gibt es nur scheinbar paradox auch Kaufverträge, die zwar Handelsgeschäfte darstellen, aber trotzdem nicht den Begriff des Handelskaufs erfüllen, eben weil der Kaufgegenstand etwas anderes ist als eine Ware oder ein Wertpapier. Beispiel: An- und Verkauf von Grundstücken durch eine Immobilien-GmbH: GmbH ist (Form-)Kaufmann und Erwerb und Veräußerung sind auch betriebszugehörig: Kauf ist Handelsgeschäft, aber kein Handelskauf. Wegen der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit können die Parteien freilich auch für solche Kaufverträge die Anwendbarkeit der für den Handelskauf geltenden Normen vereinbaren. Eine handelsrechtliche Sonderform des Handelskaufes hinwiederum ist der Spezifikationskauf (§ 375 HGB), bei dem der Kaufgegenstand vom Käufer nach Vertragsschluss erst noch näher zu bestimmen ist. In §§ 454 ff. BGB normiert das BGB selber einige besondere Arten des Kaufs, die nichts mit dem Kaufgegenstand zu tun haben: den Kauf auf Probe (§§ 454 f. BGB), den Wiederkauf, also den Rückkauf (§§ 456 ff. BGB), den Vorkauf (§§ 463 ff. BGB) und den Verbrauchsgüterkauf (§§ 474 ff. BGB). In der Praxis kommen auch noch andere, durch inhaltliche Gestaltungsfreiheit und ihre typische Inanspruchnahme geschaffene Sonderformen des Kaufs vor, so etwa der Kauf nach Probe (oder nach Muster) oder das sog. Konditionsgeschäft, bei dem der Käufer zurücktreten darf, wenn er die Ware nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt weiterverkaufen konnte. Besonders tief in die rechtliche Mechanik des Kaufrechts und darüber hinaus in das allgemeine Leistungsstörungsrecht greifen die Rechtsnormung des Verbrauchsgüterkaufs ein. Nach der in § 474 I 1 BGB gegebenen Legaldefinition handelt es sich dabei um einen Kaufvertrag zwischen einem Unternehmer (§ 14 BGB) als Verkäufer einer beweglichen Sache, also einer Ware, und einem Verbraucher i. S. von § 13 BGB als Käufer („B2C“-Geschäft). Warenkäufe zwischen Verbrauchern (“C2C“) oder zwischen Unternehmern („B2B“) zählen nicht hierher, auch nicht (ein seltenes) „C2B“-Geschäft. Die Waren müssen nicht neu sein (vgl. nur für ein Randproblem demgegenüber § 474 I 2 BGB! ), so dass auch der second-hand-Handel hierher zählt. Beispiele: Passant P kauft auf dem „Flohmarkt“ vom kleingewerblichen Trödelhändler T (ein Unternehmer! ) eine gebrauchte elektrische Zahnbürste: Verbrauchsgüterkauf! P verkauft seine Neuerwerbung seinem Arbeitskollegen A, der für seine Frau ein passendes Geschenk zum Hochzeitstag suchte: Kein Verbrauchsgüterkauf! Entgegen seiner Bezeichnung kommt es also nicht auf die Art der Kaufsache, sondern allein auf die Art von Verkäufer und Käufer an. <?page no="220"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 193 Beispiel: Max, der als angestellter Mechaniker seinen Lebensunterhalt verdient, hat in der TV-Sendung „Wer wird Millionär“ Euro 1 Mio. gewonnen. Davon kauft er sich sogleich eine kleine Segelyacht für Euro 800.000: Verbrauchsgüterkauf! Mit den Sonderregeln über den Verbrauchsgüterkauf will der Gesetzgeber den Verbraucher als Käufer vor allem gegenüber Vereinbarungen mit dem Käufer schützen, die eine Schlechterstellung des Käufers gegenüber dem gesetzlichen Modell der Gewährleistung zur Folge hätten. Rechtstechnisch erreicht der Gesetzgeber dies dadurch, dass er insbesondere das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht mit § 474 II BGB halbzwingend ausgestaltet. Eine sehr wichtige Besonderheit ist für die Gefahrtragung im Rahmen eines Verbrauchsgüterversendungskaufs (Lieferschuld als Schickschuld) zu beachten: Da § 447 BGB hier wegen § 474 II BGB keine Anwendung findet, gilt wieder § 326 I 1 BGB: Trotz Gefahrübergangs braucht der Käufer bei Transportverlusten nicht zu zahlen. b) Kaufvertragliche Pflichten und ihre Erfüllung (1) Sach- und Rechtskauf In der am weitesten verbreiteten Variante des Kaufvertrages, dem Sachkauf, ist der Verkäufer gemäß § 433 I BGB zunächst verpflichtet, dem Käufer die Sache zu „übergeben“, d. h. diesem die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit zu verschaffen, ihn also zum unmittelbaren Besitzer i. S. des § 854 BGB zu machen. Dabei darf die Sache keinen (Sach-)Mangel aufweisen (§§ 433 I 2, 434 BGB; zum sog. Rechtsmangel sogleich). Weist die Sache gleichwohl einen Mangel auf, so trifft den Verkäufer die Pflicht zur Gewährleistung in mehreren Ausprägungen (§§ 437 ff. BGB). Wenn es sich um einen Gattungskauf handelt, dann ist die eher am Stückkauf orientierte Formulierung des Gesetzes in § 433 I BGB freilich missverständlich, weil es dann gar nicht „die“, sondern nur eine solche Sache geben kann, die den Kriterien der festgelegten Gattung entspricht. Dem Verkäufer ist es dann überlassen, welches Gattungsexemplar er zur Erfüllung auswählt. Was alles zur Übergabe, zur Einräumung tatsächlicher Sachherrschaft gehört, ist Sache des Einzelfalls. Beispiel: Übergabe eines Autos durch Aushändigung aller Schlüssel (für Zündschloss, Türen, Kofferraum). Übergabe reicht freilich zur Erfüllung der Verkäuferpflicht nicht aus; vielmehr muss dieser den Käufer auch zum Eigentümer machen. Dabei genügt es nicht, dass der Käufer überhaupt Eigentümer wird. Er muss sein Eigentum auch unbelastet, also frei von Rechten zugunsten anderer erhalten (§§ 433 I 2, <?page no="221"?> 194 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick 435 BGB), also z. B. ohne ein auf der Sache lastendes Pfandrecht. Beim Kauf eines Rechtes (vgl. § 453 BGB) ist jedenfalls dieses Recht dem Käufer zu verschaffen. Der Verkäufer etwa einer Forderung muss den Käufer durch Zession (§ 398 BGB) zum Gläubiger machen. Dagegen kommt wegen der Unkörperlichkeit des Kaufgegenstandes selbstverständlich keine Übergabe in Betracht. Wenn das Recht allerdings seinerseits zum Sachbesitz berechtigt, muss die diesbezügliche Sache übergeben werden (§ 453 III BGB). Dies sind freilich recht seltene Fallgestaltungen. Beispiel: Kauf eines (Dauer-)Wohnrechtes (§ 1093 BGB); zum Teilzeitwohnrecht s. §§ 481 ff. BGB. Der Kauf eines Rechtes, das in einem echten Inhaberpapier verkörpert ist, z. B. der Kauf einer Aktie, ist Sach-, nicht Rechtskauf, da die Rechtsinhaberposition, z. B. die Stellung als Aktionär, hier dem Eigentum am Papier folgt. Der Käufer ist seinerseits zur Zahlung des vereinbarten Kaufpreises verpflichtet (Synallagma! ). Ist die Höhe des Kaufpreises gar nicht auch nicht konkludent vereinbart worden, so kann der Verkäufer gemäß § 316 BGB in den Grenzen des § 315 BGB den Kaufpreis selber festlegen (sog. Leistungsvorbehalt). Ferner ist der Käufer beim Sachkauf zur Abnahme der Kaufsache verpflichtet (keine synallagmatische Pflicht! ), was praktische Bedeutung nur beim Kauf beweglicher Sachen gewinnt. Beide Parteien treffen darüber hinaus aus § 242 BGB weitere Verhaltenspflichten, namentlich Erfüllungsbegleit- und Schutzpflichten. (2) Erfüllung der Rechtsverschaffungspflicht, insbesondere Übereignung Entgegen landläufiger Vorstellung führt der Abschluss eines Kaufvertrages im deutschen Recht und solchen ausländischen Rechtsordnungen, die diesem Vorbild folgen, nicht zu einer Änderung der Zuordnung von Rechtsobjekten zu Rechtssubjekten. Namentlich auf die Eigentumszuordnung ist der Kaufvertrag ohne jeden Einfluss. Er erzeugt, nicht anders als Miete, Leihe oder andere Schuldverhältnisse, lediglich Ansprüche zwischen den Vertragspartnern. Ob, wann und wie diese Ansprüche dann erfüllt werden (können), steht auf einem gänzlich anderen Blatt. Das gilt beim Sachkauf gerade auch in Bezug auf die Pflicht des Verkäufers, den Käufer zum Eigentümer der gekauften Sache zu machen. So wechselt das Eigentum an beweglichen Sachen unter den Voraussetzungen der §§ 929 ff. BGB, bei Grundstücken nach Maßgabe der §§ 873/ 925 BGB. Beim Rechtskauf, etwa beim Kauf einer Forderung, ist es ebenso: Weder geht durch <?page no="222"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 195 Abschluss eines Kaufvertrages über eine Sache schon das Eigentum über noch wechselt beim Kauf einer Forderung (als Beispiel für einen Rechtskauf) mit dem Kaufvertrag schon die Gläubigerposition. Um seiner Rechtsverschaffungspflicht zu genügen, müssen vielmehr auch hier die Voraussetzungen jener Tatbestände erfüllt werden, an die das Gesetz die gewünschten Zuordnungswechsel knüpft. Bei einem Forderungskauf muss also eine Zession vorgenommen werden (§ 398 BGB). Die kaufvertragliche Einigung (über das Entstehen von Übreignungsbzw. Abtretungspflicht einerseits und Zahlungspflicht andererseits) und die Einigung über den Wechsel der Eigentumsbzw. Gläubigerposition haben also nur wirtschaftlich und psychologisch, rechtlich aber nichts miteinander zu tun. Das Verpflichtungsgeschäft Kauf (§ 433 BGB) und das Verfügungsgeschäft Übereignung (§§ 929 ff. oder 873/ 925 BGB) bzw. Zession (§ 398 BGB) sind also in ihrer Wirksamkeit voneinander ganz unabhängig (sog. Abstraktionsprinzip). Beim Sachkauf ist die vom Verkäufer gemäß § 433 I BGB geschuldeten Leistung, den Käufer nicht nur zum Besitzer der Kaufsache, sondern auch zu dessen Eigentümer zu machen: Dazu bedarf es wegen des Abstraktionsprinzips eines ganz anderen Rechtsgeschäftes, bei beweglichen Sachen gemäß § 929 S. 1 BGB nämlich einer vertraglichen Verständigung darüber, dass das Eigentum an der Ware auf den Erwerber (regelmäßig also auf den Käufer) übergeht. Diese sog. dingliche Einigung hat die gewollte Rechtsfolge (Eigentumswechsel) freilich nur zusammen mit dem Realakt der Übergabe Zu diesem Effekt kommt es natürlich auch nur dann, wenn die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen von Willenserklärungen, insbesondere bezüglich der Geschäftsfähigkeit, gegeben sind. Das Rechtsgeschäft „Übereignung beweglicher Sache“ ist also grundsätzlich aus zwei korrespondierenden Willenserklärungen und einem Realakt zusammengesetzt. Ist der Erwerber schon Besitzer, genügt freilich gemäß § 929 S. 2 BGB die bloße Einigung über den Eigentumswechsel an der Ware. Beispiel: Student S hat sich von seinem Nachbarn N, der bereits einen wirtschaftswissenschaftlichen Abschluss hat, ein grundlegendes, leider bereits im Buchhandel nicht mehr ohne Weiteres verfügbares (fast „vergriffenes“) Lehrbuch des Wirtschaftsprivatrechts für ein paar Tage ausgeliehen. Weil S merkt, wie wichtig dieses Werk für seinen Studienerfolg ist und er es deshalb gründlich studieren möchte, N jedoch das Buch lieber im Internet teuer verkaufen würde, schließen S und D über das Buch einen Kaufvertrag zum nachbarlichen Vorzugspreis. Seine kaufvertragliche Rechtsverschaffungspflicht erfüllt N durch bloße Einigung mit S über den Eigentumswechsel, da S ja das Buch schon im (unmittelbaren) Besitz hat. Eine recht komplizierte, dritte Übereignungsvariante stellt die Übereignung durch sog. Besitzkonstitut nach § 930 BGB dar, das an die Stelle der nach § 929 S. 1 BGB neben der dinglichen Einigung eigentlich erforderlichen Sachübergabe tritt. In der Unternehmenspraxis spielt sie vor allem bei der sog. <?page no="223"?> 196 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Sicherungsübereignung eine Rolle und soll deshalb zum besseren Verständnis erst in dem dortigen Sachzusammenhang behandelt werden. Einen vierten Weg, das Eigentum an beweglichen Sachen zu übertragen, eröffnet § 931 BGB, und zwar für den Fall, dass weder der veräußernde Eigentümer noch der Erwerber das Veräußerungsobjekt in der Hand haben: An die Stelle der Sachübergabe kann hier die Zession des Herausgabeanspruchs des Eigentümers gegen den gegenwärtigen Besitzer neben die dingliche Einigung treten. Dann ändert sich die Eigentumszuordnung, ohne dass dies äußerlich irgendwie erkennbar ist. Beispiel: Eigentümer E hat dem L eine auf dem Markt schwer erhältliche Musik-CD geliehen. F, ein Freund des L, der die CD dort bei L sieht, ist ganz begeistert und kauft dem E diese CD ab. Um den nun aus § 433 I BGB fließenden Anspruch des F auf Übereignung zu erfüllen, einigt sich E mit F über den Eigentumswechsel an der CD und zugleich darüber, dass dem F der Rückgabeanspruch (§ 604 I BGB) aus dem Leihverhältnis zwischen E und L zustehen soll (Zession, § 398 BGB). Damit ist F Eigentümer der CD geworden. L braucht die CD freilich nach § 986 II BGB auch dem F solange nicht nach § 985 BGB herauszugeben, wie E dies dem L im Wege des Leihvertrages zugestanden hatte. Aus dem Gesagten folgt zugleich, dass eben derjenige Eigentümer wird, mit dem als Erwerber die dingliche Einigung erfolgt. Dies muss z. B. im Falle des § 362 II BGB nicht einmal der Käufer sein. Noch viel weniger trifft die Alltagsvorstellung zu, dass das Eigentum an der Kaufsache an denjenigen fällt, aus dessen finanziellen Mitteln der Kaufpreis bezahlt wurde. Dies ist schon im gedanklichen Ansatz wegen des Abstraktionsprinzips zwischen Kauf und Übereignung zumindest hier falsch, weil nur mit Hilfe eines Eigentumsvorbehalts (durch vollständige Kaufpreiszahlung aufschiebend bedingte Übereignung, vgl. § 449 I BGB) eine gewisse Verknüpfung von schuldrechtlicher und sachenrechtlicher Wirkungsebene möglich ist. Aber selbst dann trifft jene Alltagsvorstellung nicht zu: Die sog. Mittelsurrogation ist unserem Rechtssystem grundsätzlich nicht geläufig (vgl. aber § 1646 BGB: Eventuell Eigentumserwerb an beweglichen Sachen durch minderjährige - Kinder, wenn diese Sache durch die Eltern unter Einsatz von finanziellen Mitteln der Kinder erworben wurden). Erfolgt die dingliche Einigung des Erwerbers mit einem Veräußerer, dem die bewegliche Sache, auf die sich die Einigung bezieht, gar nicht gehört, so sind die Voraussetzungen des § 929 BGB nicht gegeben und der Übereignungseffekt dieser Norm tritt nicht ein. Dies wird sich derjenige durch den Kopf gehen lassen müssen, der eine zwar existente, ihm aber nicht gehörende Sache verkauft, also sich zu deren Übereignung vertraglich verpflichtet: Dieser Kaufvertrag ist jedenfalls wirksam (vgl. § 311a I BGB), so dass der Verkäufer mit einem Schadensersatzanspruch statt der Leistung nach Maßgabe der für Leistungsstörungen allgemein geltenden Vorschriften, also nach §§ 283, 280 I BGB, rechnen muss. Will er diesem entgehen, so muss er entweder doch noch <?page no="224"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 197 Eigentum oder aber wenigstens eine Verfügungsermächtigung nach § 185 I BGB erlangen, mit Hilfe derer er über fremdes Recht in eigenem Namen (Unterschied zur Vertretung! ) wirksam verfügen kann. Neben dem Abstraktionsprinzip, demzufolge das Verfügungsgeschäft (z. B. die Übereignung) vom Verpflichtungsgeschäft (z. B. dem Kauf) rechtlich ganz gelöst ist, ist für die Verfügungsgeschäfte (Übereignung, aber auch Zession etc.) noch etwas anderes kennzeichnend. Im Interesse der Rechtsklarheit verlangt das Gesetz für die Änderung der Zuordnung jedes einzelnen Rechtsobjekts ein eigenes Rechtsgeschäft. Dieses sog. Spezialitätsprinzip kommt nur ziemlich versteckt zum sprachlichen Ausdruck, wenn etwa § 929 BGB von den Modalitäten der Übertragung des Eigentums an einer (! ) beweglichen Sache spricht. Hierbei handelt es sich, da Sachenrecht, um zwingendes Recht. Auch § 433 I BGB geht davon aus, dass pro Kaufgegenstand ein Kaufvertrag abgeschlossen wird („...Verkäufer einer Sache, ...“). Allerdings handelt es sich hier um dispositives Schuldrecht. Oftmals wird die Auslegung des Parteiwillens unter Berücksichtigung der Verkehrssitte (§ 157 BGB) ergeben, dass die Parteien von dieser Nachgiebigkeit des Schuldrechts Gebrauch machen. Durch Abstraktions- und Spezialitätsprinzip kommt es dann nicht selten zu einer dem Laien schwer begreiflichen Häufung von Verträgen, obwohl äußerlich gesehen sich alles als eine große Einheit darstellen mag. Beispiel: Der hungrige Heiner kauft sich beim Bäcker Bastian 3 Hörnchen, zwei Brötchen und ein Stück Mohnkuchen. Der Kaufpreis beträgt Euro 4,80. Heiner bezahlt mit 4 Geldstücken à Euro 1, einem Geldstück à Euro 0,50 sowie 3 Zehn-Cent-Stücken: 1 Kaufvertrag, 6 Übereignungsverträge bezüglich der Backwaren sowie 8 Übereignungsverträge bezüglich der Geldstücke, zusammen also 15 Verträge. Abstraktion und Spezialität charakterisieren ebenso den Zuordnungswechsel hinsichtlich Immobilien. Nur die Modalitäten bestimmt das Gesetz hier anders, indem an die Stelle der Übergabe beim Übereignungstatbestand beweglicher Sachen hier die Eintragung des neuen bei Löschung des bisherigen Rechtsinhabers im Grundbuch tritt. Auch dabei ist aber gemäß § 873 BGB gleichgewichtiger Faktor die Einigung zwischen dem bisherigen Eigentümer und dem Erwerber hinsichtlich des Eigentumswechsels. Diesen dinglichen Vertrag (nicht das gesamte Rechtsgeschäft! ) nennt § 925 I BGB „Auflassung“. Es ist also keineswegs so, dass jeder, der im Grundbuch als Eigentümer vermerkt ist, allein damit schon wirklich Eigentümer ist. Vielmehr kommt es auch auf die diesbezügliche dingliche Einigung zwischen Veräußerer und Erwerber (und an deren Wirksamkeit) an. Allerdings hat sich der Gesetzgeber dabei große Mühe gegeben, die Übereinstimmung zwischen Grundbuchstand und wahrer Rechtslage zu gewährleisten. So hat er die Führung der Grundbücher in die Hand von Gerichten (Amtsgerichte, im Bereich des Landes Baden-Württemberg: Bezirksnotariate) <?page no="225"?> 198 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick gelegt und eine in der Praxis sehr bedeutsame Grundbuchordnung (GBO) geschaffen, die das Eintragungsverfahren regelt. Ausgangspunkt ist der Antragsgrundsatz nach § 13 I GBO, ergänzt durch den in § 17 GBO normierten Grundsatz der Antragsbearbeitung nach Eingangspriorität. Einer Fehldokumentation soll insbesondere durch den Grundsatz der §§ 19, 39 I GBO vorgebeugt werden. Demnach ist zur Änderung des Grundbuchs in der Regel eine extra „Bewilligung“ des dort Voreingetragenen erforderlich. Der eigentlich geniale Gedanke in diesem Zusammenhang war aber, die Rechtsänderung, jedenfalls soweit sie durch Rechtsgeschäft erfolgt, konstruktiv selber schon an den Grundbucheintrag zu koppeln. Trotzdem gibt es eine Reihe von Fehlermöglichkeiten, etwa Eigentumserwerb „außerhalb“ des Grundbuchs durch Erbfolge (§ 1922 I BGB): Der Erbe ist auch ohne seinen Eintrag im Grundbuch Eigentümer, seine Eintragung ist lediglich deklaratorische Berichtigung, nicht konstitutive Voraussetzung seines Eigentumserwerbs. Fehlerhaft gibt das Grundbuch die Eigentumslage auch dann wieder, wenn die Auflassung z. B. wegen unerkannter schwerer psychischer Krankheit oder Drogenkonsums einer Partei nichtig war (Auflassung ist Rechtsgeschäft, §§ 104 Nr. 2, 105 II BGB! ). Ist die Auflassung auch voll in die für Rechtsgeschäfte ganz allgemein geltenden Rechtsnormen eingebettet, so sind doch auch einige Besonderheiten zu merken: So bedarf die Auflassung nicht anders als der Immobilienkauf (§ 311b I BGB! ) grundsätzlich der notariellen Beurkundung (vgl. § 925 I 2 BGB), während die dingliche Einigung bei der Übereignung beweglicher Sachen ganz generell formfrei ist. Dies trifft übrigens auch für Autos zu: Als bewegliche Sachen werden sie eben nach den §§ 929 ff. BGB übereignet, also regelmäßig durch formlose Einigung zwischen dem bisherigen Eigentümer und dem Erwerber sowie durch (Schlüssel-)Übergabe. Einer Eintragung im Kfz-Brief bedarf es dazu nicht. Die Grundstücksauflassung unterscheidet sich von der dinglichen Einigung bei beweglichen Sachen ferner durch ihre Bedingungsfeindlichkeit (§ 925 II BGB). Deshalb gibt es bei der Immobilienübertragung auch keinen Eigentumsvorbehalt bis zur vollständigen Bezahlung des Kaufpreises, wie er bei der Übereignung von Waren im Wirtschaftsleben weit verbreitet ist. Denn der Eigentumsvorbehalt bedeutet ja gerade eine aufschiebend bedingte Übereignung (vgl. § 449 I BGB, der mit Rücksicht auf § 925 II BGB von vornherein nur die Veräußerung beweglicher Sachen normiert). Der Verkäufer/ Veräußerer eines Grundstücks muss sich also anders sichern, z. B. dadurch, dass die Auflassung erst erfolgt, wenn der Käufer/ Erwerber (bzw. dessen Bank) den Kaufpreis bereits (freilich meist nur „zu treuen Händen“ auf das sog. Anderkonto eines Notars) bezahlt hat. Verbreitet ist auch, dass der Notar angewiesen wird, den Eintragungsantrag an das Grundbuchamt erst dann zu stellen, wenn der vollständige Kaufpreises auf dem Anderkonto des Notars <?page no="226"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 199 eingegangen ist. Wegen dieser ihm abverlangten Vorleistung hat seinerseits der Immobilienkäufer ein ganz besonderes Interesse, den Kaufgegenstand auch wirklich übereignet zu bekommen. Dem dient die sog. Auflassungsvormerkung (§ 883 BGB). Wird durch Grundbucheintrag auf einen Übereignungsanspruch gegen den dort als Eigentümer Eingetragenen hingewiesen, so kann zwar der Eigentümer das Grundstück doch noch an einen Dritten verkaufen. Er kann aber seine Pflicht zur Eigentumsverschaffung dem Dritten gegenüber nicht mehr wirklich und auf Dauer erfüllen: Auflassung und Eintragung dieses Dritten sind zwar durchaus noch möglich (Vormerkungseintrag bewirkt keine „Grundbuchsperre“), doch ist die Rechtsänderung dem durch die Vormerkung gesicherten Erstkäufer gegenüber unwirksam (§ 883 II 1 BGB). Wird an den vormerkungsgesicherten Erstkäufer die Auflassung erklärt und seine Eintragung beantragt, so muss der jetzt schon als Eigentümer eingetragene Dritte (der Zweitkäufer) wegen des grundbuchrechtlichen Bewilligungsgrundsatzes (§§ 19, 39 GBO) zwar zustimmen, doch kann der durch eine Vormerkung geschützte Erstkäufer diese Zustimmung nach § 888 BGB verlangen und ggf. natürlich auch gerichtlich erzwingen. Eine „elegante“ Vollstreckung ermöglicht die in § 894 ZPO enthaltene Fiktion: mit der Rechtskraft des Urteils wird die Abgabe der Willenserklärung einfach fingiert. (3) Exkurs: Sonstige Erwerbstatbestände: Ersitzung, Aneignung und Verarbeitung Die Wirksamkeit der Eigentumsübertragung steht selbst bei der Übereignung von Immobilien und der dort gegebenen Einbindung in ein öffentliches Dokumentationssystem (Grundbuch) durchaus auf tönernen Füßen, weil es möglicherweise unerkennbar an erforderlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen namentlich im Bereich der Geschäftsfähigkeit fehlt. Im Interesse des Rechtsfriedens schafft das Gesetz deshalb mit der Ersitzung einen vom Willen der Parteien ganz unabhängigen, nicht rechtsgeschäftlichen Tatbestand für den Eigentumserwerb: Wer über eine bewegliche Sache 10 Jahre lang ununterbrochen die tatsächliche Sachherrschaft wie ein Eigentümer ausgeübt hat, also „Eigenbesitzer“ war (zum Begriff vgl. § 872 BGB), wird nach Ablauf dieser Frist Eigentümer gemäß § 937 I BGB. Der bisherige Eigentümer büßt sein Recht damit ein. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Besitzer hinsichtlich seines vermeintlichen Eigentums die ganze Zeit gutgläubig war (§ 937 II BGB), also seine Nichtberechtigung weder kannte noch darüber grob fahrlässig in Unkenntnis war (vgl. § 932 II BGB). Die Ersitzungsfrist berechnet sich dabei ähnlich wie die Ver- <?page no="227"?> 200 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick jährungsfrist, kennt also Hemmung, Unterbrechung und Anrechnung bei Rechtsnachfolge (§§ 939-943 BGB). Auch die Ersitzung von Immobilien ist vorgesehen. Nach § 900 BGB beträgt freilich die Ersitzungsfrist 30 Jahre, es muss zum Eigenbesitz noch die (falsche) Grundbucheintragung als Eigentümer hinzutreten (deshalb spricht man hier von „Buchersitzung“), doch bedarf es dafür andererseits nicht der Gutgläubigkeit des (zu Unrecht) Eingetragenen. Beispiel: An den jüngeren Psychiatrieprofessor Pickel wird in notarieller Urkundsform ein Grundstück aufgelassen und Pickel daraufhin als Eigentümer eingetragen. Nach einer spontanen Selbstheilung erkennt Pickel Jahre später im Nachhinein, dass er seinerzeit psychisch sehr krank war, während seine Umgebung ihn lediglich für etwas schrullig hielt. Erst in hohem Alter, mehr als 30 Jahre nach Eintragung, wagt einer seiner Schüler, die damalige Erkrankung von Pickel offen auszusprechen: Eigentumsersitzung. Auf die hier nicht gegebene Gutgläubigkeit während der Ersitzungsfrist kommt es nicht an. Mit der Ersitzung nicht zu verwechseln ist die Aneignung (Okkupation) „herrenloser“ Sachen gemäß § 958 BGB , d. h. des Eigentumserwerbs an solchen Sachen, die zuvor niemandem gehörten. Diese Herrenlosigkeit beruht in aller Regel auf vorangegangener Eigentumsaufgabe (Dereliktion) nach § 959 BGB. Dereliktion und Okkupation haben in unserer „Wegwerfgesellschaft“ eine ganz erhebliche ökonomische Bedeutung. Der Rechtscharakter beider Rechtsfiguren ist ganz verschieden: Die Dereliktion ist ein Rechtsgeschäft mit lediglich einer einzigen und dazu nicht einmal empfangsbedürftigen Willenserklärung. Denn der Eigentumsverlust tritt ein, weil er gewollt ist und das Gesetz diesen Willen grundsätzlich respektiert. Die Dereliktion erfordert deshalb Geschäftsfähigkeit. Bei der Okkupation hingegen knüpft der Eigentumserwerb lediglich an den Eigenbesitz an, ist also gesetzliche Rechtsfolge eines Realaktes, für den Geschäftsfähigkeit keine Rolle spielt. Beispiele: Eigentümer E stellt seine ältere, aber noch voll funktionsfähige Waschmaschine als „Sperrmüll“ an den Straßenrand, der sozial schwächer gestellte, bedürftige Bastler B bemächtigt sich der Maschine, um sie selber zu benutzen: Dereliktion und anschließende Okkupation. E stellt gebrauchte, nicht mehr modische Kleidung in die vorweihnachtliche Kleidersammlung dem Roten Kreuz zur Verfügung, indem er einen mit dem bekannten roten Kreuz gekennzeichneten Plastiksack füllt und an den Straßenrand stellt. Stadtstreicher S entnimmt dem Sack ihm passende Stücke: Keine Dereliktion, sondern ein an das Rote Kreuz gerichtetes, deshalb nur von ihm annehmbares Angebot zum Eigentumswechsel nach § 929 S. 1 BGB. Bis zur Annahme bleibt E Eigentümer. Mangels Herrenlosigkeit kommt eine Okkupation durch S nicht in Betracht. S ist nicht etwa „unrechtmäßiger Eigentümer“ eine völlig unsinnige Begriffsbildung! ), sondern gar kein Eigentümer, allerdings Eigenbesitzer. Neben Ersitzung und Aneignung tritt eine Veränderung der Eigentumslage kraft Gesetzes auch im Zusammenhang mit Sachverbindungen und dabei <?page no="228"?> 1. Kauf speziell Handelskauf - und Grundformen der Übereignung 201 eventuell entstehenden wesentlichen Bestandteilen gemäß den §§ 946, 947 BGB sowie bei Vermischung und Vermengung von Stoffen ein, die zu trennen physikalisch unmöglich oder doch wenigstens wirtschaftlich unsinnig ist (§ 948 BGB i. V. m. § 947 BGB). Beispiel: Einlagerung von Getreide verschiedener Eigentümer bei einem Lagerhalter aus Kostengründen in Form der sog. Sammellagerung in einem einzigen Silo (§ 469 I, II HGB): Jeder Einlagerer verliert das Eigentum an „seinem“ Getreide, doch erhält er dafür einen sog. ideellen (also nicht räumlich zu verstehenden) Miteigentumsanteil (§§ 1008 ff., 741 ff. BGB) an der Gesamtmenge entsprechend der jeweils beigesteuerten Teilmenge zu einer bestimmten Quote, z. B. ein Drittel. In der Praxis große Bedeutung kommt § 950 BGB zu. Unabhängig von einem Eigentumserwerb nach § 947 BGB (Sachverbindung, wesentliche Bestandteile) ist demzufolge grundsätzlich derjenige kraft Gesetzes Eigentümer einer Sache, der diese Sache durch Verarbeitung oder Umbildung von „Stoffen“ aller Art hergestellt hat. Als Verarbeitung gilt nach § 950 I S. 2 BGB sogar die bloße Oberflächenbearbeitung. Die bisherigen Materialeigentümer verlieren natürlich zugleich ihr bisheriges Eigentum und erhalten lediglich einen Geldausgleich für ihren Eigentumsverlust (§§ 951 i. V. m. 812 ff. BGB). Dies ist vor allem für die Lieferanten des Produzenten misslich, die sich ihre Zahlungseingänge durch eine Übereignung unter Eigentumsvorbehalt sichern wollten. Im einzelnen wirft § 950 BGB eine Fülle teilweise sozialpolitisch gefärbter Fragen auf. Problematisch ist schon, wer „herstellt“, die Arbeiter oder ihr Arbeitgeber, der Unternehmer. Unklar ist ferner, inwieweit § 950 BGB durch Vereinbarung zwischen dem Hersteller nach richtiger Auffassung dem Unternehmer - und seinem Lieferanten oder seiner Bank (die durch das Produkteigentum die Rückzahlung der von ihr gewährten Kredite absichern möchte) manipuliert werden kann. Als Norm des Sachenrechts steht § 950 BGB zwar nicht zur Disposition der Vertragsparteien. Zulässig erscheint aber eine sog. Verarbeitungsklausel durch Feststellungsvertrag, womit festgelegt wird, wer Hersteller i. S. von § 950 BGB sein soll. Beispiel: Produzent P vereinbart mit seiner Hausbank im Rahmen der gewährten Betriebsmittelkredite, dass er „für die Bank“ herstelle: Mit Verarbeitung der Zulieferungen wird die Bank gemäß § 950 BGB Eigentümerin der neuen Produkte und erhält damit eine wichtige Kreditsicherheit. Der durch die Verarbeitung geschöpfte Mehrwert gegenüber dem Wert des verarbeiteten Materials ist regelmäßig erheblich, so dass der Vorbehalt des § 950 I 1 BGB recht selten eingreift: Verarbeitung führt dann nicht zur Änderung der Eigentumslage, wenn der durch die Verarbeitung erzielte Mehrwert erheblich geringer ist als der Materialwert. Eine Eigentumsänderung kann sich dabei aber immer noch aus § 947 BGB ergeben. <?page no="229"?> 202 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick 2. Miete und Operating-Leasing a) Verwandtschaft von Miete, Pacht, Leihe, Darlehen und Sachdarlehen Im Gegensatz zum Kauf ist das Rechtsverhältnis Miete (§§ 535 ff. BGB) nicht darauf gerichtet, sich den Substanzwert einer Sache auf Dauer zuzueignen. Der Mieter verfolgt vielmehr nur das Ziel, den Gebrauchsnutzen einer beweglichen oder unbeweglichen Sache (Maschine, EDV-Anlage, Grundstück, Fassaden für Reklamezwecke, gewerbliche Räume und Wohnungen) auf Zeit zu erlangen. Entsprechend niedriger als der Kaufpreis ist deshalb, zumindest kurz- und mittelfristig betrachtet, die vom Mieter zu erbringende Gegenleistung bemessen, der sog. Mietzins. Leider bezeichnet der aktuelle Gesetzgeber im aussichtslosen Bemühen um „bürgernahe Rechtssprache“ den Mietzins wie der Alltagssprachgebrauch als „Miete“. Das Rechtsverhältnis nun „Mietvertrag“ zu nennen (vgl. die Abschnittsüberschrift vor § 535 BGB) verwirrt nur: Der Mietvertrag begründet das Rechtsverhältnis, ist aber nicht mit ihm identisch. Außerdem passt das nicht mehr zur Systematik: Die Abschnittsüberschrift vor § 433 BGB heißt ja auch nicht „Kaufvertrag“, sondern ganz richtig noch „Kauf“. Korrekt von Mietzins zu sprechen hilft im Übrigen, den sachlichen Zusammenhang mit dem Kredit zu verstehen. Auch beim Gelddarlehen (§§ 488 ff. BGB) geht es ja letztlich nur um den Erwerb des Gebrauchsnutzens von Sachen, freilich von Sache mit Geldqualität. Die dafür regelmäßig (außer beim sog. Freundschaftsdarlehen) zu erbringenden Gegenleistung, das Entgelt, heißt dort seit eh und je und auch in § 488 I 2 BGB „Zins“. Bei Überlassung anderer vertretbarer Sachen als Geld zur zeitweisen Nutzung handelt es sich um ein sog. Sachdarlehen (§ 607 I BGB), ohne dass es logisch irgendeinen Unterschied zum Gelddarlehen gibt. § 609 BGB spricht freilich nicht von Zins, sondern ganz allgemein von Entgelt, obwohl es sich auch hier der Sache nach um einen Zins handelt. Der, wie gesagt, um hier unsinnige „Bürgernähe“ bemühte Gesetzgeber hat das früher einheitliche Rechtsinstitut „Darlehen“ seit 2002 sachwidrig aufgespalten und muss mit § 607 II BGB nun darauf achten, dass nicht doch wieder zusammenwächst, was eigentlich zusammengehört. Da es beim Sachdarlehen eben nicht auf die Individualität der empfangenen Gegenstände ankommt, hat der Sachdarlehensnehmer nach § 607 I 2 BGB nicht wie bei der Miete gemäß § 546 I BGB dieselben Gegenstände beim Vertragsablauf zurückzugeben (dies ist beim Gelddarlehen ebenso! ), sondern nur nach die nach „Art, Güte und Menge“ gleichen Sachen. Die Miete ist wiederum auch eng mit der Leihe verwandt (§§ 598 ff., hier insbesondere 604 I BGB), nur dass der Leihvertrag eben die Pflicht zur Gebrauchsüberlassung ohne Entgelt begründet und demzufolge für die <?page no="230"?> 2. Miete und Operating-Leasing 203 Wirtschaftspraxis keine Rolle spielt. Wegen dieser inneren Verwandtschaft von Miete, Leihe, entgeltlichem und unentgeltlichem, also zinslosen Geldwie Sachdarlehen (§ 488 I 2 und § 609 BGB sind dispositives Recht! ) überrascht es nicht, dass es im Alltagssprachgebrauch diesbezüglich sehr durcheinandergeht (vgl. Abb. 28). Auch dort, wo in der Praxis von „Leihe“ gesprochen wird, ergibt die Auslegung deshalb häufig, dass „Miete“ oder auch Darlehen gemeint sind. Eine lediglich falsche Bezeichnung schadet aber nicht (lat. „falsa demonstratio non nocet“, wussten schon die römischen Juristen) und entzieht das jeweilige Rechtsverhältnis nicht dem dafür vorgesehenen Rechtsregime. Auch dies ist der Sinn der (missverständlichen) Anleitung zur Auslegung von Erklärungen in § 133 BGB. Beispiele: „Autoverleih“, „Video-Verleih“ und „Leihbücherei“ (Miete). „Leihe“ von Geld bei der Bank (entgeltliches Gelddarlehen) oder bei dem Freund (unentgeltliches Gelddarlehen). „Leihe“ von Mehl bei der Nachbarnin zum Kuchenbacken am Wochenende, weil nicht mehr genug zur Hand ist und die Läden geschlossen sind (unentgeltliches Sachdarlehen). Von der Miete nur wenig unterschieden ist die Pacht, auf die deshalb das Mietrecht grundsätzlich entsprechende Anwendung findet (§ 581 II BGB). Der Pächter darf aber das Pachtobjekt nicht nur nutzen, sondern auch dessen Ausbeute, dessen Erträge (das Gesetz spricht von „Früchten“) sich im Wege des § 956 BGB aneignen. Eine Aneignung nach § 958 BGB kommt nicht in Betracht, da es sich wegen § 953 BGB ja nicht um herrenlose Sachen handelt. Beispiele: Pacht eines Obstgartens (der Pächter darf darin nicht nur lustwandeln, sondern auch ernten). Pacht einer Gaststätte oder eines Produktionsbetriebes. Auch Menschen haben rein ökonomisch betrachtet eine Art Gebrauchsnutzen, nämlich ihre Arbeitskraft. Zugriff darauf gewähren aber selbstverständlich nicht Miete oder Leihe, sondern der Dienst- oder Werkvertrag (§§ 611 ff. bzw. 631 ff. BGB) sowie der Auftrag i. S. der §§ 662 ff. BGB (wenn man so will: wegen seiner Unentgeltlichkeit eine Parallele zur Leihe). b) Abschluss und Inhalt der Miete Nach der sog. Schuldrechtsmodernisierung von 2002 gleicht das Mietrecht der §§ 535 ff. BGB einem juristischen Irrgarten. Der Grund dafür ist, dass das Gesetz nur noch scheinbar allgemein jenes Rechtsverhältnis regelt, das die entgeltliche Gebrauchsüberlassung zum Gegenstand hat. Dem gelten streng genommen überhaupt nur noch die §§ 535-548 BGB sowie die §§ 578-580a BGB. Im Übrigen beschäftigt sich das Gesetz praktisch nur noch mit der <?page no="231"?> 204 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Abb. 28: Verwandtschaftliche Rechtsbeziehungen von Miete, Leihe und (Sach-)Darlehen Wohnraummiete. Dies wird freilich erst erkennbar, wenn man sich die verwirrende gesetzliche Systematik klarmacht: Titel - Untertitel - Kapitel - Unterkapitel. Der Untertitel 2 („Mietverhältnisse über Wohnraum“) reicht also von § 549-577a BGB. Weil das Gesetz also statt das Allgemeine nun praktisch das Spezielle in den Vordergrund des Rechtsverhältnisses Miete stellt, muss das Gesetz außerhalb der Wohnraummiete oft zu komplizierten Verweisungen greifen. Überblick und Verständnis bleiben dabei auch für den an juristischen Texten geübten Leser etwa bei § 578 BGB (lesen! ) fast zwangsläufig auf der Strecke. Das alles kann nur als Musterbeispiel missglückter Gesetzgebungstechnik gelten, die Abstraktion und Systematik gering achtet. Auch der Abschluss eines Mietvertrages ist grundsätzlich formfrei. Als Ausnahme verlangen §§ 550 S. 1 i. V. m. 578 I 1 BGB Schriftform, wenn Mietobjekt ein Grundstück ist und der Mietvertrag für länger als 1 Jahr geschlossen wird. Da nach § 578 BGB die mietrechtlichen Vorschriften über Grundstücke auch auf die Miete von Räumen, die keine Wohnräume sind (Gewerberäume), entsprechende Anwendung finden, gilt § 550 S. 1 BGB auch hierfür. Fehlende Schriftform führt freilich hier gemäß § 550 S. 2 BGB nicht zur Unwirksamkeit des Mietvertrages, sondern dazu, dass dieser als für unbestimmte Zeit geschlossen gilt. Wie §§ 549 ff. BGB zeigen, gelten für Wohnräume die allgemeinen Vorschriften über die Miete (§§ 535 ff. BGB) nur sehr eingeschränkt. Statt dessen überschlägt sich der Gesetzgeber in seinem ökonomisch, insbesondere wettbewerbstheoretisch höchst fragwürdigen Bemühen, den Wohnungsmieter zu schützen. Diesem Mietsonderrecht kann in Folgendem keine Beachtung geschenkt werden. Die Leistungspflicht des Vermieters ist vor allem auf die Gebrauchsgewährung gerichtet (§ 535 I 1 BGB). Erfüllt der Vermieter diese Pflicht, so wird der Mieter damit Besitzer, genauer: unmittelbarer Besitzer, denn er hat dann ja <?page no="232"?> 2. Miete und Operating-Leasing 205 die tatsächliche Sachherrschaft inne. Aber auch beim Vermieter glaubt das Gesetz durch § 868 BGB noch eine vergeistigte, durch den (vertragstreuen) Mieter vermittelte Sachherrschaft zu erkennen, die das Gesetz als „mittelbaren Besitz“ definiert. Für nicht nur kurzfristige Mietverträge ist weiterhin § 535 I 2 BGB von besonderem Interesse, demzufolge der Vermieter die Mietsache während der gesamten Laufzeit in vertragsmäßigem Zustand zu erhalten hat (ebenfalls eine synallagmatische Pflicht, nicht nur Nebenleistungspflicht). Für die Mietsache, etwa ein Fotokopiergerät, extra einen Wartungsvertrag abzuschließen, ist von daher aus Mietersicht ökonomischer Unsinn. Da das Mietrecht aber abgesehen von zahlreichen Vorschriften über die Wohnungsmiete, z. B. §§ 551 IV, 553 III, 554 V BGB etc. dispositiv ist, wird freilich häufig versucht, zunächst § 535 S. 2 BGB und sonstige die Vermieterverantwortlichkeit betreffende Vorschriften vertraglich auszuschließen, um dann zu „vorteilhaften“ Konditionen einen Wartungsvertrag anzubieten. Der Mieter hat gemäß § 535 II BGB insbesondere den vereinbarten Mietzins (landläufig „Miete“) zu leisten. Die Erfüllung dieser Pflicht ist bei der Grundstücksmiete (einschließlich der Raummiete) durch ein gesetzliches Pfandrecht an den eingebrachten Sachen des Mieters abgesichert (§§ 562 ff. BGB, die über § 578 BGB eben nicht nur für Wohnräume Anwendung finden! ). Fällig ist der Mietzins gemäß § 579 I 1 BGB eigentlich erst nach Ende des gesamten Mietverhältnisses. Ist aber wie regelmäßig der Mietzins nach Zeitabschnitten, etwa nach Monaten, bemessen, so tritt die Fälligkeit am Periodenende ein (§ 579 I 2 BGB). Wegen des grundsätzlichen Schickschuldcharakters der Zahlungsschuld und damit auch der Mietzinsschuld heißt dies freilich noch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt der Vermieter schon den Zahlungseingang erwarten darf. Deshalb wird gerade hier häufig eine Bringschuld vertraglich festgesetzt („Zahlungseingang bis...“), verstärkt durch die Abrede einer Zahlungsfälligkeit jeweils schon für die kommende Periode. Eben dies ist auch die (dispositive) gesetzliche Regelung für die Miete von Räumen aller Art (§§ 556b I, 579 II BGB). Die Fälligkeitsprobleme erledigen sich freilich von selbst, wenn als Gegenleistung des Mieters gar nicht Geld, sondern fortlaufend zu erbringende Dienste vereinbart sind, die meist zudem in engstem Zusammenhang mit der Vermietung stehen. Hier liegt ein einheitlicher, aus Dienst- und Mietrecht gemischter Vertrag vor. Beispiel: Vermietung der Werkswohnung gegen Hausmeisterdienste. Für derartige sog. Werkdienstwohnungen gelten übrigens mietrechtliche Sondervorschriften (§ 576b BGB). Mietsonderrecht (§§ 576, 576a BGB) gilt auch für sog. Werkmietwohnungen, bei denen zwar auch ein funktioneller Zusammenhang zwischen dienstvertraglicher Tätigkeit und Mietverhältnis <?page no="233"?> 206 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick besteht, rechtlich aber beide doch deutlich voneinander getrennt bleiben. Das Gesetz spricht wenig deutlich einmal von Wohnraum, der „im Rahmen eines Dienstverhältnisses überlassen“ wurde, ein andermal von Wohnraum, der (nur) „mit Rücksicht auf das Bestehen eines Dienstverhältnisses vermietet“ wurde. Beispiel: Vermietung von Wohnungen auf dem Klinikgelände für Ärzte und Krankenschwestern, um deren Einsatzbereitschaft zu verbessern. Den Mieter treffen ferner diverse Nebenpflichten. So hat er die Grenzen des vertragsgemäßen Gebrauchs zu respektieren. Dazu rechnet insbesondere auch das Verbot der sog. Untervermietung, also der Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 540 BGB). Der entsprechende Leih- oder Mietvertrag ist freilich wirksam. Beachtet der Mieter auch eine diesbezügliche Abmahnung nicht, so kann der Vermieter Unterlassung der Vertragswidrigkeit verlangen (§ 541 BGB) und natürlich auch gerichtlich erzwingen. Der Vermieter ist also nicht auf etwaige Schadensersatzansprüche beschränkt, die ihm freilich daneben auch zu Gebote stehen. Rechtsgrund hierfür ist jedenfalls § 280 I BGB, daneben auch § 823 I BGB, wenn der Vermieter zugleich Eigentümer ist. Beispiel: Durch Kopieren auf nicht hitzebeständigen Folien (was in der dem Mieter überlassenen Bedienungsanleitung untersagt ist) wird das gemietete Kopiergerät beschädigt. Flankiert werden die mietvertraglichen Leistungspflichten für beide Vertragspartner selbstverständlich darüber hinaus durch allgemeine Erfüllungsbegleit- und Schutzpflichten. § 536c I 1 BGB ist diesbezüglich auf Seiten des Mieters lediglich ein Erinnerungsposten ebenso wie die darauf bezogene Schadensersatzpflicht des Mieters: Diese folgt schon aus § 280 I BGB (das dort nötige Vertretenmüssen steckt in der in § 536c BGB geforderten Unverzüglichkeit der mieterseitigen Anzeige). Eine mietrechtliche Besonderheit liefert in diesem Zusammenhang § 540 II BGB: Weit über § 278 BGB hinaus hat der Mieter insbesondere eine schuldhafte Schutzpflichtverletzung (und überhaupt schuldhaft vertragswidrigen Gebrauch) des Untermieters seinem Vermieter gegenüber selbst bei erlaubter Untervermietung wie eigenes Verschulden zu vertreten. Das ist allerdings dispositives Recht. Eine weitere Besonderheit des Mietrechts stellt § 566 BGB dar: Wird das ganz oder teilweise (Gebäude, Raum) vermietete Grundstück an einen Dritten übereignet, so tritt aus Gründen des Mieterschutzes der neue Eigentümer in sämtliche Rechte und Pflichten des Vermieters ein. Die schuldrechtlichen Beziehungen „kleben“ sozusagen an dem Mietgegenstand. Durch diese gesetzliche Vertragsübernahme wird also das für Schuldverhältnisse charakteristische Prinzip strenger Relativität nicht nur für die sozial vielleicht besonders prekäre Wohnraummiete auffällig durchbrochen. Für die Pacht gilt nach § 578 BGB Entsprechendes. <?page no="234"?> 2. Miete und Operating-Leasing 207 Diese „Verdinglichung“ der Miete drückt sich auch in § 546 II BGB aus, wonach der Vermieter die Sache nicht nur vom Mieter, sondern auch von einem Dritten, dem die Sache überlassen wurde, zurückverlangen kann. Auf ein Eigentumsrecht des Vermieters an der Sache (dann Rückforderung vom Dritten auch nach § 985 BGB) kommt es dafür also nicht an. Dasselbe (Herausgabeanspruch gegen den besitzenden Dritten) gilt übrigens nach § 604 IV BGB auch bei der Leihe. c) Beendigung Die Erfüllung der einen Verkäufer treffenden Leistungspflichten erfolgt durch bestimmte, die Übereignung bewirkende Einzelakte. Demgegenüber gehört die Miete zu den sog. Dauerschuldverhältnissen: Der Vermieter hat die Mietsache dem Mieter ja nicht nur (durch einen Einzelakt) zu übergeben, sondern ihm auch zu belassen. Dieser Teil der Leistungspflicht des Vermieters - und auch die Pflicht des Mieters auf Zahlung entsteht sozusagen dauernd neu, solange der Mietvertrag besteht. Und da die Parteien diesen Zustand gerade nicht auf ewige Zeiten bestehen lassen wollen (sonst hätten sie einen Kaufvertrag abgeschlossen), ist ein rechtlicher Mechanismus nötig, der den Mietvertrag irgendwann einmal beendigt. Dasselbe Problem stellt sich beispielsweise auch bei Leihe, Pacht, (Geld-)Darlehen, Sachdarlehen sowie beim Dienstverhältnis. Zur Beendigung solcher Dauerschuldverhältnisse einschließlich eben auch der Miete dient einmal die auflösende Befristung, auf die § 542 II BGB rekurriert. Damit endet das Mietverhältnis automatisch, ohne dass es irgendwelcher Erklärungen bedürfte. Beispiel: Miete des Wohnmobils für 4 Wochen bzw. bis 31. 7. Allerdings ist § 545 BGB zu beachten: Das Mietverhältnis gilt stillschweigend als auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der Mieter den Gebrauch fortsetzt und „eine Vertragspartei“ (das dürfte wohl regelmäßig der Vermieter sein) dem nicht innerhalb von zwei Wochen widerspricht. Ist weder eine Frist noch ein (End-)Termin festgelegt, das Mietverhältnis also von vornherein für unbestimmte Zeit begründet (oder gilt es nach § 545 BGB als solches), so kann es durch einseitiges Rechtsgeschäft mittels empfangsbedürftiger, formloser Erklärung grundsätzlich jederzeit und ohne besonderen Grund beendet werden. Dieses Recht zur sog. ordentlichen Kündigung nach § 542 BGB steht Mieter und Vermieter gleichermaßen zu. § 542 BGB enthält dieses Kündigungsrecht selbst. Der missverständliche Hinweis auf die Kündigungsmöglichkeit „nach den gesetzlichen Vorschriften“ bezieht sich auf <?page no="235"?> 208 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick etwaige Einschränkungen, Fristen, Formerfordernisse etc. Das erscheint zunächst als wenig bedeutsam, doch das Gegenteil ist der Fall. Denn eine Kündigung scheidet nach § 19 I AGG aus, sofern sie als „Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ erscheinen kann. Zu beweisen, dass diese Kriterien für die Vertragsbeendigung keine Rolle spielten, trägt nach § 22 AGG immer die Gegenseite, was wirklich erstaunlichen Effekten Raum gibt: Beispiel: Malik, ein älterer, durch schwere Geburt behinderter, homosexueller, atheistischer Mauretanier, hat in Mannheim unbefristet von Verenas Vater eine Garage für sein Auto gemietet. Als Verena, die mit ihrem Freund Filou zusammenlebt, nach dem Tod ihres Vaters dessen Erbe antritt und nun das Mietverhältnis durch ordentliche Kündigung beenden will, widerspricht Malik unter Hinweis darauf, die offen ihren christlichen Glauben bekennende, junge, wohlgeformte und darauf erklärt stolze Verena mit deutschem Pass sei durch die in § 19 I AGG genannten Gründe, die in seiner Person gegeben seien, zur Kündigung motiviert. Wie sollte Verena für all diese Kriterien je das Gegenteil beweisen? Malik wird die Garage wohl auf Lebenszeit nutzen können. Die der Kündigung eigene, nur auf die Zukunft gerichtete Aufhebungswirkung (lat.) „ex nunc“ (beim Dauerschuldverhältnis ist eine Rückabwicklung nicht möglich, zumindest nicht praktikabel) tritt allerdings nicht sofort ein, sondern erst nach Ablauf gewisser Fristen, die es der anderen Seite erleichtern sollen, sich auf die neue Situation einzustellen. Dem typischerweise unterschiedlichen Anpassungsdruck versucht § 580a BGB mit gestuften Kündigungsfristen Rechnung zu tragen. Dabei unterscheidet das Gesetz zwischen den unterschiedlichen Mietobjekten: Bei beweglichen Sachen gilt § 580a III, bei Geschäftsräumen § 580a II, und im Übrigen § 580a I BGB. Die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses soll jenen normalen Beendigungseffekt erzielen, der dem befristeten Mietverhältnis von vornherein zu eigen ist. Deshalb kann es beim befristeten Mietverhältnis logischerweise keine ordentliche Kündigung mehr geben. Sowohl beim befristeten als auch beim unbefristeten Mietverhältnis sind aber Situationen, etwa schwere Vertragsverletzungen, denkbar, auf die nur mit einer außerordentlichen, an keine Kündigungsfrist gebundenen Kündigung interessengerecht reagiert werden kann. Dieses Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung „aus wichtigem Grund“ gibt für die Miete § 543 BGB. Für die Wohnraummiete bestehen wiederum zahlreiche, überwiegend sozial- und wirtschaftspolitisch motivierte, durchweg zweifelhafte, ja kontraproduktive Sonderregelungen (vgl. nur § 573 BGB), wiederum erweitert um die allgemeinen Restriktionen des AGG (vgl. dazu aber die kleinen Trostpflaster von § 19 III und V AGG). Zur Kritik lässt sich hier nur so viel sagen: Die staatlichen Regulierungen der Wohnraummiete erzeugen überhaupt erst die Engpässe und Missstände, die zu bekämpfen jene Regulierungen vorgeben, <?page no="236"?> 2. Miete und Operating-Leasing 209 wie beinahe durchweg dort (vgl. nur den Arbeitsmarkt mit seinen Beschäftigungsproblemen), wo Märkte sich nicht allein durch Angebot und Nachfrage im privatautonomen Rahmen regeln. Unabhängig von jedem Kündigungsrecht steht es den Parteien wegen ihrer Privatautonomie glücklicherweise noch frei, das Mietverhältnis wie auch jedes andere Schuldrechtsverhältnis jederzeit durch den (lat.) sog. actus contrarius zum Mietvertrag, also durch Aufhebungsvertrag, zu beenden. d) Operating-Leasing als Miete Betriebsmittel (Grundstücke, Maschinen, Computer, Autos) werden vielfach nicht käuflich zu Eigentum erworben, etwa weil der Kaufpreis einen vorgegebenen Etat sprengen würde, weil das Investitionsrisiko angesichts des schnellen technischen Fortschritts und der damit verbundenen Alterung zu hoch erscheint, oder aus vielfältigen anderen Gründen. Diesen Überlegungen kommt das Leasing-Geschäft entgegen. Darüberhinaus ist auch das sog. Privatleasing verbreitet, wobei freilich zumeist ganz andere Erwägungen stehen: Man möchte nicht Investitionen, sondern Konsum fremdfinanzieren: ökonomisch barer Unsinn. Dass der Begriff „Leasing“ dem BGB fremd ist, spricht wegen der Privatautonomie nicht gegen die Zulässigkeit dieses Vertragstypus. Hinter dem einheitlichen Etikett „Leasing“ verbergen sich freilich je nach den getroffenen Vereinbarungen sehr unterschiedliche Vertragsvarianten. Ihnen grundsätzlich gemeinsam ist ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Leasingnehmer als demjenigen, der die Nutzung des Leasingobjektes anstrebt, dem Leasinggeber als dem Vertragspartner des Leasingnehmers und schließlich dem Hersteller oder Händler (vgl. Abb. 29). Im Kern des Leasingvertrages wird die Pflicht des Leasinggebers statuiert, dem Leasingnehmer eine Sache lediglich zur Nutzung auf Zeit zu überlassen. Der Leasinggeber bleibt also Eigentümer der geleasten Sache. Um seine Gebrauchsüberlassungspflicht erfüllen zu können, muss der Leasinggeber sich das Leasingobjekt vielleicht erst selber vom Hersteller oder Händler beschaffen, d. h. kaufen und sich übereignen lassen. Dieses Problem stellt sich naturgemäß nicht beim sog. Herstellerleasing, bei dem Leasinggeber und Hersteller identisch sind. Der Leasingnehmer zahlt für die Nutzung ein nach Raten bemessenes Entgelt, meist nach einer einmaligen Sonderzahlung zu Vertragsbeginn, womit der Leasinggeber vor allem auch das Risiko schleppenden Eingangs der Ratenzahlungen kalkulatorisch auffängt. Obwohl der Leasingnehmer nicht Eigentümer, sondern lediglich Besitzer der Sache wird, trifft ihn nach dem Inhalt des Leasingvertrages (wenn nicht „full service“ vereinbart <?page no="237"?> 210 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Abb. 29: Leasing (Grundmuster) wurde) oft die Pflicht, für die Instandhaltung des Leasinggutes jeweils selber und auf eigene Kosten zu sorgen. Dann ist auch die Gewährleistung für Mängel ausgeschlossen. Sogar das Risiko des „Untergangs“ (Verlust durch Diebstahl, Brand, Unfall etc.) wird oft dem Leasingnehmer überbürdet und deshalb wird ihm dann aufgegeben, das Leasinggut gegen solche Gefahren zu versichern. Vielfach wird beim Leasing eine sog. Grundlaufzeit des Vertrages festgelegt, während der eine Kündigung nicht möglich ist. Diese Grundlaufzeit ist beim sog. Operating-Leasing (im Gegensatz zum sog. Finanzierungsleasing) aber charakteristisch sehr kurz bemessen oder entfällt ganz. Denn für den Leasingnehmer steht bei dieser Leasingvariante gerade der Wunsch nach Flexibilität im Vordergrund, um das überalterungsbedingte Investitionsrisiko nicht tragen zu müssen. Nach Vertragsbeendigung durch Fristablauf oder kurzfristig mögliche Kündigung gibt der Leasingnehmer das Leasingobjekt an den Leasinggeber zurück und kann so wieder frei disponieren. Vergleicht man einen derartigen Leasingvertrag mit den gesetzlichen Begriffsmerkmalen des Mietvertrages, so ist die Übereinstimmung mit § 535 BGB augenscheinlich. Allerdings ist das Sachrisiko zwischen Leasinggeber und Leasingnehmer (außer bei „full service“) anders als im Mietrecht der §§ 535 ff. BGB verteilt. Dies ist aber wegen der den Parteien zustehenden Privatautonomie prinzipiell möglich, ohne dass dadurch die grundsätzliche Einordnung des Operating-Leasing als Miete in Frage gestellt wäre. Die rechtlichen Schwierigkeiten liegen vielmehr darin, dass der Leasingvertrag durchweg vom Leasinggeber vorformuliert ist und demzufolge wegen ihres AGB-Charakters (§ 305 I BGB) die Einschränkungen der Vertragsfreiheit nach den §§ 305 II ff. BGB zu beachten sind. Nach §§ 307 ff. BGB darf sich dieser Leasingvertrag also jedenfalls inhaltlich nicht so weit von dem Regelungsmuster der §§ 535 ff. BGB entfernen, dass die im dispositiven Recht vorgesehenen Rechte des Leasingnehmers substanziell entwertet sind. Unter diesem Aspekt ist insbesondere der für Leasingverträge überhaupt typische Ausschluss der §§ 536-536c BGB nicht unproblematisch. <?page no="238"?> 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung 211 Im Ergebnis rechtfertigt sich die Feststellung, dass jedenfalls das Operating- Leasing nur ein anderes, dynamischer klingendes und damit marketingwirksameres Etikett für das altbekannte Mietverhältnis darstellt. Dass dabei vom gesetzlichen Leitbild des Mietvertrages (teilweise massiv) abgewichen wird, ist kein Spezifikum des Leasingvertrages, sondern liegt in der Konsequenz des dispositiven Rechts überhaupt und kommt ja auch in allen anderen Bereichen des Vertragswesens vor. 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung a) Diversifiziertes Dienstleistungsrecht Dem volkswirtschaftlich sog. tertiären Bereich, also dem Dienstleistungsbereich, kommt in der Wirtschaftsrealität eine große Bedeutung zu. Umso störender wirkt sich die zunächst unübersichtliche rechtliche Regelung dieser Materie in der Praxis oft aus. Grundsätzlich sind zunächst jedenfalls 2 Normierungsmuster zu unterscheiden (vgl. Abb. 30), der Dienstvertrag (§§ 611 ff. BGB) und der Werkvertrag (§§ 631 ff. BGB). Gemeinsam ist ihnen, dass sie gegenseitige Verträge i. S. der §§ 320 ff. BGB darstellen, wobei die Gegenleistung in der vereinbarten Vergütung regelmäßig Geld besteht (§§ 611 I, 612; 631 I, 632 BGB). Der Unterschied liegt im Inhalt der dafür geschuldeten Leistung. Beim Dienstvertrag ist Leistungsinhalt eine vertraglich näher beschriebene Tätigkeit, beim Werkvertrag die „Herstellung des versprochenen Werkes“. Was mit dieser sehr ominösen Umschreibung gemeint ist, macht § 631 II BGB etwas transparenter: Jenes herzustellende Werk kann ein beliebiger, durch Dienstleistung herbeizuführender, verkörperter oder unkörperlicher Erfolg sein. Dass das Gesetz hier auch auf die „Arbeit“ zu sprechen kommt, ist nur verwirrend, weil der Arbeitsvertrag gerade nicht eine Sonderform des Werkvertrages, sondern des Dienstvertrages darstellt. Der aus § 611 BGB zur Dienstleistung Verpflichtete hat also schon erfüllt, wenn er vertragsgemäß tätig geworden ist, mag auch der vom Vertragspartner dadurch erhoffte wirtschaftliche Erfolg ausbleiben. Die Leistungspflicht aus § 631 BGB ist hingegen erst mit Erfolgseintritt erfüllt. Dies mag logisch klar trennbar sein, ist als Lebenssachverhalt aber nicht immer so eindeutig zuzuordnen. Schwache Indizien für die zutreffende Klassifikation können sein etwa die Vertragsbezeichnung oder die Regelung der Gegenleistung. Ein vereinbarter Pauschalpreis spricht so sicher für Werkvertrag, aber umkehren lässt sich dies eben nicht, weil für die Vergütung im Rahmen eines Werkvertrages als Abrech- <?page no="239"?> 212 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Handelsvertretung Dienstvertrag §§ 611 ff. BGB §§ 631 ff. BGB Werkvertrag §§ 688 ff. BGB Verwahrung §§ 652 ff. BGB Maklervertrag Kommission Spedition Frachtgeschäft Lagergeschäft Handelsmaklergeschäft §§ 84 ff. HGB §§ 383 ff. HGB §§ 407 ff. HGB §§ 453 ff. HGB §§ 467 ff. HGB §§ 93 ff. HGB Abb. 30: Vertragstypen im Dienstleistungssektor (vereinfacht) nungsbasis ja durchaus auch der Zeitaufwand für die Erfolgsherbeiführung vereinbart sein kann. Unabhängig von den theoretischen Abgrenzungsschwierigkeiten ist die Einordnung für zahlreiche Wirtschaftssektoren aber wenigstens für den Regelfall doch nicht ganz so problematisch, zumal ein Teil der an sich hier zu klärenden Fälle über § 651 BGB (Lieferungskauf) ganz dem Kaufrecht unterstellt wird. Beispiele: für Dienstvertrag - Arbeitsverhältnis, Beschäftigungsverhältnis der GmbH-Geschäftsführer, der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, ärztliche Untersuchung, (laufende) Steuer- und Rechtsberatung, Bauleitung, Wartung, Mitarbeiterschulung durch betriebsexterne Dozenten. für Werkvertrag - Gebäudeerrichtung, Planerstellung durch Architekten, Ingenieure etc., Herstellen von Individualsoftware, Gutachten, Reparatur, Personenbeförderung und Gütertransport, Konzeption und Realisierung einer Werbemaßnahme durch eine Werbeagentur, Konzertveranstaltung, Informationserteilung durch eine Wirtschaftsdatei (z .B. „Schufa“). Für bestimmte Dienstleistungsbereiche existieren Sondervorschriften, etwa für Pauschalreisen (§§ 651a ff. BGB), für den Handelsvertreter (§§ 84 ff. HGB) sowie namentlich für die Logistik hinsichtlich Kommission, Spedition, Lager- und Transportwesen (§§ 383 ff. HGB) und vor allem für die privatrechtlich aufgestellte Versicherung (VVG! ). Die Klassifikationsfrage bleibt aber auch dabei gestellt. Denn vielfach sind die speziell geregelten Typen von Dienstleistungsverträgen dort nicht lückenlos normiert, so dass sich das hierfür anwendbare Recht nicht zuletzt erst aus den §§ 611 ff., 631 ff. BGB ergibt. Dies wird gerade für Versicherungsverträge durchweg verkannt, die im VVG nicht gänzlich abschließend geregelt sind. <?page no="240"?> 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung 213 Mit Dienst- und Werkvertrag ist das Spektrum des Dienstleistungsrechtes indes nicht gänzlich ausgefüllt. Hierher rechnet vielmehr auch der Verwahrungsvertrag (§§ 688 ff. BGB), der auch als Grundform des Lagervertrages (§§ 467 ff. HGB) fungiert, ferner der auf Vertragspartnervermittlung abgestellte Maklervertrag (§§ 652 ff. BGB) mit den Sondervorschriften der §§ 93 ff. HGB für das gewerbsmäßige Vermakeln von Waren und Wertpapieren (engl. sog. Brokerage), Versicherungen etc. b) Vertragsinhalt, insbesondere bei „Geschäftsbesorgung“ Die Leistungspflicht trägt beim Dienstvertrag anders als beim Werkvertrag - „im Zweifel“, also grundsätzlich, höchstpersönlichen Charakter. Die Dienstleistungspflicht darf also sofern nicht etwas anderes vereinbart wurde nicht von einem Dritten erfüllt werden (die Hinzuziehung von Gehilfen bleibt aber zulässig). Doch kann der Gläubiger seinen Anspruch auf die Dienstleistung auch nicht abtreten. § 613 BGB bezieht sich also einerseits auf den Vorbehalt in § 267 I BGB und konkretisiert andererseits § 399 BGB. Beispiel: Arbeitnehmer Anton, der früh gerne etwas länger schläft, kann nicht an seiner Stelle seinen Bruder Benno „zur Arbeit“ schicken, auch wenn dieser Antons Job mindestens genauso gut erledigen würde. § 614 BGB statuiert dabei als Ausnahme von der Zug-um-Zug-Regel des § 320 BGB eine Vorleistungspflicht des Dienstverpflichteten. Auch der aufgrund Werkvertrag Dienstleistungsverpflichtete (das Gesetz nennt ihn „Unternehmer“, ohne dass man dabei irgendeine besondere Vorstellung etwa hinsichtlich einer Kaufmannseigenschaft oder hinsichtlich der Anwendbarkeit von § 310 I 1 BGB verbinden dürfte), muss vorleisten. Denn die Vergütung wird grundsätzlich (vgl. aber § 632a BGB hinsichtlich Abschlagszahlungen) erst fällig (Ausnahme von der in § 271 I BGB vorgesehenen Regel), wenn sein Vertragspartner (der „Besteller“) die Abnahme erklärt (§§ 640, 641 BGB), also den Leistungserfolg als im Wesentlichen vertragsgerecht akzeptiert, oder wenn die Abnahme gemäß § 640 I 3 BGB fingiert wird. Im Fall des § 646 BGB tritt die Fälligkeit auch ohne Abnahmeerklärung oder Abnahmefiktion schon dann ein, wenn das Werk vollendet ist. Es handelt sich freilich auch hierbei um dispositives Recht, von dem häufig Abweichungen vereinbart werden. Beispiel: Zahlung der Vergütung für ein Konzert als Eintrittspreis, also schon vor „Vollendung des Werkes“. Eine „Abnahmne“ des Werkes ist hier wegen der „Beschaffenheit des Werkes“ als unkörperlicher Gegenstand wohl ausgeschlossen. <?page no="241"?> 214 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Neben die Hauptpflicht zur Leistung der vereinbarten Dienste bzw. zur Erzielung eines bestimmten Leistungserfolges einerseits, zur Vergütung andererseits, treten wie auch sonst situationsspezifische, in §§ 241 II, 242 BGB gründende weitere Verhaltenspflichten (Loyalitätspflichten). Daneben hat das Gesetz eine Reihe von Nebenleistungspflichten ausformuliert, die vor allem im Arbeitsverhältnis Bedeutung gewinnen. Hierzu zählt eine gesteigerte, zwingend ausgestaltete Schutzpflicht (sog. Fürsorgepflicht, §§ 618, 619 BGB). Muss der Lebensunterhalt aus der Vergütung bestritten werden, so ist § 629 BGB wichtig, mit dessen Hilfe ein nahtloses Aneinanderreihen von Dienstverhältnissen ermöglicht werden soll. Einen typisch arbeitsrechtlichen Bedarf stillt auch die Pflicht zur Zeugniserteilung (§ 630 BGB). Über die Normebene der §§ 611 ff., 631 ff. BGB und ggf. ihrer handelsrechtlichen Ergänzungen und Modifikationen kann sich gemäß § 675 BGB noch eine dritte Normschicht legen, wenn nämlich der Dienstbzw. Werkvertrag eine „Geschäftsbesorgung“ zum Gegenstand hat. Darunter ist hier eine Tätigkeit im Rechtskreiskern des Vertragspartners, vor allem die Wahrung seiner Vermögensinteressen, zu verstehen. Beispiele: Rechts-, Steuer- und Kapitalanlageberatung, Prozessführung, Baubetreuung, Immobilienverwaltung, viele Varianten des Bankvertrages (z. B. Wertpapierdepot, Inkasso). Bei derartig geprägten Dienst- und Werkverträgen (einen eigenständigen Typus des Geschäftsbesorgungsvertrages gibt es nicht! ) muss der besonderen Schutzbedürftigkeit des Vertragspartners rechtlich Rechnung getragen werden. Dies erreicht das Gesetz regelungstechnisch durch eine Verweisung in das für „Aufträge“ geltende Recht der §§ 662 ff. BGB. Diese Rechtsmaterie ist für sich genommen wirtschaftlich weitgehend bedeutungslos, weil nach der Legaldefinition des § 662 BGB das Auftragsverhältnis gerade durch die Unentgeltlichkeit der Geschäftsbesorgung gekennzeichnet ist. Durch den Mechanismus der Verweisung in § 675 BGB wird aber auch die entgeltliche Geschäftsbesorgung im soeben erläuterten Sinn durch jene Vorschriften reguliert. Hinzuweisen ist namentlich auf § 663 BGB, dessen Nichtbeachtung zwar keine Vertragsfiktion, wohl aber unter dem Gesichtspunkt der „cic“ (§§ 280 I, 241 II, 311 II BGB) eine Schadensersatzpflicht zur Folge haben kann. Erwähnenswert ist auch die Höchstpersönlichkeit der Leistungserbringung beim geschäftsbesorgenden Werkvertrag (§§ 664, 675, 631 ff. BGB), die Auskunfts- und Rechenschaftspflicht nach § 666 BGB, die in § 667 BGB statuierte Herausgabepflicht sowie umgekehrt die zur Vorschusspflicht gesteigerte Pflicht zum Aufwendungsersatz (§§ 669, 670 BGB). Beispiel: Die mit dem Inkasso für ein Unternehmen betraute Bank (beim Einzelinkasso Werkvertrag, sonst Dienstvertrag, jeweils in Gestalt des Geschäftsbesorgungsvertrages) hat über den Erfolg ihrer Bemühungen zu berichten und <?page no="242"?> 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung 215 die eingegangenen Beträge abzuführen. Die Bank kann dafür neben ihrer Vergütung umgekehrt Porti, Telefon- und Reisekosten etc. liquidieren. Der Sache nach Geschäftsbesorgungsverträge mit dienstvertraglichem Kern sind auch die im „Zahlungsdienst“ geschlossenen, in §§ 675f ff. BGB speziell normierten Verträge. Nach richtiger Auffassung ist ferner der Versicherungsvertrag, so wie er in der Praxis massenhaft begegnet, begrifflich ein Geschäftsbesorgungsvertrag mit dienstvertraglichem Kern, auf den neben den Regelungen des VVG auch die §§ 675, 611 ff. BGB ergänzend Anwendung finden: Das Versicherungsunternehmen organisiert den Gefahrenausgleich innerhalb der Gefahrengemeinschaft der Versicherungsnehmer, schöpft insbesondere dort die Mittel für die Erbringung der Leistungen (Auszahlungen) an diejenigen Versicherungsnehmer, bei denen der Versicherungsfall eintritt, verwaltet diese Mittel also treuhänderisch. Für die Organisationsdienstleistung erhält das Versicherungsunternehmen selbstverständlich ein Entgelt. Die versicherungswirtschaftliche Praxis suggeriert freilich (entgegen diesen ökonomischen Strukturen), dass die „Prämie“ insgesamt der „Preis“, das Entgelt für quasi eingekauften „Versicherungsschutz“ sei, um den Konsequenzen der Geschäftsbesorgungstreuhand zu entgehen (umfassende Auskunft über die Versicherungsgelder außerhalb des Entgeltanteils der Prämie, Abführung aller insoweit erzielten Überschüsse unter Einschluss der daraus gebildeten stillen Reserven, Weisungsrecht des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherungsunternehmen in Fragen der Schadensregulierung bei der Haftpflichtversicherung! ). Erst recht Geschäftsbesorgung da primär Kapitalanlage ist die sog. Kapitallebensversicherung, die im Kern mit Versicherung übrigens nur ganz am Rande zu tun hat, nämlich bezüglich der darin eingeschlossenen, minimalen Risikolebensversicherung. Es handelt sich im Grunde also einen Etikettenschwindel, der zur Folge hat, dass die Anleger (angeblich ein „Versicherungsnehmer“) nicht den Schutz finden, den sie bei Anwendung des Kapitalanlagerechts genießen würden. Die staatliche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht („BaFin“) deckt diese eklatant falschen rechtlichen Einordnungen zum Nachteil der Kunden, warum auch immer. Jedenfalls profitiert die Staatskasse davon, wenn die gesamte Pämie als Preis (wofür eigentlich? ) gilt, weil dann die Bemessungsgrundlage für die Versicherungssteuer als Form der Umsatzsteuer höher ausfällt. Wenn die Vertragsabwicklung gestört ist, gelten für Dienstverträge grundsätzlich die allgemeinen Regeln über Leistungsstörungen, allerdings mit wichtigen, teilweise schwer verständlichen Besonderheiten, die hier nur gestreift werden können. So durchbricht § 616 BGB für den Dienstvertrag die Regel des § 326 I 1 BGB: Bei bestimmten Fällen nachträglicher, weder vom Dienstverpflichteten noch seinem Vertragspartner zu vertretender Unmöglichkeit der Dienstleistung behält der Dienstverpflichtete unter den speziellen Voraus- <?page no="243"?> 216 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick setzungen des § 616 (I) BGB seinen Vergütungsanspruch. Der Hauptanwendungsfall ist (unverschuldete) Krankheit. Beispiel: Klavierlehrer Klaus Kumlehn ist an der Abhaltung des wöchentlichen Unterrichts krankheitshalber verhindert. Er hat sich erkältet, weil er trotz geringer Außentemperaturen nur mit einer leichten Jacke bekleidet spazierenzugehen pflegt: keine Zahlungspflicht seines Schülers Schubert. Für den Gläubigerverzug enthält das Dienstvertragsrecht mit § 615 BGB eine Präzisierung bzw. Erweiterung des § 326 II BGB. Ausdrücklich erhält das Gesetz dem Dienstverpflichteten seinen Vergütungsanspruch, ohne ihn an einer Nachleistung festzuhalten, selbst wenn diese an sich möglich wäre. Beispiel: Klavierlehrer Klaus Kumlehn wartet vergeblich auf seinen Schüler Schubert: Schubert muss zahlen, ohne für die ausgefallene Klavierstunde zu anderer Zeit Unterricht zu erhalten. Oft ist allerdings zweifelhaft, ob § 615 BGB (Fortbestand des Vergütungsanspruchs! ) oder § 326 I BGB (Wegfall des Vergütungsanspruchs! ) zur Anwendung zu bringen ist. Vor allem bei denjenigen Dienstverträgen, die auf unselbständige, nach näherer Weisung des Vertragspartners zu erbringende Dienstleistungen gerichtet sind, also bei Arbeitsverträgen, stellt sich das Problem, wenn wegen Betriebsstörungen die Arbeit ruht. Die Abgrenzung erfolgt nach der Lehre vom Betriebsrisiko (vgl. § 615 S. 3 BGB): Wenn Zuliefer- oder Absatzschwierigkeiten, Maschinenausfälle und ähnliche in der Sphäre des Arbeitgebers angesiedelte Umstände die Betriebsstörung begründet, bleibt der Entgeltanspruch erhalten, ohne dass der Arbeitnehmer zur Nacharbeit verpflichtet ist. Im Übrigen ist § 326 I BGB einschlägig, so namentlich bei Streiks, aber auch bei (unvorhersehbaren) Naturkatastrophen. Ähnlich wie die Miete ist auch das Dienstverhältnis ein Dauerschuldverhältnis, das durch Erfüllung (ärztliche Untersuchung ist abgeschlossen), auflösende Befristung bzw. Bedingung, durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung beendet wird (vgl. §§ 620 ff. BGB). Besonderes Gewicht hat die Vertragsbeendigung naturgemäß im Arbeitsverhältnis. Obwohl kein Dauerschuldverhältnis, sieht auch das Werkvertragsrecht ein einseitiges, voraussetzungsloses Kündigungsrecht des „Bestellers“ in der Funktion einer ordentlichen Kündigung vor (§ 649 S. 1 BGB). Die Ausübung dieses Kündigungsrechts lässt den Vergütungsanspruch des „Unternehmers“ freilich gänzlich unberührt (§ 649 S. 2 BGB). Etwas anderes gilt, wenn die Kündigung des „Bestellers“ mit Rücksicht auf eine nicht präzis bestimmte Gegenleistung erfolgt (vgl. § 632 II BGB), die nur durch einen unverbindlichen, wesentlich überzogenen Kostenvoranschlag (§ 650 BGB spricht von „Kostenanschlag“) eingeschätzt worden war. Dann kann nur ein Vergütungsteilbetrag entsprechend dem Arbeitsfortschritt und Auslagensatz verlangt werden (Verweisung auf § 645 BGB! ). Was eine wesent- <?page no="244"?> 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung 217 liche Überschreitung des Kostenvoranschlages darstellt, lässt das Gesetz offen. Bei 20% der Anschlagssumme ist die Grenze gewiss erreicht, oft (vor allem bei großen Volumen) wohl schon bei einem weit niedrigeren Wert. Bei einem verbindlichen, zum Vertragsbestandteil gewordenen Kostenvoranschlag taucht das Problem nicht auf und ist § 650 BGB auch nicht anwendbar: Dann kann der „Unternehmer“ beinahe selbstverständlich nur den veranschlagten Betrag verlangen. Um dem „Besteller“ einen rechtzeitigen Rückzug zu ermöglichen, verpflichtet § 650 II BGB den „Unternehmer“ zur unverzüglichen Anzeige, wenn sich die wesentliche Überschreitung eines unverbindlichen Kostenvoranschlags abzeichnet. Eine Verletzung dieser Pflicht stellt eine Pflichtverletzung dar und verpflichtet gemäß § 280 I BGB zum Ersatz des dem Besteller aus der verspäteten oder ganz unterlassenen Anzeige entstandenen Schadens. Dies ist jener Betrag, der die nach § 645 BGB ansonsten geschuldete Summe übersteigt. c) Exkurs: Geschäftsführung ohne Auftrag Nicht selten werden rechtsgeschäftliche Aktivitäten wie auch Realakte für andere vorgenommen, ohne dass dafür eine rechtliche, insbesondere vertragliche Grundlage besteht. Im Hinblick auf die §§ 677 ff. BGB spricht man dabei reichlich unpräzise von „Geschäftsführung ohne Auftrag“ (kurz: GoA). Der Gesetzgeber sieht sich bei diesem Thema vor die schwierige Aufgabe gestellt, einerseits Handlungsanreize etwa durch Ansprüche auf Aufwendungsersatz in sozial erwünschten Fällen (z. B. Hilfeleistung bei Überschwemmungen und bei der Brandbekämpfung) zu schaffen, andererseits aber nach Möglichkeit zu verhindern, dass jemand als Geschäftsführer sich einem anderen aufdrängt und sich in dessen Angelegenheiten einmischt. Dieses Dilemma führt zu einer differenzierten, aber recht knappen und noch dazu unübersichtlichen gesetzlichen Regelung, die äußerst komplexe rechtsdogmatische Fragen aufwirft. Das Rechtsinstitut der GoA, dessen Anwendungsbereich gelegentlich bedenklich auszuufern scheint, kann deshalb hier nur knapp skizziert werden. Zunächst geht es um die Frage, welches überhaupt das Geschäft eines „anderen“ (vgl. § 677 BGB), was also ein fremdes Geschäft ist. Vielfach ergibt sich diese Fremdheit aus der Natur der Sache; man spricht dann von objektivfremdem Geschäft. Beispiele: Hilfeleistungen; Nutzung, Instandhaltung oder Veräußerung einer im Eigentum eines anderen stehenden Sache; Bezahlung fremder Schulden. Vielfach fehlt aber auch eine solche sachlich-objektiv begründbare Geschäftszuständigkeit. Bei derartigen objektiv-neutralen Geschäften entscheidet <?page no="245"?> 218 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick allein die Willensrichtung des Handelnden über die Fremdheit des Geschäfts (subjektiv-fremdes Geschäft). Ob bei rechtsgeschäftlichem Handeln dabei in fremdem Namen (dann Vertretung! ) oder in eigenem Namen gehandelt wird, ist in diesem Zusammenhang belanglos. Beispiel: Erwerb einer Theaterkarte für die Freundin. Die Abgrenzung erscheint leichter als sie ist. So mag man das Löschen eines Hausbrandes objektiv als Angelegenheit der Feuerwehr betrachten (das ist schließlich ihre Aufgabe! ), aber ebenso objektiv auch als Angelegenheit des Hauseigentümers, ja sogar als solche des Brandstifters. Ob ein Geschäft i. S. der §§ 677 ff. BGB „für“ einen anderen, für den Geschäftsherren, besorgt wird (der Begriff der Geschäftsbesorgung ist hier viel weiter als in § 675 BGB, erfasst also jegliches Handeln), ist vom sog. Fremdgeschäftsführungswillen abhängig. Dieser ist beim subjektiv-fremden Geschäft selbstverständlich vorhanden und wird beim objektiv-fremden Geschäft, auch bei mehrfachen objektiven Zuständigkeiten wie im vorgenannten Fall des Brandlöschens, von der h. M. vermutet. Beim objektiv-fremden Geschäft kann der Fremdgeschäftsführungswille freilich auch fehlen, etwa weil jemand irrtümlich meint, ein eigenes Geschäft zu führen (sog. vermeintliche Eigengeschäftsführung, nicht zu verwechseln mit dem rechtlich unbeachtlichen Irrtum über die Person des wirklichen Geschäftsherrn: § 686 BGB! ). Die §§ 677 ff. BGB über die GoA gelten dann gemäß § 687 I BGB konsequenterweise nicht. Beispiele: A befreit das Auto des B von Schneemassen in der Meinung, es sei sein eigenes (vermeintliche Eigengeschäftsführung). A möchte das Auto des B von den Schneemassen befreien, gräbt aber in Wahrheit das Auto des C aus: GoA. Erst recht fehlt der Fremdgeschäftsführungwille, wenn ein (objektiv-)fremdes Geschäft bewusst als eigenes besorgt wird, ohne dass dazu eine gesetzliche oder vertragliche Berechtigung besteht (sog. Geschäftsanmaßung, vgl. § 687 II BGB). Ebenso grundlegend wie Fremdheit des Geschäfts und Fremdgeschäftsführungswille ist für das Verständnis der GoA die Unterscheidung von berechtigter und unberechtigter GoA. Diese Unterscheidung darf nicht mit der Frage der „Berechtigung“ i. S. des § 677 BGB verwechselt werden: Ist der Geschäftsführer i. S. des § 677 BGB vom Geschäftsherrn zur Geschäftsführung (vertraglich) beauftragt oder ihm gegenüber sonst (also kraft Gesetzes) dazu „berechtigt“, so fehlt es schon an der Eingangsvoraussetzung für die Anwendung der §§ 677 ff. BGB; es liegt dann überhaupt keine GoA vor. Berechtigte GoA hingegen meint, dass die Besorgung eines fremden Geschäfts mit Fremdgeschäftsführungswillen dem wirklichen oder wenigstens mutmaßlichen Willen des Geschäftsherren entspricht (vgl. §§ 678, 683 BGB). Eine Erweite- <?page no="246"?> 3. Dienst- und Werkvertrag, insbes. Geschäftsbesorgung 219 rung dieses Prinzips bringt § 684 S. 2 BGB: nachträgliche Zustimmung reicht aus. Beispiele: X schlägt am Haus des abwesenden Y ein Fenster ein, um nach einem Blitzschlag zum Zwecke der Brandbekämpfung Zugang zu erlangen: Berechtigte GoA. X verschafft sich ohne jedes Nachdenken durch Einschlagen eines Fensters Zugang zum Nachbarhaus, weil er Brandgeruch wahrgenommen hat: Sein Nachbar Y hat aber nur wunschgemäß ein Schnitzel sehr dunkel gebraten: Unberechtigte GoA. Umgekehrt wird im Fall des § 679 BGB ein entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn von Rechts wegen im öffentlichen Interesse ignoriert. Beispiele: X bringt die schwerverletzte kleine Tochter T des Y gegen dessen entschiedenen Willen („das ist alles Kismet! “) zum Arzt: Die Verbringung der T in ärztliche Behandlung gehört zur Unterhaltspflicht des Y! X „bewahrt“ den Y, der überlegt und ernstlich aus dem Leben scheiden will, durch beherztes Eingreifen während des Selbsttötungsvorgangs trotz dessen entschiedener Gegenwehr vor dem Tod: Nach lange herrschender, aber im Blick auf Artt. 1, 2 I GG unhaltbarer und hoffentlich im Schwinden befindlicher Meinung berechtigte GoA, weil jeder Freitod eine im öffentlichen Interesse liegende sittliche Pflicht(? ) verletze und ein der Geschäftsführung (Intervention durch den „Retter“) entgegenstehende Wille des Y deshalb hier wegen § 679 BGB stets unbeachtlich sei! Bei berechtigter GoA trifft den Geschäftsführer nach § 677 BGB vor allem die Pflicht, sich in die Interessen und die (mutmaßlichen) Vorstellungen des Geschäftsherrn hineinzudenken. Außerdem hat der Geschäftsführer mit dem Geschäftsherrn Kontakt aufzunehmen, um nach Möglichkeit dessen Entscheidungen herbeizuführen (§ 681 S. 1 BGB) sowie das herauszugeben, was er aus der Geschäftsführung eventuell erlangt hat (Verweisung des § 681 S. 2 auch auf § 667 BGB). Verletzt der Geschäftsführer diese Pflichten vorsätzlich oder fahrlässig (§ 276 I 1 BGB), so schuldet er dem Geschäftsherrn Schadensersatz nach § 280 I BGB. Diese Haftung ist nach § 680 BGB allerdings in Notfällen gemildert (Haftung nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit) und entfällt nach § 682 BGB bei nur beschränkter oder fehlender Geschäftsfähigkeit ganz (andere Haftungsgrundlagen bleiben allerdings unberührt; es besteht also, wie auch sonst, grundsätzlich Anspruchskonkurrenz). Dass § 682 BGB auf die Geschäftsfähigkeit abstellt und nicht wie grundsätzlich auf die Zurechnungsfähigkeit (vgl. § 276 I 2 BGB), überrascht, erklärt sich aber daraus, dass die GoA vom Gesetzgeber zwar als gesetzliches, dabei aber als quasivertragliches Schuldverhältnis konzipiert worden ist. Umgekehrt kann der berechtigte Geschäftsführer nach § 683 S. 1 BGB wie ein „Beauftragter“ also nach § 670 BGB, Aufwendungsersatz verlangen. Aufwendungen umfassen hier nach h. M. auch die mit der Geschäftsführung zusammenhängenden Schäden. <?page no="247"?> 220 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Beispiel: Passant P findet das durch Sturz am Knie erheblich verletzte und blutende Kind K. Nach Anlegung eines Notverbandes bestellt und bezahlt P ein Taxi, das K zu seinen Eltern zurückbringt (objektiv-fremdes Geschäft in der Zuständigkeit und im Interesse bzw. mit mutmaßlichem Willen der Eltern von K; bei Fremdgeschäftsführungswillen des P): Anspruch auf Ersatz der Taxikosten und des Schadens, den P an seiner Kleidung durch das blutende Knie des K erlitten hat. Bei unberechtigter GoA hat der Geschäftsführer nicht etwa wie § 677 BGB missverstanden werden kann das Geschäft im „Interesse des Geschäftsherrn mit Rücksicht auf dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen“ zu führen, sondern muss die Geschäftsführung natürlich ganz unterlassen. Gleichwohl hat der Geschäftsherr eventuell erlangte Vorteile nach Maßgabe des § 684 S. 1 BGB als Gewinnabführung herauszugeben. Der Geschäftsherr seinerseits kann, wenn er durch die Geschäftsführung Schäden erlitten hat, deren Ersatz nach § 678 BGB verlangen. Dabei reicht nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzes bloßes Übernahmeverschulden, also Fehleinschätzung hinsichtlich der Voraussetzungen berechtigter GoA, aus. In Notsituationen greift freilich auch hier das Haftungsprivileg des § 680 BGB ein. Bei der Geschäftsanmaßung schließlich gewährt § 687 II BGB dem Geschäftsherrn die Rechte aus den §§ 677 f., 681 f. BGB, bürdet ihm aber im Falle ihrer Geltendmachung auch die Pflicht zur Vorteilsherausgabe gemäß § 684 S. 1 BGB auf. 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt a) Sach- und Rechtsmängel Verkäufer, Vermieter und werkvertraglicher „Unternehmer“ haben gesetzlich dafür einzustehen, dafür Gewähr zu leisten, dass die gelieferte oder überlassene Sache bzw. das hergestellte Werk mangelfrei ist (vgl. §§ 434 ff., 536 ff., 633 ff. BGB). Dieses Einstehenmüssen auf der Grundlage besonderer gesetzlicher Vorschriften über die Schlechtleistung als Leistungsstörungskategorie darf unter keinen Umständen mit der (selbständigen) Garantie verwechselt werden. Die Alltagssprache mischt freilich alles durcheinander, und oft wird von „gesetzlicher Garantie“ gesprochen, wo Gewährleistung gemeint ist. Der durch Gewährleistungsrecht und Garantie ausgeübte Druck ist freilich nicht der alleinige Motor der betrieblichen Bemühungen um Qualitätssicherung, stehen doch auch eine eventuelle Produkthaftung sowie nicht rechtliche, aber wirtschaftliche Sanktionen wie z. B. Imageverluste und Störungen des Betriebsablaufes auf dem Spiel. <?page no="248"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 221 Spontan denkt man bei alledem nur an die in der Praxis ganz im Vordergrund stehenden sog. Sachmängel. Als Mängel denkbar sind aber auch sog. Rechtsmängel, bei denen also Dritte in Bezug auf die Sache, die den Vertragsgegenstand bildet, Rechte gegen eine Vertragspartei geltend machen können (vgl. für den Kauf § 435 BGB). Ob es sich dabei um schuldrechtliche Herausgabeansprüche (vgl. §§ 546 II; 604 IV BGB) oder um die Folgewirkungen beschränkter Sachenrechte handelt, ist gleichgültig. Beispiel: V verkauft, übereignet und übergibt eine ihm gehörende bewegliche Sache an K. An dieser Sache hat D ein gesetzliches Pfandrecht nach § 562 I BGB. Wenn K diesbezüglich nicht gutgläubig ist, kommt es nicht zu einem lastenfreien Eigentumserwerb des K (§ 936 I, II BGB), so dass D auf Grund seines Pfandrechts von K Herausgabe nach § 562b II BGB verlangen kann. In Bezug auf den Kaufvertrag zwischen V und K hat die Sache einen Rechtsmangel. Unter Mangel (im Qualitätsmanagement gern auch Fehler genannt) ist ganz allgemein die wert- oder tauglichkeitsmindernde Abweichung der tatsächlichen Beschaffenheit („Ist-Beschaffenheit“) von jenem Zustand zu verstehen, den die Sache (bzw. das Werk) haben sollte. Auch ganz kleine Abweichungen führen zur Bejahung eines Fehlers. Ein solcher Bagatellmangel wird erst auf der Rechtsfolgenseite vereinzelt berücksichtigt (vgl. schon hier § 323 V 2 BGB). Die Festlegung dieser „Soll-Beschaffenheit“ ist primär Angelegenheit der Vertragsparteien, die diese Beschaffenheit einverständlich beliebig definieren können (sog. subjektiver Fehlerbegriff), indem man etwa auf Produktbeschreibungen mit dortigen technischen Daten, Abmessungen, auf Einsatzzwecke etc. Bezug nimmt. Nur wo solche Absprachen über die Beschaffenheit unterbleiben, ist hilfsweise die Eignung der Sache für den vertraglich vorausgesetzten besonderen Verwendungszweck und schließlich die Normalbeschaffenheit maßgeblich (objektiver Fehlerbegriff). Das normiert in vorbildlicher Klarheit für das Kaufrecht § 434 I BGB. Eine wesentliche Erweiterung erfährt der Fehlerbegriff im kaufrechtlichen Gewährleistungsrecht dadurch, dass zur Ermittlung der normalen Soll- Beschaffenheit (§ 434 I Nr. 2 BGB) grundsätzlich auch Werbeaussagen etc. herangezogen werden (§ 434 I Nr. 3 BGB). Diese müssen nicht einmal vom Verkäufer selber gemacht worden sein. Vielmehr nimmt auch die Herstellerwerbung auf die Soll-Beschaffenheit Einfluss. Weil der Gesetzgeber dabei auf den Herstellerbegriff des § 4 ProdHaftG Bezug nimmt, rechnen dazu auch Zwischenhändler, sog. Quasihersteller und Importeure an den Außengrenzen der EG. Diese Einbeziehung von Werbeaussagen etc. in die Soll-Beschaffenheit findet nach § 434 I Nr. 3 a. E. BGB nur dann nicht statt, wenn der Verkäufer diese „öffentlichen Äußerungen“ nicht kannte und seine Unkenntnis auch nicht auf Fahrlässigkeit beruhte (vgl. die Legaldefinition des Kennenmüssens in § 122 II BGB). Diese Ausnahme, für die der Verkäufer auch noch die Beweislast trägt, wird in der Praxis kaum jemals Platz greifen, <?page no="249"?> 222 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick weil jedenfalls ein Unternehmer gehalten ist, den Markt zu beobachten und sich über die Bewerbung der von ihm geführten Produkte durch Andere zu informieren. Eine zusätzliche Erweiterung des Fehlerbegriffs bringt § 434 II BGB: Eine unsachgemäße verkäuferseitige Montage begründet ebenso die Mangelhaftigkeit der Kaufsache wie die käuferseitige Fehlmontage auf Grund einer unzureichenden Montageanleitung (scherzhaft sog. IKEA-Paragraph). Das kann man auch als Spezialregelung einer Verletzung der Erfüllungsbegleitpflicht bzw. einer auf Montage gerichteten Nebenleistungspflicht interpretieren. Der weite Fehlerbzw. Mangelbegriff findet seinen Abschluss in § 434 III BGB: Auch die Lieferung einer geringeren Menge als der geschuldeten gilt als Sachmangel (sog. Mengenfehler/ Mankolieferung), ja sogar der Fall, dass „der Verkäufer eine andere Sache liefert“ als diejenige, die vereinbart war. Dies ist die sog. aliud-Lieferung (lat. = etwas anderes), also die Falschlieferung. Das Gesetz unterscheidet dabei auch nicht zwischen Stück- und Gattungskauf. Für den rechtsunkundigen Betrachter ergeben sich aus alledem teilweise merkwürdige Konsequenzen. Beispiele: Die Waschmaschine schleudert am Programmende nicht (Mangel/ Fehler). Die Waschmaschine schleudert nicht, wie in der Produktbeschreibung genannt, mit 1400 u/ min, sondern nur mit 1398: ebenfalls gewährleistungsrelevanter Mangel, trotz geringfügiger Abweichung. Gekauft wird ein bestimmter antiker Schrank, geliefert wird eine Stereo- Anlage (Identitätsmangel): aliud-Lieferung, die als Sachmangel gilt. Die Stereo-Anlage ist rechtlich gesehen also ein fehlerhafter Schrank. Gekauft wird nach Prospekt eine Waschmaschine, geliefert wird ein hervorragender Wäschetrockner: Wiederum an sich eine aliud-Lieferung, rechtlich aber ist der Wäschetrockner eine sehr schlechte Waschmaschine. Ein im Geschäft ausgestellter bestimmter Wäschetrockner wird als angebliche Waschmaschine verkauft und geliefert: im Rechtssinne fehlerhafte Waschmaschine. b) Gewährleistungsrechte im Einzelnen (1) Rechtliche Randbedingungen Wenn die Kaufsache mit einem (Rechtsoder) Sachmangel behaftet ist, hat der Käufer wegen dieser Schlechtleistung eine ganze Reihe von Reaktionsmöglichkeiten. Zunächst einmal kann der Käufer, wenn er den Mangel noch vor Übergabe bemerkt, die Sache zurückweisen, ohne in Annahmeverzug zu geraten. Denn der Verkäufer hat die von ihm geschuldete Leistung nicht so, wie sie zu bewirken ist, angeboten (§ 294 BGB), nämlich nicht mangelfrei. Vor <?page no="250"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 223 allem aber hat der Käufer natürlich die spezifischen gewährleistungsrechtlichen Rechtsbehelfe. Sie alle stehen freilich unter dem Vorbehalt des § 442 BGB: Kannte der Käufer den Mangel schon bei Vertragsschluss, so ist er nicht schutzwürdig. Gewährleistungsrechte bestehen hier also nicht. Dasselbe gilt grundsätzlich, wenn der Käufer den Mangel auf Grund grober Fahrlässigkeit bei Vertragsschluss nicht kannte. Seine Gewährleistungsrechte bleiben in diesem Fall nur erhalten, wenn der Verkäufer für eine bestimmte Sachbeschaffenheit garantiert oder den Fehler arglistig verschwiegen hat. Letzteres ist im Gebrauchtwarenhandel (insbesondere bei Autos), darüber hinaus aber generell bei Verkäufen gebrauchter Waren von privat an privat („C2C“), durchaus nicht selten. Eine dem genau entsprechende Regelung kennt das Mietrecht in § 536b S. 1 und 2 BGB. Da es auf die Kenntnis des Mangels bzw. grobfahrlässige Unkenntnis zur Zeit des Vertragsschlusses ankommt, spielen Unkenntnis des Mangels infolge einer unterlassenen Untersuchung der Kaufsache bei Übergabe und selbst Kenntnis des Mangels (erst) in diesem Zeitpunkt keine Rolle. Hier unterscheidet sich jetzt die Rechtsstellung des Mieters deutlich von derjenigen des Käufers: Der Mieter, der eine mangelhafte Sache in Kenntnis des Mangels annimmt, muss sich dabei seine Rechte (mehr oder weniger ausdrücklich) vorbehalten, sonst verliert er sie gemäß § 536b S. 3 BGB. Dasselbe gilt beim Werkvertrag nach § 640 II BGB, wobei hier allerdings Schadens- und Aufwendungsersatzansprüche ausgenommen sind (keine Verweisung auf § 634 Nr. 4 BGB! ). Im unternehmerischen Lieferverkehr wird die kaufrechtliche Regelung allerdings durch § 377 HGB beim beiderseitigen Handelskauf deutlich verschärft: Verlust der Gewährleistungsrechte tritt hier auch dann ein, wenn die Wareneingangskontrolle unzureichend durchgeführt wurde und deshalb ein Mangel der Kaufsache unentdeckt blieb. (2) Nacherfüllung Soweit demnach gewährleistungsrechtliche Optionen überhaupt (noch) bestehen, gibt das Gesetz ihnen eine für Kauf-, Miet- und Werkvertragsrecht im Wesentlichen übereinstimmende Struktur. Von besonderem Interesse ist dabei die Gewährleistung beim Kauf. In erster Linie kann der Käufer Nacherfüllung gemäß §§ 437 Nr. 1, 439 BGB verlangen, nach seiner Wahl also entweder Nachbesserung (Beseitigung des Mangels durch Reparatur) oder Neulieferung einer mangelfreien Sache unter Rückgabe der mangelhaften Sache (ggf. Wertersatz) gemäß § 439 IV BGB. Neulieferung ist streng genommen freilich eine Option nur beim Gattungskauf. Denn beim Stückkauf ist <?page no="251"?> 224 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Neulieferung einer mangelfreien Sache begrifflich unmöglich, so dass wegen § 275 I BGB eine auf Lieferung einer anderen Sache gerichtete Rechtspflicht des Verkäufers eigentlich nicht besteht (der Verkäufer behält freilich wegen § 326 I 2 BGB seinen Anspruch auf den als Gegenleistung geschuldeten Kaufpreis! ). Ob dieses Ergebnis den Vorstellungen des Gesetzes wirklich entspricht, erscheint allerdings dann zweifelhaft, wenn es um vertretbare Sachen handelt und Nachbesserung ausscheidet. Beispiel: Kauf einer Packung Frischmilch im Supermarkt, die sich bei Öffnung als schon sauer erweist: Klar Stückkauf, weil eine bestimmte Packung an der Kasse präsentiert wurde. Nachbesserung kann sicher nicht verlangt werden, da die Milch in der gekauften Packung nun einmal sauer ist und der Prozess unumkehrbar ist. Aber auch kein Recht auf eine andere Packung Frischmilch? Jedenfalls sind die sich aus § 439 III BGB ergebenden Beschränkungen zu beachten: Wenn die vom Käufer gewählte Variante der Nacherfüllung für den Verkäufer mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden wäre, kann der Verkäufer den Käufer auf die billigere Variante verweisen. Beispiel: Wer im Schreibwarengeschäft einen Kugelschreiber erwirbt, dessen Minenschaltmechanismus nicht funktioniert, kann von Rechts wegen im Ergebnis nicht darauf bestehen, gerade diesen Kugelschreiber im Wege der Nacherfüllung repariert zu bekommen, obwohl der Verkäufer dies mit Hilfe eines Feinmechanikers zu vergleichsweise hohen Kosten! an sich bewerkstelligen könnte. Die erforderlichen Kosten der Nacherfüllung in jeder Variante gehen nach § 434 II BGB voll zu Lasten des Verkäufers. Dies betrifft nicht nur z. B. Material-, Arbeits- und Versandkosten auf Seiten des Verkäufers, sondern auch die dem Käufer erwachsenden Kosten, insbesondere notwendige „Wege“-Kosten, also Fahrtkosten. Dies ist im allgemeinen Bewusstsein der Marktteilnehmer absolut nicht angekommen, aber vom Gesetz gerade so gewollt: Schlechtes Qualitätsmanagement soll nicht auf dem Rücken der Kunden ausgetragen werden. Beispiel: Karla hat im Fotogeschäft des Falco einen Fotoapparat gekauft, der einen Defekt aufweist. Zur Reparatur des Gerätes ebenso wie zur Neubeschaffung eines fehlerfreien Gerätes muss sie mindestens einmal (bei Reparatur sogar zweimal, zum Hinbringen und wieder Abholen! ) von zuhause zu „Foto- Falco“ und zurück fahren, weshalb durchaus nennenswerte Kosten bei Benutzung von Bus, Eisenbahn oder eigenem Auto entstehen. Auch diese Kosten hat Falco zu tragen. Bei der Miete geht das Gesetz konstruktiv etwas anders vor als beim Kauf. Wenn sich Soll- und Ist-Beschaffenheit des Mietobjekts bei Überlassung oder während der Vertragslaufzeit auseinanderentwickeln, hat der Vermieter den Sollzustand als primäre Leistung herzustellen (vgl. § 535 I 2 BGB). Insoweit gibt es im Mietrecht keine speziell ausgeformte Gewährleistung; es handelt <?page no="252"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 225 sich bei der Mängelbeseitigung schlicht um Erfüllung der vermieterseitigen Hauptleistungspflicht, terminologisch nicht einmal um eine „Nacherfüllung“ wie im Kaufrecht. Deutlicher an das Kaufrecht ist hingegen das Gewährleistungsrecht beim Werkvertrag angelegt, wie ein Blick auf §§ 633 f. (insbesondere auch § 634 Nr. 1), 635 BGB zeigt. Zur Durchsetzung ihrer Ansprüche auf Mängelbeseitigung, sei es durch Erfüllung, sei es durch Nacherfüllung in Form der Nachbesserung, gewährt das Gesetz dem Mieter wie dem Werkbesteller mit §§ 536a II, 637 I BGB unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein Recht zur Selbstvornahme als ausnahmsweise zulässige Selbsthilfe. Außerdem kann der Werkbesteller nach § 641 III BGB von der geschuldeten Vergütung mindestens den 3-fachen Betrag der voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten als sog. Druckzuschlag zurückhalten und darüber hinaus nach § 637 III BGB für die Mängelbeseitigungskosten einen Vorschuss verlangen. (3) Rücktritt und Minderung Erst in zweiter Linie, der Nacherfüllung nachgeordnet, kann der Käufer einer mangelhaften Sache die sonstigen in § 437 Nr. 2 und 3 BGB genannten Gewährleistungsrechte geltend machen. Dies ergibt sich nur versteckt durch die dort genannten Verweisungen. So ist der Rücktritt vom Kaufvertrag grundsätzlich nur möglich bei Unmöglichkeit der Nacherfüllung (§ 326 I BGB) oder bei erfolgloser Fristsetzung für die Nacherfüllung (§ 323 I BGB), und dasselbe gilt auch für die „statt“ Rücktritt bestehende Option der Kaufpreisherabsetzung (Minderung, vgl. § 441 I 1 BGB; dazu sogleich noch näher). Der daraus folgenden Subsidiarität von Rücktritt und Minderung entspricht auf Seiten des Verkäufers das sog. Recht zur zweiten Andienung. Ausnahmsweise kann der Käufer nach § 440 S. 1 BGB ohne Fristsetzung zurücktreten (oder mindern), so etwa, wenn der Verkäufer die Nacherfüllung verweigert (§ 439 III BGB) oder wenn die Nachbesserung fehlschlägt. Von einem Misslingen der Reparatur ist dabei gemäß § 440 S. 2 BGB grundsätzlich dann auszugehen, wenn zwei Reparaturversuche ohne Erfolg geblieben sind. Dabei kann es sich auch um einen „zweiten Fehler“ handeln. Beispiel: Nachbesserung fehlgeschlagen, wenn sich der 6. Gang des Autogetriebes trotz zweier Reparaturversuche immer noch nicht einlegen lässt. Ebenso, wenn sich zwar jetzt der Gang einlegen lässt, dafür jetzt aber die Kupplung nicht sauber Motor und Getriebe trennt. Eine Fristsetzung ist gemäß §§ 440 S. 1 i. V. m. 323 II Nr. 2 BGB im Übrigen vor allem auch dann entbehrlich, wenn die Einhaltung der Leistungszeit für das Gläubigerinteresse von zentraler Wichtigkeit ist, also beim sog. Fixge- <?page no="253"?> 226 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick schäft. Schließlich kann der Käufer auch dann ohne Fristsetzung zurücktreten oder mindern, wenn beide Varianten der Nacherfüllung (Nachbesserung, Neulieferung) für den Verkäufer nur unter unverhältnismäßigen Kosten durchzuführen wären (vgl. § 439 III 3 BGB). Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, dass selbst kleinste Abweichungen der Istvon der Soll-Beschaffenheit einen Fehler der Kaufsache begründen. Auch dadurch können also die Nacherfüllungsansprüche (Nachbesserung, Neulieferung) ausgelöst werden. Hinsichtlich des Rücktrittsrechtes gilt allerdings etwas anderes: Solche Bagatellmängel gewähren gemäß § 323 V 2 BGB kein Recht zum Rücktritt weil es sich dann nur um „unerhebliche Pflichtverletzungen“ handelt. Obwohl das Recht zur Kaufpreisherabsetzung grundsätzlich das rechtliche Schicksal des Rücktritts teilt (vgl. wiederum „statt“ in § 441 I 1 BGB), bleibt die Minderung auch bei Bagatellmängeln möglich, weil § 441 I 2 BGB den § 323 V 2 BGB diesbezüglich seinerseits ausschließt. Beispiel: Hausfrau Heidi kauft eine Waschmaschine, ein Auslaufmodell und Einzelstück, deren Schleuderleistung 1.200 Umdrehungen pro Minute betragen soll. Häusliche Messungen ihres Freundes Felix, eines Studenten der Ingenieurwissenschaften, ergeben aber eine um 7-9 Umdrehungen geringere Leistung. Neulieferung scheidet mangels Möglichkeit aus, Nachbesserung wäre, wenn überhaupt, nur mit unverhältnismäßigen Kosten durchführbar, Rücktritt ist wegen Unerheblichkeit des Mangels unzulässig. Es bleibt hier aber trotz allem das Recht zur Minderung erhalten. Für die Ausübung eines Rücktrittsrechts (durch einseitiges Rechtsgeschäft, § 349 BGB) und für die Rücktrittsfolgen gilt nichts besonderes (vgl. also §§ 346 ff. BGB: Erlöschen der primären Leistungspflichten und Rückabwicklung bereits erhaltener Leistungen bzw. Wertersatz). Da es sich beim Mietverhältnis um ein Dauerschuldverhältnis handelt, bei dem eine Rückabwicklung kaum denkbar erscheint, tritt hier an die Stelle des Rücktritts die nur für die Zukunft wirkende außerordentliche Kündigung (§ 543 I, II 1 Nr. 1, III BGB). Hingegen fügt sich das Rücktrittsrecht beim schlechterfüllten Werkvertrag (§ 634 Nr. 3 BGB) problemlos in die vom kaufvertraglichen Gewährleistungsrecht bekannten Strukturen ein. Entscheidet sich der Käufer für Minderung, so kann er nicht einfach die Differenz zwischen Soll- und Ist-Beschaffenheit monetär bewerten und den so ermittelten Betrag vom Kaufpreis absetzen. Vielmehr ist gemäß § 441 III 1 BGB folgender Ansatz zu wählen: Der vereinbarte Kaufpreis (P v ) verhält sich zum neuen, zu ermittelnden geminderten Kaufpreis (P m ) wie der (übliche Markt-)Wert der mangelfreien Sache (M v ) zum (Markt-)Wert der Sache, so wie sie nun einmal mit Mangel sich darstellt (M m ). Nach P m aufgelöst ergibt sich damit <?page no="254"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 227 V v m m M P M P Nicht oder nur schwer zu behebende Unsicherheiten beim Ansatz der Rechengrößen können durch Schätzung ausgeräumt werden (§ 441 III 2 BGB), um das Minderungsrecht nicht praktisch wertlos zu machen. Auch der Mieter hat bei Mängeln der Mietsache ein Minderungsrecht (§ 536 BGB), das nicht einmal gegenüber dem Anspruch auf Mängelbeseitigung subsidiär ist, freilich eine rechtzeitige Anzeige des Mangels durch den Mieter voraussetzt (§ 536c BGB). Hingegen folgt das Minderungsrecht des Werkbestellers in § 638 BGB wieder ganz dem kaufrechtlichen Vorbild. (4) Schadensersatz Nacherfüllung, Rücktritt und Minderung verfehlen nicht selten das Gläubigerinteresse. Beispiele: Infolge Versagens der Zeitschaltuhr an einem Elektroherd überhitzt sich Bratöl und beginnt zu brennen. Das entstehende Feuer vernichtet das Haus. Infolge Bremsversagen kommt es zu einem Autounfall, bei dem der Käufer oder auch Mieter des Autos schwer verletzt wird. Kunststoffteile verflüssigen sich bei der Erwärmung zum Zwecke ihrer Verformung, obwohl sie bei der gewählten Verarbeitungstemperatur dies vereinbarungsgemäß eigentlich nicht tun sollten. Dadurch werden die Maschinen zerstört, es entstehen Betriebsstillstandsverluste etc. In solchen Fällen stellt sich die Frage eines Schadensersatzanspruchs des Käufers bzw. Mieters (auch) gegen den Verkäufer bzw. Vermieter. Sie beantwortet sich jedenfalls für den Kaufvertrag nach Leistungsstörungsrecht, also nach § 280 BGB. Eine Pflichtverletzung ist zu bejahen, weil gemäß § 433 I 2 BGB der Verkäufer die Kaufsache dem Käufer frei von Mängeln zu verschaffen hat. Zweifelhaft kann aber sein, ob der Verkäufer dies i. S. von § 276 I 1 BGB zu vertreten hat, was gemäß § 280 I 2 BGB ja Voraussetzung einer Schadensersatzpflicht ist, für Nacherfüllung, Rücktritt und Minderung hingegen keine Rolle spielt. Etwa bei originalverpackter Ware ist Vorsatz, also Kenntnis des Mangels auf Seiten eines Händlers als Verkäufer, schwer vorstellbar, und vorsätzliche Schlechtleistung dürfte auch sonst die Ausnahme bilden, von der Beweisbarkeit dieser Kenntnis des Mangels einmal ganz abgesehen. Auch eine Sorgfaltswidrigkeit i. S. des § 276 II BGB, also Fahrlässigkeitsverschulden, wird man dem Verkäufer, jedenfalls sofern er nicht Hersteller des Produktes ist, schwerlich anlasten können, auch nicht über § 278 BGB (Zurechnung des Verschuldens der Erfüllungsgehilfen). Denn namentlich auf Konstruktion und <?page no="255"?> 228 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick Fertigung kann der Verkäufer als Händler keinerlei Einfluss nehmen und er kann schlechterdings auch nicht sämtliche zum Verkauf kommende Sachen daraufhin prüfen, ob sie einen Mangel aufweisen (zumal bei Originalverpackung, auf die der Käufer oft Wert legt). Darin erschöpft sich freilich seine Verantwortlichkeit nicht, wenn er eine Garantie für die Soll-Beschaffenheit übernommen hat. Weil damit die den Verkäufer ohnehin treffende Gewährleistung lediglich verschärft wird, bezeichnet man sie als unselbständige Garantie im Gegensatz zu einer Garantie, die jemand insbesondere der Hersteller, Importeur etc. außerhalb eines Kaufvertrages, also als selbständige Garantie übernimmt. Weichen Ist- und garantierte Soll-Beschaffenheit voneinander ab, so hat der Verkäufer dann also auch ohne Verschulden Schadensersatz zu leisten. Begrifflich geht es dabei regelmäßig um Schadensersatz statt der Leistung, so dass gemäß § 280 III BGB die zusätzlichen Voraussetzungen des § 281 BGB vorliegen müssen, grundsätzlich also eine angemessene Frist zur Nacherfüllung erfolglos verstrichen ist (§ 281 I 1 BGB). Ihr gegenüber ist also auch der am Mangel anknüpfende Schadensersatzanspruch nicht anders als Rücktritt und Minderung! im Ansatz nur ein subsidiärer Rechtsbehelf, sofern nicht etwa eine solche Fristsetzung nach § 281 II BGB entbehrlich ist. Dies dürfte in der Praxis vielfach der Fall sein. Beispiel: Ist das Haus infolge der defekten Zeitschaltuhr des Elektroherdes und infolge des dadurch in Brand geratenen Bratöls durch Feuer zerstört worden, so ist eine Fristsetzung für die Nacherfüllung sicher entbehrlich, wenn die beiderseitigen Interessen abgewogen werden (§ 281 II, 2. Alt. BGB), und zwar schon deshalb, weil eine Nacherfüllung auf den Schadensverlauf gar keinen Einfluss mehr haben würde. Die entscheidende Frage ist freilich, ob der Verkäufer tatsächlich eine solche (unselbständige) Garantie übernommen hat. Das ist sicher seltener der Fall, als gemeinhin angenommen. Denn man muss sich vor Augen halten, dass selbst in der ausdrücklichen vertraglichen Festlegung einer bestimmten Sachbeschaffenheit, einer Zweckbestimmung etc. lediglich die Festlegung der Soll- Beschaffenheit liegt, die man schon als Bezugspunkt für die Ermittlung überhaupt eines Fehlers benötigt. Eine Garantieübernahme setzt also voraus, dass der Verkäufer die Soll-Beschaffenheit besonders bekräftigt. In diesem Sinne aussagekräftig sind natürlich die Worte „garantiert“ und „zugesichert“, aber auch andere Bekräftigungsformen sind denkbar. Beispiele: „Das Grundstück ist für Industriebebauung geeignet“ (nur Soll-Beschaffenheitsangabe, keine Garantie). „Verkäufer sichert die Eignung des Grundstücks für Industriebebauung zu“ (Garantie). Kleider-Etikett „Reine Schurwolle“ mit Gütesiegel (Garantie). „Auf meine Kompetenz als Fachmann können Sie sich 100% verlassen: die Fliesen sind frostsicher“ (Garantie). <?page no="256"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 229 Etwas anders als im Kaufrecht ist der Schadensersatzanspruch des Mieters geregelt. Für Mängel, die schon bei Abschluss des Mietvertrages vorlagen, haftet der Vermieter nach § 536a I BGB in jedem Fall. Vorausgesetzt ist dabei aber, dass der Mieter davon ohne grobe Fahrlässigkeit nichts weiß (§ 536b BGB). Den Vermieter trifft also für anfängliche Mängel eine Garantiehaftung. Spätere Mangelhaftigkeit des Mietobjekts begründet eine Schadensersatzpflicht nur, wenn der Vermieter den fehlerbegründenden Umstand zu vertreten hat oder mit der Fehlerbeseitigung in Verzug ist. Der Schadensersatzanspruch des Werkbestellers folgt über §§ 633 I, 634 Nr. 4 BGB wiederum weitestgehend dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht nach dem kaufvertraglichen Muster. Besteht das „Werk“ in einem wissenschaftlichen Gutachten, so gilt nichts anderes. Problematischer ist die Gutachterhaftung, wenn der Gutachter von einem Gericht als Sachverständiger bestellt wurde, weil diese Bestellung öffentlichrechtlicher Natur ist. Hat ein Prozessbeteiligter auf Grund eines falschen Gutachtens und einer sich darauf gründenden gerichtlichen Entscheidung (Urteil oder Beschluss) einen (Vermögens-)Schaden erlitten, so gewährt nunmehr aber § 839a BGB einen (deliktischen) Schadensersatzanspruch gegen den Gutachter, wenn ihm zumindest grobfahrlässiges Verschulden anzulasten ist. c) Gewährleistung und Zeitfaktor Für das Kaufrecht bestimmt § 438 I-III BGB unterschiedlich lange Gewährleistungsfristen, deren rechtlicher Sinn in der Praxis freilich total verkannt zu werden pflegt. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Gewährleistungsrechte dann bestehen, wenn sich während dieses Zeitraums ein Mangel einstellt. Es handelt sich bei § 438 I-III BGB vielmehr um Verjährungsfristen für Gewährleistungsansprüche. Solche Ansprüche als Gegenstand der Verjährung entstehen aber überhaupt nur, wenn der Sachmangel bereits im Zeitpunkt des sog. Gefahrübergangs vorliegt, also regelmäßig bei der Holschuld schon bei Sachübergabe vorhanden ist. Nur dafür haftet der Verkäufer nach dem ganz klaren Wortlaut des § 434 I 1 BGB. Mit der Erhebung dieser Gewährleistungsansprüche kann man sich dann freilich wenigstens für die in § 438 I-III BGB genannten Fristen Zeit lassen, ohne die Verjährungseinrede des Verkäufers befürchten zu müssen. Natürlich kann der Ablauf auch dieser Fristen als Verjährungsfristen durch Hemmungen und Neubeginn unter Umständen drastisch hinausgeschoben sein. Die bloße Anzeige des Mangels beeinflusst allerdings den Verjährungslauf entgegen den Vorstellungen der Wirtschaftspraxis nicht. Soweit nach § 377 HGB eine solche Mängelrüge erforderlich <?page no="257"?> 230 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick ist, hat sie eine ganz andere Funktion: ohne sie verliert der Käufer die Gewährleistungsrechte überhaupt (§ 377 II HGB), so dass sich die Verjährungsfrage gar nicht mehr stellt. Auch soweit die Gewährleistungsrechte als Rücktritts- oder Minderungsrechte den Charakter unverjährbarer Gestaltungsrechte tragen, kommt über § 438 IV und V/ 218 BGB dennoch der Zeitfaktor zum Tragen: Ist der Nacherfüllungsanspruch verjährt und erhebt der Verkäufer die darauf gestützte Einrede, sind auch Rücktritt und Minderung nunmehr ausgeschlossen. Aus der Systematik des § 438 BGB folgt im Einzelnen, dass die kaufrechtliche Verjährungsfrist bei Gewährleistung grundsätzlich, insbesondere auch hinsichtlich beweglicher Sachen, zwei Jahre beträgt (§ 438 I Nr. 3 BGB), gerechnet von der Ablieferung der Sache (§ 438 II BGB). Für den Kauf von Baugrundstücken und bebauten Grundstücken beträgt die Verjährungsfrist 5 Jahre ab Übergabe (§ 438 I Nr. 2 BGB). Dies hat allerdings, wie nochmals zu betonen ist, nichts mit der Frage zu tun, ob überhaupt Gewährleistungsrechte bestehen. Nur dann können sie ja verjähren (bzw. durch Zeitablauf enden)! Maßgeblicher Zeitpunkt dafür ist wie gesagt grundsätzlich der Gefahrübergang. Dabei ist zu unterscheiden: Bei Hol- und Bringschuld geht die Gefahr mit Übergabe der Sache an den Gläubiger über (§ 446 S. 1 BGB) oder bei Eintritt des Gläubigerverzuges (§ 446 S. 3 BGB), bei der Schickschuld hingegen schon mit Übergabe der Sache an den Spediteur, Frachtführer oder auch an eigene Leute (§ 447 I BGB), eben mit Expedierung. Transportschäden lösen also nur bei der Bringschuld die Gewährleistungsrechte aus, grundsätzlich nicht hingegen bei der Schickschuld. Eine Ausnahme davon gilt jedoch dann, wenn die Lieferschuld Schickschuld im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufes ist: dann soll § 447 BGB gemäß § 474 II BGB nicht gelten. Das ist sehr erklärungsbedürftig: Da § 447 BGB eine Ausnahme von § 446 BGB darstellt, bedeutet seine Unanwendbarkeit beim Verbrauchergüterversendungskauf also, dass die Gefahr erst bei der Übergabe der Ware an den Verbraucher bzw. bei dessen Annahmeverzug stattfindet. Transportschäden lösen somit wie bei der Bringschuld - Gewährleistungsrechte aus. Transportverluste gehen hier gleichermaßen zu Lasten des Verkäufers, weil der Käufer wegen § 326 I 1 BGB seinen Gewährleistungsanspruch verliert, was bei Eingreifen des § 447 I BGB nicht der Fall gewesen wäre. Dies alles beseitigt aber auch beim Verbrauchsgüterkauf nicht die Unterscheidung von Schickschuld und Bringschuld: Auch wenn bei der Schickschuld hier die Gefahr erst mit erfolgreicher oder mit Annahmeverzug begründender, erfolgloser Andienung übergeht, liegt doch der Leistungsort im Gegensatz zur Bringschuld wie auch beim sonstigen Versendungskauf beim Verkäufer als Lieferschuldner. Leistungszeiten haben also diesen Ort als Bezugspunkt und nicht wie bei der Bringschuld den Wohnsitz des Käufers. Und schließlich tritt Konkretisierung der Gattungsschuld ebenfalls <?page no="258"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 231 wie bei jeder Schickschuld und im Gegensatz zur Bringschuld schon mit Expedierung, nicht erst mit der Andienung ein. Weil maßgeblicher Zeitpunkt für die kaufrechtlichen Gewährleistungsrechte grundsätzlich der Gefahrübergang ist, empfiehlt sich auch dort, wo § 377 HGB nicht eingreift (Verkäufer und Käufer sind Unternehmer, aber keine Kaufleute), eine Untersuchung der Kaufsache bei Übergabe, um festzustellen, ob gerade bei Gefahrübergang ein Fehler existierte. Entdeckt man nämlich einen Fehler erst später, hat man kaum überwindbare Schwierigkeiten, zu beweisen, dass er schon zum maßgeblichen Zeitpunkt, eben bei Gefahrübergang vorlag. Dies ist bestenfalls noch bei Konstruktionsfehlern aussichtsreich, die dann ja auch bei anderen Exemplaren feststellbar sind, nicht jedoch bei den (häufigeren) Fertigungsfehlern, die nur sporadisch auftreten, und bei der Bringschuld bei gewissen Transportschäden, z. B. durch langandauerndes Rütteln, heftige Stöße etc. Gegen diese konzeptionelle Eigenart der kaufrechtlichen Gewährleistung hilft auch keine nach § 202 BGB zulässige vertragliche Verlängerung der Verjährungsfrist für die Gewährleistung. Beispiele: Der Motor des neugekauften Sattelschleppers weist zwei Wochen nach Auslieferung an den Kunden einen Kolbenfresser auf, was für dieses Modell durchaus nicht typisch ist (das würde auf Konstruktionsfehler und damit auf Mängel schon bei Gefahrübergang hindeuten! ): keine Gewährleistung. 3 Jahre nach Auslieferung des Sattelschleppers an den Kunden wird zufällig entdeckt, dass das Auto mit ungeeigneten Bremsschläuchen ausgerüstet ist, das Auto also schon im Zeitpunkt der Übergabe mangelhaft war: Gewährleistungsansprüche bestehen zwar, aber der Verkäufer kann sich grundsätzlich (vorbehaltlich Hemmung etc.) auf Verjährungseintritt gemäß § 438 I Nr. 3, II BGB berufen. Am besten lässt sich der Istzustand der Kaufsache bei Gefahrübergang in Gegenwart des Verkäufers (bzw. seiner Hilfs- und Transportpersonen) dokumentieren. Jedenfalls bei Hol- und Bringschulden, oft aber auch bei Schickschulden, ist dies an sich auch durchführbar. Selbst nach Gefahrübergang ist es ratsam, die Ist-Beschaffenheit der Ware bei Anlieferung der Transportperson detailliert vor Augen zu führen, um dem Einwand einer späteren Verschlechterung vorzubeugen. Regelmäßig ist dem Verkäufer, seinen Hilfs- und Transportpersonen eine vollständige käuferseitige Prüfung der Ware bei Übergabe in seiner Gegenwart freilich viel zu lästig, und er versagt seine Mitwirkung. Dann sollte der Käufer sich (aus Beweisgründen schriftlich, z. B. durch Vermerk auf dem Lieferschein) vom Verkäufer (bzw. seinem Verkaufspersonal oder dem Transporteur) bestätigen lassen, dass dieser auf eine Funktionsprüfung in seiner Gegenwart verzichtet. Stellt sich später ein Mangel heraus, so trägt der Verkäufer aus dem Gedanken des (lat.) „venire contra factum proprium“ heraus die Beweislast dafür, dass der Mangel erst danach eingetreten ist. In der Praxis tut der Verkäufer im Gewährleistungsbereich allerdings ohnedies oft mehr, als <?page no="259"?> 232 VI. Wirtschaftstypische Vertragsschuldverhältnisse im Überblick er rechtlich eigentlich müsste. Derartige Kulanz beruht dann entweder auf Unkenntnis der Rechtslage oder auf Marketingüberlegungen zur Kundenpflege etc. Entscheidend besser ist die Rechtsstellung des Käufers beim Verbrauchsgüterkauf. Denn hier wird gemäß § 476 BGB vermutet, dass Mängel, die sich innerhalb von 6 Monaten seit Gefahrübergang beim Verbrauchsgüterkauf also seit Übergabe zeigen, schon bei Gefahrübergang vorhanden waren. Nur wenn die Art der Sache oder des Mangels mit dieser Vermutung unvereinbar ist, greift sie nicht ein. Das Gesetz denkt hier an kurzlebige Verbrauchsgüter, an Verschleißteile und an Mängel, bei denen als Ursache eine falsche Sachnutzung durch den Käufer nahe liegt. Beispiel: Harte Brötchen Wochen nach dem Kauf; stumpfe Plastik-Nagelfeilen 3 Monate nach Erwerb, zumal wenn sie der Käufer im Werkzeugkasten verwahrte (und sie wohl auch als Metallfeilen benutzte! ). Dies alles ist nach § 475 I BGB halbzwingendes Recht. Auch darüber hinaus ist die privatautonome Gestaltungsfreiheit des Verbrauchsgüterkaufs zum Schutz des Käufers nach § 474 II BGB eingeschränkt. Lediglich Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit Mängeln können individualvertraglich ausgeschlossen werden, durch AGB jedoch nur im Rahmen der hierfür allgemein geltenden Beschränkungen der sog. Inhaltskontrolle (§§ 475 III, 307 ff. BGB). Noch besser als mit der Vermutung nach § 476 BGB steht der Käufer nicht nur beim Verbrauchsgüterkauf! auf Grund einer vom Verkäufer übernommenen (unselbständigen) sog. Haltbarkeitsgarantie (vgl. § 443 I BGB). Erklärt der Verkäufer, dass die Sache die Soll-Beschaffenheit nicht nur bei Gefahrübergang hat, sondern diese auch für einen bestimmten Zeitraum behält, so kann der Käufer mangels abweichenden Garantieinhalts die im Gesetz vorgesehenen Gewährleistungsrechte immer geltend machen, wenn ein Mangel während der Garantiezeit auftritt. Beispiel: Verdorbene Lebensmittel schon vor Erreichen ihres Verfalldatums. Auch das Gewährleistungsrecht des Werkvertrages ist wie grundsätzlich dasjenige des Kaufrechtes streng zeitpunktbezogen. Maßgeblich ist hier nach § 644 BGB grundsätzlich die „Abnahme“ i. S. von § 640 BGB: Der Werkbesteller erklärt seine prinzipielle Billigung der Unternehmerleistung. Von diesem Akt der „Abnahme“ aus rechnet auch die grundsätzlich der 3-jährigen Regelfrist des § 195 BGB unterliegende, in manchen Fällen aber auch 2 oder 5 Jahre betragenden Verjährungsfrist für Gewährleistungsansprüche (§ 634a BGB). Insoweit ganz im Kontrast zum Kaufrecht und Werkvertragsrecht steht das Gewährleistungsrecht bei der Miete: Soll- und Ist-Beschaffenheit müssen nicht nur bei Überlassung der Mietsache übereinstimmen. Der Vermieter hat die Mietsache vielmehr während der gesamten Mietzeit in diesem Zustande zu erhalten. Die Gewährleistung ist also zeit- <?page no="260"?> 4. Gewährleistungsrecht im Querschnitt 233 raumbezogen. Extra einen Wartungsvertrag für das Mietobjekt abzuschließen, ist folglich regelmäßig Unsinn, weil der Mieter damit Kosten übernimmt, deren Träger eigentlich der Vermieter ist. Sinn macht ein solcher Wartungsvertrag nur, wenn dieses mietspezifisch zeitraumbezogene Gewährleistungsrecht zuvor vertraglich wirksam abbedungen wurde. Dass der Vermieter, der einen Wartungsvertrag anbietet, damit nur eine Lücke füllt, die zu seinen Gunsten vorher erst gleichsam künstlich erzeugt wurde, sollte der Mieter aber im Auge behalten und dem Vermieter auch vorhalten, um die scheinbare Wohltat eines „günstigen“ Wartungsvertrages ins rechte Licht rücken zu können. Dies gilt selbstverständlich auch und vor allem für das Operating-Leasing. Im Übrigen ist zu prüfen, ob eine derartige Lücke überhaupt besteht, was im Lichte der §§ 305 ff. BGB durchaus nicht ohne Weiteres zu bejahen ist (Unwirksamkeit des Gewährleistungsausschlusses? ). Der für das Gewährleistungsrecht maßgebliche Zeitpunkt ist auch noch in anderem Zusammenhang interessant. Denn vielfach wird ein konkreter Sachverhalt sowohl die Voraussetzungen der Gewährleistung als auch einer Anfechtung (§ 119 II, vielleicht sogar § 123 BGB) erfüllen. Dieses Konkurrenzproblem ist grundsätzlich so zu lösen: Nach Gefahrübergang kommt neben Gewährleistung nur noch eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung etc. (§ 123 BGB) in Betracht. Davor kann umgekehrt überhaupt nur angefochten werden, weil insoweit ja noch gar keine Gewährleistungsrechte bestehen. d) Besonderheiten beim Händlerregress Der gewährleistungserhebliche Mangel der Kaufsache haftet ihr häufig schon lange an, sei es als Konstruktions- oder Fertigungsfehler, sei es als unentdeckter Transportschaden. Erst beim Letztkäufer tritt dann der Mangel z. B. nach Entfernen der Originalverpackung oder auch erst in der Verwendungspraxis zutage. Hat der Verkäufer in solchen Fällen dem (Letzt-)Käufer Gewähr zu leisten, stellen sich Fragen der Gewährleistung in der vorgelagerten Handelskette: Der durch einen Kaufvertrag seinerseits mit dem Vorlieferanten verbundene Verkäufer will nun Rückgriff (Regress) auf den Vorlieferanten nehmen, der wiederum auf seinen Vorlieferanten usw., ggf. bis zum Hersteller. Für diesen Händlerregress gilt die gewährleistungsrechtliche Sonderregelung des § 478 BGB, und zwar auf allen Distributionsstufen (§ 478 V BGB). Bei Rücktritt oder Kaufpreisminderung des (Letzt-)Käufers hat der (Letzt-) Verkäufer das Recht des Rücktritts und der Minderung sowie das Recht auf Schadensersatz statt der Leistung und auf Ersatz vergeblicher Aufwendung ohne die sonst erforderliche Fristsetzung zur Mangelbeseitigung oder Liefe- <?page no="261"?> 234 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse rung mangelfreier Sachen (§ 478 I BGB). Außerdem kann der (Letzt-) Verkäufer von seinem Vorlieferanten Ersatz derjenigen Aufwendungen verlangen, die der (Letzt-)Verkäufer machen musste, um seinem Käufer gegenüber Gewähr zu leisten, also insbesondere Ersatz der dem (Letzt-)Verkäufer entstandenen Material-, Arbeits- und Transportkosten. Der Verkäufer kann die wirtschaftlichen Nachteile aus der ihn dem Käufer gegenüber obliegenden Gewährleistung somit unmittelbar auf den Vorlieferanten abwälzen, sofern in diesem Verhältnis die Voraussetzungen der Gewährleistung vorliegen. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn der Mangel erst durch eine transportbedingte Verschlechterung des Ist-Zustandes herbeigeführt wurde oder der Vorlieferant den späteren (Weiter-)Verkäufer von dem Mangel informierte (§ 442 I BGB! ) und die Ware dann vielleicht auch sehr preisgünstig verkaufte. Gewährleistungswünsche des (Letzt-) Verkäufers gegenüber seinem Vorlieferanten können etwa auch an § 377 II HGB scheitern, weil der (Letzt-)Verkäufer bei seiner Belieferung durch den Vorlieferanten die Ware nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend auf Fehler geprüft oder entdeckte Fehler nicht ordnungsgemäß reklamiert hat. Darauf weist § 478 VI BGB noch einmal ausdrücklich hin. Ein vertraglicher Haftungsausschluss des Händlerregresses ist hingegen nach § 478 IV BGB grundsätzlich nicht möglich. Deshalb kann der Händlerregress namentlich bei konstruktions- und fertigungsbedingten Fehlern letztlich bis zum Hersteller reichen. Dies alles hat mit der nach Voraussetzungen und Wirkung anders konzipierten Produkthaftung nichts zu tun. Die systematische Stellung des § 478 BGB im „Untertitel 3“ scheint seine Anwendbarkeit davon abhängig zu machen, dass der Letztkäufer der Ware ein Verbraucher ist. Bei teleologischer Auslegung, ist für eine Beschränkung auf den Verbrauchsgüterkauf i. S. des § 474 I 1 BGB allerdings kein rechter Grund erkennbar. In § 478 BGB drückt sich vielmehr ein allgemeiner Rechtsgedanke aus. Denn die Gewährleistungssituation eines Verkäufers ist durch die Ausübung von Gewährleistungsrechten nachgelagerter Käufer wirtschaftlich immer in besonderer Weise geprägt. VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse 1. Abstraktionsprinzip und Bereicherungsrecht Schuldverhältnisse, also Schuldner-Gläubiger-Beziehungen, beruhen zwar oft, aber nicht immer auf dem rechtsgeschäftlichen Willen der Beteiligten. Ein derartiges „gesetzliches“ Schuldverhältnis resultiert etwa auch aus einer <?page no="262"?> 1. Abstraktionsprinzip und Bereicherungsrecht 235 „ungerechtfertigten Bereicherung“ i. S. der §§ 812 ff. BGB: Der so „Bereicherte“ ist kraft Gesetzes dem quasi Entreicherten gegenüber verpflichtet, das ungerechtfertigt Erlangte herauszugeben. Ein solcher in den §§ 812 ff. BGB wurzelnder Anspruch wird auch „Kondiktion“ genannt. Die Kondiktion eignet sich freilich nicht dazu, jede als ungerecht empfundene Vermögensverteilung zu korrigieren. Die Kondiktion ist kein sozialpolitisches Instrument der Umverteilung, sondern wie andere Ansprüche auch an die Erfüllung ganz bestimmter rechtlich vorgegebener, tatbestandlicher Voraussetzungen gebunden, auch wenn § 812 I BGB als eine zentrale Kondiktionsnorm auf den ersten Blick den Eindruck einer recht unbestimmten Generalklausel vermittelt. Trotzdem stellt die ganze bereicherungsrechtliche Materie selbst die Rechtswissenschaft auch heute noch vor immer wieder neue dogmatische Probleme. Dennoch muss man immerhin einige kondiktionsrechtliche Grundlinien kennen, schon deshalb, weil Bereicherungsrecht und das merkwürdige Abstraktionsprinzip (völlige tatbestandliche und wirkungsmäßige Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft, namentlich von Kauf und Übereignung) funktional eng aufeinander bezogen sind und auch nur in diesem ihrem gemeinsamen Kontext verstanden werden können. Bereits § 812 I 1 BGB macht bei richtiger Satzunterteilung eine elementare Weichenstellung des Bereicherungsrechtes deutlich. In seiner ersten Alternative gewährt er einen Anspruch gegen denjenigen, der etwas durch Leistung eines anderen erlangt hat, ohne dass der Empfänger dafür einen „rechtlichen Grund“ hat. Unter Leistung ist dabei jede zweckgerichtete Zuwendung zu verstehen. Die Zuwendung ihrerseits kann als bewusste Mehrung fremden Vermögens definiert werden. Der „rechtliche Grund“ für den Leistungsempfang schließlich fehlt, wenn eine zur Leistung motivierende Leistungsverpflichtung vom Leistenden zwar angenommen wird, in Wahrheit rechtlich aber gar nicht existiert. Beispiel: V glaubt, aus einem auf dem Münchner Oktoberfest geschlossenen Kaufvertrag gemäß § 433 I BGB dem K zur Lieferung verpflichtet zu sein. Er einigt sich deshalb (Tilgungszweck der Zuwendung! ) Ende November mit K über den Eigentumswechsel der fraglichen Sache nach § 929 S. 1 BGB und übergibt diese dem K. K seinerseits bezahlt den vereinbarten Preis. In Wahrheit war der Kaufvertrag aber nach § 105 II BGB unwirksam, weil V oder K (oder beide) bei Abschluss des Kaufvertrages schon unter ganz erheblichem Alkoholeinfluss standen: K und V müssen sich das rechtsgrundlos Erlangte wechselseitig nach § 812 I 1, 1. Alt. BGB (sog. Leistungskondiktion) herausgeben. Erlangt hat K Besitz und Eigentum (bei der dinglichen Einigung waren beide wieder nüchtern! ). K muss also die Sache zurückgeben (Herausgabe des Besitzes) und sich mit V darüber gemäß § 929 S. 1 BGB einigen, dass nunmehr wieder V Eigentümer sein soll (Herausgabe des Eigentums). Geht dies so vonstatten, erlischt der Bereicherungsanspruch des V gegen K gemäß § 362 I BGB durch Erfüllung. Dasselbe gilt mit vertauschten Rollen hinsichtlich des Kaufpreises. <?page no="263"?> 236 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse Maßgebend dafür, ob ein Leistungstransfer rechtlichen Bestand hat oder im Wege der Leistungskondiktion rückabgewickelt werden muss, sind also die der Leistung vorausliegenden schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Leistendem und Leistungsempfänger. Nur wenn eine solche Beziehung rechtlich wirksam existiert, hat die Leistung einen rechtlichen Grund, eine (lat.) „causa“, und kann ihr Empfänger die Leistung auf Dauer in seinem Vermögen behalten. Die Leistungskondiktion glättet damit die Ungereimtheiten, die das Abstraktionsprinzip bei fehlendem oder unwirksamem schuldrechtlichen Kausalverhältnis, aber namentlich sachenrechtlich wirksamen Leistungsvollzug vorläufig erzeugt. Der Gesetzgeber glaubte damit ein Optimum zwischen dem allgemeinen Verkehrsschutz und den Parteiinteressen schaffen zu können. Ob er dieses Ziel mit der gewählten Konstruktion erreicht hat, mag man auch im Vergleich mit anderen Rechtsordnungen kritisch beurteilen, doch steht dieses Thema dogmatisch nicht zur Debatte. Ob die „causa“ schon bei der Leistungserbringung fehlte oder erst später wegfiel, z. B. wegen Anfechtung (§ 142 BGB: ex tunc-Effekt! ), ist gleichgültig, wie § 812 I 2, 1. Alt. BGB klarstellt. Bereicherungsrechtlich erheblich ist hingegen, ob die Bereicherung in der ursprünglichen Gestalt oder wenigstens wertmäßig nicht schon wieder abgeflossen ist. Denn dann entfällt grundsätzlich der Herausgabeanspruch (§ 818 III BGB). Ob dies der Fall ist, bedarf allerdings sorgfältiger Prüfung. Die Bereicherung ist nämlich häufig wertmäßig doch noch im Empfängervermögen präsent, weil durch die rechtsgrundlos erlangte Leistung finanzielle Mittel geschont wurden. Beispiele: Graf v. Grünow pflegt jährlich eine Weihnachtsgans zu verspeisen. Butler Brown vergisst jedoch, eine solche bei Feinkost-Finn zu bestellen. Gleichwohl erfolgt eine Anlieferung, weil Feinkost-Finn irrtümlich vom Vorliegen einer Bestellung ausging. Nachdem Graf v. Grünow das delikat zubereitete Tier verspeist hat, wird das Malheur erkannt. Da ein Anspruch auf Kaufpreiszahlung nicht besteht, verlangt Feinkost-Finn im Rahmen der Leistungskondiktion Wertersatz (vgl. § 818 II BGB): Zu Recht, da der Graf entsprechende Mittel erspart hat, die er sonst hätte aufwenden können. Hätte Feinkost-Finn gewusst, dass keine Bestellung vorliegt, wäre hingegen mangels Schutzbedürftigkeit wegen § 814, 1. Alt. BGB eine Kondiktionsmöglichkeit zu verneinen gewesen. Sozialhilfeempfänger Sacher erhält zufällig an seinem Geburtstag durch ein organisatorisches Versehen der Conditorin Chen eine prachtvolle Torte, die freilich Graf v. Grünow für seine Gattin geordert hatte. Sacher, der an das großherzige Geschenk einer entschieden der „sozialen Gerechtigkeit“ verpflichteten Partei denkt (es ist Wahlkampf! ), vertilgt die Torte mit großem Genuss: Bereicherung entfallen, da Sacher sich die Torte sonst nicht hätte leisten können, deshalb auch keine Leistungskondiktion (§ 818 III BGB). Hätte Sacher erkannt, dass es sich bei der Torte um einen „Irrläufer“ handelt, hätte ihm der Bereicherungswegfall nichts genützt, weil dann über eine komplizierte Verweisungskette die rechtsgrundlos zugeflossene Bereicherung gleichsam auf ihrem Maximalstand „eingefroren“ worden wäre (vgl. §§ 819 I, 818 IV, 292, <?page no="264"?> 1. Abstraktionsprinzip und Bereicherungsrecht 237 989, 990 BGB). Wer weiß, dass seiner Leistung der „rechtliche Grund“ fehlt, hat gleichsam in Umkehrung der §§ 819 I, 818 IV, 292, 989, 990 BGB gemäß § 814 BGB keine Leistungskondiktion. Dies ist eine der vielen gesetzlichen Ausprägungen des allgemeinen Verbots des (lat.) „venire contra factum proprium“. In seiner 2. Alt. konstituiert § 812 I 1 BGB einen ganz anders gearteten Kondiktionstatbestand, wenn nämlich jemand nicht durch Leistung eines anderen, sondern in sonstiger Weise ungerechtfertigt bereichert wurde. Das Gesetz knüpft damit an sehr verschiedene Sachverhalte an, die von Naturvorgängen bis zu Eingriffshandlungen des Bereicherten selber reichen: Beispiele: Die Katze des Karl frisst sich am Napf des dem Nachbarn Nero gehörenden Hundes satt. Paul parkt auf dem Grundstück des Emil, das aber Maruschka als Parkfläche für ihren Wagen angemietet hat. Doris tilgt nach § 267 I BGB wirksam die Schuld ihrer Freundin Sabine durch Leistung an deren Gläubiger Gert. Kuddel repariert das Fischernetz des Hein in der Annahme, es handele sich um sein eigenes. Teilnahme an einem Open-Air-Rock-Festival ohne Zahlung des Eintrittspreises nach Übersteigen eines Zaunes durch den Rock-Fan Rolf. Die Frage, wann und warum genau bei solchen Bereicherungen der rechtliche Grund zum Behaltendürfen fehlt und wer gegebenenfalls als Kondiktionsgläubiger solcher Nichtleistungskondiktionen anzusehen ist, bereitet hier viel größere Schwierigkeiten als bei der Leistungskondiktion, bei der die maßgeblichen Kriterien relativ einfach aus Existenz bzw. Fehlen eines wirksamen Kausalverhältnisses abgeleitet werden können. Das Gesetz offeriert hier als Hilfestellung immerhin noch das Merkmal „auf dessen Kosten“, verlangt also die Feststellung, welchen Ursprung die Vermögensverschiebung hat. In den vorstehenden Beispielsfällen wird man trotz problematischer Begründungen im Detail Kondiktionen durchweg bejahen können: Die Katzenfütterung im vorstehenden Beispiel etwa wäre Sache des Karl als des Katzeneigentümers gewesen, die Parkplatznutzung ist schuldrechtlich der Maruschka zugewiesen (also wohl keine Eingriffskondiktion zugunsten von Emil! ), Schuldtilgung ist „eigentlich“ Angelegenheit des Schuldners (also Rückgriffskondiktion von Doris gegenüber Sabine, wenn keine Schenkungsabrede zwischen den beiden vorliegt) etc. Tröstlich ist, dass die §§ 812 ff. BGB auch einige tatbestandlich konkretere Spezialkondiktionen vorsehen, die die Handhabung des Bereicherungsrechtes gerade im Bereich der Nichtleistungskondiktionen vereinfachen, misslich hingegen, dass gerade die Konkurrenz der Nichtleistungskondiktionen mit den §§ 677 ff. BGB Anwendungsprobleme aufwirft. <?page no="265"?> 238 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse 2. Gutgläubiger Rechtserwerb und Bereicherungsrecht Die in der Bildung von speziellen Kondiktionstatbeständen liegende vereinfachte Handhabung des Bereicherungsrechts wirkt sich vor allem in Sachverhaltskomplexen aus, die durch die Involvierung von 3 (oder sogar noch mehr) Rechtssubjekten geprägt sind. Als Ausgangssituation dient folgendes Beispiel: L hat ein dem E gehörendes altes Buch entliehen, es dem E aber bewusst nicht zurückgegeben, sondern es dem auf den Erwerb ganz versessenen Antiquitätenhändler A, der den L für den Eigentümer hält, verkauft. Der zwischen L und A geschlossene Kaufvertrag (vgl. Abb. 31) ist natürlich wirksam, obwohl das Buch nicht dem L, sondern dem E gehört, denn es liegt hier allenfalls anfängliche subjektive Unmöglichkeit vor, die die Wirksamkeit des Kaufvertrages nicht in Frage stellt. Überraschenderweise kann L sogar seine Verkäuferpflichten nach § 433 I BGB erfüllen: die Übergabe ist von vornherein kein Problem, und L kann den A auch durch „dingliche“ Einigung über den Eigentumswechsel zum Eigentümer machen, obwohl L weder wie § 929 S. 1 BGB verlangt selber Eigentümer ist noch von E dazu nach § 185 I BGB ermächtigt ist. Trotz der Nichtberechtigung des L wird A aber nach § 932 I BGB Eigentümer, sofern A bezüglich des Eigentums des L gutgläubig war. Dies ist nach § 932 II BGB dann der Fall, wenn A weder definitiv wusste, dass L das Buch ja nur geliehen hatte, noch dem A die Herkunft des Buches gleichsam ins Auge hätte springen müssen, er die Eigentumsverhältnisse also grob fahrlässig verkannt hat. Hat in vorliegendem Fall der L dem A die Herkunft des Buches nicht offengelegt und befindet sich z. B. auch kein (lat.) „ex-libris“-Vermerk des E in dem Buch, so war A bezüglich der Eigentümerstellung des L gutgläubig und ist damit nach § 929 S. 1 i. V. m. § 932 BGB Eigentümer des Buches geworden. Zugleich hat E sein Eigentum daran verloren. Ein Herausgabeanspruch des E gegen A nach § 985 BGB scheidet also von vornherein aus: A ist zwar Besitzer des Buches, E aber nicht mehr dessen Eigentümer. E ist freilich nicht völlig rechtlos gestellt Da L sich die Erfüllung seiner Rückgabepflicht (§ 604 I BGB) sogar vorsätzlich unmöglich gemacht hat, ist er dem E jedenfalls zum Schadensersatz gemäß § 280 I BGB verpflichtet. Schadensersatz kann E von L auch unter dem Gesichtspunkt dessen Geschäftsanmaßung nach §§ 687 II, 678 BGB verlangen (Veräußerung einer Sache liegt im Zuständigkeitsbereich des Eigentümers, also objektiv-fremdes Geschäft des E, das L bewusst als eigenes geführt hat). Hinzu tritt aber jedenfalls übrigens neben einen weiteren Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB wegen Verletzung des Eigentumsrechtes des E auch eine Kondiktion nach § 816 I 1 BGB: L hat die Eigentumsverhältnisse an der Sache zwar unbefugt, aber wegen § 932 BGB wirksam zu Lasten des E verändert und muss nunmehr die <?page no="266"?> 2. Gutgläubiger Rechtserwerb und Bereicherungsrecht 239 Abb. 31: Ausgangsszenario für §§ 932/ 816 I, 822 BGB in Form des Kaufpreises ihm gegenüber E ungerechtfertigt zugeflossene Bereicherung an E abführen. Dieser Bereicherungsanspruch zeigt seine besondere Bedeutung dann, wenn etwa L einen besonders hohen Preis erzielt hätte. Dann müsste dieser im Wege der Gewinnabführung insgesamt an E fließen, obwohl dessen Schaden (Marktwert des Buches) geringer ist. Da § 816 I 1 BGB nicht an Vertretenmüssen anknüpft, käme er auch dann zum Zuge, wenn L etwa infolge eines für ihn unvermeidbaren Versehens das Buch für sein Eigentum gehalten hätte (auch die Schadensersatzansprüche aus §§ 687 I, 678 und 823 I BGB bestünden dann nicht). Der Arm des Bereicherungsrechtes reicht noch weiter: Hat L das Buch an A nicht verkauft, sondern verschenkt, also durch die Verfügung über das Eigentum des E nichts erlangt, so muss A das Buch nach § 816 I 2 BGB an E herausgeben, genauer: auch das Eigentum an E (nach § 929 S. 1 BGB) zurückübertragen. Kann A dies nicht mehr tun, weil er das Buch mittlerweile an den Sammler S weiterveräußert hat (A war Eigentümer, hat also dem S nach § 929 S. 1 BGB als Berechtigter Eigentum verschafft! ), so muss A dem E den von S erhaltenen Kaufpreis zukommen lassen (§§ 816 I 1, 818 II BGB). Hätte S das Buch schenkweise von A erhalten, so wäre S nach § 822 BGB selber zur Rückgabe und Rückübereignung des Buches an E verpflichtet gewesen. Völlig anders wäre die Situation, wenn L das Buch nicht geliehen hätte, sondern das Buch dem E irgendwie abhanden gekommen wäre, sei es, dass E es verloren hätte, sei es, dass E das Buch von L selber oder einem anderen gestohlen worden wäre: in solchen Fällen nützt nämlich grundsätzlich der Beste gute Glaube nichts (§ 935 I BGB). E hätte dann sein Eigentum also nicht zugunsten des A eingebüßt. Es wäre also hinsichtlich des Eigentums auch weder § 816 I BGB noch in der weiteren Folge § 822 BGB zum Zuge gekommen. E hätte vielmehr von A Herausgabe des Buches nach § 985 BGB verlangen können. Auch S hätte niemals durch A Eigentum erwerben können: nicht nach § 929 BGB, weil A ja selber gar nicht Eigentümer geworden wäre, <?page no="267"?> 240 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse und wegen § 935 I BGB auch nicht nach § 932 BGB. Sollte sich das Buch also bei S befinden, so würde sich der Anspruch des E nach § 985 BGB eben gegen S richten. Nach alledem sollte auch die zumeist völlige Überschätzung des Kraftfahrzeugbriefes deutlich sein: Seine Vorlage kann wenn der Veräußerer ohne Eigentümer zu sein als letzter Berechtigter dort vermerkt ist allenfalls für die Gutgläubigkeit des Erwerbers eine Rolle spielen. Aber selbst eine durch perfekte Fälschung vermittelte Gutgläubigkeit nützt dem Erwerber wegen § 935 I BGB rechtlich nichts, wenn das Fahrzeug gestohlen wurde oder dem Eigentümer sonstwie abhanden gekommmen war. Und wenn der Veräußerer wirklich Eigentümer ist, erfolgt die Übereignung des Autos ja schlicht nach § 929 S. 1 BGB durch formlose Einigung über den Eigentumswechsel und Fahrzeugübergabe. Geld spielt grundsätzlich keine sachenrechtliche Sonderrolle. Beinahe jeder Geldschein und jedes Geldstück geht freilich im Laufe seines Lebenszyklus einmal verloren. Trotz Gutgläubigkeit wäre daran niemals mehr Eigentumserwerb möglich, niemand würde also mehr Geld als Zahlungsmittel annehmen, weil er sich seines Eigentumserwerbes und damit seiner Verfügungsmöglichkeit ja nicht sicher sein könnte. § 935 II BGB sieht deshalb vor allem dafür eine Ausnahme gegenüber § 935 I BGB vor, weil sonst die Geldwirtschaft mangels Umlauffähigkeit des Geldes zum Erliegen käme. Gutgläubigkeit ist freilich auch hier erforderlich: Wer weiß oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht weiß, dass etwa Geld aus einem Bankraub stammt, erwirbt daran trotz § 935 II BGB kein Eigentum. Dies gewinnt Bedeutung vor allem auch im Zusammenhang mit der sog. Geldwäsche schon beim ersten Akt der Einzahlung bei der Bank: deren Gutgläubigkeit ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn die Polizei dort eine Auflistung der Nummern der fraglichen Geldscheine hinterlassen hat. Der gutgläubige Erwerb vom Nichtberechtigten mit den daran anknüpfenden Kondiktionsfolgen ist nun nicht auf bewegliche Sachen beschränkt, wie § 892 I 1 BGB zeigt: Auch der Grundstückseigner kann sein Eigentumsrecht durch Auflassung eines fälschlicherweise als Eigentümer im Grundbuch eingetragenen Veräußerers an einen gutgläubigen Erwerber und durch dessen Eintragung als neuer Eigentümer einbüßen. Bösgläubig ist hier prinzipiell mit Rücksicht auf die hohe Richtigkeitsgewähr des sorgfältig geführten Grundbuchs und wegen der darauf gestützten Eigentumsvermutung des § 891 BGB (bei beweglichen Sachen gilt § 1006 BGB! ) indes nur derjenige, der definitiv weiß, dass der Eingetragene nicht der wahre Eigentümer ist (zum möglichen Auseinanderfallen von wahrem Eigentümer und dem fälschlicherweise im Grundbuch eingetragenen sog. Bucheigentümer). Selbst grob fahrlässige Unkenntnis der wahren Rechtslage zerstört also für sich genommen nicht den guten Glauben und den daran anknüpfenden Grundstücks- <?page no="268"?> 2. Gutgläubiger Rechtserwerb und Bereicherungsrecht 241 erwerb. Der Gutglaubensschutz der §§ 892 ff. BGB hinsichtlich des Grundbuchs hat im Zusammengang mit einer dort (als Rechtsinhaber oder als durch ein beschränktes Sachenrecht belasteten) eingetragenen GbR nach § 899a S. 2 i. V. m. S. 1 BGB sogar einen gesellschaftsrechtlichen Aspekt: Man darf, soweit man die wahre Rechtslage nicht kennt, darauf vertrauen, dass bezüglich des eingetragenen Rechtes „diejenigen Personen Gesellschafter sind, die nach § 47 Absatz 2 Satz 1 der GBO im Grundbuch eingetragen sind, und dass darüber hinaus keine weiteren Gesellschafter vorhanden sind.“ Trotz Gutgläubigkeit auf Grund Unkenntnis der wahren Rechtslage nicht geschützt wird nach § 892 I 1 BGB der (potenzielle) Erwerber freilich auch dann, wenn im Grundbuch selber ein entsprechender Zweifel vermerkt ist, mag in das Grundbuch auch gar keine Einsicht genommem worden sein. Dieser Zweifel manifestiert sich in Gestalt eines Widerspruchs durch denjenigen, der sich für den wahren, als solcher jedoch nicht durch das Grundbuch ausgewiesenen Eigentümer hält. Dann kann durch Auflassung durch den Bucheigentümer und durch Eintragung also ebenfalls kein Eigentum erworben werden. Der Widerspruch bedeutet aber wohlgemerkt keine Grundbuchsperre: Auch ein derart trotz seiner Gutgläubigkeit nicht geschützter „Erwerber“ wird also durchaus als angeblicher Eigentümer eingetragen. Erweist sich später der ja lediglich auf Grund einer einstweiligen Verfügung, also in einem Eilverfahren erwirkte Widerspruch als unbegründet, war der Bucheigentümer also doch der wahre Eigentümer, so hat der Erwerber ja vom Berechtigten Eigentum erlangt, so dass es auf guten oder bösen Glauben gar nicht ankommt. Zeigt sich hingegen, dass der Eingetragene im Grundbuch zu Unrecht eingetragen war, so hat der „Erwerber“ eben trotz seiner Eintragung doch kein Eigentum erlangt, da gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten gemäß § 892 I 1 BGB ja nicht stattgefunden hat. Das Grundbuch ist also zu berichtigen. Der im Grundbuch fälschlicherweise eingetragene Erwerber muss freilich nach § 19 GBO seine Zustimmung („Bewilligung“) zur Eintragung des wahren Eigentümers erklären. Im Weigerungsfalle kann der wahre Eigentümer diese Bewilligung gegenüber dem Bucheigentümer aber mit Hilfe des sog. Grundbuchberichtigungsanspruches nach § 894 BGB. durchsetzen. Für andere an einem Grundstück bestehenden „dingliche“ Rechte als dem Eigentum, also beschränkte Immobiliarsachenrechte (z. B. Hypotheken, Grundschulden, Dienstbarkeiten, vgl. §§ 1113 ff., 1191 ff., 1018 ff. BGB) gilt übrigens Entsprechendes. Den Einblick in das Bereicherungsrecht schließt hier § 816 II BGB ab. Er rekurriert darauf, dass ein gutgläubiger Schuldner an jemanden leistet, der zwar einmal sein Gläubiger war, infolge „stiller“ Zession dies aber nicht mehr ist; dabei büßt der wahre Gläubiger seine Forderung nach § 407 I BGB <?page no="269"?> 242 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse ein. Als Ausgleich dafür erwächst dem Zessionar ein Anspruch gegen den Zedenten, der die vom Schuldner als Nichtberechtigter, aber wirksam zu Lasten des Berechtigten (des Zessionars) erlangte Leistung an den Zessionär abführen muss. 3. Deliktsrecht a) Verschuldens-und Gefährdungshaftung Neben dem Recht der sog. Geschäftsführung ohne Auftrag und dem Bereicherungsrecht bildet das Deliktsrecht, das Recht der „unerlaubten Handlungen“ i. S. der §§ 823 ff. BGB, ein zentrales, auf Schadensersatz abzielendes Ausgleichssystem durch Statuierung einer gesetzlichen Haftpflicht, eines vom rechtsgeschäftlichen Willen der Beteiligten unabhängigen Schuldverhältnisses. Diese Rechtsfolge Schadensersatz schlägt wiederum die Brücke zum Recht der Leistungsstörungen, das ja teilweise auch Schadensersatzpflichten bestimmt. Alle diese Ausgleichssysteme sind voneinander weitestgehend unabhängig und können im konkreten Fall gleichzeitig eingreifen, wenn ihre jeweiligen Haftungsvoraussetzungen gegeben sind. Dieses Nebeneinander vor allem von vertragsrechtlicher und deliktsrechtlicher Haftung ist z. B. wegen der unterschiedlich geregelten Gehilfenhaftung wichtig (vgl. §§ 278, 831 I BGB). Deliktsrecht greift also nicht nur dort ein, wo Vertragsbeziehungen fehlen; es ist anders als etwa im französischen Recht kein subsidiäres Haftungssystem. Es herrscht somit Anspruchskonkurrenz i. S. einer Anspruchskumulation von Vertrags- und Deliktshaftung. Das Deliktsrecht der §§ 823 ff. BGB ist gleichsam die zivilrechtliche Parallele zum Strafrecht, an das man ja bei dem Wort Delikt wohl zuerst denkt. Während aber das Strafrecht seine Rechtsfolge Strafe an der Schwere der Täterschuld ausrichtet, orientiert sich das zivilrechtliche Deliktsrecht im Ausmaß seiner Sanktion an den Tatfolgen, eben an dem Schaden des Betroffenen. Wegen einer gemeinsamen rechtshistorischen Wurzel (vgl. noch heute § 403 StPO) genau wie das strafrechtliche Delikt ist freilich auch das zivilrechtliche Delikt dreistufig aufgebaut: Strafe wie Schadensersatzpflicht setzen voraus, dass ein bestimmter Tatbestand verwirklicht wurde. Denn unsere Rechtsordnung geht unausgesprochen davon aus, dass Schäden eigentlich von demjenigen zu tragen sind, in dessen Rechtskreis sie eintreten (lat. „casum sentit dominus“). Eine Haftung setzt ferner voraus, dass diese Tatbestandsverwirklichung von der Rechtsordnung im konkreten Einzelfall als widerrechtlich missbilligt wird, und schließlich, dass dem Täter diese rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung als persönliche Schuld auch zugerechnet, vorgeworfen werden kann. Strafrecht wie zivilrechtliches Deliktsrecht bauen <?page no="270"?> 3. Deliktsrecht 243 also auf dem Prinzip der Verschuldenshaftung auf. Dem Deliktsrecht der §§ 823 ff. BGB ist dabei weitgehend gleichgültig, ob Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuld vorliegt (vgl. § 823 I BGB, auf den sich andere Normen der §§ 823 ff. BGB beziehen). § 826 BGB hingegen verlangt ausnahmsweise Vorsatzschuld. Während das Schuldprinzip im Deliktsrecht, im dreistufigen Deliktsaufbau als letzte Stufe und dabei auch im Strafrecht sowie im Recht der Ordnungswidrigkeiten, ausnahmslos durchgeführt ist (vgl. §§ 46 StGB, 1 OWiG), gibt es Schadensersatzpflichten auch ohne (Rechtswidrigkeit und) Schuld. Im Rahmen dieser sog. Gefährdungshaftung werden also die Ersatzinteressen des Geschädigten vom Gesetzgeber höher bewertet als das Interesse des Schädigers, nur dann einer Haftpflicht ausgesetzt zu werden, wenn er an dem Schadensfall Schuld trägt. Auch die Frage der Rechtswidrigkeit stellt sich hier nicht. Derartige Haftpflichttatbestände normieren z. B. §§ 1 f. HaftpflG für Schäden aus dem Betrieb von Schienen- und Schwebebahnen sowie von Energieanlagen, das StVG zu Lasten des Fahrzeughalters (§ 7) bzw. für Schäden beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges (ausgenommen „höhere Gewalt“) mit speziellen Haftungsnormen für den Gefahrguttransport in §§ 12a StVG. Die ggf. gesamtschuldnerische Fahrerhaftung nach § 18 I 1 StVG ist jedoch, wie § 18 I 2 StVG zeigt, Verschuldenshaftung. Gefährdungshaftungstatbestände enthalten ferner beispielsweise das LuftVG für Schäden beim Betrieb von Flugzeugen, für Gewässerschäden das WHG und für Strahlungsschäden das AtomG. Aktuell sind GenTG und UmweltHG. Eine für fast alle Unternehmen geradezu existenzielle Bedeutung hat das ebenfalls von Verschulden unabhängig konzipierte ProdHaftG. Für pharmazeutische Produkte ist speziell das ebenfalls als Gefährdungshaftungsrecht ausgestaltete AMG zu beachten. Verstreut finden sich auch im BGB Fälle einer verschuldensunabhängigen Schadensersatzpflicht, z. B. in § 231 BGB für unzulässige Selbsthilfemaßnahmen oder für Schäden durch sog. Luxustiere nach § 833 S. 1 BGB . Auch Gefährdungshaftung und Verschuldenshaftung schließen sich gegenseitig nicht aus (vgl. nur §§ 16 StVG, 15 II ProdHaftG). Sind im konkreten Fall die jeweiligen Haftungsvoraussetzungen erfüllt, so greifen die Rechtsfolgen demnach kumulativ ein. Diese Anspruchskonkurrenz nicht nur zwischen diesen beiden Rechtsmaterien (vgl. auch sehr deutlich, aber lediglich deklaratorisch: § 2 MarkenG) ist in vielerlei Hinsicht von Bedeutung. Beispielsweise ist nach den von der Gefährdungshaftung geprägten Gesetzen durchweg ein Höchstbetrag für den zu leistenden Schadensersatz vorgesehen, während eine derartige Einschränkung für die Verschuldenshaftung nicht gilt. Auch erweitert das Nebeneinander von Verschuldens- und Gefährdungshaftung oft den Kreis der Haftpflichtigen. <?page no="271"?> 244 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse Beispiel: Fahrer F verursacht fahrlässig einen Verkehrsunfall mit dem für H zugelassenen Auto. Nach § 7 StVG haftet der Halter des Fahrzeuges H, jedoch nur in beschränkter Höhe (§ 12 StVG), dies alles freilich ohne Rücksicht auf irgendein Verschulden. Daneben als Gesamtschuldner, §§ 421 ff. BGB haftet in vorliegendem Fall freilich auch F dem Geschädigten auf Schadensersatz aus § 18 I 1 StVG, vor allem aber aus § 823 I BGB und deshalb unbegrenzt. Sollte F bei M als Fahrer angestellt sein, drohen über § 831 I BGB auch dem M diese deliktsrechtlichen Konsequenzen. Eine ganz eigenartige, allerdings der Gefährdungshaftung nahestehende, verschuldensunabhängige Erfolgshaftung statuiert § 701 BGB: Demnach haftet der Beherbergungsgastwirt, also der Hotelier oder der Betreiber einer Pension, nicht jedoch der Schank- oder Speisewirt oder der Betreiber eines Campingplatzes, unter den dort näher genannten Voraussetzungen für Sachschäden des Gastes bis zur Grenze höherer Gewalt (§ 701 IV BGB), und zwar grundsätzlich ohne die Möglichkeit des vertraglichen Haftungsausschlusses (§ 702a BGB), dafür aber auch nur in den Haftungshöchstgrenzen des § 702 I BGB. Auf die Eigentumsverhältnisse an den eingebrachten Sachen kommt es dabei nicht an, so dass der Gast den Wirt auch für Schäden haftbar machen kann, die an fremden Sachen entstanden sind, die der Gast nur mitgeführt hat. Diese hier ausnahmsweise zulässige sog. Drittschadensliquidation ist eine besonders bemerkenswerte Erscheinung, weil der Gesetzgeber von dem selbstverständlichen Grundsatz ausgeht, dass ein Schadensersatzgläubiger nur seinen eigenen Schaden, nicht jedoch denjenigen eines Dritten in Ansatz bringen darf. §§ 701 ff. BGB normieren freilich nur einen Mindestschutz; Ansprüche aus §§ 823 ff. BGB, aus § 280 I BGB etc. bleiben von alledem unberührt. Sind die dortigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, haften sowohl Beherbergungsals auch Schank- und Speisewirte. Es handelt sich hier freilich um dispositives Recht. Ein vertraglicher Haftungsausschluss ist gleichwohl nur eingeschränkt, nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB möglich, wenn wie in der Praxis regelmäßig dafür Vorformulierungen verwendet werden. Beispiel: Schild im Restaurant: „Für Garderobe keine Haftung“ b) Verhältnis zur Haftpflichtversicherung Entgegen landläufiger Meinung beeinflusst eine bestehende Haftpflichtversicherung kaum jemals die Rechtsstellung des Schadensersatzberechtigten, und wenn doch einmal, dann in einer anderen Richtung, als man gemeinhin denkt. Beispiel: Hat etwa der reiche R für sich eine Privathaftpflichtversicherung bei VU (Versicherungsunternehmen) abgeschlossen (R ist also sog. Versicherungsnehmer und zugleich Versicherter), verletzt R widerrechtlich und schuldhaft Frau <?page no="272"?> 3. Deliktsrecht 245 F beim Golfspiel und wird Herr R demzufolge von Frau F aus § 823 I BGB auf Schadensersatz in Anspruch genommen, so ist trotz bestehender Versicherung eben R, nicht etwa VU anstelle von R, zum Schadensersatz verpflichtet; nur von R kann F Schadensersatz verlangen. F braucht sich deshalb auch nicht in zähe Regulierungsverhandlungen mit VU einzulassen, und dem R hilft es deshalb im Verhältnis zu F auch überhaupt nichts, wenn er etwa deren Mahnungen an VU weiterleitet. Allerdings kann VU auch als Nicht-Schuldner nach § 267 BGB die Schadensersatzschuld von R ihrem Versicherungsnehmer, tilgen. Dazu ist sie (nur! ) gegenüber R nach dem Versicherungsvertrag sogar verpflichtet. Ob eine derartige (Haftpflicht-)Versicherung abgeschlossen wird, liegt prinzipiell in der freien, auf Risikoeinschätzung bzw. Kosten-/ Nutzen-Analyse basierenden Entscheidung jedes Einzelnen. Nur gelegentlich besteht ein gesetzlicher Kontrahierungszwang bezüglich einer Haftpflichtversicherung, namentlich nach § 1 PflVG zur Deckung der durch den Fahrzeuggebrauch verursachten Schäden, die der Halter ja nach § 7 I StVG schuldlos zu ersetzen hat. Eine derartige Pflichtversicherung besteht nun ganz anders als bei der freiwilligen Haftpflichtversicherung nicht primär im Interesse des Versicherungsnehmers, sondern des Geschädigten: Er soll sicher einen liquiden Schadensersatzschuldner vorfinden (dafür sorgt nicht zuletzt die staatliche Versicherungsaufsicht), weil der Fahrzeughalter erfahrungsgemäß diese Gewähr eben nicht bietet. Folgerichtig gibt § 115 VVG dem Geschädigten in einigen Fällen, vor allem bei der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (§ 115 I Nr. 1 VVG), einen Direktanspruch gegen den sog. Pflicht-Haftpflicht- Versicherer. Die Pflichtversicherung schafft hier im Ergebnis also den für Verträge zugunsten Dritter charakteristischen Begünstigungseffekt, aber eben unabhängig vom Willen der Versicherungsvertragspartner. Dieser Direktanspruch gegen den Versicherer lässt seinerseits die Haftpflicht des Halters gegenüber dem Geschädigten ebenfalls unberührt (vgl. Abb. 32): Beide sind dem Geschädigten insoweit als Gesamtschuldner (vgl. § 115 I 1 VVG: „auch“! § 421 BGB) zum Schadensersatz verpflichtet. c) Der Deliktsaufbau, insbesondere Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit Grundvoraussetzung auch eines deliktischen Schadensersatzanspruches ist, dass ein Geschehen „tatbestandsmäßig“ ist, am Beispiel des § 823 I BGB: dass jemand einen anderen getötet hat (dessen „Leben... verletzt“), einen sonstigen Personenschaden („Körper, Gesundheit“) herbeigeführt hat etc. Erst wenn aus der Fülle aller Lebensvorgänge ein solcher juristisch näher interessierender <?page no="273"?> 246 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse Abb. 32: Deliktischer Anspruch und Haftpflichtversicherung Ausschnitt herauspräpariert ist, also Tatbestandsmäßigkeit des Sachverhalts festgestellt ist, macht es Sinn, die Frage der Widerrechtlichkeit (in moderner Sprache: Rechtswidrigkeit) zu stellen, also die rechtliche Bewertung dieses Tatbestandes vorzunehmen, und schließlich zu prüfen, ob dem Verursacher dies als Verschulden zur Last gelegt werden muss, weil er das alles so gewollt hat (direkter Vorsatz), die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf genommen hat (indirekter Vorsatz, sog. Eventualdolus) oder diesen rechtlich unerwünschten Effekt bei gehöriger Sorgfalt wenigstens hätte vermeiden können (Fahrlässigkeit, § 276 II BGB). Der Textaufbau des § 823 I BGB ist hinsichtlich der maßgeblichen Prüfungsreihenfolge also irreführend. Dennoch macht § 823 I BGB den großen Fortschritt in Rechtsentwicklung und Rechtskultur erkennbar, der in diesem 3-stufigen Deliktsaufbau steckt: Über die Frage, ob jemand für etwas zur Verantwortung zu ziehen ist, entscheidet nicht ein pauschales Rechtsgefühl, sondern diszipliniertes gedankliches Vorgehen. Der 3-stufige Deliktsaufbau beherrscht nicht nur die §§ 823 ff. BGB, sondern auch das (deutsche) Strafrecht und das Recht der Ordnungswidrigkeiten (OWiG). Freilich gibt es neben der deliktsrechtlichen Verantwortlichkeit auch noch andere Haftungssysteme. So ist die Vertragshaftung bei sog. Leistungsstörungen grundsätzlich 2-stufig (vgl. § 280 I BGB: Pflichtverletzung, Vertretenmüssen) und die noch zu behandelnde Gefährdungshaftung nur einstufig aufgebaut (Realisierung des jeweils tatbestandsmäßigen Gefahrpotentials). Tatbestandsmäßig bei § 823 I BGB ist neben der bereits genannten Tötung, Körper- und Gesundheitsverletzung eines Anderen die Einschränkung dessen Freiheit. Gemeint ist hier bei systematischer Interpretation aber nur die körperliche Bewegungsfreiheit. Denn die Willensfreiheit ist durch andere Normen geschützt, etwa über das Anfechtungsrecht nach § 123 BGB bei arglistiger Täuschung. Wenig Schwierigkeiten bereitet für gewöhnlich die Feststellung <?page no="274"?> 3. Deliktsrecht 247 einer Eigentumsverletzung: Nach § 903 BGB sind alle Einwirkungen auf eine Sache allein Angelegenheit des Eigentümers. Ob es sich um leichte oder schwere Beeinträchtigungen dieser Kompetenz handelt und ob sie tatsächlicher oder rechtlicher Natur sind, steht gleich. Beispiele: Benutzen, Verstecken, Bemalen, Beschädigen, Zerstören, aber auch: an einen Gutgläubigen nach §§ 892 oder 932 BGB wirksam übereignen! Zu den „sonstigen Rechten“, deren Verletzung § 823 I BGB ebenfalls für tatbestandsmäßig erklärt, zählen alle, aber auch nur absolute Rechte, die wie das Eigentumsrecht, an den die Formulierung anknüpft eben jedermann gegenüber wirken. Der Tatbestand des § 823 I BGB ist hingegen nicht erfüllt, wenn lediglich das Vermögen als Ganzes, als Summe aller Aktiva und Passiva, beeinträchtigt ist, wenn also etwa Zahlungen durch Irrtumserregung oder Zwang oder sonstwie veranlasst werden, wenn Chancen auf Gewinn nicht realisiert werden können etc. Beispiele: Betrügerisches Verleiten zu einer verlustträchtigen Kapitalanlage; Vorspiegeln eines Unglücksfalls, was eine aufwendige Rettungsaktion auslöst. Derjenige, den § 823 I BGB mit „wer“ anspricht, kann jedes Rechtssubjekt sein. Das Verhalten von Menschen, die als „Organe“ von juristischen Personen (oder Personengesellschaften) fungieren, gilt nach § 31 BGB zugleich als deren Verhalten. Über die konkrete Verknüpfung mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg, also mit dem Tod bzw. Verletzung eines Menschen, mit der Eigentumsbeeinträchtigung etc., entscheidet die haftungsbegründende Kausalität: Wer eine Ursache setzt, die einen tatbestandsmäßigen Erfolg, also den in § 823 I beschriebenen Effekt bewirkt, ist Täter (sog. extensiver Täterbegriff). Jeder, der eine Ursache für die Tötung eines Menschen setzt, „tötet“ also i. S. des § 823 I BGB. Auf Eigenhändigkeit der Tatbestandsverwirklichung kommt es nicht an. Als Hilfsmittel zur Feststellung der Kausalität dient verbreitet die wissenschaftlich allerdings fragwürdige (lat.) „condicio-sinequa-non“-Formel: Alles, was nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der eingetretene Effekt auch wegfiele, ist ihr zufolge kausal. Eine Gewichtung innerhalb dieser so im Wege „hypothetischer Elimination ermittelten Wirkungsbedingungen hat sich dabei als undurchführbar erwiesen (sog. Äquivalenztheorie): Jede Bedingung ist auch Ursache. Beispiel: T stößt der O ein Messer in den Leib, woran O stirbt: T ist für O's Tod sicher ursächlich, also Täter i. S. des § 823 I BGB. Aber auch der Messerfabrikant M ist ursächlich für O's Tod: Hätte er das Messer nicht hergestellt, hätte T es nicht der O in den Leib stoßen können. Ursächlich sind auch die Eltern des M... Die Kausalitätsfeststellung (nicht zu verwechseln mit der Feststellung eines „Kausalverhältnisses“ bei § 812 I 1 BGB) wirft häufig sehr viel schwierigere Probleme auf, als der relativ klare Ausgangspunkt dies vermuten lässt. Des- <?page no="275"?> 248 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse halb ist man vielfach auf die Feststellung einer in der Lebenserfahrung wurzelnden hohen Wahrscheinlichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs angewiesen. Denn das Leben ist nun einmal kein Labor, in dem man nach Wunsch Faktoren konstant halten oder variieren kann. Darin liegt der oft verkannte Sinn der sog. Adäquanztheorie: Sie engt den Kreis der rechtlich relevanten Ursachen keineswegs ein, sondern ermöglicht erst deren Feststellung. Beispiel: In der Nähe eines Atomkraftwerkes treten signifikant häufig Tumore auf: Kausalität? Hilft hier ein „Wegdenken“ i. S. der „condicio-sine-qua-non“- Formel? Ist statistische Signifikanz gleichbedeutend mit Kausalität? Eigenartige Kausalitätsprobleme bei Anwendung der auf den ersten Blick so bestechenden „condicio-sine-qua-non“-Formel beleuchten auch folgende Beispiele: Handballspielende Kinder werfen eine Scheibe ein; kurz darauf ereignet sich eine verheerende Explosion, bei der alle Fensterscheiben der Gegend bersten. Denkt man sich das Handballspiel hinweg, wäre die Scheibe also auch kaputt. Trotzdem besteht doch wohl Kausalität zwischen Handballspiel und zerbrochener Scheibe. A verabreicht dem X Gift in einer nicht tödlichen Dosis; dasselbe tut B. Insgesamt führt die Giftmenge aber zum Tode des X: Nach der „condicio-sine-quanon“-Formel hätte weder A noch B den Tod herbeigeführt, wenn man die Kausalprüfung jeweils auf A oder B bezieht! Weder A noch B wären auch kausal, wenn sowohl A als auch B dem X je eine tödliche Giftdosis beigebracht hätten! Nicht nur durch aktives Handeln, durch Tun, sondern auch durch das Unterlassen einer gebotenen Handlung kann ein Delikt begangen werden: Ob eine Mutter ihrem Kind tödliches Gift beibringt oder es „nur“ zu füttern unterlässt, so dass das Kind verhungert, macht auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit keinen Unterschied. Voraussetzung für eine Kausalität des Unterlassens ist aber, dass dies aus einer sog. Garantenstellung heraus, in diesem Sinne pflichtwidrig erfolgt. Bei den Garanten ist die Unterscheidung der h. M. zwischen Beschützer- und Überwachungsgaranten für das Verständnis hilfreich. Beispiel: Ärzte und „Body Guards“ sind reine Beschützergaranten, das Sicherheitsunternehmen, das ein Tanklager kontrolliert, um eine Explosion zu vermeiden, ist (jedenfalls primär) Überwachungsgarant. Zahlreiche Quellen für solche Gefahrabwendungspflichten aus sog. Garantenstellung kommen in Betracht, so im genannten Beispiel das Gesetz mit § 1626 BGB (elterliche Sorgepflicht), sodann namentlich Vertrag (Babysitter, nach richtiger, allerdings sehr bestrittener Ansicht auch das private Krankenversicherungsunternehmen! ), eine faktische Vertrauensstellung sowie vorangegangenes Schaffen oder Aufrechterhalten jener Gefahrensituation, die in den Schadensfall eingemündet ist (sog. Ingerenz). Daraus resultiert insbesondere die praktisch überaus bedeutsame sog. Verkehrssicherungspflicht. <?page no="276"?> 3. Deliktsrecht 249 Beispiele: Der Wach- und Schließdienst versäumt die vertraglich zugesagte Mitternachtsinspektion, so dass eine offenstehende Tür nicht bemerkt wird. D gelangt durch die Tür in die Geschäftsräume und entwendet dort wertvollen Schmuck: Nicht nur D, sondern auch der säumige Wach- und Schließdienst hat das Eigentumsrecht am Schmuck i. S. des § 823 I BGB verletzt (Verstoß gegen vertragliche Gefahrenabwendungspflicht). Das Energieversorgungsunternehmen errichtet Starkstrommasten ohne Kletterabwehrschutz; spielende Kinder erklimmen einen Mast und kommen dabei durch Stromschlag zu Tode: Tötung durch Unterlassen wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. Wer ein in § 823 I BGB genanntes Rechtsgut (Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit) bzw. ein absolutes Recht (namentlich Eigentum) derart verletzt, d. h. dafür eine Ursache setzt, haftet natürlich noch nicht auf Schadensersatz. Dasselbe gilt auch bei der Erfüllung von Straftatbeständen hinsichtlich der Rechtsfolge Strafe oder bei Ordnungswidrigkeiten hinsichtlich der Rechtsfolge Bußgeld etc. Mehr noch: Die Tatbestandsmäßigkeit eines Geschehens ist wertungsmäßig noch indifferent. Die Bewertung eines tatbestandsmäßigen Geschehens als widerrechtlich, also als von der Rechtsordnung missbilligt, ist freilich die regelmäßige Folge, weil das Gesetz sonst gar keine Veranlassung hätte, sich für bestimmte Ursache- Wirkungs-Zusammenhänge besonders zu interessieren. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert also die Rechtswidrigkeit, deutet sie an. Nur in ganz seltenen Fällen, in denen inhaltlich sehr weitgreifende „Rahmenrechte“ wie namentlich das Allgemeine Persönlichkeitsrecht betroffen sind, versagt diese Indizfunktion der Tatbestandsmäßigkeit und bedarf es somit der (schwierigen! ) expliziten Begründung der Rechtswidrigkeit. Eine endgültige Bewertung ist indes erst möglich, wenn abgeklärt ist, ob die Rechtsordnung jene Rechtsbzw. Rechtsgutsverletzung nicht doch ausnahmsweise billigt. Durch das Eingreifen solcher Rechtfertigungsgründe wird die in der Tatbestandsmäßigkeit zugleich liegende Rechtswidrigkeitsvermutung also im Ergebnis beseitigt. Zahlreiche solcher Rechtfertigungsgründe sind ausdrücklich gesetzlich nicht unbedingt im BGB fixiert. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Notwehr (§ 227 BGB, vgl. auch § 859 BGB und gleichlautend § 32 StGB), ferner z. B. Notstand in verschiedenen Varianten (§§ 228, 904 BGB, § 34 StGB und § 16 OWiG) sowie nach §§ 229, 230 BGB zulässige Selbsthilfe. Gesetzlich nicht ausdrücklich als Rechtfertigungsgrund genannt wird beispielsweise die berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag und vor allem die gesetzliche überhaupt nicht erfasste, aber seit jeher anerkannte Einwilligung des Rechtsinhabers bzw. Rechtsgutträgers, wenn dieser weiß, worin er einwilligt, also ausreichend aufgeklärt wurde (lat. „volenti non fit iniuria“). Sozial oder politisch für wertvoll gehaltene Tätigkeiten von vornherein nicht einer tatbestandsmäßigen Prüfung unterwerfen zu wollen, ist wegen der rechtspsychologisch unverzichtbaren Appellfunktion des Tatbe- <?page no="277"?> 250 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse standes keinesfalls angebracht. Beispiele: Zahnärzte, vor allem aber Chirurgen, begehen zahllose vorsätzliche, teilweise sogar schwere bzw. gefährliche Körperverletzungen (§§ 823 I BGB, 223, 224, 226 StGB), die freilich fast durchweg durch wirksame Einwilligung (ggf. bei Bewusstlosigkeit des Patienten: durch mutmaßliche Einwilligung) gerechtfertigt sind und deshalb natürlich nicht zum Schadensersatz verpflichten (ausreichende Aufklärung des Patienten vorausgesetzt! ). Der Fahrgast der Straßenbahn, der zwischen den Haltestellen nicht aussteigen kann, wird mit seiner Einwilligung, also rechtmäßig seiner Freiheit beraubt (§§ 823 I BGB, 239 I StGB). Zahlreiche Soldaten im Kriege töten mit Vorsatz „heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln“ (Bomben! ), sind demzufolge „Mörder“ nach der Definition des § 211 StGB, jedenfalls aber „Totschläger“ (§ 212 StGB).Ob hier im konkreten Tötungsfall ein Rechtfertigungsgrund eingreift (welcher? ), bleibt freilich noch zu prüfen. Zum tatbestandsmäßigen-rechtswidrigen Verhalten muss bei den an der Verschuldenshaftung orientierten deliktischen Haftungstatbeständen, wie gesagt, noch Verschulden hinzutreten, um die Schadensersatzpflicht zu begründen. Ursächlichkeit und Verschulden sind also streng auseinanderzuhalten. Straßenglätte mag zwar ursächlich für einen Verkehrsunfall gewesen sein, niemals aber „schuld“ daran. Vorsatz oder Fahrlässigkeit lassen sich nun nicht allen Tätern zum persönlichen Vorwurf machen, nämlich dann nicht, wenn gar keine Schuldfähigkeit, auch Delikts- oder Zurechnungsfähigkeit genannt, besteht. Dem trägt wie das StGB auch das BGB mit den §§ 827 f. Rechnung, wobei regelungstechnische Ähnlichkeiten mit den §§ 104 ff. BGB (gestufte Geschäftsfähigkeit, Wirksamkeit von Willenserklärungen! ) zu bemerken sind. Alter und situative Beeinträchtigungen sind auch für die Deliktsfähigkeit maßgeblich: Unter 7 Jahren besteht gemäß § 828 I BGB Zurechnungsunfähigkeit, mit Eintritt der Volljährigkeit (18 Jahre) prinzipiell Zurechnungsfähigkeit (Ausnahme § 827 S. 1 BGB parallel zu § 105 II BGB). Dabei ist aber § 827 S. 2 BGB zu beachten, in dem sprachlich missglückt die Rechtsfigur der sog. actio libera in causa Ausdruck gefunden hat: Wer sich z. B. durch Alkohol oder Drogen in den Zustand der Zurechnungsunfähigkeit versetzt, gilt gleichwohl als zurechnungsfähig, wenn er dabei mit der Verwirklichung eines bestimmten Haftungstatbestandes (z. B. Körper- oder Eigentumsverletzung gemäß § 823 II BGB) rechnen musste (Fahrlässigkeit) oder dies eigens bezweckte oder zumindest billigend in Kauf nahm (direkter bzw. indirekter Vorsatz). Im Grunde ist auch dies nur eine der vielen Ausprägungen des Grundsatzes, dass selbstwidersprüchliches Verhalten vom Recht als (lat.) „venire contra factum proprium“ nicht akzeptiert wird. Beispiel: Der Schauspieler S weiß, dass er im Alkoholrausch zu randalieren pflegt. Das ist ihm allerdings egal, und so lässt er sich eines Abends wieder einmal <?page no="278"?> 3. Deliktsrecht 251 „voll laufen“. Prompt zerschlägt er daraufhin das Mobiliar der Hotelbar (Zurechnungsfähigkeit gegeben: indirekt-vorsätzliche actio libera in causa). Zwischen 7 und 18 Jahren ist die Zurechnungsfähigkeit nach Maßgabe der entwicklungsbedingten Einsicht grundsätzlich beschränkt. Für tatbestandsmäßige Schädigungen („Verletzungen“) im Zusammenhang mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienen- oder Schwebebahn besteht jedoch bis zum 10. Lebensjahr keine Zurechnungsfähigkeit, es sei denn, es geht um vorsätzliche Tatbestandsverwirklichungen Dann richtet sich die Zurechnungsfähigkeit doch wieder nach den sonst geltenden Maßstäben für beschränkt deliktsfähige Minderjährige. Die Vorschriften über die Zurechnungsfähigkeit finden nach ausdrücklicher, fast überflüssiger Verweisung durch § 276 I 2 BGB auch im Leistungsstörungsrecht Anwendung, insofern es ja auch dort, nämlich im Rahmen des Vertretenmüssens, auf Vorsatz und Fahrlässigkeit ankommt. d) Besondere deliktische Haftungstatbestände Eine deliktische Haftung ordnet § 823 II BGB auch dann an, wenn schuldhaft (und selbstverständlich vorausgesetzt: widerrechtlich) gegen eine Rechtsnorm vor allem auch außerhalb des BGB verstoßen wurde und dadurch ein Schaden bei einem Rechtssubjekt eingetreten ist, auf dessen speziellen Schutz jene Rechtsnorm über den Schutz der Allgemeinheit hinaus abzielte. Derartige sog. Schutzgesetze sind sicher die Straftatbestände §§ 211, 212 StGB (Mord und Totschlag, schadensersatzrechtlich interessant immerhin für die Erben! ), §§ 223 ff. StGB (Körperverletzung), § 239 StGB (Freiheitsberaubung), §§ 242 ff. StGB (Diebstahl, Unterschlagung) oder §§ 249 ff. StGB (Raub). Da in diesen Fällen aber bereits die in § 823 I BGB tatbestandsmäßig erfassten Rechtsgüter und Rechte betroffen sind, wird § 823 II BGB zur Haftungsbegründung hier gar nicht benötigt. Praktisch wertvoll wird dieser Haftungstatbestand erst, soweit § 823 I BGB nicht eingreift, also zur Haftungsbegründung etwa bei bloßen Vermögensschäden. Paradebeispiel dafür ist, dass jemand auf Grund betrügerischer Machenschaften zu einem Vertragsschluss veranlasst wird und er mit seinem Vermögen dadurch mit Leistungspflichten belastet bzw. sein Vermögen durch erbrachte Leistungen real vermindert wird. Hier kann Schadensersatz nur nach § 823 II BGB i. V. m. § 263 StGB verlangt werden. Praktisch wichtig ist ferner § 15a InsO als Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger einer juristischen Person, z. B. einer AG oder GmbH sowie einer GmbH & Co. KG: Unterlässt es z. B. der Geschäftsführer einer GmbH, rechtzeitig Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, so haftet er den dadurch geschädigten Gesellschaftsgläubigern im Wege der sog. Geschäftsführeraußenhaftung persön- <?page no="279"?> 252 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse lich für deren Vermögensverluste. Schutzgesetz ist z. B. auch § 91 II AktG: Versäumen Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften die nach KonTrag notwendigen Früherkennungsmaßnahmen bezüglich riskanter Geschäftsentwicklungen (etwa durch Installierung eines hocheffektiven Controlling- Systems) zu treffen, haften sie persönlich nach § 823 II BGB den Gesellschaftsgläubigern, aber auch den Aktionären auf Ersatz dadurch bedingter Vermögensschäden. Ob es sich bei einer Rechtsnorm wirklich um ein Schutzgesetz handelt und auf wessen Schutz dabei abgestellt wird, ist vielfach zweifelhaft und kann jedenfalls nicht für ein ganzes Gesetzeswerk pauschal, z. B. für das gesamte StGB, sondern nur für jede einzelne darin enthaltene Norm entschieden werden. Zu bejahen ist der Schutzgesetzcharakter etwa auch für öffentlichrechtliche Bebauungsvorschriften nachbarschützenden Inhalts (z. B. über zulässige Geschosszahl wegen der Belichtung), für §§ 4 i. V. m. 28 f., 30 II, III BDSG zugunsten der Person, deren Daten erhoben und verarbeitet werden, für das GPSG zugunsten der Verwender von Produkten und Geräten, für den Kontrahierungszwang nach § 1 PflVG zugunsten des Geschädigten, der seinen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger nicht realisieren kann, für § 20 GWB (Diskriminierung durch marktbeherrschende und diesen gleichgestellte Unternehmen z. B. bei der Belieferung, ungerechtfertigte Ablehnung der Aufnahme in eine Wirtschafts- oder Berufsvereinigung) und für vieles andere mehr, etwa die vielen Vorschriften, die das mutwillig-grundlose Auslösen von Alarm verbieten. Beispiel: Der 15-jährige J gibt vor, sein Freund F sei beim Durchstreifen eines stillgelegten Bergwerkes, zu dem sich beide Zugang verschafft hätten, verschwunden. Dadurch löst J eine kostspielige Such- und Rettungsaktion aus: Schadenspflicht des J aus § 823 BGB! § 828 II BGB steht der Schadensersatzpflicht des J übrigens nicht entgegen, weil ein 15-jähriger Jugendlicher die Einsicht in den ausgelösten Mechanismus und die dabei nutzlos vergeudeten Ressourcen (vielleicht sogar zu Lasten einer wirklich in Not geratenen Person! ) altersgemäß ohne weiteres haben kann. Keine Schutzgesetze hingegen sind z. B. Buchhaltungs- und Bilanzierungsvorschriften, für berufsgenossenschaftliche Unfallverhütungsvorschriften (ihre Nichteinhaltung ist lediglich im Rahmen der Verschuldensprüfung von gewissem Interesse) oder EN-, DIN- und VDE-Bestimmungen. Solche technischen Normen kommen schon wegen ihrer fehlenden Qualität als Rechtsnormen nicht als Schutzgesetz in Betracht. Ihre Standards dienen, was vielfach verkannt wird, lediglich der Intensivierung des Wettbewerbs oder dokumentieren den Stand der Technik, entfalten aber als solche keinerlei verpflichtende Wirkung. Keine besonderen objektiv-tatbestandsmäßigen Anforderungen stellt § 826 BGB: Es reicht aus, dass überhaupt ein Schaden eingetreten ist, mag es sich <?page no="280"?> 3. Deliktsrecht 253 auch lediglich um einen allgemeinen Vermögensschaden, z. B. um Zahlungen, um Umsatzeinbußen und ähnliches handeln. Dafür sind die sonstigen Voraussetzungen einer Schadensersatzpflicht verschärft: Die Schädigung muss vorsätzlich und sittenwidrig erfolgt sein. Die Definition der Sittenwidrigkeit ist hier ebenso problematisch wie bei § 138 I BGB. Sittenwidrig ist jedenfalls nicht jeder Verstoß gegen die herrschende Rechts- und Sozialmoral, wenn es so etwas überhaupt geben sollte. Damit verringert sich auch das rechtspraktische Gewicht des § 826 BGB jedenfalls für das Wirtschaftsleben. Immerhin könnte § 826 BGB in seltenen Fällen als Hebel für einen Kontrahierungszwang dienen, etwa wo § 823 II BGB i. V. m. § 20 GWB versagt, weil § 20 GWB nur Unternehmen schützt, und dies nur gegenüber marktbeherrschenden und diesen gleichgestellten Unternehmen: Die aus niederen Beweggründen gespeiste Verweigerung eines Vertragsschlusses mag in Ausnahmesituationen als vorsätzlich-sittenwidriges, nach § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtendes Verhalten erscheinen, wobei Ersatz des Schadens eben gerade im Vertragsabschluss besteht. Doch selbst diese geringe rechtspraktische Bedeutung hat § 826 BGB durch das AGG eingebüßt. Beispiel: Ein Deutscher und ein Schwarzafrikaner mit kenianischem Pass betreten an einem heißen Sommertag nach langer Wanderung sehr durstig ein einsam gelegenes Waldgasthaus und bestellen je ein Bier. Der immer noch - oder schon wieder - „völkisch“ gesinnte Gastwirt weigert sich, dem Afrikaner ein Bier zu verkaufen: Trotz fehlender Drittwirkung des Art. 3 GG Pflicht zum Vertragsschluss jedenfalls nach § 21 i. V. m. § 19 AGG zur Vermeidung einer Diskriminierung wegen Herkunft und Rasse, daneben Kontrahierungszwang wohl auch aus § 826 BGB. Einen natürlichen Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben weist § 824 BGB auf: Wer die Bonität, die Kreditwürdigkeit eines anderen, durch falsche Behauptungen zumindest fahrlässig beeinträchtigt, ist für den daraus entstandenen Schaden verantwortlich. Der Schaden kann beispielsweise in einem vom Kreditnehmer deshalb zu zahlenden höheren Zins bestehen; vielleicht müssen Investitionen auch ganz unterbleiben, wodurch langfristige Schadenseffekte durch Umsatzeinbußen etc. eintreten. Allerdings geht auch hier das UWG vor, insbesondere also dann, wenn die Kreditschädigung durch ein konkurrierendes Unternehmen ausgelöst wird. Eine wiederum generell relevante Haftungsnorm bildet mit der Anordnung einer Haftung für Verrichtungsgehilfen § 831 I 1 BGB, dessen unternehmensrechtliche Bedeutung in personalwirtschaftlichem Kontext deutlicher erkennbar wird. Nach seinem Vorbild ist auch § 832 I BGB konstruiert, demzufolge Eltern für das (tatbestandsmäßige und) widerrechtliche schadensverursachende Verhalten ihrer minderjährigen Kinder haften. Diese Elternhaftung beruht wie bei § 831 I 1 BGB auf vermutetem Verschulden, hier der Eltern. Sie können diese Vermutung jedoch widerlegen, indem sie dartun, <?page no="281"?> 254 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse dass sie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sind. Diese sog. Exkulpation greift mit wachsendem Alter der minderjährigen Kinder freilich häufig schon dann, wenn die Eltern die Kinder über die Gefahren des Lebens und über die Gegeninstrumente hinreichend aufgeklärt haben. Von einem generellen Satz „Eltern haften für ihre Kinder“ kann demnach überhaupt nicht die Rede sein, und natürlich spielt keine Rolle, ob auf die Geltung des § 832 BGB und seinen Inhalt an Ort und Stelle etwa an Baustellen durch ein Schild hingewiesen wird: Sind die Voraussetzungen dieser Norm erfüllt, haften die Eltern, ansonsten nicht mit oder ohne Schild. Beispiel: Die Eltern E des HIV-positiven 15-jährigen Sohnes S, der von diesem Befund Kenntnis hat, können nicht faktisch verhindern, dass er seine Sexualpartner infiziert (Gesundheitsverletzung nach § 823 I BGB). Neben einer Haftung von S bei Vorsatz (Eventualdolus genügt! ) oder Fahrlässigkeit („es wird schon gut gehen! “) haften die Eltern jedenfalls dann nicht, wenn sie auf die Gefährlichkeit und die Übertragungswege des Erregers hingewiesen und S mit dem Gebrauch von Kondomen praktisch vertraut gemacht hatten. Die Haftung des S scheitert übrigens nicht an seinem Alter: S ist nach § 828 II 1 BGB zwar nur beschränkt zurechnungsfähig, aber mit der HIV-Thematik sind 15-Jährige heutzutage gewiss nicht überfordert. Für Immobilien als Teile des Betriebsvermögens kann die Gebäudehaftung nach §§ 836-838 BGB eine wirtschaftlich bedeutende Rolle spielen. Nur auf den ersten Blick handelt es sich zumindest bei § 836 BGB um eine überflüssige Vorschrift, weil eine schuldhaft schlechte Konstruktion oder Unterhaltung eines Gebäudes und ein dadurch kausal vermittelter Personen- oder Sachschaden doch schon nach § 823 I BGB zum Schadensersatz verpflichten. Wie die Textfassung von § 836 I BGB zeigt, wird das Verschulden des Gebäudeeigentümers bzw. des Besitzers (§ 837 BGB) oder Unterhaltungspflichtigen (§ 838 BGB) aber im Gegensatz zu § 823 I BGB vermutet: Praktisch häufige diesbezügliche Beweisschwierigkeiten wirken wegen dieser Verschuldensvermutung also zu Lasten des auf Schadensersatz in Anspruch Genommenen. Konsequenz ist eine Schadensersatzpflicht schon dann, wenn dem Richter nicht zur vollen Überzeugung dargetan werden kann, dass die im Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt doch beachtet wurde. Abschließend ist noch auf die besondere deliktsrechtliche Gutachterhaftung nach § 839a BGB hinzuweisen. Sie trifft nur gerichtlich bestellte Gutachter und setzt deren vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführte Unrichtigkeit des Gutachtens voraus. Nur leichte Fahrlässigkeit reicht hier, anders als sonst im Deliktsrecht, also nicht. Geschützt sind ferner nur Verfahrensbeteiligte, nicht sonstige Geschädigte. <?page no="282"?> 4. Exkurs: Negatorischer Rechtsschutz und Verwandtes 255 4. Exkurs: Negatorischer Rechtsschutz und Verwandtes Der Eigentümer kann vom Besitzer i. S. des § 854 I BGB, also von demjenigen, der die faktische Einwirkungsmöglichkeit hat, grundsätzlich nach dem schon mehrfach zitierten § 985 BGB Sachherausgabe verlangen. Dieser Anspruch besteht nach § 986 BGB aber dann nicht, wenn der Besitzer dem Eigentümer gegenüber ein Recht zum Besitz hat, die Sache also z. B. vom Eigentümer gemietet hat (§ 986 I 1 BGB). In einem solchen Fall finden nach h. M. auch die §§ 987 ff. BGB keine Anwendung. Auch sie setzen also wie § 985 BGB voraus, dass der Besitzer dem Eigentümer gegenüber kein Besitzrecht hat. Nur diese Situation nennt die h. M. übrigens (recht missverständlich) „Eigentümer-/ Besitzerverhältnis“. Einen Herausgabeanspruch gewährt im Interesse des Rechtsfriedens § 861 I BGB sogar dem bloßen (früheren) Besitzer, selbst wenn dieser keinerlei Recht zum Besitz auf seiner Seite hat, jedenfalls in den Grenzen des § 861 II BGB. Beispiel: D hat dem E eine goldene Uhr gestohlen, wird seinerseits nun aber Opfer des Räubers R: Herausgabeanspruch des D gegen R nach § 861 I BGB! Oft wird das Eigentumsrecht aber in anderer Weise als durch Besitzentzug verletzt. Beispiele: Der Nachbar überschreitet mit seinem Neubau die Grundstücksgrenze. Die Hauswand wird mit der Parole „Jura weg“ beschmiert. Der Lack des Autos wird verkratzt. Gegen derartige Rechtsverletzungen gewährt § 1004 I BGB Schutz: Vom „Störer“ kann ohne Rücksicht auf irgendwie geartetes Verschulden nach § 1004 I 1 BGB „Beseitigung“ des rechtsverletzenden Zustandes unter Übernahme der Beseitigungskosten verlangt werden, Schadensersatz dagegen nur über § 823 (I) BGB, also nur bei Verschulden. Deshalb ist äußerst wichtig, aber zumeist recht schwierig zu entscheiden, wo begrifflich die Störungsbeseitigung aufhört und der Schadensersatz anfängt. Mit Rücksicht auf diesen definitorischen Zusammenhang muss Richtlinie der Abgrenzung deshalb sein, dass „Beseitigung“ entgegen dem Wortsinn hier gleichsam nur das Abstellen der Störungsquelle betrifft, nicht jedoch die darüber hinausgehende Herstellung des früheren Zustandes durch Beseitigung der Einwirkungsfolgen. Beispiel: X leitet das Oberflächenwasser seines Grundstücks auf das Grundstück des Y, wodurch das dortige Gelände versumpft: Nach § 1004 I BGB kann Y sicher eine andere Wasserführung von X verlangen, aber wohl nicht Trockenlegung oder Austausch des versumpften Bodens etc. Sind weitere derartige Störungen zu befürchten, richtet sich der Anspruch insofern auf Unterlassung (§ 1004 I 2 BGB). Nicht ausdrücklich aufgeführt, aber sinngemäß in § 1004 I BGB enthalten ist der vorbeugende Unterlassungsanspruch: Droht erstmals ernsthaft eine Eigentumsstörung, so braucht <?page no="283"?> 256 VII. Wichtige Funktionszusammenhänge gesetzlicher Schuldverhältnisse selbstverständlich nicht gewartet zu werden, bis sich die Gefahr realisiert hat, sondern kann bereits jetzt Unterlassung der drohenden Störung verlangt werden. Beispiel: X aus dem Vorbeispiel verlegt die zur Wasserleitung bestimmten Rohre. Ausgeschlossen sind die sog. negatorischen Ansprüche des § 1004 I BGB, wenn die Störung zu dulden ist (§ 1004 II BGB, vergleichbar dem § 986 BGB). Solche Duldungspflichten ergeben sich wiederum aus Gesetz. Beispiele dafür bilden z. B. § 905 S. 2 BGB sowie ferner der sog. Überbau (§ 912 BGB) und der Notweg (§ 917 BGB). Wirtschaftlich wichtig ist vor allem auch § 906 BGB und darüber weit hinausgehend § 14 BImSchG hinsichtlich betrieblich bedingter Immissionen bei endgültiger Betriebsgenehmigung. Rechtsquelle von Duldungspflichten können auch Verträge sein (z. B. die übernommene Verpflichtung, ein Auto als Werbeträger zur Verfügung zu stellen und demnach Verpflichtung zur Duldung entsprechender Aufkleber etc.). Vielfach werden Duldungspflichten auch aus dem sog. nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis für begründbar gehalten: Grundstücksnachbarn sollen nach wohl h. M. letztlich allein schon wegen ihrer räumlichen Verbundenheit aus dem „Treu und Glauben“-Gedanken manche Unbill zu akzeptieren haben. Beispiel: Nachbars Katze bewegt sich ganz ungeniert auf meinem Grundstück: Duldungspflicht! Der „Störer“, gegen den sich der negatorische Anspruch richtet, kann nur ein Rechtssubjekt sein, weil die Schuldnerstellung ja Rechtsfähigkeit voraussetzt. Ein auf das Grundstück gefallener Baum des Nachbargrundstückes oder die Nachbarskatze aus dem Vorbeispiel kommen als „Störer“ und Anspruchsgegner selbstverständlich nicht in Betracht. Störer ist vielmehr der Nachbar jeweils als Eigentümer. Neben diesem sog. Zustandsstörer kennt die Dogmatik auch noch den sog. Handlungsstörer, also dasjenige Rechtssubjekt, das durch eigenes Verhalten die Störung bewirkt. Handlungsstörer ist also z. B. diejenige Person, die das fremde Grundstück betritt, oder derjenige, der das Auto zerkratzt. Besondere rechtliche Fähigkeiten sind dabei nicht vorausgesetzt, namentlich nicht Geschäftsfähigkeit (es geht um Realakte! ) oder Deliktsfähigkeit (es geht nicht um Schadensersatz! ). Der negatorische Rechtsschutz zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsordnung, ohne überall offen zutage zu liegen. So ist z. B. § 894 BGB ebenfalls Teil dieser Rechtsmaterie: Der wahre, aber nicht eingetragene Grundstückseigentümer wird in seiner Rechtsstellung durch den eingetragenen, aber nur scheinbaren „Eigentümer“ in anderer Weise als durch Besitzentzug beeinträchtigt. Da die Grundbuchberichtigung, also die Störungsbeseitigung, aber die Zustimmung des Buchberechtigten als des Voreingetragenen i. S. der GBO erfordert, gewährt § 894 BGB einen eben darauf <?page no="284"?> 4. Exkurs: Negatorischer Rechtsschutz und Verwandtes 257 gerichteten Anspruch. Augenfällig ist hingegen die konzeptionelle Anlehnung z. B. des Besitzschutzes an den Eigentumsschutz: Wie schon § 985 BGB in § 861 I BGB seine Entsprechung hat, so ist auch der negatorische Rechtsschutz hinsichtlich Störungsbeseitigung und -unterlassung jedenfalls im Ansatz beide Male gleich ausgestaltet (§§ 1004 I, 862 BGB). Ansonsten vorhandene, empfindliche Rechtsschutzlücken werden dadurch geschlossen. Beispiel: Wohnungsmieter A wird von Wohnungsmieter B neben ihm zuweilen durch eine 300-Watt-Stereoanlage beschallt, sprich: gestört. A kann direkt von B Beseitigung und Unterlassung nach § 862 I BGB verlangen. Ansonsten könnte A auf Grund des Mietvertrages allenfalls vom Vermieter V ein Einschreiten gegen B verlangen (vgl. für A-V § 535 I 2 BGB, für B-V ist an § 541 BGB zu denken). Dem negatorischen Rechtsschutz beim Eigentum nachgebildet sind ferner die gesetzlichen Störungsabwehrbefugnisse des Inhabers beschränkter Sachenrechte, z. B. des Pfandgläubigers (§ 1227 BGB), des Wohnungseigentümers (§ 34 II WEG), des Urheberberechtigten und Patentinhabers (§§ 97 UrhG, 139 PatG). Dasselbe gilt für zahlreiche andere, jedermann gegenüber wirkende, also „absolute“ Rechtspositionen (vgl. nur noch §§ 12 BGB, 37 II HGB, 14 f. MarkenG). Im Wege der Gesamtanalogie kann § 1004 I BGB demnach ganz allgemein für alle absoluten Rechtspositionen herangezogen werden, auch wenn es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Norm dafür fehlt. Quasinegatorische Ansprüche bestehen also z. B. auch bei drohenden Tötungen, Körper- und Gesundheitsverletzungen, Freiheitsberaubungen, Eingriffen in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht etc. Wegen dieser zu § 1004 I BGB zu ziehenden Analogie muss niemand die Verletzung von den in § 823 I BGB genannten Rechtsgütern und Rechten hinnehmen, um dann auf Schadensersatzansprüche beschränkt zu sein („dulde und liquidiere“). Die neuere Gesetzgebung hat diesen Grundgedanken sogar wieder normtextlich zum Ausdruck gebracht (vgl. § 21 Abs. 1 AGG). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang nochmals, dass es für negatorische wie für quasinegatorische Ansprüche auf Verschulden nicht ankommt, so dass derartige Abwehransprüche etwa auch gegenüber nicht deliktsfähigen Personen greifen, die vor Schadensersatzansprüchen fast (§ 829 BGB! ) sicher sind. Soweit sich der quasinegatorische Rechtsschutz auf die Rechtsgüter und Rechte des § 823 I BGB bezieht, kann man zugleich von „deliktischen“ Beseitigungs- und Unterlassungsansprüchen reden. Auf diesem Weg hat die Dogmatik noch weiter gedacht: Ganz generell sind Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche anerkannt, um die drohende Verwirklichung von Deliktstatbeständen schon im Vorfeld abzuwenden. Dieser Ansatz kommt zum Tragen, wo das Schadensersatzrecht nicht spezifisch an die Beeinträchtigung absoluter Rechte anknüpft, wie etwa bei § 823 II BGB i. V. m. Schutzgesetzverletzungen, und bei den §§ 824, 826 BGB. Damit sind (vorbeu- <?page no="285"?> 258 VIII. Schadensersatzrecht gende) Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche nicht nur als unverzichtbare Flankierung, ja als Basis des Schadensersatzrechtes praktisch überall im Privatrecht präsent, sondern tragen auch zum tieferen Verständnis der Rechtsordnung bei: Die Notwehr etwa stellt sich in diesem Licht als Durchsetzung des deliktischen Abwehranspruches in Selbsthilfe dar. Auch bei der Notwehr ist somit § 229 BGB zu beachten, also insbesondere die dort normierte Subsidiarität des eigenmächtigen Rechtsschutzes. Beispiel: Wer überfallen wird, darf keine Notwehr üben, wenn „obrigkeitliche Hilfe“ in Gestalt eines Polizeibeamten verfügbar ist. VIII. Schadensersatzrecht 1. Schadensersatz und Bereicherungsabschöpfung Zahlreiche Normen sind Anspruchsgrundlagen für Schadensersatz, etwa im Zusammenhang mit Leistungsstörungen, GoA oder Delikten. Alle diese Normen ordnen nur an, dass unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt Schadensersatz geschuldet wird, sagen aber nichts darüber, wie und in welchem Umfang Schadensersatz zu leisten ist. Das in Folgendem zu skizzierende Schadensersatzrecht ist also nicht auf die Voraussetzungen von Schadensersatzansprüchen, sondern auf die Rechtsfolge Schadensersatz abgestellt. Die hier zu klärenden Fragen sind grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich z. B. um einen vertragsrechtlichen Schadensersatzanspruch (§§ 280 ff. BGB) oder um einen solchen aus unberechtigter GoA (§ 678 BGB), Delikt (§§ 823 ff. BGB), Gefährdungshaftung (z. B. § 1 I ProdHaftG) oder sonstigen Rechtsgründen (z. B. §§ 122, 179 BGB) handelt. Der Gesetzgeber hat die Antworten darauf deshalb aufbaulogisch konsequent im Allgemeinen Schuldrecht (§§ 249 ff. BGB) gegeben, was Modifikationen dieser Regulierungsgrundsätze in der jeweiligen haftungsrechtlichen Spezialmaterie nicht ausschließt. Voll verständlich sind alle diese Normen über die Schadensregulierung nur vor dem Hintergrund der Einsicht, dass Schadensersatz und Bereicherungsabschöpfung letztlich nichts miteinander zu tun haben. Es führt deshalb gedanklich in die Irre, etwa die zweifelhafte Höhe eines entstandenen Schadens durch die oft besser messbare Bereicherung des Haftpflichtigen zu bestimmen: Der für das Schadensersatzrecht maßgebliche Anknüpfungspunkt ist die Einbuße im Rechtskreis des Anspruchsgläubigers, nicht der Zuwachs auf Seiten des Schadensersatzschuldners, selbst wenn dieser Zuwachs, wie z. B. beim Diebstahl einer Sache, substanziell dem Verlust entsprechen sollte. Deshalb entfällt ein Schadensersatzanspruch eben nicht beim Wegfall der <?page no="286"?> 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes 259 Bereicherung des Schuldners, wohl aber gemäß § 818 III BGB grundsätzlich ein Bereicherungsanspruch. Auch dort, wo das Gesetz eine abstrakte Schadensberechnung nach der wahrscheinlichen Entwicklung der Dinge zulässt (vgl. vor allem § 252 S. 2 BGB), darf dieses Wahrscheinlichkeitsurteil deshalb nicht darauf gestützt werden, welchen Gewinn der Schädiger seinerseits tatsächlich gezogen hat. Schaden und Bereicherung sind eben nicht logisch notwendig, allenfalls oft Null-Summen-Spiele. Eben darum bedeutet es eine ganz große Besonderheit, wenn dem Geschädigten im Rahmen der spezifisch ja auf Schadensersatz gerichteten Verschuldenshaftung ein gesetzliches Wahlrecht eingeräumt wird, statt Ersatz seines möglicherweise sehr geringen Schadens unabhängig von einer Kondiktion - Abschöpfung der Bereicherung der Gegenseite zu verlangen, wie dies § 97 II 2 UrhG tut. § 97 II 2 UrhG zieht damit die Konsequenz daraus, dass die Verletzung des Urheberrechts sonst nur sehr unvollkommen sanktioniert wäre. Denn hier decken sich wie auch bei den traditionell sog. gewerblichen Schutzrechten Patent, Gebrauchsmuster, Geschmacksmuster und Marken geradezu typischerweise Schaden und Bereicherung nicht. Deshalb ist § 97 II 2 UrhG als Ausdruck eines allgemeinen, freilich nur in den genannten Materien gültigen Gedankens zu werten und in diesen Bereichen analog anzuwenden. Damit wird in wirtschaftlich besonders herausgehobenen Rechtsfeldern der Rechtsschutz erheblich effektiviert. Davon profitieren namentlich der auf der Schiene des Urhebergesetzes aufgegleiste Softwareschutz und der markenrechtlich gewährleistete Schutz des Markenartikels. Eine ähnliche Kombination von Schadensersatz und Abschöpfung einer erlangten Bereicherung findet sich im Wettbewerbsrecht (vgl. §§ 33 f. GWB, §§ 9 f. UWG), wobei die Mehrerlösbzw. Gewinnabschöpfung allerdings dem Staat zugute kommt. Eben deshalb spielt § 10 I UWG in der Praxis keine Rolle, weil niemand das Risiko eines Prozessverlustes auf sich nehmen möchte, wenn er nicht aus einem Prozessgewinn Vorteil ziehen kann. 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes a) Naturalrestitution Nach § 249 I BGB hat ein Schadensersatzpflichtiger einen Zustand herzustellen, der wirtschaftlich dem Zustand ohne das haftungsauslösende Ereignis entspricht. Es ist also der faktische Ereignisablauf mit einem hypothetischen zu vergleichen. Die Differenz zwischen beiden Zuständen ist begrifflich der Schaden. Das faktische Geschehen kann nun nicht ungeschehen gemacht werden. Deshalb kann das Gesetz sinnvollerweise auch nicht „Wiederherstel- <?page no="287"?> 260 VIII. Schadensersatzrecht lung“ des früheren bzw. schadensfreien Zustandes verlangen. Aber das heißt eben auch nicht lediglich eine monetäre Bewertung dieses Schadens und Geldersatz. Geschuldet sind und auch nur verlangt werden können deshalb also grundsätzlich Realleistungen. Angesagt ist deshalb beispielsweise Reparatur der beschädigten Sache. Bei Zerstörung einer vertretbaren Sache, bei der die Individualität definitionsgemäß ja keine Rolle spielt, ist ein gleiches Exemplar zur Verfügung zu stellen. Bei Eingriffen in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, etwa durch Aufstellen ehrenrühriger falscher Behauptungen, sind die Äußerungen zu widerrufen etc. Das Gesetz statuiert mithin das Prinzip der Naturalrestitution. Der Grundsatz der Naturalrestitution erfährt allerdings zahlreiche Ausnahmen. So kann nach § 249 II 1 BGB der Schadensersatzgläubiger bei Personen- oder Sachschäden nach seinem freien Belieben statt Naturalrestitution den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen, statt Operation und Pflege durch den Schädiger(! ) also Ersatz der Krankenhauskosten, statt der Beseitigung des Unfallschadens am Auto durch den Schädiger selber (auch wenn dieser Inhaber einer Werkstatt sein sollte) also Ersatz der Reparaturkosten in einer Werkstatt nach Wahl des Geschädigten. Dabei ist zu merken, dass der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag auch dann verlangt werden kann, wenn er dafür ganz zugegebenermaßen gar nicht verwendet werden soll. Umsatzsteuer kann dabei aber gemäß § 249 II 2 BGB nicht in Ansatz gebracht werden. Beispiel: Das beschädigte Auto hat schon so manche Beule aufzuweisen, weshalb sein Eigentümer es vorzieht, die Euro 500, die die Reparatur kosten würde, lieber zur Finanzierung einer Urlaubsreise zu verwenden. Dass die (fiktiven) Kosten der Naturalrestitution auch dann ersetzt verlangt werden können, wenn die Naturalrestitution gar nicht erfolgt, gilt auch im Verhältnis zum Pflicht-Haftpflichtversicherer bei Geltendmachung des Direktanspruches, so dass die Versicherungsleistung (Geldzahlung) nicht von der Vorlage einer Rechnung, sondern allenfalls von der Vorlage eines Kostenvoranschlages abhängig gemacht werden kann. Ganz allgemein, nicht nur im Fall des § 249 II BGB, kann der Gläubiger das Prinzip der Naturalrestitution verlassen, wenn nach Verstreichen einer gesetzten, für den Einzelfall angemessenen Frist und einer Ablehnungsandrohung der reale Schadensausgleich nicht erfolgt ist (§ 250 BGB). Dann freilich kann auch nicht mehr auf Naturalrestitution beharrt werden. Vielmehr ist jetzt nur noch Geldersatz geschuldet. Anders gelagert ist die durch § 251 I BGB angeordnete Ausnahme. Hier kann überhaupt und von vornherein nur Geldersatz verlangt werden. Denn der Schadensausgleich hat selbstverständlich dann in Geld zu erfolgen, wenn eine Naturalrestitution gar nicht möglich ist (§ 251 I, 1. Alt. BGB). Denn das Recht kann sinnvollerweise niemandem etwas Unmögliches abverlangen. Auf diesem <?page no="288"?> 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes 261 Gedanken beruht auch § 275 I BGB. Beispiel: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen verbrennt als Folge schuldhafter Brandstiftung; das (gebrauchte) Auto keine vertrebare Sache erleidet einen Totalschaden. Dasselbe gilt nach dieser Norm, wenn Naturalrestitution zur Entschädigung nicht genügt (§ 251 I, 2. Alt. BGB). Das dürfte praktisch ebenfalls auf Unmöglichkeit der Naturalrestitution hinauslaufen. Beispiel: Ein einmal beschädigtes Auto erzielt als „Unfallwagen“ auch bei fachmännischer Reparatur nur einen geringeren Verkaufserlös (sog. merkantiler Minderwert), was nach § 251 I BGB in Geld zu ersetzen ist. Demgegenüber gibt § 251 II 1 BGB dem Schadensersatzschuldner grundsätzlich (vgl. aber auch § 251 II 2 BGB) die Wahl, Naturalrestitution zu verweigern und stattdessen Geldersatz zu leisten, wenn die Kosten der Naturalrestitution unverhältnismäßig hoch wären. Auch hier findet sich eine Parallele im Recht der Leistungsstörungen, nämlich in § 275 II BGB. Beispiel: Student S zerreißt in der Jura-Vorlesung aus aufgestauter Wut die mit sichtbaren Nutzungsspuren versehene BGB-Textausgabe seiner Kommilitonin K. Gerade im Zusammenhang mit § 251 I BGB stellt sich häufig das Problem der Nichtvermögensschäden, solcher Schäden also, die ihrem Wesen nach nicht monetär bewertbar sind. Was ist beispielsweise Zahnschmerz am Weihnachtsfest „wert“? Mit § 251 I BGB in Berührung treten diese Schadensposten deshalb so häufig, weil bei ihnen auch oft Naturalrestitution nicht möglich oder nicht genügend ist. Bei verletzter Ehre etwa ist der Widerruf der ehrenrührigen Behauptung in aller Regel kein voller Schadensersatz (in Form der Naturalrestitution), denn etwas bleibt eben immer „hängen“ (lat. „semper aliquid haeret“). Der erlittene Schmerz lässt sich nicht nachträglich aus der Welt schaffen, die verminderte Lebensfreude durch die Amputation eines Beines kann auch durch die beste Prothese nicht ausgeglichen werden etc. Gerade in diesen Fällen aber blockiert das Gesetz mit § 253 I BGB grundsätzlich den Geldersatz, und zwar aus einem logisch zwingenden Grund: eben weil solche Schäden definitionsgemäß nun einmal nicht in Geld bewertet werden können. Diese logische Ausweglosigkeit bleibt bestehen, auch wenn § 253 II BGB in Ausnutzung des Vorbehalts von § 253 I BGB einen Geldersatz für immaterielle Schäden im Zusammenhang mit einer Körperverletzung bzw. Gesundheitsbeeinträchtigung sowie Freiheitsentziehung und Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (vgl. § 825 BGB) gewährt, wobei diese Aufzählung nach ganz h. M. um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) zu erweitern ist. Die gesetzlich genannte sexuelle Selbstbestimmung ist im Übrigen ihrerseits ja nur ein Ausschnitt aus der APR. Und hierin gründet letztlich wohl auch §§ 15 <?page no="289"?> 262 VIII. Schadensersatzrecht II, 21 II 2 AGG, der bei Verstößen gegen die Benachteiligungsverbote der §§ 7 bzw. 19 AGG unbeschadet weiterer Ansprüche einen Anspruch auf „eine angemessene Entschädigung in Geld“ vorsieht. Als immaterieller Schaden im Zusammenhang mit einer Körperverletzung sind Schmerzen nun besonders häufig. Deshalb wird hier oft von Schmerzensgeld gesprochen. § 253 II BGB geht darüber aber eben wie gesagt weit hinaus. Beispiele: Einbuße an Lebensfreude, weil infolge des Verlustes eines Fingers kein (privates) Klavierspiel mehr möglich ist. Psychische Beeinträchtigungen bzw. soziale Kontaktschwierigkeiten durch erhebliche Gesichtsverbrennungen oder durch ehrverletzende falsche Behauptungen, z. B. man sei „Sittlichkeitsverbrecher“. Intimitätsverlust durch Verarbeiten personenbezogener Daten. Auch nach Entschuldigung verbliebene Kränkung, weil man als Afrikaner wegen seiner ethnischen Herkunft und Rasse im Restaurant nicht bewirtet wurde. Aus welchem Rechtsgrund heraus (Leistungsstörung, Delikt, Gefährdungshaftung etc.) Schadensersatz geschuldet wird, ist gleichgültig, wie sich aus der Stellung des § 253 II BGB im Allgemeinen Schuldrecht ergibt. Die zahlreichen Verweisungen auf § 253 II BGB in anderen Gesetzen (vgl. z. B. §§ 87 AMG, 11 StVG, 6 HaftPflG, 8 ProdHaftG, 13 UmweltHG) sind deshalb überflüssig und verwirrend. Verwirrend ist der Vorbehalt des § 253 I BGB auch insofern, als in den dort „durch das Gesetz bestimmten Fällen“ keinerlei Abweichung gegenüber § 253 II BGB angeordnet ist. Faktisch wird der in § 253 I BGB erklärte Vorbehalt also einzig und allein mit § 253 II BGB ausgefüllt. Der Geldersatz von Nichtvermögensschäden hat nach § 253 II BGB allerdings noch weitere, über die Verletzung der genannten Rechtsgüter (zuzüglich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts) hinausreichende Voraussetzungen: Grundsätzlich darf der immaterielle Schaden kein Bagatellschaden sein, sondern muss eine gewisse Erheblichkeit aufweisen. Unerhebliche immaterielle Einbußen sind nur dann in Geld ersatzfähig, wenn sie auf Vorsatztaten beruhen. Beispiel: T fügt der O „zur Strafe“ einen winzigen Schnitt in der Hand zu: An sich harmlose, „unerhebliche“ Verletzung. Da T aber im Rahmen des § 823 I BGB und wohl auch § 826 BGB vorsätzlich gehandelt hat, muss er als Schadensersatz auch „Schmerzensgeld“ leisten. Da das Gesetz hier Unmögliches schlicht für möglich erklärt (nämlich einen Nichtvermögensschaden in Geld zu ersetzen), darf man sich über die enormen Einschätzungsschwankungen bei der monetären Bewertung immaterieller Schäden durch die Rechtsprechung nicht wundern und schon gar nicht darüber mokieren, wie dies die Öffentlichkeit zu tun pflegt. Auf die grundsätzlichen Bemessungsprobleme der „billigen Entschädigung in Geld“ (so § 253 II BGB) als Ersatz des Nichtvermögensschadens und der <?page no="290"?> 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes 263 hierbei angeblich zu berücksichtigenden, sehr ominösen Genugtuungsfunktion kommt es allerdings häufig gar nicht an. Denn bei genauerer Betrachtung stellt sich der in Rede stehende Schaden seiner Art nach oft durchaus als Vermögensschaden dar. Denn mittlerweile sind früher viele als Nichtvermögensschäden zu klassifizierende Einbußen kommerzialisiert worden, sind also durch die ökonomische Entwicklung zu (unkörperlichen) Wirtschaftsgütern geworden. Dies zeigt sich daran, dass sie „käuflich“ sind, einen Marktpreis haben. Beispiele: Entzug der Gebrauchsmöglichkeit eines Kfz (fiktive Mietwagenkosten abzüglich eines von der Rechtsprechung nicht einheitlich bestimmten, aber jedenfalls erheblichen Betrages). Vereitelter Kunstgenuss, weil einem Konzert nicht beigewohnt werden konnte (monetär bewertbar durch eine Konzertkarte). Einen gesetzlichen Ausdruck hat diese Kommerzialisierung originärer Nichtvermögensschäden in § 651f II BGB gefunden: Wird eine (Pauschal-) Reise vereitelt oder erheblich beeinträchtigt, so kann der Reisende im Rahmen eines ihm zustehenden Schadensersatzanspruches auch wegen der nutzlos aufgewendeten Urlaubszeit eine „angemessene Entschädigung in Geld“ verlangen, deren Bemessungsgrundlage der Reisepreis ist. b) Totalreparation § 249 I BGB ist insofern ein sprachliches Meisterwerk, als er für die Schadensregulierung nicht nur das Prinzip der Naturalrestitution festschreibt. Ist nämlich der Zustand herzustellen, der ohne das schadensstiftende Ereignis bestünde, so liegt darin zugleich das Prinzip der Totalreparation beschlossen: Liquidierbar sind grundsätzlich alle durch das Schadensereignis kausal vermittelten Einbußen, dabei freilich nur diejenigen im Rechtskreis des Schadensersatzgläubigers (grundsätzliche Unzulässigkeit der sog. Drittschadensliquidation). Dabei zu berücksichtigen ist auch der entgangene Gewinn (§ 252 S. 1 BGB), was zur Liquidierbarkeit von Opportunitätskosten führt. Hinsichtlich dieser sog. haftungsausfüllenden Kausalität gilt nichts anderes als für die den Anspruch erst auslösende, haftungsbegründende Kausalität. Besonders zu beachten ist, dass es für die Berücksichtigung dieser Schadensposten nicht darauf ankommt, ob sie vom Schädiger gewollt oder wenigstens vorhersehbar waren. Das Verschulden in § 823 I BGB beispielsweise muss sich lediglich auf den tatbestandsmäßigen, zur Haftungsbegründung gehörenden Schaden (an „Leben, Körper ...“) beziehen. Die h. M. neigt allerdings dazu, trotz bestehender Kausalität den Haftungsumfang mit Hilfe der sog. Adäquanztheorie zu begrenzen: Völlig fernliegende, „inadäquate“ Folgen sollen demnach nicht <?page no="291"?> 264 VIII. Schadensersatzrecht mehr in den Schadensersatz einbezogen werden. Die h. M. verkennt damit freilich das Wesen der Kausalitätsfeststellung. Beispiel: A verursacht im Jahre 1921 fahrlässig-schuldhaft einen Unfall, wodurch B, der sich auf dem Weg zur Unterzeichnung eines lukrativen Vertrages befindet, einen Beinbruch erleidet. Unglücklicherweise rollt B den herbeigeeilten Sanitätern von der Tragbahre und bricht sich dabei auch noch den Arm. Endlich im Krankenhaus, zieht sich B dort eine heimtückische Infektion zu, die zu einer bleibenden Herz-Kreislaufschwäche führt. Ihretwegen erreicht B Jahre später - 1944 nicht mehr rechtzeitig den Luftschutzbunker und wird von einem Bombensplitter schwer getroffen. A ist dem B jedenfalls aus § 823 I BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Denkt man sich nun den Unfall hinweg, so hätte B aus dem geplatzten Vertrag wahrscheinlich (§ 252 S. 2 BGB) einen Nettogewinn von (umgerechnet) Euro 780.000 gezogen, wäre von den Sanitätern gar nicht auf die Bahre gelegt worden und hätte deshalb auch gar nicht herunterfallen können. Er hätte sich nicht infiziert und wäre letztendlich auch der Splitterverletzung entgangen. Für sämtliche Schäden ist A sonach in vollem Umfang haftbar, obwohl teilweise Ursache und Wirkung sehr weit entfernt voneinander liegen und von der Alltagsauffassung ganz unterschiedlich gewichtet werden (jedoch Maßgeblichkeit der „Äquivalenztheorie“! ) und allesamt von A weder gewollt (kein Vorsatz) noch für ihn vorhersehbar waren (keine Fahrlässigkeit). Schon im Prinzip der Totalreparation selber ist begrifflich beschlossen, dass der Geschädigte durch die Ersatzleistungen auch nicht besser gestellt werden soll, als er ohne das Schadensgeschehen stünde. Dies bedingt z. B. einen Abzug „neu für alt“. Beispiel: Reifenstecher Robert wird von Albert auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Albert kann für den von ihm beschafften Neureifen nach § 249 II 2 BGB nicht einfach den Kaufpreis ersetzt verlangen, sondern muss in Rechnung stellen, dass der zerstochene Reifen bereits eine Laufleistung von ca. 10.000 km aufwies, also mindestens zu 30% abgefahren war. Im Wege dieser sog. Vorteilsausgleichung muss der Geschädigte bei der Bemessung seines Schadensersatzanspruches von seinen Krankenhauskosten etwa ersparte Lebenshaltungskosten (Verpflegung, Benzinkosten für Fahrt zur Arbeitsstelle etc.) absetzen. Auf eben diesem Gedanken der Vermeidung einer Bereicherung durch Schadensersatzleistung beruht § 255 BGB, der eine Doppelentschädigung vermeiden will, dessen Handhabung im konkreten Fall freilich oft zweifelhaft sein kann. Anerkannt ist jedenfalls, dass Ansprüche aus einem Versicherungsvertrag nicht abgetreten werden müssen. Denn sonst hätte der Versicherungsnehmer mit seinen Prämien im Ergebnis ja die Schadensersatzleistung seines Haftpflichtschuldners selber finanziert. Dort, wo gesetzliche Vorschriften wie z. B. die §§ 86 VVG, 116 SGB X eine Legalzession vorsehen, ist eine Vorteilsausgleichung im vorgenannten Sinn schon gesetzlich ausgeschlossen, weil sonst gar kein Anspruch des Geschädigten auf die Versicherung mehr übergehen könnte, wie jene Vorschriften dies sinnge- <?page no="292"?> 2. Grundprinzipien des Schadensersatzes 265 mäß aber voraussetzen. Schon diese Aspekte zeigen, dass der zu ersetzende Schaden nicht allein durch ein Blick auf das faktische Geschehen festzustellen ist, sondern auch einer Wertung bedarf (sog. normativer Schadensbegriff). Damit in einem lockeren gedanklichen Zusammenhang steht die Möglichkeit einer abstrakten Schadensberechnung. Sie steht dem Schadensersatzgläubiger nur in seltenen Fällen zur Verfügung, wie z. B. bei der Berechnung des Verzugsschadens bei Geldforderungen nach § 288 I und II BGB oder beim Handelskauf gemäß § 376 II HGB: Wenn der Käufer Schadensersatz „wegen Nichterfüllung“, also statt der Leistung nach § 281 BGB verlangen kann, kann er, sofern die zu liefernde Ware einen Börsen- oder Marktpreis hat, als Schadensersatz den Unterschied zwischen Kaufpreis einerseits und aktuellem Börsen- oder Marktpreis am Leistungsort fordern. Damit nicht zu verwechseln ist das prozessökonomische Instrument der richterlichen Schadensschätzung nach § 287 ZPO. Echte Einschränkungen des „Alles oder Nichts“-Prinzips der Totalreparation finden sich durchweg im Bereich der Gefährdungshaftung. So werden im Einzelnen unterschiedlich z. B. in §§ 9, 10 HaftPflG, 12 StVG, 37, 46 LuftVG, 88 AMG sowie im Produkthaftungsgesetz ersatzfähige Höchstbeträge festgelegt. Vereinzelt findet sich eine Obergrenze des liquidierbaren Schadens auch bei der Verschuldenshaftung: Im Transportrecht wird grundsätzlich überhaupt nur begrenzt gehaftet (§§ 429 ff. HGB), die Totalreparation bildet die Ausnahme in Fällen besonders schweren Verschuldens des Frachtführers oder seiner Leute nach Maßgabe des § 435 HGB. Eine Haftungsbegrenzung gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Haftung des Beherbungsgastwirts nach § 702 I BGB (beachte aber auch die Totalreparation nach § 702 II BGB! ). In der Schadensregulierung eine ganz besondere Rolle spielt § 254 BGB, mit dem im praktischen Ergebnis vom Prinzip der Totalreparation im konkreten Einzelfall oft wenig übrig bleibt. Nach § 254 BGB hängt der Umfang des Schadensersatzes nämlich generell auch davon ab, inwieweit bei der Haftungsbegründung, also bei der Schadensentstehung (§ 254 I BGB) und der weiteren Schadensentwicklung (§ 254 II BGB) den Geschädigten oder Personen, die seine Interessen wahren (§ 254 II 2 BGB verlangt eine entsprechende Anwendung des § 278 BGB) ein Mitverschulden trifft. Ein solches Mitverschulden kann in unübersehbar vielen Erscheinungsformen auftreten. Beispiele: Nichtverwendung von Sicherheitsgurten im Zusammenhang mit Verletzungen bzw. Todesfällen bei Verkehrsunfällen. Nichtabschließen des Gebäudes im Zusammenhang mit Diebstählen. Mitverschulden an Vermögensschäden durch EC-Kartenmissbrauch, wenn PIN- Nummer und EC-Karte zusammen aufbewahrt oder die PIN-Nummer auf der EC-Karte notiert wurde und deshalb zusammen verloren gehen konnten. Mitverschulden an der Zerstörung des Hauses durch Brand, obwohl bei Vorhandensein eines funktionsfähigen Handfeuerlöschers der Anfangsbrand hätte <?page no="293"?> 266 VIII. Schadensersatzrecht gelöscht werden können. Die vorstehenden, für das Vorliegen eines Mitverschuldens wohl einschlägigen Beispiele dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prüfung des Mitverschuldens in der Praxis oft überaus schwierig ist und oft zu wenig überzeugenden Ergebnissen führt. Beispiele: Eine junge, attraktiv gekleidete Frau wird bei einem abendlichen Spaziergang im Park überfallen und erleidet dabei Verletzungen: selber (mit) schuld? Zuschauer eines Autorennens werden bei einem Unfall durch ein schleuderndes Fahrzeug verletzt: Sind sie selber (mit)schuld, weil sie überhaupt hingegangen sind? Oder nur, wenn sie im Bereich einer Außenkurve Platz genommen haben? Oder gar nicht? § 254 BGB knüpft an das Mitverschulden die Rechtsfolge der Schadensteilung, die im Extrem sogar zur Reduktion des liquidierbaren Schadens auf Null führen kann, obwohl auch hier der Schadensersatzanspruch begrifflich, dem Grunde nach, bestehen bleibt. Der Schadensersatzgläubiger kann also nicht mehr auf das Regulierungsprinzip der Totalreparation zurückgreifen. § 254 BGB statuiert damit eine Obliegenheit, auch wenn man im Zusammenhang mit § 254 BGB oft von der „Pflicht“ zur Schadensverhütung und -begrenzung des Geschädigten spricht. Diese Obliegenheit ist ihrerseits lediglich Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens (lat. „venire contra factum proprium“). § 254 BGB greift also nicht nur im Rahmen der vertraglichen oder deliktischen Verschuldenshaftung, obwohl in § 254 I BGB vom „Verschulden“ des Geschädigten die Rede ist, sondern auch gegenüber Ansprüchen aus Gefährdungshaftung. Dies ist häufig ausdrücklich klargestellt (vgl. z. B. §§ 9 StVG, 4 HaftPflG), gilt aber auch sonst (z. B. bei der Tierhalterhaftung des § 833 S. 1 BGB). 3. Erfüllungs- und Vertrauensschaden Im Zusammenhang mit gescheiterten oder gestörten Vertragsbeziehungen - und nur hier! taucht ein spezifisches Problem bei der Schadensbestimmung auf. Schaden ist ja begrifflich eine Differenz, und die hier nun gestellte Frage ist, mit welchem Idealzustand die gegenwärtige Lage des Schadensersatzgläubigers zu vergleichen ist: Ist der Gläubiger so zu stellen, wie er bei programmgemäßer Vertragsabwicklung stünde (sog. positives oder Erfüllungsinteresse), oder so, wenn er gar nicht auf die Wirksamkeit des Rechtsgeschäftes vertraut hätte, wenn er also von vornherein gewusst hätte, dass „aus der Sache nichts wird“ (sog. negatives oder Vertrauensinteresse). Von beiden Differenzansätzen macht das Gesetz Gebrauch. Dabei tauchen signifikante <?page no="294"?> 3. Erfüllungs- und Vertrauensschaden 267 sprachliche Wendungen auf. Wird Schadensersatz „statt der Leistung“ gewährt (z. B. in §§ 281 ff. BGB), so ist auf das Erfüllungsinteresse abzustellen. §§ 122 I und 179 II BGB beispielsweise beziehen sich hingegen auf den Schaden, den jemand dadurch erleidet, dass er auf eine bestimmte, dort näher bezeichnete Rechtslage „vertraut“, richten sich also auf Ersatz des negativen Interesses. Der Schaden kann dabei z. B. in Versand- oder Reisekosten bestehen. Ökonomisch gesehen geht es hier also um die Transaktionskosten des nichtigen Rechtsgeschäfts. Beispiel: K bestellt bei V Waren, die V durch einen Paketdienst dem K zuliefern lässt. Danach erklärt K wirksam die Anfechtung wegen Erklärungsirrtums (§ 119 I, 2. Alt. BGB). Wegen Wegfall des Kaufvertrages (§ 142 I BGB) entfällt zwar die Pflicht zur Kaufpreiszahlung, K muss dem V aber die Versandkosten gemäß § 122 I BGB ersetzen: Hätte V das rückwirkende Scheitern der Lieferbeziehung von Anfang an gekannt, hätte er natürlich keinen Transport veranlasst. Wird gestützt etwa auf § 122 I BGB - Ersatz des entgangenen Gewinns verlangt, so ist zu unterscheiden, ob das Vertrauens- oder das Erfüllungsinteresse verlangt wird. Soweit der Geschädigte so gestellt würde, als wäre das Rechtsgeschäft erfüllt worden, ist der entgangene Gewinn nicht zu ersetzen. Das ist der Fall, wenn er Ersatz des Gewinns aus dem nichtigen Rechtsgeschäft verlangt. Beispiel: K ist es auf Grund seines Verhandlungsgeschicks gelungen, von V Waren im Wert von Euro 900 für Euro 750 zu kaufen. V hat den Vertrag wirksam angefochten. K hätte einen Gewinn in Höhe von Euro 150 erzielt. Diesen kann er nicht als Vertrauensschaden liquidieren, da er dann so stehen würde, als wäre der Vertrag erfüllt worden. Hat der Geschädigte im Vertrauen auf den Bestand eines Rechtsgeschäfts einen anderen Vertrag nicht geschlossen, so ist dieser entgangene Gewinn jedoch als Teil des negativen Interesses zu ersetzen. Insoweit handelt es sich ökonomisch gesehen also um die Opportunitätskosten des nichtigen Rechtsgeschäftes. Beispiel: V vermietete eine Maschine an K für Euro 3.000. K erklärte wirksam die Anfechtung wegen Irrtums. V hatte mit Rücksicht auf den mit K geschlossenen Vertrag ein Angebot des D, der Euro 2.800 zahlen wollte, abgelehnt. V kann Ersatz von Euro 2.800 verlangen. Die Höhe des negativen Interesses kann die des positiven Interesses begrifflich überschreiten. In den Fällen der §§ 122 I, 179 II BGB bildet das positive Interesse jedoch ausdrücklich die obere Grenze des Schadensersatzanspruches. Der Geschädigte soll nicht besser gestellt werden, als er bei Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts stünde. Sonst würden dem Geschädigten ja Risiken abgenommen, die er bei programmgemäß abgewickeltem Vertrag selber hätte tragen müssen! <?page no="295"?> 268 VIII. Schadensersatzrecht Beispiel: V und K schließen einen Kaufvertrag, wozu V mit der Eisenbahn von seinem Wohnsitz zum Wohnsitz des K anreisen musste. Nach Rückkehr des V erklärt K wirksam die Anfechtung des Vertrages wegen Irrtums. V hätte einen Gewinn von Euro 2.700 gemacht. Seine Fahrtkosten beliefen sich auf Euro 35. Er macht geltend, wenn er nicht zu K gereist wäre, hätte er durch den Abschluss eines anderen Vertrages einen Gewinn von Euro 2.800 erzielt. Hätte V nicht auf die Wirksamkeit des Vertrages mit K vertraut, hätte er keine Fahrtkosten aufgewendet und den Gewinn von Euro 2.800 gemacht. Wegen der Begrenzung des negativen Interesses auf das positive Interesse aus dem angefochtenen Geschäft durch § 122 I BGB kann V jedoch nicht Euro 2.835, sondern nur Euro 2.700 verlangen. §§ 15 I, 21 II 1 AGG verpflichten bei einem Verstoß gegen die Diskriminierungsverbote des § 7 bzw. 19 AGG zu einem Schadensersatz eigener Art, wegen des Prinzips der Anspruchskonkurrenz (oder: Anspruchskumulation) natürlich unbeschadet anderer Ansprüche. Außerdem ist als Ersatz des Nichtvermögensschadens in diesen Fällen nach § 15 II 1 bzw. 21 II 3 AGG eine „angemessene Entschädigung in Geld“ zu leisten, wobei § 15 II 2 AGG eine Begrenzung in Höhe von 3 Monatsgehältern normiert. Während die Bemessung von Nichtvermögensschäden in Geld auch hier ein nicht lösbares logisches Problem aufwirft, stellt sich für §§ 15 I AGG und 19 II AGG schon die Frage, ob das Vertrauens- oder aber das Erfüllungsinteresse zu ersetzen ist. Für Letzteres fehlt es am gedanklichen Ansatzpunkt, da ja gerade kein Vertrag geschlossen wurde und deshalb jede Schadensbestimmung willkürlich erscheint. Außerdem wird der Gläubiger bei diesem Ansatz von Lebensrisiken auf Kosten des Schuldners freistellt. Beispiel: Wenn der arbeitssuchende A eingestellt worden wäre und nicht an seiner Statt gerade wegen ihres Geschlechts die Blondine B die ausgeschriebene „Position eines Chefsekretärs/ einer Chefsekretärin“ erhalten hätte, wäre er demnächst vielleicht (wirksam) gekündigt worden oder hätte auf Grund seiner Entscheidung zu einem anderen Unternehmen gewechselt. Auch hätte das Unternehmen, was ja keinesfalls ungewöhnlich ist, vielleicht Insolvenz anmelden müssen etc. Trotz der genannten Einwände sieht die h. M. den Schadensersatzanspruch nach §§ 15 I, 21 II 1 AGG auf Ersatz des Erfüllungsinteresses gerichtet, so dass nicht nur Fahrtkosten, Bewerbungskosten und ähnliche Posten des Vertrauensinteresses zu ersetzen sind. Ähnliche Schwierigkeiten bei der Bemessung eines Schadensersatzanspruches ergeben sich bei der culpa in contrahendo („cic“), wenn ohne die vorvertragliche Pflichtverletzung der Vertrag geschlossen worden wäre. So verhält es sich insbesondere beim nicht vollzogenen (engl.) letter of intent. Hier ist der Geschädigte im Einklang mit der insoweit im Blick auf die Auslegung der §§ 15 I, 21 II 1 AGG in sich nicht stimmigen, hier aber sachlich zutreffenden h. M. so zu stellen, wie er ohne die Vertrauensenttäuschung <?page no="296"?> 3. Erfüllungs- und Vertrauensschaden 269 stehen würde. Der Geschädigte kann in diesem Fall also nur Ersatz des negativen Interesses (Transaktionskosten, Opportunitätskosten) verlangen. Dabei ist der Schadensersatzanspruch nach dem Vorbild der §§ 122 I, 179 II BGB durch das positive Interesse begrenzt. Schließt umgekehrt der Käufer beispielsweise infolge unrichtiger Angaben des Verkäufers einen Vertrag, den er ohne die falsche Auskunft nicht geschlossen hätte, so kann er nach §§ 280 I, 311 II BGB als Schadensersatz aus „cic“ Rückabwicklung des Vertrages verlangen oder an ihm festhalten. Verlangt der Käufer, dass der Vertrag aufgehoben und rückabgewickelt wird, so bemisst sich der Schaden grundsätzlich danach, welche Aufwendungen der Geschädigte im Vertrauen auf die Richtigkeit der vom Schädiger erteilten Auskunft nutzlos erbracht hat. Ist eine Rückabwicklung nicht möglich oder hält der Geschädigte, der bei anfänglicher Kenntnis der wahren Sachlage den Vertrag nicht abgeschlossen hätte, nun daran fest, so ist der Käufer so zu stellen, als sei es ihm bei Kenntnis des wahren Sachverhaltes gelungen, den Kaufvertrag günstiger abzuschließen. Schaden ist der Betrag, um den im enttäuschten Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben überhöht gekauft wurde. Beispiel: K will von V Gesellschaftsanteile kaufen. V legt eine Bilanz vor, aus der sich ein Gewinn der Gesellschaft von Euro 10.000 ergibt. Tatsächlich hat diese einen Verlust in Höhe von Euro 1,5 Mio. Auf Grund der Angaben des V entschließt sich K, die Anteile zu erwerben. Nach Vertragsschluss erkennt K die wahre finanzielle Lage und muss Euro 8 Mio. zur Verfügung stellen, um die Gesellschaft zu retten. K verlangt Schadensersatz, will aber am Kaufvertrag festhalten, da die Gesellschaft inzwischen Gewinne macht. Er kann Ersatz der Differenz zwischen dem gezahlten Kaufpreis und dem Betrag verlangen, welcher dem tatsächlichen Verkaufswert der Anteile entsprach. Mit dieser Fallgestaltung nicht zu verwechseln ist die bloße Erteilung eines Rates oder einer Auskunft: Für deren Sachgerechtigkeit oder Richtigkeit wird nach § 675 II BGB überhaupt nicht gehaftet. Anders verhält es sich aber dann, wenn Rat und Auskunft in Erfüllung einer vertraglichen Pflicht (z. B. aus §§ 611, 631 BGB) erteilt werden. Dann greifen wiederum die allgemeinen Regeln über Leistungsstörungen. Besteht demnach ein Schadensersatzanspruch aus § 280 I BGB, so richtet er sich wie auch sonst auf das Erfüllungsinteresse. <?page no="298"?> B. Besonderer Teil: Rechtsstrukturen spezieller betriebswirtschaftlicher Felder I. Unternehmensgründung 1. Unternehmensgründung als Existenzgründung Die Gründung von Unternehmen ist von den Erscheinungsformen her sehr unterschiedlich. Das Spektrum reicht von der Existenzgründung bis hin zur Gründung eines Tochterunternehmens oder der Beteiligung an einem Gemeinschaftsunternehmen („joint venture“), vom Kapitaleinsatz her betrachtet dabei von (zunächst) völlig fehlendem Betriebsvermögen bis zu enormen Beträgen, deren Höhe keine Begrenzung kennt. Die damit angesprochenen Szenarien unterscheiden sich so wesentlich, dass es an dieser Stelle keinen Sinn macht, von der Gründung eines Ein-Mann-Unternehmens bis hin zur Gründung einer Aktengesellschaft (AG) alles abhandeln zu wollen. Das Augenmerk soll in Folgendem vielmehr ganz gezielt auf die Unternehmensgründung gelenkt werden, die den Übergang von der unselbständigen Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer in den wirtschaftlich und rechtlich ganz anders gearteten Status des selbständigen Unternehmers bezeichnet. Denn national wie supranational werden die Unternehmensgründungen bisheriger Arbeitnehmer bzw. arbeitsloser Personen aus arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftspolitisch-strukturellen Gründen wie die daraus resultierenden kleinen und mittleren Unternehmen („KMU“) besonders unterstützt. Es geht also um die Existenzgründer, die sich in der begrifflichen Grauzone zwischen § 13 BGB (Verbraucher) einerseits, § 14 BGB (Unternehmer) andererseits bewegen. Nach richtiger Ansicht haben die Existenzgründer in dieser Rolle wegen der in § 512 BGB n. F. (§ 507 BGB a. F.) zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Grundentscheidung den Status von Verbrauchern, jedenfalls bis zu einem Geschäftswert von Euro 75.000 (früher Euro 50.000). Beispiele: Anmieten von Räumen für das zukünftige Unternehmen; Kauf von Maschinen, Computern und Büromöbeln; Aufnahme von Betriebsmittelkrediten; Abschluss von Franchise-Verträgen; Verfügbarkeit der Widerrufsrechte nach §§ 312 Abs. 1, 312d Abs. 1 BGB, Schutz durch §§ 308 f. BGB vor unangemessenen Geschäftsbedingungen (der Unternehmern nach § 310 III BGB nicht zuteil wird). <?page no="299"?> 272 I. Unternehmensgründung 2. Rechtsformwahl Die Geschäftsidee des Unternehmensgründers ist das Eine, die Wahl der Rechtsform, in der diese Idee erfolgreich verwirklicht werden soll, das Andere. Hierbei handelt es sich um eine fundamentale Entscheidung im Rahmen der Existenzgründung, deren Wichtigkeit in der Matrix des gesamten Problemfeldes der Existenzgründung oft unterschätzt wird. Dabei sollte auch schon eine zukünftige positive Entwicklung mit bedacht werden, um eine grundsätzlich durchaus mögliche, hier nicht näher darzustellende Umwandlung des Unternehmens im Zuge seines Wachstums tunlichst zu vermeiden: Die Umwandlung bedeutet immer einen Wechsel des maßgeblichen Rechtsregimes und zieht auch erhebliche Kosten nach sich. Der Unternehmensgründer muss sich zunächst fragen, ob er selbst der Träger des Unternehmens sein, ob er also als Einzelunternehmer wirken will. Das Einzelunternehmen, dessen Inhaber also schlicht eine natürliche Person, ein Mensch ist, zeichnet sich dabei unbestreitbar durch den geringsten Gründungsaufwand und das Fehlen rechtsformstruktureller Probleme aus: Es gibt weder ein gesetzlich vorgeschriebenes Mindestkapital noch eine obligatorische Gründungsprüfung; die Notwendigkeit, Gewinnentnahmen zu reglementieren, entfällt von vornherein, da es rechtlich gesehen überhaupt nur eine Vermögensmasse gibt, mag der Einzelunternehmer auch Betriebs- und Privatvermögen gedanklich und operativ trennen. Für eine Regelung der Haftungsbeschränkung oder der Nachschusspflicht fehlt es an jeglichem Ansatpunkt, ebenso wie für Überlegungen zu Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis. Das Einzelunternehmen birgt allerdings wegen der Haftung des Inhabers für alle Schulden mit seinem gesamten Vermögen ein großes existentielles Risiko in sich. Abhilfe leistet hier die Gründung einer juristischen Person wegen des für sie charakteristischen Trennungsprinzips, namentlich in Form einer „Ein-Mann-GmbH“, die allerdings schon rein rechtlich einen hohen Gründungsaufwand erfordert. Hier schafft die UG Abhilfe. Diese Rechtsform erlaubt das „Ansparen“ des erforderlichen Mindest-Stammkapitals durch weitgehende Thesaurierung von Gewinnen, also durch deren Verbleiben im Gesellschaftsvermögen. Dennoch ist der Gründungsaufwand schon wegen der Kosten für die notarielle Beurkundung des Gesellschaftsvertrags beträchtlich. Aber auch bei einer solchen „Ein-Mann-GmbH“ (oder -UG) ist die Gesellschaft der Unternehmensträger, nicht etwa ihr einziger Gesellschafter. Im Zusammenhang mit der Gründung einer GmbH bzw. einer UG ist schließlich auf eine sehr zügige Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister zu achten, um als Gründer überhaupt in den Genuss des Trennungsprinzips kommen zu können (vgl. § 11 I GmbHG), also nicht im <?page no="300"?> 3. Registrierung und Firmenwahl 273 Rahmen einer Vorgründungs-GmbH oder Vor-GmbH in irgend einer Weise mit dem Privatvermögen haften zu müssen. Die Alternative zum unternehmerischen „Einzelkämpfer“, sei es als Einzelunternehmer, sei es als „Geschäftsführender Alleingesellschafter“ einer GmbH oder UG, bildet die Gründung einer Gesamthandsgesellschaft (sog. Personengesellschaft), namentlich einer GbR, OHG oder KG. Ihre Gründung ist einfach und billig, eröffnet die zwanglose Möglichkeit einer Beteiligungsfinanzierung sowie einer Arbeitsteilung bei Geschäftsführung und Vertretung. 3. Registrierung und Firmenwahl In vielen Ländern außerhalb der EG spielt die Frage der Registrierung der Unternehmen eine zentrale Rolle. Denn die Registrierung entscheidet dort über den legalen Marktzutritt. Fehlende Registrierung lässt nicht selten geschäftliche Tätigkeiten als kriminelle Machenschaften erscheinen, denen mit strafrechtlichen Mitteln begegnet wird. In Deutschland wie in den anderen wirtschaftskulturell durch Gewerbefreiheit geprägten Regionen Mittel- und Westeuropas und im angelsächsischen Wirtschafts- und Rechtsraum ist die Situation anders. Zwar hat die Registrierung eines Unternehmens durchaus auch hier erhebliche rechtliche Bedeutung, aber doch prinzipiell andere Funktionen. Wer ein Gewerbe betreiben will, unterliegt in Deutschland gemäß § 14 der Gewerbeordnung (GewO) grundsätzlich einer Anzeigepflicht, bedarf jedoch keiner Erlaubnis. Die gewerberechtliche Registrierung des Unternehmens im Gewerbezentralregister (dazu §§ 149 ff. GewO) verfolgt polizeiliche Zwecke, dient also der Gefahrenabwehr, aber auch Zwecken der Wirtschaftsstatistik, nicht jedoch staatlicher Wirtschaftsstrukturpolitik. Aus polizeilichen Interessen erklären sich auch die Ausnahmetatbestände der §§ 29 ff. GewO. Beispiel: Notwendigkeit einer Erlaubnis zum Betreiben eines „Security“-Unternehmens. Neben dieser rein öffentlichrechtlich aufgestellten gewerberechtlichen Registrierung steht die Führung des Handelsregisters. Die handelsrechtliche Registrierung dient der Erfassung von Firmen, also der Handelsnamen im Sinne der Selbstbezeichnung der Kaufleute im Geschäftsverkehr. Die Registrierung der Firmen im Handelsregister dient im Wesentlichen dem Schutz ihrer Träger und ferner der Publizität als dem generell tragenden Grund für die Eintragung bestimmter Tatsachen. Beispiele: Identität der Gesellschafter und Geschäftsführer, Vertretungsbefugnis bestimmter Personen (Prokuristen), Höhe des Stammkapitals, Haftungsausschluss bei Übernahme einer Firma. <?page no="301"?> 274 I. Unternehmensgründung Der noch durch das Wettbewerbsrecht verstärkte Firmenschutz durch Registrierung zielt seinerseits auf die zuverlässige Identifizierbarkeit von Unternehmen am Markt, was für die Entscheidungen der Marktgegenseite ebenso unverzichtbar ist wie für den Aufbau und Erhalt des „goodwill“ eines Unternehmens. Die Wahl der Firma will also gut überlegt sein. Sie muss ja nicht nur rechtlich zulässig sein (darf also insbesondere nicht zur Irreführung geeignet sein, vgl. hier nur § 18 HGB, § 5 UWG), sondern soll die Marktteilnehmer auch positiv ansprechen. Die Firma soll also einen Beitrag zur erfolgreichen Marktkommunikation leisten. Deshalb ist z. B. auch auf Einprägsamkeit der Firma zu achten sowie darauf, dass die Firma auch in den Sprachen jener Länder gut aussprechbar ist, auf denen Marktaktivitäten stattfinden soll. Geklärt werden sollte auch, wo insbesondere durch abgekürzte Firmen Tabus berührt werden. Bei Wahl der Firma ist ferner darauf zu achten, dass sie auf Dauer unverändert geführt werden kann, also so, dass sie nicht auf Grund des Wachstums der Unternehmung oder wegen seiner sich wandelnden wirtschaftlichen Ausrichtung geändert werden muss. Denn dies wäre für die Unternehmensidentifikation am Markt sehr nachteilig. Da nur ein Kaufmann bzw. eine Handelsgesellschaft eine Firma im Rechtssinne mit den genannten Schutzwirkungen hat und nur Firmen im Handelsregister eingetragen werden können, spielt die Frage, ob eine Unternehmung den Kaufmannsstatus hat, eine so große Rolle. Geht man für die typische Unternehmensgründung als Existenzgründung noch einmal davon aus, dass sie einen eher kleinen Zuschnitt hat, also keine kaufmännische Innenorganisation benötigt, wird sie sehr oft weder als Einzelunternehmen noch als Gemeinschaftsunternehmen in Form einer Gesamthandsgesellschaft („Personengesellschaft“) den Kaufmannsstatus des § 1 Abs. 2 HGB besitzen. Für deutsche KMU, die auf ausländischen Märkten Osteuropas (namentlich Russland und Belarus), aber auch auf den Märkten Asiens operieren, ist dies besonders misslich, da sie dort oft, selbst von den obersten Wirtschaftgerichten, in Unkenntnis der europäischen, insbesondere deutschen Rechtslage als dubiose, illegale Machenschaften betrachtet und behandelt werden. Die durch §§ 2, 105 II HGB eröffnete Eintragungsoption mit konstitutiver, ein firmenfähiges Handelsgewerbe schaffender Wirkung hat gerade auch unter diesem Aspekt eine große Bedeutung. 4. Existenzgründungsfinanzierung Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Unternehmensgründung als Existenzgründung wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch hoch erwünscht ist. Dementsprechend wird sie staatlich auf verschiedenste Weise gefördert. Zahl- <?page no="302"?> 1. Nationale und internationale Lieferbeziehungen und Logistik 275 reiche Institutionen, in Deutschland vor allem auch die Industrie- und Handelskammern, Wirtschaftsförderungs-Gesellschaften der Städte und Gemeinden sowie sog. Technologiezentren in kommunaler Trägerschaft leisten eine aufwändige und weitgehend kostenfreie Gründungsberatung und (immaterielle) Gründungshilfe. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Programme mit immer wieder wechselndem Inhalt, die auf finanzielle Unterstützung von Unternehmensgründern zumindest in der Startphase abzielen. Auch solche der Existenzgründung dienenden Subventionen folgen einem charakteristischen 2-Stufen-Prinzip: Auf der ersten Stufe, auf der über die Bewilligung von Subventionen zu entscheiden ist, herrscht öffentliches Recht mit all den rechtsstaatlichen Bindungen, der die öffentliche Leistungsverwaltung wie die Eingriffsverwaltung unterliegen. Hier werden die Voraussetzungen einer Anschubfinanzierung für „junge“ Unternehmen geprüft und über die Art der finanziellen Förderung (Kredite oder nicht rückzahlbare Zuschüsse) entschieden. Gegen die Ablehnung von Förderanträgen sind die regulären verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfe, namentlich Widersprüche möglich und daran anschließend der verwaltungsgerichtliche Instanzenzug eröffnet. Wird die Subvention bewilligt, erfolgt die Abwicklung dieser Bewilligung in den Formen privatrechtlicher Verträge, rechtssystematisch gesehen also als Darlehen oder Schenkung. Zur Finanzierung einer Unternehmensgründung wird aber selbstverständlich auch der private Kapitalmarkt herangezogen, auf dem Schenkungen allerdings (leider) unbekannt sind. Es dominiert hier der Bankkredit, bei dem der Existenzgründer, wie gesagt, nach § 512 BGB n. F. (§ 507 BGB a. F.) grundsätzlich Verbraucherschutz genießt. II. Beschaffung, Absatz und Logistik 1. Nationale und internationale Lieferbeziehungen und Logistik Zentrales Vehikel der Betriebe für die Beschaffung von körperlichen Gütern (also von Material wie z. B. Rohstoffen, Teilen, Halbfabrikaten, aber auch von Betriebsmitteln wie etwa Maschinen, Betriebsgrundstücken etc.) ist der Kaufvertrag. Für den Absatz, das Spiegelbild der Beschaffung, hat der Kaufvertrag naturgemäß dieselbe überragende Bedeutung. Dies setzt sich fort bis hin zur Beschaffung der privaten Haushalte. Im Folgenden sind aber vor allem die betrieblichen Beschaffungs- und Absatzvorgänge rechtlich zu beleuchten. Leitlinie der Darstellung ist dabei das deutsche Recht. Um die darin involvierten logistischen Probleme zu lösen, bedarf es aus rechtlicher Sicht für den innerbetrieblichen Material- und Informationsfluss, also für die <?page no="303"?> 276 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Intralogistik, durchweg lediglich der Ausübung des arbeitsvertraglichen Weisungsrechts. Für die Interlogistik, also für die Überwindung logistischer Distanzen zwischen Unternehmen, sind die vertragsrechtlichen Herausforderungen jedoch schon wegen der Vielfalt der logistischen Aufgaben erheblich. Der klassische, im Handelsrecht ausgebildete Speditions-, Fracht- und Lagervertrag sowie der Kommissionsvertrag markieren hier lediglich den Kernbereich des interlogistischen Vertragsrechts. Für das Rechtsregime anderer Logistikaufgaben fehlen weitestgehend handelsrechtlich besonders ausgeprägte Vertragstypen. Beispiele: Verpackung und Verwiegung, Be- und Entladung, Stauen von Stückgütern, Trimmen von Schüttgütern, Güterumschlag, Lagerung, Dokumentation des Transportprozesses und des Transportgutes, Optimierung und Aktualisierung von Logistiksoftware, Retourenmanagement, Entsorgung etc. Vielfach übersehen wird bei alledem, dass es regelmäßig ein Kaufvertrag ist, der die Basis logistischer Prozesse ist und diese steuert, der aber umgekehrt schon bei seiner Abfassung auch die verfügbaren logistischen Ressourcen im Auge haben muss. Solange Kauf und Verkauf im nationalen Raum stattfinden, kann auf §§ 433 ff. BGB, ergänzt durch §§ 373 ff. HGB zurückgegriffen werden. Der internationale Warenkauf und -verkauf, also Kauf und Verkauf beweglicher Sachen mit irgend einem Auslandsbezug, sprengt freilich diesen Rahmen und ist dabei in einer globalisierten Wirtschaftswelt zugleich eine alltägliche Erscheinung. Dies wirft die Vorfrage auf, welches Rechtsregime für solche Verträge gelten soll. Beispiel: Ein deutsches Maschinenbauunternehmen verkauft ein Produkt nach China und beschafft sich für die Fertigung Elektronik-Komponenten aus Südkorea. Das Problem hat durch das UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG) etwas an Schärfe verloren. Zumindest bei Kaufverträgen von Parteien in den Vertragsstaaten des CISG steht ein insoweit international einheitlich geltendes Recht zur Verfügung. Dem CISG beigetreten (also sog. Vertragsstaaten) sind fast alle Mitgliedsstaaten der EG, darunter natürlich Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien, aber auch die Schweiz sowie weitere bekannte „global players“ wie die USA, Kanada, Russland, Japan, China, Süd-Korea, Australien, und viele weitere Staaten innerhalb und außerhalb Europas. Nach Art. 1 I CISG findet dieses kurz sog. UN-Kaufrecht grundsätzlich auf alle Warenkaufverträge mit Ausnahme vor allem von Privatgeschäften (Art. 2 trotz Art. 1 III CISG! ) jedenfalls dann Anwendung, wenn die Parteien in den Vertragsstaaten residieren. Angesichts des weltweiten Beitritt-Trends zum CISG ist beim internationalen Warenkauf demnach regelmäßig zunächst von <?page no="304"?> 1. Nationale und internationale Lieferbeziehungen und Logistik 277 der Geltung des UN-Kaufrechts auch im konkreten Einzelfall auszugehen. Das UN-Kaufrecht ist nach Art. 6 CISG allerdings grundsätzlich dispositiv. Davon wird in der Praxis erstaunlich oft Gebrauch gemacht, obwohl das UN- Kaufrecht den Bedürfnissen der Praxis doch sehr entgegenkommt. Ins Auge sticht hier namentlich die Einfachheit der Regelung der Leistungsstörungen einschließlich der Gewährleistung: Anders als die sehr differenzierte Regelung des deutschen Rechts stellt das CISG pauschal auf die „(wesentliche) Vertragsverletzung“ ab. Speziell aus deutscher Sicht spricht für das CISG im Übrigen, dass seine Regelungen (von den Leistungsstörungen abgesehen) sich doch sehr an das deutsche Recht anlehnen und deshalb vergleichsweise vertraut sind. Außerdem unterläuft das UN-Kaufrecht das Problem, was denn an seiner Stelle das vertragliche Rechtsregime liefert, und es dient dem „Klima“ zwischen Käufer und Verkäufer. Denn beide Seiten wahren ihr Gesicht, weil kein Partner durch ein nationales Recht bevorzugt oder benachteiligt wird. Trotz aller seiner Vorzüge darf das UN-Kaufrecht von vornherein aber auch nicht überschätzt werden, weil es überhaupt nur die schuldrechtlichen Fragen des Vertragsschlusses und der daraus erwachsenden Rechte und Pflichten regelt, nicht jedoch die sachenrechtliche Ebene des Eigentumübergangs betrifft (Art. 4 CISG). Außerhalb seines personellen und sachlichen Regelungsbereichs und natürlich erst recht dann, wenn das CISG auf Wunsch der Parteien gar nicht zur Anwendung kommt, bleibt also nach wie vor die Frage nach dem Rechtsregime internationaler Verträge. Mangels einer Weltregierung und einer Weltrechtsordnung entscheidet über die Frage des anwendbaren Rechts in Fällen mit Auslandsbezug grundsätzlich jedes Land die Frage für sich. Für den Bereich des Privatrechts spricht man hier wenig prägnant von Internationalem Privatrecht (IPR). Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei grundsätzlich um nationales Recht und das jeweilige, also deutsche, englische, amerikanische, japanische etc. IPR hat nur die Funktion, die Weichen zu einer Rechtsordnung hin zu stellen, nach dessen Regelungen dann der Fall zu entscheiden ist. IPR ist somit nur sog. Kollisionsrecht, kein sog. Sachrecht wie BGB, HGB etc. Für Deutschland und die übrigen Mitgliedsstaaten der EG bzw. EU (merkwürdigerweise Dänemark ausgenommen) ist die kollisionsrechtliche Ausgangslage ein wenig anders. Denn soweit Europäische Verordnungen reichen, gelten sie gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemein und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat, verdrängen also als supranationales Recht das nationale Recht der Mitgliedsstaaten. Im vorliegenden Zusammenhang mit dem internationalen Warenkauf sehr wichtig ist die Verordnung der EG Nr. 593/ 2008 „über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht“. Diese Verordnung wird unter Bezugnahme auf den Verhandlungsort und zur Abgrenzung einer weiteren kollisionsrechtlichen europäischen Verordnung kurz „Rom I“ <?page no="305"?> 278 II. Beschaffung, Absatz und Logistik genannt. Das europarechtliche, supranationale Kollisionsrecht hat in seinem Geltungsbereich das deutsche IPR über das sog. Vertragsstatut, also das auf Verträge mit Auslandsbezug anzuwendende Sachrecht, in den Artt. 27-37 EGBGB unanwendbar gemacht (ebenso die einschlägigen Vorschriften in den anderen EG-Mitgliedsstaaten mit Ausnahme von Dänemark). Diese Vorschriften wurden inzwischen auch formell aufgehoben. Der wichtigste Grundsatz von „Rom I“, die freie Rechtswahl durch die Vertragsparteien, ist in dessen Art. 3 Abs. 1 S. 1 niedergelegt. Ihre Wahlmöglichkeit ist dabei nicht etwa auf das Recht der Staaten beschränkt, zu dem der Vertrag irgendeinen Bezug aufweist. Beispiel: Ein von Seoul (Südkorea) aus geleitetes Elektronikunternehmen, deren geschäftsführender Gesellschafter die japanische Staatsbürgerschaft hat, schließt mit einem Stuttgarter Autobauer in einem Anwaltsbüro in London einen Vertrag über die Lieferung von in China produzierten Bauteilen, die mit einem unter philippinischer Flagge fahrenden Frachter transportiert und schließlich in eine Fabrikationsstätte in Slowakien verbracht werden sollen. Die Vertragsparteien können bestimmen, dass der Vertrag dem deutschen, südkoreanischen, japanischen, chinesischen, philippinischen, englischen oder slowakischen, aber z. B. auch dem russischen, polnischen oder brasilianischem Recht unterliegen soll. Nicht aus Patriotismus, sondern wegen dessen inhaltlicher Vorzüge sollte auf jeden Fall versucht werden, für das deutsche Recht zu optieren. Nicht ohne Grund gibt es eine von der Bundesregierung unterstützte weltweite Kampagne für „Law made in Germany“. Die verbreitete, vielfach sehr unüberlegt getroffene Wahl englischen oder US-amerikanischen, insbesondere New Yorker Rechts auch seitens deutscher Parteien beruht auf einer dramatischen Unkenntnis der darin beschlossenen Risiken (wegen kaum vorhandenen dispositiven Gesetzesrechts extrem umfangreiche, undurchschaubare und manchmal inhaltlich widersprüchliche Verträge, sehr einzelfallbezogene Rechtsprechung auf Basis des common law) sowie auf den leider sehr erfolgreichen Marketing-Aktivitäten großer englischer und amerikanischer Anwaltskanzleien mit internationalen Netzwerken. Wurde keine Rechtswahl getroffen, so verweist Art. 4 lit. a „Rom I“ für den internationalen Kaufvertrag auf das Recht des Staates, in dem der Verkäufer (zur Zeit des Vertragsschlusses, vgl. Art. 19 Abs. 3 „Rom I“) seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat bzw. (bei Unternehmen) sich faktisch, nicht nach einem Gründungsdokument, der Hauptverwaltungssitz befindet. Dies gilt nach Art. 2 Rom I auch dann, wenn der Staat, dessen Rechtsordnung demnach das Vertragsstatut stellt, nicht Mitglied der EG ist und „Rom I“ für ihn deshalb ganz unbeachtlich ist. Beispiel: In dem vorgenannten Beispiel unterliegt der Kaufvertrag ohne Rechtswahl aus europäischer Sicht, d. h. wenn Streitigkeiten daraus vor einem Gericht innerhalb der EG mit Ausnahme Dänemarks verhandelt werden sollten, <?page no="306"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 279 dem koreanischen Recht, weil der Sitz der Hauptverwaltung des Verkäufers sich in Südkorea befindet. Das Gericht muss dann nach dem Grundsatz der sog. (lat.) lex fori zwar das in seinem Land geltende Prozessrecht anwenden, den Fall selbst aber nach koreanischem Recht entscheiden, obwohl Südkorea nicht Mitglied der EG ist. Schon das Zustandekommen und die Wirksamkeit des betreffenden Vertrages oder seiner Einzelbestimmungen richtet sich gemäß Art. 10 Abs. 1 „Rom I“ nach dem Recht, das auf den Vertrag anzuwenden wäre, wenn der Vertrag wirksam wäre (das löst auch das hierin beschlossene logische Problem). Ob ein Vertrag einer bestimmten Form bedarf oder formfrei wirksam ist, ist gemäß Art. 11 „Rom I“ ebenfalls Regelungsgegenstand des Vertragsstatuts. In die Reichweite des Vertragsstatuts fallen nach Art. 12 Abs. 1 „Rom I“ ferner die Vertragsauslegung, die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen, die Rechtsfolgen von Leistungsstörungen, Verjährungs- und Ausschlussfristen sowie schließlich die Folgen einer eventuellen Nichtigkeit des Vertrages. Ebensowenig wie im Geltungsbereich des CISG (vgl. dort Art. 4 lit. b) liefert das Vertragsstatut aber das sachenrechtliche Rechtsregime, wie der Umkehrschluss aus Art. 12 „Rom I“ ergibt. Mangels europarechtlicher, supranationaler Regelung ist insoweit also auf nationales Kollisionsrecht zurückzugreifen. Das charakteristische Abstraktionsprinzip des deutschen Rechts bleibt somit auch unter der Geltung des UN-Kaufrechts oder von „Rom I“ zu beachten, soweit im konkreten Fall nach IPR überhaupt deutsches Sachenrecht als Sachstatut anzuwenden ist. Das kann hier jedoch nicht näher ausgeführt werden. 2. Auftrag und Auftragsabwicklung a) Die Bestellung im Kontext des Vertrages Der Beschaffungsvorgang wird durch eine Bestellung eingeleitet, also mit der Erteilung eines betriebswirtschaftlich sog. externen Auftrages im Gegensatz zum internen, an einen Mitarbeiter gerichteten Auftrag. Wirtschaftlicher und rechtlicher Sprachgebrauch klaffen hier freilich weit auseinander (vgl. Abb. 33). Ein Auftrag i. S. der §§ 662 ff. BGB kann damit schon wegen der Unentgeltlichkeit dieses Rechtsverhältnisses wohl niemals gemeint sein. Es handelt sich vielmehr bei dem Auftrag i. S. einer Bestellung grundsätzlich um ein Vertragsangebot, um einen Antrag i. S. der §§ 145 ff. BGB. Gerichtet ist dieser Antrag bei der Beschaffung in aller Regel auf den Abschluss eines Kaufvertrages oder eines sog. Lieferungskaufes über vom Lieferanten erst herzustellende vertretbare Sachen, auf den dann nach § 651 BGB aber ebenfalls Kaufrecht <?page no="307"?> 280 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Anwendung findet. Dieser anvisierte Kaufvertrag ist im Beschaffungswesen vielfach zugleich beiderseitiges Handelsgeschäft, also beiderseitiger Handelskauf, insofern Käufer (Besteller) und Verkäufer (Lieferant) gemäß den §§ 1 ff. HGB Kaufleute sind und die Beschaffung bzw. die Lieferung von Material, Teilen oder Fertigprodukten selbstverständlich betriebszugehörig ist. Ein Lieferanspruch kann aus der Bestellung allein freilich ebenso wenig erwachsen wie umgekehrt eine Zahlungspflicht. Dazu bedarf es vielmehr eines Vertrages (vgl. § 311 I BGB), also eines zweiseitigen, durch zwei inhaltlich einander deckungsgleiche Willenserklärungen gekennzeichneten Rechtsgeschäftes. Abb. 33: Begriffsvarianten des "Auftrages" Die zeitlich frühere diesbezügliche Willenserklärung wird dabei eben Antrag, Angebot oder auch Offerte, die spätere Erklärung Annahme genannt. Substanzielle Unterschiede zwischen Angebot und Annahme bestehen indessen nicht. Dies gilt selbstverständlich nicht nur im Zusammenhang mit Kaufverträgen („Lieferverträgen“), sondern für alle Verträge, z. B. auch sachenrechtlicher Natur, wie etwa § 929 BGB. Deshalb finden sich die Regelungen über den Vertragsschluss im Allgemeinen Teil des BGB. Mit der substanziellen Austauschbarkeit von Antrag (Angebot) und Annahme erklärt sich § 150 II BGB: Wird ein Angebot nicht so, wie es inhaltlich nun einmal ist, angenommen, sondern nur mit Modifikationen, so kann kein Vertrag zustandegekommen sein, weil sich die beiden Willenserklärungen nicht decken (nur für „wesentliche“ Abweichungen vom Angebot ebenso Art. 19 CISG). Die als Annahme wirkungslose Erklärung gewinnt aber rechtlich ihrerseits die Bedeutung als neues Angebot, dessen Annahme nun wiederum im Belieben des ursprünglich Antragenden steht. Dieser Mechanismus bleibt solange in Gang, bis es entweder zum Vertragsschluss kommt oder eine Einigung endgültig scheitert. Die Ausnahme übrigens für den Versicherungs- <?page no="308"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 281 vertrag in § 5 I VVG (Billigungsklausel) überzeugt nicht und ist im Wesentlichen das Ergebnis rechtspolitischer Einflussnahme der Assekuranz. Die Rolle eines neuen Angebots übernimmt eine Annahmeerklärung gemäß § 150 I BGB auch dann, wenn sie als Annahme zu spät kommt, das Angebot, auf das sie sich bezieht, also bereits erloschen ist. Dies ist nach § 146 BGB zunächst dann der Fall, wenn bereits eine Angebotsablehnung erfolgte. Ein Angebot erlischt ferner dann, wenn im persönlichen (auch telefonischen! Vgl. § 147 I 2 BGB) Verhandlungsgespräch die Annahmeerklärung nicht sofort erfolgt (§ 147 I 1 BGB), ansonsten dann, wenn eine Annahmeerklärung nicht bis zu dem Zeitpunkt zugeht, bis zu dem der Besteller mit dem Eingang einer Antwort normalerweise rechnen kann. Welcher Zeitpunkt dies ist, bestimmt sich vor allem nach dem für das Angebot gewählten Übermittlungsweg und nach der inhaltlichen Komplexität des Angebots. Zu berücksichtigen ist also die Laufzeit eines schriftlichen Angebots im Postweg und dieselbe Rücklaufzeit, was für Auslandsaufträge an postalisch abgelegene Lieferanten allein schon mehrere Wochen ausmachen kann, im Inland aber etwa 4 Tage betragen dürfte. Bei email-Korrespondenz wird man insgesamt höchstens einen Tag zu kalkulieren haben. Hinzuzurechnen ist eine Prüfungs- und Entscheidungsfrist beim Angebotsadressaten, die bei Aufträgen des üblichen Geschäftsganges zwar nur mit 1 bis 2 Tagen anzusetzen ist, bei Groß- und Spezialaufträgen sich aber auch auf 1 bis 2 Wochen oder mehr belaufen mag. Da während dieser Zeit der Besteller grundsätzlich an seinen Auftrag gebunden ist (vgl. § 145 BGB), also nicht frei disponieren kann (anders Art. 16 CISG mit der recht weitreichenden Widerruflichkeit des Angebots! ), die Dauer dieser Bindung aber immer mit Unsicherheiten behaftet ist, empfehlen sich andere Bestellstrategien: Einmal kann das Angebot mit einer beliebigen Annahmefrist versehen werden. Beispiel: „An unser Angebot halten wir uns 10 Tage ab Datum des Poststempels gebunden.“ Die Annahme ist nur dann rechtzeitig erfolgt, wenn sie innerhalb der Annahmefrist dem Besteller zugegangen ist. Zeitliche Unwägbarkeiten des Hin- und Rücklaufes etc. fallen dabei also in die Risikosphäre des Lieferanten. Allerdings ist bestellerseitig § 149 BGB zu beachten: Der Besteller muss unter den besonderen dort genannten Voraussetzungen eine verspätet eingehende Annahme rügen. Unterlässt er die Rüge schuldhaft („unverzüglich“! ), so gilt die Annahme als rechtzeitig zugegangen und der Vertrag somit als geschlossen. Wie auch sonst bei derartigen „normierten“, vom Gesetzgeber mit einer bestimmten Bedeutung versehenen (fingierten) Willenserklärung gibt es keine Anfechtungsmöglichkeit wegen Inhaltsirrtums (§ 119 I, 1. Alt. BGB). Ferner kann die u. U. lästige Bindungswirkung des Angebots (aus beschaf- <?page no="309"?> 282 II. Beschaffung, Absatz und Logistik fungswirtschaftlicher Sicht: der Bestellung) dadurch vermieden werden, dass eine Bindungswirkung ausgeschlossen wird, wie § 145 BGB dies ermöglicht. Wird eine solche Bestellung vom Lieferanten akzeptiert, so handelt es sich bei dieser „Annahme“ rechtlich gesehen erst um das Angebot. Der Besteller kann also über den Vertragsschluss immer noch frei entscheiden. Die „freibleibende“ Bestellung oder (lat.) „ex obligo“ war bei Licht besehen somit nur eine Aufforderung an die andere Seite, ihrerseits mit einem bindenden Angebot aufzuwarten. Um eine derartige bloße Aufforderung zur Abgabe von Angeboten (lat. „invitatio ad offerendum“) handelt es sich auch, wenn lieferantenseitig Kataloge, Preislisten, Prospekte und ähnliches an einen größeren oder überhaupt unbestimmten Adressatenkreis vermittelt werden, selbst wenn in diesem Zusammenhang vom „Angebot des Monats“ oder von „Sonderangeboten“ die Rede ist (so auch Art. 14 II CISG). Denn die Person des Vertragspartners kann wegen dessen Bonität und allgemeiner Seriosität nicht gleichgültig sein. Auch die Homepage eines Unternehmens im Internet ist hierher zu rechnen, ist also nur (lat.) invitatio ad offerendum. Auf dieser Linie wird ganz allgemein davon ausgegangen, dass nicht nur in der Übermittlung von Werbematerial, sondern auch in der Warenpräsentation selber grundsätzlich kein (konkludentes) Angebot im Rechtssinne, sondern nur eine (lat.) invitatio ad offerendum liegt. Dieser Unterschied ist auch in vielen Fällen der Alltagswirtschaft des Verbrauchers der Schlüssel zur zutreffenden rechtlichen Würdigung. Beispiele: Im Selbstbedienungsladen liegt in der Warenpräsentation nur eine Aufforderung an den Kunden, seinerseits ein Angebot zu unterbreiten. Dies tut der Kunde konkludent an der Kasse, indem er dort die Ware auf das Rollband legt. Erst dann ist er an seine Auswahl gebunden. Vorher kann er jederzeit die in den Einkaufswagen gepackte Ware wieder zurückstellen, ohne dass es eines Widerrufs (vgl. § 130 I BGB) oder gar eines Rücktritts bedürfte. Im Aufstellen eines Automaten liegt aus den genannten Gründen ebenfalls kein Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages. Dies erfolgt erst mit Tastendruck und Geldeinwurf. Wird Ware ausgeworfen, so liegt darin die Annahme des Angebots zum Abschluss eines Kaufvertrages und zugleich das Angebot zur dinglichen Einigung i. S. des § 929 S. 1 BGB bezüglich der Ware. Ist der Automat defekt oder leer, so ist kein Kaufvertrag zustandegekommen, so dass auch gar kein Anspruch auf die ausgewählte Ware besteht und mithin kein Fall der Leistungsstörung vorliegt. Das eingeworfene Geld hat der Automatenaufsteller freilich nach § 812 I 1, 1. Alt. BGB herauszugeben. Ohne Bindungswirkung i. S. eines vorvertraglich begründeten Kontrahierungszwanges ist grundsätzlich auch der vor allem im internationalen Geschäft, aber auch sonst bei größerem Geschäftsvolumen gängige (engl.) letter of intent („loi“) ausgestattet. Er belegt jedenfalls in Textform, etwa durch email, bloß die ernsthafte Absicht eines Vertragsschlusses. Eben deshalb aber ist der letter of intent rechtlich durchaus nicht unbeachtlich. Denn <?page no="310"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 283 wenn es nnunmehr ohne triftigen Grund nicht zum Vertragsschluss kommt, haftet der Erklärende nach h. M. wegen (lat.) culpa in contrahendo dem anderen Teil analog § 122 I BGB auf Ersatz des Vertrauensinteresses, der Höhe nach begrenzt durch das Erfüllungsinteresse bezüglich des nicht geschlossenen Vertrages. Eben darin liegt der Unterschied zwischen einem letter of intent und dem sog. (engl.) memorandum of understanding („mou“). Darin dokumentieren die Verhandlungspartner einvernehmlich wiederum jedenfalls in Textform, namentlich in einer email-Korrespondenz, nun den jeweiligen Stand des Einigungsprozesses im Vorfeld des Vertragsschlusses, regelmäßig sogar noch im Vorstadium eines letter of intent. Von daher fehlt es an jedem Ansatzpunkt für eine Schadensersatzpflicht, wenn der Einigungsprozess letztlich scheitert und es zu keinem Vertragsschluss kommt. Von vornherein ohne Bindungswirkung sind übrigens hier nicht näher interessierende sog. rein gesellschaftliche Erklärungen. Beispiel: Romeo fragt Julia: „Darf ich dich morgen endlich küssen? “ Daraufhin Julia: „Ja, ja! “: Kein Duldungsanspruch des Romeo gegen Julia! Julia begeht keine Verletzung einer Vertragspflicht, wenn sie sich morgen dem Romeo verweigert. b) Die Auftragsbestätigung Angebot und Annahme unterliegen wegen der Privatautonomie (hier: Formfreiheit) keinem gesetzlichen Formzwang. Bestellung und Lieferzusage per Telefon sind rechtlich also genauso verbindlich wie schriftliche Abmachungen. Im letzteren Fall ist es deshalb grundsätzlich auch gleichgültig, ob korrekt unterschrieben wurde (§ 126 BGB). Deshalb sind auch Bestellungen und Bestellzusagen über Telefax oder Internet (Formular auf Homepage, email), die technisch bedingt keine Orginalunterschrift tragen können, gültig. Von der telefonischen Bestellung wird im Normalfall freilich nur bei Kleinbestellungen Gebrauch gemacht. Darüber hinaus werden oft aber auch eilige Beschaffungen per Telefon getätigt. Schon aus organisatorischen Gründen der Auftragsabwicklung auf Lieferantenseite bzw. der Einkaufskontrolle auf Bestellerseite wird eine derartige Eilbestellung aber durchweg schriftlich bestätigt. Möglicherweise ist die Bestätigung nun objektiv falsch, d. h. sie deckt sich nicht mit dem Inhalt des bereits wirksam geschlossenen Vertrages. Dann fragt es sich, ob in jedem Fall das mündlich Vereinbarte gültig bleibt, oder ob unter gewissen Voraussetzungen der an sich falsche Inhalt des Bestätigungsschreibens nunmehr die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien bestimmt. <?page no="311"?> 284 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Die Antwort auf diese Frage gibt der Handelsbrauch, der nach § 346 HGB jedenfalls beim beiderseitigen Handelsgeschäft maßgeblich ist und dabei sogar etwa einschlägigem dispositivem Recht, nicht aber Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder gar individuellen Absprachen vorgehen würde (vgl. Abb. 34). Insoweit besteht also vertraglicher Gestaltungsspielraum, wenn ein Handelsbrauch von den Vertragsparteien für nicht interessengerecht angesehen wird. Handelsbräuche differieren nun vielfach nach Ort und Branche, was sich vor allem natürlich im Auslandsgeschäft als erhebliches Vertragsrisiko herausstellen kann. Darüber, ob und welche Handelsbräuche bestehen, geben die Industrie- und Handelskammern Auskunft. Ausländische bzw. internationale Handelsbräuche sind bei der Internationalen Handelskammer in Paris in Erfahrung zu bringen. Abb. 34: Hierarchie der Vertragsrechtsquellen Es existieren jedoch auch orts- und branchenunabhängige Handelsbräuche und dazu zählen eben gerade auch die Grundsätze über die Behandlung des falschen kaufmännischen Bestätigungsschreibens. Nach diesen Grundsätzen, die mittlerweile auch in andere Verkehrskreise Eingang gefunden haben und dann dort über § 157 BGB gelten, hat der (kaufmännische) Empfänger eines derartigen Schreibens in beliebiger Form, aber unverzüglich zu widersprechen, also die Abweichungen vom vereinbarten Vertragsinhalt spezifiziert aufzudecken. Tut er dies nicht, so gilt sein Schweigen als Zustimmung zu dem falschen Bestätigungsschreiben. Ob dieses Schreiben ausdrücklich als Bestätigungsschreiben gekennzeichnet ist, spielt keine Rolle. Rechtlich gesehen liegt im Schweigen auf ein derartiges Bestätigungsschreiben also eine nachträgliche Vertragsänderung. Diese Zustimmungsfiktion lässt sich, wie auch bei anderen normierten Erklärungen nicht durch Irrtumsanfechtung nach § 119 I BGB mit der Begründung beseitigen, als <?page no="312"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 285 Empfänger des Bestätigungsschreibens habe man die rechtliche Bedeutung seines Schweigens verkannt. Vorausgesetzt ist bei alledem, dass der Absender des Bestätigungsschreibens schutzwürdig ist. Dies ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn er arglistig gehandelt hat, also z. B. aus Umsatzinteresse bewusst etwas Falsches „bestätigt“ hat. Die Schutzwürdigkeit des Absenders wird auch dann verneint, wenn die Diskrepanz zwischen dem Vereinbarten und dem Bestätigten objektiv so groß ist, dass ein Absender schlechterdings ein Schweigen des Empfängers nicht als Zustimmung begreifen darf. Die Grenzen sind dabei aber unsicher. Im Zweifel sollte also lieber vorsorglich widersprochen werden. Beispiel: B und L vereinbaren telefonisch die Lieferung von 100.000 Schrauben zum Preis von Euro 800. L bestätigt irrtümlich die Bestellung von 1.000.000 Schrauben. Schweigt B, muss er wohl eine 1 Million Schrauben abnehmen und auch entsprechend mehr, nämlich insgesamt Euro 8.000 bezahlen. Denn dabei handelt es sich wohl nicht um eine „große“ Abweichung i. S. der Grundsätze über das kaufmännische Bestätigungsschreiben, denn der Fehler liegt ja „nur“ in einer Null mehr. Aus alledem ist zugleich zu entnehmen, dass Schweigen nicht anders als im bürgerlichen Rechtsleben auch im Handelsverkehr grundsätzlich eben nicht als Willenserklärung und schon gar nicht als Zustimmung zu verstehen ist (ebenso Art. 18 I 2 CISG), sondern nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, hier etwa in Übereinstimmung mit den Grundsätzen über das kaufmännische Bestätigungsschreiben (vgl. auch § 362 HGB und § 149 BGB). Für das soeben dargestellte echte, aber inhaltlich falsche Bestätigungsschreiben ist kennzeichnend, dass es sich auf einen bereits wirksam geschlossenen Vertrag beziehen muss. Davon nach deutschem Recht streng zu unterscheiden ist das unechte Bestätigungsschreiben in dem Sinne, dass damit lediglich auf eine Bestellung zustimmend geantwortet wird. Weicht diese Art der Auftragsbestätigung inhaltlich von der Bestellung ab, so fehlt es ja gerade an einem Vertragsschluss, weil Angebot und Annahme sich nicht decken. Vielmehr liegt in einer solchen Auftragsbestätigung lediglich ein neues Angebot. Schweigt der Besteller darauf, so gilt dies also nicht als Zustimmung, weil die dargestellten Regeln über das inhaltlich falsche kaufmännische Bestätigungsschreiben gar nicht anwendbar sind. Bei Käufen, die dem CISG unterliegen, stellt sich die Rechtslage vielfach anders dar, weil Art. 19 CISG einerseits auch das Schweigen auf ein vom Auftrag abweichendes Angebot als Zustimmung fingiert, dies jedoch andererseits nur in den Grenzen „unwesentlicher“ Abweichungen, die in den Fällen des Art. 19 III CISG (also bezüglich Preis, Quantität und Qualität der Ware, Leistungsort- und -zeit, Haftung etc.) wiederum niemals bejaht werden können. Ob ein echtes oder unechtes Bestätigungsschreiben mit ja ganz unterschied- <?page no="313"?> 286 II. Beschaffung, Absatz und Logistik lichen Rechtsfolgen vorliegt, ist gerade bei der schriftlichen Bestätigung eines Eilauftrages aus der Sicht des Bestellers dann schwer abzuschätzen, wenn der Eilauftrag nicht telefonisch, sondern als Eilbestellung kenntlich gemacht schriftlich erteilt wurde. Damit entfällt nämlich nach § 151 S. 1 BGB das für empfangsbedürftige Willenserklärungen grundsätzliche Wirksamkeitserfordernis des Zugangs. Schweigen gilt also auch in diesem Fall nicht als Angebotsannahme. Es wird lediglich darauf verzichtet bzw. ist hier nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten, dass die Auftragsannahme erst dem Besteller gegenüber erklärt wird, bevor der Vertrag zustande kommen soll. In diesem Fall erfolgt die Auftragsannahme regelmäßig bereits konkludent, aber eben nicht zugangsbedürftig mit dem Beginn der Auftragsausführung (so auch Art. 18 III CISG). Wird parallel dazu auch noch eine schriftliche Auftragsbestätigung versandt, handelt es sich dabei dann allerdings um ein echtes kaufmännisches Bestätigungsschreiben, obwohl der Besteller den Eindruck einer unechten Bestätigung, also einer Angebotsannahme, gewinnen kann. Sicherheitshalber sollte bei einer inhaltlich falschen Auftragsbestätigung eines Eilauftrages also in jedem Fall vom Besteller widersprochen werden. c) Allgemeine Geschäftsbedingungen (1) Begriff und Vertragseinbeziehung Vorformulierungen spielen in der Beschaffungs- und Absatzpraxis wie überhaupt im Wirtschaftsverkehr man denke nur an das Bank- oder Versicherungsgeschäft die allergrößte Rolle. Sie rationalisieren das Vertragswesen, machen von der höchst unterschiedlichen juristischen Kompetenz und dem Verhandlungsgeschick der rechtsgeschäftlichen Vertreter, also der Mitarbeiter an der „Vertragsfront“, unabhängig, speichern gleichsam Erfahrungswissen aus Rechtsstreitigkeiten der Vergangenheit und bilden gleichzeitig das Instrument zur Risikoverschiebung auf den Vertragspartner. In Materialwirtschaft und Logistik finden sich vor allem Liefer-, Einkaufs- und Zahlungsbedingungen. Die angestrebten rechtlich-ökonomischen Effekte stellen sich freilich nicht schon mit der bloßen Aufstellung, also mit der Formulierung von standardisierten Vertragsbedingungen ein, denn es handelt sich bei ihnen eben nicht um Rechtsnormen, bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) nicht um „selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“, wie man gelegentlich hört. Erforderlich ist vielmehr die Kenntnis und überlegte Handhabung des AGB-Rechts in den §§ 305 ff. BGB. Daran hapert es in vielen Unternehmen immer noch, so dass unliebsame, oft auch recht kostenintensive Überraschungen vorprogrammiert sind. Solche Überraschungen resultieren oft schon aus Unkenntnis über den enor- <?page no="314"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 287 men Anwendungsbereich des AGB-Rechts. Es gilt nicht nur für AGB im herkömmlichen Sinne des „Kleingedruckten“, sondern nach § 305 BGB prinzipiell für alle Vertragsbedingungen, die ohne individuelle Mitwirkung der anderen Seite für eine Vielzahl von Anwendungen vorformuliert werden, wobei die andere Seite in aller Regel faktisch nur noch Ja oder Nein sagen kann. Auf die äußere Gestalt dieser Vorformulierungen kommt es dabei nach § 395 I BGB nicht an. Die vor allem in der Materialwirtschaft verbreiteten Formularverträge, bei denen etwa das Sortiment des Anbieters oder der Bedarf des Nachfragers standardisiert aufgeführt ist und auf einer Signierleiste nur noch die georderten Mengen etc. eingetragen werden, sind entgegen dem herkömmlichen Sprachgebrauch also ihrerseits bereits solche Allgemeine Geschäftsbedingungen i. S. des AGB-Rechts. AGB im Rechtssinne sind deshalb durchweg auch die nur scheinbar individuellen Vertragsschreiben, deren Inhalt in Wahrheit einem immer wieder aktivierten Textverarbeitungsprogramm folgt. Wegen § 310 III BGB gelten diese Regeln weitgehend sogar für Individualvereinbarungen, wenn es sich dabei um sog. Verbraucherverträge („B2C“, Business to Consumers) handelt. Für generell unanwendbar erklärt wird das AGB-Recht nach § 310 IV 1 BGB lediglich für ökonomisch entlegene Vertragsbereiche. Die sonstigen (partiellen) Bereichsausnahmen des § 310 II BGB haben hingegen für die Energie- und Wasserwirtschaft eine große Relevanz. Den damit verknüpften Fragen kann hier jedoch nicht nachgegangen werden. Da es sich bei den AGB niemals um Rechtsnormen handelt, können sie für die Parteien überhaupt nur dann verbindlich werden, wenn die AGB einverständlich zum Vertragsbestandteil erklärt werden (Konsensprinzip). Das Einverständnis im Einzelfall kann durch eine entsprechende Rahmenvereinbarung über die Einbeziehung von AGB ersetzt werden (vgl. § 305 III BGB). Die Zustimmung zur Einbeziehung in das Rechtsverhältnis der Vertragsparteien kann auch nur dies ist sogar die praktische Regel konkludent erfolgen. Ist man nicht einverstanden, empfiehlt sich also ein unmissverständlicher Widerspruch. Im Anwendungsbereich des CISG kommt es freilich noch sehr viel leichter zu einer Einbeziehung von AGB in den Vertrag, weil die Zustimmungswirkung des Schweigens nach Art. 19 CISG in den dort genannten Grenzen auch für die AGB-Einbeziehung gilt. Außerhalb des CISG fehlt es an einer Zustimmung zu den AGB der anderen Seite begrifflich auch dann, wenn etwa der Lieferant auf die Bestellung unter Zugrundelegung der Allgemeinen Einkaufsbedingungen mit einer Angebotsannahme unter Zugrundelegung seiner abweichenden Allgemeinen Lieferbedingungen reagiert. Somit ist gemäß § 154 I BGB streng genommen überhaupt kein Vertrag zustande gekommen, also auch kein Vertrag unter Ausschluss sowohl der Einkaufsals auch der Lieferbedingungen. Trotzdem wird gelegentlich ein abweichender Wille der Vertragsparteien dahingehend anzu- <?page no="315"?> 288 II. Beschaffung, Absatz und Logistik nehmen sein, dass nun doch ein solcher Vertrag existieren soll. Da aber jedenfalls bezüglich der Geltung der abweichenden AGB keine Einigung vorliegt, gilt insoweit das dispositive Recht; nur in dem Umfang, in dem sich die jeweiligen AGB decken, kommt es zu deren Einbeziehung. Wegen § 310 Abs. 1 BGB gilt nur im B2C-Bereich, also wenn AGB gegenüber Verbrauchern gestellt werden, neben dem allgemeingültigen Konsensprinzip ein besonderer Einbeziehungsschutz. So führt nach § 305 II BGB das Einverständnis dort grundsätzlich (vorbehaltlich der in § 305a BGB umschriebenen Ausnahmen, namentlich hinsichtlich Telekommunikation, Personenbeförderung und Energieversorgung) nur dann zur Einbeziehung der AGB in den Vertrag, wenn zwei Hauptvoraussetzungen erfüllt sind. Erstens bedarf es nach § 305 II Nr. 1 BGB grundsätzlich eines ausdrücklichen, durchaus aber auch mündlichen Hinweises auf die zugrundegelegten AGB, und zwar schon bei Vertragsschluss. Beispiele: Das Bestellungsschreiben trägt den Aufdruck: „Es gelten unsere Allgemeinen Einkaufsbedingungen.“ Ein solcher Hinweis ist natürlich entbehrlich, wenn diese Bedingungen dort selber abgedruckt sind. Findet sich ein solcher Hinweis (bzw. die AGB selber) erst auf einem späteren Schreiben, so sind die diesbezüglichen AGB von vornherein für die Vertragsparteien unbeachtlich. Daran scheitert die Einbeziehung namentlich vieler Liefer- und Zahlungsbedingungen gegenüber Verbrauchern, weil der entsprechende Hinweis (bzw. die Bedingungen selber) erst auf Lieferscheinen bzw. Rechnungen angebracht ist. Ausnahmsweise genügt auch ein Hinweis durch deutlich sichtbaren Aushang, der sich allerdings wiederum am Ort des Vertragsschlusses befinden muss. In der Praxis des B2C werden AGB regelmäßig schon deshalb nicht einbezogen, weil am Ort des Vertragsschlusses, also etwa an der Kasse des SB-Marktes, ein solcher, zumal deutlich sichtbarer Hinweis auf AGB nicht vorhanden ist. Zweitens muss für die Verbraucherseite nach § 305 II Nr. 2 BGB die Möglichkeit bestehen, in zumutbarer Weise vom Inhalt der AGB Kenntnis zu nehmen. Für die Zumutbarkeit der Kenntnisnahme spielen viele Gesichtspunkte eine Rolle. So muss jedenfalls erkennbar sein, wo eine solche Einsicht überhaupt möglich ist. Außerdem bedarf es eines recht engen räumlichen Zusammenhangs zwischen Hinweis und Einsichtnahme. Auch zeitlich muss die Einsichtnahme zumutbar sein. Beispiel: „Unsere AGB können in unserer Hauptverwaltung Dortmund, jeweils am Monatsersten zwischen 8.00 und 9.00 h eingesehen werden.“: Ganz sicher keine Einbeziehung! Gestalterisch, im Layout, müssen die AGB übersichtlich formuliert sein (Absätze, Überschriften) und in Schriftbild und Farbwahl leserfreundlich sein. <?page no="316"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 289 Zu kleiner Druck, eine vom Marketing als besonders einprägsam erachtete, aber wahrnehmungspsychologisch problematische Farbkombination oder sonstige „leserfeindliche“ Umstände verhindern eine Einbeziehung der AGB. Beispiel: Rote Schrift auf gelben Grund für „Shell“; dunkelgraue Schrift mit wenig Farbstoff auf Recycling-Papier, um das Umweltbewusstsein des Unternehmens zu unterstreichen: Unzumutbarkeit der Kenntnisnahme! Zur Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme gehört ferner eine auf den Adressatenkreis abgestellte Sprache: Deutsch allein dürfte deshalb in Geschäftsfeldern mit vielen ausländischen Vertragspartnern (z. B. auf dem Rhein/ Main-Flughafen in Frankfurt a. M.) den Anforderungen des § 305 II Nr. 2 BGB oft nicht genügen. In jedem Fall ist auf einfachen Satzbau zu achten (möglichst wenig Nebensätze). Besonders problematisch ist die Verwendung juristischer Fachtermini: Einerseits verbindet der Verkehr damit oft andere Vorstellungen als der Jurist (z. B. bei „Angebot“, „Bestätigung“, „Fehler“, „Pflichtverletzung“). Andererseits lässt sich ein juristischer Tatbestand durch den Alltagssprachgebrauch eben selten präzise genug beschreiben. Die besseren Gründe dürften deshalb dafür sprechen, die Zumutbarkeit juristischer Begriffe in AGB generell zu bejahen. Die Zumutbarkeit der Kenntnisnahme von AGB im Internet setzt nicht voraus, dass die AGB auf derselben Seite wie das Angebot (also das Online- Bestellformular; sonst nur invitatio ad offerendum! ) dargestellt sind. Ausreichend ist vielmehr, dass ein direkter sog. Link dazu besteht. Dann sind freilich auch umfangreiche AGB durchaus zumutbar zur Kenntnis zu nehmen. Denn ein eventuell erst im Gesamtüberblick mögliches Textverständnis lässt sich durch Herunterladen und Ausdruck der AGB erzielen. Soll der gesamte Vertragsschluss im Internet stattfinden, so gelten für solche Verträge im elektronischen Geschäftsverkehr ohnehin ganz spezifisch auf Fernabsatzverträge zugeschnittene Anforderungen: Erforderlich ist z. B.., dass die Vertragsbestimmungen „in wiedergabefähiger Form zu speichern“ sind (§ 312e I Nr. 4 BGB), insbesondere also auch, dass sie ausgedruckt werden können. Unabhängig von alledem werden ungewöhnliche, überraschende Klauseln nach § 305c I BGB nicht in den Vertrag einbezogen, auch nicht in ein Vertragsverhältnis mit einem „Unternehmer“, also im sog. B2B-Bereich (Business to Business). Bei der Klärung jener Ungewöhnlichkeit ist primär freilich nicht auf die Vertragspraxis und den Erfahrungshorizont der konkret Beteiligten, sondern auf Branchengewohnheiten, allgemeine Verkehrssitte und ähnliche überindividuelle Bezugspunkte abzustellen. Das verringert drastisch die Schutzwirkung dieser Norm. <?page no="317"?> 290 II. Beschaffung, Absatz und Logistik (2) Inhaltskontrolle Der im Vertragsgrundsatz (Konsensprinzip) beschlossene und durch § 305 II, III BGB noch verstärkte Einbeziehungsschutz besagt nichts darüber, wie hart der Klauselinhalt von AGB den Vertragspartner trifft. Auch das Einverständnis, das überhaupt schon für die Einbeziehung der AGB in den Vertrag immer erforderlich ist und das auch § 305 II, III BGB bereits voraussetzt, bedeutet noch nicht, dass die nun einbezogenen Vertragsbedingungen auch tatsächlich wirksam sind, dass jenes Einverständnis des Partners sich also auch auf den Klauselinhalt bezöge. Auf die Überprüfung des Klauselinhalts auf seinen Gehalt an Vertragsgerechtigkeit zielt erst die anhand der §§ 307-309 BGB durchzuführende Inhaltskontrolle von AGB. Diese Inhaltskontrolle ist grundsätzlich auch dort vorzunehmen, wo vorformulierte Vertragsbedingungen behördlich genehmigt wurden, etwa durch das Bundeskartellamt. In einem solchen Genehmigungsverfahren werden ganz andere Gesichtspunkte berücksichtigt. So würdigt das Bundeskartellamt etwa eine Absprache, einheitliche AGB zu verwenden, mit Blick auf ihren Einfluss auf die Effizienz des Wettbewerbs. Das für die Inhaltskontrolle von AGB, aber auch von vorformulierten individuellen „Verbraucherverträgen“ i. S. des § 310 III BGB („B2C“) maßgebliche Prinzip statuiert § 307 I BGB mit einer sehr allgemein gehaltenen Bestimmung: Unwirksam sind solche (vorformulierten) Vertragsbedingungen, die nicht aus sich heraus „klar und verständlich“ sind (sog. Transparenzgebot) oder den Vertragspartner entgegen Treu und Glauben insbesondere dadurch unangemessen benachteiligen, dass sie mit den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren sind (§ 307 II Nr. 1 BGB). Als Gradmesser der Abweichung kann dabei logischerweise nur dispositives Recht fungieren: Von zwingenden Normen kann sowieso, auch durch Individualabrede, nicht abgewichen werden. Wo es an gesetzlichen Regelungen überhaupt fehlt, wie z. B. für Garantien, fehlt es weitgehend auch an einem Maßstab, die unangemessene Benachteiligung durch AGB festzustellen. Dann kommt nur noch der „Zweck“ oder die „Natur“ des (vorformulierten) Vertrages als Kontrollmaßstab in Betracht (§ 307 II Nr. 2 BGB). Dass die Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB prinzipiell nur in den Materien dispositiven Rechts greift, stellt § 307 III BGB lediglich klar. Was § 307 III BGB leider gar nicht zum Ausdruck bringt, ist der Ausschluss aller (vorformulierter) Leistungsbeschreibungen von der Inhaltskontrolle hinsichtlich ihrer Angemessenheit (dem Transparenzgebot unterliegen auch sie), weil sonst ja eine marktwirtschaftsfremde Produktkontrolle durch die Gerichte auf der Basis der §§ 307 ff. BGB stattfände! Zu beachten ist aber, dass bei der Annahme einer derartigen weitgehenden inhaltskontrollfreien Leistungsbe- <?page no="318"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 291 schreibung Vorsicht angeraten ist: Allgemeine Versicherungsbedingungen etwa sind nach richtiger Ansicht vollständig der Inhaltskontrolle unterworfen, mag man auch gerne marketing-orientiert von „Versicherungsprodukten“ und von der Versicherung als „Rechtsprodukt“ sprechen, wo es nur um bestimmte Vertragsbedingungen unterschiedlicher Typen von Versicherungsverträgen geht. Die in § 307 I, II BGB normierte Basis der Inhaltskontrolle ist nun ersichtlich wenig operational. Deshalb stellt das Gesetz mit den §§ 308 und 309 BGB zwei Kataloge auf, die jedenfalls („insbesondere“) unwirksame Klauseln nennen und die deshalb vor dem methodischen Rückgriff auf § 307 I, II BGB heranzuziehen sind. Diese Klauselverbotskataloge gelten wegen § 310 I BGB allerdings nur im B2C-Bereich. Nur Verbraucher können sich also darauf beziehen. § 309 BGB fasst dabei Vertragsbedingungen zusammen, die keinesfalls wirksam sein können, während § 308 BGB solche Klauseln nennt, die zwar grundsätzlich unwirksam sind, die dem AGB-Verwender aber vor Gericht den (schwierigen) Nachweis offen lassen, dass die vorformulierte Bestimmung ausnahmsweise die Gebote von Treu und Glauben doch noch angemessen wahrt. Beispiele: In vorformulierten Lieferbedingungen eines Kaufhausbetreibers für Industrieroboter findet sich der auf § 323 I BGB gemünzte Satz: „Im Falle des Lieferverzuges kann der Käufer vom Vertrag erst nach Verstreichen einer Nachfrist von 3 Monaten zurücktreten“: Sicher unwirksam wegen § 308 Nr. 2. BGB. Wirksam wäre umgekehrt gewiss, wenn als angemessene Nachfrist 3 Tage vorgesehen wären. Zweifelhaft könnte sein, ob eine Nachfrist von 14 Tagen noch angemessen ist. Diese Zweifel wenden sich aber gegen den Lieferanten als AGB-Verwender, was zur Unwirksamkeit der Klausel führt. Zu beachten ist im Zusammenhang mit den Klauselverbotskatalogen allerdings folgender, etwas kompliziertere Zusammenhang: An sich versagt § 310 I 1 BGB den dort angesprochenen „Unternehmern“ etc. die Berufung auf die Klauselverbotskataloge der §§ 308 und 309 BGB (wie auch schon auf den speziellen Einbeziehungsschutz des § 305 II BGB! ). Dem „Unternehmer“ steht also diesbezüglich nur der sehr allgemeine, argumentativ schwer zu handhabende § 307 I, II BGB für die Inhaltskontrolle ihn belastender AGB der Gegenseite zu Gebote. § 310 I 2 BGB stellt aber umgekehrt klar, dass die in §§ 308 und 309 BGB genannten Klauseln zugleich gegen § 307 I, II BGB verstoßen können. In diesem Fall sind die Klauseln also nach § 307 I, II BGB unwirksam, obwohl sie sich in den §§ 308 und 309 BGB finden, auf die sich Unternehmer ja nicht berufen können. Anders gewendet: Die in den §§ 308 und 309 BGB genannten Klauseln sind Unternehmern gegenüber keineswegs schlechthin zulässig. Zu prüfen ist vielmehr, inwieweit derartige Klauseln zugleich den Vertragspartner entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. <?page no="319"?> 292 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Praktisch meint dies vielfach eine Transformation vor allem des § 309 BGB mit seinen Klauselverboten ohne Wertungsvorbehalt in den Regelungsbereich des § 307 I, II BGB. Denn die dort herausgegriffenen Klauseln sind vom Gesetzgeber ja gerade deswegen inkriminiert worden, weil sie eine substanzielle Einbuße an Vertragsgerechtigkeit, so wie das dispositive Recht sie versteht, zur Folge hätten. Aus dem Bereich des § 309 BGB erscheinen zunächst transformierbar insbesondere die Nummern 4 bis 9. Von großer Bedeutung ist auch in diesem Zusammenhang die Gewährleistungsmaterie. Ein völliger Haftungsausschluss bei Lieferung neu hergestellter Waren (§ 309 Nr. 8b aa BGB) dürfte jedenfalls auch Unternehmern gegenüber unzulässig und damit unwirksam sein. Die in § 309 Nr. 8b) ee) BGB vorgenommene negative Bewertung für eine zu knapp bemessene Frist hinsichtlich einer Mängelrüge bei verdeckten Mängeln wird ebenso auf § 307 I bzw. II Nr. 1 BGB zu stützen sein. Eine Transformationsmöglichkeit besteht aber auch hinsichtlich der in § 308 BGB genannten Klauseln, neben den bereits erwähnten Nummern 1 und 2 wohl auch für die Nummern 3, 4 und 5 (sofern nicht gemäß § 310 I 2 a. E. BGB eine andere Beurteilung durch die besonderen handelsrechtlichen Grundsätze über das Schweigen im Rechtsverkehr angezeigt ist), ferner für die Nummern 6 und 7. Bei der Transformation müssen allerdings immer die Besonderheiten des wirtschaftlichen Lebens berücksichtigt werden. So spielt bei der Antwort auf die Frage, welche Nachfrist angemessen ist, das besondere wirtschaftliche Bedürfnis nach Schnelligkeit der Vertragsabwicklung sicher eine wichtige Rolle. Bei alledem bleibt freilich der Versuch unbenommen, Vertragsbedingungen, die in Gestalt von AGB nicht wirksam werden können, durch Individualabreden zum Vertragsinhalt zu machen. Bei ihnen findet der Gestaltungsspielraum erst am zwingenden Recht sein Ende, sofern es sich nicht um „Verbraucherverträge“ nach § 310 III BGB handelt. Die individuelle Verabredung einer „kritischen“ Vertragsbedingung wird zwar durchweg schwieriger sein. Dafür ist dann aber für die Auslegung einer solchen Individualabrede auch nicht § 305c II BGB mit seiner Unklarheitenregel einschlägig, derzufolge Zweifel bei der Auslegung von AGB immer zu Lasten des AGB- Verwenders gehen: Bei der Interpretation von mehrdeutigen AGB ist also immer diejenige Auslegungsmöglichkeit zu ergreifen, die die Rechtsstellung der Gegenseite am wirkungsvollsten stärkt. Vorrangig ist aber das Transparenzgebot des § 307 I 2 BGB: Seine Verletzung führt zur Unwirksamkeit der intransparenten, unklaren und unverständlichen Klausel, so dass sich die Frage, welchen Sinn der Klausel nun beizulegen ist, gar nicht mehr stellt. Ist eine vorformulierte Vertragsbedingung nach den dargestellten Grundsätzen zwar in den Vertrag einbezogen worden, aber unwirksam, so müsste in <?page no="320"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 293 Anwendung von § 139 BGB eigentlich der gesamte Vertrag von der Unwirksamkeit ergriffen werden, denn jedenfalls der AGB-Verwender hat ja den Vertrag eben nur so, mit dieser unwirksamen - Klausel schließen wollen. Eine solche Teilnichtigkeit aber wäre geradezu eine Einladung zur Formulierung von Bedingungen, die in krassem Widerspruch zu Treu und Glauben stehen. Dem AGB-Verwender könnte ja nichts passieren: Entweder würde die Unwirksamkeit dieser Klausel festgestellt, dann wäre er zu gar nichts verpflichtet, oder die Klausel wäre rechtlich doch nicht zu beanstanden, dann hätte der Verwender ja sein Vertragsgestaltungsziel erreicht. Zur Verhinderung dieses Effektes durchbricht § 306 I, II BGB die Regel der Totalnichtigkeit (§ 139 BGB) und lässt den Vertrag ohne die unwirksame Klausel, gegebenenfalls an dieser Stelle ergänzt durch dispositives Recht, im Übrigen gültig sein. Mit dieser Teilnichtigkeit, die wegen § 310 III BGB auch für individuelle, aber vorformulierte Verbraucherverträge gilt, wird der AGB-Verwender unter Umständen hart getroffen, doch ist gerade dies der Wille des Gesetzgebers. § 306 III BGB, der wieder auf § 139 BGB zurückführt, wird also kaum jemals Platz greifen können. Beispiel: Händler V verkauft ein teures neues Radio an den Privatkunden K. Zugrunde liegen „klassische“ AGB oder individuelle, aber vorformulierte Vertragsbedingungen (§ 310 III BGB! ), die jedwede Gewährleistung ausschließen. Mit Rücksicht darauf ist der vereinbarte Kaufpreis auch sehr niedrig kalkuliert: V muss sich an Lieferpflicht und Kaufpreishöhe festhalten lassen, obwohl er nun doch Gewähr zu leisten hat: An die Stelle der gemäß § 309 Nr. 8b aa BGB unwirksamen Klausel treten die §§ 434 ff. BGB, die durch den Haftungsausschluss verdrängt werden sollten. Neben der rechtlichen Bedeutungslosigkeit unwirksamer Vorformulierungen für das Rechtsverhältnis der konkreten Vertragspartner im Einzelfall sind §§ 1, 3 UKlaG zu beachten: Namentlich Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern, in weitem Umfang aber auch besonders „qualifizierte“ Verbraucherschutzorganisationen können verlangen, dass die Verwendung unwirksamer Klauseln generell unterbleibt. Dieser Unterlassungsanspruch ist insofern ein wichtiges Instrument, als gelegentlich ein Verwender von AGB deren Unwirksamkeit z. B. auf Grund eines verlorenen Prozesses kennt, diese AGB aber gleichwohl in der empirisch ja nicht unbegründeten Hoffnung weiterverwendet, dass sich andere Vertragspartner faktisch doch danach richten. §§ 1, 3 UKlaG sind also der Hebel, um ein derartiges, ökonomisch an sich durchaus plausibles Kalkül zu durchkreuzen. Darauf zielen auch andere Normen, etwa die in § 7 UKlaG vorgesehene Veröffentlichung einschlägiger Urteile über die Unwirksamkeit bestimmter Klauseln sowie schließlich eine eigenartige Erstreckung der Rechtskraft von Unterlassungsurteilen zugunsten anderer, gar nicht am Prozess Beteiligter (§ 11 UKlaG). <?page no="321"?> 294 II. Beschaffung, Absatz und Logistik d) Konditionengestaltung (1) Lieferort und Lieferzeit, insbesondere Fixgeschäft und Abruf Soll das richtige Gut zur richtigen Zeit am richtigen Ort verfügbar sein, so muss die Vertragsgestaltung auch speziell darauf zugeschnitten sein. Aus Sicht der Beschaffungslogistik ist der „richtige Ort“ selbstverständlich der Sitz des Bestellers. Kraft branchen- und ortsübergreifenden Handelsbrauchs (§ 346 HGB) sind Lieferschulden aber grundsätzlich Schickschulden: Der Leistungsort („Erfüllungsort“), hier speziell der Lieferort, auf den sich auch die Lieferzeit und der gewährleistungsrechtlich relevante Zeitpunkt beziehen, ist der Sitz des Lieferanten (so auch beim internationalen Warenkauf: Art. 31 lit. a CISG). Folglich nützt es dem Besteller wenig, sich größere Gedanken über die optimale Lieferzeit zu machen und vertraglich besonders zu sanktionieren, weil der Lieferant ja rechtzeitig bereits dann tätig geworden ist, wenn er das Gut bei Lieferfälligkeit expediert, abgesandt hat. Für die auf das Konzept des just-in-time aufgebaute Produktion mit einsatzsynchroner Anlieferung müsste dies fatale Konsequenzen haben. Denn dort gibt es nunmal kein nennenswertes Lager, das eine Puffer- oder Vorratsfunktion übernehmen könnte. Auch das Qualitätssicherungsmanagement ist insoweit nicht optimal basiert, weil Transportschäden beim kommerziellen Versendungskauf (B2B) keine Gewährleistungsansprüche auslösen können: Im Zeitpunkt der Übergabe an den Transporteur war die Ware ja noch in Ordnung, und nur darauf kommt es gewährleistungsrechtlich an. Trotzdem ist aber gemäß § 447 BGB der volle Kaufpreis zu zahlen (anders beim Verbrauchsgüterkauf wegen § 474 II 2 BGB). Dass möglicherweise Schadensersatzansprüche gegen den Transporteur bestehen, ist dabei nur ein schwacher Trost. Das vitale Interesse des Bestellers muss also zunächst darauf gerichtet sein, aus der handelsüblichen Schickschuld eine Bringschuld zu machen. Als Leistungsort („Erfüllungsort“) für die Lieferschuld ist also der Unternehmenssitz des Bestellers besonders zu vereinbaren, was auch aus Sicht des AGB-Rechts unproblematisch ist, also innerhalb von Allgemeinen Einkaufsbedingungen festgelegt werden kann. Die Klausel „frei (z. B.) Fröndenberg“ (als Sitz des Bestellers) bewirkt dies freilich noch nicht. Damit übernimmt der Lieferant lediglich die Transportkosten, ohne dass sich an dem Charakter als Schickschuld etwas ändert (vgl. § 269 III BGB). Erst im Rahmen einer Bringschuld macht es dann Sinn, die für die just-in-time-Produktion so wichtige Lieferzeit zu definieren. Dies in Form einer kalendermäßigen Terminierung zu tun, hat bereits den Vorteil, dass damit gemäß § 286 II Nr. 2 BGB Verzug auch ohne Mahnung eintreten kann. Hinsichtlich der zu leistenden Zahlungen handelt es sich ohnehin um eine Schickschuld (§ 270 I, III BGB), so dass insoweit für den Besteller kein Be- <?page no="322"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 295 darf an Vertragsgestaltung besteht. In diesem Zusammenhang ist nur noch ergänzend darauf hinzuweisen, dass der Besteller versuchen sollte, § 353 HGB auszuschließen, um Fälligkeitszinsen zu entgehen. Die bloße kalendermäßige Festlegung der Lieferzeit (i. V. m. einer Bringschuld) führt zwar im beschaffungsseitig erwünschten Sinne eher zum Verzug, birgt aber immer noch erhebliche Risiken, z. B., dass vorfällig geliefert (§ 271 II BGB! ) und dadurch Lagerkapazität erforderlich wird. § 271 II BGB muss also abbedungen werden. Außerdem gibt der bloße Lieferverzug immer noch nicht freie Hand, auf andere Lieferanten umzudisponieren, weil § 323 I BGB dafür grundsätzlich noch Nachfristsetzung fordert. Ob diese Voraussetzungen gegenüber dem in aller Regel ja „unternehmerischen“ Lieferanten durch AGB abbedungen werden können (§ 310 I 1 BGB! ), erscheint zweifelhaft. Dieses Problem stellt sich aber gar nicht erst, wenn der Liefertermin als „fix“ bezeichnet wird. Wiederum nach Handelsbrauch soll mit dieser Fixklausel nämlich ausgedrückt werden, dass das Geschäft mit Einhaltung der Leistungsfälligkeit „steht und fällt“, dass der Gläubiger also an Leistungserbringung gerade bei Fälligkeit ein überragendes Interesse hat, der „Fortbestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung gebunden“ ist: Dann muss nach § 323 II Nr. 2 BGB der Gläubiger dem Schuldner keine (erfolglose) Nachfrist setzen, um ein Recht zum Rücktritt zu haben. Außerdem (§ 325 BGB! ) kann der Besteller (als Gläubiger) vom Lieferanten (als Schuldner) nun auch nach § 281 II BGB sogleich sogar Schadensersatz statt der Leistung verlangen, weil beim nicht eingehaltenen Fixtermin „besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruches rechtfertigen“. Voraussetzung für diesen Schadensersatzanspruch ist zwar nicht Verzug (§ 286 BGB), wohl aber, dass der Schuldner die Überschreitung des Fixtermins zu vertreten hat, weil § 281 I 1 BGB auch auf § 280 I 2 BGB verweist. Das ist für den Gläubiger problematisch, so dass er versuchen sollte, dies vertraglich abzudingen. Wird Schadensersatz statt der Leistung verlangt, verliert der Gläubiger damit gemäß § 281 IV BGB seinen („primären“) Anspruch auf die ursprüngliche Leistung. Da es sich bei alledem um allgemeines Leistungsstörungsrecht handelt, kann nicht nur ein Kaufvertrag, sondern etwa auch ein Werkvertrag als Fixgeschäft ausgestaltet sein. Bei allen Fixgeschäften ist übrigens eine vorfällige Leistung vertragswidrig, denn für „Zweifel“ i. S. von § 271 II BGB ist hier kein Raum. Und Schuldnerverzug kann hier nach § 284 II Nr. 2 BGB auch ohne Mahnung eintreten. Sofern der Lieferant oder der Besteller (oder auch beide) den Kaufmannsstatus haben (zur Geltung von Handelsrecht für beide Seiten auch beim einseitigen Handelsgeschäft s. § 345 HGB), handelt es sich bei dem Kauf um einen Handelskauf. Ist die Lieferzeit „fix“ gestellt, liegt somit ein Fixhan- <?page no="323"?> 296 II. Beschaffung, Absatz und Logistik delskauf vor. Auf solche Geschäfte findet als Sonderregelung (lat. „lex specialis“ gegenüber der allgemeinen Regelung, der „lex generalis“) § 376 HGB Anwendung. Diese Norm ergänzt und verändert die allgemeinen Regeln über Leistungsstörungen beim Fixgeschäft. Im praktischen Ergebnis heißt dies vor allem, dass der Besteller wegen § 376 I 2 HGB sofort (nicht nur: unverzüglich! ) nach Überschreiten der fix gestellten Lieferzeit seinen (primären) Lieferanspruch gegenüber dem Lieferanten geltend machen muss, um ihn nicht überhaupt einzubüßen. Außerhalb des § 376 HGB tritt dieser Anspruchsverlust hingegen ja erst ein, wenn der Gläubiger tatsächlich vom Schuldner Schadensersatz statt der Leistung (oder, wie § 376 HGB formuliert: „Schadensersatz wegen Nichterfüllung“) verlangt. Als Schuldrecht ist § 376 HGB dispositives Recht, so dass die für den Käufer unangenehme Obliegenheit des § 376 I 2 HGB jedenfalls individualvertraglich und wohl auch durch AGB abbedungen werden kann. Ferner erleichtert § 376 II HGB durch die Möglichkeit einer abstrakten Schadensberechnung nach Marktpreisen die Bezifferung des entstandenen Schadens, der aber auch konkret (und dann eventuell höher! ) berechnet werden kann. Gerade das just-in-time-Konzept verlangt gelegentlich eine Flexibilisierung des Materialflusses, so dass nicht schon bei Vertragsschluss Liefertermine, womöglich „fix“, festgelegt werden können. Dann ist Lieferung „auf Abruf“ zu vereinbaren. Aus Sicht des Lieferanten empfiehlt sich dabei die Festsetzung einer Frist, innerhalb der dann der Abruf zu erfolgen hat. Die Abrufklausel nimmt wie auch die Fixklausel dem Lieferanten zugleich das Recht zur vorfälligen Lieferung (vgl. § 271 II BGB), ohne dass es einer besonderen diesbezüglichen Abrede bedürfte. Abruf- und Fixklausel können auch kombiniert werden, so dass dann die Vorteile beider beim Besteller kumulieren. Auch soweit das Flexibilisierungsbedürfnis nicht zeit-, sondern produktbezogen ist, lässt sich dem Rechnung tragen. Denn der genaue Liefergegenstand kann bei Vertragsschluss durchaus noch offen gehalten werden und der späteren Bestimmung durch den Käufer vorbehalten bleiben. Für einen derartigen sog. Spezifikationskauf gilt zunächst § 315 BGB und beim Handelskauf ergänzend § 375 HGB, der sogar zur Spezifikation verpflichtet. Schon um sofortige Fälligkeit der Spezifikationspflicht zu vermeiden, sind nähere zeitliche Absprachen empfehlenswert. (2) Vertragsstrafe Besonders wirkungsvoll lässt sich Pünktlichkeit geschuldeter Leistungen, insbesondere Lieferpünktlichkeit, durch eine sog. Vertrags- oder Konventionalstrafe i. S. der §§ 339 ff. BGB fördern: Im Falle verzögerlicher oder gar <?page no="324"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 297 völlig unterbliebener Lieferung hat der Lieferant dann diese Strafzahlung an den Besteller zu leisten. Etwaige Schadensersatzansprüche können gleichwohl verfolgt werden, wobei die Vertragsstrafe auf den zu leistenden Schadensersatz angerechnet wird. Es handelt sich bei der Vertragsstrafe also um etwas völlig anderes als um die Geldstrafe, die im Strafprozess auf Grund einer Straftat verhängt wird und an die Staatskasse fließt. Je höher die angedrohte Konventionalstrafe ist, desto größeren Einfluss wird sie auf den Lieferanten haben. Dabei besteht in der Höhe prinzipiell keine Grenze, jedenfalls nicht, wenn der Lieferant Kaufmann ist: Eine Herabsetzung der vereinbarten Vertragsstrafe, wie sie an sich durch § 343 BGB vorgesehen ist, scheidet hier gemäß § 348 HGB aus. Eine gewisse Schwächung des Instruments der Vertragsstrafe liegt darin, dass sie nach § 339 S. 1 BGB an den Verzug anknüpft, der ja seinerseits wegen § 286 IV BGB Vertretenmüssen voraussetzt. Mag dies bei der im Beschaffungswesen regelmäßig vorliegenden Gattungsschuld wegen des dabei vom Lieferanten übernommenen Beschaffungsbzw. Herstellungsrisikos (vgl. § 276 I 1 a. E. BGB) auch kein gravierendes Thema sein, so sollte doch versucht werden, die Vertragsstrafe ausdrücklich schon für den Fall bloßer Terminüberschreitung vorzusehen, um auch die Ausnahmefälle ohne Rücksicht auf eine konkrete Verantwortlichkeit des Lieferanten bzw. allgemein des Schuldners dem Druck der Vertragsstrafe zu unterwerfen. Dagegen dürfte es bei ihrer Festsetzung in AGB auch im Blick auf die §§ 305c I, 307 BGB keine durchgreifenden Einwände geben. (3) Handelsklauseln Das Bedürfnis des Wirtschaftsverkehrs nach bündiger Kürze in der Formulierung des Vertragsinhalts, vor allem im Rahmen von AGB, hat zu einer Fülle von Handelsklauseln geführt, mit denen sich nach Handelsbrauch ein mehr oder weniger prägnanter Sinn verbindet. Sie haben, wie zu betonen ist, entgegen verbreiteter Vorstellung keine Rechtsnormqualität. § 346 HGB verlangt allerdings bei der Auslegung von Rechtshandlungen wie namentlich bei der Vertragsauslegung ihre Berücksichtigung. In der Hierarchie der vertraglichen Rechtsquellen (gemeint sind hier in einem umfassenden Sinne alle rechtlich relevante Faktoren) rangieren sie zwar über dispositivem Recht, aber bereits unterhalb von AGB (vgl. nochmals Abb. 34). Einige derartige Klauseln (engl. Trade Terms) wurden bereits angesprochen, etwa die Klauseln „Angebot freibleibend“, „Lieferung auf Abruf“, „fix“ oder „(fracht)frei“. Besondere Bedeutung haben die Handelsklauseln naturgemäß bei internationalen Geschäftsbeziehungen, weil sie die Kommunikation erleichtern können. Dabei <?page no="325"?> 298 II. Beschaffung, Absatz und Logistik spielen namentlich die sog. Incoterms (engl. International Commercial Terms) eine große Rolle, die von der Internationalen Handelskammer in Paris zusammengestellt werden und zum 1. Januar 2011 überarbeitet wurden. Der Sinn der Handelsklauseln ist regelmäßig sehr komplex, wie vor allem ein Blick in die Incoterms zeigt: Hinter jeder der jetzt 11 und teilweise neuen Klauseln stehen je 10 Pflichtenpositionen für den Verkäufer und weitere 10 für den Käufer. Über einige national und international verwendete Klauseln informiert die folgende Übersicht. Die dortige Erläuterung ist keineswegs erschöpfend, sondern liefert nur erste Anhaltspunkte für die rechtliche Bedeutung. ab Werk, EXW (ex work): Erfüllungsort beim Lieferanten, und zwar als Holschuld. Baisse Rücktrittsrecht des Bestellers, wenn sich für ihn billigere anderweitige Belieferungsmöglichkeit ergibt. cif (mit Ortsangabe) (cost, insurance, freight): Sämtliche Kosten einschließlich Versicherungsprämie für Transport bis zum Bestimmungsort, meist dem Verschiffungshafen, muss Verkäufer tragen. Erfüllungsort ist der Bestimmungsort, was für Termine wichtig ist. cod (cash on delivery): Zahlung mit Lieferung („Per Nachnahme“) fob (mit Ortsangabe) (free on board): Wie cif, aber ohne Pflicht zur Versicherung auf eigene Rechnung. Kasse gegen Dokumente Zahlungsfälligkeit schon mit Aushändigung der Warenpapiere, sofern mit ihrer Hilfe über die Ware selber verfügt werden kann, wie dies namentlich beim Orderlagerschein der Fall ist. Zugleich Ausschluss einer Aufrechnung. Kasse gegen Faktura Zahlungsfälligkeit bei Rechnungsstellung, unabhängig von einer vielleicht noch gar nicht erfolgten Lieferung. Zugleich Aufrechnungsausschluss. Netto Kasse Zahlungspflicht ohne Abzüge (etwa Barzahlungsrabatt). Zugleich Aufrechnungsausschluss. Skonto (mit %-Angabe) Möglichkeit eines Abzugs vom regulären Kaufpreis bei vorfälliger Zahlung. Zahlung effektiv Ausschluss der Aufrechnung. <?page no="326"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 299 e) Qualitätssicherung (1) Bemusterung Im harten Wettbewerb kann sich kaum eine Unternehmung Qualitätsdefizite ihrer Produkte leisten, ohne Imageeinbußen, erhebliche Gewährleistungsaufwendungen und enorme Produkthaftungszahlungen zu riskieren. Der Einkauf trägt schon deshalb eine maßgebliche Verantwortung für die Vermeidung derartiger Qualitätsrisiken. Wichtig ist hierbei zunächst, die z. B. technisch definierte Soll-Beschaffenheit auch vertragsrechtlich zu verankern. Nicht immer aber ist es möglich, alle relevanten Eigenschaften bis ins kleinste Detail überhaupt namhaft zu machen. Da Probieren auch fertigungswirtschaftlich über Studieren geht, werden deshalb häufig Musterexemplare der potenziellen Lieferanten auf ihre Eignung hin getestet. Verlaufen derartige Versuche zufriedenstellend, kommt es für das beschaffende Unternehmen also darauf an, dass die regulären Lieferungen genau diesen bemusterten Probestücken entsprechen und alle negativen Folgen einer Qualitätsabweichung den Lieferanten treffen. Bei einem solchen Kauf „nach Probe“ oder (mit demselben Sinn) „nach Muster“ (nicht zu verwechseln mit einem Kauf „auf Probe“, §§ 454 f. BGB! ) sollte deutlich zum Ausdruck kommen, dass die Mustereigenschaften als Soll-Beschaffenheit vereinbart sind. Denn nicht überall, wo Muster im Spiel sind, ist der spätere Liefervertrag ein Kauf „nach Probe“ oder „nach Muster“. Die Mustervorlage kann nämlich auch lediglich der Orientierung dienen oder den Zweck haben, die Hemmschwelle für einen Vertragsschluss durch unmittelbaren Warenkontakt herabzusetzen. Dieser verkaufspsychologische Trick wird ja durchaus nicht nur auf der letzten Handelsstufe gegenüber dem privaten Verbraucher eingesetzt (Selbstbedienung; Probefahrt mit dem eigentlich zu teueren Kfz! ). Manchmal liegt ein Kauf nach Probe oder Muster sogar vor, obwohl es vordergründig an Proben bzw. Mustern ganz fehlt. So sind auch bei der als solche kenntlich gemachten Nachbestellung die Eigenschaften der zuvor gelieferten Ware gleichsam automatisch als Soll-Beschaffenheit vereinbart, weil die Ware aus dem vorangegangenen Vertrag als Muster des Anschlussvertrages fungiert. Beispiel: Bestellung „wie gehabt“. Besonders darauf hinzuweisen ist, dass beim Kauf nach Probe oder Muster der Maßstab für die Sachmangelfeststellung allein die Eigenschaften des Musters sind. Die „Fehlerhaftigkeit“ des Musters seinerseits ist gewährleistungsrechtlich deshalb bedeutungslos. Ein relevanter Fehler liegt vielmehr nur noch in einer Abweichung der Ist-Beschaffenheit der regulären Liefergegen- <?page no="327"?> 300 II. Beschaffung, Absatz und Logistik stände von den Mustereigenschaften. Allerdings können neben der Probenmäßigkeit zusätzliche Eigenschaften als Soll-Beschaffenheit festgelegt werden. Wenn die gelieferte Ware nicht der Soll-Beschaffenheit, also dem Muster oder den Vorlieferungen entspricht, können daraus unabsehbare Schäden entstehen. Einen Schadensersatzanspruch hat der Käufer aber nur dann, wenn der Lieferant den Sachmangel zu vertreten hat. Um auch wegen Sachmängeln Schadensersatz verlangen zu können, die der Lieferant nicht verschuldet hat, muss darauf geachtet werden, dass der Lieferant für die qualitative Übereinstimmung der zu liefernden Ware mit dem Muster oder der Vorlieferung „garantiert“ oder dies „zusichert“. Dies kann prinzipiell auch vorformuliert in Allgemeinen Einkaufsbedingungen dem Lieferanten gleichsam in den Mund gelegt werden. Dabei ist nur auf die (auch konkludente) Zustimmung des Lieferanten zu diesen AGB zu achten (Konsensprinzip! ), während bei diesen wohl nur im B2B-Bereich vorkommenden Fallgestaltungen solche Klauseln einer Inhaltskontrolle anhand des § 307 BGB standhalten sollten. (2) Wareneingangskontrolle Das Schlussglied in der Abwicklung eines Lieferauftrages bildet die Anlieferung. Die dabei auf Käuferseite vorzunehmende Wareneingangskontrolle ist nicht nur ein Gebot ökonomischer Vernunft, sondern auch notwendig, um etwaige Gewährleistungsansprüche beweismäßig vorzubereiten. Jedenfalls beim beiderseitigen Handelskauf würde ohne Wareneingangskontrolle ein an sich berechtigtes Gewährleistungsverlangen des Käufers aber leicht schon an § 377 II HGB auch rechtlich scheitern. Nach dieser Vorschrift verliert der Käufer nämlich alle eventuell bestehenden Gewährleistungsrechte (die Ware gilt als „genehmigt“, außer bei arglistigem Verschweigen des Sachmangels durch den Verkäufer § 377 V HGB! ), wenn er die in den § 377 HGB näher umschriebene Untersuchungs- und Reklamationspflicht verletzt (ganz ähnlich Artt. 38 f. CISG). Diese „Pflicht“ in Wahrheit eine Obliegenheit wird nämlich gerade im Interesse des Lieferanten statuiert, der schnell Rechtsgewissheit und eine sichere Dispositionsbasis für die Auflösung eventueller Gewährleistungsrückstellungen erhalten soll. Die 2-jährige Verjährungsfrist des § 438 I Nr. 3 BGB für die Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen trägt diesem berechtigten Anliegen ersichtlich nicht ausreichend Rechnung. Untersuchen und einen dabei in Erscheinung tretenden Mangel anzeigen muss der Käufer in gewissen Grenzen selbst dann, wenn wirtschaftlich betrachtet etwas ganz anderes als das Bestellte geliefert wurde. Rechtlich gesehen wird damit aber nur die Konsequenz aus dem eigenartigen subjektiven Fehlerbegriff gezogen. Da § 434 III BGB auch die Falschliefe- <?page no="328"?> 2. Auftrag und Auftragsabwicklung 301 rung (aliud-Lieferung) und den Mengenfehler (Fehl-, nicht Übermenge! ) als Sachmangel begreift, ist auch in solchen Fällen ausnahmslos zu untersuchen und ggf. zu reklamieren. Zu untersuchen ist die Ware nicht „sofort“, sondern (nur) unverzüglich (schärfer aber Art. 38 I CISG! ). Der damit angesprochene Prüfungsmaßstab ist auch daran zu orientieren, was „nach ordnungsmäßigem Geschäftsgang tunlich ist“ (§ 377 I HGB). Danach sind z. B. die Geschäftszeiten, der Zeitaufwand für Prüfungsvorbereitungen, die erforderliche Hinzuziehung sachkundigen Personals oder Dritter zu berücksichtigen. Auch die Art und Weise der Untersuchung wird durch diese gesetzlichen Kriterien bestimmt: Stichproben nach gesicherten statistischen Verfahren genügen bei umfangreichen Anlieferungen gleichartiger Produkte, Sichtprüfungen reichen wohl niemals aus, wo es auf chemische Eigenschaften der Ware ankommt. Zeigen sich bei der Untersuchung Mängel, so sind diese dem Lieferanten wiederum unverzüglich mitzuteilen. Zeigt sich ein Mangel erst später, obwohl sorgfältig untersucht wurde (sog. verdeckter oder versteckter Mangel), so ist nach Entdeckung unverzüglich zu reklamieren (§ 377 III HGB). Die Reklamation unterliegt grundsätzlich keiner ausdrücklichen gesetzlichen Form. Obwohl § 377 IV HGB von der Absendung der Mängelanzeigespricht, darf durchaus auch mündlich, telefonisch oder sonstwie gerügt werden. Allerdings muss die Reklamation Art und Umfang der Mängel klar erkennen lassen. Die rechtlichen Anforderungen sind hier nicht anders als bei der nach Frachtrecht zum Anspruchserhalt erforderlichen Schadensanzeige gemäß § 438 HGB, wo „hinreichend deutliche“ Kennzeichnung der Beanstandung verlangt wird. Auch die Mängelrüge nach Art. 39 I CISG erfordert, dass „die Art der Vertragswidrigkeit (sc. der angelieferten Ware) genau bezeichnet“ wird. Entgegen allgemeinen Grundsätzen kommt es für die Frage, ob rechtzeitig gerügt wurde, nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs beim Empfänger (Lieferant) an, sondern auf den Zeitpunkt der Absendung der Mängelanzeige (§ 377 IV HGB). Dies setzt allerdings eine ordnungsgemäße Absendung der Mängelanzeige voraus (Frankierung, Beachtung von Besonderheiten im Auslandsverkehr). Durch § 377 IV HGB wird der vom Gesetz beabsichtigte Lieferantenschutz letztlich doch wieder sehr in Frage gestellt. Denn der Lieferant muss, um sicherzugehen, selber initiativ werden, um zu klären, ob der Käufer mit der gelieferten Ware tatsächlich einverstanden war. Hat der (Distanz-)Käufer reklamiert, so trifft ihn nach § 379 I HGB die Pflicht, für eine einstweilige Aufbewahrung der bemängelten Ware zu sorgen. Als sachlicher Annex des schuldrechtlichen Kaufrechts ist auch § 377 HGB dispositiver Natur und kann also vertraglich oder durch Handelsbrauch nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen abgeändert werden. So können auch durch AGB, weil § 309 Nr. 13 BGB Unternehmer nicht schützt! z. B. be- <?page no="329"?> 302 II. Beschaffung, Absatz und Logistik stimmte, standardisierte Prüfmethoden vorgeschrieben sein oder kann die Reklamation an eine Form (einfache Schriftform, Einschreiben, Verwendung bestimmter Formulare) oder an feste Fristen gebunden werden. Durch Allgemeine Einkaufsbedingungen kann § 377 HGB umgekehrt auch gänzlich ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss ist ökonomisch sinnvoll vor allem dann, wenn der Lieferant ohnedies nach Qualitätssicherungsmethoden des Bestellers zu arbeiten hat und möglicherweise sogar Mitarbeiter des Bestellers im Lieferantenbetrieb Qualitätskontrolle treiben. Rückblickend ist als Kritik des § 377 HGB festzuhalten, dass diese Norm mehr verspricht als sie hält: Geht § 377 IV HGB wie soeben gezeigt an den Interessen des Verkäufers vorbei, so frustriert die Regelung ansonsten den Käufer. Denn auch nach ordnungsgemäßer Reklamation hat der unternehmerische Käufer bei der regelmäßigen Schickschuld im Rahmen des beiderseitigen Handelskaufes wegen Transportschäden keine Gewährleistungsrechte. Im maßgeblichen Zeitpunkt des Gefahrübergangs, nämlich bei Absendung (§ 447 BGB! ) war die Ware ja noch unbeschädigt! Deshalb macht die Mängelrüge in rechtlicher Hinsicht für den Käufer praktisch nur Sinn, wenn die Lieferschuld als Bringschuld definiert wurde. 3. Verpackung Ob überhaupt verpackt wird und welche Auswahl unter der Vielzahl von Packmitteln, z. B. Glasflaschen, Blechdosen, Kartons, Folie, Draht etc. getroffen wird, ist nicht nur ein materialwirtschaftlich-logistisches Problem der Transport- oder Lagerfähigkeit sowie der Handhabung. Die Funktion der Verpackung als Informationsträger qualifiziert die Verpackungsfrage auch nicht nur als Problem des Controlling oder des Marketing. Verpackung ist vielmehr gleichgewichtig auch ein rechtliches Thema. Dieses Thema ist allerdings primär öffentlichrechtlich besetzt. Das Öffentliche Recht verlangt nun einerseits vielfach Verpackungen, etwa nach §§ 13 ff. ChemG für gefährliche Stoffe. Auch wo keine Verpackungspflichten bestehen, werden an bestimmte Verpackungen, namentlich im Lebensmittelbereich, bestimmte Füllmengen, Grundpreisangaben etc. im Rahmen einer gesetzlich vorgegebenen Standardisierung geknüpft (vgl. z. B. §§ 1, 7, 8 EichG in Verbindung mit der FertigPackV). Andererseits wird die Verpackungsmaterie durch das AbfG determiniert, welches Abfallvermeidung, Abfallverringerung und Abfallverwertung vor allem i. S. des Recycling gebietet und dabei durch Rechtsverordnungen präzisiert wird. Bekannt in diesem Zusammenhang ist z. B. die Verordnung über die Rücknahme und Pfanderhebung von Getränkeverpackungen aus Kunststoff. <?page no="330"?> 3. Verpackung 303 Von großer praktischer Bedeutung ist etwa auch die (allgemeine) Verpackungsverordnung. Nach § 4 VerpackV sind grundsätzlich Verpackungshersteller und Warenvertreiber aller Handlungsstufen verpflichtet, Transportverpackungen wie Kanister, Paletten, Kartonagen und Schrumpffolien (im Gegensatz zu Verkaufsverpackungen, Umverpackungen und Getränkeverpackungen) nach Gebrauch zurückzunehmen und einer Wiederverwendung oder stofflichen Verwertung (Recycling) außerhalb der öffentlichen Abfallentsorgung zuzuführen. Grundsätzlich müssen nach § 6 I VerpackV auch Verkaufsverpackungen aus der Hand des Verbrauchers zurückgenommen werden. Wirtschaftsprivatrechtlich spielen diese Vorschriften nur eine Rolle, wo sie wie §§ 13 ff. ChemG als Schutzgesetze i. S. des § 823 II BGB anzusehen sind. Originär privatrechtlich ist die Verpackungsmaterie nur sporadisch geprägt. So kann sich eine Verpackungspflicht etwa im Rahmen von sog. Verkehrssicherungspflichten ergeben, um durch eine geeignete Verpackung Schäden an Rechtsgütern außerhalb der Ware selber und damit Schadensersatzansprüche des Geschädigten aus § 823 I BGB zu vermeiden. Auch dem Schutz der Ware selber dient aber z. B. die (privatrechtliche) Vorschrift des § 411 S. 1 HGB, demzufolge der Absender das Gut erforderlichenfalls transportsicher zu verpacken hat. Eine vertragsrechtlich begründete Verpackungspflicht ergibt sich z. B. ferner für den Einlagerer nach § 468 I HGB und für den Lagerhalter nach § 468 II Nr. 1 HGB. Ganz generell trifft den Verkäufer jedenfalls im Rahmen seiner Erfüllungsbegleit- und Schutzpflichten auch ohne besondere Abreden eine Pflicht zur produktadäquaten Verpackung im Rahmen von Verkehrsbzw. Handelsüblichkeit (vgl. §§ 157, 242 BGB, 346 HGB). Beispiele: Verkauf von Kaffee aus dem Getränkeautomaten bedingt Abgabe in einem wenigstens relativ hitzeisolierten Becher. Unbelichtete Filme müssen lichtgeschützt, Glaswaren bruchgeschützt, Flüssigkeiten auslaufgeschützt verpackt werden. Eine ganz andere Frage ist, wer die Verpackungskosten zu tragen hat. Grundsätzlich treffen denjenigen die Kosten, der zur Verpackung verpflichtet ist. Namentlich im Verkaufspreis ist also von vornherein auch dieser Kostenfaktor umfassend zu kalkulieren. Eine Ausnahme folgt aus § 448 BGB für den Versendungskauf aus dem Wesen der Schickschuld heraus: Der Verkäufer ist zwar verpflichtet, die Ware zu expedieren, doch liegt die logistische Distanz grundsätzlich (vgl. aber § 474 II BGB) in der Risiko- und Kostensphäre des Käufers. Der Käufer hat also auch die Verpackungskosten als Teil der Versandkosten zu tragen. Auch im Lagergeschäft gilt, dass grundsätzlich der Verpackungspflichtige die Verpackungskosten zu tragen hat. Die Kosten einer eventuell erforderlich werdenden Nachverpackung kann der Lagerhalter jedoch nach § 474 HGB als Aufwendungsersatz erstattet verlangen. <?page no="331"?> 304 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Eine (privatrechtliche) Verpflichtung zur Rückgabe des Packmittels besteht grundsätzlich nicht. Doch ergibt sich eine solche Pflicht gelegentlich aus einem konkludent geschlossenen Sachdarlehen, Miet- oder Leihvertrag, etwa beim sog. Flaschenpfand, aber auch bei sonstigen, oft schon wegen ihrer Konstruktion nicht gerade als Einmalverpackung erkennbaren Packmittel. Beispiele: Spezialsäcke, Paletten, Container. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, dass Auswahl und Gestaltung der Verpackung auch Wettbewerbsrecht zu berücksichtigen haben. Dies beschäftigt freilich weniger die Logistik als vielmehr das Marketing. Beispiele: Eine zu aufwendige Verpackung kann als sog. Kundenfang gegen § 4 Nr. 1 UWG verstoßen. Eine gemessen am Füllinhalt zu große Verpackung kann eine Irreführung (§ 5 UWG) darstellen. In der Verpackungslogistik ist ferner auf einen eventuellen Ausstattungsschutz anderer Rücksicht zu nehmen. § 3 I i. V. m. § 4 Nr. 2 und 3 MarkenG schützt nämlich bestimmte Verpackungsarten, z. B. Flaschen, Farben und Farbkombinationen, soweit diese Verpackungsgestaltungen sich innerhalb der beteiligten Verkehrskreise als Kennzeichen einer bestimmten Produktherkunft durchgesetzt haben. 4. Kommission a) Interessenlage und Abgrenzung In der Beschaffungslogistik ebenso wie in der Distributionslogistik spielt das Kommissionsgeschäft eine erhebliche Rolle. Mit der Einschaltung eines Kommissionärs lassen sich etwa besondere Marktkenntnisse nutzen oder Geheimhaltungseffekte erzielen. Damit berührt die Kommission zugleich den Bereich des Marketings. In dem verbreiteten funktional gegliederten System logistischer Subsysteme (vgl. Abb. 35) lässt sich das Kommissionsgeschäft gerade wegen seiner ökonomischen Vielschichtigkeit nicht klar zuordnen. Die für das Kommissionsgeschäft geltenden Vorschriften der §§ 383 ff. HGB sind für die Logistik im Übrigen nicht mehr von so großem Interesse, weil darauf anders als nach früherem Recht bei Spedition und Lagergeschäft (§§ 453 ff. HGB) nicht mehr verwiesen wird. Bei alledem darf die Tätigkeit des Kommissionärs nicht mit der Kommissionierung im logistischen Sinne des Zusammenstellens angeforderter Güter nach Lageraufträgen verwechselt werden. <?page no="332"?> 4. Kommission 305 Auftrag Transport Lager Verpackung Bestellung/ Bestätigung Allgemeine Geschäftsbedingungen Lieferort und -zeit Bemusterung Kommissionär/ Kommissionsgeschäft Spediteur/ Spedition Frachtführer/ Frachtgeschäft Frachtbrief/ Ladeschein Verpackungspflicht, Packmittelauswahl und -gestaltung Wareneingangskontrolle, Lagerhalle/ Lagergeschäft, Lagerschein Abb. 35: Privatrechtsbezüge materialwirtschaftlich-logistischer Subsysteme Der Rechtsbegriff des Kommissionärs und des Kommissionsgeschäftes hat damit nichts zu tun. Im spezifischen Sinn Kommissionär ist nach § 383 HGB vielmehr unabhängig von Art und Umfang des Unternehmens (§ 383 II HGB! ) derjenige, der es gewerbsmäßig übernimmt, Waren oder Wertpapiere für Rechnung eines anderen, des Kommittenten, im eigenen Namen zu kaufen oder zu verkaufen. Dies ist eine rechtlich verkürzte Diktion, denn selbstverständlich werden auch die dinglichen Erfüllungshandlungen (Übereignungen) mit umfasst. Die für die Einschaltung eines Kommissionärs typischen wirtschaftlichen Bedürfnisse verbinden sich freilich nicht nur mit der Waren- und Wertpapierbewegung. Dem trägt das Gesetz in § 406 I HGB Rechnung, in dem das Kommissionsrecht auf solche Fälle entsprechende Anwendung finden soll, also auf die sog. Geschäftsbesorgungskommission (§ 406 I 1 HGB) sowie die Gelegenheitskommission (§ 406 I 2 HGB). Trotz dieses letztlich recht weiten Anwendungsbereiches des Kommissionsrechts gibt es gelegentlich Abgrenzungsprobleme. Das erste betrifft den Handelsvertreter. Der Handelsvertreter (§ 84 HGB) mit Abschlussvollmacht handelt jedoch in fremdem Namen, wird damit also nicht Vertragspartner. Das Rechtsverhältnis wird vielmehr allein zwischen Käufer und Verkäufer begründet (vgl. § 164 I BGB). Der Handelsvertreter ohne Abschlussvollmacht hingegen vermittelt zwar ebenso wie der Handelsmakler (§§ 93 ff. HGB) lediglich das Geschäft, das dann aber ebenfalls allein zwischen Käufer und Verkäufer zustandekommt. Auch vom sog. Vertragshändler unterscheidet sich der Kommissionär charakteristisch. Der Vertragshändler hat keinen handelsrechtlichen Sonderstatus, sondern fällt schlicht unter § 1 II oder auch § 2 <?page no="333"?> 306 II. Beschaffung, Absatz und Logistik HGB, sofern es sich nicht überhaupt um einen Formkaufmann, meist wohl eine GmbH (vgl. §§ 13 III GmbHG, 6 II HGB), handelt. Im Gegensatz zum Kommissionär schließt der Vertragshändler Geschäfte nicht nur im eigenen Namen, sondern auch auf eigene Rechnung ab und trägt damit selber das unternehmerische Risiko für diese Geschäfte. Dabei ist er durch einen Rahmenvertrag zumeist langfristig und exklusiv in das Vertriebssystem eines Produzenten, Importeurs etc. eingebunden. Beispiel: Autohaus Müller, Vertragshändler der Adam Opel-GmbH. Durch dieselben Merkmale wie der Vertragshändler unterscheidet sich auch der Franchise-Unternehmer vom Kommissionär. Denn der Franchise- Unternehmer ist im Kern nur eine besonders ausgeprägte Variante des Vertragshändlers, vor allem aber nicht nur auch im Dienstleistungssektor. Franchising bedeutet die enge Einbindung meist vieler rechtlich selbständiger Unternehmer in eine umfassende Organisation auf der Basis eines vom Franchise-Geber bis ins Detail ausgearbeiteten, oft in Filialform erprobten, für die Franchise-Nehmer verbindlichen Geschäftskonzeptes unter einheitlichem Namen. Der Franchise-Nehmer partizipiert an Erfahrungswissen, das innerhalb des Franchisesystems anfällt, z. B. schon hinsichtlich der Standortwahl und natürlich später hinsichtlich der Betriebsführung. Der Franchise-Nehmer hat teil an der Marktgeltung des Systems, weil auch er unter dem in der Regel markenrechtlich geschützten, durch Werbung breit bekannt gemachten Systemnamen auftreten darf. Umgekehrt trifft den Franchise-Nehmer nicht nur die Pflicht zur Zahlung eines Entgeltes (Franchise-Gebühr), sondern generell zur strikten Einhaltung aller Vorgaben hinsichtlich Einkauf, Produktion, Einrichtung, Betriebsabläufe, Öffnungszeiten etc., was sich bis in die Arbeitsverträge der Mitarbeiter (Kleidung, Verhalten gegenüber Kunden etc.) auswirkt. Das ist auch sachlich gerechtfertigt, also nicht „unangemessen“ i. S. von § 307 BGB, weil schon ein einziges „schwarzes Schaf“ den goodwill des Systems insgesamt untergraben kann. Beispiele: McDonald’s, TUI/ First-Reisebüros, „Schülerhilfe“, Eismann, Coca-Cola- Produzenten; OBI-Baumärkte; Hilton- und Sheraton-Hotels. Für das Verständnis der Kommission sind zwei Relationen von Rechtsbeziehungen zu unterscheiden: Der Kommissionsvertrag mit seinen Rechten und Pflichten zwischen Kommissionär und Kommittenten einerseits und das Ausführungsgeschäft zwischen dem Kommissionär und dem Dritten (Kunden) andererseits. Zwischen dem Dritten und dem Kommittenten hingegen existiert keine Vertragsbeziehung (vgl. Abb. 36). <?page no="334"?> 4. Kommission 307 Abb. 36: Kommissionsvertrag und Ausführungsgeschäft b) Kommissionsvertrag Auch der Kommissionsvertrag ist in den §§ 383 ff. HGB nur unvollständig normiert. Jedenfalls ist auch der Kommissionsvertrag ein Geschäftsbesorgungsvertrag nach § 675 BGB. Im Übrigen ist Werkvertragsrecht heranzuziehen, wenn der Kommissionär ein einzelnes Geschäft besorgen soll, bei einer Betreuung über einen gewissen Zeitraum ist auf Dienstvertragsrecht (§§ 611 ff. BGB) zurückzugreifen. Diese unterschiedliche Kategorisierung ist einmal bedeutsam für das Kündigungsrecht, das nach § 627 BGB beiden Parteien jederzeit zusteht, nach § 649 BGB dagegen nur dem Kommittenten. Auch die Verjährung von Schadensersatzpflichten wegen schlechter Kommissionsausführung ist ganz unterschiedlich geregelt: § 634a BGB kennt sehr differenzierte Verjährungsfristen, ansonsten greift generell § 195 BGB mit seiner Regelverjährung von 3 Jahren. Die Hauptpflicht des Kommissionärs ist die Pflicht, unter Beachtung von Weisungen des Kommittenten ein möglichst vorteilhaftes (schuldrechtliches) Ausführungsgeschäft zu tätigen (§ 384 I HGB), was zumeist auch im Wege des sog. Selbsteintritts (§ 400 HGB) geschehen kann. Handelt der Kommissionär derart pflichtgemäß, so gebührt der Erlös aus dem Ausführungsgeschäft jedenfalls dem Kommittenten (§ 384 II HGB), selbst wenn dieser durch eine Weisung eine geringere Gewinnerwartung zum Ausdruck gebracht hat (§§ 387, 385 II HGB i. V. m. § 665 BGB). Bei Pflichtverletzungen des Kommissionärs in Form weisungswidrigen Handelns normiert § 385 HGB eine Schadensersatzpflicht aus vermutetem Verschulden. Allerdings kommt dem Kommissionär bei der Missachtung von Verkaufs- oder Einkaufslimits möglicherweise die Genehmigungsfiktion des § 386 HGB zustatten. In Bezug auf das Kommissionsgut trifft den Kommissionär schon nach all- <?page no="335"?> 308 II. Beschaffung, Absatz und Logistik gemeinen Rechtsgrundsätzen (vgl. § 241 II BGB) eine Schutzpflicht gegenüber drohender Beschädigung oder drohendem Verlust, bei deren schuldhafter Verletzung der Kommittent vom Kommissionär Schadensersatz verlangen kann. Diese Rechtslage wird durch § 390 HGB letztlich nur bestätigt. Für seine Bemühungen hat der Kommissionär neben dem Recht zum Aufwendungsersatz (§§ 675, 670 BGB, 396 II HGB) vor allem einen Anspruch auf Provision entsprechend den vertraglichen Abmachungen, jedenfalls aber nach § 354 I HGB. Der Provisionsanspruch ist nach § 396 I 1 HGB grundsätzlich aufschiebend bedingt (§ 158 I BGB) durch die „Ausführung des Geschäfts“. Das ist ausgesprochen mehrdeutig, wird aber mit Rücksicht auf die beiden Ausnahmeregelungen in § 396 I 2 HGB zu Recht als Erfüllung des schuldrechtlichen Ausführungsgeschäftes - und zwar durch den Dritten verstanden: „Ausführung“ bedeutet also namentlich der Abschluss des (dinglichen) Rechtsgeschäftes Übereignung gemäß § 929 BGB in Erfüllung der den Dritten treffenden Leistungspflicht aus dem (schuldrechtlichen) Kaufvertrag gemäß § 433 BGB. Bei der Verkaufskommission liegt die Bedingung somit in der Zahlung, bei der Einkaufskommission in der Lieferung des Dritten an den Kommissionär. c) Ausführungsgeschäft Da der Kommissionär im eigenen Namen den Vertrag mit dem Dritten abschließt, bestehen vertragliche Rechte und Pflichten (nur) zwischen diesen Personen (es liegt auch kein Vertrag zugunsten des Kommittenten i. S. des § 328 BGB vor! ). Verletzt der Dritte seine Vertragspflichten, ist er deshalb bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nur dem Kommissionär als seinem Vertragspartner schadensersatzpflichtig. Da dieser jedoch nicht für eigene, sondern für fremde Rechnung handelt, fehlt es in der Person des Kommissionärs an einem Schaden, sofern er nicht gegenüber dem Kommittenten eine sog. Delkredere-Haftung übernommen hat (§ 394 HGB: Delkredere = Einstehen für die Erfüllung der Leistungspflicht des Dritten). Ausnahmsweise gestattet die h. M. hier - und in wenigen anderen Fällen, z. B. im Transportrecht i. V. m. einem Versendungskauf eine Drittschadensliquidation: Der anspruchsberechtigte Kommissionär kann mit seinem Schadensersatzanspruch den Schaden des Kommittenten geltend machen bzw. diesen Anspruch, ausgefüllt mit dem Drittschaden, eben dem Schaden des Kommittenten, an den Kommittenten abtreten. Dies kann im Wege der antizipierten, vorweggenommenen Zession sogar schon vor Schadenseintritt geschehen, also vor Entstehung des Anspruchs. Hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse am Kommissionsgut sind Verkaufs- <?page no="336"?> 4. Kommission 309 und Einkaufskommission im Interesse größerer Anschaulichkeit gedanklich zu trennen: Bei der Verkaufskommission verbleibt das Eigentum trotz Übergabe des Kommissionsgutes an den Kommissionär in aller Regel beim Kommittenten. Der Dritte erlangt Eigentum durch eine Verfügung, die der Kommissionär als bloßer Besitzer im eigenen Namen über das Eigentum des Kommittenten wegen einer von diesem erteilten Verfügungsermächtigung wirksam trifft (§§ 929, 185 I BGB). Der Kaufpreis geht umgekehrt regelmäßig in Besitz und Eigentum des Kommissionärs über und ist erst in Erfüllung der Herausgabepflicht nach § 384 II HGB in das Vermögen des Kommittenten zu überführen. Fraglich ist die Rechtslage, wenn der Vertragspartner des Ausführungsgeschäftes fälschlicherweise das Bestehen einer (wirksamen) Verfügungsermächtigung annimmt. Grundsätzlich muss zwar jedermann die Folgen seiner Desinformiertheit selber tragen, doch kommt dem Vertragspartner hier ausnahmsweise § 366 I HGB zu Hilfe: Sein guter Glaube an eine wirksame Verfügungsbefugnis des Kommissionärs wird im gleichen Umfang geschützt wie sonst der gute Glaube an das Eigentum des Veräußerers (§§ 932 ff. BGB), findet seine Grenze also hier wie dort bei abhanden gekommenen beweglichen Sachen (§ 935 I BGB). Beispiel: D will Diebesgut mit Hilfe des Kommissionärs K zu Geld machen. Die von D dem K erteilte Verfügungsermächtigung ist mangels Eigentums des D am Diebesgut unwirksam. Der gutgläubige Erwerber E (§ 932 II BGB analog) erwirbt trotz seines guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis des K kein Eigentum, weil § 366 I HGB eben auch eine Analogie zu § 935 I BGB zieht. Keine Rolle spielt bei alledem, ob K seinerseits eingeweiht ist oder nicht. Bei der Einkaufskommission wird der Kommissionär wiederum regelmäßig (Besitzer und) Eigentümer des Kommissionsgutes. Der Kommittent erlangt seinerseits grundsätzlich erst durch dingliche Einigung und Übergabe nach § 929 S. 1 BGB Eigentum. Schon vor Übergabe kann allerdings ein Eigentumserwerb durch vorweggenommenes, „antizipiertes“ sog. Besitzkonstitut (§ 930 BGB) herbeigeführt werden. Dabei wird die an sich zur Übereignung beweglicher Sachen erforderliche Übergabe durch den Abschluss eines Miet-, Leih-, Verwahrungs- oder ähnlichen Vertrages ersetzt, wodurch der Eigentumserwerber dann gemäß § 868 BGB mittelbarer Besitzer wird. Der Mieter, Entleiher, Verwahrer etc., der ja hier zugleich derjenige ist, der das Eigentum übertragen will, bleibt unmittelbarer Besitzer. Nur er hat also den echten Gebrauchsnutzen der Sache. Bezogen auf die Einkaufskommission ist unmittelbarer Besitzer der Kommissionär, mittelbarer Besitzer bei antizipiertem Besitzmittlungsverhältnis (Verwahrungsvertrag, §§ 688 ff. BGB) der Kommittent. Dieser wird nach einer „logischen Sekunde“ bei ebenfalls antizipierter Einigung über den Eigentumswechsel also Eigentümer des Kommissionsgutes, obwohl sich äußerlich <?page no="337"?> 310 II. Beschaffung, Absatz und Logistik betrachtet gar nichts verändert. Dies bedeutet für den Kommittenten einen erheblichen Schutz gegenüber pflichtwidrigen Verfügungen des Kommissionärs und gegenüber Vollstreckungen in das Kommissionsgut durch Gläubiger des Kommissionärs. Noch besser geschützt wäre der Kommittent allerdings, wenn er Eigentum direkt vom Dritten erwirbt, ein „Durchgangserwerb“ des Kommissionärs also ganz vermieden wird. Wegen § 164 II BGB bedarf es für einen solchen Direkterwerb aber prinzipiell einer offenen Stellvertretung des Kommittenten durch den Kommissionär. Mit einem etwaigen Wunsch nach Geheimhaltung lässt sich dies freilich nicht vereinbaren. Überhaupt würde eine solche Abwicklung dem Regelungsmodell der Kommission zuwiderlaufen; die Parteien hätten dann von vornherein das Modell der Handelsvertretung nach §§ 84 ff. HGB gewählt. Dem Schutz des Kommittenten dient schließlich auch die wegen ihrer Relativität schwer verständliche Fiktion des § 392 II HGB, der als Ausnahme auf der selbstverständlichen Regel des § 392 I HGB aufbaut. Wesentliche praktische Folgerungen sind u. a., dass der Kommittent nach § 771 ZPO die sog. Drittwiderspruchsklage erheben und damit die Zwangsvollstreckung für ungültig erklären lassen kann, wenn ein Gläubiger des Kommissionärs sich im Wege der Zwangsvollstreckung eine Forderung des Kommissionärs gegen den Dritten pfänden und sich überweisen lässt (§§ 829, 835 ZPO). 5. Lagerwesen a) Lagerarten und Lagervertrag Das eigentliche Lager wirft keine wirtschaftsprivatrechtlichen Fragen auf, weil es ohne weiteres dem unternehmerischen Willen kraft Eigentum oder Miete des Lagergrundstücks oder des Lagerraums unterworfen ist und die dort tätigen Mitarbeiter über das arbeitsvertragliche Direktionsrecht gesteuert werden. Eine rechtliche Kontur gewinnt erst der das Lagergeschäft selbständig betreibende Unternehmer. Der Begriff dieses Lagerhalters folgt aus § 467 HGB: Lagerhalter ist demnach, wer gewerbsmäßig Lagerung und Aufbewahrung von Gütern übernimmt und entweder über ein entsprechend großes Unternehmen verfügt (vgl. § 1 II HGB) oder von der Option des § 2 HGB Gebrauch gemacht hat (§ 467 III 2 HGB). Ist dies nicht der Fall, so gelten die §§ 467 ff. HGB allerdings trotzdem und nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung sogar die §§ 343 ff. HGB (mit Ausnahme der §§ 348-350 HGB), obwohl diese doch eigentlich einen beteiligten „Kaufmann“ voraussetzen. Güter und Waren sind dabei nicht genau dasselbe. Ersteres ist vielmehr eine <?page no="338"?> 5. Lagerwesen 311 Teilmenge aus dem Gesamtbegriff der Waren. Als Lagergüter gelten nur lagerfähige bewegliche Sachen, also weder Geld, Wertpapiere noch (grundsätzlich) lebende Tiere. Mit fortschreitender Lagertechnik (z. B. Kühlungsmöglichkeiten) nähert sich der Begriff der Güter jedoch immer mehr dem der Waren. Rechtlich sind drei Lagerarten zu unterscheiden: Im Zweifel ist eine Einzellagerung vorzunehmen, bei der die eingelagerten Güter jeweils von anderen getrennt gehalten werden. Der Lagerhalter erwirbt durch die Einlagerung kein Eigentum am Lagergut, sondern lediglich unmittelbaren Besitz (§ 854 BGB). Der Einlagerer wird mittelbarer Besitzer (§ 868 BGB), behält daneben auch seine eventuelle Stellung als Eigentümer. Gläubiger des Lagerhalters können demzufolge in das Lagergut so lange vollstrecken (§ 808 ZPO stellt für die Handlungsmöglichkeiten des Gerichtsvollziehers nur auf den unmittelbaren Besitz - „Gewahrsam“ ab), bis der Eigentümer im Klagewege dem widerspricht (Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO). Sammellagerung ist bei vertretbaren Sachen möglich und wird da kostengünstiger dort vielfach vereinbart. Mit Vermischung werden die Einlagerer solcher Güter Miteigentümer bis zur Auslieferung (§§ 948, 947, 1008 ff., 741 ff. BGB, 469 HGB). Die lagerrechtliche Grundlage dafür liefert § 469 HGB. Bei der sog. Summenlagerung wird der Lagerhalter an den eingelagerten vertretbaren Sachen verabredungsgemäß sogar Eigentümer. Auf diese Lagerart finden die Vorschriften für das Lagergeschäft überhaupt keine Anwendung, wie das frühere Recht ausdrücklich klarstellte. Rechtssystematisch gesehen ist der Lagervertrag keine Miete (§§ 535 ff. BGB), sondern Verwahrung (§§ 688 ff. BGB), denn der Lagerhalter schuldet ja nicht nur Lagerung, sondern auch Aufbewahrung. Wegen der grundsätzlichen Geltung der einschlägigen bürgerlichrechtlichen Vorschriften können sich die §§ 467 ff. HGB demnach auf die Regelung von Einzelfragen beschränken. Die Summenlagerung richtet sich hingegen im Wesentlichen nach dem Recht des Sachdarlehens (§§ 700, 607 ff. BGB). Wie die §§ 688 ff. BGB sind auch die §§ 467 ff. HGB durchweg dispositives Recht (Ausnahme: § 475h HGB). Bei abweichenden Vereinbarungen sind allerdings wie auch sonst die Restriktionen des AGB-Rechts zu beachten, wenn Vorformulierungen verwendet werden. Grundsätzlich ist die Erhaltung des Lagergutes Sache des Einlagerers bzw. des Eigentümers. Der Lagerhalter ist deshalb gemäß § 471 HGB verpflichtet, die Besichtigung des Lagergutes und die Vornahme von Erhaltungshandlungen an Ort und Stelle zu gestatten. Ferner ist der Lagerhalter verpflichtet, den Einlagerer seinerseits über Gefahren unverzüglich zu informieren, die dem Lagergut drohen. Es handelt sich dabei also um eine zur Nebenleistungspflicht gesteigerte Schutzpflicht. Wird das eingelagerte Gut beschädigt oder geht es gar verloren, so ist der Lagerhalter gemäß § 475 HGB zum Scha- <?page no="339"?> 312 II. Beschaffung, Absatz und Logistik densersatz verpflichtet, wenn ihm nicht der schwer zu führende Nachweis gelingt, dass er - und seine Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns (vgl. auch § 347 HGB) beachtet haben. Neben dem Entgeltanspruch nach § 467 II HGB hat der Lagerhalter gemäß § 474 HGB auch Anspruch auf Ersatz erforderlicher Aufwendungen (z. B. Nachverpackung). Da zweifelhaft sein kann, wo die mit dem Lagergeld vergüteten Lagerkosten enden und die gesondert abzurechnenden Aufwendungen anfangen, empfiehlt sich entweder ein diesbezüglicher vertraglicher Ausschluss des § 474 HGB oder eine detaillierte Auflistung der geschuldeten und mit dem Lagergeld vergüteten Lagerleistungen oder der eigens zu erstattenden Aufwendungen. b) Der Lagerschein Über den Einlagerungsvorgang erhält der Einlagerer vom Lagerhalter jedenfalls ein schriftliches Empfangsbekenntnis zu Beweiszwecken ausgestellt. In der Praxis erhält der Einlieferer aber zumeist ein Papier mit weit größerer rechtlicher Bedeutung, nämlich einen Lagerschein ausgestellt. Dabei sind 3 Verkehrsformen zu unterscheiden, der Rekta-(Namens-)Lagerschein, der Inhaberlagerschein sowie der Orderlagerschein. Alle diese 3 Lagerscheine sind in ihrem rechtlichen Wesen nur bei genaueren Kenntnissen des Wertpapierrechts verständlich, doch sind hier gleichwohl einige Hinweise möglich und nötig. Seine rechtliche Regelung findet der Lagerschein in den §§ 475c ff. HGB, ergänzt durch die §§ 363 ff. HGB. Inhaltlich drückt sich im Lagerschein ein Empfangsbekenntnis des Lagerhalters einerseits sowie sein Verwahrungs- und Auslieferungsversprechen andererseits aus, und zwar dergestalt, wie sie sich aus dem Lagervertrag, also gegenüber dem Einlagerer als Vertragspartner ergeben (vgl. § 475d III HGB). Neben dem vertraglichen Auslieferungsanspruch des Einlagerers besteht also kein gleichartiger zweiter Anspruch aus dem Lagerschein als solchem. Rechtlich sind die zahlreichen Funktionen des Lagerscheins bemerkenswert: Der Lagerschein ist zunächst Beweisurkunde über Abschluss und Inhalt des Lagervertrages sowie über Einlagerung und Auslieferung (vgl. zum sog. Abschreibungsvermerk § 475e HGB. Er ist ferner Legitimationspapier zugunsten des Lagerhalters, dem es freisteht, mit befreiender Wirkung insbesondere an einen durch Indossament ausgewiesenen Inhaber des (Order-) Lagerscheins auszuliefern (vgl. § 475f HGB). Der Orderlagerschein wirkt ferner als Legitimationspapier auch zugunsten seines Inhabers, der sich im Falle einer Klageerhebung nur auf den durch die Urkunde vermittelten <?page no="340"?> 6. Spedition und Transport 313 Rechtsschein einer Berechtigung zu stützen braucht (§ 365 HGB i. V. m. Art. 16 I WG). Jedweder Lagerschein ist Voraussetzung für die Geltendmachung der lagervertraglichen Rechte (§ 475e HGB), worin sich der Charakter des Lagerscheins als echtes Wertpapier manifestiert. Der Orderlagerschein zeichnet sich darüber hinaus durch seine sog. Transportwirkung aus, er ist ein Traditionspapier: Durch Einigung über den Eigentumswechsel am Lagergut (§ 929 BGB) und Übergabe des Orderlagerscheins wechselt das Eigentum ohne Transport- und Zeitkosten. Der Orderlagerschein mobilisiert also das Lagergut, weil es einer realen Übergabe zum Eigentumswechsel nicht bedarf (§ 475g HGB). Dabei ist besonders wichtig, dass der Orderlagerschein gutgläubig vom Nichtberechtigten (dies ist der Nichteigentümer des Scheins) erworben werden kann, und zwar selbst bei dessen Abhandenkommen (§ 365 I HGB mit Art. 16 II WG). Gleichwohl ist ein gutgläubiger Erwerb des Lagergutes bei dessen Abhandenkommen wegen § 935 I BGB ausgeschlossen. Trotz dieser Einschränkungen geht die Übereignung des Lagergutes im Wege der Eigentumsübertragung am Orderlagerschein weit über das hinaus, was nach § 931 BGB zu erreichen wäre. Kennzeichnend für die zahlreichen rechtlichen Facetten des Lagerscheins ist schließlich die ihm eigene sog. Skripturhaftung nach § 475d II HGB: Der Lagerhalter haftet dem legitimierten Inhaber eines Lagerscheines (§ 475d I HGB) grundsätzlich für die Richtigkeit der im Lagerschein gemachten Angaben über das Lagergut. 6. Spedition und Transport Die Rechtsgrundlagen des Transports sind immer noch fast so vielfältig wie die Vielzahl der Transportmittel und Transportwege, wobei der Personentransport hier ganz generell ausgeblendet bleibt. Im Mittelpunkt auch des auf Güter beschränkten Transportrechtes steht aber wieder das HGB, das in den §§ 407 ff. HGB die privatrechtlichen Gütertransportverhältnisse zu Lande, in der Luft und auf den Binnengewässern normiert, während das Seefrachtgeschäft in den §§ 556 ff. HGB und das (nationale) Luftfrachtgeschäft im LuftVG eine ausschließliche bzw. ergänzende Regelung erfahren haben. Das Bedürfnis nach einem geeigneten einheitlichen rechtlichen Ordnungsrahmen für grenzüberschreitende Transporte hat zum Abschluss zahlreicher multilateraler Abkommen geführt, zu deren Unterzeichnerstaaten auch Deutschland gehört. So richtet sich der Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr nach der CMR, der (franz.) „Convention relative au contrat de transport international de marchandises par route“. Zu nennen ist hier ferner das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr <?page no="341"?> 314 II. Beschaffung, Absatz und Logistik (COTIF, franz. „Convention relative aux transports internationaux ferroviaires“), insbesondere mit seinem Anhang B, den Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM, franz. „Convention Internationale Concemant le Transport des Marchandises par Chemins de Fer“). Die Güterbeförderung im internationalen Luftverkehr ist Regelungsgegenstand des ursprünglich schon aus dem Jahre 1929 stammenden Warschauer Abkommens (WA, oft auch englisch abgekürzt WAG), das zuletzt 1999 durch das Montrealer Abkommen (MA) fortgeschrieben wurde. In Deutschland haben alle genannten Abkommen über Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines Bundesgesetzes, so dass sie unmittelbar (Bürger und) Unternehmen berechtigen und verpflichten. Schon angesichts der Fülle einschlägiger Rechtsvorschriften, also ganz abgesehen von den oft erforderlichen Kenntnissen der tatsächlichen Verhältnisse und Schwierigkeiten, verwundert nicht, dass regelmäßig schon die Auswahl und die Koordination der Transportmittel und Transporteure besonderen Unternehmern, den Spediteuren, übertragen werden. Der Spediteur ist als solcher verpflichtet, die Versendung von Gütern gegen Entgelt zu „besorgen“ (§ 453 HGB), also zu organisieren. Speditionsrecht gilt dabei auch für nichtkaufmännische Spediteure (§ 453 III HGB; ebenso ja im Lagergeschäft: § 467 III HGB). Mit Besorgung (vgl. § 454 HGB) ist neben dem Abschluss von Transportversicherungen, neben Verpackung und Kennzeichnung des Transportguts sowie dessen Zollbehandlung vor allem auch der Abschluss des Frachtvertrages gemeint, der entweder zwischen dem Transporteur als dem „Frachtführer” und Spediteur oder aber zwischen dem Frachtführer und dem Versender (Spediteur als Vertreter! ) zustande kommt. Entgegen dem Alltagssprachgebrauch führt der Spediteur also den Transport nicht selbst durch. Die übliche Verwechslung beruht auf folgendem Sachverhalt: Der Spediteur hat nach § 458 HGB grundsätzlich ein Recht zum Selbsteintritt. Übt er dieses Recht aus und befördert er dieses Gut selber (dies ist dem Versender gemäß den §§ 675, 666 BGB mitzuteilen), so erlangt der Spediteur insoweit die Stellung eines Frachtführers, ist also in dieser Funktion gerade nicht (mehr) Spediteur. Dasselbe gilt bei der Spedition zu festen Kosten nach § 459 HGB sowie bei der Sammelladungsspedition nach § 460 I HGB. Der Speditionsvertrag ist begrifflich als Werkvertrag in Form des Geschäftsbesorgungsvertrages einzuordnen, jedenfalls wenn es sich um die Besorgung einer bestimmten Güterversendung handelt. Sollen über einen gewissen Zeitraum hinweg alle oder eine bestimmte Art von Versendung eines Kunden besorgt werden, so ist Dienstvertragsrecht ergänzend zu den §§ 453 ff. HGB heranzuziehen. Bei Verträgen zwischen Unternehmern („B2B“) werden im Übrigen in aller Regel die Allgemeinen Deutschen Spediteurbedingungen (ADSp) als Vertragsbestandteil vereinbart. In weiten Teilen <?page no="342"?> 6. Spedition und Transport 315 dürften sie auch ohne Vereinbarung unter den Voraussetzungen des § 346 HGB als insoweit lediglich verschriftlicher Handelsbrauch beachtlich sein. Ihre praktische Bedeutung hat sich nach ihrer Neufassung im Jahre 2003 noch weiter verstärkt, zumal die ADSp inhaltlich auch Transport und Lagerung sowie weitere logistische Dienstleistungen außerhalb des Regelungsmusters der §§ 407 ff. HGB ergreifen. Insbesondere erfassen die ADSp auch heute übliche Spediteurleistungen außerhalb der Umschreibung der Spediteurpflichten in § 424 I und II HGB. Beispiel: Bereitstellen von Paletten und Containern, Verwiegen, Kommissionieren, Dokumentation des Gutes. Schließt der Spediteur Transportverträge, Versicherungsverträge etc. zwar im eigenen Namen, aber für Rechnung des Versenders ab, so ähnelt die Interessenlage zwischen Spediteur und Versender derjenigen zwischen Kommissionär und Kommittent. In diesem Fall sind also neben den §§ 453 ff. HGB und den §§ 675, 631 ff. bzw. 611 ff. BGB ergänzend auch noch die §§ 383 ff. HGB entsprechend anzuwenden. Dass das Gesetz auf demselben Standpunkt steht, macht § 457 HGB deutlich, der sich weitgehend mit dem § 392 HGB deckt und insofern nur klarstellende Bedeutung hat. Da dem Spediteur lediglich die gute Besorgung der Versendung, insbesondere die sorgfältige Wahl des richtigen Frachtführers obliegt, hat er für die von sachgerecht ausgewählten Frachtführern verschuldeten Transportschäden nicht nach § 278 BGB einzustehen. Innerhalb seines Pflichtenkreises haftet der Spediteur nach § 461 HGB freilich streng, nämlich unter einer Verschuldensvermutung (§ 461 i. V. m. § 426 HGB), die sich auch auf „seine Leute“ und selbständige Erfüllungsgehilfen gemäß § 462 HGB erstreckt. Diese strenge Haftung lässt sich durch AGB wegen § 309 Nr. 7 BGB nur sehr begrenzt mildern. Im Prinzip sind auch die §§ 453 ff. HGB dispositives Recht. Allerdings zieht § 466 HGB abweichenden Vereinbarungen recht enge Grenzen, zumal dann, wenn der Auftraggeber des Spediteurs ein „Verbraucher“ (§ 13 BGB) ist. Die Bestimmung dieser Grenzen ist angesichts der verzwickten Formulierungstechnik des § 466 HGB, eines abschreckenden Beispiels moderner Gesetzgebungspraxis, im Einzelfall einigermaßen schwierig. Während die Organisation des Transports unter Berücksichtigung der oft verwickelten tatsächlichen Verhältnisse und der komplexen Rechtslage das Feld des Spediteurs ist, ist der Transport selber dann Angelegenheit des Frachtführers. Gemäß § 407 I HGB wird dieser durch den Frachtvertrag verpflichtet, das Gut zu Lande, auf Binnengewässern oder mit Luftfahrzeugen zum Bestimmungsort zu befördern und dort an den Empfänger abzuliefern. Besondere Schwierigkeiten in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht ergeben sich dabei beim sog. multimodalen Transport, wenn also ein und dasselbe <?page no="343"?> 316 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Gut sowohl zu Lande (möglicherweise per Eisenbahn und LKW) als auch per Binnenschiff und/ oder Flugzeug transportiert werden soll, weil dabei ja verschiedene Transportrechtsordnungen ineinandergreifen. Für diesen multimodalen Transport gelten neben den §§ 407 ff. HGB dann überdies §§ 452 ff. HGB. Der Frachtführer seinerseits kann als Gegenleistung das vereinbarte Entgelt („Fracht“: § 407 II HGB) verlangen, sowie eventuell weitere Zahlungen wie etwa „Standgeld“ nach § 412 III HGB oder Aufwendungsersatz z. B. im Falle nachträglicher Weisungen (§ 418 II HGB) oder bei Beförderungsbzw. Ablieferungshindernissen im Rahmen des § 419 HGB. Diese Ansprüche des Frachtführers sowie Ansprüche aus anderen mit dem Absender geschlossenen Fracht-, Speditions- oder Lagerverträgen sind dabei durch ein gesetzliches Pfandrecht gemäß § 441 ff. HGB gesichert. Wie entsprechend im Kommissions-, Lager- und Speditionsrecht setzt auch die Anwendung des Frachtrechts gemäß § 407 III 2 HGB nicht notwendig einen kaufmännischen Frachtführer als Transportunternehmer voraus. Kennzeichnend für das Frachtgeschäft ist jedenfalls ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Absender und dem Frachtführer als den Partnern des Frachtvertrages, denen noch der Empfänger hinzutritt. Der Empfänger seinerseits ist regelmäßig mit dem Absender, nicht aber mit dem Frachtführer, vertraglich zumeist kaufvertraglich verbunden. Der gesamte Frachtvertrag hat dabei kraft Gesetzes die Gestalt eines Vertrages zugunsten und zulasten Dritter: Dem Empfänger wachsen ohne selber Vertragspartner des Frachtführers zu sein! dessen Rechte gegenüber dem Frachtführer zu, und zwar je nach Transportfortschritt. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei die Ankunft des Gutes am Zielort, der „Ablieferungsstelle“ (vgl. § 421 I HGB). Doch trifft den Empfänger auch die frachtvertragliche Zahlungspflicht nach Maßgabe des § 421 II und III HGB, und zwar neben dem Absender (§ 421 IV HGB). Im allgemeinen Frachtgeschäft bedarf ein Frachtvertrag nach dem Grundsatz der Privatautonomie keiner Schriftform. Die inhaltliche Gestaltungsfreiheit der Frachtverträge war durch zwingendes Recht lange Zeit sogar hinsichtlich der Preisgestaltung stark reglementiert. Doch ist vor allem im Zuge des EG- Binnenmarktes eine zunehmende Liberalisierung zu verzeichnen. Einen derartigen Meilenstein stellt etwa die Aufhebung des Tarifsystems der früheren §§ 20 ff. GüKG dar. Auch nach der Transportrechtsreform sind der Abdingbarkeit des handelsvertraglichen Frachtrechts freilich nicht nur gegenüber Verbrauchern i. S. des § 13 BGB durch § 449 HGB deutliche Grenzen gesetzt. Diese fallen jedoch praktisch insofern weniger ins Gewicht, als der Gesetzgeber bemüht war, seine Vorschriften im Einklang mit den bewährten Regelungen des Übereinkommens über die Beförderung im internationalen Straßengüterverkehr (CMR), des Übereinkommens über den internationalen <?page no="344"?> 6. Spedition und Transport 317 Eisenbahnfrachtverkehr (CIM) und darüber hinaus mit der Transportrechtspraxis ganz allgemein zu halten. So ist etwa die Ausstellung eines Frachtbriefes mit einem bestimmten Regelinhalt nach § 408 HGB optional, wird also nicht zwingend vorgeschrieben. Verladen und sogar Entladen weist § 412 HGB grundsätzlich dem Pflichtenkreis des Absenders zu; der Frachtführer hat sich Abb. 37: Der Frachtführer im Kontext des Versendungskaufs nur darum zu kümmern, dass das Gut betriebssicher verladen wird. Soweit der Frachtführer dabei wie namentlich bei Gefahrgut auf spezielle Warnhinweise angewiesen ist, hat nach § 410 HGB der Absender den Frachtführer unaufgefordert darüber zu informieren. Widrigenfalls riskiert der Absender, dass der Frachtführer das Gefahrgut selbst nach Verladung wieder ausladen darf, ohne sich ersatzpflichtig zu machen, ja sogar seinerseits selbst ohne Verschulden des Absenders von diesem Aufwendungs- und Schadensersatz verlangen kann (vgl. § 414 I, insbesondere Nr. 3 HGB). Beispiel: Radioaktives Material für den medizinischen Gebrauch wird ohne strahlensichere Verpackung und ohne besondere Warnung dem Frachtführer zum Transport übergeben: Jederzeitige Möglichkeit des Transportabbruchs bei Anspruch auf Ersatz der Kosten für sachgerechtes Abladen (Schutzkleidung! ) und Zwischenlagern sowie Anspruch auf Ersatz der durch Verstrahlung entstandenen Schäden. In abgeschwächter Form besteht die Pflicht zu sachgerechter Verpackung und Kennzeichnung des Frachtgutes durch den Absender ganz allgemein nach § 411 HGB, doch ist hier auch der Schutz des Gutes, nicht wie in § 410 HGB allein der Schutz vor diesem Gut, das Ziel. In diese Richtung weist auch § 413 HGB, demzufolge der Absender Urkunden (sog. Begleitpapiere) zur Verfügung zu stellen und Auskünfte zu erteilen hat, die z. B. zur Zollab- <?page no="345"?> 318 II. Beschaffung, Absatz und Logistik fertigung erforderlich sind. Umgekehrt ist der Frachtführer nach § 418 HGB selbstverständlich gehalten, zumutbaren Weisungen des Absenders in Bezug auf das Frachtgut zu folgen, also dessen sog. Verfügungsrecht zu respektieren. Nach Ankunft des Gutes am Ablieferungsort geht das Verfügungsrecht nach § 418 II HGB grundsätzlich auf den Empfänger über. Der Empfänger ist dann gemäß § 421 I HGB sogar berechtigt, das Gut vom Frachtführer gegen Erfüllung der an sich den Absender treffenden frachtvertraglichen Verpflichtungen herauszuverlangen. Es ist also die vereinbarte Fracht zu entrichten, wenn der Empfänger das Gut haben will; zahlen muss er aber nicht (vgl. § 421 IV HGB). Einzelheiten dazu regelt § 421 II und III HGB. Der Frachtführer hat dabei auch die spezielle Weisung zu beachten, nur gegen sog. Nachnahme (engl. cod: „cash on delivery“) auszuliefern (vgl. § 422 HGB), also Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises, der dem Absender als Verkäufer im Verhältnis zum Empfänger als Käufer zusteht. Für dieses Szenario enthält § 422 II HGB zum Schutz des Absenders gegenüber Gläubigern des Frachtführers eine interessante Fiktion: Insofern gilt die eingezogene Nachnahme bereits als auf den Absender übertragen. Einer antizipierten Übereignung mittels Besitzkonstitut bedarf es also nicht. Droht die Ablieferung etwa wegen Transporthindernissen oder auch wegen Annahmeverzugs des Empfängers zu scheitern, so hat der Frachtführer Weisungen einzuholen, im Fall des Annahmeverzuges natürlich vom Absender, dem dann gemäß § 419 I HGB in Durchbrechung des § 418 II HGB das Verfügungsrecht zusteht. In der Transportpraxis spielen, wie bereits erwähnt, der Frachtbrief sowie der Ladeschein eine Rolle. Der Frachtbrief ist anders als der Lagerschein grundsätzlich kein Wertpapier, sondern lediglich eine allerdings durch § 409 HGB mit erheblicher Beweiskraft ausgestattete Urkunde: Er begründet bei beiderseitiger Unterschrift z. B. nicht nur die Rechtsvermutung für Abschluss und Inhalt des Frachtvertrages sowie für die Übernahme des Gutes, sondern auch für Anzahl und äußere Integrität der Frachtstücke. Ein im Frachtbrief eingetragener Vorbehalt des Frachtführers etwa wegen fehlender Möglichkeit, die Richtigkeit der Angaben zu überprüfen, lässt diese Haftung freilich entfallen. Auch auf das Verfügungsrecht kann der Frachtbrief Einfluss nehmen: Bei beiderseitiger Unterschrift kann nach § 418 IV und VI HGB seine Ausübung durch entsprechenden Vermerk im Frachtbrief an dessen Vorlage gebunden werden. Bei Vorlagepflicht hat der Frachtbrief dann ausnahmsweise den Charakter eines Wertpapiers. Zur verschuldensunabhängigen Haftung für Schäden bei Nichtvorlage des Frachtbriefes vgl. § 418 IV HGB. Während der Frachtbrief vom Absender ausgestellt wird, ist die vor allem in der Binnenschifffahrt auf Wunsch des Absenders erfolgende Ausstellung des <?page no="346"?> 6. Spedition und Transport 319 Ladescheins Sache des Frachtführers (vgl. § 444 I HGB). Doch hat der Ladeschein denselben Regelinhalt wie der Frachtbrief und begründet auch dieselben Rechtsvermutungen. § 444 III HGB verweist dazu auf § 409 II und III 1 HGB. Nach § 445 HGB ist der Frachtführer jedoch zur Ablieferung des Gutes nur gegen Rückgabe des Ladescheins mit Ablieferungsvermerk verpflichtet. Außerdem legitimiert er den Empfänger bezüglich des Verfügungsrechts und der Ablieferungszuständigkeit (§ 446 HGB) und ist überhaupt für das Rechtsverhältnis zwischen Frachtführer und Empfänger maßgeblich (§ 444 III 1 HGB), während sich das Rechtsverhältnis zwischen Frachtführer und Absender gemäß § 444 IV HGB nach den Bestimmungen des Frachtvertrages richtet. Schließlich ist der Ladeschein gemäß § 448 HGB Traditionspapier. Für Transportschäden und -verluste sowie für die Überschreitung der Lieferfrist nach § 423 HGB haftet der Frachtführer nach §§ 425 f. HGB, sofern rechtzeitig eine qualifizierte, ggf. sogar schriftliche Schadensanzeige nach § 438 HGB erstattet wurde und er nicht den Exkulpationsbeweis beachteter größtmöglicher Sorgfalt auch seiner Leute und selbständigen Erfüllungsgehilfen: § 428 HGB führen kann. Diese einer Gefährdungshaftung ähnliche, noch durch eine Verlustvermutung (§ 424 HGB) verstärkte Verantwortlichkeit wird freilich nach § 427 HGB durch besondere Haftungsausschlussgründe durchbrochen, etwa bei ungenügender Verpackung oder Kennzeichnung durch den Absender (Nr. 2 und 3). Diese strenge Haftung lässt sich durch AGB wegen § 309 Nr. 7 BGB nur sehr begrenzt mildern. Auch ist im Haftungsfall das Prinzip der Totalreparation durch §§ 429, 431- 433 HGB durchbrochen: Begrenzung auf Wertersatz bei Verlust des Transportguts sowie Haftungshöchstbeträge existieren sowohl für Substanzals auch für Verspätungs- und allgemeine Vermögensschäden (bei den beiden letzteren maximal die 3-fache Fracht: §§ 431 III, 433 HGB). Die Haftungshöchstbeträge für Substanzschäden sind nun nicht durch eine absolute ziffern-mäßige Obergrenze, sondern nach § 431 I HGB in sog. Rechnungseinheiten festgelegt, die sich gemäß § 431 IV HGB am Sondererziehungsrecht des Internationalen Währungsfonds (und dabei an einem Währungskorb) orientieren. Die in § 431 I HGB genannten 8,33 Rechnungseinheiten (pro Kilogramm Rohgewicht) entsprechen dabei gegenwärtig (Anfang 2011) sehr grob gerechnet knapp Euro 10. Nach § 435 HGB entfallen diese Einschränkungen freilich bei schwerem Verschulden wieder, wenn nämlich der Transportschaden „vorsätzlich oder leichtfertig und in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde“, herbeigeführt wurde. Mit dieser Formulierung dürften sowohl Eventualdolus als auch grobe Fahrlässigkeit gemeint sein. Weil der Gesetzgeber in den §§ 429-433 HGB von „Wertersatz“, „Haftungshöchstbeträgen“ und „Kostenersatz“ spricht, ist statt Naturalrestitution grundsätzlich <?page no="347"?> 320 II. Beschaffung, Absatz und Logistik Geldersatz zu leisten, sofern nicht § 435 HGB eingreift. Bei alledem gelten diese frachtrechtlichen Sonderregelungen gemäß § 434 HGB grundsätzlich auch für konkurrierende außervertragliche Ansprüche (z. B. aus §§ 823 ff. BGB) gegenüber dem Frachtführer sowie nach § 436 HGB sogar gegenüber seinen Leuten. Dem Empfänger stehen solche Ansprüche freilich ebensowenig zu wie frachtvertragliche: Vor Ablieferung wird er nicht Eigentümer (Übereignung erfolgt nach § 929 S. 1 BGB durch Übergabe bei dinglicher Einigung, hier durch Abzeichnung des Lieferscheins angedeutet), so dass § 823 I BGB ihm nicht hilft. Und im Verhältnis zu einem Verkäufer trägt der Empfänger als Käufer das Transportrisiko, wenn es sich wie durchweg bei den Lieferschulden um Schickschulden handelt und deshalb sowohl Gewährleistungsansprüche (Gefahrübergang i. S. von § 434 BGB wegen § 447 BGB schon bei Expedierung! ) als auch Ansprüche aus Leistungsunmöglichkeit ausscheiden. Als Käufer bleibt der Empfänger jedoch (wegen § 447 BGB als systematische Einschränkung des § 326 I BGB) dem Verkäufer zur Zahlung verpflichtet. Eben deshalb hat der Absender als Verkäufer keinen Schaden, den er gegenüber dem Frachtführer geltend machen brauchte. Es handelt sich hier um das „magische logistische Dreieck“ der Haftung (s. Abb. 38): Der Verkäufer / Absender hat frachtvertragliche und deliktische Schadensersatzansprüche gegen den Frachtführer und ggf. auch gegen dessen Leute, aber keinen Schaden. Und der Käufer/ Empfänger hat den Schaden, aber offenbar keine Ansprüche. Die Lösung des Problems erfordert 2 gedankliche Schritte. Erstens besteht zutreffender h. M. hierbei wie auch im Kommissionsgeschäft ausnahmsweise die Möglichkeit, dass der Verkäufer/ Absender in seine Schadensersatzansprüche gegen den Frachtführer die Schäden des Käufers einstellt (Drittschadensliquidation). Zweitens kann der Käufer/ Empfänger nach (eventuell sogar antizipierter) Zession diese nunmehr auf seinen Schaden gemünzten Ersatzansprüche gegen den Frachtführer erheben. Dieser Abtretung bedarf es praktisch aber nicht mehr, weil nach § 421 I 2 HGB der Empfänger die Schadensersatzansprüche des Verkäufers/ Absenders im eigenen Namen (mit dem Verlangen der Leistung an sich selber) geltend machen kann, ohne also selber deren Gläubiger zu sein (sog. Rechtsstandsschaft). Logisch ist aber auch in diesem Falle eine Drittschadensliquidation erforderlich, weil der Empfänger/ Käufer sonst ja nur den inhaltslosen Schadensersatzanspruch des Verkäufers/ Absenders gegen den Frachtführer im eigenen Namen geltend machen könnte. Die ohnehin schon bestehende Komplexität des Frachtrechtes wird noch durch die differenzierten Sonderregelungen hinsichtlich Verjährung (§ 439 HGB), hinsichtlich der Beförderung von Umzugsgut (§§ 451 ff. HGB) und schließlich hinsichtlich des bereits erwähnten multimodalen Transports <?page no="348"?> 7. Weitere logistische Dienstleistungen 321 Abb. 38: „Magisches“ logistisches Dreieck (Ausgangsszenario) (§§ 452 ff. HGB) unterstrichen. Die Krone setzen dem Ganzen aber §§ 449, 451h HGB auf, die die Grenzen abweichender Vereinbarungen in kaum durchschaubarer Weise festlegen. 7. Weitere logistische Dienstleistungen Bereits einleitend wurde darauf hingewiesen, dass die klassische Trias von Transporteur, Spediteur und Lagerhalter heutzutage nur noch die Eckpunkte der logistischen Wirklichkeit beschreibt. Nicht nur sind die Übergänge zwischen der Transport-, Speditions- und Lagerfunktion fließend geworden, sodass die Frage des einschlägigen Rechtsregimes oft schon deshalb schwierig ist. Außerdem haben sich eigenständige logistische Tätigkeitsfelder herausgeschält, an die der Gesetzgeber gar nicht gedacht hat. Schließlich geht der Trend zum Unternehmer als Anbieter von kompletten kundenbezogenen Logistik-Dienstleistungen (sog. Kontraktlogistik). Dies bedeutet Konzeption und Organisation ganzer Wertschöpfungsketten einschließlich der dazugehörigen informationstechnischen Prozesse. Welche gesetzlichen Vertragstypen hier jeweils einschlägig sind, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. So ist z. B. der auf Verpackung und Verwiegung gerichtete Vertrag regelmäßig, d. h. objektbezogen, sicher ein Werkvertrag im Sinne der §§ 631 ff. BGB. Dasselbe gilt im Kern auch für das Be- und Entladen einschließlich des kompletten Güterumschlages. Wegen der darin eingeschlossenen Überwindung wenngleich auch nur kurzer Distanzen und Zeiträume (das nächste Beförderungsmittel steht noch nicht bereit) ist <?page no="349"?> 322 III. Organisation und Personalwesen aber die Einbeziehung fracht- und lagerrechtlicher Elemente i. S. eines Typenverschmelzungsvertrags zu erwägen. Transportunterbrechungen geben zugleich Gelegenheit, das Transportgut zu bearbeiten (z. B. Sortierung, Markierung, Konfektionierung, Montage, Beseitigung von Transportschäden, Containerpflege), was dann zum Gegenstand weiterer werkvertraglicher Verpflichtungen gemacht werden kann. Werden solche Tätigkeiten jedoch nicht objekt-, sondern zeitraumbezogen geschuldet, kann es sich begrifflich hingegen um einen Dienstvertrag nach §§ 611 ff. BGB handeln. Alles richtet sich eben nach den konkreten Vereinbarungen, was im Rahmen des dispositiven Rechts häufig nicht nur zu atypischen Werk- und Dienstverträgen, sondern auch zur Typenmischung gesetzlicher Vertragsmuster führt Eine ähnliche, noch größere Gemengelage kennzeichnet die Kontraktlogistik. Wegen der großen Schwierigkeiten bei der Feststellung des maßgeblichen Rechtsregimes im gesetzlichen Referenzsystem der Vertragstypen empfiehlt es sich hier in besonderem Maße, Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch diese selber zu spezifizieren und schriftlich zu formulieren. Eine gewisse Hilfe können hier AGB leisten, die zunehmend von den großen Verbänden der Logistikbranche erarbeitet und als vertragliche Plattform empfohlen werden. Die ADSp stoßen insoweit schnell an ihre inhaltlichen Grenzen, da sie ausschließlich „Verkehrsverträge“ im Auge haben (Nr. 2.1 ADSp) und schon Verträge über das Verpacken von Gütern oder Kran- und Montagearbeiten durch Nr. 2.3 ADSp definitiv aus dem Kreis jener Verkehrsverträge ausgegrenzt werden. III. Organisation und Personalwesen 1. Individuelles und kollektives Arbeitsrecht im Überblick Das Arbeitsrecht regelt das Recht der Arbeitsverhältnisse. Es stellt das für die Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer maßgebliche Sonderrecht dar. Das Arbeitsrecht ist in weiten Teilen dem Privatrecht zuzuordnen. Aus der geschichtlichen Entwicklung des Arbeitsrechts heraus lässt sich in ihm ein Schwerpunkt rechtlicher Zielsetzungen im Schutz des Arbeitnehmers finden. Schon die Gesetzesbezeichnungen wie z. B. Mutterschutzgesetz, Jugendarbeitsschutzgesetz oder Arbeitsplatzschutzgesetz sprechen eine deutliche Sprache. Gerade in diesem Bereich des Arbeitsrechts finden sich daher auch zahlreiche dem Öffentlichen Recht zuzuordnende Gesetze, die die Einhaltung der Schutzvorschriften auch durch staatliche Stellen gewährleisten sollen. Aber auch das Tarifvertragsgesetz zielt auf den Schutz des Arbeitnehmers durch kollektive Regelungssysteme. Schließlich durchzieht das Schutz- <?page no="350"?> 1. Individuelles und kollektives Arbeitsrecht im Überblick 323 argument die gesamte arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. Das alles ist gut gemeint und hatte unter den historischen Verhältnissen auch seine Berechtigung. Mittlerweile haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen freilich durchgreifend gewandelt (Globalisierung der Märkte schafft international Substitutionsmöglichkeiten, breite Vermögensbildung und enorme Mobilitätsreserven auf Seiten der Arbeitnehmer). Die Einsicht wächst, dass der Schutz derjenigen, die aktuell Arbeitnehmer sind, auf dem Rücken derer realisiert wird, die in den Arbeitsmarkt eintreten wollen. Viele angebliche „soziale Errungenschaften“ wie die angenommene personenrechtliche Färbung des Arbeitsverhältnisses (Auflösung des Synallagmas von Arbeit und Geld, „Fürsorge“- und „Treuepflicht“), sehr weitgreifender Kündigungsschutz (Unterbindung personeller Anpassungen), Tariflöhne (also Kartellpreise über dem Gleichgewichtspreis für Arbeit) und automatische Übertragung des Personalbestandes bei Betriebsübergang nach § 613a BGB (Sanierungsbremse! ) erscheinen so in einem ganz anderen, ökonomisch ungünstigen Licht, nicht nur auf betrieblicher Ebene, sondern auch für die Dynamik des Arbeitsmarktes. Diese weitgehende Kontraproduktivität des heutigen Arbeitsrechts sollte in Folgendem nicht vergessen werden. Herkömmlicherweise wird das Arbeitsrecht geteilt: Das individuelle Arbeitsrecht (Individualarbeitsrecht) fragt insbesondere danach, welches Recht für die Beziehungen zwischen dem Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer gilt. Neben dem schon erwähnten Arbeitsschutzrecht ist hier vor allem das Arbeitsvertragsrecht zu nennen. Thematisch steht hier das Einzelarbeitsverhältnis im Vordergrund. Die damit zusammenhängenden Rechtskreise der Begründung, des Inhalts und der Beendigung von Arbeitsverhältnissen sind stark geprägt von der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre des BGB. Darüber hinaus ist das Individualarbeitsrecht aber auch von besonderen Elementen und Voraussetzungen spezieller Arbeitsgesetze geprägt. Hier sind exemplarisch zu nennen ArbZG, BUrlG, JArbSchG, MuSchG, SGB IX und schließlich BBiG. Das kollektive Arbeitsrecht befasst sich im Gegensatz zum Individualarbeitsrecht mit denjenigen rechtlichen Regelungen, die die arbeitsrechtlichen Kollektive, insbesondere die Koalitionen (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) und Belegschaften, betreffen. Deren Bestand, Organisation und Funktionsfähigkeit sollen die Regelungen des Kollektivarbeitsrechts sichern. Es setzt sich aber auch auseinander mit den rechtlichen Beziehungen der Kollektive zu deren Mitgliedern und zu deren Gegenspielern. So bilden sich hier die Bereiche Koalitionsrecht, Arbeitskampfrecht, Schlichtungsrecht, Tarifvertragsrecht und Betriebsverfassungsrecht. <?page no="351"?> 324 III. Organisation und Personalwesen 2. Individualarbeitsrecht a) Das Arbeitsverhältnis Unter einem Arbeitsverhältnis versteht man die Gesamtheit der regelmäßig durch einen Arbeitsvertrag begründeten Rechtsbeziehungen zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer. Diese allgemein und auch juristisch etablierte Terminologie ist ökonomisch unsinnig, da sie die Rollen geradewegs vertauscht: Es wird die Arbeitskraft angeboten und auf Seiten des Unternehmers dieses Angebot (vielleicht) angenommen. Der Arbeitsvertrag, dem dabei also grundlegende Bedeutung als Grundlage eines Arbeitsplatzes (im übertragenen, nicht räumlichen Wortsinn) zukommt, ist eine besondere Art des Dienstvertrages. Damit unterliegt er den Vorschriften der §§ 611-630 BGB. Kennzeichnend für ihn ist, dass der Arbeitnehmer sich zur Leistung unselbständiger, von den Weisungen des Vertragspartners abhängiger Dienste, eben zu „Arbeit“ verpflichtet. Wo diese Unselbständigkeit bei der Erbringung von Diensten fehlt, liegt kein Arbeitsvertrag, sondern ein freier Dienstvertrag vor. In aller Regel ist zwar der Arbeitsvertrag Voraussetzung für ein Arbeitsverhältnis. In Ausnahmefällen kann ein Arbeitsverhältnis aber auch ohne gültigen Vertrag vorliegen: Beispiel: Der unauffällig schwer psychisch erkrankte Arbeitnehmer A schließt mit U, der von diesem Umstand keine Kenntnis hat, einen Arbeitsvertrag, später stellt sich die Geschäftsunfähigkeit des A heraus (vgl. §§ 104 Nr. 2, 105 I BGB). Nach der eingangs geschilderten Voraussetzung würde es eigentlich an einem Arbeitsverhältnis wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrages fehlen. Ansprüche könnten dann nur über §§ 812 ff. BGB abgewickelt werden, wobei die Gefahr in einem Wegfall der Bereicherung liegen könnte (vgl. § 818 III BGB). Ausnahmsweise kann aber zum Schutze des Arbeitnehmers auch in solchen Fällen trotz Nichtigkeit des Vertrages ein Arbeitsverhältnis vorliegen, aus dem heraus schon Pflichten- und Rechtsbeziehungen entstehen, das sog. faktische Arbeitsverhältnis. Gelegentlich steht ein Arbeitnehmer auf Grund besonderer arbeitsspezifischer Umstände mit anderen Arbeitnehmern in einer Gruppenbeziehung. Solche Gruppenarbeitsverhältnisse haben keine einheitliche rechtliche Gestalt: So ist eine Betriebsgruppe eine rein tatsächliche Zusammenfassung von Arbeitnehmern ohne rechtliche Innenbeziehungen. Beispiel: „Putzkolonne“ von Reinmachekräften; Akkordkolonne, bei der sich die Entlohnung nach der gemeinsam erbrachten Leistung bemisst. Anders verhält es sich bei der sog. Eigengruppe. Hier kommt ein einheitliches Arbeitsverhältnis mit der Gruppe als Ganzer, als GbR, aber auch <?page no="352"?> 2. Individualarbeitsrecht 325 Arbeitsverhältnisse mit den jeweiligen Gruppenmitgliedern in Betracht. Generelle Aussagen dazu sind nicht möglich. Beispiel: Musikkappelle, Hausmeisterehepaar. b) Der Begriff des Arbeitnehmers Der Begriff des Arbeitnehmers (gemäß § 622 I BGB Oberbegriff für Arbeiter und Angestellte) ist gesetzlich nicht umfassend definiert. Vielmehr gibt es eine Reihe einzelner Vorschriften, die Merkmale des Arbeitnehmerbegriffs widerspiegeln, z. B. § 2 BUrlG, § 5 BetrVG, § 5 ArbGG, § 23 KSchG, § 7 I 2 SGB IV (primär für das Sozialversicherungsrecht, aber auch für das Arbeitsrecht aufschlussreich). Als Arbeitnehmer bezeichnet man denjenigen, der als nicht Selbständiger auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags für einen anderen fremdbestimmte Arbeit leistet. Typisch für alle Arbeitnehmer ist daher eine sog. persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber, die sich niederschlägt in die Eingliederung in einen Betriebsablauf und in einer Weisungsgebundenheit hinsichtlich Art, Umfang, Ausführung, Zeit und Ort der Arbeit (sog. allgemeiner Arbeitnehmerbegriff, zum Begriff der Selbständigkeit vgl. auch § 84 I 2 HGB). Das Ausmaß der Weisungsgebundenheit ist bei verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich. Die gleiche Bandbreite zeigt sich auch hinsichtlich der der Eingliederung. Beispiele: Kaufmännische Angestellte mit Prokura einerseits, Fließbandarbeiter andererseits. Sekretärin einerseits, Außerdienstmitarbeiter oder Unternehmensrepräsentant im Ausland andererseits. Lösgelöst von diesen Abgrenzungskriterien haben keine Arbeitnehmereigenschaft Beamte, Richter, Soldaten und Zivildienstleistende (sie sind tätig auf Grund eines öffentlichrechtlichen Dienstverhältnisses), Selbständige (sie leisten keine abhängige Arbeit; Dienstleistungen Selbständiger unterliegen zwar auch den §§ 611 ff. BGB, nicht jedoch dem Arbeitsrecht), im Betrieb mithelfende Familienangehörige (wenn sie auf Grund familienrechtlicher Bindungen, z. B. auf Grund der Unterhaltsverpflichtung auch aus § 1619 BGB, Arbeit leisten), Organpersonen wie Gesellschafter von Personengesellschaften und Vorstandsmitglieder juristischer Personen (wenn sie auf Grund einer besonderen gesellschaftsrechtlichen Beziehung bzw. auf Grund eines freien Dienstvertrages tätig sind, vgl. § 5 II Nr. 1 und 2 BetrVG, § 14 I KSchG) und Ordensleute und Diakonissen, wenn deren Tätigkeit religiös oder karitativ motiviert ist. Hat die Tätigkeit jedoch berufsmäßigen Zuschnitt und kommt sie wirtschaftlich dem Orden oder dem Mutterhaus zugute (z. B. häufig bei Betreiben von Krankenhäusern), so kann Arbeitnehmereigenschaft vorliegen (vgl. § 5 II Nr. 3 BetrVG). <?page no="353"?> 326 III. Organisation und Personalwesen Wegen mangelnder betrieblicher Eingliederung sind die sog. arbeitnehmerähnlichen Personen nicht zu den Arbeitnehmern zu zählen. Das sind die in Heimarbeit tätigen Personen und bestimmte Handelsvertreter („Einfirmenvertreter“ i. S. von § 92a HGB). Dem Umstand, dass diese Personen gleichwohl häufig in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu einem Unternehmen stehen, trägt das Arbeitsrecht Rechnung, indem es diese Personen in gesetzlich bestimmten Fällen ebenfalls schützt (vgl. hierzu das Heimarbeitsgesetz und § 5 ArbGG, §§ 2, 12 BUrlG, § 12a TVG sowie §§ 5 I 2, 8 I 1 BetrVG). Darüber hinaus ist auch denkbar, dass andere in fremden Diensten Tätige als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind, und zwar ohne Rücksicht auf das zugrundeliegende Rechtsverhältnis (sog. Scheinselbständige). Beispiele: Der Tankstelleninhaber, der sich in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu dem ihn beliefernden Mineralölkonzern befindet, von dem er nicht nur die Betriebsstätte gepachtet hat, sondern auch auf Grund von Lieferverträgen alle Waren beziehen muss. Rechtsanwalt A stellt den Assessor B als freien Mitarbeiter ein. B arbeitet ausschließlich für A und lebt nur von der hierfür erlangten Vergütung. Er hat einen Arbeitsplatz in der Kanzlei des A, der diesem auch das notwendige Arbeitsmaterial zur Verfügung stellt und der einzelne Rechtsfälle auf den B zur Bearbeitung delegiert. Hier kann sich nicht nur die Frage stellen, ob arbeitnehmerähnliche Tätigkeit vorliegt mit der Folge, dass etwa die §§ 2 BUrlG und 5 ArbGG einschlägig wären, sondern es könnte sogar die Frage entstehen, ob ein echtes Arbeitsverhältnis vorliegt. Das kann dann erheblich sein, wenn es etwa um die notwendigen Sozialabgaben geht, die der Arbeitgeber abzuführen hat. c) Der Arbeitsvertrag (1) Anbahnung und Abschluss von Arbeitsverträgen Noch kein Vertragsangebot, sondern lediglich (lat.) invitatio ad offerendum, ist die oft am Anfang stehende sog. externe Stellenausschreibung eines potenziellen Arbeitgebers, etwa durch Zeitungsinserate oder Plakate (s. zur Mitwirkung des Betriebsrates bei internen Ausschreibungen §§ 93, 99 II Nr. 5 BetrVG). Schon bei der Ausschreibung sind aber die strengen Diskriminierungsverbote nach §§ 1, 7, 11 AGG zu beachten. Ansonsten hat der potenzielle Arbeitgeber gemäß § 15 AGG Schadensersatz zu leisten. Er umfasst auch Ersatz des in der Diskriminierung liegenden immateriellen Schadens, jedoch nach § 15 II AGG in der Höhe von 3 Monatsgehältern beschränkt. Dieselbe Regelung gilt auch für das Auswahlverfahren. Gegen die Beweislastumkehr nach § 22 AGG hilft bei alledem allenfalls eine sehr sorgfältige Dokumentation über Konzeption und Verlauf sowie über die Entscheidungskriterien des Auswahlverfahrens und deren Anwendung auf die einzelnen <?page no="354"?> 2. Individualarbeitsrecht 327 Personen des Bewerberkreises. Auch im Vorfeld eines Arbeitsvertrages, schon mit ersten Kontakten zwischen (zukünftigem) Arbeitgeber und Arbeitnehmer, etwa durch Übersendung von Bewerbungsunterlagen oder durch Bewerbungsgespräche, entstehen jedoch gegenseitige Verpflichtungen. Bei Verletzungen dieser Verpflichtungen wird grundsätzlich auf beiden Seiten für Verschulden bei Vertragsanbahnung nach den Grundsätzen der (lat.) culpa in contrahendo (§§ 311 II, 241 II, 280 I BGB) gehaftet. Daher kann es zu Schadensersatzansprüchen kommen, wenn von einer Seite, ohne dass es zu einem Vertragsschluss kommt, der Eindruck erweckt wurde, dass einem solchen zumindest keine Hindernisse mehr im Weg stehen und die Gegenseite im Vertrauen hierauf Aufwendungen macht. Beispiel: Arbeitgeber G erklärt dem A im Rahmen eines Vorstellungsgespräches, er sei begeistert von dessen fachlichen Fähigkeiten und werde ihn wohl einstellen, müsse aber aus rein formalen Gesichtspunkten noch die übrigen Bewerber anhören. Gleichwohl solle A sich schon einmal mit dem Gedanken der Betriebszugehörigkeit vertraut machen. A geht vom baldigen Abschluss eines Arbeitsvertrages aus und organisiert schon den Umzug in eine dem Arbeitsplatz näher gelegene Stadt, wo er eine Wohnung anmietet. Im Zusammenhang mit ersten Kontakten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer können aber auch Fragen auftauchen, ob und in welcher Höhe Aufwendungen im Rahmen von Bewerbungsgesprächen erstattungsfähig sind, oder wie der zukünftige Arbeitgeber mit zugesandten Bewerbungsunterlagen zu verfahren hat. Beispiel: G ruft den in Frankfurt wohnenden A an und bittet diesen um schnellstmögliche Kontaktaufnahme und zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch nach Hamburg. A setzt sich ins Flugzeug und verlangt später Ersatz der Kosten eines Linienfluges. Problemlos zu lösen sind solche Fälle nur dann, wenn dem Arbeitnehmer Reisekostenersatz zugesichert worden ist. Schwieriger wird es, wenn keine Kostenabsprachen, die in der Praxis freilich üblich sind, vorliegen. Dann stehen dem Bewerber allenfalls gemäß § 670 BGB Ansprüche auf Ersatz von Aufwendungen zu, die er den Umständen nach für erforderlich halten durfte. In solchen Fällen ist eine Bewertung aller Umstände des Einzelfalls notwendig, wobei natürlich auch die Dienststellung des späteren Arbeitnehmers und die Dringlichkeit eines Bewerbungsgesprächs Gewicht haben können. Im vorstehenden Beispiel ist von einem Aufwendungsersatzanspruch auszugehen, A braucht sich also nicht mit dem Kostenersatz für eine Anreise mit dem Auto oder mit der Bahn zufrieden geben. Den zukünftigen Arbeitgeber trifft die Obhutspflicht (Schutzpflicht), für eine sorgfältige Aufbewahrung und Behandlung von Bewerbungsunterlagen des Arbeitnehmers zu sorgen. Schadensersatzansprüche können insbesondere dann erwachsen, wenn Arbeitspapiere, Zeugnisse oder dergleichen mit „Esels- <?page no="355"?> 328 III. Organisation und Personalwesen ohren“ oder Fettflecken usw. versehen werden oder gar verloren gehen. Beide Verhandlungspartner haben ebenfalls über die ihnen im Zusammenhang mit den Vertragsverhandlungen bekannt gewordenen Umstände Stillschweigen zu bewahren, die nicht als allgemein bekannt gelten und an deren Geheimhaltung ein Interesse besteht (z. B. Gesundheitszustand des Arbeitnehmers, Wettbewerbs- und Konkurrenzsituation des Arbeitgebers etc.). Eine Verletzung der vorvertraglichen Schutzpflicht (im Arbeitsverhältnis oft auch Obhutspflicht genannt) stellt es dagegen nicht dar, wenn der Arbeitgeber die ihm zur Verfügung gestellten Bewerbungsunterlagen dem Betriebsrat zur Einsichtnahme zur Verfügung stellt. Vielmehr ist es Pflicht des Arbeitgebers, nach § 99 I BetrVG eine sachgerechte Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen durch den Betriebsrat sicherzustellen, sofern in dem Betrieb in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt sind (zur Wahlberechtigung s. § 7 BetrVG). Hierzu gehört es auch, dass die Bewerbungsunterlagen dem Betriebsrat vorgelegt werden. Schon beim Einstellungsgespräch kann es zu Fragen von Seiten des zukünftigen Arbeitgebers kommen, deren Falschbeantwortung zumindest die Gefahr in sich birgt, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine Anfechtung des Arbeitsvertrages gemäß §§ 119 II, 123 BGB erfolgt. Es kann bei arglistigen Täuschungen sogar zu Schadensersatzansprüchen gegen den Täuschenden kommen (vgl. §§ 826, 823 II BGB i. V. m. § 263 StGB: Betrug). Vorsicht ist besonders vor einem übertriebenen Vertrauen in die Wirksamkeit der nur allzu schnell herangezogenen Einlassung geboten, man habe die Fragestellung für rechtswidrig gehalten, daher zwar eine unrichtige Antwort gegeben, aber keine widerrechtliche Täuschung begangen. Mag dies im Einzelfall durchaus durchgreifen, so droht jedoch häufig spätestens in den Arbeitsgerichtsprozessen eine schwierige und unklare Beweislage. Zudem bleibt die Anfechtungsmöglichkeit nach § 119 II BGB hiervon völlig unberührt, da diese nicht von der Zulässigkeit der Frage, sondern der Erheblichkeit der verkehrswesentlichen Eigenschaft für den Inhalt des Arbeitsvertrags abhängt. Der Arbeitssuchende braucht „ungünstige Umstände“ grundsätzlich nicht ungefragt zu offenbaren. Das Verschweigen von Vorstrafen, einer Mitgliedschaft in einer Partei, einer Schwangerschaft, beruflicher Schwierigkeiten, ohne dass nach diesen gefragt wurde, sind daher grundsätzlich keine widerrechtlichen Täuschungen und ziehen demzufolge keine rechtlichen Konsequenzen nach sich. Etwas anderes kann gelten, wenn der im persönlichen Bereich des Arbeitnehmers liegende „ungünstige Umstand“ so eng mit den zu begründenden Arbeitspflichten verbunden ist, dass eine vorvertragliche Aufklärungspflicht zu bejahen ist. Prinzipiell muss jedoch der Arbeitgeber nach den ihn interessierenden besonderen Umständen selber fragen. Dabei gilt bei wahrheitswidriger Antwort Folgendes: War die Frage zulässig, kann der Arbeitgeber nach § 123 BGB anfechten. War hingegen die Frage unzulässig, <?page no="356"?> 2. Individualarbeitsrecht 329 besteht ein derartiges Anfechtungsrecht nicht. Unabhängig von der Zulässigkeit der Frage kann dann allenfalls wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft nach § 119 II BGB bei Vorliegen von dessen übrigen Voraussetzungen angefochten werden. Beispiele: A soll als Lagerarbeiter eingestellt werden. Er verschweigt, ohne dass danach gefragt worden wäre, einen Bandscheibenschaden, der ihm die Erbringung der Arbeitsleistung in vielen Bereichen unmöglich macht: Arglistige Täuschung! Die Vorerkrankung wirkt sich sogar in einem echten Leistungshindernis aus; solche sind vom Arbeitnehmer aber zu offenbaren. Der Arbeitnehmer A wird beim Bewerbungsgespräch nach der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gefragt, was dieser wahrheitswidrig verneint: Keine widerrechtliche Täuschung! Die Frage durfte wegen des durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelten Persönlichkeitsschutzes, aber auch wegen Art 9 III 2 GG gar nicht gestellt werden, daher muss sogar eine wahrheitswidrige Beantwortung dieser unzulässigen Frage sanktionslos bleiben. A, der als Buchhalter eingestellt werden soll, wird nach Vorstrafen wegen Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr gefragt. Diese Frage könnte ohne erkennbaren, objektiv nachprüfbaren Bezug zu dem zu besetzenden Arbeitsplatz unzulässig sein; anders aber etwa, wenn A sich als Busfahrer bewerben würde. Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 53 i. V. m. § 32 BZRG. Hier wird klargestellt, in welchem Umfang Fragen über bestehende Vorstrafen wahrheitswidrig beantwortet werden dürfen. (Der Hauptanwendungsfall wird die Verurteilung zu einer Geldstrafe unter 90 Tagessätzen sein, § 32 II Nr. 5 lit. a BZRG.) Wie jeder Vertrag kann auch der Arbeitsvertrag selbständig nur von unbeschränkt geschäftsfähigen Personen abgeschlossen werden. Die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit knüpft dabei an die Vollendung des 18. Lebensjahres und das Fehlen von Einschränkungen an (§§ 2, 104 ff. BGB). Im Arbeitsalltag findet sich allerdings nicht nur in den Berufsausbildungsverhältnissen eine große Zahl Minderjähriger zwischen dem 7. und 18. Lebensjahr. Dem trägt das Arbeitsrecht, wie auch einige spezialgesetzliche Regelungen, im Hinblick auf die Möglichkeit eines eigenen Vertragsabschlusses Rechnung, um etwa einen sonst häufig eintretenden Schwebezustand nach § 108 BGB zu verhindern. Gemäß § 113 BGB ist auch ein ansonsten nur beschränkt Geschäftsfähiger für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche mit Eingehung oder Aufhebung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses zusammenhängen. Voraussetzung hierfür ist lediglich eine diesbezügliche Ermächtigung durch die gesetzlichen Vertreter. Beispiel: Der ungelernte 17-jährige A schließt mit G einen Arbeitsvertrag als Fließbandarbeiter, nachdem ihn seine Eltern aufgefordert hatten, sich eine Arbeitsstelle zu suchen: Vertrag ist voll wirksam. Von der partiell vollen Geschäftsfähigkeit nach § 113 BGB umfasst ist ferner z. B. die Einrichtung eines Girokontos, auf das Lohn bzw. Gehalt überwiesen werden, oder der Gewerkschaftsbeitritt. Dies gilt allerdings nur grundsätzlich. Denn den gesetzlichen Vertretern steht es frei, den Geschäfts- <?page no="357"?> 330 III. Organisation und Personalwesen kreis des § 113 BGB näher zu bestimmen, weil diese Norm letztlich ja nur auf einer Vermutung über den Inhalt des elterlichen Willens aufbaut. Auf Berufsausbildungsverträge bezieht sich § 113 BGB nach h. M. übrigens nicht. Deren Wirksamkeit richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 107 ff. BGB. Einige Vorschriften des Arbeitsrechts greifen sogar noch über das AGG hinaus tief in den Fragenbereich ein, ob und mit wem ein Arbeitsvertrag geschlossen werden darf. Die Abschlussfreiheit ist so z. B. eingeschränkt in den allerdings seltenen Fällen der Wiedereinstellungspflicht gegenüber zu Unrecht Entlassenen oder nach Arbeitskämpfen. Ähnlich ist die Situation bei Kündigung von Frauen, die unter Mutterschutz stehen, wenn ihnen aus Anlass des Streiks gekündigt wurde (bei Arbeitskämpfen besteht trotz des ansonsten sehr umfangreichen Schutzes der werdenden Mutter kein Entlassungsschutz). Obwohl das Mutterschutzgesetz keine dem § 91 VI SGB IX entsprechende Vorschrift enthält, wird auch in diesem Fall eine Wiedereinstellungspflicht nach Beendigung des Arbeitskampfes entsprechend dem Sinn und Zweck des Mutterschutzes anerkannt. Zu dieser Materie rechnet auch die Weiterbeschäftigungspflicht aus § 78a II BetrVG. Beispiel: Der Auszubildende A, der Mitglied der Jugendvertretung im Betrieb des X ist, verlangt einen Monat vor Ablauf des Ausbildungsverhältnisses schriftlich von X Weiterbeschäftigung. Die Freiheit, die bei der Vertragspartnerwahl beim Arbeitnehmer in vollem Umfang gewährleistet ist, ist auf Seiten des Arbeitgebers somit selbst noch über das AGG hinaus durchaus fühlbar eingeschränkt, weil in den vorgenannten Fällen eingestellt werden muss. Hinzu kommt noch die in der Arbeitspraxis wichtige Einstellungsbeschränkung aus dem Mitbestimmungsrecht. Danach ist der Betriebsrat gemäß § 99 I BetrVG bzw. der Personalrat gemäß § 75 I Nr. 1 BPersVG vor jeder Einstellung zu beteiligen. Verweigert der Betriebs- oder Personalrat aus den in §§ 99 II BetrVG bzw. 77 II BPersVG genannten Gründen die Zustimmung, so hat die Einstellung i. S. einer tatsächlichen Beschäftigung zu unterbleiben. Ein gleichwohl abgeschlossener Arbeitsvertrag ist, obwohl üblicherweise die Mitbestimmung als Wirksamkeitsvoraussetzung anzusehen ist, wirksam. Der Betriebsrat kann aber beim Arbeitsgericht beantragen, dass dem Arbeitgeber aufgegeben wird, die Maßnahme aufzuheben und dass bei Nichtbeachtung ein Zwangsgeld festgesetzt wird (§ 101 BetrVG). Dem Arbeitgeber bleibt im Falle der Weigerung zur Erteilung der Zustimmung nach § 99 IV BetrVG nur die rechtliche Möglichkeit, die Zustimmung durch gerichtliche Maßnahmen ersetzen zu lassen und eine vorläufige Besetzung nach § 100 BetrVG vorzunehmen. Lehnt das Gericht schließlich die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrates ab, endet auch die vorläufige personelle Maßnahme spätestens in der Frist <?page no="358"?> 2. Individualarbeitsrecht 331 des § 100 III BetrVG. Auf die Freiheit der Wahl der Vertragspartner wirken ferner eine ganze Reihe gesetzlicher Einstellungs- und Beschäftigungsverbote ein, namentlich nach §§ 2 I, 5 I JArbSchG, 33 BBiG, 17, 49 BSeuchG, 3 I, 4, 6 I MuSchG. Verbotsverstöße führen dabei nicht immer zur Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages. Dies ist i. V. m. § 134 BGB nur für echte Abschlussverbote anzunehmen. Beschäftigungsverbote hingegen haben eine andere Zielrichtung: Sie wollen allein das faktische Unterbleiben der Tätigkeit sicherstellen. (2) Die Form von Arbeitsverträgen Der Arbeitsvertrag bedarf grundsätzlich keiner besonderen Form. Vertragsabschlüsse sind daher auch durch konkludentes Handeln möglich. In der arbeitsrechtlichen Praxis hat sich allerdings die Verkehrssitte durchgesetzt, Verträge schriftlich niederzulegen. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, die Schriftform sei nun allgemeine Wirksamkeitsvoraussetzung. Der Form, insbesondere der Schriftform kommt gesteigerte Bedeutung allerdings zu, wenn sie gesetzlich, tarifvertraglich oder einzelvertraglich vorgesehen ist. In jedem dieser Fälle ist aber zu prüfen, ob der Form konstitutive (dann ist die Einhaltung der Form Wirksamkeitsvoraussetzung) oder nur deklaratorische, lediglich Beweiszwecken dienende Bedeutung zukommt. Eine derartige deklaratorische Wirkung entfalten die Regelungen des NachwG hinsichtlich der vom Arbeitgeber zu fertigenden Niederschrift über die wesentlichen Vertragsbedingungen sowie deren Änderung (§§ 2 I, 3 NachwG). Ein Verstoß gegen das NachwG führt daher zwar nicht zur Unwirksamkeit des Vertrages, verschlechtert allerdings die prozessuale Beweissituation für den Arbeitgeber erheblich. Ähnliches gilt für die Schriftform von Berufsbildungsverträgen i. S. von § 11 BBiG. Ein vertraglich von kaufmännischen Angestellten übernommenes Wettbewerbsverbot nach § 74 HGB ist als eigenständiger Vertragsbestandteil demgegenüber ohne Schriftform aber ebenso unwirksam (konstitutiver Formzwang) wie eine Befristung des Arbeitsvertrages, § 14 IV TzBfG. In der arbeitsrechtlichen Praxis am häufigsten sind Formvorschriften in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen. Hier muss durch Auslegung der jeweiligen Formklausel ermittelt werden, ob der Form konstitutive oder deklaratorische Bedeutung zukommt. Ein Verstoß gegen die durch Tarifvertrag vorgeschriebene konstitutive Formvorschrift bewirkt wie bei einem Verstoß gegen die gesetzliche Formvorschrift die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts gemäß § 125 BGB. Ein Verstoß gegen die durch Einzelvertrag festgelegte Schriftform (gewillkürte Schriftform) hat gemäß § 125 S. 2 BGB nur im Zweifelsfall ebenfalls <?page no="359"?> 332 III. Organisation und Personalwesen die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts zur Folge. Vorrangig ist, was die Parteien gewollt haben. Im Ergebnis wird häufig nur eine deklaratorische Bedeutung der Form gewollt sein. Beispiel: „Die Kündigung hat von Seiten des Arbeitnehmers durch eingeschriebenen Brief zu erfolgen“: Schriftliche Kündigungserklärung - § 623 BGB! auch ohne Einschreiben wirksam, da lediglich Beweiszwecke erfüllt werden sollen. Im Übrigen stünde einem solchen Formzwang im ja durchweg vorformulierten Arbeitsvertrag wegen § 310 IV 2 BGB nunmehr § 309 Nr. 13 BGB entgegen. In Einzelarbeitsverträgen finden sich auch häufig Klauseln, die etwa lauten: „Weitere Vertragsabsprachen oder Nebenabreden bedürfen der Schriftform.“ Bedacht werden muss hier, dass von solchen Schriftformklauseln nicht nur im Arbeitsrecht jederzeit wieder abgerückt werden kann. Hierzu ist lediglich Konsens der Vertragspartner erforderlich. Dabei kann auch eine mündliche Absprache ausreichen. Die wichtigste gesetzliche Schriftformklausel findet sich schließlich in § 623 BGB. Danach bedarf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag zwingend der Schriftform. Sie hat hier also konstitutive Bedeutung. Beispiel: Anton, der sich über seinen Chef furchtbar geärgert hat, ruft erregt in der Buchhaltung: „Euer Laden kann mir gestohlen bleiben! Ich kündige, auf der Stelle! Schickt mir meine Papiere nach Hause! “: Kündigung unwirksam! (3) Haupt- und Nebenpflichten des Arbeitsvertrages Die synallagmatischen Hauptpflichten des Arbeitsvertrages sind aus §§ 611 I, 613 BGB abzuleiten. Der Arbeitnehmer ist demnach grundsätzlich zur höchstpersönlichen Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung, der Arbeitgeber zur Zahlung des vereinbarten Lohnes unter Beachtung der Lohngleichheit von Männern und Frauen gemäß § 7 i. V. m. § 1 AGG und sonstiger Vorschriften (vgl. z. B. den eine unmittelbare Drittwirkung entfaltenden Art. 157 AEVU), die individuellen Abreden vorgehen, verpflichtet. Nicht höchstpersönliche Dienstleistungspflichten von Arbeitnehmern sind kaum vorstellbar. Daneben stehen zahlreiche vertragliche Nebenpflichten, die man auf Seiten des Arbeitnehmers üblicherweise unter dem Begriff der sog. Treuepflichten, auf Seiten des Arbeitgebers unter dem Begriff der Fürsorgepflichten zusammenfasst. Diese Terminologie ist verfehlt: Der Arbeitsvertrag sollte nicht in die Nähe mittelalterlicher Feudalverhältnisse zwischen Lehnsherr und Vasall gerückt werden, weder terminologisch noch gar sachlich. Sicher begründet der Arbeitsvertrag ein Dauerschuldverhältnis, was auf beiden Seiten zu gesteigerten Schutzpflichten führt. Doch ist dies bei anderen Dauerschuldver- <?page no="360"?> 2. Individualarbeitsrecht 333 hältnissen nicht anders, zumal wenn erhebliche Vermögenswerte in den Einflussbereich der anderen Partei gelangen, wie z. B. bei der Wohnraummiete. Gesetzliche Regelungen für gesteigerte arbeitsvertragliche Schutzpflichten finden sich etwa in §§ 60, 62 HGB, 618, 619 BGB, 17 UWG, 2 MuSchG, 32- 46 JArbSchG. Darüber hinaus ergeben sie sich, wie auch sonst, aus § 242 BGB (Wahrung von Treu und Glauben). Beispiel: Die Sekretärin Sibylle sieht, wie ihr Kollege Karl gedankenlos den noch glimmenden Rest einer Zigarette in den Papierkorb wirft. Auch ohne jede ausdrückliche Verpflichtung dazu muss Sibylle ihren geliebten Kaffee zum sofortigen Löschen opfern, ggf. Feueralarm auslösen etc. Der genaue Bestand aller Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ist anhand der einschlägigen arbeitsrechtlichen Rechtsquellen, insbesondere dem Arbeitsvertrag, oft nur schwer zu ermitteln, da letzterer in der Praxis zwar regelmäßig vorformuliert ist, aber somit grundsätzlich dem AGB-Recht und dadurch der entsprechenden Inhaltskontrolle unterfällt. Das stellt § 310 IV BGB klar. Welche Arbeiten von Arbeitnehmern zu leisten sind, richtet sich nach den einzel- oder kollektivvertraglichen Abmachungen. Diese sind in der Praxis häufig aber nicht so detailliert möglich, dass den Arbeitnehmern der konkrete Arbeitsumfang deutlich wird. Eine bedeutende Rolle kommt daher dem Weisungsrecht (Direktionsrecht) des Arbeitgebers zur Konkretisierung der Arbeitspflicht zu. Ausgeübt wird dieses im Einzelfall durch den direkten Vorgesetzten des Arbeitnehmers. Möglich ist auch die Übertragung des Weisungsrechtes zur Ausübung an Personen außerhalb des Unternehmens, in dem das Arbeitsverhältnis besteht (Arbeitnehmerüberlassung). Beispiel: L, ein sog. Leiharbeitsunternehmen, schickt den bei L angestellten A in den Betrieb des B. Dem B wird das Direktionsrecht über A zur Ausübung übertragen, der es konkret seinem Mitarbeiter M überlässt, weil A im Arbeitsbereich des M tätig sein soll. Das Weisungsrecht unterscheidet den Arbeitsvertrag vom Dienstvertrag, es macht aus dem Selbständigen den abhängigen Arbeitnehmer. Natürlich kann sich auch das Weisungsrecht nur in dem Rahmen bewegen, den der Arbeitsvertrag steckt. Mangels einer besonderen Vereinbarung richtet es sich nach dem, was die Verkehrsanschauung als übliche Arbeitsleistung bei Innehabung einer bestimmten Stelle ansieht (s. auch § 315 I BGB). Nebendienste hat der Arbeitnehmer also nur zu verrichten, wenn sie auf Grund ausdrücklicher oder stillschweigender Vereinbarung oder nach der Verkehrssitte zum Vertragsinhalt gehören. Beispiel: Der Arbeitgeber „bittet“ den z. Zt. nicht voll ausgelasteten Buchhalter B, den Rasen vor seinem Privathaus zu mähen: Unzulässige Weisung, der der B keine Folge leisten muss! <?page no="361"?> 334 III. Organisation und Personalwesen Andere als die geschuldeten Arbeiten ausführen muss der Arbeitnehmer nur in Ausnahmefällen bei den sog. Notdiensten. Dies sind nicht nur die nach Katastrophenfällen anfallenden Aufräumarbeiten. Beispiel: Das Ladenlokal des Arbeitgebers wird in einen anderen Stadtteil verlegt. Der Arbeitgeber fordert die Arbeitnehmer auf, bei dem notwendig werdenden Umzug mitzuarbeiten. Leistungsort für die Erfüllung der Arbeitnehmerpflichten (Arbeitsplatz im räumlichen Sinn) ist der Betrieb des Arbeitgebers bzw. sonstige vertraglich vorgesehene Einsatzstellen (Außendienst, Montage, Leiharbeitsverhältnisse). Es handelt sich also ausnahmsweise um Bringschulden: In der „Natur“ des Arbeitsverhältnisses (vgl. § 269 I BGB) liegt diese Gestaltung begründet, weil ansonsten die synergetischen Effekte, die eine betriebliche Organisation auszeichnen, nur schwer erzielbar sind. Freilich gibt es auch wieder Rückausnahmen (Heimarbeit, in den Privatbereich des Arbeitnehmers verlagerte IT-Arbeitsplätze). Eine in der Praxis bedeutsame Frage betrifft die Dauer der zu erbringenden Arbeitsleistung, die Arbeitszeit. Leistet ein Arbeitnehmer die Arbeit schuldhaft nicht, indem er sie z. B. unberechtigterweise nicht oder verspätet antritt oder den Arbeitsplatz vorzeitig verlässt, führt dies nach h. M. auf Grund ihrer Theorie vom sog. absoluten Fixgeschäft zur Unmöglichkeit der Arbeitsleistung, weil die betreffende Zeit unwiederbringlich verstrichen und die Arbeitsleistung nicht nachholbar sei. Der Arbeitgeber könne dann Schadensersatz statt der Leistung (z. B. Lohnkosten für Ersatzkräfte) nach §§ 280/ 283 BGB verlangen. Folgt man der h. M. nicht, kommt man, da die Arbeitspflicht in der Tat Fixschuldcharakter trägt, über §§ 281 I und II BGB zu demselben Ergebnis. So und so kann der Arbeitgeber jedenfalls die Lohnzahlung für die nicht erbrachte Leistung verweigern (§ 320 BGB). Er kann auch, was in der Praxis wenig effektiv und eher sinnlos ist, auf Erfüllung der Arbeitspflicht klagen (s. zum vollstreckungsrechtlichen Hindernis § 888 III ZPO). In Betracht kommt schließlich eventuell nach vorausgegangener Abmahnung eine verhaltensbedingte ordentliche oder außerordentliche Kündigung nach §§ 622, 624, 626 BGB. (4) Lohnanspruch auch ohne Arbeitsleistung In einigen Fällen hat umgekehrt der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entlohnung selbst dann, wenn er seine Arbeitspflicht nicht erfüllt hat. Zu nennen sind hier insbesondere die Fälle des Annahmeverzugs der Leistung seitens des Arbeitgebers gemäß § 615 BGB, des kurzfristigen vom Arbeitnehmer nicht verschuldeten Fernbleibens von der Arbeit gemäß § 616 BGB, der <?page no="362"?> 2. Individualarbeitsrecht 335 vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenden Unmöglichkeit der Erbringung der Arbeitsleistung, der Feiertagsvergütung nach § 2 EFZG und letztlich auch der Fall der aus Krankheitsgründen nicht erbringbaren Arbeitsleistung, bei der nach § 3 EFZG zunächst der Arbeitgeber weiterhin zur Entgeltfortzahlung verpflichtet ist. In Annahmeverzug kommt beispielsweise der Arbeitgeber, wenn er die ihm vom Arbeitnehmer angebotene Arbeitsleistung nicht annimmt. Zu einem Angebot der Arbeitsleistung gehört dabei gemäß § 294 BGB regelmäßig ein tatsächliches Angebot der Arbeitsleistung im Betrieb. Ausnahmsweise genügt auch ein wörtliches Angebot, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nur unter Mitwirkung des Arbeitgebers erbringen kann, genau diese aber unterbleibt. Nicht selten kommt es nach einem Zerwürfnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu solchen Situationen, wenn beispielsweise eine (unrechtmäßige) Kündigung ausgesprochen worden ist und der Arbeitgeber den Arbeitnehmer gegen dessen Willen sofort freistellen will. Nach der neueren Rechtsprechung des BAG gerät der Arbeitgeber in derartigen Fällen selbst dann in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer daraufhin nicht einmal wörtlich seine Arbeitsleistung anbietet. Begründet wird dies mit § 296 S. 1 BGB und der Erklärung, die Zuweisung von Arbeit durch den Arbeitgeber sei eine kalendermäßig bestimmte Mitwirkungshandlung. Allenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeitsleistung unfähig war, müsse er seine Arbeitskraft wieder wörtlich anbieten. Erst recht reicht demnach erkennbarer Protest gegen die Kündigung aus, insbesondere durch Erhebung einer Kündigungsschutzklage. Ein Annahmeverzug soll jedoch nicht zu Kosten führen, die die Gegenseite ungebührlich belasten. Gemäß § 615 S. 2 BGB hat sich daher der Arbeitnehmer, dessen Arbeitgeber sich ihm gegenüber im Annahmeverzug befindet, das Ersparte anrechnen zu lassen, z. B. das Fahrgeld. Auch den tatsächlich anderweitig erzielten Verdienst hat sich der Arbeitnehmer anrechnen zu lassen. Problematisch kann dieses sein, wenn es um die Anrechnung fiktiver Einkünfte geht, also solcher, die nur hätten erzielt werden können, dies der Arbeitnehmer aber böswillig unterlässt. Davon kann man nur dann sprechen, wenn zumutbare andere Arbeit mit Sicherheit hätte erlangt werden können und der Arbeitnehmer jegliche Tätigkeit unterlässt. Auch bei den Regelungen der Leistungsunmöglichkeit gilt im Arbeitsrecht etwas Besonderes. Dies ist insbesondere im Anwendungsbereich des § 326 I 1 BGB der Fall. Ist danach die Unmöglichkeit einer Leistungserbringung von keiner Partei zu vertreten, etwa in Fällen höherer Gewalt, so wäre bei strenger Anwendung dieser rein bürgerlichrechtlichen Vorschrift kein Lohn zu zahlen. Dann würde die von der h. M. angenommene Ungleichheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer aber nicht ausreichend berücksichtigt: Bestimmte <?page no="363"?> 336 III. Organisation und Personalwesen Risikobereiche hat nach der h. M. nämlich immer der Arbeitgeber zu vertreten, namentlich das allgemeine Wirtschaftsrisiko und das spezielle Betriebsrisiko. Dieser Überlegung trägt § 615 S. 3 BGB Rechnung. Beispiel: Der Arbeitgeber hat Löhne auch bei Rohstoff- oder Auftragsmangel, bei Maschinenschäden, Materialknappheit, Brand- und Wasserschäden, überhaupt bei Betriebsstörungen, zu zahlen, und zwar unabhängig von einem eigenen Verschulden. Die Lohnzahlungspflicht entfällt demnach nur dann, wenn die Lohnzahlung den Bestand des Unternehmens gefährden oder dazu führen würde, dass in einem Arbeitskampf das in etwa ausgeglichene Kräfteverhältnis, die Kampfparität, leidet. Bei einer drohenden Störung der Kampfparität soll deshalb sogar der arbeitsbereite Arbeitnehmer eines bestreikten Betriebes seinen Lohnanspruch verlieren können. Streiks können auch Fernwirkungen auf andere Betriebe haben, namentlich dann, wenn sog. Schlüsselbetriebe (Energieversorger, wichtige Zulieferer) bestreikt werden. Die daraus entstehenden Risiken sind dann auch von denjenigen Arbeitnehmern zu tragen, deren Betriebe gar nicht bestreikt werden. Beispiel: Beschäftigungseinschränkungen bei arbeitskampfbedingten Auftragsengpässen. Wird durch die Fernwirkung von Arbeitskämpfen die Kampfparität in Frage gestellt, verlieren auch die arbeitsbereiten Arbeiter des nur mittelbar betroffenen Betriebes ihren Lohnanspruch. Im Falle einer rechtlichen Unmöglichkeit (gesetzliche Beschäftigungsverbote) können ebenfalls Situationen entstehen, in denen der Lohnanspruch des Arbeitnehmers entfällt. Beispiel: A leidet an einer ansteckenden Erkrankung. Da sie als Verkäuferin mit Lebensmitteln zu tun hat, wird die Tätigkeit von der Aufsichtsbehörde nach § 31 IfSG untersagt. Ihr Lohnanspruch entfällt. Allerdings erhält sie nach § 56 IfSG eine Entschädigung für den Verdienstausfall. In diesem Fall hat der Arbeitnehmer keinen Beschäftigungsanspruch, also keinen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung (nicht nur auf Entlohnung), den die h. M. ansonsten aus dem angeblichen personenrechtlichen Charakter des Arbeitsverhältnisses ableitet. Eine Ausnahme vom Grundsatz des Entfallens des Lohnanspruchs bei rechtlicher Unmöglichkeit gilt im Mutterschutzrecht. Trotz der Arbeitsverbote, die im Mutterschutzgesetz niedergelegt sind, ist denjenigen Frauen, die kein Mutterschaftsgeld gemäß § 200 RVO beziehen, der Lohn weiterzuzahlen, § 11 MuSchG. Ein letzter überaus wichtiger Bereich des Lohnbzw. Gehaltanspruchs ohne Arbeitsleistung ist mit dem Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall angesprochen. Angestellte und Arbeiter haben einen unabdingbaren Anspruch auf volle Weiterzahlung (ohne Berücksichtigung von Überstunden) für die <?page no="364"?> 2. Individualarbeitsrecht 337 Dauer von 6 Wochen, wenn sie unverschuldet durch Krankheit an der Verrichtung der Dienste verhindert sind (Arbeitsunfähigkeit), §§ 3, 4, 4a EFZG. Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten bestehen ebenso wenig wie Sonderregelungen für Auszubildende, Praktikanten, Volontäre, Aushilfskräfte, Teilzeitbeschäftigte und Leiharbeitnehmer, § 1 II EFZG. Durchweg ist aber gemäß § 5 I EFZG eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am folgenden Arbeitstag vorzulegen, wenn die Krankheit länger als 3 Kalendertage dauert. Allerdings kann der Arbeitgeber die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach dieser Norm auch schon vorher verlangen. Schwierigkeiten bereitet es jedoch festzulegen, wann Verschulden vorliegt. Die Kasuistik zu diesem Bereich ist vielfach schwer verständlich, ja völlig unlogisch und oft nur durch die Umstände des konkreten Einzelfalls motiviert. Die Begünstigung des Arbeitnehmers auf Kosten des Arbeitgebers wird dabei nicht selten überzogen. Als vorwerfbar gilt im Arbeitsrecht, entgegen § 276 II BGB, überhaupt nur grobfahrlässiges Handeln, das zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Selbst eine vorsätzliche Selbstschädigung durch einen (erfolglosen) Suizidversuch wird als unverschuldet angesehen, ebenso grundsätzlich Sportunfälle. Ausnahmen gelten allerdings für Sportunfälle bei besonders gefährlichen Sportarten, die die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers deutlich übersteigen können oder bei denen er sich unbeherrschbaren Gefahren mit einem besonders hohen Verletzungsrisiko aussetzt. Beispiele: (unverschuldet) Verletzungen bei Karate, Drachenfliegen, Boxsport, Bergsteigen, Reiten. (verschuldet) Eishockey, Moto-Cross-Sport, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Straßenverkehrsunfälle unter Einwirkung von Alkohol und Drogen sowie Verletzungen infolge nicht angelegter Sicherheitsgurte. d) Die Regelung der Arbeitszeit (1) Regelmäßige Arbeitszeit Der Arbeitszeit kommt für den Entlohnungsanspruch besondere Bedeutung zu, vor allem dann, wenn Arbeit über den geschuldeten Rahmen hinaus geleistet wird, wenn es also um die Entlohnung für Überstunden und Mehrarbeit geht. Für die Ableistung von Mehrarbeit und Überstunden ist der Lohn durchweg anders zu berechnen als etwa für die Ableistung der „regelmäßigen“ Arbeitsstunden. Nicht selten werden allerdings Überstunden auch zum Anlass genommen, diese „abzufeiern“. Wieviele Arbeitsstunden zu leisten sind, um den vollen Lohnanspruch zu erhalten, ist grundsätzlich eine Frage vertraglicher Absprachen. Hier sind als bedeutende Rechtsquellen sowohl der Einzel- <?page no="365"?> 338 III. Organisation und Personalwesen vertrag als auch der Tarifvertrag zu nennen. Dies betrifft auch die Lage der Arbeitszeit, wobei die verschiedenartigsten Varianten denkbar sind, etwa auch Schichtarbeit und gleitende Arbeitszeit. Der Vertragsfreiheit sind hier nur insofern gewisse Grenzen gesetzt, als bestimmte Höchstarbeitszeiten nicht überschritten werden dürfen. Wichtige Gesetze, welche die Höchstarbeitszeiten festsetzen, sind das ArbZG, das JArbSchG und das MuSchG. Große Aufmerksamkeit wird in der Praxis auch dem Urlaub und damit dem BUrlG zuteil. Nur die Grundzüge dieser verwickelten Rechtsmaterie können im Folgenden dargelegt werden. Das ArbZG definiert in § 2 I die Arbeitszeit als diejenige Zeit, die unter Abzug der Ruhepausen (§ 4 ArbZG) vom Beginn bis zum Ende der Arbeit andauert. Beispiel: A ist laut Arbeitsvertrag zum Arbeitsbeginn um 6.00 h verpflichtet. Nachdem er sich im Zentralgebäude des Betriebs, in dem er um 5.40 h eintrifft, umgekleidet hat, macht er sich um 6.00 h auf den Weg zur Schlossereihalle, in der er wegen des Weges um 6.15 h eintrifft. Sein Schichtmeister rügt die Verspätung und verlangt Nachdienst: zu Unrecht, denn auch die Zeiten, die für Arbeitswege, die innerhalb des Betriebes oder vom Betrieb zu einem außerhalb gelegenen Arbeitsort benötigt werden, werden zur Arbeitszeit gerechnet, nicht dagegen die Zeit, die zum Umkleiden und Waschen benötigt wird. Die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit darf 8 Stunden täglich nicht überschreiten (§ 3 S. 1 ArbZG). Da das ArbZG von 6 Werktagen in der Woche ausgeht, folgt daraus, dass eine wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden nicht überschreiten soll. Gleichwohl sieht auch das ArbZG schon in gewissem Rahmen Flexibilisierungen der Arbeitszeiten vor, insofern nämlich vor allem in den §§ 3-15 ArbZG eine andere Verteilung der Arbeitszeit, ja sogar unter bestimmten Voraussetzungen eine Überschreitung der oben genannten regelmäßigen Arbeitszeit möglich ist (Gewährung eines Ausgleichszeitraumes). Hier ist als besonders wichtige Vorschrift § 7 ArbZG zu nennen. In einem Tarifvertrag kann die regelmäßige Arbeitszeit auf über 10 Stunden täglich verlängert werden (§ 7 I ArbZG). Dieser Vorschrift kommt allerdings in der Praxis Bedeutung nur für bestimmte Berufsgruppen zu, denn der allgemeine Trend tarifvertraglicher Regelungen läuft bekanntermaßen auf eine Verkürzung der Arbeitszeiten hinaus. Bedeutung hat § 7 ArbZG darüber hinaus für all diejenigen Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit durch Arbeitsbereitschaft bestimmt wird . Beispiele: Wach- und Ordnungsdienste, Pförtner, Kraftfahrer, Werkschutz, Werksfeuerwehr. Auch dann, wenn die Arbeitsbereitschaft, während derer sich die Arbeitnehmer zur vollen Tätigkeit verfügbar halten müssen, erheblichen Umfang annimmt, ist durch Tarifvertrag eine Erweiterung der täglichen Arbeitszeit <?page no="366"?> 2. Individualarbeitsrecht 339 über 10 Stunden hinaus möglich (vgl. § 7 I Nr. 1 lit. a ArbZG). (2) Mehrarbeit und Überstunden Immer dann, wenn die allgemeine, gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit von 8 Stunden täglich bzw. 48 Stunden in der Woche überschritten wird, spricht man von Mehrarbeit. Im Gegensatz hierzu versteht man unter Überstunden („Überarbeit“) die Überschreitung der regelmäßigen tariflichen, betrieblichen oder einzelvertraglichen Arbeitszeit. Beispiele: Im Betrieb des X werden üblicherweise 39 Stunden wöchentlich gearbeitet. Ausnahmsweise werden in einer Woche aber einmal 50 Stunden gearbeitet: Alle über die übliche Arbeitszeit hinausgehenden 11 Stunden sind Überstunden, aber nur 2 Stunden sind Mehrarbeitsstunden. einer tarifvertraglichen Regelung (vgl. § 7 I Nr. 1 lit. a ArbZG) beträgt Auf Grund die Arbeitszeit des A regelmäßig wöchentlich 50 Stunden. Ausnahmsweise wird in einer Woche einmal die Arbeitszeit auf 53 Stunden erhöht (dies ist wegen des Direktionsrechtes des Arbeitgebers vorübergehend zulässig, s. a. § 87 I Nr. 3 BetrVG): Hier leistet A 3 Überstunden, gleichwohl liegen 5 Mehrarbeitsstunden vor. Grundsätzlich ist ein Arbeitnehmer weder verpflichtet, Überstunden noch Mehrarbeit zu leisten, es sei denn, für erstgenannte liegen tarifvertragliche, betriebliche oder arbeitsvertragliche Regelungen vor. In sog. Notfällen (Katastrophenfällen, plötzlich eintretende unvorhersehbare Ereignisse, die zu einem existenzbedrohenden Schaden führen können) ergibt sich zudem für Mehrarbeit eine entsprechende Leistungspflicht aus § 14 ArbZG bzw. letztlich auch aus der Treuepflicht des Arbeitnehmers. Die Frage nach der Entlohnung, die ja grundsätzlich abhängig ist vom Einzelarbeitsvertrag, von einer betrieblichen Übung, von der Beachtung des innerbetrieblichen Gleichbehandlungsgrundsatzes oder von einem Tarifvertrag, regelt letztlich, wie viele Arbeitsstunden zur Erlangung des vollen Lohnanspruchs abzuleisten sind. In der Praxis regeln diese Rechtsquellen darüber hinaus häufig auch detailliert, ob und wie hoch Überstundenvergütungen und Mehrarbeitsvergütungen anzusetzen sind, ob diese Vergütungen in Geld oder (auch) durch Freizeitgewährung („Abfeiern“) zu leisten sind etc. Frühere gesetzliche Regelungen für die Vergütung von Mehrarbeit sind ersatzlos entfallen. Eine gesetzliche Option für eine Vergütungspflicht bei Überstunden findet sich lediglich für Ausbildungsverhältnisse (§ 17 III BBiG). Besteht insoweit keine einzel- oder kollektivvertragliche Regelung über die Vergütung von zusätzlicher Arbeitsleistung, so kann der Arbeitnehmer regelmäßig aber gemäß § 612 BGB die Grundvergütung für die Über- oder Mehrarbeit verlangen, es sei denn, dass ein zumutbarer einzelvertraglich wirksamer Ausschluss einer Überstundenvergütung erfolgt ist. <?page no="367"?> 340 III. Organisation und Personalwesen Beispiel: Der Arbeitnehmer erhält ein weit über dem Tariflohn liegendes Gehalt mit der arbeitsvertraglichen Auflage, dass mit diesem auch Überstunden bis zu monatlich 15 Stunden abgegolten sein sollen. Ein darüber hinausgehender Zuschlag wird aber nur dann zu zahlen sein, wenn eine besondere Anspruchsgrundlage besteht. Dabei soll auch eine bestehende betriebliche Übung oder eine Branchenüblichkeit ausreichen. Dies wird in der Praxis zumeist der Fall sein. Kurzarbeit ist als Pendant zu den Überstunden die vorübergehende, vom Arbeitgeber gewünschte Unterschreitung der regelmässigen betrieblichen Arbeitszeit mehrerer Arbeitnehmer bei entsprechend verkürzter Entlohnung. Ihre Zulässigkeit bestimmt sich jedenfalls nach § 87 I Nr. 3 BetrVG (Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates), im Übrigen etwa nach tarifvertraglichen Regelungen. e) Arbeitszeit und Jugendarbeitsschutz Besonderheiten hinsichtlich der Arbeitszeiten ergeben sich auch aus dem Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Jugendliche von mindestens 15 Jahren dürfen nicht mehr als 8 Stunden täglich und nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beschäftigt werden (§ 8 I JArbSchG). Jugendliche unter 15 Jahren dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie der Vollzeitschulpflicht nicht mehr unterliegen und sich in einem Berufsausbildungsverhältnis befinden oder außerhalb eines Berufsausbildungsverhältnisses mit leichter und für sie geeigneter Tätigkeit betraut sind. Dann darf ihre Arbeitszeit 7 Stunden täglich und 35 Stunden wöchentlich nicht überschreiten (vgl. § 7 Nr. 1 und 2 JArbSchG). Beispiele: Der 12-jährige A trägt mit Einwilligung seiner Eltern morgens täglich zwischen 5.00 und 6.00 h Zeitungen aus: Die Beschäftigung von Kindern ist gemäß § 2 I, 5 I JArbSchG grundsätzlich verboten, auch wenn diese während ihrer Freizeit die Tätigkeit als Hobby ausführen sollten. Die Einwilligung der Eltern wäre daher unbeachtlich. Anders läge der Fall, wenn A beispielsweise 13 Jahre und 6 Monate alt wäre (vgl. § 5 III 1 JArbSchG). Aber selbst dann wäre eine Beschäftigung verboten, da eine Tätigkeit nicht zwischen 18.00 und 8.00 h und nicht vor dem Schulunterricht ausgeübt werden dürfte, § 5 III S. 3 JArbSchG. Die 14-jährige B, die der Vollzeitschulpflicht nicht mehr unterliegt, wird von ihrem Lehrherrn in der Ausbildung 8 Stunden täglich beschäftigt: Die Beschäftigung Jugendlicher unter 15 Jahren ist grundsätzlich verboten (§§ 2 I, 5 I JArbSchG), doch sind nach § 7 JArbSchG Ausnahmen möglich, wenn keine Vollzeitschulpflicht besteht. Die Begrenzung auf 7 Stunden ist nur bei Tätigkeiten außerhalb eines Berufsausbildungsverhältnisses zu beachten (vgl. § 7 Nr. 2 JArbSchG). Daher ist nach § 8 JArbSchG eine Arbeitszeit von 8 Stunden durchaus zulässig. Der 15-jährige C hat kein Interesse mehr, zur Schule zu gehen und der Schul- <?page no="368"?> 2. Individualarbeitsrecht 341 pflicht nachzukommen. Mit Genehmigung seiner Eltern schließt er einen Lehrvertrag und arbeitet in der Schlosserei des X täglich 8 Stunden: Obwohl C nach § 2 II JArbSchG rein altersmäßig schon als Jugendlicher eingestuft werden könnte, gilt er doch gemäß §§ 2 III, 5 I JArbSchG als Kind i. S. dieses Gesetzes. Die Beschäftigung des C ist daher unzulässig. Innerhalb der Regelungen der Arbeitszeiten für Jugendliche kommt in der Praxis der Vorschrift des § 9 JArbSchG besonderes Gewicht zu. Der Arbeitgeber hat die für den Berufsschulbesuch notwendige Zeit zu gewähren, wobei hier die Unterrichtszeit des betreffenden Tages bzw. der Woche einschließlich der Pausen auf die Arbeitszeit anzurechnen ist. Die Wegezeit für den Schulbesuch ist dabei allerdings keine Unterrichtszeit, muss also grundsätzlich nachgearbeitet werden. Dagegen ist ein Lohnabzug wegen der Wegezeiten nicht zulässig, wenn der Lehrherr die Möglichkeit der Nacharbeit verstreichen lässt (§ 9 III JArbSchG). Beispiele: Die Auszubildende A macht sich um 8.00 h auf den Weg zur Berufsschule, die sie um 9.00 h erreicht. Der Unterricht umfasst 6 Stunden zu je 45 Minuten. Um 14.15 h kann sich A auf den Heimweg machen. Sie trifft um 15.30 h zu Hause ein. Da im Betrieb des Lehrherrn B regelmäßig werktäglich 7 Stunden, beginnend um 7.00 h morgens, gearbeitet werden, will A am nächsten Tag eine halbe Stunde später kommen: Obwohl die Wegezeit von immerhin 2 1/ 4 Stunden nicht angerechnet wird, bleibt es bei einer Anrechnung gemäß § 9 II Nr. 1 JArbSchG von 8 Stunden. Angerechnet wird auch die Zeit von 7.00 h bis 8.00 h, wenn der Arbeitgeber hier auf Beschäftigung verzichtet. Zu beachten ist hier § 9 I 2 Nr. 1 ArbSchG, der eine Beschäftigung vor dem Unterricht nur untersagt, wenn dieser vor 9.00 h beginnt. Die überschießende Zeit von 2 Stunden kann wohl nicht durch Freizeitausgleich abgegolten werden. Angenommen, A hätte 3 Unterrichtsstunden und könnte sich um 12.00 h auf den Weg nach Hause machen, wo sie um 13.00 h einträfe: Anrechnungsfähig nach § 9 II Nr. 3 JArbSchG wären 3 Stunden, so dass A noch 4 Stunden nachzuarbeiten hätte, also etwa von 13.00 bis 17.00 h. Lohnabzug darf der Lehrherr nicht vornehmen, wenn er die A wie alle anderen Arbeitnehmer schon um 15.00 h nach Hause schicken würde (§ 9 III JArbSchG). f) Urlaub, Sonderurlaub, Freistellungen Urlaub ist die bezahlte Freistellung von Arbeitnehmern von der Arbeit zum Zwecke der Erholung, § 1 BUrlG. Das Urlaubsrecht findet sich in verschiedenen Rechtsquellen. Wichtigste sind das BUrlG, JArbSchG, BEEG und SGB IX. In der Praxis wichtige Ergänzungen und Erweiterungen findet das Urlaubsrecht vor allem durch Tarifverträge, teilweise auch durch Betriebsvereinbarungen (z. B. für Zusatzurlaub nach bestimmter Länge der Betriebszugehörigkeit). Es verwundert daher nicht, dass die Regelung des gesetzlichen Mindesturlaubs gemäß § 3 I BUrlG mit 24 Werktagen im <?page no="369"?> 342 III. Organisation und Personalwesen Kalenderjahr (für Jugendliche je nach Alter zwischen 25 und 30 Werktagen, vgl. § 19 II JArbSchG) durch die Tarifentwicklung weit überholt worden ist. Üblich ist heute mittlerweile der 6-Wochen-Jahresurlaub geworden. Werktag i. S. des BUrlG ist jeder Arbeitstag, der nicht Sonn- oder Feiertag ist. Als Arbeitstag gilt dabei jeder Tag, an dem im Betrieb regelmäßig gearbeitet wird. Dies macht mitunter eine Umrechnung der gesetzlichen, tariflichen oder arbeitsvertraglichen Urlaubsdauer auf eine 5-Tage-Arbeitswoche erforderlich, da die Regelungen des BUrlG auf eine 6-Tage-Arbeitswoche zugeschnitten sind. Für weniger als die gesetzlich angenommene Arbeitsleistung soll jedoch nicht ein gleichwertiger Urlaubsanspruch gewährt werden, es sei denn, dies wird vom Arbeits- oder Tarifvertrag vorgesehen (Formulierungsfrage). Im Einzelfall, bei 5-Tage-Arbeitswoche, resultiert daher nur ein gesetzlicher Anspruch in Höhe von 20 Arbeitstagen nach BUrlG. Erstmalig fordern kann der Arbeitnehmer den vollen Urlaubsanspruch nach 6-monatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses. Davor hat er aber zumindest schon einen Anspruch auf Teilurlaub gemäß § 5 BUrlG. Besonderheiten zu beachten sind für den Fall, dass ein Arbeitnehmer den Arbeitsplatz wechselt und bei einem anderen Arbeitgeber in Arbeit tritt oder in dem Fall, dass der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis beendet. Trotz erfüllter Wartezeiten ist nämlich vom früheren Arbeitgeber nur Teilurlaub, nicht also voller Urlaub zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer in der 1. Jahreshälfte aus dem Betrieb ausscheidet (vgl. § 5 I lit. c BUrlG). Scheidet der Arbeitnehmer also vor dem 1. 7. aus, d. h. spätestens am 30. 6., dann hat er gegenüber dem Arbeitgeber des beendeten Arbeitsverhältnisses nur einen Anspruch auf Teilurlaub. Scheidet er am 1. 7. oder später aus, besteht ein Anspruch gegen diesen Arbeitgeber auf den vollen Jahresurlaub. Hat er dann zum Zeitpunkt des tatsächlichen Ausscheidens mehr Urlaub erhalten, als ihm zusteht (er hat also schon den gesamten Jahresurlaub genommen), können weder Urlaubsentgelt noch Urlaubsgeld zurückgefordert werden. Bedeutsam ist dies bei einem Betriebswechsel des Arbeitnehmers. Wechselt der Arbeitnehmer den Betrieb, so entfällt ein Urlaubsanspruch gegen den späteren Arbeitgeber insoweit, als er bereits beim früheren Arbeitgeber Urlaub erhalten hat (§ 6 I BUrlG). Umgekehrt ergibt sich ein Urlaubsdifferenzanspruch, wenn in ein Unternehmen mit höherem vertraglichem Urlaubsanspruch gewechselt wird. Beispiele: Der A, dem 28 Urlaubstage im Kalenderjahr zustehen, hat den gesamten Urlaub bereits genommen, als er am 1. 6. in ein anderes Unternehmen wechselt. Dort erlangt er arbeitsvertraglich ebenfalls 28 Urlaubstage: Im neuen Betrieb bekommt A keinen Urlaub mehr. B hat bei seinem alten Arbeitgeber bereits seinen gesamten Jahresurlaub von 25 Tagen genommen, als er zum 1. 4. bei seinem neuen Arbeitgeber eintritt, in dessen Unternehmen 30 Urlaubstage gewährt werden: Urlaubsdifferenzanspruch des B gegenüber dem neuen Arbeitgeber in Höhe von 5 Urlaubstagen. <?page no="370"?> 2. Individualarbeitsrecht 343 Der Erholungsurlaub ist grundsätzlich zusammenhängend zu gewähren. Nur wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung erforderlich machen, darf der Urlaub geteilt werden. Dann muss allerdings gemäß § 7 II BUrlG einer der Urlaubsteile mindestens 12 aufeinanderfolgende Werktage umfassen. Dies zeigt, dass also weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer grundlos eine „Zerstückelung“ des Urlaubs vornehmen dürfen. Beispiel: Die Urlaubstage werden ausschließlich verwendet, um Wochenenden zu verlängern und dienen als Brückentage zwischen Feiertagen und Wochenenden: Unzulässig! Nicht selten geschieht es, dass ein Arbeitnehmer während des Urlaubs erkrankt. Die durch ärztliches Attest nachgewiesenen Krankheitstage werden nicht auf den Jahresurlaub angerechnet (§ 9 BUrlG). Obwohl der Urlaubsanspruch insoweit bestehen bleibt, darf der Arbeitnehmer seinen Urlaub allerdings nicht eigenmächtig um die Tage der Arbeitsunfähigkeit verlängern, sondern muss eine Neufestsetzung beantragen. Eine flexible Handhabung ergibt sich in der Praxis aber daraus, dass ein solcher Antrag auch telefonisch vom Urlaubsort gestellt werden kann. Urlaub kann auch in der Weise gewährt werden, dass Betriebsferien, also einheitlicher Urlaub für alle Arbeitnehmer eines Betriebes, festgelegt werden. Die Anordnung von Betriebsferien ist auch möglich, ohne dass dringende betriebliche Belange es erfordern müssen. Eine Besonderheit ist hierbei allerdings im Hinblick auf diejenigen Arbeitnehmer zu verzeichnen, die erst kurz vor dem Beginn der Betriebsferien in das Unternehmen eingetreten sind und die die Wartezeit für den vollen Urlaubsanspruch noch nicht erfüllt haben. Im Interesse der Erhaltung eines vollen Urlaubsanspruches soll es nicht zulässig sein, dass gegen den Willen des Arbeitnehmers der bisher erreichte Teilurlaub auf die Betriebsferien angerechnet wird. Der Arbeitgeber hat die Arbeitnehmer zu beschäftigen oder, wenn das aus technisch-organisatorischen Gründen nicht möglich ist, sie ohne Arbeitsleistung zu bezahlen. Aus diesem Grunde werden in der Praxis häufig aber schon vor Einstellung arbeitsvertragliche Regelungen getroffen, in denen in solchen Fällen für die Zeit der Betriebsferien unbezahlter Urlaub vereinbart wird. Als Bemessungszeitraum für den Urlaubsanspruch dient das Kalenderjahr. Innerhalb dieses Zeitraums soll der Urlaub gewährt und genommen werden. In jedem Falle muss er während dieses Zeitraums vom Arbeitnehmer gefordert worden sein. Wird der Urlaub nicht bis zum Jahresschluss gefordert, verfällt er grundsätzlich. Nur wenn schon die Geltendmachung des Urlaubs, etwa wegen schwerer Krankheit, nicht möglich war, soll hiervon eine Ausnahme gemacht werden. Ansonsten ist nur aus dringenden Gründen, die den Betrieb betreffen oder in der Person des Arbeitnehmers liegen, eine Übertragung des Urlaubs in das erste Kalendervierteljahr des folgenden Jahres <?page no="371"?> 344 III. Organisation und Personalwesen vorzunehmen, § 7 III BUrlG. Der Urlaub muss dann aber bis zum 31. 3. des nächsten Jahres gewährt und genommen worden sein, ansonsten droht er ohne die Möglichkeit einer Urlaubsabgeltung (also einer finanziellen „Entschädigung“ für den ausgefallenen Urlaub) zu verfallen. Ausnahme auch hier ist allerdings, wenn eine schwere Krankheit die Wahrnehmung des Urlaubs verhindert hat oder wenn der Arbeitgeber seinerseits nun trotz rechtzeitiger Geltendmachung den Urlaub nicht gewährt. In diesen Fällen besteht der Urlaubsanspruch auch über den 31. 3. des folgenden Jahres hinaus. Selbst eine weitere Übertragung auf das übernächste Jahr scheint nach neuerer Rechtsprechung nicht mehr ausgeschlossen, wenn gesetzlich zustehender Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit nicht genommen wurde. Der gesetzliche Mindesturlaub gemäß BUrlG ist grundsätzlich durch Freizeit zu erfüllen und lediglich im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Geldleistung in bar abzugelten (§ 7 IV BUrlG), wenn Freizeit nicht mehr gewährt werden kann. Der Abgeltungsanspruch entfällt auch nicht etwa bei einer fristlosen Entlassung wegen erheblicher Vertragsverletzungen. Eine Urlaubsabgeltung (sog. Urlaubsabkauf) ist während bestehender Arbeitsverhältnisse somit nur für den Mindesturlaubsanspruch übersteigenden Urlaubsteil zulässig. Beispiel: Arbeitgeber B verständigt sich mit dem Arbeitnehmer A dahingehend, dass dieser auf seinen gesetzlichen Jahresurlaub verzichtet und sich diesen gesondert durch eine Bargeldleistung „ausgleichen“ lässt. So geschieht es. Später will A trotzdem Urlaub nehmen. B will allenfalls unbezahlte Freistellung gewähren: Wegen der Unwirksamkeit der Vereinbarung über die „Ausgleichung“ behält A seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub; B kann wegen § 817 S. 2 BGB auch nicht die Rückzahlung des „Ausgleichsbetrages“ verlangen, geht also das Risiko einer Doppelleistung ein. Das Entgelt bemisst sich nach dem durchschnittlichen Verdienst der letzten 3 Monate, soweit keine abweichende tarifvertragliche Regelung besteht. Neben dem Erholungsurlaub kommt es gelegentlich zu Freistellungen aus besonderem Anlass. Beispiele: Eheschließungen, Geburten, Sterbefälle, Wohnungswechsel, politische Tätigkeiten, Fortbildungsveranstaltungen. Ob der Arbeitnehmer Anspruch auf die begehrte Freistellung sowie auf die Fortzahlung des Arbeitsentgelt hat, ist vom Grund und Rechtsgrundlage der Freistellung abhängig. Wie sich aus § 616 I BGB ergibt, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlte Freistellung, wenn er für einen verhältnismäßig unerheblichen Zeitraum durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist. Da für eigene Erkrankungen des Arbeitnehmers das EFZG einschlägig ist, kommen hier nur sonstige Verhinderungsgründe in Betracht. <?page no="372"?> 2. Individualarbeitsrecht 345 Beispiele: Schwerwiegende Erkrankungen naher Angehöriger, insbesondere von Kindern; Arztbesuche, die nicht außerhalb der Arbeitszeit erledigt werden können; außerordentliche Familienereignisse (Eheschließungen, Todesfall, Geburt); Ladungen zu Behörden; Ablegung von Prüfungen etc. Häufig werden Freistellungen in diesem Bereich gesondert durch Tarifverträge geregelt. Gesetzliche Regelungen finden sich überdies z. B. auch in §§ 37 II, 37 VI BetrVG, 46 BPersVG: Für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, die für die Arbeit des Betriebsrates erforderlich sind, sind Betriebsratsmitglieder freizustellen. Die Kostenerstattung der Schulungsveranstaltung sowie Entgeltfortzahlung ist vom Arbeitgeber sicherzustellen (vgl. § 37 Abs. III, IV, VII BetrVG). Manchmal kann darüber hinaus auch aus Gewohnheitsrecht ein Anspruch auf eine bezahlte Freistellung bestehen. Beispiel: Arbeitnehmer A möchte einen Tag Hochzeitsurlaub vom Arbeitgeber erlangen. Liegt letztendlich auch kein gewohnheitsrechtlicher Anspruch auf Gewährung einer Freistellung unter Fortzahlung der Bezüge vor, dann steht dessen Gewährung im Ermessen des Arbeitgebers. Häufiger im Berufsalltag sind allerdings die unbezahlten Freistellungen. Auch diese können sich aus Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsverträgen ergeben. Hinsichtlich der Besonderheiten des Bildungsurlaubs, der den Arbeitnehmern als bezahlter Sonderurlaub zu gewähren ist, wird auf die jeweiligen Landesgesetze der Bundesländer verwiesen. g) Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen (1) Der befristete Arbeitsvertrag Die Gründe für die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses sind sehr vielgestaltig. Ganz unproblematisch erlischt das Arbeitsverhältnis wegen der Höchstpersönlichkeit der geschuldeten Arbeit (§ 613 S. 1 BGB) mit dem Tod des Arbeitnehmers, grundsätzlich jedoch nicht mit dem Tod des Arbeitgebers, es wird vielmehr regelmäßig mit dessen Erben fortgesetzt (§§ 1922, 1967 BGB: Universalsukzession in die Rechtsstellung des Erblassers; § 613 S. 2 BGB steht nicht entgegen, weil dieser nur die rechtsgeschäftlich veranlasste Übertragung erfasst). Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses kann im seltenen Fall der sog. lösende Aussperrung auch einmal im Arbeitskampf wurzeln (im Gegensatz zum Regelfall einer Aussperrung bloß mit Suspensiveffekt, die den Bestand des Arbeitsverhältnisses nicht berührt). Ferner kommt als Beendigungsgrund eine wirksam vereinbarte (Schriftform, § 14 IV TzBfG! ) auflösende Befristung in Betracht, wie § 620 I BGB noch <?page no="373"?> 346 III. Organisation und Personalwesen einmal unterstreicht: Ist ein Arbeitsverhältnis für eine bestimmte Zeit eingegangen, so endet es automatisch mit dem Fristablauf, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Damit entfällt auch jeder Kündigungsschutz. An dieser Folge der Beendigung ändern regelmäßig auch ansonsten beachtliche Umstände, etwa die Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin, nichts. Auch hier gibt es natürlich Besonderheiten,vgl. z. B. § 2 V WissZeitVG. In befristeten Arbeitsverhältnissen werden auf die Dauer des Vertrages Zeiten einer Beurlaubung (Erziehungszeiten) und Zeiten des Mutterschutzes (6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Geburt) nicht angerechnet. Auch in solchen befristeten Arbeitsverhältnissen sind also Verlängerungen möglich. Wird nach Ablauf der Frist das Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer mit Wissen des Arbeitgebers fortgesetzt, so gilt es als auf unbestimmte Zeit verlängert, sofern nicht der Arbeitgeber unverzüglich widerspricht (§ 625 BGB, § 15 V TzBfG). Vor Ablauf des befristeten Arbeitsverhältnisses ist eine ordentliche Kündigung grundsätzlich unzulässig, es sei denn, diese ist vertraglich vorgesehen, § 15 III TzBfG. Eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses wäre nur durch eine weiterhin zulässige außerordentliche Kündigung (vgl. §§ 624, 626 BGB) oder durch einen Aufhebungsvertrag möglich. Da sie den Kündigungsschutz unterlaufen, sind befristete Arbeitsverträge nur in engen Grenzen zulässig, nämlich grundsätzlich nur, wenn ein sachlicher Grund dafür besteht (s. § 14 I TzBfG). Beispiele: Probearbeitsverhältnis, Beschäftigung im Saisongewerbe, Aushilfskraft, nur befristete Finanzierungmöglichkeit der Arbeitskraft (z. B. sog. „ABM- Stelle“), Befristung auf Grund gerichtlichen Vergleichs, etc. Ohne das Vorliegen eines sachlichen Grundes ist gemäß § 14 II S. 1 TzBfG ausnahmsweise eine Befristung bis zur Höchstdauer von 2 Jahren zulässig (s. aber auch die Möglichkeit einer Befristungshöchstdauer von 4 Jahren bei Existenzgründungen gemäß § 14 IIa TzBfG). Die Bestrebung, beschäftigungslosen älteren Arbeitnehmer unter Verzicht auf einen sachlichen Grund den Einstieg in das Arbeitsleben mittels befristeter Arbeitsverträge zu erleichtern, steht hinter § 14 III TzBfG: Für die maximale Zeit von 5 Jahren sind hier sogar mehrfach aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge (sog. Kettenarbeitsverträge) zulässig. Außerhalb der genannten Vorgaben erfolgende Befristungen sind rechtsunwirksam und lassen nach § 16 TzBfG ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstehen. Befristungen auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften (z. B. § 2 WissZeitVG) bleiben dadurch jedoch unberührt, § 23 TzBfG. <?page no="374"?> 2. Individualarbeitsrecht 347 (2) Aufhebungsvertrag Zu jeder Zeit kann ein Arbeitsverhältnis durch einen Aufhebungsvertrag (lat. „actus contrarius“) beendet werden. Diese Möglichkeit ergibt sich wie auch für andere Rechtsverhältnisse unmittelbar aus der Privatautonomie, setzt dabei aber eben das grundsätzlich unerzwingbare Einverständnis beider Vertragsparteien voraus. Ein solcher Aufhebungsvertrag ist gemäß § 623 BGB nur wirksam, wenn er der Schriftform des § 126 BGB genügt. Beispiel: Dem Angestellten Willi Wagenführ wird am 15. 7. plötzlich eine sehr lukrative Stelle zum 1. 8. angeboten, die alle seine bisherigen Hoffnungen erfüllen zu können verspricht. Die Kündigungsfrist nach § 622 I BGB, 4 Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats, ist verstrichen und allein der Umstand, eine günstige Stelle zu bekommen, stellt noch keinen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 BGB dar. Hier bleibt nur die Möglichkeit, einen schriftlichen Aufhebungsvertrag zu schließen. Zu einem solchen Aufhebungsvertrag soll der Arbeitgeber nach h. M. trotz seiner „Fürsorgepflicht“ übrigens selbst dann nicht verpflichtet sein, wenn der Weggang des Arbeitnehmers durch eine zumutbare Neueinstellung ohne Weiteres kompensiert werden könnte. Dies überzeugt nicht, weil die h. M. für den vom Wohnungsmieter gewünschten Aufhebungsvertrag gerade gegenteilig entscheidet, wenn ein dem Mieter vergleichbarer Nachmieter zur Verfügung steht. Ihre Bedeutung erlangten Aufhebungsverträge dadurch, dass mit ihnen unter Vermeidung von kostenträchtigen Prozessrisiken Personal abgebaut werden kann. Dies vermag auch die Option, eine betriebsbedingte Kündigung zur Vermeidung des Kündigungsschutzverfahrens direkt mit einer gesetzlich festgelegten Abfindung zu verbinden (§ 1a KSchG), nicht zu ändern. Denn auf Grund der insofern vorhandenen gestalterischen Möglichkeiten eines Aufhebungsvertrages kann das Arbeitsverhältnis auch aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen unter unwiderruflichen Verzicht auf Kündigungsschutzrechte mit sofortiger Wirkung beendet werden, wobei bei betriebsbedingten Gründen auch eine durchaus geringere als in § 1a II KSchG vorgesehene Abfindung vereinbart werden kann. Üblich ist bei derartigen Aufhebungsverträgen auch, dass sich die Parteien durch Ausgleichsquittungbestätigen, aus dem Arbeitsverhältnis keine Ansprüche mehr zu haben. Die Ausgleichsquittung spielt aber auch bei anderweitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine wichtige Rolle, um eine bestimmte Phase des Erwerbslebens rechtlich abzuschließen. <?page no="375"?> 348 III. Organisation und Personalwesen (3) Anfechtung Auch dem Anfechtungsrecht kommt in Bezug auf die beendigende Wirkung eines Arbeitsverhältnisses besondere Bedeutung zu. Voraussetzung ist zunächst ein Anfechtungsgrund gemäß §§ 119, 120, 123 BGB. Wurden die Offenbarungs- und Mitteilungspflichten des späteren Arbeitnehmers im Einstellungsgespräch nicht korrekt erfüllt, ergeben sich nicht nur Schadensersatzpflichten. Vielmehr kann daraus auch ein Recht des Arbeitgebers zur Anfechtung des Arbeitsvertrages schon nach § 119 II BGB wegen Irrtums über verkehrswesentliche, d. h. für das Arbeitsverhältnis wichtige Eigenschaften des Arbeitnehmers erwachsen. Mangels Kündigung greift hier auch kein Kündigungsschutz. Beispiele: Unterlassene bzw. falsche oder unvollständige Angaben über den beruflichen Werdegang, über den Familienstand (Mobilität! ) oder über abgeleisteten Wehrdienst (Reserveübungen! ) und über Krankheiten. Nicht selten wird sogar eine arglistige Täuschung (§ 123 BGB) und somit ein weiterer Anfechtungsgrund zu bejahen sein. Dann besteht neben allem Anderen ein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB. Zu den (faktisch) verkehrswesentlichen Eigenschaften gehören an sich auch Alter, Geschlecht (mögliche Schwangerschaft! ), Religion (Gebetsrituale am Arbeitsplatz, dadurch bedingte Störungen bei der Produktion! ) und Herkunft (kulturelle Sozialisation! ). Doch wird man im Blick auf §§ 1, 8 ff. AGG aus Rechtsgründen die Verkehrswesentlichkeit und damit die Anfechtungsrelevanz solcher Merkmale regelmäßig verneinen müssen. Da sich die Rückwirkung der Anfechtung nach § 142 I BGB nur schwer mit dem Schutzcharakter des Arbeitsrechts verträgt, tritt nach h. M. die Nichtigkeitswirkung des Arbeitsvertrages entgegen § 142 I BGB nur für die Zukunft (lat. „ex nunc“) ein. Grund hierfür ist die nur unzureichende Möglichkeit, ein bereits begonnenes Arbeitsverhältnis über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung gemäß §§ 812 ff. BGB rückabzuwickeln. Die Anfechtung hat also praktisch die gleichen Wirkungen wie eine fristlose außerordentliche Kündigung. Trotz dieser praktisch gleichen Wirkungen finden nicht etwa diejenigen Vorschriften, die die außerordentliche Kündigung beschränken, Anwendung, also z. B. die sehr wichtige Vorschrift des § 9 MuSchG. Hiernach sind Kündigungen schwangerer Frauen, gleichgültig, ob es sich um ordentliche oder außerordentliche Kündigungen handelt, grundsätzlich (vorbehaltlich der in der Praxis fast unbekannten behördlichen Zustimmung nach § 9 III MuSchG) unwirksam. Selbst schwerste arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen rechtfertigen demnach also keine Kündigung. <?page no="376"?> 2. Individualarbeitsrecht 349 Beispiel: Die Arbeitnehmerin A verschweigt ihrem zukünftigen Arbeitgeber, dem Bäckermeister G, bei den Vertragsverhandlungen die bei ihr vorliegende Schwangerschaft, obwohl sie weiß, dass die Tätigkeit, die sie ausüben soll, mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden ist (Heben und Strecken) und sie diese Tätigkeit eigentlich nicht ausüben kann. Als A eines Tages bei der Arbeit zusammenbricht, kommt dem G die Schwangerschaft zur Kenntnis. Er kündigt der A fristlos und erklärt hilfsweise auch die Anfechtung: Die Kündigung ist nach § 9 MuSchG unwirksam. Obwohl begrifflich der Kündigungsschutz nicht dem Anfechtungsrecht entgegensteht, soll nach h. M im Blick auf § 3 I 2 und § 7 AGG nicht einmal die arglistige Täuschung einer arbeitssuchenden Frau über eine bestehende Schwangerschaft in den Einstellungsgesprächen zur Anfechtbarkeit des Arbeitsvertrages nach § 123 BGB führen. Wenn wundert es da, dass ein Unternehmer unter solchen rechtlichen Rahmenbedingungen lieber in Maschinen investiert oder im außereuropäischen Ausland produziert? Ähnliche wie die zuvor geschilderten, zu einer Beschränkung der Anfechtungswirkungen für die Zukunft führenden Erwägungen liegen nach h. M. auch der Rechtsfigur des sog. faktischen Arbeitsverhältnisses zugrunde. Dieses ist nicht zu verwechseln mit einem Arbeitsverhältnis auf der Grundlage eines formlosen, trotzdem wirksamen Arbeitsvertrages. Ein Arbeitsverhältnis, von dem sich herausstellt, dass es auf einem von vornherein nichtigen Arbeitsvertrag beruht, genießt als bloß faktisches Arbeitsverhältnis keinen Kündigungsschutz, obwohl es für die Zeit des Leistungsaustauschs grundsätzlich, insbesondere zugunsten von Geschäftsunfähigen, quasi als wirksames Arbeitsverhältnis behandelt wird. Allerdings müssen auch hierbei grundlegende Wertungen der Rechtsordnung beachtet werden. Beispiele: Der unerkannt psychisch schwer kranke Arbeitnehmer AN schließt mit AG einen Arbeitsvertrag ab, der Lohnanspruch liegt zur großen Freude des AN weit über dem Gehalt, was üblicherweise in der Branche bezahlt wird, sogar über dem, was er sich selbst erhofft hatte. Nachdem AN einen Monat lang gearbeitet hat, stellt sich die Krankheit des AG heraus. Der Schutz der §§ 104 Nr. 2, 105 BGB ist so stark, dass AN einen Lohnanspruch für die bisher tatsächlich geleistete Arbeit so hat, als bestünde ein wirksamer Arbeitsvertrag. In der Druckerei des F werden in großem Stil zum Zwecke eines späteren Missbrauchs Urkundenformulare nachgedruckt, deren Nachdruck gesetzlich untersagt ist. F beschäftigt zwei Drucker, die hiervon Kenntnis haben: Der Arbeitsvertrag ist wegen Verstoßes gegen gesetzliche Bestimmungen nach § 134 BGB nichtig, doch kommt hier ein Entgeltanspruch der beiden Drucker für die tatsächlich geleistete Arbeit nicht in Betracht; auch Bereicherungsansprüche gegen F sind gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen. <?page no="377"?> 350 III. Organisation und Personalwesen h) Kündigung (1) Kündigungserklärung Am häufigsten wird eine Kündigung das Arbeitsverhältnis beenden. Sowohl Kündigungs(schutz)recht ist von großer sozial- und gesellschaftspolitischer Bedeutung. Sie resultiert aus dem hohen Stellenwert, den die entgeltliche Beschäftigung im Leben der meisten Menschen offenbar einnimmt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der ganz überwiegende Teil arbeitsgerichtlicher Verfahren (ca. 80%) sich unmittelbar mit Kündigungsfällen auseinanderzusetzen hat. Der sehr weitreichende Kündigungsschutz erzeugt allerdings erst das Problem, das zu lösen er vorgibt: Weil Arbeitnehmer so schwer zu entlassen sind, werden sie besser erst gar nicht eingestellt, und weil diese das wissen, kämpfen sie regelmäßig verbissen gegen ihre Kündigung. Wäre es (ohne einen derart starken Kündigungsschutz) einfacher, eine neue Stellung zu finden, wäre beiden Seiten und der Gesellschaft als Ganzer gedient. Die Kündigung, ein einseitiges und deshalb vom Einverständnis der Gegenseite unabhängiges Rechtsgeschäft, muss eindeutig sein. Nicht nur die besondere sozialpolitische Bedeutung einer Kündigung erfordert, dass eine solche klar den Willen zum Ausdruck bringt, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Die Verwendung des Wortes „Kündigung“ ist jedoch nicht erforderlich. Dieses Gebot der Eindeutigkeit sowie der rechtspolitisch erwünschte Warnzweck liegen § 623 BGB zugrunde, der ein konstitutives Schriftformerfordernis postuliert. Weiterhin ist in § 22 III BBiG eine gesetzliche Schriftform vorgesehen für Kündigungen von Berufsausbildungsverhältnissen. Der Kündigende muss mithin nach § 126 BGB das Kündigungsschreiben eigenhändig unterschreiben. Kündigungserklärungen, die dieses Formerfordernis nicht erfüllen, sind gemäß § 125 BGB unwirksam. Beispiele: Nach vorangegangenem Streit schreibt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer, er sehe vom „nächsten Ersten die Zusammenarbeit als beendet an“; dem Arbeitnehmer wird durch den Arbeitgeber schriftlich der Zutritt zum Werksgelände mit der Bemerkung untersagt, er habe hier nichts mehr verloren: Bei eigenhändiger Unterschrift jeweils hinreichend klare, wirksame Kündigungen! Wie alle einseitigen Rechtsgeschäfte ist auch die Kündigung bedingungsfeindlich. Eine bedingte Kündigung, auch eine solche des Arbeitsverhältnisses, ist mithin nichtig (vgl. für ein anderes einseitiges Rechtsgeschäft, die Aufrechnung, § 388 S. 2 BGB). Dies entspricht wohl auch der neueren h. M. im Arbeitsrecht. <?page no="378"?> 2. Individualarbeitsrecht 351 (2) Anhörung des Betriebsrates Sobald in einem Betrieb ein Betriebsrat existiert, muss dieser bei jeder Kündigung eines Arbeitsverhältnisses beteiligt werden, sei es nun ein Probearbeitsverhältnis, ein Aushilfsarbeitsverhältnis oder ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Gemäß § 102 I 1 BetrVG ist der Betriebsrat anzuhören. Er hat letztlich zwar keine Möglichkeit, die Kündigung zu verhindern, aber er hat dennoch die Möglichkeit, im Wege der Anhörung Gesichtspunkte, die gegen eine Kündigung sprechen, vorzutragen. Unterbleibt eine ordnungsgemäße Anhörung, so ist die Kündigung schon deshalb unwirksam (§ 102 I 3 BetrVG). Der Betriebsrat kann einer ordentlichen Kündigung allerdings widersprechen, wenn einer der in § 102 III Nr. 1-5 BetrVG genannten Gründe vorliegt. Zwar hat auch dieser Widerspruch noch nicht die Kraft, die Kündigung des Arbeitgebers zu verhindern. Aber dieser Widerspruch kann später für den Arbeitnehmer ganz entscheidende Bedeutung haben, nämlich dann, wenn der Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage erhebt. Gemäß § 102 V BetrVG hat er in diesem Fall und bei Vorliegen eines Widerspruchs des Betriebsrats die Möglichkeit, einen gesetzlichen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend zu machen, und zwar bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die erhobene Kündigungsschutzklage. Daneben wird ein Weiterbeschäftigungsanspruch bejaht, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist, oder wenn ein der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers stattgebendes Urteil durch die nächsthöhere Instanz überprüft wird. (3) Ordentliche Kündigung Die ordentliche Kündigung dient der Beendigung von Dauerschuldverhältnissen, hier: Arbeitsverhältnissen, die auf unbestimmte Zeit geschlossen worden sind, aber schließlich nicht „bis in alle Ewigkeit“ bestehen können. Die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung ist daher grundsätzlich nicht an die Existenz eines Kündigungsgrundes gebunden. Dementsprechend braucht der Kündigende dem Kündigungsempfänger selbst auf dessen Verlangen hin jedenfalls im Prinzip keine Kündigungsgründe angeben (s. aber auch § 22 III BBiG für die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses nach der Probezeit). Anderes gilt für eine außerordentliche Kündigung. Denn nach § 626 II 3 BGB ist dem Arbeitnehmer auf dessen Wunsch der „wichtige Grund“ mitzuteilen. Ähnliches verlangt auch § 1 III 1 2. HS KSchG: Hier sind allerdings nur die Gründe anzugeben, die zu einer sozialen Auswahl des Betroffenen herangezogen worden sind. Im Übrigen wendet die h. M. den § 626 II 3 BGB im Geltungsbereich des KSchG auch auf die orden- <?page no="379"?> 352 III. Organisation und Personalwesen tliche Kündigung analog an. Aber auch in diesen Fällen ist die korrekte Mitteilung der Gründe nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung ausgestaltet. Von Bedeutung ist diese Mitteilungspflicht auf Verlangen des Arbeitnehmers allerdings für mögliche Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber. Erhebt der Arbeitnehmer nämlich eine Kündigungsschutzklage, die er in Kenntnis der Kündigungsgründe ansonsten nicht erhoben hätte, so kann er den Schaden, der ihm entsteht (Kosten der Rücknahme der Klage), unter Umständen vom Arbeitgeber ersetzt verlangen. Da die Angabe von Kündigungsgründen also selbst in den Fällen, in denen Kündigungsschutz besteht, nicht Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung ist, kann ein Arbeitgeber grundsätzlich auch in einem Kündigungsschutzprozess diese Gründe nachliefern oder auf Kündigungsgründe zurückgreifen, die er bisher noch nicht gekannt hat, die aber bei Zugang der Kündigung schon vorlagen (sog. Nachschieben von Gründen). Dagegen können Kündigungsgründe, die erst nach Zugang der Kündigung entstanden sind, nur eine neue Kündigung rechtfertigen, nicht aber im Prozess nachgeschoben werden. In der Praxis scheitert ein Nachschieben von Gründen ohnehin häufig daran, dass die nachgeschobenen Gründe dem Betriebsrat, soweit ein solcher existiert, nicht mitgeteilt worden sind, also diesbezüglich keine Anhörung stattgefunden hat. Das hat zur Folge, dass in einem Kündigungsschutzprozess letztlich nur die mitgeteilten Gründe berücksichtigt werden können. Der einzige Schutz, den das BGB einer ordentlichen Kündigung ohne Vorliegen eines besonderen Kündigungsschutzes gewährt, liegt in den Fristenregelungen. Wird eine ordentliche Kündigung also mit einer kürzeren als der vorgeschriebenen Frist für den Eintritt der Kündigungswirkung ausgesprochen, so gilt sie zum nächst zulässigen Zeitpunkt. Nach § 622 I BGB beträgt die gesetzliche Grundkündigungsfrist für Arbeiter und Angestellte unterschiedslos 4 Wochen zum 15. oder zum Ende des Kalendermonats. Sie läuft mit Zugang der Kündigungserklärung. Diese Frist kann prinzipiell zumindest einzelvertraglich nicht verkürzt werden. Dies ist § 622 V BGB zu entnehmen, der lediglich für zwei enumerativ genannte Sonderfälle Kürzungen der Kündigungsfrist durch Einzelvertrag zulässt. Ansonsten ist eine einzelvertragliche Kürzung der allein für die arbeitgeberseitige Kündigung in § 622 II 1 BGB normierten Kündigungsfristen, deren Länge sich an der Dauer der Betriebszugehörigkeit des betroffenen Arbeitnehmers orientiert, generell nicht erlaubt. Auch zusätzliche Kündigungstermine dürfen nicht eingeführt werden. Wird dennoch eine Verkürzung der Kündigungsfristen durch Einzelvertrag vereinbart, so tritt an deren Stelle die gesetzliche Regelung des § 622 I und II BGB. Eine Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch Einzelvertrag ist dagegen grundsätzlich möglich (§ 622 V 3 BGB). Dabei muss <?page no="380"?> 2. Individualarbeitsrecht 353 jedoch die Endbegrenzung einer derartigen Verlängerung in Höhe von 5einhalb Jahren nach § 15 IV TzBfG (gleichlautend mit § 624